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German Pages 333 [334] Year 1998
HEGEL-STUDIEN BEIHEFT 38
Hegel-Studien Herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler
Beiheft 38
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte Herausgegeben von Elisabeth Weisser-Lohmann und Dietmar Köhler
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Inhaltlich unveränderter Print-on-Demand-Nachdruck der Auflage von 1998, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1522-2 ISBN eBook: 978-3-7873-3074-4 ISSN 0073-1578
© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien
Inhalt ELISABETHWEISSER-LOHMANN,
Hagen
Einleitung
7
I Hegels Jenaer Geschichtskonzeption HANSMAIER,
München
. diese dritte universale Gestalt des Weltgeistes“. Weltgeschichtliches Denken in Hegels Verfassungsschrift
15
Bochum Der Geschichtsbegriff in Hegels Phänomenologie des Geistes
35
DIETMARKöHLER,
II Die Berliner Weltgeschichtsvorlesungen
Bochum Hegel oder „Hegel"? Zum Problem des philosophischen und editorischen Umgangs mit Hegels geschichtsphilosophischen Vorlesungen
51
Bergen Geist und Geschichte. Zur Entwicklung zweier Begriffe in Hegels Vorlesungen
71
Hagen „Reformation" und „Friedrich 11." in den geschichtsphilosophischen Vorlesungen Hegels
95
ANDREASGROSSMANN,
FRANZHESPE,
ELISABETHWEISSER-LOHMANN,
Hamburg Hegels protestantisches Prinzip'
JöRGDIERKEN,
123
Hagen/Seoul Kunst und Geschichte. Zur Wiederbelebung der orientalischen Weltanschauung und Kunstform in Hegels Bildungskonzep147 tion
JEONG-IMKWON,
Inhalt
6
III Hegels Weltgeschichtskonzeption: Rezeption und Kritik
Bochum Konkurrenz in Sachen Geschichtsphilosophie: Friedrich Schlegel und Hegel 165
OTTOPöGGELER,
Paris Gans' Erbrecht als rechtshistorische Anwendung der Hegelschen Geschichtsphilosophie und im Kontext des rechtswissenschaftlichen Methodenstreits seiner Zeit 185
NORBERTWASZEK,
Bochum Hegel und der Historismus
STEFANJORDAN,
HANS-JüRGENGöRTZ,
205
Hannover
„Gott in der Religion", nicht „Gott in der Geschichte". Rosenzweigs Auseinandersetzung mit Hegel 225 St. Gallen/Brüssel Hans Freyers Rekonstruktion der Weltgeschichte Europas
THOMASGIL,
251
Ulm Diesseits eines „neuen Ursprungs". Überlegungen zu Ricoeurs Verhältnis zu Hegel 269
BURCKHARDLIEBSCH,
Namensregister
295
Literaturverzeichnis, zusammengestellt von Christoph Bauer, Bochum 303 Bibliographie
335
EINLEITUNG Mit der Entdeckung eines neuen Landes vergleicht Karl Rosenkranz 1838 in den Hallischen Jahrbüchern das Erscheinen der Hegelschen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte1. Dieses Buch werde schon seit Hegels Berliner Vorlesungen vom Publikum mit Spannung erwartet, zumal in den gedruckten Werken Hegels, der Phänomenologie und der Rechtsphilosophie, bloße Andeutungen auf die Weltgeschichte zu finden seien. Der von Eduard Gans im Rahmen der Freundesvereinsausgabe herausgegebene Band stützt sich im wesentlichen auf Vorlesungsnachschriften der Schüler Hegels. Rosenkranz muß denn auch eingestehen, daß Hegels Kolleg über die Philosophie der Weltgeschichte „zu dem am wenigsten von ihm ausgearbeiteten" (Rosenkranz, 132) zählt. Nur die Einleitung lag dem Herausgeber aus Hegels Hand vor, das Übrige war aus „einer Masse aphoristischer Bemerkungen" unter Hinzuziehung der Nachschriften erst zu einem gediegenen Ganzen zu gestalten. Gans selbst und auch Rosenkranz machen keinen Hehl daraus, daß die „Hefte" der Schüler für die erste Edition der Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte unverzichtbar waren. Auch alle nachfolgenden Editionen werden sich auf diese Materialien stützen. Auf die hohe Bedeutung der Schülemachschriften für die Überlieferung zentraler Lehrstücke der Hegelschen Philosophie ist wiederholt hingewiesen worden. Neben den Weltgeschichtsvorlesungen sind für Hegels Ästhetik, die Religionsphilosophie und die Geschichte der Philosophie die Hörermitschriften oder Nachschriften die fast einzigen Quellen. Die Bedeutung der Nachschriften für Hegels Konzeption der Weltgeschichte könnte man allerdings dadurch entwertet sehen, daß Hegel selbst die Grundzüge seiner Geschichtsphilosophie nicht nur wie die der anderen Systemteile in der Enzyklopädie abgehandelt hat, sondern darüberhinaus in den Schlußparagraphen der Rechtsphilosoi K. Rosenkranz: Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst. 1 (1838), 132-156. Hier zitiert als Rosenkranz.
Elisabeth Weisser-Lohmann
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phie einen Grundriß seiner „Weltgeschichte" vorgelegt hat. Im Übergang vom objektiven zum absoluten Geist kommt der „Weltgeschichte" systematisch dort eher eine Nebenrolle zu. Grundlage für die Rezeption war denn auch nicht die lemmatisch abgehandelte enzyklopädische „Weltgeschichte", sondern die „inhaltsvollen Ausbreitungen", wie sie in den Editionen auf der Basis der Nachschriften vorliegen. Die Fülle der dort ausgebreiteten Materialien zeigt Hegels „unermeßliche Vertrautheit mit den Tatsachen" (Rosenkranz, 141). Eine Vertrautheit, die nicht selten den Eindruck entstehen ließ, hier werde „ja gar nicht philosophiert" (Rosenkranz, 141). Wer sich im Gegenzug an der „kargen"2 Einordnung der Weltgeschichte in der Enzyklopädie und den Grundlinien orientiert, dem zeigen sich die „Mängel" dieser „Weltgeschichte": Das Fehlen der Zukunft und die bloße Aufarbeitung der Vergangenheit - ein Vorwurf mit dem sich bereits Rosenkranz auseinanderzusetzen hatte. Die zu Hegels Philosophie der Weltgeschichte überlieferten Materialien geben ein uneinheitliches Büd. Einerseits haben wir eine aus Hegels Hand stammende Einleitung3 sowie den logischen Grundriß der zentralen Bestimmungen seiner Weltgeschichtskonzeption. Andererseits sind uns im wesentlichen durch Schülerhand eine Fülle von Materialien aus den Berliner Vorlesungszyklen zur Weltgeschichte überlie* fert.4 Hegels Begriff und Konzeption ein schichte gilt es in diesem Spannungsfeld zu entwickeln. Das Kolloquium zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (Bochum, 25. -28. 9.1996) sollte hierfür den Boden bereiten, indem es die Hauptfelder einer künftigen Aufarbeitung exemplarisch zu entwickeln suchte. Die Auseinandersetzung um die Hegelsche Geschichtsphilosophie ist in den vergangenen Jahren insofern in eine neue Phase getreten, als mit der Fülle der bekanntgewordenen sekundären Quellen - die Nachschriften aus Schülerhand - die Frage nicht nur nach dem Text der Hegelschen Vorlesungen neu zu stellen ist. Es zeigte sich vielmehr, daß 2
F. Brundstäd: Vorrede. In: G. W. E Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Leipzig 1907.3-26. 3 Es ist das Verdienst J. Hoffmeisters, erstmals eine textkritische Edition dieser Materialien vorgelegt zu haben. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd 1. Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 61994. Die Einleitungen liegen jetzt vor in: G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 18. Hrsg. v. W. Jaeschke. Hamburg 1995. 4 Einen Überblick über die vorhandenen Materialien gibt A. Großmann: Weltgeschichtliche Betrachtungen in systematischer Absicht. Zur Gestalt von Hegels Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. In: Hegel-Studien. 30 (1996), 27-61.
Einleitung
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die Konzeption selbst auf der Grundlage der Nachschriften neu zu diskutieren ist. Die Auswahl der erörterten Problemfelder verfolgte darüberhinaus das Ziel, einer künftigen Entscheidung darüber, wie die überlieferten Materialien im Rahmen der Zweiten Abteilung der Gesammelten Werke zu edieren sind, den Weg zu ebnen. Das Anliegen der Berliner Weltgeschichtsvorlesungen tritt ohne hinreichende Kenntnis der Formationsbedingungen der Hegelschen Geschichtsphilosophie nur verkürzt in den Blick. Hegels Entschluß - „Besseres nicht als die Zeit, aber aufs beste sie sein"5 - steht am Ende der Frankfurter Zeit und signalisiert den Willen, mit der „höchsten Subjektivität" zu brechen, um eine „Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden"6. Dieses Programm fordert mit der Deutung der eigenen Zeit auch eine Ortsbestimmung in der Geschichte, „weltgeschichtliche" Überlegungen gewinnen an Bedeutung. Erstmals kommt dieser Begriff in den Entwürfen zur Verfassungsschrift zur Anwendung. In seinem Beitrag geht Hans Maier den Elementen des späteren weltgeschichtlichen Denkens in dieser frühen Jenaer Arbeit nach. In dem „Ideen-Laboratorium" (H. Maier) Verfassungsschrift entfaltet Hegels Diagnose der Gegenwart die grundlegenden Prinzipien, die später bei der Erfassung der „germanischen Welt" zur Anwendung kommen werden. Auch wird die „Repräsentation" hier als universalgeschichtliche Kategorie entdeckt. Diese Kategorie ermöglicht ihm die lang gesuchte Verknüpfung der alten Zeit mit der Gegenwart. Daß die „Weltgeschichte" für Hegel zu einem bleibenden Thema geworden ist, zeigt auch die letzte Jenaer Arbeit Hegels, die Phänomenologie des Geistes. Der dort vorgetragenen Geschichtskonzeption widmet sich der Beitrag von D. Köhler. Die Geschichtskonzeption der Phänomenologie des Geistes zeigt, daß Hegel am Ende der Jenaer Zeit über ein Begriffsinstrumentarium verfügt, das mit der Unterscheidung zwischen kontingenter und wirklicher Geschichte die entscheidenden Prämissen für die spätere Systematik bereitstellt. Für die Auseinandersetzung mit Hegels Berliner Weltgeschichtsvorlesungen stellen die überlieferten Nachschriften der Schüler eine besondere Problematik dar. A. Großmann gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die Quellenlage, die überlieferten Nachschriften und die vor5
Das Epigramm ist abgedruckt bei F. Rosenzweig: Hegel und der Staat. 2. Neudruck der Ausgabe 1920. Aalen 1982.100. 6 So Hegel am 2. November 1800 in einem Brief an Schelling, Briefe von und an Hegel. Bd 1. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1952.59/60.
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liegenden Editionen. Die vergleichende Analyse verschiedener Vorlesungsjahrgänge hinsichtlich der Behandlung der „Reformation" zeigt strukturelle Modifikationen, die die Weltgeschichtsvorlesungen weit weniger als systematisch abgeschlossenes Werk erscheinen lassen, als es vergangene Editionen glaubhaft zu machen wünschten. Vergleichend geht auch Franz Hespe in seinem Beitrag zur Entwicklung des Geistbegriffs in den Berliner Vorlesungen vor. Aufbauend auf Kants Begriff der inneren Zweckmäßigkeit greift Hegel den Aristotelischen Entelechiebegriff auf: Die verschiedenen Seelenvermögen werden als Prozeß der Selbstverwirklichung der Seele bzw. des Geistes interpretiert. Darüberhinaus wird der Prozeß der Selbstorganisation als ein Prozeß der Freiheit im Sinne von Autonomie und Selbstsetzung gedeutet. Der Vergleich zwischen den Vorlesungsjahrgängen 1822/23 und 1831 zeigt Hegel hinsichtlich der Bestimmung des Geistes in einer „signifiganten Entwicklung" (Hespe). Ähnliche Gewichtsverlagerung, ja Umbewertungen lassen sich für die Behandlung Preußens und der Reformation feststellen. In meinem Beitrag gehe ich der Frage nach, inwieweit die Neubewertungen der Reformation bereits als eine systematische Neuorientierung zu bewerten ist, wie sie etwa Franz Rosenzweig für Hegels Auffassung des Verhältnisses von Kirche und Staat behauptete. Ergänzend zur Diskussion im Rahmen des Kolloquiums hat J. Dierken in seinem Beitrag für diesen Band die Aufgabe übernommen, den theologischen Rahmenbedingungen der Hegelschen Reformationsdeutung nachzugehen. Dierken zeigt, daß Hegels Verständnis der Reformation sich weniger von Luther selbst her versteht, sondern seine Wurzeln im Neu- bzw. Kulturprotestantismus hat. Das protestantische Prinzip' ist weniger die Kopie einer empirischen Gestalt des Reformationschristentums, vielmehr ist sie als „konstruktive Deutungsfigur" zu lesen, die Hegel aufbietet, um die Vernunft in der Geschichte zu erhellen. Den Hintergrund für das Problem ,Religion - Staat', ,Kirche - Staat' bildet die prinzipielle Frage, wie Hegel das Verhältnis der drei Geschichten des absoluten Geistes untereinander bestimmt, und welcher ,Ort' diesen Geschichten in der „objektiven" Geschichte zukommt. Dieses für die Hegelsche Geschichtsphilosophie zentrale Problem steht auch im Mittelpunkt der Hegelschen Bildungskonzeption, die eine Vermittlung zwischen absolutem und objektivem Geist zu geben sucht. Z. e. weist Hegel der Bildung im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft eine spezifische Rolle zu, z. a. sucht er in den Vorlesungen über Ästhetik die Geschichtlichkeit der Kunst für diesen Bildungsauftrag fruchtbar zu machen. In ihrem Beitrag zeigt Jeong-Im Kwon anhand der Nach-
Einleitung
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Schriften zu den Vorlesungen, wie Hegels aufwertender Rückgriff auf die orientalische Weltanschauung und deren Vermittlung in der Poesie im Rahmen der Konzeption einer „formellen Bildung" für die Moderne Aktualität gewinnt. Die formelle Bildung zur Allgemeinheit kennt keine inhaltlichen Präferenzen. Womit sich die scheinbaren Paradoxien der Hegelschen Geschichtskonzeption Teleologie" und ,Ende der Geschichte" auflösen, insofern auf der Basis der formellen Bildungsaufgaben, Hegels teleologisches Konzept lediglich als methodischer Entwurf ohne inhaltliche Festsetzung des Telos zu lesen ist. Neben die Auseinandersetzung mit dem Text der Hegelschen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte sollte im Rahmen dieses Kolloquiums auch die Frage nach dem Fortwirken der Hegelschen Konzeption in den Arbeiten der Schülern gestellt werden. E. Gans hat sich nicht nur als Herausgeber um die Hegelsche Geschichtsphilosophie verdient gemacht, mit seinem juristischen Hauptwerk, dem Erbrecht, legt Gans eine eigenständige Anwendung der Hegelschen Rechts- und Geschichtsphilosophie vor. Der Beitrag von N. Waszek greift mit seiner Untersuchung zu den geschichtsphilosophischen Grundbegriffen des Gansschen Erbrechts die Frage nach dem Fortwirken der Hegelschen Konzeption im Kontext der für die Jurisprudenz der Zeit bedeutsamen Auseinandersetzung um die Relevanz geschichtlicher Rechtssysteme auf. Fragt man nach den Faktoren, die das gegenwärtige Geschichtsverständnis hervorgebracht haben, so müssen, so O. Pöggeler, gerade jene Ansätze Beachtung finden, die im Vergleich zu Hegel ganz andere Wege zu gehen suchten. Friedrich Schlegels Kölner Vorlesungen über Universalgeschichte bilden die Grundlage für die späteren geschichtsphilosophischen Publikationen, deren Rezeption allerdings durch die politische Option Schlegels stark eingeschränkt blieb. Der Beitrag von O. Pöggeler zeigt, wie Schlegel eigenständig „Geschichte im ganzen philosophisch von Prinzipien her" aufzuarbeiten sucht. Gegen die idealistischen Konstruktionen der Zeitgenossen betont Schlegel „die Individualisierung der geschichtlichen Bildungen und die Offenheit der Geschichte". Eher negativ bewertet S. Jordan in seinem Beitrag die Rolle der Hegelschen Geschichtsphilosophie für die Ausbildung der ,historistischen" Geschichtswissenschaft. Als Beispiel dient Droysens Entwicklung bis zur Niederschrift der Historik, die weniger auf Hegel als auf innergeschichtswissenschaftliche Traditionen verweise. Ein letzter Diskussionsschwerpunkt des Kolloquiums galt der Frage, inwieweit geschichtsphilosophische Konzeptionen des zwanzigsten
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Elisabeth Weisser-Lohmann
Jahrhunderts sich aus dem Schatten des Hegelschen Ansatzes zu lösen vermochten. Neben Hans Freyers Rekonstruktion der Weltgeschichte stand Franz Rosenzweigs Versuch einer „Erneuerung des Denkens" aus der Kritik an Hegels System zur Diskussion. Thomas Gil und HansJürgen Görtz stellen in ihren Beiträgen diese Ansätze vor. Die Frage, ob eine konsequent nachhegelsche Geschichtsphilosophie gelingen kann und an welche Bedingungen sie geknüpft bleibt, steht im Zentrum des Denkens von Paul Ricoeur. Ricoeurs Antwort auf die Forderung „auf Hegel verzichten" stellt der Beitrag von B. Liebsch zur Diskussion. An dieser Stelle bleibt die Hoffnung, daß das Kolloquium neue Anstöße für die Auseinandersetzung mit Hegels Geschichtsphilosophie zu geben vermag. Danken möchten wir an dieser Stelle insbesondere der Fritz-Thyssen Stiftung, die durch ihre finanzielle Unterstützung dieses Kolloquium ermöglicht hat. Bochum, im Juli 1997
Elisabeth Weisser-Lohmann
I HEGELS JENAER GESCHICHTSKONZEPTION
HANS MAIER (MÜNCHEN)
. . . DIESE DRITTE UNIVERSALE GESTALT DES W ELTGE IST ES" Weltgeschichtliches Denken in Hegels Verfassungsschrift
Hegels Verfassungsschrift war lange Zeit ein Stiefkind der Forschung. Nicht nur, daß bis heute eine kritische Edition fehlt, die die einzelnen Ausarbeitungen, Textstufen, Fragmente und Ergänzungen dokumentiert,1 auch bezüglich der politischen Intentionen der Schrift, ihrer Adressaten, ihrer möglichen Auftraggeber sind wir bis heute in vieler Hinsicht auf Vermutungen bzw. auf mehr oder minder schlüssige Interpretationen aus dem Text selbst angewiesen. Dabei ist die zu Lebzeiten Hegels nie veröffentlichte Schrift ein wahres Ideen-Laboratorium: eine Fülle von Elementen des Hegelschen Rechts- und Geschichtsdenkens finden sich hier in verhältnismäßig lockerem Aggregatzustand - spielerisch entfaltet im Rahmen einer Flugschrift (oder Denkschrift) zu aktuellen politischen Fragen, die den jungen Hegel ebenso als Historiker, Juristen, Ökonomen, als Kenner der Verfassungs-, Militär- und Finanzgeschichte Deutschlands wie als Geschichtstheoretiker und Philosophen und nicht zuletzt als Publizisten und politischen Reformer zeigt. Nach dem Tagungsplan sollte mein Thema heißen: Hegels Weltgeschichtskonzeption in der Verfassungsschrift. Im Zug der Ausarbeitung bekam ich Zweifel, ob diese Formulierung nicht eine Spur zu grundsätzlich ist. Enthält die Verfassungsschrift wirklich schon eine ausgereifte Konzeption der Weltgeschichte? Sicher nicht - ich habe den Ausdruck „Ideen-Laboratorium" gebraucht, um das Fließende, Unabgeschlossene der Hegelschen Ausarbeitungen anzudeuten. Einmal war die Schrift über die Reichsverfassung ein Kind der bewegten Zeit unmittelbar vor und nach 1800; mehr als einmal liefen dem Verfasser die Ereignisse davon, so daß er die Arbeit unterbrechen und unter verän1
Inzwischen liegt Bd 5 der Gesammelten Werke im Manuskript vor und wird 1998 in Hamburg erscheinen. Kurt R. Meist, dem Editor der Verfassungsschrift, danke ich herzlich für Einblicke in die Editionsarbeit, vor allem in die historisch-kritische Zuordnung der einzelnen Textschichten. Im folgenden wird - noch - zitiert nach: G. W. F. Hegel: Werke. Hrsg. v. E. Moldenhauer u. M. Michel. Frankfurt/Main 1969 ff; Taschenbuchausgabe 1986 ff (hier Bd 1, Frühe Schriften. 31994).
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Hans Maier
derten Voraussetzungen wieder neu aufnehmen mußte. Aber auch abgesehen von den Zeitläuften, vom notwendigen Tribut, den eine politisch angelegte Schrift an das Tagesgeschehen zahlt: die Verfassungsschrift enthält auch in sich so viele Spannungen, Ungereimtheiten, terminologische Ungleichheiten, unaufgelöste Widersprüche, daß man sie angemessener als eine mit historischen Exkursen angereicherte Zeitdiagnose -durchaus in politisch-therapeutischer Absicht- lesen sollte. Eine systematisch gegliederte und durchorganisierte Geschichtskonzeption findet sich in ihr noch nicht. Man beachte nur den offenkundigen Widerstreit zwischen dem Anfang und dem Ende: dem kontemplativen Eingang, der angesichts des verlorenen Krieges und des für Deutschland verlustreichen Friedens zum „Verstehen dessen, was ist" aufruft und ein „in Worten gemäßigtes Ertragen" des Unvermeidlichen anmahnt,2 dem fatalistischen Ton der folgenden historischen Darlegungen zum deutschen Schicksal und seiner „eisernen Notwendigkeit"3 und anderseits, gegen Schluß hin, der jähen Beschwörung Machiavellis als Zeuge dafür, „daß das Schicksal eines Volks, das seinem politischen Untergange zueilt, durch Genie gerettet werden könne",4 und dem hochgemuten Appell an einen neuen Theseus für Deutschland - in deutlicher Parallele zum Schlußkapitel des „Principe"5. Sprechen wir also lieber von Elementen weltgeschichtlichen Denkens in Hegels Verfassungsschrift. Solches Denken ist in der umfangreichen Schrift unzweifelhaft an vielen Stellen präsent und wirksam - aber es steht noch nicht im Mittelpunkt, es ergibt sich, oft nebenbei, am Rand historischer Analysen, bei denen Hegel, auf der Suche nach den Gründen des Machtverfalls des Deutschen Reiches, eine Fülle empirischer Materialien präsentiert.6 Außerdem halten sich die weltgeschichtlichen Erwägungen und Betrachtungen Hegels in dieser Schrift - setzt man
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G. W. F. Hegel: Die Verfassung Deutschlands (= Frühe Schriften, Frankfurt/Main 31994. 449-610). 463 f. 3 AaOS17. 4 AaO 553-558. 5 AaO 577-581. 6 Insofern gehört die Verfassungsschrift in Hegels Werk zu den dezidiert politisch-historischen Schriften - also der Waadtland-Schrift, den Schriften zur württembergischen Politik und der späten Schrift über die englische Reformbill. Freilich führt sie von all diesen Schriften bei aller Materialfülle am meisten phüosophische - und weltgeschichtliche - Reflexion mit sich.
... diese dritte universale Gestalt'
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sie in Beziehung zu seinen späteren Einteilungen der Weltgeschichte7 ganz im Rahmen der „neuen Zeit“, der „germanischen Welt“ (die hier die romanisch-germanischen Volker als Erben des Römischen Reiches seit der Völkerwanderung umfaßt); nur selten greift der Verfasser in einzelnen Bemerkungen weiter zurück8 - und nur an einer Stelle umspannt sein Blick das Ganze der Weltgeschichte: dort, wo er von der Repräsentation als dem „System aller neueren europäischen Staaten" spricht und bedeutsam hinzufügt: „Es ist nicht in Germaniens Wäldern gewesen, aber es ist aus ihnen hervorgegangen; es macht Epoche in der Weltgeschichte. Der Zusammenhang der Bildung der Welt hat das Menschengeschlecht nach dem orientalischen Despotismus und der Herrschaft einer Republik über die Welt aus der Ausartung der letzteren in diese Mitte zwischen beiden geführt, und die Deutschen sind das Volk, aus welchem diese dritte universale Gestalt des Weltgeistes geboren worden ist.“9 - Dies ist, nota bene, die einzige Stelle in der Verfassungsschrift, in der das Wort Weltgeschichte auftaucht. Wir kommen auf diese Passage später noch einmal zurück.
I. Staat und alte deutsche Freiheit Zunächst gilt es den Grundgedanken hervorzuheben, der sich in der Verfassungsschrift unter mannigfachen, oft sich überkreuzenden historischen Erörterungen und Erwägungen verbirgt. Er wird greifbar in der Gegenüberstellung zweier Begriffe, in denen sich polare geschichtliche Mächte verkörpern: ^taat' auf der einen - ,alte deutsche Freiheit' auf der andern Seite. Hegel sieht im Zusammenstoß des revolutionären Frankreich und des Reiches einen Aufeinanderprall gegensätzlicher Prinzipien: auf der 7
Hier begegnet uns eine Einteilung in vier Phasen (vier Gestalten des Geistes): die orientalische, griechische, römische, germanische (vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd 1: Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 61994, Anhang), während in der Verfassungsschrift eine Dreiteilung - Orient, Rom, Deutschland - angedeutet wird (siehe unten Anm. 9). 8 Stets gegenwärtig sind römische Republik und römische Imperatoren als Rechtsvorgänger der in ihr Erbe eingetretenen germanisch-deutschen Welt (Verfassungsschrift: 525); den versunkenen Orient repräsentiert das Türkische Reich (539); und gegenwärtig ist auch - in eigentümlicher Gemeinsamkeit mit der deutschen - die jüdische Nation, der eine ähnliche „Hartnäckigkeit in dem Besonderen", eine ähnliche (ja noch weitergehende) Tendenz zur Absonderung zugeschrieben wird wie den Deutschen (580 f). 9 Verfassungsschrift: 533.
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einen Seite die Zusammenfassung aller Kräfte zu einem „nach Gesetzen durch Freiheit bestimmten“ Mittelpunkt,10 die Vereinigung in ein Allgemeines in „gemeinschaftlicher freier Unterwürfigkeit unter eine oberste Staatsgewalt“11; auf der anderen Seite eigenwilliges Tun, Besonderung der Einzelnen, hartnäckiges Festhalten am Erworbenen, „Kreise von Gewalt über andere nach Zufall und Charakter, ohne Rücksicht auf ein Allgemeines und mit wenig Einschränkung von dem, was man Staatsgewalt nennt“.12 Zentripetale Kräfte dort, zentrifugale Kräfte hier- das führt dazu, daß die revolutionären Heere im Krieg mit Deutschland sehr viel einheitlicher, koordinierter und schlagkräftiger agieren als die an Größe weit überlegene, jedoch aus vielen Kontingenten zusammengesetzte, uneinheitliche, vielfach mangelhaft geführte und schwer bewegliche Reichsarmee. (Ähnliche Analysen gelten den Reichsfinanzen13 und der Reichsgerichtsbarkeit14.) Da aber, wie Hegel sagt, „die Stärke eines Landes weder in der Menge seiner Einwohner und Krieger, noch seiner Fruchtbarkeit, noch seiner Größe besteht, sondern allein in der Art, wie durch vernünftige Verbindung der Teile zu einer Staatsgewalt alles dies zum großen Zweck der gemeinsamen Verteidigung gebraucht werden kann",15 ist der Ausgang des Krieges für ihn kein Zufall. Das überholte Prinzip muß dem fortgeschrittenen weichen. Die stärkere Macht siegt über die schwächere. Die französische Republik, in der die Macht konzentriert ist wie in keinem Land Europas, zwingt das alte Reich in die Defensive, offenbart vor aller Augen seine Ohnmacht, macht es zum „Gedankenstaat".16 Im Krieg mit der französischen Republik wird sichtbar, daß Deutschland kein Staat mehr ist17. Es ist nicht mehr ein vereinigtes Ganzes, fähig, sich zu wehren und gegen Angreifer zu behaupten; es präsentiert sich vielmehr als ein loses Bündel unabhängiger, im Grunde souveräner Staaten, die zu gemeinsamem Handeln nicht mehr imstande (und auch nicht willens) sind. Auf AaO 550. AaO 466. AaO 467. AaO 491-497. AaO 503-516. AaO 503. 16 „Die Auflösung des Problems, wie es möglich wäre, daß Deutschland kein Staat sei und doch ein Staat sei, ergibt sich (dadurch) sehr leicht, daß es ein Staat ist in Gedanken und kein Staat in der Wirklichkeit, daß Formalität und Realität sich trennen, die leere Formalität dem Staat, die Realität aber dem Nichtsein des Staates zugehört" (Verfassungsschrift: 505). 17 Verfassungsschrift: 452,462. 10
11 12 13 w 15
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die alte Frage der Staatsrechtslehrer nach der Natur des Reiches antwortet Hegel in Anlehnung an Voltaire18: der politische Zustand Deutschlands sei „eine rechtliche Anarchie", sein Staatsrecht „ein Rechtssystem gegen den Staat".19 „Im Deutschen Reiche ist die machthabende Allgemeinheit, als die Quelle alles Rechts, verschwunden, weil sie sich isoliert, zum Besonderen gemacht hat. Die Allgemeinheit ist deswegen nur noch als Gedanke, nicht als Wirklichkeit mehr vorhanden."20 Deutschland ist also kein Staat mehr. Aber war es je ein Staat? Auf der Suche nach den historischen Ursachen der gegenwärtigen Katastrophe gelangt Hegel zu radikalen, das Problem verschärfenden und zuspitzenden Formulierungen. Hinter der aktuellen Krise erscheinen ältere Bewegungskräfte, die weit zurückreichen in die Vergangenheit - in die Anfänge deutscher Geschichte, in die Tiefen und Untiefen des nationalen Charakters der Deutschen. Gerade der berühmteste Zug der Deutschen, ihr Trieb zur Freiheit, ist nämlich zugleich die Ursache der verhängnisvollen Schwäche ihrer Staatlichkeit. Denn dieser Trieb ist es, „der die Deutschen, nachdem alle anderen europäischen Volker sich der Herrschaft eines gemeinsamen Staates unterworfen haben, nicht zu einem gemeinschaftlicher Staatsgewalt sich unterwerfenden Volke werden ließ."21 Verstockt in Besonderung und Vereinzelung, haben die Deutschen den „freien, persönlichen, von Willkür abhängigen Anteil" nicht in den „freien, von Willkür unabhängigen Anteil verwandeln wollen, der in der Allgemeinheit und Kraft von Gesetzen besteht.. ."22 So ist die Staatsmacht zerfallen; sie wurde zu einer „Mannigfaltigkeit von ausschließendem, vom Staat selbst unabhängigem und nach keiner Regel noch Grundsatz verteiltem Eigentum."23 Ins Extrem getrieben, schließt die alte deutsche Freiheit den Begriff des Staates von sich aus. Das Allgemeine geht in einer unübersehbaren Fülle des Konkreten unter. An die Stelle zentralen staatlichen Handelns tritt das Verhandeln aller mit allen - eine naturhafte Bewegung, gegen die kein Gesetz ankommt. Ironisch bewundernd sagt Hegel: „Das Deutsche Reich ist ein 18
Voltaire wird in der Vorrede von 1799/1800 ausdrücklich mit Namen genannt (Verfassungsschrift: 452); in der im Frühjahr 1801 in Jena überarbeiteten Fassung der Einleitung, nennt Hegel ihn (ohne Namen) einen „auswärtigen Staatsrechtsgelehrten" (aaO 461). 19 Verfassungsschrift: 470. 20 AaO 459. 21 AaO 465. 22 AaO 466. 23 AaO 467.
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Reich, wie das Reich der Natur ist (in) seinen Produktionen, unergründlich im Großen und unerschöpflich im Kleinen, und diese Seite ist es, welche die Eingeweihten in die unendlichen Details der Rechte mit jenem Staunen vor der Ehrwürdigkeit des deutschen Staatskörpers und mit jener Bewunderung für dies System der durchgeführtesten Gerechtigkeit erfüllt/'24 Doch man täusche sich nicht: Dem Staatslehrer Hegel mag die alte deutsche Freiheit als Absurdität erscheinen, wenn er gegenüber den Idealbildern des Reichsrechts den Begriff des Staats und seiner Minima politica entwickelt („das Eigentum und seine Verteidigung durch eine Staatsverbindung .. Z')25; der Historiker Hegel mag seinen Spott ausgießen über die deutsche Ehrfurcht vor überlieferten Rechten und den längst leer gewordenen Schein prunkvoller Zeremonien, etwa bei der Kaiserkrönung26; der politische Reformer endlich, der die Reichsverfassung zu später Stunde effizient und Deutschland handlungsfähig machen will, mag in Zorn und Gewalttätigkeit verfallen, wenn er die „vollendete Absonderung des Einzelnen von seinem Geschlecht" geißelt und nach einem Eroberer ruft, um die Deutschen zur Räson zu bringen: „Der gemeine Haufen des deutschen Volks nebst ihren Landständen, die von gar nichts anderem als von Trennung der deutschen Völkerschaften wissen und denen die Vereinigung derselben etwas ganz Fremdes ist, müßte durch die Gewalt eines Eroberers in eine Masse versammelt, sie müßten gezwungen werden, sich zu Deutschland gehörig zu betrachten."27 Doch man kann bei alledem nicht überhören, mit welcher Leidenschaft, mit welch ungewöhnlichem sprachlichem Atem Hegel in der Verfassungsschrift immer wieder von der alten deutschen Freiheit spricht. Hier ist mehr im Spiel als Nostalgie, hier spiegelt sich die Abkehr von einer reinen, über die Zeit sich erhebenden Subjektivität, die Abkehr auch von Jugendträumen und Jugendfreunden.28 Jedenfalls ist jener Zustand, „worin die Nation, ohne ein Staat zu sein, ein Volk ausmachte", dem Autor der Verfassungsschrift nicht fremd, wie das lyrische Pathos seiner Schilderungen zeigt: „In dieser Zeit der alten deutschen Freiheit stand der Einzelne in seinem Leben und Tun für 24 25 26 27
AaO 468 f. AaO 472-484 (473). AaO 525 f. AaO 580. 28 Zur Interpretation vgl. K. R. Meist: Zur Entstehungsgeschichte einer Philosophie der „Weltgeschichte" bei Hegel in den Frankfurter und Jenaer Entwürfen. Habil.-Schrift (masch.), Bochum 1986.233 ff, 265 ff, 273 ff.
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sich; er hatte seine Ehre und sein Schicksal nicht auf dem Zusammenhang mit einem Stand, sondern auf ihm selbst beruhend. In seinem eigenen Sinn und Kraft zerschlug er sich an der Welt oder bildete er sie sich zu seinem Genuß. Zum Ganzen gehörte er durch Sitte, Religion, einen unsichtbaren lebendigen Geist und einige wenige große Interessen. Sonst - in seiner Betriebsamkeit und Tat - ließ er sich nicht vom Ganzen beschränken, sondern begrenzte sich ohne Furcht und Zweifel nur (durch) sich selbst; aber was innerhalb seines Kreises lag, war so sehr und so ganz Er selbst, daß man es nicht einmal sein Eigentum nennen konnte, sondern für das ihm zu seinem Kreise Gehörige, was wir einen Teil nennen würden, (woran wir) also auch nur einen Teil unsrer selbst setzen würden, setzte er Leib und Leben und Seele und Seligkeit daran."29 So spricht niemand, der in dem „eigenwilligen Tun, das allein Freiheit genannt wurde",30 etwas nur Negatives sieht. Zur Verdeutlichung des zur Wahl stehenden Antagonismus Staat alte deutsche Freiheit gebraucht Hegel ein der damaligen Zeit geläufiges Bild: „Die Teilung und Berechnung, worauf unser Gesetzeszustand beruht, (so) daß es für eine geraubte Kuh nicht der Mühe wert ist, den Kopf aufs Spiel zu setzen, noch gegen eine zehnfach und unendlich überlegene Macht (wie die [des] Staats) unverhohlen sich mit seiner Einzelheit zu setzen, kannte er nicht, sondern war vollständig und ganz in dem Seinigen. (Den Franzosen ist entier ,ganz' und eigensinnig'.)"31 Man erinnere sich bei diesen Worten der letzten großen dichterischen Gestaltung der alten deutschen Freiheit (in einer schon individualistisch-rechtskämpferischen Zuspitzung) in Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas" (endgültige Fassung 1810). Hegel nimmt in der für Deutschland noch ungeschriebenen Literaturgeschichte der ,alten deutschen Freiheit'32 einen besonderen Platz ein. Diese Tradition ist alt: sie reicht von den tacitusbegeisterten Humanisten des 16. Jahrhunderts über Osse, Seckendorff und die Verteidiger der deutschen Libertät' im 17. und 18. Jahrhundert bis zu Möser und zur Rheinbundpublizistik zur Zeit Napoleons; noch die Romantik ent29
Verfassungsschrift: 466. 30 AaO 467. 31 AaO 466 f. 32 Hinweise bei D. Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976; Chr. Link: Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre. Wien/Köln/Graz 1979; H. Maier: Das Freiheitsproblem in der deutschen Geschichte. Karlsruhe 1992. - Für Frankreich: E. Höhle: Die Idee einer altgermanischen Freiheit vor Montesquieu. 1925.
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leiht Stichworte von ihr - und nicht weniger der Frühliberalismus mit seinem Ruf nach dem „guten alten Recht". Hegel bricht als einer der ersten mit dieser einseitig verklärenden Darstellung der alten deutschen Freiheit - obwohl er sie noch einmal in großartigen Bildern zu beschwören weiß. Die alte deutsche Freiheit ist ihm ebenso auszeichnendes Merkmal der Deutschen wie tiefster Grund für den Verfall ihrer Verfassung und den Niedergang ihres Staates. Mag sein, daß sie das Gemüt mehr bewegt, daß sie ein wärmeres Klima schafft, daß sie den „schneidenden Luftzug" des modernen Staates vom einzelnen femhält - dieser darf sich geborgen fühlen in einer älteren Verfassung, einer staatlosen Welt des gemeinen Rechts. Doch das bleibt bloße Erinnerung, und es gilt nur für Normal- und Friedenszeiten. Gegen äußere Feinde bietet die alte deutsche Freiheit keinen wirksamen Schutz. Ein Volk ohne Staat kann sich nicht ernsthaft wehren. In einem Konflikt wie dem mit dem revolutionären Frankreich droht es zerrieben zu werden und zugrunde zu gehen.
II. Eigentum, Gesetz, Repräsentation Ist also für Hegel die Zuwendung zum Staat die unvermeidliche Folgerung aus dem Scheitern älterer (vorstaatlicher) Freiheit, öffnet für ihn erst der Staat dem Volk den Eintritt in die Weltgeschichte33 - wie sieht dann der in der Verfassungsschrift al fresco entworfene neue Staat34 im einzelnen aus? Kann die diffuse Staatlichkeit des Reiches überhaupt weiterentwickelt werden? Kann sie transformiert werden in ein festeres, stabileres politisches Gebilde? Welche neuen Elemente sind dazu nötig - und welche alten? Und in diesem Zusammenhang: Ist die alte deutsche Freiheit für den modernen Staat etwas gänzlich Vergangenes, Abgelebtes? Oder kann etwas von ihr in die neue Verfassung des Gemeinwesens eingehen? Weltgeschichtlich gesehen: Waren alte deutsche Freiheit - und Altes Reich - historische Sackgassen, Engführungen der Geschichte? Oder gibt es Brücken zwischen der jahrhundertalten hartnäckigen „Besonderung" der Deutschen und dem Gang der Weltgeschichte? Machen wir uns zuerst die sprachliche Situation klar, in der sich Hegel befand, als er vom Staat zu sprechen begann. (Die weit geläufigeren 33 34
So die Quintessenz der Verfassungsschrift: 524 ff, 537 ff, 548 ff, 572. Verfassungsschrift: 472-485.
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Begriffe der Zeit, die auch er verwendet, hießen ,Reich' und ,Stand'!) Staat war damals ein bereits etabliertes Wort - es hatte den Bezirk der Gelehrtensprache längst überschritten.35 EinjMonopol für die von ihm bezeichnete Sache hatte es freilich noch nicht. Es stand in einem breiten Umfeld konkurrierender Begriffe wie Herrschaft, Obrigkeit, gemeines Wesen, Landschaft - und eben Reich und Stand. Auch moralisch war der Ruf des Wortes Staat noch nicht gefestigt. Der Staatsbegriff war mit der Ratio-Status-Lehre nach Deutschland gekommen und blieb in diesem Umfeld bis zur Schwelle des 19. Jahrhunderts; kein Wunder also, daß sich die volkstümliche Kritik und Abwehr in einer Fülle boshafter, distanzierender und pejorativer Redensarten Luft machte. Selbst Hegel beteiligt sich an diesem Spiel, wenn er eingangs in der Verfassungsschrift geringschätzig von „Katheder-Statistikern" spricht36 (ein Statistiker war damals noch ein Staatswissenschaftler, ein Erzähler von Staatsdingen - die Verengung des Sprachgebrauchs auf die mathematische Statistik vollzieht sich erst im späteren 19. Jahrhundert!)37 Positive und negative Staatsbilder liegen in Hegels Zeit dicht nebeneinander. Dämonisierung und Idealisierung des Staates lösen einander ab - oftmals beim gleichen Autor.38 Unterschiedliche Vorgänge spiegeln sich im Staatsbegriff: die „Stabilirung" fürstlicher Souveränität ebenso wie die gegenläufigen Tendenzen zu ständischer Mitwirkung und Volksrechten; die objektiven, transpersonalen Ordnungen der Verwaltung, des Kriegs-, Finanz- und Rechtswesens wie die höchstpersönliche monarchisch-patriarchalische Obsorge für das „gute Leben" der Bürger. Die späte Aufklärung holt den Staat nachdrücklich vom Himmel herab, entdämonisiert und verbürgerlicht ihn- gewinnt ihm freundliche Seiten, funktionale Nützlichkeit ab mit den Metaphern der Maschine, der Brandkasse (Schlözer), der Versicherung, in die man „Aktien einlegt" (Möser). Aber gerade gegen diese Funktionalisierungen regt sich bald Widerspruch - so etwa, wenn Schiller aus seinen Mitbürgern „Staatsfreunde" machen will, oder wenn die frühe Romantik (Novalis) sich einen „poetischen Staat" erträumt. So kommt auch Hegel in der Verfassungsschrift nicht um eine Explikation seines Staatsbegriffs herum - angesichts der Vieldeutigkeit des 35 Zum folgenden: P. L. Weinacht: Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert. Berlin 1968. 35 Verfassungsschrift: 452. 37 M. Rassem/J. Stagl (Hrsg.): Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit, vornehmlich im 16. -18. Jahrhundert. Paderbom/München/Wien/Zürich 1980.15 f. 38 Weinacht: Staat (wie Anm. 35). 214 ff, 239 ff, 255 ff.
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Wortgebrauchs eine schlichte Notwendigkeit und eine Vorkehrung gegen Mißverständnisse. Nicht ohne didaktischen Nachdruck grenzt er den Begriff nach allen Seiten gründlich ab.39 Der Staat ist kein Gedankenstaat. Er muß wirklich, nicht nur in Absichten und Plänen, zur Verteidigung, zur Selbstbehauptung fähig sein. Das ist nicht die vielberufene Hinwendung Hegels zum machtstaatlichen Denken; die enge Verbindung, ja Gleichsetzung von Staats- und Wehrverfassung ist gut deutschrechtlich, wurzelt in der Welt des Alten Reiches.40 Moderner, fast aufklärerisch klingt es, wenn Hegel das Eigentum in den Staatszweck hineinnimmt41 - eine Konsequenz, die er in seiner späteren Rechts- und Geschichtsphilosophie bekanntlich wieder abschwächt.42 Man hat darin zu Recht den Niederschlag der ökonomischen Studien Hegels in der Frankfurter Zeit gesehen 43 Auch die Zauberformel des Preußischen Allgemeinen Landrechts - „Freyheit und Eigenthum!" mag man hier wiedererkennen. Freilich spricht Hegel von der Gesamtheit des Eigentums einer Menschenmenge, und gewiß handelt es sich hier nicht um die zum Privateigentum gewordenen politischen Rechte des Alten Reiches. Aber Staatsgewalt, Wehrfähigkeit und Verteidigung des Eigentums sind nun einmal die Bleigewichte, die nach Hegel den sonst leicht ins Idealische und Theoretische entschwebenden Staatsbegriff am Boden halten. Alles andere rückt dagegen in die Sphäre des Zufälligen und Beliebigen. Es kann so, aber auch anders sein. Es ist genau besehen erstaunlich, wieviel Ballast Hegel abwirft, wenn es um die Bestimmung der notwendig zum Begriff des Staates gehörigen Elemente geht: weder die Staatsformen zählen für ihn dazu, noch die Organisation der Gewalten, weder die Gesetze im einzelnen noch die Sitten, die Bildung, die Sprache - ja nicht einmal die Religion.44 Im Bereich der politischen Adiaphora - so sein Rat - soll man die Freiheit der Bürger so weit wie mög39
Verfassungsschrift: 472 ff. Vgl. O. Hintze: Staatsverfassung und Heeresverfassung (1906), jetzt in: Hintze: Gesammelte Abhandlungen. Bd 1,21962,59 ff. 41 Verfassungsschrift: 472 f, 475. 42 In der Rechtsphilosophie ist der Schutz des Eigentums durch die Rechtspflege zwar noch ein Moment in der Bildung der bürgerlichen Gesellschaft, aber nicht mehr des Staates; in der Philosophie der Geschichte wird das Bedürfnis nach Sicherheit des Eigentums als ein „Princip der Meinung" bezeichnet. 43 K. R. Meist: Entstehungsgeschichte (wie Anm. 28). 267. 44 „Sowenig vorher und nachher bei der Absonderung der Volker die Gleichheit der Religionen die Kriege hinderte und sie in einen Staat band, so wenig reißt in unseren Zeiten die Ungleichheit der Religion einen Staat auseinander" (Verfassungsschrift: 478 f). 40
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lieh gewähren lassen. Detailwut führt nur in die Irre; das Prinzip des Staates ist eben nicht „die allgemeine Maschinerie", in der eine einzige Feder allem Bewegung verleiht. Pedanterie im Regieren und Regulieren erzeugt nur „ein ledernes, geistloses Leben" - eine Dürre, für die Hegel, damals noch sowenig „Philosoph der Französischen Revolution" wie „preußischer Staatsphilosoph", zwei sprechende zeitgenössische Staats-Beispiele bei der Hand hat: den preußischen Staat und die französische Republik.45 So ausgerüstet mit einem Staatsbegriff, der, eben weil er mit obrigkeitlichen Regelungen spart, an den „freien und unpedantisierten Geist" des Volkes appelliert,46 geht Hegel an die Geschichte und Kritik der Verfassung des Deutschen Reichs heran.47 Dabei weitet sich sein Thema unter der Hand zu einem historischen Panorama des älteren Europa aus. Es geht um Länder, die Staaten wurden und sich als Staaten bis zur Gegenwart erhalten haben: Frankreich, Spanien, England, Dänemark, Schweden, Holland, Ungarn. Und es geht um Länder, die als Staaten untergegangen sind (wie Polen) oder „sich verteilt" haben (wie Italien). Mitteninne steht Deutschland als Sonderfall - ein Land, das in eine Menge unabhängiger Staaten zerfällt und doch den Anspruch aufrecht erhält, als Ganzes ein Staat zu sein. Nach welchen innewohnenden Bewegungskräften, welchen Prinzipien und Direktiven vollführt Deutschland, vollführen die anderen Staaten ihren geschichtlichen Lauf? Alle sind, so Hegel, ursprünglich vom gleichen Zustand ausgegangen; historisch erklärlich, da die meisten durch germanische Völker gegründet wurden und ihre Verfassung sich aus dem Geist dieser Völker entwickelt hat. „In den germanischen Völkern hatte ursprünglich jeder freie Mann, so wie auf seinen Arm gezählt wurde, so auch mit seinem Willen teil an den Taten der Nation. Die Fürsten sowie Krieg und Frieden und alle Werke des Ganzen wurden vom Volk gewählt. Wer wollte, nahm an der Beratschlagung selbst teil; wer nicht wollte, unterließ es aus freiem Willen und verließ sich auf das gleiche Interesse der übrigen."48 Soweit Hegel. Natürlich hängt seine Sicht von zeitgebundenen, heute problematischen und überholten Vorgaben ab: von der imbefangenen Gleichsetzung von germanisch und deutsch, vom Idealbild einer 45
Verfassungsschrift: 482-485. 46 AaO 485. 47 AaO 485-577. 48 AaO 532.
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germanischen Urdemokratie, in der sich freie Männer zur Mitwirkung - oder Nichtmitwirkung - im Staat entscheiden. All diese Konstruktionen, die Hegel mit seinen Zeitgenossen und mit dem frühen Liberalismus teilt, sollen uns hier nicht interessieren. Entscheidend ist, in Hegels Perspektive, ein Staat, in dem oben und unten. Regieren und Regiertwerden, Herrschaft und Volkszugehörigkeit austauschbar sind. Mit der alten deutschen Freiheit, und mehr noch mit der antiken Bürgergemeinde49, hat diese germanische Welt viele Züge gemeinsam. Nun kommt freilich auch in Hegels weltgeschichtlichem Entwurf der rousseausche Punkt, an dem „die Dinge nicht bleiben können, wie sie sind". Die Völker werden größer; es bilden sich verschiedene Stände; die Bedürfnisse differenzieren sich; nicht allen sind die gemeinsamen Angelegenheiten noch so wichtig wie am Anfang. So entwickelt sich das System der Repräsentation: Monarchen, Stände, Adel, Geistlichkeit, Dritter Stand teilen sich in unterschiedlichen Graden und Partizipationsverhältnissen in die Staatsgeschäfte. „Der Monarch besorgt die Nationalangelegenheiten, besonders insofern sie die äußeren Verhältnisse mit anderen Staaten betreffen; er ist der Mittelpunkt der Staatsmacht, von dem alles ausgeht, was nach den Gesetzen Zwang erfordert. Die gesetzliche Macht ist also in seinen Händen; die Stände haben teil an der Gesetzgebung, und sie reichen die Mittel, welche die Macht erhält. "50 Bei Rousseau, bei Hölderlin - auch noch beim Hegel der Theologischen Jugendschriften - wäre solche Rationalisierung ein Schritt vom Wege: die Ablösung der Berührung aller mit allen, der gemeinsamen Verantwortung für das öffentliche Leben durch spezielle, hierarchisch gegliederte Zuständigkeiten und Aufträge: der Staat als eine die Wärme menschlicher Beziehungen versachlichende und abkühlende Kompe-
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Hegels Staatstheorie kann man sich ausgespannt denken zwischen drei Polen: dem sinkenden Reich (das für ihn „kein Staat mehr" ist), den emphatischen Versuchen der Neugründung der antiken Polis in moderner Umgebung (Rousseau-Robespierre-Hölderlin) und der schließlichen Bescheidung im Territorialstaat, in der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts. Zur Zeit der Abfassung der Verfassungsschrift entfernt sich Hegel von den beiden ersten Optionen - doch ist ihm die dritte noch fern. Es ist die Zeit, in der er den letzten Versuch unternimmt, das Reich zum Staat, den Menschen der alten deutschen Freiheit zum Citoyen fortzuentwickeln und Aristokratie und Bürgertum in einer deutschen Nation zusammenzuführen. - Zum zeitgenössischen Umfeld vgl. O. Pöggeler: Hegels Option ßr Österreich. In: Hegel-Studien 12 (1977), 83-128; D. Henrich: Hegel im Kontext, Frankfurt/Main 41987; V. Press: Das Ende des Alten Reiches und die deutsche Nation. In: Kleist-Jahrbuch 1993.31-55. 50 Verfassungsschrift: 533.
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tenzordnung. Nicht so beim Hegel der Verfassungsschrift - und nichts zeigt seine denkerische Entwicklung in den Frankfurter und Jenaer Jahren so ausgeprägt wie die Option für die Repräsentation (nach derjenigen für das Eigenttun). Mit der Repräsentation begegnet dem historisch gebildeten Philosophen nach Hegel geradezu ein Universalprinzip moderner Geschichte. Das System der Repräsentation ist das System aller neueren europäischen Staaten. Hegel spricht - wir haben es gehört von einer dritten universalen Gestalt des Weltgeistes, nach dem orientalischen Despotismus und der Weltherrschaft der römischen Republik. Das ist weit entfernt von Rousseaus schroffen Thesen, daß mit dem Eigentum alle Entfremdung unter Menschen beginnt und daß der, der sich vertreten läßt, seine Freiheit schon preisgegeben hat. Aber es ist sehr nahe an Montesquieus Einsicht, daß die Repräsentation eine Verfassung der Freiheit ist - die einzige, die dieses politische Gut bewahrt und haltbar macht, so daß es unter wechselnden geschichtlichen Bedingungen stets neu aktiviert werden kann. Es wird immer denkwürdig bleiben, wie Montesquieu im EnglandKapitel des Esprit des Lois in die Analyse des britischen Regierungssystems unvermittelt die Äußerungen des Tacitus über die Konsultationsgewohnheiten der Germanen einmischt51 und hinzufügt: „Ce beau Systeme a ete trouve dans les bois."52 Bei ihm werden Engländer unversehens zu Germanen - bei Hegel, der den Satz zitiert und „universalistisch“ verallgemeinert, sind die Deutschen die Erben der Freiheit aus Germaniens Wäldern. Ihr „eigentümliches Prinzip“ wendet sich seit der Völkerwanderung „auf das übrige haltlose Weltwesen" hin. „So ist die Freiheit der germanischen Völker, als sie erobernd die übrige Welt überschwemmten, notwendig ein Lehenssystem (geworden).“53 Aber hörten wir nicht, daß die übergroße Freiheitsliebe der Deutschen ihren Staat zerstört habe? In der Tat: daß ein Volk der Welt einen neuen universellen Anstoß gibt, muß nicht bedeuten, daß es selbst in den Genuß der von ihm ausgelösten geschichtlichen Bewegung kommt. Es ist ein höheres Gesetz, sagt Hegel, daß ein solches Volk
51
Gemeint ist der Satz aus der Germania: De minoribus rebus principes consultant, de majoribus omnes; ita tarnen ut ea quoque quorum penes plebem arbitrium est apud principes pertractantur. 52 Montesquieu: De VEsprit des Lois (1748), livre XI, chap. 6 (Pleiade-Ausgabe, ed. R. Callois, II, 1958.407). 53 Verfassungsschrift: 533.
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„selbst am Ende vor allen übrigen zugrunde geht und sein Grundsatz, aber es selbst nicht bestehe"54. So breitet sich um die von den Deutschen heraufgeführte „dritte universale Gestalt des Weltgeistes" ein wenig Resignation und hölderlinsche Empedokles-Stimmung aus. Es sind vor allem die anderen Nationen, die das ernten, was die Deutschen gesät haben - diese selbst profitieren nicht davon. Im übrigen war das System repräsentativ verfaßter Freiheit nicht einfach „in den Wäldern", wie Montesquieu meinte. Es ist nur aus ihnen hervorgegangen - für Hegel ein wichtiger Unterschied.55 Die germanischen Wälder sind kein verlorenes Paradies, kein Stück unberührter politischer Natur. Man findet in ihnen bestenfalls die Keime und Anstöße für künftige Entwicklungen; jede Nation muß sie in ihrer kulturellen Entwicklung erst entfalten. So nimmt auch das universelle Prinzip der Repräsentation in der Geschichte ganz verschiedene Formen an, einfache und entwickelte, weiterführende und abschließende. Gewissermaßen spielerisch skizziert Hegel in seiner Verfassungsschrift die Grundzüge einer vergleichenden Entwicklungsgeschichte der Repräsentation. Dabei stehen sich England und Frankreich prototypisch gegenüber. „In England hat der hohe und niedere Adel mit (dem Verlust der) Landesherrschaft zugleich einen Grad seines Charakters, Repräsentant von einem Teil des Volks zu sein, nicht mehr, aber die Bedeutung im Staate ist darum nicht ganz persönlich geworden."56 Die Existenz des Parlaments sichert die Teilnahme an den Staatsgeschäften und befördert den Austausch adeliger und bürgerlicher Eliten. Anders in Frankreich: infolge der Nicht-Berufung der Etats generaux verloren der hohe und niedrige Adel und das Bürgertum ihren Charakter als Repräsentanten; ihre öffentlichen Aufgaben verfielen; dafür wurde die PersönUchkeit „auf den höchsten empörenden Grad getrieben".57 Offensichtlich existiert ein Zusammenhang zwischen der institutionellen Ausstattung eines Staates und der Verfassung der Persönlichkeiten, die ihn tragen: dort, wo Personen nicht mehr in repräsentativen Ämtern und Funktionen fürs Ganze arbeiten können, entsteht das aus den deutschen Verhältnissen bekannte Phänomen der Besonderung und Vereinzelung. 54 55 56 57
AaO 537. Verfassungsschrift: 533. AaO 534 f. AaO 535.
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Personen werden überlebensgroß, wachsen sich aus zu Originalgenies, in manchmal skurrilen Dimensionen- und verlieren zugleich ihre kommune, zivile, politische Natur. Auch in dieser Hinsicht gehen die Entwicklungen in England und in Frankreich in verschiedene Richtungen auseinander: während sich in England das adelige und das bürgerliche Element einander angleichen, Geburt und Talent, Herkunft und Bildung einander ergänzen und schließlich substituieren, nimmt in Frankreich der Antagonismus zwischen den Ständen zu. So kann der gleiche Ausgang von der mittelalterlichen Lehnsverfassung zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen: liberal-konservativen auf der einen, absolutistisch-egalitären auf der anderen Seite. Während sich das englische Gemeinwesen in berechenbarer Evolution voranbewegt, überwiegen in Frankreich die Brüche und Sprünge. Rechtzeitig erscheint dann, wenn die Spannung übermächtig wird, ein Richelieu am Horizont, der die „Besonderheiten und Eigentümlichkeiten" der Menschen zertrümmert und gegenüber den frondierenden Einzelnen der Staatsgewalt Respekt verschafft - oder es erscheint eine revolutionäre Republik, die den Schrecken als Mittel einsetzt, um die öffentliche Tugend zu stärken. Auf der anderen Seite stehen Deutschland und Italien: Länder, in denen anerkannte repräsentative Einrichtungen nicht existieren, in denen die alte Lehnsverfassung zum Zerfall der Staatlichkeit geführt hat. Hier fehlt ein alle Kräfte sammelnder Mittelpunkt. Hier entwickelt sich aus einem anfangs einheitlichen Reichs-(Staats)körper eine Fülle unabhängiger Staaten. „In Italien erwarb jeder Punkt desselben Souveränität; es hörte auf, ein Staat zu sein, und wurde ein Gewühl unabhängiger Staaten, Monarchien, Aristokratien, Demokratien, wie es der Zufall wollte; auch die Ausartung dieser Verfassungen in Tyrannei, Oligarchie und Ochlokratie kam auf kurze Zeit zum Vorschein."58 Deutschland teilt mit Italien das Schicksal, seit langem Schauplatz von Kriegen und Spielball fremder Mächte zu sein; das Reichsgebiet ist in den neueren Jahrhunderten kleiner und kleiner geworden, die Zuständigkeiten, Abhängigkeiten, feudalen Gemengelagen sind verworren. Vom Prinzip der Monarchie - einer „Staatsmacht unter einem Oberhaupt zur Führung der allgemeinen Angelegenheiten und mit Mitwirkung des Volks durch seine Abgeordneten"59 - ist nur eine leere Hülse übriggeblieben. „In dem langen Schwanken Europas zwischen Barbarei und Kultur, in 58
Verfassungsschrift: 55\. 59 AaO 575.
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diesem Übergang hat der deutsche Staat diesen Übergang nicht vollbracht, sondern ist den Konvulsionen dieses Übergangs unterlegen, die Glieder haben sich zur völligen Selbständigkeit losgerissen, der Staat hat sich aufgelöst. Die Deutschen haben das Mittel zwischen Unterdrückung und Despotismus - dem, was (sie) Universalmonarchie hießen - und der völligen Auflösung nicht zu finden gewußt."60 So bleibt für Italien wie für Deutschland nur der Appell an die Gewalt eines Eroberers - daß von innen her noch Heilung kommt, ist eher unwahrscheinlich. Obwohl Hegel am Ende seiner Schrift zu umfassenden Reformvorschlägen für die Reichsverfassung ausholt, gibt er unmittelbar vorher noch einmal seiner Resignation und seinen Zweifeln Ausdruck: „... wen geht dies Land noch was (an), woher sollte ein Patriotismus für dies Land kommen? Was die einzelnen Länder und auch die Landstände passiven Vorteil von Deutschland haben, genießen sie, erkennen es, tun aber nichts dafür; denn es liegt tief in der menschlichen Natur, sich nur für das zu interessieren, wofür man handeln, wofür man mitbeschließen und mitwirken, wobei der Wille sein kann."61 Auch hier ist das Verblassen und Verschwinden des Prinzips Repräsentation die Wurzel aller Übel, und es ist insofern konsequent, daß Hegel am Ende eine „föderalistische" Lösung der Problematik andeutet: es müsse „den Ländern eine Art der Mitwirkung fürs Allgemeine verschafft werden".62
III. Zur Bilanz Versuchen wir ein Fazit zu ziehen. In Hegels Verfassungsschrift tauchen Elemente seines späteren weltgeschichtlichen Denkens auf - freilich noch ohne systematische Verknüpfung und theoretische Verdichtung. Die deutsche Geschichte wird in einen weltgeschichtlichen Kontext gestellt, der ziemlich genau dem später in der Philosophie der Weltgeschichte ins Auge gefaßten Vierten Zeitalter, der „germanischen Welt", entspricht. Vor allem die Repräsentation wird in der Verfassungsschrift als universalgeschichtliche Kategorie entdeckt und gewürdigt. Sie er-
60 AaO 576. 61 AaO 577. 62 AaO 577. Dementsprechend faßt Hegel in seinen ReformVorschlägen (577-581) eine Verbindung landständisch entsandter und direkt gewählter Abgeordneter ins Auge, die mit der Städtebank des Reichstags einen Repräsentativkörper bilden sollen.
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laubt es Hegel, einerseits die alten Zeiten mit dem gegenwärtigen Weltgeschehen zu verknüpfen, anderseits grundlegende Entwicklungsdifferenzen zwischen den europäischen Staaten in der Neuzeit zu erklären. Hatte doch die Französische Revolution mit der Neubelebung seit Jahrhunderten verfallener Repräsentationsmodi begonnen (wobei nach Hegel „kein allmählicher Übergang von der harten alten Form" - den Etats generaux - „zu einer passenderen" gelang).63 Anderseits zeigte das französische Beispiel die Schwierigkeiten eines ruckartigen Rückgriffs auf ältere Verfassungszustände deutlich an. Schon hier werden die Sympathien des Verfassers für die englische Entwicklung offenbar, die ohne harte Brüche, im Weg gesellschaftlichen Ausgleichs, fortschreitet und in der mit dem „King in Parliament" die alte „germanische" Form der Repräsentation stets gegenwärtig blieb. In der Betonung der Repräsentation als einer Verfassung der Freiheit folgt Hegel Montesquieu. Der französische Denker wird zum Gewährsmann Hegels bei seiner Zuwendung zu den „Realien" des Staates und der Geschichte, die mit der Verfassungsschrift beginnt, und sein Einfluß drängt im Lauf der Zeit den Einfluß Rousseaus immer mehr zurück. (Man kann dies an der Entwicklung der Theorie der Repräsentation verfolgen - und mehr noch an Hegels Gesetzesbegriff, der mit seiner Verbindung von Gesetz und Vernunft einem ähnlichen Konzept wie dem des Esprit des Lois verpflichtet ist.)64 Dennoch bleibt Rousseaus Einfluß - über Hölderlin? - auch in der Verfassungsschrift noch greifbar: so klingt in Hegels panegyrischer Vergegenwärtigung der ,alten deutschen Freiheit' etwas vom Pathos des ungeschiedenen und ungeteilten Lebens an - gegen die Teilung und Berechnung, die Spezialisierung und Professionalisierung, die das Gesetz moderner Zeiten ist. Vieles, was sich in unseren Vorstellungen mit Hegels (späterer) Geschichtsphilosophie verbindet, bleibt freilich in der Verfassungsschrift noch ausgespart. So kommt die Rolle der Religion - und die spezifische Bedeutung der Reformation - für die deutsche und die Weltgeschichte in Hegels Darlegungen vorerst nur negativ in den Blick. Der Staat geht nicht unter, wenn die Religion zerbricht; Religion gehört nicht zu den konstituierenden Elementen von Staatlichkeit - das ist die Botschaft, die wir in der Verfassungsschrift vernehmen (wiederum ist der Gegen63
AaO 535 (Randbemerkung Hegels im Manuskript). Auch hier wird die Zuwendung zu Montesquieu begleitet von der Distanzierung zu Rousseaus voluntaristischem Gesetzesbegriff, der nach Hegels Urteil (in der Rechtsphilosophie) nur auf das Gemeinschaftliche, nicht auf das Vernünftige des Willens abhebt. 64
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satz zu Rousseaus Position unübersehbar!). Reformatorisches Pathos, wie es später bei Hegel nicht selten ist, fehlt in den kühlen und luziden Erörterungen der Verfassungsschrift zur Rolle der Konfessionen fast ganz. Über den Glaubenshelden Gustav Adolf spricht der Protestant Hegel hier fast wie ein Aufklärer. Daß die Konfessionen sich in Deutschland gegenseitig bürgerlich ausgeschlossen haben, ist in seinen Augen gewiß ein Unglück und eine Absurdität der deutschen Geschichte. Aber anderseits hat die Glaubensspaltung den deutschen Staat auch auf sich selbst zurückgeworfen. Sie war insofern nicht nur eine historische Entzugserscheinung. „Indem aber die Religion den Staat vollständig zerrissen hat, hat sie auf eine wunderbare Weise doch zugleich die Ahnung einiger Grundsätze gegeben, worauf ein Staat beruhen kann. Indem ihre Spaltung die Menschen in dem innersten Wesen auseinanderriß und doch noch eine Verbindung bleiben sollte, so muß sie sich über äußere Dinge, Kriegführen usw., äußerlich verbinden - eine Verbindung, die das Prinzip der modernen Staaten ist."65 Ähnliches gilt für den deutschen Dualismus, für die exorbitant die Grenzen der Normalität sprengenden „Reichsstände" Österreich und Preußen. Niemand hat ihre Emanzipation aus dem Reichsganzen, ihre Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert, ihren möglicherweise bevorstehenden Entscheidungskampf so genau beobachtet und so hellsichtig analysiert wie Hegel - auch der Gedanke taucht bei ihm schon auf, daß Österreich die Kaiserkrone niederlegte und damit als souveräne Macht auf gleichem Fuß Brandenburg gegenüberträte.66 Aber auch hier sind die Sympathien Hegels geteilt: Gegenüber dem „Absolutismus" Josephs II. hält er sich an den frondierenden Fürstenbund, während er anderseits die Religionspolitik des Kaisers durchaus zustimmend würdigt. Ähnlich bei Preußen: die „ephemerische Energie" Friedrichs II. wird ironisch anerkannt, doch der große König bleibt ein „einzelnes Genie" in einem dürren Land mit einem „völligen Mangel an wissenschaftlichem und künstlerischem Genie".67 Vollends für das Ausscheiden Preußens aus der Reichspolitik im Basler Frieden (1795) hat Hegel - wie viele deutsche Intellektuelle - nur Verachtung übrig. Das ist so unverständlich nicht - man erinnere sich daran, daß selbst ein deutscher Nationalist wie Heinrich von Kleist noch 1808 auf Kaiser Franz setzte und sich, als sich die Erhebung Österreichs abzeichnete. 65
Verfassungsschrift: 521. 66 AaO 564. 67 AaO 484 f.
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dorthin begab.68 Und damals waren die Würfel bezüglich des Reiches und der Kaiserkrone schon gefallen! Wieviel offener war die Situation in den letzten Jahren des Alten Reiches, in denen Hegel schrieb. Hier schien noch alles möglich zu sein: eine Regeneration der Reichsverfassung ebenso wie die Bildung eines adelig-bürgerlichen Kulturstaats; eine Dominanz Österreichs oder Preußens oder ein Wiedererwachen der kleineren Reichsstände, des „Dritten Deutschland" (zu dem ja Hegel und Hölderlin als Württemberger aus altständischer Landschaft gehörten). Selbst das Unvorstellbare schien damals noch möglich, Hegel deutet es auf den letzten Seiten an: ein „Theseus" für Deutschland, ein großmütiger Eroberer als Stifter eines deutschen Zusammengehörigkeitsgefühls.69 Hat Hegel an Napoleon gedacht, wie Karl Theodor von Dalberg (möglicherweise ein Auftraggeber der Reichsverfassungsschrift) dies tat? Ausgeschlossen ist es nicht - wie überhaupt in jenen Jahren alles (oder doch vieles) noch gänzlich offen war. Selbst im späteren Rheinbund, der das Gebäude des Reiches endgültig zum Einsturz brachte, steckten, wie man heute weiß, Elemente eines künftigen deutschen Nationalstaats. Erst als die Entscheidungen von 1806,1812 und 1815 gefallen waren, als das Reich endgültig vergangen war und die Staaten des Deutschen Bundes an seine Stelle traten - erst damals rang sich Hegel dazu durch, im emanzipierten Reichsstand Preußen einen „Staat" eigenen Rechts und eigener Dignität zu sehen; eine Konsequenz, die er in der Verfassungsschrift noch sorgfältig vermieden hatte. Erst in dieser Zeit nimmt dann auch sein auf die Neuzeit bezogenes geschichtsphilosophisches Denken die Elemente „Preußen" und „Reformation" in sich auf und gelangt dadurch zu seiner ausgereiften Gestalt - einer Gestalt, von der das Konzept der Weltgeschichte in der Verfassungsschrift nur eine erste, vorläufige Skizze bietet.
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V. Press: Das Ende des Alten Reiches (wie Anm. 49). 33. Verfassungsschrift: 580.
DIETMAR KOHLER (BOCHUM)
DER GESCHICHTSBEGRIFF IN HEGELS„PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES In seiner Einleitung zur Geschichte der Philosophie von 1820 beschreibt Hegel die Idee als eine Einheit von unterschiedenen Bestimmungen, die als das lebendige Geistige sich konkret entwickelt zu einer Totalität, einem organischen System, welches einen Reichtum von Stufen und Momenten in sich enthalte. Nicht anders als diese Bestimmung des Wesens des Geistes läßt sich das in der Logik-Skizze von 1805/06 erstmals vorgestellte Programm einer spekulativen Logik auffassen, welches dann 1807 mit Hegels erstem Hauptwerk konkrete Gestalt annehmen konnte. Die Phänomenologie des Geistes^ beginnt bekanntlich mit dem einfachen Sein der sinnlichen Gewißheit, dessen einseitiges Beharren auf der Einzelheit als Täuschung entlarvt wird und so bereits den notwendigen Übergang zur Allgemeinheit in der Wahrnehmung anbahnt. Die Idee des Verhältnisses von Substanz und Akzidenzien wird von Hegel im dritten Kapitel als Kraft gefaßt; diese ist jedoch in ihrer erfüllteren Form Leben, welches sich selbst reproduziert. Nur in Verbindung mit dem Selbstbewußtsein kann das Leben sich schließlich selbst begreifen und damit das Wissen um seine eigene Freiheit erlangen. Das freie, sich seiner selbst gewisse Leben vermag nun die es umgebende Wirklichkeit, die anorganische und organische Natur vermittels der Wissenschaften vernünftig aufzufassen; zugleich entfaltet es sich geschichtlich als sittliches Leben, welches immer neue Rechts-, Sozialund Kultursphären ausbildet. Die höchste Weise aber, in der der Geist eines Volkes sich selbst erfaßt, ist die der Religion; doch tritt der anschaulichen Vorstellung des Wissens des Geistes von sich im absoluten Wissen noch die begriffliche Vermittlung zur Seite. Das Ganze dieses zu-sich-selbst-Kommens des Geistes wird von Hegel dargestellt als ein teleologischer Prozeß, bei welchem dem Begriff der Anerkennung eine
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Hegels Phänomenologie des Geistes wird zitiert nach Band 9 der historisch-kritischen Ausgabe der Gesammelten Werke (= GW 9).
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Dietmar Köhler
methodische Schlüsselstellung zukommt, insofern die einzelnen Bewußtseinsgestalten über die Anerkennung miteinander vermittelt sind. Betrachtet man die teleologische Entwicklung des Geistes insgesamt als ein organisches System, welches zwar eine Reihe von unterschiedenen Momenten in sich enthält, zugleich aber sich als eine geschlossene Totalität präsentiert, so ergibt sich für die hier zu verfolgende Fragestellung nach dem Geschichtsbegriff in Hegels Phänomenologie des Geistes offenkundig das Problem, welchen Begriff der Geschichte man mit einer derartigen in sich geschlossenen TotaUtät noch in Verbindung bringen könnte. Eine analoge Problemstellung entwickelt auch Hegel selbst in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, indem er, von der „gewöhnlichen Vorstellung" ausgehend, fragt, wie denn der Gegenstand der Philosophie, die Eine Wahrheit, mit der Pluralität von unterschiedlichen Positionen innerhalb der Geschichte der Philosophie zu vermitteln sei. Hegel löst das Problem in den Vorlesungen so auf, daß die Eine Wahrheit zugleich als die Quelle zu begreifen sei, „aus der alles andere, alle Gesetze der Natur, alle Erscheinungen des Lebens und Bewußtseins nur abfließen".2 Die Philosophie selbst ist unter dieser Voraussetzung für sich nur das Erkennen der Entwicklung der Idee, ja sie ist „als begreifendes Denken selbst diese denkende Entwicklung"3, d. h. es gibt eine vollständige Entsprechung der Geschichte der Philosophie mit der lebendigen Entwicklung des Geistes überhaupt, je weiter diese Entwicklung fortgeschritten ist, „desto vollkommener ist die Philosophie".4 So könnte man auch den einzelnen ,Stationen' der Phänomenologie des Geistes ohne weiteres entsprechende Positionen innerhalb der Geschichte der Philosophie zuordnen: Dem einfachen Sein der „sinnlichen Gewißheit" entspräche die eleatische Philosophie, insbesondere Parmenides, das Wahrnehmungs-Kapitel ließe sich leicht mit Aristoteles' Grundlegung des Substanz-Akzidenz-Schemas sowie dessen Kategorienlehre in Verbindung bringen. Für „Kraft und Verstand" könnte die Leibnizsche Philosophie Vorbild gewesen sein wie die Cartesische für das Selbstbewußtseins-Kapitel. Die wissenschaftliche Naturbetrachtung im Vernunft-Kapitel ließe sich u. a. mit Schellings Naturphiloso-
2
G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 1. Einleitung in die Geschichte der Philosophie; Orientalische Philosophie. Neu hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1993.21. Im folgenden zitiert als: Hegel: Geschichte der Philosophie. 3 Hegel: Geschichte der Philosophie, 24. 4 Ebd.
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phie in Beziehung setzen und der im Geist-Kapitel dargestellte Bildungsprozeß verweist ohne Zweifel auf die französische Aufklärung. Am eindeutigsten lassen sich schließlich die „moralische Weltanschauung" mit der Kantischen praktischen Philosophie und die Gewissensdialektik mit der Stellung Jacobis und der Romantiker identifizieren. Für das absolute Wissen kommt dann nur noch Hegels eigene spekulative Philosophie in Frage, wie ja auch die nachträglich verfaßte Vorrede betont, daß der Geist in seiner Entwicklung nunmehr in eine neue Epoche eingetreten sei, in welcher sich ein qualitativer Sprung ereigne, da das Wahre die Natur habe, durchzudringen, wenn seine Zeit gekommen sei. (vgl. GW 9,49) Man mag Einwände gegen eine derartige Rückprojezierung von Hegels philosophiehistorischer Konzeption auf einen fast vierzehn Jahre vorher ausgearbeiteten Entwurf erheben. Jedoch bleibt festzuhalten, daß Hegel gerade 1805/06 in Abweichung zum damals üblichen Lehrkanon in Jena erstmalig über Geschichte der Philosophie las. So notiert auch Rosenkranz, Hegel habe in die sich seit 1804 herausbildende Anlage zur Phänomenologie „die gediegensten Resultate seiner damaligen Studien überhaupt" abgelagert.5 Wie die Konzeption der Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie von 1805/06 ursprünglich sich darstellte, läßt sich heute nach dem Verlust des „Jenaer Heftes" nur schwer rekonstruieren, zumal Michelets Edition der Vorlesungen im Rahmen der ,Freundesvereinsausgabe' wegen der Vermengung unterschiedlicher Vorlesungsjahrgänge allenfalls indirekte Rückschlüsse auf den Text von 1805/06 zuläßt. Unstrittig ist wohl, daß sich Hegels erste Konzeption der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie deutlich von den späteren Heidelberger und Berliner Vorlesungen unterscheidet, wie sich auch das System im Ganzen, namentlich die Logik und mit dieser auch die Rolle der Phänomenologie erheblich modifiziert hat. Dies spricht indes nicht grundsätzlich gegen die hier vertretene Auffassung, daß sich hinter den einzelnen Kapiteln und Unterkapiteln der Phänomenologie auch bestimmte philosophiehistorische Positionen verbergen, was keineswegs besagen soll, es sei vordringlicher Zweck des /Projektes' einer Phänomenologie des Geistes gewesen, in die Philosophiegeschichte ein-
5 Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben. Unveränd. reprograph. Nachdr. d. Ausg. Berlin 1844 unter Hinzufügung e. Nachbemerkung von Otto Pöggeler zum Nachdr. Darmstadt 1977.202.
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zuführen.6 Allerdings stellt Hegel auch in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes ausdrücklich fest, daß die Verschiedenheit philosophischer Systeme - entgegen der Einschätzung der natürlichen Vorstellung - als fortschreitende Entwicklung der Wahrheit zu begreifen sei; die Wahrheit selbst aber könne nicht allein als Resultat gefaßt werden, sondern nur als Resultat zusammen mit seinem Werden. Dann aber kann die Wahrheit nur in einem wissenschaftlichen System existieren, welches die Totalität der Entwicklung des Geistes mit allen dazugehörigen Entwicklungsstadien und einzelnen Gestalten darlegt. Für das eingangs geschilderte Dilemma, wie ein organisches, in sich vollendetes System des Geistes mit der Geschichte im Sinne einer offenen Entwicklung in Einklang zu bringen sei, eröffnet Hegel am Schluß der Phänomenologie jedoch noch einen anderen Lösungs weg als in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, indem er eine dreifache Unterscheidung hinsichtlich des Geschichtsbegriffs propagiert. Während das Ziel der Entwicklung des Geistes das absolute Wissen oder der sich als Geist wissende Geist ist, wird der Weg zu diesem Ziel in der Erinnerung festgehalten; der „Weg der Erinnerung'' läßt „die Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringen" (GW 9,434), also die konkreten geschichtlichen Gestalten und Entwicklungsstadien des Geistes hervortreten. Diesen „Geistern, wie sie an Ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringen", d. h. den konkreten Gestalten des sich entwickelnden Geistes, 6
Anders interpretiert offenbar Gustav Falke das Anliegen des Hegelschen Textes, indem er versucht, die Phänomenologie „durchgängig als systematische Rekonstruktion historischer Positionen", die ihrerseits wiederum zu einer „Historisierung der Systematik" führe, zu lesen. Ohne an dieser Stelle auf Falkes Ausführungen im einzelnen - wie etwa die ebenso undifferenzierte wie fragwürdige Parallelisierung von Kants Kritik der reinen Vernunft mit Hegels Phänomenologie und zudem mit der Wissenschaft der Logik (S. 18) - eingehen zu können, seien an dieser Stelle zumindest zwei grundsätzliche Bedenken gegen Falkes Versuch genannt: Auf der einen Seite muß Falke die der Phänomenologie zugrundeliegende logische Struktur völlig ausblenden und damit Metatext und Beispieltext ineinanderlaufen lassen. Andererseits ist der Versuch einer „Abbildung" der Hegelschen Phänomenologie auf das spätere „Enzyklopädie-System" gezwungen, jegliche entwicklungsgeschichtlichen Differenzierungen einzuebnen. Nur so kann etwa behauptet werden, daß das in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie dargestellte „Verhältnis zwischen den Philosophien und der Philosophie ... dasselbe [sei] wie das in der PhdG behauptete Verhältnis von Bewußtseinsgestalten und Momenten des Systems" (S. 59). (Unberücksichtigt bleibt freilich, daß Michelets Edition der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie überhaupt keinen zuverlässigen Aufschluß über die Konstitution dieser Vorlesungen im Text von 1805/06 gibt.) Vgl. Gustav Falke: Begriffne Geschichte. Das historische Substrat und die systematische Anordnung der Bewußtseinsgestalten in Hegels Phänomenologie des Geistes. Interpretation und Kommentar. Berlin 1996.
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kann die auffassende Vernunft nun auf unterschiedliche Art und Weise begegnen, wie Hegel in dem vielfach zitierten Schlußsatz der Phänomenologie ausführt: „Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freyen in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins, ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beyde zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur - aus dem Kelche dieses Geisterreiches/schäumt ihm seine Unendlichkeit.“ (GW 9, ebd.). Diese dreifache Unterscheidung Hegels hinsichtlich der Möglichkeit der Vernunft, mit der Entäußerung und Entwicklung des Geistes umzugehen, ist im folgenden näher zu explizieren.
I. Die,kontingente Geschichte' Die unmittelbare Weise, wie die einzelnen Momente des erscheinenden Geistes dem Bewußtsein begegnen, ist die Aufbewahrung derselben in der Form der Zufälligkeit, d. h. der bloßen Abfolge in der Zeit. Da die Chronologie für diese Art von Geschichtsauffassung den einzigen Ordnungsfaktor darstellt, könnte man diesen ,Typ' von Geschichte auch die ,kontingente Geschichte' nennen7, denn Inhalt und Bedeutung dessen, was nach dem Schema des Vor- und Nacheinander geordnet wird, bleiben ausschließlich vom Zufall bestimmt. Diese Art der Geschichtsbetrachtung, die wohl dem heutigen natürlichen Sprachgebrauch am nächsten steht, weist Hegel in der Einleitung zu seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte der unmittelbaren und der reflektierenden Geschichtsschreibung zu, denen er die philosophische Geschichtsbetrachtung gegenüberstellt. Die allein an der Chronologie orientierte kontingente Geschichte, die nichts weiter als eine Anhäufung von Kenntnissen über Vergangenes enthielte, wäre für Hegel die Sache toter Gelehrsamkeit und kann als
7
Die Bezeichnung „kontingente Geschichte" schließt an die Ausführungen Otto Pöggelers an. Vgl. u. a. Otto Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. 2. erw. Aufl. Freiburg (Breisgau), München 1993, bes. 434 ff. Ders.: Geschichte, Philosophie und Logik bei Hegel. In: Logik und Geschichte in Hegels System. Hrsg. v. Hans-Christian Lucas u. Guy Planty-Bonjour. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989. (Spekulation und Erfahrung. 11/10.) 101126.
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solche nicht eigentlich Gegenstand einer Phänomenologie des Geistes sein, ja sie ist geradezu von dieser auszuschließen, insofern es die Phänomenologie ausschließlich mit der „wirklichen Geschichte" zu tun hat. Die „wirkliche Geschichte" aber beschreibt nach Hegel die Arbeit des Geistes, „die Form seines Wissens von sich hervorzubringen" (GW 9,430). Wären nicht inhaltliche und strukturelle Gesichtspunkte maßgebend für das Auffassen von geschichtlichen Erscheinungen, sondern allein die formelle chronologische Gliederung, so bliebe der Geist an die Zeit „entäußert". Diese Entäußerung aber könnte nicht selbst wiederum negiert werden und damit sich selbst reflexiv einholen, da ja das Wesen der Geschichte allein in die zeitliche Abfolge gesetzt würde. Ausdrücklich bestimmt Hegel jedoch die Geschichte als „das wissende sich vermittelnde Werden" des Geistes (GW 9, 433), welches er der Natur als dem lebendigen unmittelbaren Werden des entäußerten Geistes gegenüberstellt. Die Entäußerung des Geistes an die Zeit muß also zugleich Entäußerung ihrer selbst sein, damit der Geist über die geschichtliche Entfaltung zu sich selbst werden kann. Die rein chronologische Geschichtsauffassung dient Hegel somit lediglich zur Abgrenzung gegenüber der spekulativen Auslegung der Entwicklung des Geistes, der begriffnen Organisation der Gestalten des Geistes und der begriffnen Geschichte. Wie also die kontingente Geschichte sich ausschließlich durch die Chronologie bestimmt, so hat auch umgekehrt die Chronologie nur innerhalb der kontingenten Geschichte, nicht aber für die philosophisch begriffene Geschichte Bedeutung. In der Einleitung zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie unterscheidet Hegel nachdrücklich die „Folge als Zeitfolge der Geschichte von der Folge als Ordnung der Begriffe"8; gerade auf letztere kommt es jedoch an, wenn die philosophiegeschichtliche Abfolge der Systeme der „Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee" entsprechen soll.9 Auch für die Philosophie der Weltgeschichte gilt, daß die Aufeinanderfolge der einzelnen Etappen der Entwicklung des Weltgeistes nicht mit der Chronologie der Geschichte der Volker deckungsgleich ist. Vielmehr gibt es Nationen, Staats- und Kulturformen, die einer inzwischen überholten Stufe der Entwicklung des Weltgeistes zugehören, gleichwohl aber neben der neuen Gestalt des Weltgeistes weiterbestehen und so der „ungeschicht-
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Hegel: Geschichte der Philosophie. 27.
9 Ebd.
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liehen Geschichte" zufallen.10 In ähnlicher Weise muß auch in bezug auf die historischen Anspielungen in der Phänomenologie des Geistes zwischen einer begrifflich-strukturellen und einer ausschließlich chronologischen Abfolge differenziert werden; andernfalls würde in der Tat - wie von einigen Interpreten behauptet - die Reihe der Anachronismen zum Himmel schreien.11 II. Die „begriffne Organisation" Während also die kontingente Geschichte lediglich die Fakten und Data für die begriffene Geschichte bereitstellt und somit für den Fortgang der Phänomenologie des Geistes nur mittelbar eine Rolle spielt, steht in deren Zentrum die „Wissenschaft des erscheinenden Wissens", d. h. die Aufbewahrung „der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringen" „nach der Seite ihrer begriffnen Organisation" (GW 9, 434). Hegels metaphorische Umschreibung meint an dieser Stelle nichts anderes als die Summe aller in der Phänomenologie abgehandelten Gestalten in ihrem notwendigen logischstrukturellen Zusammenhang. Die „begriffne Organisation" bezeichnet demnach das System der Wissenschaft, welches zeigen muß, wie sich die Eine Idee in verschiedenen Gestaltungen mit Notwendigkeit entwickelt. Dieses System der Wissenschaft kann nun einerseits „in der Form der Einfachheit" des Wissens dargestellt werden, in der die Gegenstände des Wissens nicht mehr in den Gegensatz des Seins und des Wissens auseinandertreten, sondern „das Wahre in der Form des Wahren" (GW 9, 30) präsentiert wird. Diese Art der Darstellung fällt der Logik oder spekulativen Philosophie zu, die quasi ohne ,Umwege' die philosophischen Grundbegriffe in ihrem strukturellen Zusammenhang und notwendigem Fortgang erörtert und so das System der Wissenschaft als ein in sich gegliedertes organisches Ganzes zu entwerfen vermag. Die Phänomenologie des Geistes als „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins" wählt jedoch einen anderen Weg der Darstellung: Indem der Weg des /bornierten7 natürlichen Bewußtseins vom einfachen Sein 10
G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Band 1. Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg. v. Johannes Hoffmeister. Hamburg 61994.245. 11 Vgl. Hermann Schmitz: Hegels Logik. Bonn, Berlin 1992. 291. Im folgenden zitiert als: Schmitz.
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der sinnlichen Gewißheit bis hin zum absoluten Wissen nachgezeichnet wird, werden die Grundbegriffe der spekulativen Logik in ihrer Bewegung, ihrem Werden und ihrer wechselseitigen Verwiesenheit auf einander vorgeführt. Die Phänomenologie dient insofern als didaktische Einführung in die Grundstrukturen der Logik. So war die Phänomenologie des Geistes ja ursprünglich als „Erster Theil" des „Systems der Wissenschaft" konzipiert, der sich die eigentliche' Logik, welche allerdings nie zur Ausführung gekommen ist und deren Aufbau sich allenfalls indirekt durch die Gliederung der Phänomenologie und durch die LogikSkizze von 1805/06 erschließen läßt12, anschließen sollte. Diese Vorbereitung zur eigentlichen Logik ist jedoch, wie Hegel bemerkt, kein „zufälliges Philosophiren" (GW 9, 29), sondern der Weg zum Begriff des Wissens ist zugleich ein notwendiges und vollständiges Werden, das „durch die Bewegung des Begriffs die vollständige Weltlichkeit des Bewußtseyns in ihrer Notwendigkeit" umfaßt, (ebd.) Der Läuterungsprozeß des natürlichen Bewußtseins zum wirklichen Wissen wird von Hegel als ein Weg des Zweifels und der Verzweiflung beschrieben, da das Bewußtsein, indem es die Einseitigkeit und damit Unwahrheit seines Festhaltens an einer bestimmten Stufe des Wissens eingestehen muß, von einer Gestaltung zur nächsten fortgetrieben wird. Aufgabe einer „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins" muß es somit sein, „die Reihe seiner Gestaltungen, welche das Bewußtsein auf diesem Wege durchläufft" als „Geschichte der Bildung des Bewußtseyns selbst zur Wissenschaft" darzustellen (GW 9,56). Diese Geschichte der Bildung des Bewußtseins zur Wissenschaft hat freilich nichts Zufälliges mehr an sich und auch mit der chronologischen kontingenten Geschichte nichts gemein, was schon an der chronologischen Beliebigkeit der von Hegel verwendeten Exempel zu ersehen ist. Dieser chronologischen Beliebigkeit auf der Ebene der Beispiele steht eine strenge Notwendigkeit in der Abfolge der zu erörternden logischen Grundbegriffe gegenüber, die die „begriffne Organisation" derselben widerspiegelt und so erst das System als ein vollständiges und in sich 12
Vgl. G. W. F. Hegel: Jenaer Systementwürfe III: „Diese Einsicht ist die Philosophie, absolute Wissenschaft - derselbe Inhalt als der der Religion - aber Form des Begriffs - a) spekulative Philosophie absolutes Seyn, das sich andres, (Verhältniß wird) Leben und Erkennen - und wissendes Wissen, Geist, Wissen des Geistes von sich" (GW 8,286). Auf die Entsprechung dieses Aufrisses einer spekulativen Logik und der Gliederung der Phänomenologie des Geistes hat insbesondere Otto Pöggeler wiederholt hingewiesen. Vgl. Otto Pöggeler: Ansatz und Aufbau der Phänomenologie des Geistes. In: Journal of the Faculty of Letters. The University of Tokyo. Aesthetics 13 (1988), 839-853.
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geschlossenes Ganzes zu entwerfen vermag. Wenn Hegel am Schluß der Phänomenologie hervorhebt, daß „jedem abstracten Momente der Wissenschaft eine Gestalt des erscheinenden Geistes überhaupt" entspreche (GW 9, 432), so deutet dies darauf hin, daß sich die „begriffne Organisation" sowohl auf die logischen Grundstrukturen wie auch auf deren ,realphilosophische Realisierung' im Zuge des zu-sich-selbstWerdens des Geistes bezieht. Diese begriffne Organisation des Ganzen kann jedoch selbst nicht wiederum geschichtlich sein, da sie überhaupt nicht mehr in das zeitHche Dasein fällt. Die Zeit wird von Hegel bestimmt als der „daseyende Begriff" (GW 9, 34), der sich als „leere Anschauung" dem Bewußtsein vorstellt. In der leeren, unbegriffnen Anschauung bleibt der Begriff noch in der Form der Entäußerung, er hat sich selbst noch nicht als solcher erfaßt. So ist die Zeit nur für den Geist, der nicht in sich vollendet ist, „Schicksal und Nothwendigkeit" (GW 9,429). Indem der Geist aber seinen reinen Begriff erfaßt, begriffnes und begreifendes Anschauen wird, hebt er seine Zeitform auf bzw. „tilgt" die Zeit (ebd.), wobei Hegel mit seiner Formulierung offenbar an die Bestimmung der Zeit als „bewegliches Abbild der Ewigkeit" in Platons Timaios anschließen kann.13 Nachvollziehbar wird diese Aussage etwa am Beispiel der mathematischen Wahrheiten, die wie der Satz des Pythagoras oder die Gesetze der Arithmetik - unter bestimmten Voraussetzungen zumindest - überzeitlichen Charakter haben. Die begriffne Organisation der einzelnen Momente des sich entwickelnden Geistes kann als vollendete Wissenschaft des erscheinenden Wissens insofern nicht mehr unter der Zeit stehen, denn in ihr erfaßt der Geist seinen reinen Begriff und „tilgt" somit die Zeit. Mithin hat die begriffne Organisation auch selbst keine Geschichte, sondern greift gleichsam durch die Geschichte hindurch. In diesem Zusammenhang bleibt auch die Frage zu erörtern, inwiefern man mit Hegel auch von einer begriffnen Organisation der Geschichte sprechen könnte und nicht nur von einer begriffnen Organisation der „Geister, wie sie an Ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringen", also der konkreten Gestaltungen des erscheinenden Geistes. Zweifellos umfaßt die begriffne Organisation nicht nur logische Strukturen, sondern auch deren geschichtlich erscheinende Korrelate; fraglich aber bleibt, ob mit der Rede von der „begriffnen Organisation der Geschichte" nicht eine Singularität suggeriert würde, die
13
Vgl. Platon, Timaios, 37 d.
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nach Hegels Ausführungen doch wohl erst mit der Verknüpfung von kontingenter Geschichte und begriffner Organisation in der „begriffnen Geschichte" erreicht wird.
III. Die „begriffne Geschichte" Die begriffne Geschichte ist nun ihrerseits keineswegs als bloß summarische Zusammenfassung der unmittelbaren, kontingenten Geschichte und der begriffnen Organisation aufzufassen, sondern sie bildet „die Erinnerung und Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre ..." (GW 9,434). Erst die begriffne Geschichte trägt somit der Hegelschen Forderung Rechnung, das Wahre nicht allein als Resultat, sondern als Resultat zusammen mit seinem Werden zu begreifen. Dies aber bedeutet, das Wahre im Sinne des Absoluten nicht nur als Substanz, sondern „eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrükken" (GW 9,18) bzw. auch umgekehrt das Subjekt als die Substanz zu erkennen, wie Hegel am Schluß der Phänomenologie des Geistes vermerkt. Diese Einheit von Substanz und Subjekt wird in der letzten Gestalt des sich entwickelnden Geistes, im absoluten Wissen, erreicht; dieses ist „der Geist, der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbsts gibt, und dadurch seinen Begriff ebenso realisirt als er in dieser Realisirung in seinem Begriffe bleibt"; „es ist der sich in Geistesgestalt wissende Geist oder das begreifende Wissen" (GW 9, 427). Im Unterschied zum Religions-Kapitel ist die Wahrheit im absoluten Wissen nicht nur an sich vollkommen, sondern hat auch die Gestalt bzw. Form der Selbstgewißheit, nur dadurch ist das absolute Wissen auch dem religiösen Wissen noch überlegen. Der lebendige, sich geschichtlich realisierende Geist gewinnt nach Hegels Auffassung „seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet" (GW 9,27), folglich muß der Weltgeist „die ungeheure Arbeit der Weltgeschichte" (GW 9,25) übernehmen, um sich zum wirklichen Wissen zu bilden. Diese „ungeheure Arbeit der Weltgeschichte" erfordert ein Zweifaches: „Einestheils ist die Länge dieses Wegs zu ertragen, denn jedes Moment ist nothwendig, - andemtheils bei jedem sich zu verweilen, denn jedes ist selbst eine individuelle ganze Gestalt, und wird nur absolut betrachtet, insofern seine Bestimmtheit als Ganzes oder Concretes, oder das Ganze in der Eigentümlichkeit sei-
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ner Bestimmungen betrachtet wird." (ebd.) Mit anderen Worten: Der Weg von einer Bewußtseinsgestalt zur nächsten muß bis hin zum absoluten Wissen vollständig ausgeschritten werden; es dürfen nicht einzelne Gestalten unterschlagen oder der Gang insgesamt vorzeitig abgebrochen werden, wie in neuerer Zeit etwa Hermann Schmitz vorschlägt, wenn er den „ursprünglichen Plan" der Phänomenologie bei dem Kapitel V,C,a „Das geistigen Thierreich und der Betrug, oder die Sache selbst" enden lassen möchte.14 Zugleich aber muß bei den einzelnen Bewußtseinsgestalten so lange verharrt werden, bis diese aus Ihnen selbst ihre Einseitigkeit und damit Vorläufigkeit enthüllen und so den Übergang zu den folgenden Gestalten anbahnen. Was das Werden des Geistes zu dem, was er an sich ist, zum absoluten Wissen, anbetrifft, so erfolgt dieses nur über die Erfahrung des sich in die Zeit entäußemden Geistes. Der Geist kann in diesem Prozeß erst dann seine Vollendung als selbstbewußter Geist erreichen, wenn er sich als Weltgeist vollendet hat, die Geschichte also an ihr Ziel gekommen ist. Deshalb kann der Inhalt der Religion auch früher als die Wissenschaft in der Zeit aussprechen, „was der Geist ist", jedoch ist letztlich nur die Form der Wissenschaft dem Geist vollständig angemessen, „diese allein ist sein wahres Wissen von ihm selbst" (GW 9, 430). Den Zeitpunkt für die Vollendung der „ungeheuren Arbeit des Weltgeistes" sieht Hegel - wie die Vorrede zur Phänomenologie aus weist - zu Beginn des 19. Jahrhunderts für gekommen; die alten Gestalten zerfallen allmählich, behalten aber nach Außen hin ihre „Physiognomie" bei, bis „ein Blitz in einemmahle das Gebilde der neuen Welt hinstellt" (GW 9, 15). Wenn die begriffne Geschichte die teleologische Entwicklung des Weltgeistes in deren unterschiedlichen Konkretionen darstellen soll, so bleibt die Frage, an welchem Punkt innerhalb der Entwicklung der Phänomenologie des Geistes die begriffne Geschichte kontingente Geschichte und begriffne Organisation der Gestaltungen des Geistes zusammenzuführen vermag, an welchem Punkt also die „wirkliche Geschichte" hervortritt. Auszuschließen sind sicherlich die ersten drei Kapitel, denn so lange das Bewußtsein noch nicht zur Gewißheit seiner selbst gelangt ist, kann noch nicht von Geschichte in dem hier bezeichneten Sinne die Rede sein, allenfalls von einer Geschichte der Erfahrungen des Bewußtseins im Sinne einer bloßen Abfolge, die durch die Wissenschaft der Er-
w Vgl. Schmitz, 282 ff.
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fahrung des Bewußtseins aufzuarbeiten wäre.15 Das Selbstbewußtseins-, Vernunft- und Geist-Kapitel dagegen weisen in der Tat eine Fülle von historischen Anspielungen auf der Ebene der Beispiele auf, doch werden diese eher benutzt, um paradigmatische Gestalten des Bewußtseins zu explizieren. Erst im Geist-Kapitel wird mit der Sittlichkeit auch das konkrete menschliche Leben thematisiert und hier könnte man auch eine konkrete geschichtliche Entwicklung von dem Widerstreit des menschlichen und göttlichen Gesetzes in der sophokleischen Antigone, der Entfremdung des Geistes in Bildung, Aufklärung und Französischer Revolution bis hin zur moralischen Weltanschauung der Kantischen Philosophie und dem Gewissensstandpunkt Jacobis sowie der Romantik erkennen. Entscheidend aber für das Selbstbewußtsein eines Volkes ist nach Hegel dessen Auffassung vom Absoluten bzw. Göttlichen und von seinem eigenen Verhältnis zu diesem Göttlichen. Die Entwicklung der religiösen Vorstellungen und der damit einhergehenden Formen des Kultes sowie der Kunst im Religions-Kapitel zeigen daher m. E. innerhalb der Phänomenologie die größte Affinität zu Hegels späteren Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte16, auch wenn die Differenzen im Detail, wie etwa die mangelnde Berücksichtigung der orientalischen Religion in der Phänomenologie, keineswegs verwischt werden sollen. So ist es durchaus kein Zufall, wenn Hegel nach der Exposition des Begriffs der „wirklichen Geschichte" am Schluß der Phänomenologie nochmals in der Rückschau auf die Entwicklung des religiösen Bewußtseins zusammenfassend eingeht. Erst mit dem absoluten Wissen ist von der in sich vollendeten begriffnen Organisation aus die konkrete geschieht15
Ganz in diesem Sinne faßt auch Heidegger den Geschichtsbegriff in seiner ersten Phänomenologie-Interpretation von 1930/31, wodurch es ihm zugleich möglich wird, die Phänomenologie im Ganzen als „Fundamentalontologie der absoluten Ontologie" zu identifizieren. Vgl. Martin Heidegger: Hegels Phänomenologie des Geistes. In: Heidegger: Gesamtausgabe. Abt. 2: Vorlesungen 1923-1944. Bd 32. Hrsg. v. Ingtraud Görland. Frankfurt a. M. 1980 bes. 47 ff u. 204. Heidegger entgeht freilich, daß die begriffne Geschichte die „wirkliche Geschichte" und die Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins verklammert; seine Auslegung - die ja ohnehin nur bis zum Selbstbewußtseins-Kapitel vorgedrungen ist - umfaßt somit allenfalls einen Teilaspekt des Hegelschen Geschichtsbegriffs in der Phänomenologie. 16 Zur Vorgeschichte der Hegelschen Geschichtskonzeption bis hin zur Phänomenologie des Geistes vgl. Kurt Rainer Meist: Zur Entstehungsgeschichte einer Philosophie der „Weltgeschichte" bei Hegel in den Frankfurter und Jenaer Entwürfen. Habilitationsschrift. Bochum 1986. bes. 347-511. Zur - im Vergleich zur Phänomenologie doch eher offenen - Geschichtskonzeption in Hegels Verfassungsschrift im besonderen vgl. den Beitrag von Hans Maier in diesem Band.
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liehe Entwicklung der Religion angemessen zu begreifen wie ja generell die Anlage der Phänomenologie das Eigentümliche an sich hat, daß die einzelnen vorgeführten Momente der Entwicklung des Geistes nur aus der Kenntnis des Gesamtzusammenhanges in Wahrheit aufzufassen sind. Das zu Anfang aufgeführte scheinbare Dilemma einer vermeintlichen Entgegensetzung von offener, zufälliger Geschichte und der Einen Wahrheit als einem organischen System, einer in sich geschlossenen Totalität, läßt sich somit in der Konzeption Hegels durchaus auflösen: Zwar verweist der Begriff der Anerkennung im Laufe des Fortgangs der Phänomenologie bis hin zum Gewissens-Kapitel noch auf eine bestimmte Offenheit im Sinne eines „sowohl... als auch". Im Zuge der weiteren Entwicklung wird aber diese Offenheit zurückgenommen zugunsten einer Teleologie, welche im absoluten Wissen die geschichtliche Realisierung des Weltgeistes mit seinen dazugehörigen logischen Strukturmomenten als ein in sich geschlossenes Ganzes präsentiert und damit dem Begriff der Einen - nur in sich unterschiedenen Wahrheit - vollauf entspricht. Trotz der - hier nur angedeuteten und keineswegs zu verleugnenden - Divergenzen zwischen dem Aufbau des Religions-Kapitels in der Phänomenologie des Geistes und der Gliederung der Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, insbesondere auch der stärkeren Trennung von politischer Geschichte und Religionsgeschichte in der Phänomenologie, läßt sich andererseits doch festhalten, daß die begriffne Geschichte als Nachkonstruktion der teleologischen Entwicklung des Weltgeistes bereits wesentliche Strukturmomente der späteren Geschichtskonzeption Hegels vorbereitet. Überdies darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, daß sich in der Entwicklung der Hegelschen Philosophie von den Jenaer Jahren bis hin zur Berliner Periode auch das System im Ganzen, vor allem die Konzeption der Logik und damit einhergehend die Stellung der „Phänomenologie" innerhalb des Hegelschen Systems erheblich gewandelt hat, so daß Hegels Konzeption einer Philosophie der Weltgeschichte von vornherein nicht bruchlos an die Ausführungen in der Phänomenologie des Geistes hätte anknüpfen können.
II DIE BERLINER WELTGE SCHI CRTS VORLES UNGEN
ANDREAS GROSSMANN (BOCHUM)
HEGEL ODER „HEGEL"? Zum Problem des philosophischen und editorischen Umgangs mit Hegels geschichtsphilosophischen Vorlesungen In seinen Betrachtungen über die Weltgeschichte bemerkt Wilhelm von Humboldt: „Die Sucht, Betrachtungen über die Geschichte anzustellen, hat fast die Geschichte, wenigstens den geschichtlichen Sinn verdrängt."1 Was diesem Diktum Humboldts zufolge in erster Linie das Bestreben betrifft, „Betrachtungen über die Geschichte anzustellen", gilt in wohl prononciertester Weise gerade von jenen weltgeschichtlichen Betrachtungen, die Hegel von 1822 bis zu seinem Tode 1831 in zweijährigem Turnus, also insgesamt fünfmal in Berlin vorgetragen hat. Geht es ihnen doch genau darum, geschichtliche Kontingenz in einer teleologischen Geschichtsschau zu eliminieren, die keinen geringeren Anspruch reklamiert, als den Gang der Weltgeschichte in seiner Notwendigkeit einzusehen.2 Gegen ein derart hypertrophes Ansinnen einer die Logifizierung der Geschichte betreibenden Philosophie hat sich bekanntlich seit jeher Widerspruch erhoben. Erinnert sei nur an den bedenkenswerten Einspruch Schellings, das Hegelsche System lasse „weder der Welt noch dem menschlichen Individuum eine wahre Zukunft übrig",3 oder an die Kritik Jacob Burckhardts an Hegels „keckem Antizipieren eines Weltplanes".4 Unverhohlen und nicht minder beißend ist der Spott Nietzsches, für Hegel fielen „der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner eigenen Berliner Existenz" zusammen.5 Was wiederum nur, folgen wir Hannah Arendt, als das unausgesprochene 1
W. von Humboldt: Betrachtungen über die Weltgeschichte. In: Werke. Bd 1. Schriften zur Anthropologie und Geschichte. 3. Aufl. Darmstadt 1980.567. 2 Auffallend freilich ist der Umstand, daß Hegel auf jenen Aufsatz Humboldts an keiner Stelle Bezug nimmt. Ausdruck eines beredten Schweigens? 3 F. W. J. Schelling: Grundlegung der positiven Wissenschaß (Münchener Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833). Hrsg, von H. Fuhrmans. Turin 1972.234. 4 /. Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Gesammelte Werke, Bd 4. Darmstadt 1962.2. 3 F. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: Kritische Studienausgabe. Hrsg, von G. Colli und M. Montinari. Bd 1. Berlin, New York 1988.308.
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Andreas Großmann
Eingeständnis der Hegelschen Geschichtsphilosophie zu begreifen wäre, in eminentem Maße „an den Klippen der Wirklichkeit gescheitert" zu sein.6 So klar die Intention von Hegels spekulativer Geschichtsphilosophie und so berechtigt die seit Schelling im Namen einer geschichtlichen Vernunft gegen sie gewandte Kritik gewiß ist,7 so vehement drängt sich doch andererseits von der Quellenlage her die Frage auf, ob der Anspruch der spekulativen Systematik nicht selbst schon durch das Faktum differenter und durchaus nicht zur Deckung zu bringender systematisch-architektonischer Ansätze in den jeweiligen Vorlesungen Hegels konterkariert wird. Diese Vorlesungen sind freilich, auf der Grundlage verschiedener Vorlesungsnachschriften, von den Schülern Hegels in der Tat zu einem vorgeblich systematisch geschlossenen Ganzen verschmolzen worden. Die bis heute üblichen Editionen der Hegelschen Geschichtsphilosophie lassen demzufolge Modifikationen und Neuakzentuierungen, die Hegel im Laufe der Jahre vorgenommen hat, nicht mehr erkennen. Begegnen wir in ihnen also lediglich einem Hegel in Anführungszeichen, nicht jedoch Hegel selbst? Oder sollte diese Alternative nicht vielmehr falsch, weil methodisch naiv sein? Dieses sich in der Frage des Umgangs mit Nachschriften grundsätzlich stellende methodologische Problem soll im folgenden im Ausgang von einer Vergegenwärtigung der Editionslage sowie einer Erörterung der Architektonik von Hegels Berliner geschichtsphilosophischen Vorlesungen am Beispiel des Themas „Reformation und Neuzeit", wie es sich gemäß verfügbarer Vorlesungsnachschriften darbietet, bedacht sein.8
6 H. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. 6. Aufl. München, Zürich 1989.293. 7 Die bleibende Relevanz der „geschichtlichen Philosophie" des späten Schelling gegenüber Hegels „Philosophie der Geschichte" unterstreicht A. Hutter: Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vemunftkritik in der Spätphilosophie Schellings. Frankfurt a. M. 1996. 8 Die folgenden Ausführungen nehmen Überlegungen auf, die bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurden: A. Großmann: Weltgeschichtliche Betrachtungen in systematischer Absicht. Zur Gestalt von Hegels Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. In: Hegel-Studien 31 (1996). 27 ff.
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I. Editionen von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte Der erste Herausgeber von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Eduard Gans, zeigt sich deutlich von dem Bemühen inspiriert, die verschiedenen Jahrgänge der Vorlesungen zu einem stimmigen „Buch" zu formen. So beobachtet Gans durchaus treffend ein Ungleichgewicht zwischen dem ersten Vorlesungsjahrgang von 1822/23 (wie er u. a. durch die Nachschrift von Griesheims belegt ist) und den folgenden Jahrgängen: Während Hegel in seinem ersten Kolleg der Einleitung (mit ihren Ausführungen über die verschiedenen Arten der Geschichtsschreibung) und der Darstellung Chinas einen außergewöhnlich großen Raum gibt, strafft er diese Teile in den folgenden Vorlesungen (wobei er der Einleitung schon 1824/25 ein anderes Gepräge geben wird); erst in seinem letzten Kolleg von 1830/31 handelt er überhaupt ausführlicher über das Mittelalter und die Neuzeit. Gans sucht derartige architektonische (und inhaltliche) Inkonzinnitäten zu glätten, um dem Leser den Eindruck einer in sich gleichgewichtigen Darstellung zu geben. „Der Bearbeiter", so erläutert Gans seine Bearbeitungsprinzipien, „hatte hier Vorlesungen als ein Buch zu übergeben: er mußte aus Gesprochenem Lesbares machen, er hatte Hefte aus verschiedenen Jahren, sowie Manuskripte vor sich, er hatte die Pflicht, die Längen der Vorträge abzukürzen, die Erzählungen in Einklang mit den speculativen Betrachtungen des Urhebers zu setzen, dafür zu sorgen, daß die letzteren von den ersteren nicht gedrückt würden, und daß diesen ersteren wiederum der Charakter der Selbständigkeit und des Fürsichsagens genommen wurde."9 Für einen Teil der Einleitung verwendet Gans eine Ausarbeitung Hegels aus dem Jahre 1830, sieht sich jedoch für den Rest genötigt, unter Rücksicht zwar auf Hegels eigene Formulierungen, immer dort, wo es ihm notwendig erscheint, zu „ergänzen" und „nachzuhelfen".10 Immerhin konnte Gans seine Ausgabe aber auf Materialien stützen, die mittlerweile zum Teil verloren sind - so Hegelsche Manuskripte, ferner Vorlesungsnachschriften aus allen fünf 9
E. Gans, Vorwort zur ersten Ausgabe von: G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837), wiederabgedruckt in: Sämtliche Werke. Hrsg, von H. Glöckner. Bd 11. Stuttgart 1949.1 ff, hier 12. 10 AaO 14. Die Versicherung, „daß der Leser hier ein durchaus unverfälschtes Werk des großen Philosophen erhält" (aaO 13), dürfte angesichts der Vehemenz der redaktionellen Zutaten freilich eher als Ausdruck der Selbstrechtfertigung denn als Bezeugung unverfälschender editorischer Arbeit zu werten sein.
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Jahrgängen (von Schulze, von Griesheim, Hotho, Werder, Heimann und Karl Hegel).11 Ein ähnlich problematisches Bild bietet die von Karl Hegel 1840 besorgte zweite Ausgabe der Vorlesungen (jene Ausgabe also, die auch dem entsprechenden Band der heute gängigen Suhrkamp-Ausgabe zugrundeliegt).12 Die glättenden Eingriffe seiner Edition rechtfertigt Karl Hegel mit einer Ergänzungshypothese: Die Vorlesungen der verschiedenen Jahrgänge „ergänzen" einander, weshalb es Aufgabe einer Bearbeitung sei, die den von Hegel behandelten Stoff in seiner Gesamtheit präsentieren wolle, aus den Vorlesungen der ersten Jahrgänge und denjenigen aus späteren Jahren einen integralen Text zu erstellen. Deshalb nimmt Karl Hegel /Einschaltungen', /Ergänzungen', /Ersetzungen' und /Umstellungen' vor, „wie es die Sache zu erfordern schien".13 Hegels eigenhändige Manuskripte dienen als Grundlage, doch finden Nachschriften Verwendung, „um sich in diesen zu orientiren und sie zu ordnen". Nicht nur werden neue Einschübe wörtlich den Manuskripten entnommen, „sondern auch in dem beibehaltenen Text der eigenthümliche Ausdruck, wo der nachschreibende Zuhörer ihn verloren hatte, wiederhergestellt".14 Das Verfahren, die differenten Materialien zu einem einheitlichen „Werk aus einem Gusse" zu kompilieren, ist bestimmend auch noch für die Edition Georg Lassons,15 die dieser in den Jahren 1917-1920 erstellt hat. Lasson stützt sich vor allem auf Hegels eigenhändige Einleitung in die Vorlesungen von 1830 als „Urkunde letzter Hand".16 Von daher trifft Gans und Karl Hegel der Vorwurf, diesen für ihn maßgebenden Text, der „den echten und den ganzen Hegel" vor Augen führe, „willkürlich verändert und verstümmelt" zu haben.17 Lasson bemerkt weiterhin, daß die ihm verfügbaren Nachschriften „umfangreiche Partien enthalten, von denen in der gedruckten Ausgabe gar nichts zu finden
n AaO 15. 12 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Hrsg, von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd 12. Frankfurt a. M. 1970. 13 fC. Hegel, Vorwort zur zweiten Ausgabe von: G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1840), wiederabgedruckt in: Sämtliche Werke. Hrsg, von H. Glöckner. Bd 11. Stuttgart 1949.16 ff, hier 18. 14 AaO 19. 15 Siehe G. W. F. Hegel: Die Vernunß in der Geschichte. Hrsg, von G. Lasson. Leipzig 1917. 255. 1« AaO 248. 17 G. Lasson, Vorwort zu: G. W. F. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. AaO V ff, hier VIII.
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war, wie auch, daß sie in den Teilen, die mit dem gedruckten Werke parallel gehen, vielfach vor diesem die ursprüngliche Fassung der Hegelschen Redeweise und die genauere philosophische Formulierung voraus haben".18 Diese Einsicht macht Lassen indessen noch nicht für eine textkritisch passable Edition fruchtbar. Zwar wird Hegels eigenhändiges Manuskript durch größeren Druck hervorgehoben, werden Zusätze im Text durch eckige Klammern kenntlich gemacht und ändere sprachliche Verbesserungen oder Ergänzungen am Ende (des Bandes aufgelistet. Doch bleibt für Lasson trotz aller Kritik am philologischen Verfahren Gans' und Karl Hegels die Ausgabe des letzteren „maßgebend". So legt er seiner Neuedition dessen Ausgabe zugrunde, wobei er den Text der Druckfassung nach den Nachschriften korrigiert, wo sich in ihnen parallele Ausführungen finden. Ansonsten bringt Lasson aber Partien, zu denen es in den Nachschriften keine Parallele gibt, in der Fassung der Ausgabe von 1840,19 gelegentlich auch zur,Vervollständigung' des Textes nach dem Wortlaut der ersten Auflage.20 Die Nachschriften (Lasson liegen Nachschriften von Griesheims und von Kehlers für 1822/23, von Kehlers für 1824/25 und Stieves für 1826/27 vor)21 werden derart dann doch wieder, gemäß der Ergänzungshypothese Karl Hegels, „zu einem einheitlichen Ganzen" „zusammengefügt".22 Ein fraglos fauler Kompromiß, der die Komposition einer Textganzheit, letztlich nicht anders als die vorherigen Ausgaben, mit einer Verwischung der Differenzen der unterschiedlichen Vorlesungsjahrgänge bezahlen muß und die durch das Studium von Nachschriften gewonnene Einsicht, „daß Hegel in den verschiedenen Jahren mit der Ordnung der Gegenstände innerhalb der einzelnen Abschnitte stark gewechselt hat",23 editorisch nicht zur Geltung bringt. Weiterreichende Anstöße zu einer historisch-kritischen Aufarbeitung der Materialien gegeben zu haben, ist schließlich das Verdienst Johannes Hoffmeisters. In seiner Ausgabe von 1955 behält Hoffmeister für das Corpus des Textes zwar Lassons Fassung im wesentli18
AaO VII; vgl. auch ebd. 250 ff (zur Kritik an Gans und Karl Hegel). 19 Vgl.aa0256. 20 Siehe G. Lasson, Vorwort zu: G. W. F. Hegel: Die griechische und die römische Welt. Hrsg, von G. Lasson. Leipzig 1920. V ff, hier V. 21 Vgl. aaO 252 f. 22 AaO 254. 28 Siehe G. Lasson, Vorwort zu: G. W. F. Hegel: Die orientalische Welt. Leipzig 1919. V ff, hier IX f.
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chen bei. Er stellt jedoch den Text der Einleitung wieder her, indem er die verschiedenen Ausarbeitungen Hegels aus den Jahren 1822 und 1830 separat darbietet und überdies durch Variierung des Druckbildes den Hegelschen Originaltext von Zusätzen aus den Nachschriften für den Leser erkennbar macht. So erscheint der Originaltext in Kursivdruck, Zusätze aus Nachschriften hingegen in Normaldruck.24 Die Arbeit an einer historisch-kritischen Standards genügenden Edition der Nachschriften hat mittlerweile eingesetzt. Wie mit den einzelnen Nachschriften verfahren werden soll, ist indessen umstritten. Sollen einzelne ausgewählte Nachschriften ediert werden (was freilich die Anstrengung erfordert, sich über eine Kriteriologie für die Auswahl der jeweiligen Nachschriften zu verständigen), oder soll man die jeweiligen Vorlesungsjahrgänge durch Herstellung eines „integralen Textes" aus (soweit möglich) mehreren Nachschriften „rekonstruieren"? Letzteres intendieren etwa K. Brehmer und H. N. Seelmann mit ihrer Edition des ersten Jahrgangs der Vorlesung von 1822/23 auf der Grundlage der Nachschriften von Hotho, von Griesheim und von Kehler.25 In einem solchen Verfahren wirkt, obschon historisch-kritisch verfeinert, im Grunde immer noch die Ergänzungshypothese Karl Hegels fort: Man legt eine Nachschrift, die man als die beste erachtet, zugrunde (im Falle der jüngsten Edition diejenige Hothos), und „ergänzt" aus anderen Nachschriften Passagen, die in der als Haupttext zugrundegelegten Nachschrift fehlen. Evoziert dieses Verfahren aber nicht weiterhin die - trügerische - Erwartung, es lasse sich aus einer Ineinanderschachtelung sekundärer Quellen eine Primärquelle, der „ursprüngliche" oder „authentische" Hegel, eruieren? Nachschriften bleiben nun einmal notgedrungen sekundäre und als solche „trübe Quellen", wie Heidegger zu Recht bemerkt hat.26 Ihnen wird man daher allenfalls aus methodischer Naivität einen höheren Grad an Authentizität zusprechen können. Der prekären Quellenlage wäre denn allein um den Preis eines nicht zu rechtfertigenden editorischen und interpretatorischen Positi-
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G. W. F. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1955. - Die beiden Einleitungen von 1822 und 1830 liegen jetzt vor in: G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 18. Hrsg, von W. Jaeschke. Hamburg 1995.121 ff und 138 ff. 25 G. W. F. Hegel: Vorlesungen. Bd 12: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte 1822/23. Hrsg, von K. Brehmer und H. N. Seelmann. Hamburg 1996. 26 Vgl. H. Buchner: Fragmentarisches. In: Erinnerung an Martin Heidegger. Hrsg, von G. Neske. Pfullingen 1987.47 ff, hier 51.
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vismus zu entraten. Was uns die Nachschriften der Vorlesungen Hegels vermitteln, ist mithin nicht der „ursprüngliche" oder „eigentliche" Hegel, die ipsissima vox gleichsam des Philosophen.27 Derartige Ambitionen wird man redlicherweise aufgeben müssen. Wohl aber geben uns die Nachschriften einen Anhalt dafür, wie Hegel in seinen Vorlesungen je verfahren ist. Das ist angesichts der problematischen Editionslage Grund genug für eine Beschäftigung mit Nachschriften zu Hegels Vorlesungen. Dieser Bemühung kann es indessen nicht mehr, wie den Hegel-Schülern, darum zu tim sein, dem Meister ein „Denkmal des Ruhms" (und sich selbst ein „Denkmal der Pietät") zu setzen.28 Die anstehende Aufgabe nimmt sich weitaus nüchterner und eher imspektakulär aus: Es geht nicht mehr und kann nicht mehr gehen um eine die Materialien gewaltsam zu einem Ganzen fügende Denkmalspflege', sondern einzig darum, einen differenzierteren, an der Sache orientierten Zugang zu den weltgeschichtlichen Betrachtungen des Philosophen zu gewinnen.
II. Reformation und Neuzeit in Hegels Vorlesungen - Exempel einer wechselvollen Systematik Hegel ist in seinen Berliner Vorlesungen in wechselnder Gewichtung und variierender Systematik jener Einteilung der Weltgeschichte in vier Reiche -das orientalische, griechische, römische und germanische Reich - gefolgt, die er zuerst in den Heidelberger Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft von 1817/1829 und dann auch in den
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Selbst wenn man, was unter dem Generaltitel „Nachschriften" rangiert, noch einmal differenziert in Mitschriften, Abschriften und Nachschriften im eigentlichen Sinne, bleibt das grundsätzliche methodische Dilemma bestehen: Eine noch so (vorgeblich) gute Mitschiift oder Abschrift ist mm eben kein Text aus Hegels eigener Feder, sondern eine sekundäre Quelle, die keine Rückschlüsse auf die ipsissima vox des Philosophen gestattet. Diese bleibt eine ein für allemal uneinholbare Größe, die allenfalls um den Preis des Rückfalls hinter ein Problembewußtsein beschworen werden könnte, wie es etwa in der neutestamentlichen Exegese hinsichtlich der Frage nach dem historischen Jesus längst schon erreicht ist. 28 So E. Gans. aaO 15; vgl. auch K. Rosenkranz. aaO 152 ff. Dieser Impetus war nicht zuletzt durch die Opposition gegen die Schellingianer begründet: Hegels Geschichtsphilosophie sollte sich dezidiert als ein Schellings (Fragment gebliebenen) Weltaltem überlegenes „Werk" präsentieren. 29 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Nachgeschrieben von P. Wannenmann. Hrsg, von C. Becker u. a. Hamburg 1983. §§ 164 ff. (S. 256 ff).
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Grundlinien der Philosophie des Rechts als Anhang' der Rechtsphilosophie mehr oder weniger nur skizziert hat.30 Ohne den Modifikationen und Verschiebungen hier im einzelnen nachgehen zu können, möchte ich mich zur Illustration der durchaus wechselvollen Systematik von Hegels Vorlesungen auf die Darstellung eines zentralen Themas, des Themas „Reformation und Neuzeit" beschränken. An ihm soll gleichsam exemplarisch die Relevanz des Rückgangs auf Nachschriften, so „trübe" diese als Quellen bleiben, deutlich werden.31 1. Die lutherische Reformation nimmt Hegel in seiner ersten Vorlesung 1822/23 zunächst in ihrer Bedeutung für die innere Entwicklung des Geistes in den Blick. Luther zeige, daß es dem Glauben nicht um Sinnliches gehe, sondern allein um die „Gewißheit... der an und für sich seienden Wahrheit" (GII, 276); eine Gewißheit, zu der jedes Subjekt in seinem Gewissen gelangen kann und soll, und die deshalb nun auch den Unterschied zwischen Klerus und Laien obsolet macht (G II, 277). „In der lutherischen Kirche ist es das Herz, das innerste Bewußtsein, Gewissen, das zum Bewußtsein der Wahrheit kommen soll. So ist die Freiheit in der Kirche gewonnen, absolute Innigkeit der Seele.... Die Subjektivität des Individuums, seine Gewißheit, Innigkeit ist mm wahrhafte Subjektivität in dem Glauben" (GII, 277 f). Das Subjekt erringt seine Wahrheit, indem es seine Besonderheit aufgibt und sich als in der substantiellen Wahrheit aufgehoben weiß. Die lutherische Entdeckung der Freiheit des Christenmenschen hat
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G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Suhrkamp-Ausgabe. Bd 7. Frankfurt a. M. 1970. §§ 341 ff. (S. 503 ff). Vgl. zu dieser systematischen Verortung der Geschichtsphilosophie M. Riedel: Fortschritt und Dialektik in Hegels Geschichtsphilosophie. In: System und Geschichte. Studien zum historischen Standort von Hegels Philosophie. Frankfurt a. M. 1973.40 ff, hier 61 f. 31 Für die folgende Darstellung stütze ich mich auf die Nachschriften von Griesheim (1822/23), Correvon (1824/25), Hube (1826/27) und Karl Hegel (1830/31). Herrn Professor Pöggeler danke ich für die Überlassung seiner Transkriptionen der Nachschriften Griesheims, Hubes und Karl Hegels. Eine für den Druck vorbereitete Transkription der Nachschrift Karl Hegels hat mir überdies O. Asbach (Marburg) freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Belege aus der Nachschrift Correvons beruhen auf einer eigenen Transkription. Orthographie und Interpunktion wurden durchgängig behutsam modernisiert. - Zum Bestand an Nachschriften zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte vgl. die Übersicht bei F. Hespe: Hegels Vorlesungen zur „Philosophie der Weltgeschichte". In: Hegel-Studien 26 (1991). 78 ff. Neue Nachschriften sind jüngst aufgefunden worden: Nachschriften des Jahrgangs 1824/25 von Dove sowie des Jahrgangs 1830/ 31 von Heimann und Boeckh.
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indessen Konsequenzen für das sittlich-politische Leben. Denn nun wird der freie Geist „das neue Panier, um das sich die Völker sammeln". Das Werk der Neuzeit besteht folglich in nichts anderem, als „dies Prinzip in die Welt hineinzubilden" (GII, 279). Hegel vergleicht verschiedene Länder Europas: Italien zeigt die „schönste Blüte der Religiosität, aber auch rücksichtslose Sinnlichkeit" (GII, 282); Spanien die glänzendste Entfaltung des Rittertums, das jedoch außer sich gegangen sei, „ohne sich in sein Innerstes auf sich zu kehren" (GII, 283); Frankreich erscheint als Land des - wesentlich abstrakten - Gedankens und Geistes (GII, 283), Großbritannien wie Frankreich als „Land des abstrakten Gedankens, des Raisonnements, aber doch des konkreten Gedankens" (GII, 284); die skandinavischen Nationen seien mit Spanien zu vergleichen (GII, 284); Deutschland, „der Mikrokosmos von Europa", sei geprägt vom Prinzip der Individualität, gehe aber einer politischen Einheit verlustig, sei zerfallen (GII, 285). Auf Preußen sei der „Blick der Freiheit" gerichtet, während Rußland nur eine „massenhafte Macht" darstelle (GII, 286 f). Friedrich II. findet in diesem Kontext eigens die Würdigung Hegels als eine „welthistorische Person" und ein „philosophischer König", der es verstanden habe, den allgemeinen Staatszweck gegen besondere Privilegien zu verteidigen (GII, 307 f). Aus dem Prinzip der evangehschen Kirche geht die Freiheit des Willens hervor, die sich ihrerseits im Staat verwirklicht (GII, 310 f). Das macht für Hegel aber zugleich den Sinn von „Revolution überhaupt" aus (GII, 311) und erklärt, warum pohtische Revolutionen in romanischen Ländern hervorgetreten sind und nicht in Staaten, die mit der Reformation „ihre Revolution gemacht" haben (GII, 312). Diese Länder bedürfen, wie Hegel bemerkt, nicht der Revolution, „denn es ist das vorhanden, daß das, was geschehen soll, durch Einsicht und Bildung geschehe" (GII, 313). 2. Den Zusammenhang von Reformation und Neuzeit kehrt Hegel in ähnlicher Weise in der Vorlesung von 1824/25 hervor: Bei Luther erscheint der Begriff des Geistes, die Wahrheit, als der absolute Inhalt, der dies nur ist, „insofern er dem Menschen, seiner Subjektivität und Freiheit angehört" (C 242 f). So ist „die christliche Freiheit... durch Luther zur Weise der geistigen Existenz gemacht worden" (C 243). Die Verehrung von Heiligen wie die Unterscheidung von Priestern und Laien werden damit hinfällig. Und es sei der durch Luther begründete „Geist der Freiheit" auch jene „allgemeine Idee ..., in der wir stehen". „Dies Prinzip in die Welt hineinzubilden" sei nun die Aufgabe, d. h. konkret: den Staat als „Dasein der Freiheit" mit der Religion zu versöhnen (C 244).
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Durch den reformatorischen „Geist der Freiheit" wird das Denken selbst über eine „formelle Allgemeinheit" hinausgeführt und erhält „seine eigene Bestimmung, seinen Inhalt" (C 248). Das Allgemeine bestimmt sich denn in der letzten Epoche des germanischen Reichs als „unendliche Subjektivität" (C 249). Für die Darstellung dieser Periode blieb Hegel aber offensichtlich kaum Zeit; die Nachschrift Correvons bringt den Schluß der Vorlesung auf nicht einmal vier Manuskriptseiten (C 249 ff). Friedrich II. wird wieder hervorgehoben als derjenige, der „das wahrhafte Staatsinteresse" behauptet habe (C 249), die konstitutionelle Monarchie gewürdigt als das beste Resultat der staatsrechtlichen Entwicklung der Neuzeit (C 250 f). Was sich an abstrakten Grundsätzen der objektiven und subjektiven Freiheit als der substantiellen Grundlage des Staates ausgebildet habe, mache die vernünftige Notwendigkeit „konkret" und werde durch die Philosophie als „Werk der Freiheit" entwickelt. So erweise sich die Philosophie der Geschichte als „Theodizee" (C 252). 3. Die Signifikanz der Reformation vermerkt Hegel in seiner dritten Vorlesung von 1826/27 zunächst in Kongruenz zu den vorherigen Kollegs. Die Lehre Luthers bringt nicht allein den Wegfall aller Äußerlichkeit und des Unterschieds zwischen Priestern und Laien mit sich (HII, 217). Sie ist für Hegel darüber hinaus in ihrem Zusammenhang mit der letzten Periode der Geschichte des germanischen Reichs, dem „Reich des Geistes", zu sehen (HII, 219). Kommt der Neuzeit doch keine andere Aufgabe zu, als das reformatorische Prinzip der Freiheit „in die Welt einzubilden" und derart den Staat als die „Verwirklichung der Freiheit" auszugestalten und zu begründen (HII, 220). Hegel betrachtet demzufolge im abschließenden Teil der Vorlesung zuerst die Prinzipien einzelner Staaten, die sich nach der Reformation konsolidiert haben (Spanien, Portugal, Italien, Frankreich, Deutschland und England; HII, 224 ff), und legt von da aus den Übergang zur „Herrschaft des Gedankens" dar (HII, 233 ff). Dabei kommt es nun zu entscheidenden Innovationen gegenüber den früheren Vorlesungen, die ja kaum über die Epoche der Reformation hinausgekommen waren. So werden mm überhaupt erstmals Descartes als „Urheber der neuen Philosophie" und die Aufklärung genannt (HII, 238 ff)-32 Die deutsche Aufklärung enthalte nichts, „was 32
In Jena kam Descartes bei Hegel bekanntlich als bloßer „Reflexionsphilosoph" vor. Die gewandelte Einschätzung Descartes' in Berlin (wie sie ja auch in den Vorlesungen über
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nicht in Voltaire und Rousseau ausgesprochen wäre" (HII, 240). Sie weise freilich noch keinen „wahrhaften Inhalt" auf (HII, 239). Hegel moniert ihre „große Einseitigkeit, daß sie nicht zur Objektivität des Denkens, zum vernünftigen Inhalte fortgegangen ist" (HII, 240), zu demjenigen substantiellen Inhalt, den die dogmatischen Lehren in sich enthielten, und der lediglich aus der „Schale" der religiösen Vorstellung zu lösen sei (HII, 241). Dem „Allgemeinen des Gedankens" zur Herrschaft verholten, den allgemeinen Staatszweck gegen die Privilegien besonderer Stände geltend gemacht zu haben - das bleibt in Hegels Sicht das Verdienst Friedrichs II., der, wie Hegel seine schon 1822/ 23 geäußerte Ansicht wiederholt, „mit Recht ein philosophischer König genannt" werde (HII, 241, vgl. 200). Diese „Allgemeinheit des Bewußtseins" sei indessen auch im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und bei Joseph II. und Katharina der Großen zu verzeichnen (HII, 242). Die Französische Revolution habe auf den „Prinzipien der allgemeinen Grundsätze" gefußt, diese seien freilich „auf abstrakte Weise gefaßt" und deshalb nur „polemisch gegen alles Bestehende, gegen alle Form, alle Organisation" gewendet worden (HII, 242 f), wodurch „ein falscher Liberalismus" (HII, 243) befördert worden sei. Napoleon, den Hegel früher allein im Zusammenhang des Übergangs zur römischen Welt mit seinem Wort von der Politik als Schicksal zitiert hatte, kommt nunmehr in den Blick als der Stifter liberaler Verfassungen und als gleichsam tragische Figur, der „so lange gegen seine Feinde gekämpft" habe, „bis er sie seiner würdig gemacht hat" (HII, 244).33 In der Gegenwart, dem „Bewußtsein unserer Tage", so schließt Hegel, ist der Geist, der sich in der Weltgeschichte gesucht habe, „endlich zu sich selbst", „zu seiner Freiheit gekommen". In dieser Zielrichtung erweist sich die Geschichte für Hegel weder als das „Spiel zufälliger die Geschichte der Philosophie ihren Niederschlag gefunden hat), dürfte wohl wesentlich durch Hotho angeregt worden sein, der gleich zu Beginn seiner Descartes gewidmeten Dissertation explizit auch die Verbindung zwischen dem methodischen Ansatz Descartes' und der „neueren", d. h. der Aufklärungsphilosophie herstellt. - Siehe H. G. Hotho: De Philosophia Cartesiana. Berlin 1826.3. 33 Eine ähnliche Einschätzung Napoleons belegt Hegels Brief an Niethammer vom 29. April 1814, s. Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister und F. Nicolin. Hamburg 1969 ff Bd 2. 28: „Es sind große Dinge um uns geschehen. Es ist ein ungeheures Schauspiel, ein enormes Genie sich selbst zerstören zu sehen. - Das ist das tragilcwtaton, das es gibt. Die ganze Masse des Mittelmäßigen mit seiner absoluten bleiernen Schwerkraft drückt ohne Rast und Versöhnung so lang bleiern fort, bis es das Höhere herunter auf gleichem Niveau oder unter sich hat. Der Wendepunkt des Ganzen, der Grund, daß diese Masse Gewalt hat und als der Chor übrig und obenauf bleibt, ist, daß die große Individualität selbst das Recht dazu geben muß und somit sich selbst zugrunde richtet."
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menschlicher Bestrebungen und Leidenschaften" noch als „abstrakte vemunftlose Notwendigkeit eines blinden Schicksals". Sie erschließt sich dem Blick des Philosophen als „eine notwendige Entwicklung der Momente der Vernunft". Und als eine solche soll sie sein, worin Hegel 1824/25 erstmals die Auszeichnung der spekulativen Geschichtsphilosophie namhaft gemacht hatte: eine Theodizee, Rechtfertigung Gottes (HII, 245). 4. Der Jahrgang 1828/29 ist bislang leider nicht durch eine Nachschrift ausweisbar. Doch wird man der Konsequenzen etwaiger Änderungen in jenen Jahren in der Vorlesung gewahr, die Hegel 1830/31 als letzte entfaltet hat. Diese letzte Vorlesung Hegels ist es, die auch die grundlegendsten materialen Neuakzentuierungen gegenüber sämtlichen vorherigen Vorlesungsjahrgängen aufweist. Sie betreffen insbesondere das Verhältnis von Reformation, Aufklärung und Französischer Revolution. Luther erscheint nunmehr gleichsam als erster Repräsentant der Aufklärung (vgl. KH 494 f).34 Die lutherische Reformation behält dementsprechend für Hegel ihre Bedeutung gerade darin, „das Prinzip des freien Geistes" „zum Panier der Welt gemacht" zu haben, woraus sich dann „die allgemeinen Grundsätze der Vernunft" entwickelt hätten. „Seinen wahren Gehalt erhielt das Denken erst durch die Reformation, durch das wiederauflebende konkrete Bewußtsein des freien Geistes." Und so werden auch von hier aus erst die Grundsätze ausgebildet, „nach welchen die Staatsverfassung rekonstruiert werden mußte: das Staatsleben soll... der Vernunft gemäß eingerichtet werden ...; die verschiedenen Rechte müssen sich legitimieren als auf vernünftigen Grundsätzen bemhend. So kommt die Freiheit des Geistes erst zur Realität" (KH 376). Die Reformation erhebt sich „als die alles verklärende Sonne" (KH 459) vor dem Hintergrund des mittelalterlichen Dunkels, in dem sich der Geist in „innrer Zerrissenheit" (KH 456) befand. Zwar regte sich, wie Hegel bemerkt, vor der Reformation bereits das Bedürf34
Vgl. zur Kritik dieser Sicht Luthers und der Reformation M. Westphal: Hegel and the Reformation. In: History and System. Hegel's Philosophy of History. Hrsg, von Robert L. Perkins. Albany 1984.73 ff, sowie von theologischer Seite G. Ebeling: Luther und der Anbruch der Neuzeit. In: Wort und Glaube. Bd 3. Tübingen 1975. 29 ff. Zu bedenken ist allerdings, daß sich Hegels eigenwillige Sicht des Protestantismus als einer die moderne, autonome Sittlichkeit inaugurierenden Erscheinung nicht von der Theologie des Reformators selbst herschreibt, sondern im Kontext des mit der Aufklärung im Bunde stehenden (später sogenannten) Neuprotestantismus zu verorten ist.
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nis, den der Theologie im Dogma vorgegebenen Inhalt „für den Gedanken zu rechtfertigen" (KH 441), so etwa bei Anselm und in der scholastischen Theologie (KH440, 449 f). Auch gab es Bestrebungen, die päpstliche Autorität zu schwächen (z. B. auf den Reformkonzilien von Konstanz und Basel), sowie erste Reformbestrebungen bei Brescia, Wycliff und Huß. Doch blieben diese Ansätze nach Hegel „etwas Partielles" (KH 453). Der Geist hatte durch die Zerrissenheit und Unfreiheit hindurch das Bewußtsein seiner Freiheit zu erringen, zur „Gewißheit der Versöhnung" (KH 456) zu gelangen. So setzt mit der Reformation Luthers die dritte und letzte Periode des germanischen Reichs ein, die Periode des sich als frei wissenden Geistes (KH 460). Entscheidend ist für Hegel, daß durch den Protestantismus das Verhältnis zur Welt auf eine neue Grundlage gestellt wird, trete jetzt doch auch das Sittliche in die Versöhnung des Geistes ein. „Das Göttliche hört auf, die fixe Stellung eines Jenseits zu haben: es wird gewußt, daß das Sittliche und das Rechte das Göttliche und das Gebot Gottes ist, daß es dem Inhalt nach kein Höheres, Heiligeres gibt" (KH 469).35 An die Stelle eines blinden Gehorsams tritt ein Gehorsam aus Freiheit. Was der Protestantismus allerdings nicht zustandebringt, ist, Hegel zufolge, ein „System der sittlichen Weltlichkeit" auszubilden (KH 472). Nach der Reformation kommt es zwar zur Staatenbildung; aus dem Verhältnis der Staaten gegeneinander erwachsen hingegen wieder mannigfaltige Kriege. Die Staatenbildung betrachtet Hegel in seiner letzten Vorlesung freilich nicht allein wie in den früheren Vorlesungen in Hinsicht auf die innere Konsolidierung der Staaten und ihre Prinzipien. Was jetzt als wichtigstes Interesse herausgehoben wird, ist der „Kampf der protestantischen Kirche um eine politische Existenz" (KH 484), die auch in England und in den Niederlanden gegen den Katholizismus errungen
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Die Betonung des Protestantismus als Staatsfundament markiert nach Rosenzweig eine Zäsur in Hegels Entwicklung seit 1827. Rosenzweig beruft sich dafür auf die zweite Auflage der Enzyklopädie, verweist darüber hinaus auf Hegels Rede zur 300-Jahr-Feier der Confessio Augustana 1830 (F. Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd 2. München/Berlin 1920. 213 ff). Hier ist das Fehlen einer Nachschrift der geschichtsphilosophischen Vorlesung 1828/29 bedauerlich. Hegel beabsichtigte freilich 1830/31, wie es scheint, eine kleine Schrift über die Vernunft in der Geschichte zusammen mit einer Abhandlung über Gottesbeweise zu publizieren. Dieser Plan mag die von Rosenzweig bei Hegel seit 1827 beobachtete Tendenz einer stärkeren Gewichtung der Religion, namentlich der protestantischen Religion, verdeutlichen. Doch wird man darüber das bei Hegel gleichfalls neu aufkeimende Interesse an Aufklärung und Französischer Revolution nicht übergehen dürfen. Dafür bietet gerade Hegels letzte geschichtsphilosophische Vorlesung einen vorzüglichen Beleg.
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(KH 486 f) und im Westfälischen Frieden anerkannt wird. Erst Friedrich II. aber, von Hegel ein weiteres Mal als „philosophischer König“, ja als „genialer König“ gefeiert (KH 488), habe der protestantischen Kirche die politische Garantie gegeben. „Friedrich faßte das protestantische Prinzip von der weltlichen Seite auf, er hatte das Bewußtsein, daß der Geist seine letzte Tiefe erreicht habe, daß er zum Denken gekommen sei, sich denkend erfaßt habe" (KH 489, vgl. auch 491 f). Als die „Hauptsache" in der Neuzeit erkennt Hegel die „Fortbildung des Geistes in sich" (KH 489 f). Das Denken selbst erweist sich als die letzte Stufe der geschichtlichen Entwicklung des Geistes, die Weltgeschichte damit insgesamt als nichts anderes denn ein Zu-sich-selbstKommen des philosophischen Begriffs - und insofern als „wahrhafte Theodizee", wie Hegel am Ende erklärt (KH 509). Es macht die Einzigartigkeit der letzten Gestalt von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte aus, daß sie die „Herrschaft des Gedankens" als das Signum der Neuzeit nun in ihrer Eigenständigkeit entwickelt und in diesem Kontext mm auch zu einer eingehenderen Würdigung der (nach Hegel philosophisch begründeten) Französischen Revolution kommt (KH 496 ff). Wie schon in seiner dritten Vorlesung von 1826/27 nennt Hegel Descartes als Begründer der Aufklärung; das Bewußtsein des Allgemeinen, das bei ihm aufgegangen sei, markiere einen „neuen Standpunkt", ein „neues Interesse" (KH 491). Hegel verweist ferner auf die naturrechtliche Rechtsbegründung durch Hugo Grotius (KH 491) sowie auf die vemunftrechtliche Begründung des Staatsrechts bei Rousseau und in der Folge bei Kant, wo im Prinzip des freien Willens „ein reines Gedankenprinzip für den Staat gefunden worden" sei (KH 493, 495). Zwar bleibt Hegel bei seinem Einwand, die Aufklärung sei im Abstrakt-Formalen steckengeblieben. Doch „neu" verdient ihr Standpunkt gerade deshalb genannt zu werden, weil selbst noch für Luther, wie Hegel jetzt kritisch anmerkt, der Inhalt der geistigen Freiheit und der konkreten Versöhnung noch „ein Gegebenes", „ein durch die Religion Geoffenbartes" gewesen sei. Die Aufklärung habe demgegenüber „das Prinzip aufgestellt", „daß dieser Inhalt ein gegenwärtiger sei, wovon ich mich innerlich überzeugen könne". Auf diesen Grund müsse alles bezogen werden (KH 492). So erwachse das Interesse, „die Gesetze der Natur und ihr System zu finden" (KH 490), komme es zur Ausbildung der empirischen Wissenschaften, schließlich im Prinzip der Freiheit des Denkens zum „letzten Stadium der Weltgeschichte", der „Form unserer Tage" (KH 492).
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Das Hervortreten dieses Prinzips in Frankreich hat dort zur Revolution geführt (vgl. KH 496), während man in Deutschland beim Theoretischen stehengeblieben sei. Die Frage, warum es in Deutschland keine Revolution gegeben, Deutschland aber auch keine Revolution nötig habe, beantwortet Hegel wie schon in seiner ersten Vorlesung unter Verweis auf die Erscheinung des Protestantismus: Deutschland war durch den Protestantismus bereits „zur Beruhigung über die rechtliche und sittliche Wirklichkeit gekommen". „In Deutschland war die Aufklärung auf seiten der Theologie, in Frankreich nahm sie sogleich eine Richtung gegen die Kirche. In Deutschland war in Ansehung der Weltlichkeit schon alles durch die Reformation gebessert worden" (KH 494 f, vgl. 508). Gleichwohl findet die Französische Revolution, die noch in der Vorlesung von 1826/27 nur eben erwähnt und überdies vorwiegend negativ gewertet worden war (vgl. HII, 242 f), bei Hegel nunmehr jene nahe an Enthusiasmus grenzende „Theilnehmung dem Wunsche nach", von der Kant gesprochen hat:36 „So lange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herum kreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach dem Gedanken erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß der noüs die Welt regiert; nun aber ist der Mensch dazu gekommen zu erkennen, daß der Gedanke, die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dies ein herrlicher Sonnenaufgang. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht; ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen" (KH 497 f). Und so schließt Hegel seine Vorlesung denn auch folgerichtig mit einer Betrachtung der Französischen Revolution (KH 501 ff)37 In dieser Betrachtung unterbleiben kritische Töne keineswegs, wenn Hegel etwa den Tugendterror Robespierres anprangert (KH 502 f, vgl. 475) oder das französische „Prinzip der Atomistik" eines Liberalismus zeiht, der allenthalben Bankrott gemacht habe (KH 505). Napoleon wird demgegenüber wie 1826/27 als der geniale Staatsrechtslehrer gewürdigt, der seine liberalen Verfassungen über beinahe ganz Europa 36
I. Kant: Der Streit der Fakultäten. Akademie-Ausgabe. Bd 7. Berlin 1968.85. Das Berliner Exzerpt zu Walter Scotts Napoleon-Buch verteidigt demgemäß - gegen die nach Hegels Urteil „seichte" Sicht Scotts - die „charakteristischen Grundsätze" der Französischen Revolution, „die das Wesen der Revolution bezeichnen und (die ihr) ihre fast unermeßliche Macht über die Gemüter geben". Siehe G. W. F. Hegel: Berliner Schriften 1818-1831. Suhrkamp-Ausgabe. Bd 11. Frankfurt a. M. 1970.566. 37
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gebracht habe, am Ende jedoch von der „Individualität der Volker" gestürzt worden sei (KH 503). Die Versöhnung zwischen dem Willen der Regierung und dem Willen der Vielen bleibt für Hegel ein Problem, „an dem die Geschichte steht und das sie noch zu lösen hat" (KH 504). Die Anerkennung der weltgeschichtlichen Signifikanz der Französischen Revolution wird von solchen kritischen Erwägungen indes nicht berührt: „Dem Gehalte nach ist die französische Revolution welthistorisch ..." (KH 505).
III. Ein anderer, aber kein „ursprünglicher" Hegel Die Vorlesung von 1830/31 bleibt hinsichtlich des Status von Reformation und Aufklärung bzw. Französischer Revolution letztlich spannungsvoll: Erscheint die reformatorische Theologie einerseits als ein Phänomen der Aufklärung, kann letztere mithin als eine Explikation des reformatorischen Prinzips verstanden werden, so soll andererseits das aufklärerische Prinzip der Freiheit des Denkens doch auch über Luther hinaus führen und das Fundament des „letzten Stadiums der Weltgeschichte" markieren. Ist eine vernünftige Staatsordnung für Hegel einerseits ohne die Grundlage der „wahrhaften", christlichen Religion, wie sie sich im protestantischen Prinzip artikuliere, nicht denkbar,38 so bleibt der Protestantismus in seiner Sicht andererseits gegenüber der Freiheitsphilosophie der Aufklärung defizitär, da es in ihm noch nicht zur Entwicklung eines „Systems der sittlichen Weltlichkeit" gekommen sei. Die Verwendung derselben Metapher zur Kennzeichnung des geschichtlichen Auftretens von Reformation und Französischer Revolution ist bezeichnend: Heißt es von der Reformation, sie sei „als die alles verklärende Sonne in ihrer ganzen Herrlichkeit" aufgetreten, erkennt Hegel umgekehrt in der Französischen Revolution einen in der bisherigen Geschichte nicht dagewesenen, „herrlichen Sonnenaufgang". Die Problematik der systematischen Anlage von Hegels Vorlesungen belegen indessen nicht allein die mannigfachen strukturellen und thematischen Modifikationen, wie sie die Nachschriften erkennen lassen und hier am Beispiel des Verhältnisses von Reformation und Neuzeit 38
Vgl. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 270; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. § 552; dazu auch die Beiträge von J. Dierken und E. Weisser-Lohmann, in diesem Band S. 95 ff und 123 ff.
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aufgezeigt wurden. Sie tritt nicht zuletzt und besonders an ihren „Rändern" hervor, den Ländern und Kontinenten nämlich, die Hegel aus seinen weltgeschichtlichen Betrachtungen ausschließen bzw. als weltgeschichtlich nicht bedeutsam einstufen zu können vermeint. So kommen China und Indien durchgängig gerade nur als „Vorgeschichte" gleichsam einer „eigentlichen" Geschichte vor; Amerika scheidet als „Land der Zukunft" von vornherein aus (G 1,98 f; C 29,31, 33; HI, 59, 63; KH 48 ff); Afrika ist Hegel zufolge schlechthin geschichtslos und deshalb nicht zur Weltgeschichte gehörig (G1,103 ff; C 33 ff; H1,72,77, 78 ff; KH 68 f, 70 ff).39 Gleichwohl kann Hegel freilich nicht umhin, Ägypten, obschon Teil des afrikanischen Kontinents, zu berücksichtigen. Die Schwierigkeit, Afrika aus der Philosophie der Weltgeschichte aussondem, Ägypten aber aufnehmen zu müssen, „löst" Hegel in der Weise, daß er das Land als vierte Gestalt der orientalischen Welt (mit unterschiedlicher Gewichtung) behandelt - Konstruktionen und Auslassungen, die für sich besehen schon den Anspruch des spekulativen Diskurses, die Geschichte logisch zu begreifen, in seiner Fragwürdigkeit sinnfällig machen. Als Indiz des Scheitems dieses Anspruchs mag überhaupt gewertet werden, daß Hegel eben nicht zu der Eindeutigkeit einer vollendeten und in sich stimmigen Systematik gelangt ist, die die Schüler dem Mei-
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Vgl. dazu H. Kimmerle: Hegel und Afrika: Das Glas zerspringt. In: Hegel-Studien 28 (1993). 303 ff; zur Kritik des „Ethnozentrismus" des Hegelschen Denkens ders.: Gibt es Fortschritt(e) in der bildenden Kunst? Zur Dekonstruktion der Hegelschen Ästhetik. In: Der Mensch als homo pictor? Die Kunst traditioneller Kulturen aus der Sicht von Philosophie und Ethnologie. Hrsg, von H. Kämpf und R. Schott. Bonn 1995. 127 ff, bes. 132 f, 136. Zur Debatte um Zukunft und Ende der Geschichte bei Hegel vgl. jüngst R. Bubner: Hegel and the End of History, sowie L. Pompa: Philosophical History and the End of History, beide Beiträge in: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain 23/24 (1991). 15 ff und 24 ff. B. Bourgeois: Hegel et la fin de Vhistoire. In: Philosophie Politique 1994. Nr. 5.11 ff bemerkt im Zusammenhang einer Diskussion der Stellung Amerikas bei Hegel m. E. zu Recht, daß es für Hegel eine Zukunft, die über die in der eigenen Gegenwart erreichte Verwirklichung der Vernunft hinaus strukturell Neues zu bringen vermöchte, von den seiner Philosophie eingeschriebenen Prinzipien her nicht geben könne. „L'histoire de l'universel est achevee: le futur, en toute sa richesse detaülee, ne pourra produire comme durable aucune structure sociopolitique ä la fois nouvelle et fondamentale.... Uaffirmation par Hegel de la fin de l'histoire universelle ... nous semble intimement liee aux principes directeurs de toute sa philosophic" (aaO 22). Ist Zukunft für Hegel demnach in der Tat nichts anderes als und bestenfalls - „eine musikalische Coda des weltgeschichtlichen Rondos" (Nietzsche)? So sehr man die Offenheit Hegels für geschichtliche Phänomene hervorheben und anerkennen mag, so klar liegen denn die durch den hierarchischen Systemansatz Hegels definierten Grenzen dieser Offenheit zutage. Sie vermag auch eine Hegel noch so gewogene Deutung nicht aus der Welt zu schaffen.
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ster später unterschieben wollten.40 Die Nachschriften der Vorlesungen Hegels vermitteln jedenfalls mitnichten ein geschlossenes Bild. Sie geben vielmehr Einblick in die Entwicklung eines Denkens, das über „einzelne Ansätze“ durchaus nicht hinausgekommen ist.41 Diese Einschätzung ließe sich verifizieren in Hinsicht auf die anderen Systemteile sowie auf Hegels politische Schriften. So bestätigt etwa die letzte zu Hegels Lebzeiten veröffentlichte Schrift, die Abhandlung über die englische Reformbill, daß der Philosoph selbst vermeintlich unumstößliche und über lange Jahre vertretene Positionen revidieren konnte: Hegel erwartet eine Revolution in England, obwohl England nach den geschichtsphilosophischen Vorlesungen doch zu jenen Ländern gehört, die mit der Reformation ihre Revolution gehabt haben.42 Die späte Würdigung andererseits des „welthistorisch" bedeutsamen Gehalts der Französischen Revolution findet ein Pendant z. B. in der zweiten Württemberg-Schrift, in der Hegel vor dem Hintergrund des württembergischen Verfassungskonflikts die Landstände auf das durch die Französische Revolution proklamierte Vemunftrecht als Grund einer modernen Staatsverfassung verweist.43 Kontinuität und Wandel der in den Vorlesungen entwickelten Ansätze werden derart allererst im Blick auf weitere Texte des Hegelschen Oeuvre voll zu erfassen sein, unter Berücksichtigung aber nicht zuletzt auch der Arbeiten von Hegel-Schülern. So hat Eduard Gans beispielsweise in seiner Vorlesung vom Sommer 1828
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Frühere Darstellungen der Geschichtsphilosophie Hegels wie diejenige K. Leeses haben diese Sicht indessen perpetuiert. So rühmt Leese, aufbauend auf Lassons Edition, Hegels Geschichtsphilosophie als „Werk eines Denkstils von wundervoller Formklarheit und Geschlossenheit des Grundrisses und des Aufbaus". Siehe K. Leese: Die Geschichtsphilosophie Hegels. Berlin 1922.310. 41 So O. Pöggeler: Geschichte, Philosophie und Logik bei Hegel. In: Logik und Geschichte in Hegels System. Hrsg, von H.-Chr. Lucas und G. Planty-Bonjour. Stuttgart 1989.101 ff, hier 103. - Zur entwicklungsgeschichtlichen Erforschung von Hegels Geschichtsphilosophie vgl. grundsätzlich die wegweisenden Arbeiten von Kurt R. Meist: Philosophie ist „ihre Zeit in Gedanken erfaßt". Zur Rolle der Geschichte in Hegels System der Philosophie. In: Journal of the Faculty of Letters. The University of Tokyo (Aesthetics) 6 (1981). 25 ff; Differenzen in Hegels Deutung der „Neuesten Zeit" innerhalb seiner Konzeption der Weltgeschichte. In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-Chr. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986.465 ff; Zur Entstehungsgeschichte einer Philosophie der Weltgeschichte bei Hegel in den Frankfurter und Jenaer Entwürfen. Habil.-Schrift Bochum 1986. 42 Vgl. dazu jüngst den von Chr. Jamme und E. Weisser-Lohmann herausgegebenen Sammelband: Politik und Geschichte. Zu den Intentionen von G. W. F. Hegels ReformbillSchrift. Bonn 1995. Hegel-Studien. Bh. 35. 43 Vgl. dazu die Beiträge von Chr. Jamme und H.-Chr. Lucas in: Hegels Rechtsphilosophie ... Hrsg, von H.-Chr. Lucas und O. Pöggeler. aaO 149 ff und 175 ff.
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über die „Geschichte der neuesten Zeit" nachdrücklich auf das epochemachende Datum der Französischen Revolution als des „Anfangspunkts" der Geschichte hingewiesen.44 Seine im September desselben Jahres in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik erschienene Rezension von Guizots Histoire de la Revolution d'Angleterre thematisiert die Französische Revolution entsprechend als „Werk von Theorieen und Gedanken". Die gleichsam „vollkommene Metaphysik" der Revolution mache sie, im Gegensatz zur englischen Revolution, zu einer weltgeschichtlichen, „allgemeinen Begebenheit". „Von ihr", notiert Gans emphatisch, „beginnt die Geschichte eine neue Epoche."45 Das erneute Interesse Hegels an Aufklärung und Französischer Revolution, wie es u. a. die letzte Gestalt seiner Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte belegt, wird insofern begreiflich als Reflex auch der geschichtlichen Betrachtungen von Schülern wie Gans und der Zäsur, die die Arbeit an den Jahrbüchern zweifellos bedeutete. Läßt sich die These vertreten, die Nachschriften der Vorlesungen leiteten nicht nur dazu an, Hegel anders zu lesen, sondern präsentierten darüber hinaus, mindestens streckenweise, einen anderen (wenngleich nicht „ursprünglichen") Hegel, so darf freilich die prinzipielle Frage nach dem Status von Nachschriften nicht unbedacht bleiben. Wie ist die Güte von Nachschriften einzuschätzen? Ist nicht stets damit zu rechnen, daß die Nachschreiber selektiv verfahren sind, je nach Interesse und intellektueller Auffassungsgabe? Derlei Fragen rühren an das eingangs bereits namhaft gemachte grundsätzliche methodische Dilemma des Umgangs mit Nachschriften. Ist Heidegger in der Einschätzung von Nachschriften als letztlich „trüber Quellen" zu folgen (und keine noch so trotzig sich gebärdende Apologetik richtet m. E. dagegen etwas aus), so muß die Präokkupation von der Frage nach dem Autor allerdings vor dem Interesse für die Sache verblassen.46 Ist es doch überhaupt müßig und unergiebig, darüber zu streiten, ob Nachschriften nun den „authentischen" Hegel oder nur 44
Vgl. die Mitteilung aus einem Manuskript Felix Mendelssohns bei H. G. Reissner: Eduard Gans. Ein Leben im Vormärz. Tübingen 1965.126. 45 Jahrbücher ßr wissenschaftliche Kritik, Nr. 55/56 (September 1828). Sp. 467 ff, hier 476. 475. Zu Gans' Mitarbeit an den Jahrbüchern vgl. auch die Beiträge von N. Waszek und K. Vieweg in: Die „Jahrbücher ßr wissenschaftliche Kritik". Hegels Berliner Gegenakademie. Hrsg, von Chr. Jamme. Stuttgart 1994.93 ff und 489 ff, bes. 498 ff. 46 Damit soll nicht in das postmodeme Credo vom „Tod des Autors" (R. Barthes) eingestimmt werden. Wohl aber ist, wie ich meine, die Autorfrage im Interesse einer Zuwendung zur Sachproblematik der (semantisch eigenständigen) Texte zu depotenzieren. Vgl. dazu die texthermeneutischen Überlegungen bei Paul Ricoeur: What is a text? Explanation
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einen Hegel in Anführungszeichen vermitteln. Ob Hegel oder „Hegel", diese Frage ist nicht mehr definitiv entscheidbar. Letztlich ist sie aber auch gegenüber der Sache des Denkens uninteressant. Diesseits der oft, wie es scheint, ideologisch geprägten Diskussion um den Stellenwert von Nachschriften und die Art und Weise des angemessenen Umgangs mit ihnen, wäre es denn Sache künftiger editorischer Bemühungen, die einzelnen Vorlesungsjahrgänge in ihrer je individuellen Gestalt und mithin unter Verzicht auf die Fiktion einer systematischen Geschlossenheit exemplarisch zu präsentieren. Daß dabei nur auf Nachschriften rekurriert werden kann, ist freilich eine Crux, die nolens volens hinzunehmen und nicht länger zu hintergehen noch zu kaschieren ist - auch nicht durch die Postulierung ohnedies nicht einzulösender Authentizitätsansprüche. Der Fiktion eines authentischen oder ursprünglichen Hegel bedürfen wir, wie gesagt, aber auch gar nicht, wo die Sache von Hegels Vorlesungen interessiert.
and Understanding. In: Hermeneutics and the Human Sciences. Hrsg, von J. B. Thompson. Cambridge, Mass. 1981.145 ff.
FRANZ HESPE (BERGEN)
GEIST UND GESCHICHTE Zur Entwicklung zweier Begriffe in Hegels Vorlesungen „Die Natur des Geistes ist, was er ist, hervorzubringen, zur Manifestation, Offenbarung, zum Bewußtsein zu bringen. So ist seine Bestimmung, sich zu dem zu machen, was er an sich ist. - Ein ungeheuerer Unterschied ist, was der Geist an sich ist, und, was er hervorbringen soll; es ist ein und derselbe Inhalt, nur ein Unterschied der Form, daß er sich zu dem macht, was er ursprünglich ist. Alles Interesse der Geschichte des Weltgeistes dreht sich um diesen Unterschied, zum Bewußtsein zu bringen, was an sich ist, dies Innere, daß es auch für sich werde." (V 13. 6,132-7,140)1
Zufolge dieser Äußerung Hegels, die in einer Nachschrift zur Philosophie des Geistes aus dem Wintersemester 1827/28 überliefert ist, ist die Notwendigkeit für den Geist, sein eigenes Wesen, das was seinen Be1
Hegel-Texte werden unter Benutzung folgender Siglen () zitiert: G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Hamburg 1968 ff. (GW); G. W. F. Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Hamburg 1983 ff. (V); G. W. F. Hegel: Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Heidelberg 1817. Jubiläumsausgabe. Hrsg. v. H. Glöckner. Bd 6. Stuttgart 1927. (Jub 6); G. W. F. Hegel: Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Heidelberg 21827. (GW 19); G. W. F. Hegel: Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Heidelberg 31830. (GW 20). Die drei Auflagen von Hegels Enzyklopädie werden nach §§ zitiert, eventuell ergänzt durch A für die von Hegel selbst stammenden Anmerkungen, bzw. Z für die von Boumann redigierten Zusätze in der normalisierten Fassung nach G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Theorie-Werkausgabe. Hrsg. v. E. Moldenhauer u. M. Michel. Bd 10. Frankfurt a. M. 1970. Nachschriften werden ebenfalls unter Benutzung von Siglen () zitiert: Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/23. Rudolf Hagenbach (Hagenbach); Philosophie der Weltgeschichte. Vorgetragen von Hegel im Winterhalbjahre 1822/23, nachgeschrieben von Gustav v. Griesheim. (Griesheim); Philosophie der Weltgeschichte nach dem Vortrage des Herrn Professor Hegel, im Winter 1822/23. Berlin, Heinrich Gustav Hotho (Hotho); Hegel. Vorlesungen über: Philosophie der Weltgeschichte. Nachgeschrieben von Ed. Erdmann. Berlin Wintersemester 1826/27 (Erdmann); G. W. F. Hegel: Dictat über Philosophie der Geschichte, 1830/31, (Ackersdijck); Philosophie der Weltgeschichte nach den Vorlesungen seines Vaters von F. W. K. Hegel, Wintersemester 1830/31, (KHegel); Philosophie der Geschichte. Hegel, Wintersemester 1830/ 31. Nachschrift von Johann Hinrich Wiehern, (Wiehern).
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griff ausmacht, durch seine eigene Tätigkeit hervorzubringen, nicht nur der Schlüssel zur Erkenntnis des Geistes sondern auch der der Geschichte; Schlüssel zur Erkenntnis der Geschichte - genauer der Weltgeschichte - darum, weil dieser Prozeß der Selbsterzeugung des Geistes als ein Prozeß der Bildung der Volksgeister in die Zeit fällt und daher seinem Begriffe nach bereits die Geschichtlichkeit impliziert. Es ist daher nicht zufällig, daß Hegel in allen Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte in der ausführlichen Einleitung, in der er das theoretische Konzept seiner Philosophie der Geschichte erläutert, darauf insistiert, daß der Begriff des Geistes auch die Folie abgibt für ein philosophisches Konzept von Geschichte. Wenn ein solcher zentraler Begriff im Laufe der Vorlesungstätigkeiten Hegels eine Weiterentwicklung erfährt, was tatsächlich der Fall ist, dann wird dies notwendig Auswirkungen auf beide so eng miteinander verflochtenen Begriffe haben, denen ich im folgenden nachgehen will. Ich werde dabei zunächst kurz die Entwicklung im Begriff des Geistes skizzieren, dann seine Auswirkungen auf das Konzept einer philosophischen Weltgeschichte erörtern. - Dabei werde ich mich aus Platzgründen und um unnötige Wiederholungen zu vermeiden auf eine Untersuchung der ersten und der letzten Vorlesung zur Philosophie der Weltgeschichte - d. i. der von 1822/23 und 1830/31 -beschränken.
Der Begriff des Geistes
Zentrale Kategorie für Hegels Geistesbegriff ist die des Denkens, für die es wesentlich ist, daß der Mensch Gefühle, Empfindungen, Wahrnehmungen auf sich als deren sie verbindendes Subjekt beziehen kann und dadurch in der Lage ist, sich ihrer zu erinnern, sie zu vergleichen und unter Begriffe zu subsumieren. In praktischer Rücksicht ist dies zugleich die Voraussetzung dafür, daß die Handlungen des Menschen nicht nur unmittelbar durch Neigungen und Triebe bestimmt werden, sondern daß ein gedachter Zweck ihre Ursache ist und dies es erlaubt, vom Menschen zu sagen, er sei frei. Selten hat Hegel diese Identität so pointiert zum Ausdruck gebracht wie in der Vorlesung zur Geistesphilosophie von 1827/28: „Der Mensch ist Geist, und was ist das innerste, konzentrierte Wesen, die Wurzel des Geistes? Die Freiheit, Ich, Denken" (V 12.12, 337-339). Bis dahin sind Hegels Überlegungen wohl nicht sonderlich neu, sondern dies macht die gemeinsame Essenz der neuzeitlichen Philosophie von Descartes bis Kant aus. Anders als diese
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geht Hegel aber davon aus, daß man eine falsche Problemstellung aufwirft, wenn man daraus das Problem des Verhältnisses von Leib und Seele als zweier aparter Substanzen aufwirft. Eine solche Fragestellung ist nur unter der falschen Voraussetzung von Interesse - dann jedoch unlösbar (vgl. Enz §§ 387Z., 389Z.) -, wenn 1.) Leib und Seele als gegeneinander selbständige Existenzen, 2.) die Materie als ein Wahres - d. h. in der von Hegel aus der Schulphilosophie übernommenen Begriffsbildung als substantiell2 - und 3.) schließlich die Seele als ein ens (Ding) angesehen werden (vgl. Enza § 389A und Z). Positiv gewendet, wird damit behauptet, Wahrheit, d. h. Substantialität, kommt nur der Seele, nicht aber der Materie und damit auch nicht dem Körper zu. Mit dieser Behauptung, wird jedoch nicht die Existenz der Materie oder des Körpers geleugnet, nicht behauptet, daß sie bloße Vorstellung sei.3 Hegel spricht ihnen vielmehr die Substantialität ab, d. h. die Möglichkeit, unabhängig von dem sie organisierenden Prinzip beharrlich zu sein. Das Verhältnis von Körper und Seele bestimmt Hegel im Anschluß an seinen Begriff von Organismus, den er seinerseits von Kant übernimmt und weiterentwickelt.4 Diesem Begriff zufolge ist die Entste-
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Zu Hegels Identifikation von Substantialität und Wahrheit vgl. auch GW 12.196, 18 ff. 3 Hegel verwirft diese Vorstellung als offensichtlich abwegig: „weil man die Materie nur zu berühren braucht, um Widerstand zu erfahren, und es also Torheit ist, ihre Realität zu leugnen" (V 13.17,451-453). 4 Nach Kant können wir Organismen als gesetzmäßig nur erkennen, wenn wir annehmen, daß die Hervorbringung und Verbindung ihrer Teile zu einem Ganzen nur durch die Idee dieses Ganzen möglich ist und daß die Teile sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie einander insgesamt ihrer Form und Verbindung nach und so als ein Ganzes aus eigener Kausalität hervorbringen (Kants gesammelte Schriften. Akademie Ausgabe. Berlin 1902 ff. Bd 5. 366 f, 369 f, 373). Der Bezug zu Kant ist nicht nur dadurch gewährleistet, daß Hegel es Kant mehrfach als Verdienst anrechnet, den Begriff der inneren Zweckmäßigkeit wieder in die Bestimmung des Organischen eingeführt zu haben (vgl. Enzs § 204A und 306), sondern auch durch den beinahe wortgleichen Begriff des Organismus: „in diesem erzeugt nicht nur jedes Glied das andere, ist dessen Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck, ..., sondern das Ganze wird von seiner Einheit so durchdrungen, daß nichts in ihm als selbständig erscheint, jede Bestimmtheit zugleich eine ideelle ist..." (Enz 381Z). Hegels Anknüpfung an Kants Ausführungen vom Organismus als Selbstzweck lassen sich auch entwicldungsgeschichtlich anhand seiner Jenaer Arbeiten zeigen. Kants Ausführungen in der Kritik der Urteilskraft haben in Jena zunächst Hegels Interesse gefunden, weil der dort eingeführte Zweckbegriff es nach Kant nicht nur erlaubt, Organismen als zweckgerichtete Ganze zu begreifen, sondern auch die Natur überhaupt als eine teleologisch organisierte Totalität zu begreifen (op. cit. V. 377 ff, insbes. 380 f). Kant ist nach Hegel nur daran gescheitert, daß er diesen Gedanken bloß als regulative Idee und nicht als konstitutives Prinzip zulassen wollte (vgl. GW 4. 342 f).
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hung und Reproduktion von Organismen wie der belebten Natur im Ganzen kausal nicht erklärbar. Zu deren Erklärung bedarf es vielmehr des Begriffs des Selbstzweckes als ein ein System organisierendes Prinzip, das sich jene Kausalprozesse, ohne den Kausalnexus zu durchbrechen, zum Mittel seiner Produktion und Reproduktion macht. Substantiell ist nach diesem Begriff nicht ein (materielles) Substrat, sondern vielmehr die teleologisch gedachte Form oder Gestalt, in Hegels Terminologie auch der Begriff, der sich durch die Organisation und Reorganisation eines ständig wechselnden Stoffs reproduziert. In Anknüpfung an diesen Lebensbegriff als eine die Identität des Organismus erhaltende Struktur bestimmt Hegel die Seele als Kontinuität, Totalität und Identität aller körperlich bestimmten Zustände, Empfindungen und Gefühle (vgl. Enza § 389A; V 13. 9 f; 26).5 Wie sich nun der Organismus beständig reproduziert, indem er den Stoff organisiert, so produziert und reproduziert sich auf einer höheren Ebene die Seele, indem sie die körperlichen Bestimmungen und Empfindungen zu Empfindungen und Bestimmungen einer identischen Einheit organisiert. Wie der Organismus nicht ohne den Stoff, so ist die Seele nicht ohne die körperlichen Bestimmungen und Empfindungen;6 die Seele bleibt - obgleich Substanz bzw. substantielle Form - an die materielle Existenz des Körpers gebunden und nicht nur sie, sondern auch die höheren mentalen Funktionen des Geistes bleiben an die körperlichen Empfindungen gebunden, haben in ihnen ihren Stoff (vgl. Enza §§ 389, 403A); denn ebenso wie sich die Seele die körperlichen Funktionen zum Stoff ihrer Selbstorganisation macht, erhebt sich auf einer nächsten Stufe das Bewußtsein als Einheit der die Empfindungen bearbeitenden mentalen Akte. Wenn die Seele somit an die körperlichen Funktionen gebunden bleibt, so schließt die teleologische Konzeption des Begriffs der Seele es andererseits aus.
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Diese Zusammenhänge werden im übrigen in der ersten Auflage der Enzyklopädie noch deutlicher, weil hier der Begriff des Geistes direkt an den letzten Paragraphen der Naturphilosophie anschließt (Enzi §§ 298 f, Enzs §§ 376 und 381), beide §§ noch nicht durch die erst in der zweiten Auflage hinzugekommenen einleitenden Ausführungen zur Philosophie des Geistes (Enza §§ 377-380) voneinander getrennt sind. 6 Denn wie der Organismus nicht Resultat einer bestimmten Verbindung der Materie ist, sondern sich die Materie als seine Umwelt nach einem zweckgerichteten Prinzip organisiert, so ist die Seele nicht Resultat einer bestimmten Verbindung der Materie, sondern ein zweckgerichtetes Prinzip, daß sich den Körper und die auf ihn wirkenden Einflüsse zu seiner Einheit (Individualität) organisiert.
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diese als bloßes Resultat einer bestimmten Verbindung der Materie zu denken.7 In der Mitte der zwanziger Jahre hat Hegel diese an Kants Begriff der inneren Zweckmäßigkeit orientierten Überlegungen vermutlich im Zusammenhang mit einer erneuten Aristotelesrezeption8 weiterentwickelt und mit den Aristotelischen Begriffen von substantieller Form, Stoff und Entelechie und deren Gebrauch zur Definition der Seele in de anirm II. 1 neu interpretiert.9 Die Übernahme dieses Begriffs von substantieller Form erlaubt es Hegel nun, eine Reihe von Problemen der Zwei-Substanzen-Lehre erst gar nicht aufkommen zu lassen: Wenn man annimmt, das Organisationsprinzip sei die vom wechselnden materiellen Stoff unterschiedene Substanz der Natur, dann gibt es nur eine - zugleich immaterielle Substanz; es macht keinen Sinn mehr, von mehreren Substanzen und deren Commercium zu reden. Die Auffassung, daß das Organisationsprinzip und nicht das materielle Substrat die Substanz der Dinge sei, macht auch Hegels Behauptung sinnvoll, der Geist sei die „Wahrheit" (V 13.15,405; Enzs § 381), bzw. die Seele sei die „allgemeine Immaterialität" der Natur (Enzs § 389)10, ohne daß damit der Materie die äußere Existenz abgesprochen würde. Der Aristotelische Entelechiebegriff erlaubt ferner die von Hegel im7
Daraus resultiert Hegels Kritik an der Auffassung des Materialismus, die Seele sei bloßes Resultat einer bestimmten Verbindung der Materie: „Diese Einheit (sc. die den Dualismus überwindende Einheit; - F. H.) ist nun aber so gefaßt worden, daß die Materie das Wahrhafte, der Geist ihr Produkt sei, wenn die Materie so sich verbände, so komme der Geist heraus als etwas Hüchtiges, Vorübergehendes" (V 13.17, 439-442). Vgl. auch Enz § 381Z: „Der an und für sich seiende Geist ist nicht das bloße Resultat der Natur, sondern in Wahrheit sein eigenes Resultat; er bringt sich selber aus den Voraussetzungen, die er sich macht,... hervor." 8 Die entsprechenden Textstellen, das Lob für Aristoteles in Enzs § 378, die Ausführungen über die Entwicklung des Geistes als eines zielgerichteten Prozesses in § 387A und die Bestimmung der Seele als passivem nous des Aristoteles im letzten Halbsatz des § 389 sind erst in die 2. und 3. Auflage der Enzyklopädie aufgenommen worden. Auch der Abschluß der Enzyklopädie und damit der Philosophie des Geistes mit einem Aristoteleszitat über den aktiven nous steht erst in der zweiten Auflage der Enzyklopädie. Die wichtigsten Dokumente für diese Entwicklung sind jedoch das Psychologiefragment von 1822/25 und die Vorlesung von 1827/28. 9 Der Zusammenhang zwischen dem Aristotelischen Begriff von substantieller Form - der in Hegels Diktion auch als „Begriff" wiedergegeben wird (z. B. in der Forderung, „den Begriff in die Erkenntnis des Geistes wieder einzuführen" Enzs § 378) - mit Kants Begriff der „inneren Zweckmäßigkeit" wird im übrigen mehrfach von Hegel hervorgehoben (vgl. Enzs §§ 204A, 360). 10 Zur Auffassung, daß allein der Seele Substantialität zukomme, vgl. auch: „Die Seele ist zu fassen als Substanz, das Allgemeine, als das allein Bestehende, so daß alle Beson-
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mer wieder geforderte Einordnung der verschiedenen Seelenvermögen in einen als Selbstverwirklichung gedachten Prozeß.11 Gegenstand der Philosophie des Geistes ist demnach die Identitätskonstitution des Geistes als eine Stufenfolge von Reflexionen auf sich, in denen er durch seine eigene Tätigkeit das hervorbringt, was er an sich ist (V 13. 6 ff). Die Einheit der Seele und des Geistes besteht nach Hegel in der Umbildung seiner unmittelbaren Wirklichkeit, d. h. der Integration aller körperlichen Momente. Die von der Schulmetaphysik nebeneinander aufgereihten „Seelenkräfte“ sind dagegen als verschiedene Stufen der Reflexion der Seele bzw. des Geistes auf sich und als je neue Formen der Integration in die Einheit der Seele bzw. des Geistes zu interpretieren (Enz § 379 Z). M. a. W. der Geist ist kein in äußerer Beziehung zum Körper stehendes Seelendmg, sondern nur wirklich, indem alle seine Tätigkeiten in einer Identität verknüpft sind. Er ist die in verschiedenen Stufen der Reflexion auf sich selbst zur Identität konstituierte Totalität dieser Tätigkeiten: er ist kein Substrat, dem diese oder jene Vermögen als Eigenschaften zukommen, sondern der Prozeß der Identitätsbildung durch diese Tätigkeit selbst, so daß er auch nur in dieser Tätigkeit ist, nicht davon getrennt für sich existiert. Die Substanz wird - entsprechend der schon von Hegel in der Einleitung zur Phänomenologie von 1807 erhobenen Forderung - zugleich auch als Subjekt begriffen.12 Der Prozeß der Selbstorganisation des Geistes wird nun von Hegel gleichzeitig als ein Prozeß der Freiheit im Sinne von Autonomie oder Selbstsetzung gedeutet; denn Freiheit besteht nach Hegel in erster Linie nicht in der Möglichkeit willkürlicher Wahlakte - obwohl auch dies zur formalen Bestimmung von Freiheit gehört -, sondern in der Selbstorganisation zu einem Ganzen, dessen Bestimmungen insgesamt von den Identitätsbedingungen dieses Ganzen gesetzt sind. Als solche ist sie derheit nicht heraustritt aus dieser Substantialität, die Substantialität ist negative Einheit, die das Besondere idealisiert, negiert" (V 13. 27,668-672). 11 Prägnant die Formulierung im Vorbegriff zur enzyklopädischen Logik (Enzs § 34 Z): „Man hat deshalb den Geist nicht als ein prozeßloses ens zu betrachten, wie solches in der alten Metaphysik geschehen, welche die prozeßlose Innerlichkeit des Geistes von seiner Äußerlichkeit trennte. Der Geist ist wesentlich in seiner konkreten Wirklichkeit, in seiner Energie zu betrachten, und zwar so, daß die Äußerungen derselben als durch seine Innerlichkeit bestimmt erkannt werden". 12 Vgl. dazu auch V 13.10, 253-257: „Ich bin Einer, und alle diese Tätigkeiten sind in mir vereinigt. Wie ich, der Eine, nicht nur Substrat, sondern Subjekt bin, so ist mein Zweck auch wesentlich nur Einer, meine Tätigkeit auf Einen Zweck gerichtet". Diese Selbstidentität der Seele in allen Tätigkeiten ist im übrigen nach Hegel das reale Fundament der in der traditionellen Metaphysik vertretenen Lehre von der Einheit, Einfachheit, Substantialität und Beharrlichkeit der Seele.
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Wesen, Anlage, Substanz, Begriff, Zweck und Ziel des Geistes (V 13. 3 f; 6 f; 10; 12 f). Dieser Freiheitsbegriff enthält u. a. folgende Momente: - Seele (Bewußtsein, Geist) ist der eine und identische Zurechnungspunkt allen Wahmehmen, Erkennen, Handelns etc. - Gleichwohl konstituiert sie sich in besonderen Akten des Wahrnehmens, Erkennens und Handelns, sonst wäre sie leer, unbestimmt, ohne Existenz. - Insofern sie sich aber durch diese konstituiert, sich in ihnen realisiert, setzt sie sie als ihre Bestimmungen. - Insofern ist die Seele (das Bewußtsein, der Geist) darin selbstbestimmt und frei, nicht durch anderes bestimmt, nicht heteronom. Anders als der Begriff der Selbstorganisation, den Hegel auf Aristoteles zurückführt,13 ist dieser Begriff der Freiheit als Subjektivität nach Hegel ausdrücklich eine Errungenschaft der Neuzeit. Auf Kant, vor allem aber auf Fichtes Lehre von der Selbstsetzung des Ichs, als bestimmend das Nicht-Ich und sich bestimmend durch das Nicht-Ich, nimmt Hegel Bezug.14 Freiheit ist Einheit von abstraktem Ich als individuellem Zurechnungspunkt allen Tuns und dem besonderen Tun als Form in der Ich sich Dasein gibt;15 denn das abstrakte Ich enthält selbst noch Momente von Heteronomie, weil das Bewußtsein Bewußtsein nur sein kann, wenn es anderes zum Gegenstand hat, mithin durch anderes bestimmt wird. Deswegen ist die abstrakte Freiheit zur konkreten Freiheit weiterzuentwickeln, in der das Bewußtsein nicht durch Vorgefundenes bestimmt wird, sondern dieses als seine Bestimmungen selbst setzt. Überwindung von Naturbestimmtheit als Befreiung von natürlichen Empfindungen, Neigungen und Gefühlen heißt also nicht, daß die Natur, die natürlichen Empfindungen, Gefühle und Neigungen verschwinden, sondern daß die Seele sie zu solchen ihrer Totahtät macht.
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- den in die Philosophie wieder eingeführt zu haben er allerdings Kant als Verdienst anrechnet 14 Entwicklungsgeschichtlich hat Hegel von Kant und Fichte den Gedanken der Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung als Konstituens von Freiheit sehr früh übernommen. Er hat jedoch schon sehr früh gegen Kant darauf bestanden, daß die Selbstgesetzgebung der Freiheit nicht auf ein formales Gesetzgeben beschränkt sein darf. Für Hegels Freiheitsbegriff ist vielmehr die Inhaltsbestimmung selbst konstitutiv, weil ein bloß formaler Freiheitsbegriff, der die Freiheit auf einen bloßen Formalismus der Willensbestimmung beschränkt, die Fremdbestimmung der Inhalte unangetastet, also naturbestimmt, heteronom läßt, nicht selbstbestimmt ist. 15 „Die abstrakte Freiheit ist, daß ich vermag allen Inhalt, alle Bestimmtheit in mir aufzuheben, die konkrete Freiheit ist das ich in der Bestimmtheit meiner - Schranke, Negation - nur bei mir selbst bin, daß andere annihilire" (V 13.14,371).
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dieser unterordnet. Freiheit heißt also nicht Abstraktion von den körperlichen Voraussetzungen - obwohl dies in ganz bestimmten Fällen Beweis der Freiheit sein kann, nämlich als Aufgabe des Lebens für höhere Zwecke sondern diese als eigene Bestimmungen des Bewußtseins und des Willens zu setzen. Der Körper bleibt somit die materielle Basis des Bewußtseins und des Geistes. Der Geist kann zwar von seiner Leiblichkeit abstrahieren, aber dies ist nur ein abstrakter Begriff der Freiheit. Zusammenfassend lassen sich daher die Aufgaben der Philosophie des Geistes nach Hegel wie folgt bestimmen: - Die Philosophie des Geistes hat den Prozeß der Konstitution des Geistes nachzuvollziehen, in dem er sich in wiederholten Reflexionen auf sich als die die Einheit und den Zusammenhang seiner Tätigkeiten gewährleistenden Struktur beweist. - Sie hat Freiheit als Wesensmerkmal einer den theoretischen wie praktischen Geist begründenden aktiven Selbstbezüglichkeit in der Auseinandersetzung mit der Natur und anderen Subjekten wie der vom Menschen selbst gesetzten Wirklichkeit zu zeigen. Dieser Freiheitsbegriff macht es notwendig zu zeigen, inwiefern jede Stufe des Geistes - Seele, Bewußtsein und Geist - höhere Formen der Selbstbestimmung in theoretischer und Selbstsetzung in praktischer Rücksicht verwirklicht. Als Konzept für eine solche Philosophie entwickelt Hegel in der Mitte der 20iger Jahre in seinen Arbeiten und Vorlesungen zur Philosophie des subjektiven Geistes einen funktionalen Geistesbegriff. Diesem zufolge ist Geist als Selbstorganisation aus einem äußeren Stoff zu verstehen, in dem letztere einerseits als funktionale Mittel der Selbstproduktion und -reproduktion des Geistes dienen, dieser sich andererseits dadurch selbst die Mittel einer neuen, höheren Stufe der Selbstorganisation bereitstellt. Das Leitmotiv dieser Gedankenführung ist das der Entelechie oder Perfektibilität, daß im Begriff einer Sache an sich schon ein Zweck enthalten ist, der zwar noch nicht wirklich ist, aber zu seiner Verwirklichung drängt, dazu aber der Praxis des Wirksamwerdens bedarf. Um diesen Begriff für eine Philosophie der Geschichte fruchtbar zu machen, bedarf es eigentlich nur noch, seine Entwicklung als in die Zeit fallend zu denken.
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Die Realisierung des Begriffs des Geistes in der Geschichte Die Vorlesung von 1822/2316 Als wohl einzige der fünfmal gehaltenen Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte17 leitet Hegel diesen Kurs 1822/23 mit Überlegungen über die verschiedenen Behandlungsarten der Geschichte ein, die schließlich in die philosophische Behandlungsart der Weltgeschichte einmünden. Die Vorlesung charakterisiert dann zunächst die Spezifik die16
Die Nachschriften dieses Jahrgangs sind jetzt in einer neuen Edition durch Ilting, Brehmer und Seelmann verfügbar gemacht: Georg Wilhelm Friedrich Hegel Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/23. Nachschriften von Karl Gustav Julius von Griesheim, Heinrich Gustav Hotho und Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd 12. Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1996. Da der Versuch der Herausgeber, möglichst alle variierenden Formulierungen desselben Gedankens durch die verschiedenen Nachschreiber dieses Jahrgangs zu einem Text zu kompilieren, entgegen dem proklamierten Anspruch, das was Hegel tatsächlich gesagt hat (ebd. 531), rekonstruieren zu können, den Argumentationsgang manchmal eher undurchsichtiger macht, werde ich an einigen Stellen auf die Nachschriften selbst zurückgreifen. 17 Hegel las Philosophie der Weltgeschichte insgesamt fünfmal, in zweijährigem Rhythmus jeweils im Wintersemester 1822/23,1824/25,1826/27,1828/29 und 1830/31. Bis auf den Jahrgang 1828/29, von dem bisher keine Nachschriften gefunden werden konnten, sind die Jahrgänge durch jeweils vier bis fünf Nachschriften dokumentiert (vgl. dazu vom Verf.: Hegels Vorlesungen zur „Philosophie der Weltgeschichte". In: Hegel-Studien 27 (1992), 78-87). Außer der oben bezeichneten Vorlesung aus dem Wintersemester 1822/23 hat Hegel ausweislich der Nachschriften keine weiteren Vorlesungen mit diesen Überlegungen begonnen. Es ist daher äußerst unwahrscheinlich, daß Hegel davon abweichend im Wintersemester 1828/29 - von welchem Jahrgang keine Nachschriften bekannt sind - von dieser Praxis abweichend wieder mit den verschiedenen Behandlungsarten der Geschichte begonnen haben soll (so W. Jäschke im editorischen Bericht zum Manuskript; GW 18.379). Da alle Passagen des Haupttextes dieses Manuskripts eine enge Übereinstimmung mit den Nachschriften aus dem Jahrgang 1822/23 haben - die Randbemerkungen dieses Manuskripts finden dagegen insgesamt keine Parallele in den Nachschriften -, ist auch davon auszugehen, daß Hegel 1822/23 diese Passagen von einem weitgehend ausformulierten Manuskript - und nicht wie meist von ihm praktiziert von Zetteln mit Stichworten - vortrug (eine solche Übereinstimmung findet sich nämlich überall dort, wo Hegel weitgehend ausformulierte Manuskripte besaß, wie etwa ein Vergleich des Manuskripts von 1830/31 mit den oben genannten Nachschriften des Jahrgangs 1930/31 zeigt). Deshalb besteht kein Anlaß zur Vermutung, daß Hegel diesen Text zu Beginn des Wintersemesters 1828/29 nochmals abgeschrieben haben sollte. Es ist daher anzunehmen, daß das Manuskript in seinem Grundtext von 1822/23 stammt, daß Hegel dazu vermutlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Vorlesung weitere Randnotizen machte und das Datum 1828/29, das außer dem von 1822/23 ebenfalls auf diesem Manuskript steht, aus Anlaß der Benutzung dieses Manuskripts für diese Vorlesung hinzufügte, wobei er aber höchstwahrscheinlich den zufälligerweise erhalten gebliebenen ersten Teil dieses Manuskripts über die verschiedenen Behandlungsarten der Weltgeschichte gar nicht vortrug.
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ser Behandlungsart der Weltgeschichte. Sie hat es mit dem geistigen Prinzip der Völker - dem Geist eines Volkes - und dessen Geschichte zu tun. Dieses Prinzip ist zugleich der Zusammenhang und die Grundlage aller anderen Aspekte eines Volkes. Als geistiges kann dieses Prinzip nur durch den Gedanken erfaßt werden, und dies ist das Spezifikum der philosophischen Betrachtung der Weltgeschichte. Bei der philosophischen Betrachtung des geschichtlichen Wechsels von Staaten und Individuen ist die erste sich aufdrängende Kategorie die der Veränderung, als nächstes dann aber auch die des Fortschritts, wonach eine gewesene historische Stufe das Material für die nächste abgibt. Dies führt drittens schließlich zur Frage nach einer Vollendung dieser Entwicklung, zur Frage nach einem Endzweck. Die Frage nach einem Endzweck in der Geschichte - der Gedanke eines Zwecks in sich selbst- ist die Frage nach Vernunft in der Geschichte und insofern selbst Vernunft (vgl. V 12.14r-24). Damit leitet die Vorlesung dann über zu dem Gedanken, daß die Geschichte aus dem Begriff des Geistes und zwar in seiner besonderen Form, der Natur der menschlichen Freiheit zu entwickeln sei (V 12.25). Der Begriff oder die Idee des Geistes hat nach Hegel drei Momente: erstens die Idee selbst als abstrakte, zweitens die menschlichen Leidenschaften und drittens die Vereinigung beider Momente, die sittliche Freiheit. Letztere wird dann als Staat bestimmt, der den näheren Gegenstand der Weltgeschichte ausmache (V12. 25, 598-608; 61, 582-62, 597; 71, 853-72, 789).18 Hegel pointiert ferner, daß der Begriff der sittlichen Freiheit nicht nur abstrakt ist, sondern praktisch hervorgebracht werden muß, diese Hervorbringung aber in die Zeit fällt. Der Begriff der sittlichen Freiheit impliziert also selbst seine Geschichtlichkeit.19 Bei der Abhandlung des ersten Moments, der Idee selbst als abstrakter, 18
Diese Gliederung ist in der neuen Vorlesungsedition kaum auszumachen; vgl. dazu aber die Vorlesungen: die Gliederung auf dem Rand bei Hotho (8v, 9r): „I. die absolute Idee/II. Die menschliche Leidenschaft/IIL Die sittliche Freiheit"; und Hagenbach (7): „Wir müssen also sprechen erstens von der Idee, zweitens vom Verhältnis der Leidenschaften zur Idee, drittens von der sittlichen Freiheit." Schließlich auch bei von Griesheim (22): „Das erste Prinzip der Idee, abstrakt, ist sie selbst, das andere die menschliche Leidenschaft; beide bilden den Einschlag und den Faden des Teppichs der Weltgeschichte. Die Idee als solche ist die Wirklichkeit, die Leidenschaften sind der Arm, womit sie sich erstreckt. Das sind die Extreme, die sie bindende Mitte ist die sittliche Freiheit." 19 Vgl. Hagenbach (7): Die Idee in der Form der menschlichen Freiheit „ist nicht nur die sittliche Bestimmtheit überhaupt, sondern die sittliche Welt, wie sie sich in der Zeit erzeugte. Was sie ist, ist sie nur, indem sie sich hervorbringt, diese Hervorbringung in einer Reihe sittlicher Gestaltungen darlegt, und sich eben dadurch zu dem macht, was sie dem Begriff nach ist."
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ist Hegel vor allem daran gelegen, sie als Denken zu bestimmen. Dem Menschen ist - im Unterschied zum Tier - wesentlich, daß er alle seine Empfindungen und Gefühle, Triebe und Neigungen - die nach Hegel als solche auch dem Tier zukommen - von sich als Subjekt unterscheiden und dadurch einerseits eine Differenz zwischen sich und der Welt machen, andererseits sich aber auch auf sich selbst als die abstrakte Einheit aller dieser Gefühle, Empfindungen und Neigungen beziehen kann. Darin wiederum liegt die Möglichkeit, daß der Mensch sich erinnernd und wollend auf diese beziehen und nach Zwecken handeln kann (V 12.26-29) und andererseits das was er ist, nur durch sein eigenes Tun hervorbringen kann, sich zu dem bilden muß, was er ist. Aus dem Begriff des Geistes als Ausgangspunkt der Philosophie der Weltgeschichte und seiner wesentlichen Bestimmung, Denken zu sein, sind nach Hegel die folgenden drei konkreten Folgen bzgl. Anfang, Fortgang und Ziel der Weltgeschichte zu ziehen20: - Die Weltgeschichte nimmt ihren Anfang nicht von der Natur, nicht vom sogenannten Naturzustand, sondern der Ausgangspunkt ist der Geist, allerdings der Geist in einer noch unentwickelten Form, nicht in der Form der Idee, dies muß er erst durch sein eigenes Tun hervorbringen. Zu Anfang ist er nur energeia, entelechia (V12. 32-36). - Ebenso muß die Notwendigkeit, daß der Geist Geschichte hat,21 wie auch seine bestimmte Entwicklung innerhalb eines Volkes und der Übergang von einem Volk zu einem anderen im Prozeß des historischen Fortgangs aus dem Begriff des Geistes bestimmt werden. Ein Volk muß seinen bestimmten Geist, i. e. sein bestimmtes Prinzip zunächst hervorbringen. In der Periode seiner Hervorbringung lebt es sozusagen in einer Aufbruchstimmung, findet eine Absonderung des Individuums vom Ganzen noch nicht statt. Ist dieses Prinzip realisiert, dann ist diese substantielle Einheit, das Interesse verloren. Das Volk geht - in nichthegelscher Terminologie - sozusagen an seiner Zufriedenheit zugrunde (V12.45-49). Entscheidend für die Hegelsche Geschichtsvorstellung ist nun, daß diese Entwicklung durch das Denken, die reflektierenden Bezie20
Daß alle diese Momente aus dem Begriff des Geistes entwickelt werden müssen, wird von Hegel mehrfach nachdrücklich betont (vgl. V 12. 32,792 f; 37,910; 57,446-451). 21 Hegel wird nicht müde zu betonen, daß die Notwendigkeit der Geschichtlichkeit des Geistes in seinem Begriff selbst gründet: „Es hängt mit der Natur des Geistes zusammen, daß seine Entwicklung in die Zeit fällt, daß er eine Geschichte hat. Was der Geist ist, ist er durch seine Arbeit und Tätigkeit" (Hagenbach s. 10; ähnlich wenn auch nicht ganz so pointiert V 12. 37,916-17).
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hung eines Volkes auf seine eigene Praxis, ausgelöst wird. In seiner Entwicklung wird ein Volk nach dieser Auffassung notwendig geistige Formen hervorbringen, in denen es sich wissend zu dem Prinzip verhält, auf das die Einheit des Volks beruht. D. h. es muß eine ihm gemäße Religion ausbilden und es muß vor allem sein Prinzip auch wissenschaftlich, gemeint ist philosophisch, erfassen. Diese gedankliche Verarbeitung führt aber nach Hegel zum Untergang dieses Prinzips und zur Hervorbringung eines neuen Prinzips. Denn einerseits führt die gedankliche Erfassung des Prinzips zur Erkenntnis seiner Beschränktheit und zur Forderung, daß Gründe für die Geltung von Gesetzen gegeben werden, und wo solche nicht gefunden werden, wird die Tugend schwankend. Andererseits wird durch die Erkenntnis der Beschränktheit eines Prinzips im alten ein neues Prinzip gefunden. Etwas was zuvor in der konkreten Wirklichkeit eines Volkes nur existierte - noch unvollkommen entwickelt ist -, wird zu einem allgemeinen Prinzip erhoben und dadurch zu einem neuen. Hegel gibt dafür mehrere (mehr oder weniger einschlägige) Beispiele. Ich will hier das des Eigentums anführen: gewisse Formen des Eigentums hat es (nach Hegel) in allen Völkern gegeben; auch der Leibeigene verfügt in bestimmten Sinne über Eigentum, allerdings ist dies, wie er selbst, rechtlich gebunden. Indem Eigentum aber zu einem allgemeinen, bestimmenden Prinzip erhoben wird, sind damit notwendig auch andere Prinzipien verbunden, etwa persönliche Freiheit etc. Auf diesem Wege wird der Volksgeist durch den Gedanken sozusagen von innen heraus aufgelöst. Dies etwa meint Hegel, wenn er sagt, daß alles, was objektiv ist, durch den Gedanken aufgelöst werden kann, nichts dem Gedanken widerstehen kann (V 12.49-54). - Aber auch das Ziel der Weltgeschichte muß nach Hegel aus dem Begriff des Geistes entwickelt werden können. Weil gemäß den Vorlesungen in der Geschichte jede bestimmte Gestalt - wie vorhin exponiert - durch den Gedanken aufgehoben und überwunden werden kann, scheint die Geschichte ein unbestimmter Fortgang zu sein. Nur der Begriff selbst könnte gegen den Gedanken bestehen. Dann aber wäre er in sich zurückgekehrt, und das Gericht der Geschichte wäre vorbei (V 12. 56 f). Neben dem Begriff sind die Leidenschaften das zweite Moment der Hegelschen Idee. Auch sie sind in diesem Begriff der Idee selbst enthalten. Die Idee ist nicht nur abstrakter Begriff, sondern muß dazu fortgehen, sich in der Wirklichkeit zu setzen. Dies geschieht durch die Leiden-
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schäften und die Verwirklichung der besonderen Zwecke. Aber die Handlungen der Menschen sollen nicht bloß Material oder äußeres Mittel sein, durch die die Idee sich realisiert. Die Individuen haben - so Hegel - den Anspruch und das Recht, nicht bloß Mittel zum Zweck der Realisierung der Idee zu sein. Auf der anderen Seite soll aber eben dieser Zweck doch auch durch dieses einzelne Tun hervorgebracht werden, das partikuläre Tun mit dem Zweck der Idee vereint werden. Dies leistet - so Hegel - die Erziehung des einzelnen zum Allgemeinen, Sittlichen. Auf diese Weise würde das sittliche Ganze zwar erhalten. Durch die Leidenschaften soll aber auch der geschichtliche Fortgang hervorgebracht werden, das höhere Allgemeine, das - wie oben ausgeführt - in einem bestimmten Stadium, wenn auch als untergeordnetes Moment, eigentlich schon existiert, zur Geltung kommen. Hier treten nun bei Hegel die welthistorischen Individuen auf den Plan: „Es sind eben die großen geschichtlichen, welthistorischen Individuen, die ein solches Allgemeines ergreifen und zu ihrem Zwecke machen." (V 12. 60-71). Das dritte Moment ist nach Hegel „die Einheit des subjektiven Willens und des Allgemeinen ... das sittliche Ganze und in seiner konkreten Gestalt der Staat überhaupt". Als solcher ist er der eigentliche Gegenstand der Weltgeschichte (Griesheim 71). Er ist einerseits Mittelpunkt der anderen konkreten Seiten: der Kunst, des Rechts, der Sitten, der Bequemlichkeiten des Lebens. Aus ihm ergibt sich andererseits aber auch der Zusammenhang des Staates mit Religion, Kunst, Wissenschaft (gemeint ist die Philosophie). Hegel erläutert dann zunächst die Natur des Staates (V 12. 72, 884) als Wirklichkeit der konkreten Freiheit, allerdings nicht der Freiheit der Willkür, sondern der substantiellen, gesetzlichen Freiheit (V 12. 72-77). Dies impliziert insbesondere auch, daß die Einheit von Individuum und Staat eine gewußte ist, daß zu einem freien Staat Gesetze gehören, in denen das Individuum sich seinem eigenen Willen unterworfen weiß. Daraus leiten sich dann die wesentlichen Bestimmungen der Staatsverfassung ab, vor allem, daß der beste Staat der sei, in welchem die größte Freiheit herrscht (V12. 77-82). Daran schließt als zweites an, was Hegel als Systeme der Äußerlichkeit des Staates bezeichnet (Griesheim 84; vgl. auch V 12. 82, 174-76), das Verhältnis des Staates zu: 1. Kunst, Religion und Wissenschaft; 2. zu dem was er den endlichen, sich auf die Bedürfnisse beziehenden Staat nennt, insbesondere Sitten, Gebräuche, Kultus, Umgangsformen, Privatrechtsformen; und 3. schließlich der Zusammenhang des Staates mit
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der äußeren vorhandenen Natur. Gegenstand des letzten Verhältnisses sind die als die geographischen Grundlagen der Weltgeschichte bekanntgewordenen Materien. Blicken wir zurück auf diese Ausführungen, so zeigt sich, daß eine Dynamik des historischen Prozesses eigentlich nur im Abschnitt über den Begriff aufgezeigt wird, aber sowohl der Abschnitt über die Leidenschaften als die ausführenden Mittel wie der über den Staat eigentlich keine Erklärung für eine historische Dynamik enthält. Alles was Hegel hier bereithält, sind die großen historischen Individuen, die ein geschichtlich notwendig gewordenes Prinzip - welches durch den allgemeinen Begriff der Geschichte bestimmend ist - ergreifen und historisch zum Durchbruch verhelfen. In diesem Punkt wird man also zu Recht eine Weiterentwicklung des Geschichtskonzepts in den folgenden Vorlesungen Hegels erwarten dürfen. Die Vorlesung von 183122 Gegenüber der ersten Vorlesung ist das Einleitungskonzept in der letzten Vorlesung Hegels augenscheinlich wesentlich ausführlicher und durchformulierter. Nach einer Notiz Hegels ist sie einzuteilen in ,,a.) allg. Begriff, / ß.) bestimmt, / y.) Art der Entwicklung“ (GW 18. 140, 23-25). Eine ähnliche Gliederung finden wir auch in den Vorlesungen dieses Jahrgangs: „1. Der allgemeine Zweck der Phil, der Weltgesch. also ein objektiver Zweck, der Zweck des Geschehnen und nicht unser subj. Zweck./ 2. Die nähere Bestimmung dieses Zwecks./ 3. Die Entwicklungsweise des Endzwecks: die Art der Erscheinung der Entwicklung“ (KHegel 1 f). Diesen Gliederungspunkten entsprechen die Abschnitte A. B. und C. in der Ausgabe dieses Manuskripts durch Hoffmeister, auf die ich mich der leichteren Übersichtlichkeit wegen
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Für die Einleitung zu dieser Vorlesung ist glücklicherweise ein Manuskript Hegels erhalten geblieben. Das Manuskript wurde zwar von allen bisherigen Herausgebern der Philosophie der Weltgeschichte verwendet, aber erst von Hoffmeister in einer Form ediert, in der es von dem erhalten gebliebenen Fragment der Einleitung von 1822/23 getrennt abgedruckt und außerdem durch verschiedene Schrifttypen von den Einschüben aus den Nachschriften unterschieden wird (G. W. F. Hegel. Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg, von Johannes Hoffmeister. Hamburg 1955. Das Manuskript ist jetzt kritisch ediert in G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 18).
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hier beziehen werde.23 Ihrem Inhalt und ihrer Systematik nach entsprechen diese drei Abschnitte den drei aus dem Begriff des Geistes herzuleitenden Momenten der Entwicklung des Weltgeistes - abstrakte Idee, Leidenschaften, und sittliche Freiheit - in der Vorlesung von 1822/23. Ähnlich wie schon in der Vorlesung von 1822/23 bestimmt Hegel im Abschnitt A. den allgemeinen Begriff der philosophischen Weltgeschichte als die denkende Betrachtung der letzten. Die Philosophie trägt an die Weltgeschichte den bloßen Gedanken heran, daß es vernünftig in ihr zugegangen sei. Diesen Gedanken möchte Hegel aber nicht als bloße Voraussetzung verstanden wissen, sondern in dem Sinne, daß man mit der Vernunft bekannt sein müsse, um sie in der Weltgeschichte wieder zu entdecken, ebenso wie Kepler mit Ellipsen und deren Gesetzen habe bekannt sein müssen, ehe er sie in den Planetenbahnen habe wiederentdecken können: „Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an" (GW 18.143,9-10; zum Keplervergleich GW 18.197). Allerdings wird diese These - daß Vernunft in der Geschichte sei am Beispiel der Diskussion zweier defizitärer Varianten dieser Behauptung näher spezifiziert: das eine Beispiel ist Anaxagoras Behauptung, daß der nous die Welt beherrsche, das andere der christliche Glaube an die göttliche Vorsehung. In beiden Fällen werde der Gedanke, daß Vernunft in der Welt sei, zwar abstrakt ausgesprochen, in der Entwicklung des Gedankens aber nicht zur konkreten Ausführung gebracht. Beides müsse auseinandergehalten werden. Im christlichen Glauben an die göttliche Vorsehung werde zwar behauptet, daß Gott die Welt regiere, wenn es aber um die Erklärung des konkreten Verlaufs der Weltgeschichte gehe, werde auf Zufälligkeiten - wie den Tätigkeiten bestimmter Individuen, der Größe bestimmter Heere etc. - zurückgegriffen (GW 18.143 ff). Diese Überlegungen leiten über zum Abschnitt B., der die Vernunft in der Geschichte oder die Fragen nach dem Endzweck der Welt zum Gegenstand hat, welche selbst die Frage nach dem Inhalt des Endzwecks einerseits, seiner Verwirklichung andererseits beinhaltet. Eine weitere Gliederungsnotiz erweitert diese wie folgt: ,,a) allgemeine Be23
Diese Gliederung geht im Grunde auf Hegels Manuskript zurück, allerdings ist Hegels Gliederung - wie häufig in seinen Manuskripten - nicht konsequent. Der Abschnitt A hat dort keinen Gliederungsbuchstaben, am Rande befindet sich nur die oben erwähnte Gliederungsnotiz, der Abschnitt B ist mit b. überschrieben, nur der Abschnitt C. ist auch im Manuskript so bezeichnet und trägt außerdem die Überschrift: „Der Gang der Weltgeschichte" (vgl. GW 18.140; 151; 181).
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Stimmung / ß.) erscheinen Mittel, diese Bestimmung zu vollbringen - / y.) vollendete Realität, Staat“ (GW 18. 151, 6-7; 152, 24-26). Auch hier finden wir eine ähnliche Gliederungsnotiz in den Nachschriften: ,,a.) die abstrakten Bestimmungen, Grundbegriffe, Natur, Substanz des Geistes, b.) welche Mittel der Geist braucht, um seinen Begriff, seine Idee zu realisieren, c.) müssen wir die Gestalt betrachten, wie die vollendete Realisierung des Geistes im Dasein ist; dies sind die Staaten, die wir in der Weltgeschichte zu betrachten haben, sofern die Völker dazu gekommen sind, Staaten zu sein“ (vgl. Wiehern 3v). In Hegels Manuskript werden die Überlegungen zur allgemeinen Bestimmung des Geistes, aus dessen Begriff die Weltgeschichte herzuleiten sei, nach der Exposition des Themas abgebrochen, um dann auf den folgenden Seiten mit der Anwendung dieser abstrakten Bestimmungen des Geistes auf die Weltgeschichte wieder einzusetzen.24 Hier bringen die Vorlesungen einen kurzen Begriff des Geistes, demzufolge der Begriff des Geistes die Freiheit ist, letztere aber wesentlich Bei-Sich-SelbstSein, Selbstbewußtsein sei. Spezifik des Geistes sei es, diese Bestimmung - die zunächst bloße Möglichkeit, nur Keim sei - geschichtlich hervorzubringen. Die Anwendung dieses Begriffs auf die Weltgeschichte gibt daher von dieser folgenden Begriff: sie ist die Darstellung des Geistes, wie er zum Wissen dessen kommt, was er an sich ist; d. i. wie die Freiheit als ein praktisches Prinzip in der Wirklichkeit geschichtlich zur Existenz kommt: oder gemäß der vielzitierten Formel: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtseyn der Freyheit, - ein Fortschritt, den wir in seiner Nothwendigkeit zu erkennen haben" (GW 18.153, 20-21). Die Vernunft als Prinzip der Weltgeschichte in seiner Bestimmtheit und Konkretheit zu erkennen heißt also nach Hegel zu erkennen, daß der „Endzweck der Welt das Bewußtseyn des Geistes von seiner Freyheit und, ebendamit erst die Wirklichkeit seiner Freyheit überhaupt" ist (GW 18.154,15-13).
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Der Text bricht auf Blatt 57a im oberen Viertel der Seite mit dem Satzfragment ab: „Das erste also, was anzugeben ist, ist was die abstracte Bestimmung des Geistes ist; wir sagen nun von ihm". Blatt 57b beginnt mit: „Von der Weltgeschichte kann nach dieser abstracten Bestimmung gesagt werden, daß sie die Darstellung des Geistes sey, wie er zum Wissen dessen zu kommen sich erarbeitet, was er an sich ist". Hegel knüpft also an den Gedankengang der vorherigen Seite - aus den abstrakten Bestimmungen des Geistes die Weltgeschichte zu entwickeln - wieder an, die angekündigten Bestimmungen hat er jedoch im Manuskript nicht ausgeführt, ausweislich der Nachschriften im Hörsaal jedoch vorgetragen (vgl. dazu GW 18.152 und die Anmerkungen des Herausgebers S. 382).
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Von hier leitet Hegel mit Ausführungen über die „Wichtigkeit des unendlichen Unterschieds zwischen dem Princip, dem was nur erst an sich, und zwischen dem, was wirklich ist" (GW 18.154, 20-21) über zum „zweiten wesentlichen Moment", dem mit ,,b)" bezeichneten Abschnitt, der der „Frage nach den Mitteln, wodurch sich die Freiheit zu einer Welt hervorbringt" (GW 18.155,3-4), nachgeht. An anderer Stelle wird dies als Unterschied zwischen der bloßen „Möglichkeit", dem bloßen „Vermögen" und seiner „Wirklichkeit" bestimmt (GW 18.158). Dieses Prinzip ist „der Wille, die Thätigkeit der Menschen in der Welt" (GW 18.158, 16-17). Am Rande hat Hegel dazu mehrfach vermerkt, daß es der Wille des konkreten Individuums ist, der diesen Endzweck in der Welt hervorbringt.25 Derm Gesetze und Prinzipien leben nicht aus sich selbst, die Tätigkeiten durch die sie wirklich werden, sind die subjektiven Bedürfnisse, Interessen, Leidenschaften. Nur wenn die Menschen zugleich durch ihr eigenes Interesse darin involviert sind, bringen sie in Verfolgung ihrer individuellen Interessen zugleich etwas anderes hervor, nämlich den allgemeinen Zweck (vgl. GW 18.158 f). Und im Verhältnis zum Staat bedeutet dies, daß „ein Staat wohlbestellt und kraftvoll in sich selbst ist, wenn mit seinem allgemeinen Zwecke das Privatinteresse der Bürger vereinigt [ist], eins in dem andern seine Befriedigung und Verwirklichung findet". Dazu „bedarf es vieler Veranstaltungen, Erfindungen von Zweckgemässen Einrichtungen, aber mit langen Kämpfen des Verstandes, bis er zum Bewußtsejm bringt, was das Zweckgemässe sei, sowie Kämpfe mit dem particulären Interesse und den Leidenschaften eine schwere und langwierige Zucht derselben usf. bis jene Vereinigung zustande gebracht wird" (GW 18.161, 7-17). Die als Motto zitierten Äußerungen aus der Vorlesung zur Philosophie des Geistes beinahe wörtlich wiederholend führt Hegel dann aus: „die Weltgeschichte beginnt nicht mit irgend einem bewußten Zwecke ... Die Weltgeschichte fängt mit ihrem allgemeinen Zwecke, daß der Begriff des Geistes befriedigt werde, nur an sich an - d. h. als Natur; - er ist der innere, der innerste bewußtlose Trieb - und das ganze Geschäft der Weltgeschichte ist, wie schon überhaupt erinnert, die Arbeit, ihn zum Bewußtsejm zu bringen." (GW 18.161 f). Unmittelbar sind daher das Wollen, die Interessen und Tätigkeiten der Individuen nur Mittel des Weltgeistes, seinen Zweck zu verwirklichen. Ziel der Geschichte des
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Vgl. dazu den kritischen Apparat GW 18.158 zu Zeile 16 und 20.
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Weltgeistes ist es, zu Bewußtsein zu bringen, was er an sich ist. Unmittelbar, in Gestalt des Naturwesens bzw. des Naturwillens auftretend, seien Bedürfnisse, Trieb, Leidenschaften, das partikulare Interesse Mittel und Werkzeuge der Selbstrealisierung des Weltgeistes, so daß die Individuen, indem sie ihre Zwecke zu befriedigen suchen - und auch zumindest partiell befriedigen - zugleich damit die Zwecke des Weltgeistes realisieren. Der dritte Abschnitt (immer noch Unterabschnitt zu B, der konkreten Bestimmungen des Begriffs des Weltgeistes) erörtert die Verwirklichung des Zweckes des Weltgeistes in der Wirklichkeit, die Frage nach dem Material, in dem die Vernunft sich realisiert. Hier bricht das Manuskript erneut ab, weshalb ich wieder den Nachschriften folge. Grundfrage dieses Abschnittes ist, in welchen realen Gestalten (Institutionen) die Vernunft, die nach dem ersten und zweiten Abschnitt sowohl als an sich seiender Begriff, wie als verborgener Inhalt der subjektiven Zwecke und des subjektiven Handelns der Menschen ist, zur Wirklichkeit kommt. Diese Gestalten erscheinen daher, so Hegel, als vom subjektiven Wollen und Handeln der Menschen hervorgebracht, aber so, daß in Wirklichkeit nur das hervorgebracht wird, was an und für sich ist. Als solche Gestalten skizziert Hegel zunächst Religion, Kunst und Philosophie (in dieser Reihenfolge). Sie alle befinden sich auf demselben Boden, der der Gegenstand der Weltgeschichte ist, der Erscheinung des Geistes in der Wirklichkeit (d. i. im Staat), wie im Wollen und Wissen der Menschen (d. i. in der Sittlichkeit und im Recht). Inhaltlich entspricht dieser Abschnitt dabei dem über die sittliche Freiheit in der Vorlesung von 1822/23. Momente des Staates, wie sie im Wissen und Wollen der Menschen verwirklicht werden, sind der Staat als Gemeinschaft zur gegenseitigen Beförderung der Bedürfnisse; als Recht und Organisation des Rechts; schließlich als Organisation des Zusammenlebens und des Rechts im Nationalstaat - oder auch im Volk - mit dem und dessen Geschichte sich die Individuen als dem ihrigen identifizieren können. Die Art und Weise, wie sich der Geist in diesen Gestalten realisiert, ist Grundlage seiner anderen Gestaltungen: der Religion, Kunst und Philosophie. Sie hängen ursprünglich zusammen und können nur im Staat zur Wirklichkeit kommen. Schließlich erläutert Hegel noch die Notwendigkeit einer konkreten Verfassung und einer Regierung, damit der Staat keine bloße Abstraktion bleibt. C. Anders als in der ersten Vorlesung - wo Hegel an dieser Stelle vom Staat, bzw. genauer als drittes Moment des äußeren Verhältnis des
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Staates, zu den geographischen Grundlagen der Weltgeschichte überleitete - schließt sich in der letzten Vorlesung an diese Erörterung über den Staat ein mit „C. Der Gang der Weltgeschichte" (GW 18.181, 22) überschriebenes Kapitel an, das sich explizit der Geschichtlichkeit in der Abfolge der Staaten widmet. Auch in der Erörterung der Geschichtlichkeit der Staaten spielt natürlich der Dynamisbegriff wie der der Perfektibilität eine herausragende Rolle. „Diese Erscheinung am Geistigen ließ in dem Menschen eine andere Bestimmung überhaupt sehen als in den bloß natürlichen Dingen, in welchen sich nur Eine und dieselbe Bestimmung, ein für immer stabiler Charakter kund gibt, in den alle Veränderung zurückgeht, und innerhalb dessen sie sich als ein Untergeordnetes einschließt, - nämlich eine wirkliche Veränderungsfähigkeit und zwar wie gesagt zum Bessern, Vollkommenem, - ein Trieb der Perfektibilität“.26 Wie mehrfach erwähnt ist dieser Trieb zur Perfektibilität eine Entwicklung zur Freiheit (ebd. und 196). Diese Entwicklung ist keine ruhige Entwicklung sondern „ein harter, unendlicher Kampf [des Geistes] gegen sich selbst" (GW 18.184,8; vgl. auch 184,12-13). Sie ist auch keine kontinuierliche Entwicklung, sondern es „gibt in der Weltgeschichte mehrere große Perioden der Entwicklung, die vorübergegangen sind, ohne sich fortgesetzt zu haben scheinen, auf welche vielmehr der ganze ungeheure Gewinn der Büdung, vernichtet worden ist und unglücklicherweise wieder von vorne angefangen werden mußte, um mit einiger Beyhülfe etwa von geretteten Trümmern jener Schätze, mit erneuertem unermeßlichen Aufwand von Kräfften und Zeit, von Verbrechen und von Leiden, wieder eine der längst gewonnen gewesenen Regionen jener Bildung zu erreichen" (GW 18.184, 22-185, 2). In ihrer Totalität sieht Hegel in der Weltgeschichte jedoch ein Fortschritt, weshalb sie den Stufengang in der Entwicklung des Prinzips darstellt, dessen Gehalt das Bewußtsein der Freiheit ist (GW 18.185; vgl. 196 ff). Den überwiegenden Part dieses Manuskriptteils machen allerdings Überlegungen Hegels über den Anfang der Geschichte, insbesondere Theorien und empirische volkskundliche Forschungen über den Naturzustand und eine Verteidigung der Idee, daß die Geschichte insgesamt ein Fortschritt sei, aus. Diese Überlegungen sind nicht in die Vorlesung eingegangen und können in unserem Kontext auch übergangen werden. In den Vorlesungen geht Hegel ausweislich der Nachschriften von 26
GW 18.182, 6-10; zum Trieb zur Vervollkommnung mit Bezug auf den Aristotelischen Dynamisbegriff vgl. auch 186.
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den Ausführungen über die Geschichte als einem Stufengang in der Entwicklung der Freiheit in einer Art Exkurs27 zu den geographischen Grundlagen der Weltgeschichte über. Systematisch sucht Hegel diese Ausführungen dadurch einzuordnen, daß die Geschichte als solche in die Zeit fällt - die damit zusammenhängenden philosophischen Probleme waren in der Einleitung abgehandelt worden daß sie aber auch in den natürlichen Raum fällt. Dies ist der systematische Ort für die geographischen Grundlagen der Weltgeschichte. Dennoch ist offenbar, daß Hegel hier Material aus früheren Vorlesungen präsentiert, das in der Systematik der letzten Vorlesung keinen richtigen Platz mehr hat.
Zur Entwicklung von Hegels Philosophie der Geschichte Vergleichen wir beide Vorlesungen miteinander, so treten trotz einer bis in die Gliederung reichende Übereinstimmung doch im Einzelnen signifikante Entwicklungen zu Tage. Hegels erste Berliner Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte knüpfen an ein schon in den frühen Jenaer Schriften entwickeltes Konzepts an, demzufolge die Geschichte die Entwicklung ein und desselben Prinzips in einer notwendigen Abfolge sozialer und kultureller Formationen von unvollkommeneren zu vollkommeneren Formen des Wissens und der Freiheit darstellt. Dort argumentiert Hegel nämlich bezogen auf die Philosophiegeschichte, daß das „Absolute, wie seine Erscheinung die Vernunft ewig ein und dasselbe'', und daher jede „wahre Philosophie" „zu allen Zeiten dieselbe" sei (GW 4.10)28, die „aus dem Bauzeug eines besonderen Zeitalters sich eine Gestalt organisieret." (GW 4.12) An anderer Stelle beschreibt er die Weltgeschichte als einen teleologischen Prozeß, der sich in einer 27
Dieses Kapitel wird von Hegel durchaus als ein Exkurs behandelt; vgl. etwa seine Einführung bei Ackersdijck: „Ehe wir nach dieser Einleitung die Eintheilung der Weltgeschichte angeben, müssen wir den Kreis näher bestimmen, in dem sich die Weltgeschichte bewegt, und daß wir den natürlichen Boden der Weltgeschichte kennen lernen" (50; ähnlich Wiehern 19). In der Nachschrift von Karl Hegel folgt dieser Teil sogar nach der Überschrift „Die Philosophie der Weltgeschichte" (47) wodurch die geographischen Grundlagen der Weltgeschichte quasi im Hauptteil der Vorlesungen zu stehen kommen. Die Polemik der Herausgeber der jüngsten Ausgabe der Nachschriften von 1822/23 gegen die Behandlung dieses Kapitels durch die früheren Herausgeber (vgl. GW 18. VII f) erweist sich mithin in diesem Punkt als haltlos. Die früheren Herausgeber haben sich vielmehr an dieser letzten Vorlesung Hegels orientiert, in der er den Ausführungen über die Geographie genau diesen Platz anweist. 28 Vgl. dazu auch die Ausführungen in der Metaphysikvorlesung von 1801/2-1802/3, abgedruckt in Karl Rosenkranz: Hegel's Leben. Berlin 1844.192.
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notwendigen Stufenfolge - deren Subjekt die „sittliche Totalität" bzw. der „Weltgeist" ist - realisieren muß (GW 4.477,479 f)29. Die antike Polis, das römische Kaiserreich und die Neuzeit bilden Stadien eines durch eine dialektische Folge des Verhältnisses von Einheit und Differenz bestimmten Prozesses. Dagegen legen die späteren Vorlesungen ein Geschichtskonzept vor, in dem die Geschichte kein durch die Logik des Begriffs bestimmtes bloßes Schicksal, sondern als Entwicklung von in der Menschheit angelegten Anlagen konzipiert ist, für deren Realisierung die Individuen als einzelne wie die Menschheit als Ganze selbst verantwortlich sind. Hegel macht damit auch für die Geschichtsphilosophie einen Begriff von „Geist" fruchtbar, dessen Momente Freiheit und Subjektivität einerseits, Perfektibilität und Entelechie andererseits sind. Infolge der Entwicklung der Geschichte aus diesem Geistesbegriff wird die Geschichte für Hegel offen, zwar nicht für willkürliches und zufälliges, aber doch so, daß die in der Menschheit angelegten Anlagen wirkliche Möglichkeiten sind, deren Verwirklichung in der Verantwortung der Menschheit liegt. Insofern hat die Geschichte auch weiterhin ein Ziel, ein telos, das selbst noch seiner Verwirklichung harrt. Ein Ende - ein telos - hat die Geschichte, als sie bei dessen Erreichen kein unbewußtes Ringen um eine vernünftige Freiheitsordnung, sondern deren bewußter Vollzug ist. Diese Vernunft zu verwirklichen, ist Zweck der philosophischen Geschichtsbetrachtung selbst. Die philosophische Betrachtung ist „denkende Betrachtung" der Weltgeschichte, die als „denkende Vernunft" sich kein anderes Interesse zum Zwecke ihrer Geschichtsbetrachtung machen kann, als das „Vernünftige" selbst (Erdmann 2). Die philosophische Geschichtsbetrachtung ist nicht mehr nur Rechtfertigung des faktischen Geschehens, sondern hat das Interesse, die geschichtlich gewordene Welt als Werk des Menschen bzw. der Vernunft zu enthüllen. Es wird damit sehr viel pointierter herausgestellt, daß der Begriff des Geistes - das Bewußtsein der Freiheit - der notwendige Endzweck der Geschichte ist und zugleich ihre wirkliche Ursache werden muß. Im Manuskript von 1830 lehnt Hegel deshalb die bloße Vorstellung, daß der Plan einer göttlichen Vorsehung die Geschichte bestimme, als unzureichende Formulierung des Gedankens, daß Vernunft in der Welt herrsche, daß es auch in der Weltgeschichte vernünftig zugehe, ab. In 29
R.-R Horstmann: Der geheime Kantianismus in Hegels Geschichtsphilosophie. In: Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik. Hrsg. v. D. Henrich und R.-P. Horstmann. Stuttgart 1982.56 ff (58 f).
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der Entwicklung des Geistes müsse es endlich dahin kommen, „das was dem fühlenden und vorstellendem Geiste zunächst [in der Offenbarung] vorgelegt worden, auch mit dem Gedanken zu erfassen". Ob es aber an der Zeit sei, dies zu erkennen, hänge davon ab, „ob das, was Endzweck der Welt, endlich auf allgemeine, bewußte Weise in die Wirklichkeit getreten; diß - Verstehen unserer Zeit" (GW 18.147 f). Diese Ausführungen machen deutlich, daß Hegel im Ringen um eine bewußte Gestaltung der geschichtlichen Wirklichkeit einen Ansatz für die Erklärung der jüngsten Geschichte sieht.30 Das, was die geschichtliche Welt von der Natur unterscheidet, ist die Notwendigkeit ihrer Realisation durch den menschlichen Willen. In Anknüpfung an die oben erwähnten Gedanken von Entelechie und Perfektibilität -und unter ausdrücklichem Bezug auf Aristoteles (GW 18.186) - wird die Geschichte jetzt als ein Prozeß gedacht, in dem das, was der Mensch zunächst nur an sich ist, vermittelst seines Willens und Bewußtseins erst wirklich werden muß: „was an sich erst ist, ist eine Möglichkeit, ein Vermögen, aber noch nicht aus seinem Inneren zur Existenz gekommen. ... Es muß ein zweytes Moment für ihre Wirklichkeit hinzukommen, und diß ist die Bethätigung, Verwirklichung, und deren Prinzip ist der Wille, die Thätigkeit der Menschen überhaupt in der Welt. Es ist nur durch diese Thätigkeit, daß jene Begriffe, an sichseyende Bestimmungen, reahsiert, verwirklicht werden" (GW 18.158,15-19, vgl. 182 ff).
Es ist diese Notwendigkeit, die Hegel dazu veranlaßt hat, den Abschnitt B über die konkrete Bestimmtheit des Begriffs der Weltgeschichte, seine Verwirklichung in und durch den Willen und die Zwekke der Individuen, gegenüber allen anderen Vorlesungen so außerordentlich zu entfalten. Die Resultate dieser Überlegungen sind: die philosophische Geschichtsbetrachtung hat die Geschichte aus dem Begriff des Geistes zu entwickeln. Vernunft in der Geschichte meint, daß die Geschichte ein Ziel hat und daß dieses Ziel das Bewußtsein des Geistes von seiner Freiheit ist. Dieses Ziel wird erreicht indem der Geist dazu kommt, seine Wirklichkeit bewußt zu setzen. Vernunft braucht aber zur Realisierung
30 Vgl. dazu vom Verf.: „Die Geschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“. Zur Entwicklung von Hegels Philosophie der Geschichte. Hegel-Studien 26 (1991), 177-192.
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Mittel und diese sind das Interesse, das Wollen und die Handlungen der Individuen. Solange der Endzweck der Geschichte, die bewußte Gestaltung der Wirklichkeit des Geistes, nicht erreicht ist; befördern die Individuen unbewußt - indem sie ihre je eigenen Interessen verfolgen den Zweck des Weltgeistes. Darin kommt einerseits zum Ausdruck, daß die Geschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit ein Ergebnis des Handelns aller ist, in dem jeder seinen eigenen Interessen folgt, ohne daß eine planende Absicht irgendeines Subjekts - auch nicht die der sog. weltgeschichtlichen Individuen - zugrunde läge. Andererseits realisiert sich die Freiheit - die Wesensmerkmal oder Substanz des Menschen sein soll, und sich nach Hegel in nichts anderem ausdrückt, als der bewußten Realisierung seiner selbst - in einem Prozeß, der gerade diesem bewußten Setzen entzogen ist. Daß die Geschichte einen gerichteten Verlauf hat - daß sie in ihrer Gesamtheit einen Fortschritt darstellt, folgt nicht einem Determinismus, durch den jedes Ereignis bestimmt ist, hängt auch nicht vom Walten eines extramundanen Demiurgen ab, der den Gang der Weltgeschichte bestimmt. Dies ist vielmehr einer Anlage im Menschen verschuldet, einem Vermögen zur Freiheit, das dazu drängt, sich zu realisieren, ohne daß ein Wie und Wann der Realisierung vorhersehbar wäre. Ein erreichtes Niveau der Menschheit kann vielmehr zerstört werden, ohne daß irgendetwas daran anknüpfen würde, und der Geist die harte Arbeit an einem anderen Ort von neuem beginnen muß.
ELISABETH WEISSER-LOHMANN (HAGEN)
„REFORM AT ION'' UND „FRIEDRICH II. " IN DEN GESCHICHTSPHILOSOPHISCHEN VORLESUNGEN HEGELS Die Erfahrung geschichtlicher Diskontinuität und die Suche nach einem Gesamtzusammenhang der Geschichte zählt zu den geschichtsphilosophischen Grundproblemen. Das Dilemma geschichtliche Prozesse entweder als kontinuierlich oder diskontinuierlich erfahren und deuten zu müssen, betrifft sowohl die Individualgeschichte als auch die Geschichte der Völker und Regionen. Manifest wird dieses Problem in der Frage der Epochenunterscheidung, den Gliederungsversuchen die seit Christoph Cellarius' Unterscheidung von Antike, Mittelalter und Neuzeit immer aufs Neue vorgelegt worden sind. Hegels Leitfaden für eine philosophische Betrachtung der Geschichte ist die Weltgeschichte. Seine Untergliederung dieser größtmöglichen Einheit in eine orientalische, griechische, römische und germanische Welt macht bereits im Ausgang der Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte die Problematik des Hegelschen Ansatzes offenbar. Die Programmatik verpflichtet die geschichtliche Betrachtung darauf, nur solche geschichtlichen Ereignisse aufzugreifen, an denen Prinzipien und Strukturen aufgewiesen werden können, die auf den Gesamtzusammenhang „Weltgeschichte verweisen. Neben diesem ,Einheitssinn sind an den vier von Hegel unterschiedenen Epochen aber auch Differenzen und Brüche aufzuweisen, die die einzelnen Welten als selbständige Gestalten auszuweisen vermögen Vor dieser doppelten Aufgabe steht auch Hegels philosophische Betrachtung der „neuen Zeit77. Die „neue Zeit als die letzte Etappe der vierten Epoche der Weltgeschichte ist für Hegel aus der „germanischen Welt" hervorgegangen. Diese Verortung der „neuen Zeit wirft nicht nur die Frage nach den Subjekten dieser weltgeschichtlichen Epoche auf, also welche Völker und Regionen diese Entwicklung tragen. Hegels 77
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Vgl. hierzu G. W. F. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg. v. J. Hoffmeister, (zitiert als Hoff.). Hamburg 19946.36.
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Zuweisung stellt auch vor die Frage nach den spezifischen Merkmalen und Prinzipien dieser Epoche. Die neue Epoche der Weltgeschichte wird von jenen Völkern der „germanischen Welt" grundgelegt, die zum römischen Reich gehörten und mit dem Christentum ein neues weltgeschichtliches Prinzip vertreten. Zum ,römischen Reich gehörig' und /Christlich' sind zunächst die Merkmale der Völker der germanischen Welt. Der Begriff „germanisch" umfaßt somit alle Völker der abendländischen Welt. Ein weiteres Merkmal tritt hinzu, und verbindet diese Völker für Hegel zu einer neuen Einheit. Im Unterschied zu den Völkern des byzantinischen Reichs sind die Völker dieser neuen Epoche der Weltgeschichte zunächst „bildungslos". Ihre Bildungslosigkeit und die damit notwendig werdende Aneignung des Fremden gibt ein weiteres gemeinsames Merkmal ab, unter dem diese Völker vereinigt sind. Die germanischen Völker „haben sich durch das Aufnehmen und Überwinden des Fremden in sich gebildet und ihre Geschichte ist... ein Insichgehen und Beziehen auf sich selbst." (413)2 Rein äußerlich betrachtet ist das „germanische Reich" eine bloße Fortsetzung des römischen Reichs, insofern die alten Territorien zum Schauplatz des Neuen werden. Wandelten sich mit den weltgeschichtlichen Völkern und Reichen in der Vergangenheit auch die Schauplätze des Geschehens, bestimmten jeweils neue geographische und klimatische Verhältnisse die Ausgestaltung der leitenden Prinzipien, so setzt Hegel im Übergang vom römischen zum germanischen Reich den Beginn einer neuen Epoche auf dem Boden einer alten Welt an.2 2
Die Seitenangaben hinter den Zitaten beziehen sich auf die Ausgabe der Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte in: G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hrsg. v. E. Moldenhauer. Bd 12. Frankfurt 1970. Diese Ausgabe beruht auf der von Karl Hegel herausgegebenen zweiten Auflage dieser Vorlesungen im Rahmen der Werke Ausgabe des Vereins der Freunde (Bd 9,1840). Zitate aus der von Georg Lasson vorgelegten Ausgabe der Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte werden jeweils mit Lasson unter Angabe der Seitenzahl nachgewiesen. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd 2-4. Auf Grund der Nachschriften hrsg. v. G. Lasson. Hamburg 1976. Diese Ausgabe umfaßt die Bde II-FV mit den Kapiteln: Die orientalische Welt (erstmals 1919, dann 1923 erschienen); Die griechische und die römische Welt (erstmals 1920, dann 1923 erschienen); die germanische Welt (erstmals 1923, dann 1929 erschienen). Der erste Bd dieser Ausgabe, Die Vernunft in der Geschichte, wird nach der von Johannes Hoffmeister vorgelegten Ausgabe zitiert, siehe Anm. 1. 3 Hinter der Diskussion, wie sie von A. Dopsch und O. Spengler um die Frage Kontinuität oder Bruch im Übergang von Antike und Mittelalter geführt wurde, steht das Problem, ob bei allen Brüchen in der geschichtlichen Erfahrung nicht doch lebendige Bildungstraditionen die Kontinuität menschlicher Entwicklung zu sichern vermögen. Vgl.
.Reformation" und „Friedrich II.
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I. Germanische Welt und Christentum Von den drei genannten Bestimmungen der „germanischen Welt" erweist sich die christliche Religion als das die Entwicklung entscheidend bestimmende Prinzip. Als Prinzip des freien Geistes manifestiert sich dieses Prinzip im „absoluten Eigensinn der Subjektivität", einem Prinzip, das die abendländische Geschichte für die folgenden Jahrhunderte in gänzlich anderer Weise bestimmen wird, als die expansiv nach außen gerichtete Grundtendenz des römischen Reichs. Diesem „Eigensinn der Subjektivität" steht „der Inhalt als absolutes Anderssein" gegenüber. Als Kirche und Staat bilden diese beiden Prinzipien im Reich Karls des Großen eine „abstrakte Einheit". Mit der Auflösung dieses Reichs treten dann die Gegensätze hervor, die die Geschichte der „germanischen Welt" für Hegel so entscheidend prägen. „Auf der einen Seite bildet sich die Kirche aus, als das Dasein der absoluten Wahrheit und zugleich die Wirksamkeit, daß das Subjekt ihr gemäß werde. Auf der andern Seite steht das weltliche Bewußtsein, welches mit seinen Zwekken in der Welt steht - der Staat, vom Gemüt, der Treue, der Subjektivität ausgehend." (415) Die abendländische Geschichte ist die Darstellung der Entwicklung „eines jeden dieser Prinzipien für sich, in Kirche und Staat" (415). An diesen Objektivitäten macht sich im weiteren Verlauf dieser Gegensatz selbst geltend. Das Individuum fordert jetzt gegen Kirche und Staat seine Rechte. In einer letzten Entwicklungsphase kommt es zur „Versöhnung dieses Gegensatzes." (415) Die Auflösung des Reichs Karls des Großen wird als ein /Freiwerden' dieser Prinzipien faßbar. Ein Freiwerden, das nicht nur Kirche und Staat als selbständige Kräfte etabliert, sondern die Differenzen innerhalb dieser Kräfte hervortreten läßt. So machen sich auf der staatlichen Seite neue Unterschiede geltend. Die Völker werden sich ihrer Eigenständigkeit bewußt und lehnen sich als besondere Nationen gegen die Herrschaft des Frankenreichs auf. Das Frankenreich ist für Hegel daher weniger durch die Willkür der Könige getrennt worden als durch die Völker, die diese Teilung forderten. Diese Auflösung zeigt für Hegel den Mangel der fränkischen Staatseinrichtung, sie war nicht vom „Geist des Volkes" erfüllt. Die Verfassung muß „als objektive Freiheit, substantielle Weise des Wollens, als Verpflichtung und Verbindlichkeit in den Subjekten" existieren (444). Die Innerüchkeit der Subjekte bestimmt Hehierzu P. E. Hübinger, Kulturbruch oder Kulturkontinuität im Übergang von der Antike zum Mittelalter. Darmstadt 1968. (Wege der Forschung. Bd 201).
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gel hier aufgrund seiner Analyse der geschichtlichen Umstände als „Gemüt" und „subjektive Willkür in einem gleichgültigen, oberflächlichen Fürsichsein". Die Auflösung des fränkischen Großreichs, von Hegel auf die Mängel der fränkischen Verfassung zurückgeführt, läßt deutlich werden, wie die Versöhnung dieser beiden Prinzipien zu leisten ist: Die Verfassung als das neue „Dasein der Wahrheit" muß sich mit dem Wollen der Subjekte zu einer Einheit verbinden.4 Die mit der Auflösung neu gewonnenen geschichtlichen Handlungsmöglichkeiten setzen Bildungsprozesse in Gang, die die Subjekte zu einem neuen substantiellen Verhältnis zur Welt führen und ein neues Weltverhältnis etablieren. Nach der Auflösung der abstrakten Einheit von Kirche und Staat ist die zweite Phase in der Entwicklung der „germanischen Welt" gekennzeichnet durch die Entfaltung des Gegensatzes in Kirche und Staat. Die im Staat auftretenden Bewegungen und Prinzipien vollziehen sich einheitlich in der gesamten abendländischen Welt: Hegel nennt hier die Ablösung des Feudalsystems durch ein monarchisches Regierungssystem, sowie das Bemühen der Individuen in Kunst und Wissenschaft zu selbständigen Gestaltungsformen zu gelangen. Der mit dem Zerfall des Großreichs einsetzende Differenzierungsprozeß setzt sich auch in der dritten Entwicklungsphase dieser Epoche fort. Mit der Reformation kommt es zur Teilung der zweiten gesellschaftlichen Macht. Es kommt zur Spaltung der /Einen' Kirche. Wie die Auflösung des feudalistischen Großreichs in Einzelmonarchien, so hat auch diese Trennung für Hegel weltgeschichtliche Bedeutung. Die Etablierung souveräner Einzelstaaten mit monarchischem Regierungssystem gelingt allerdings nicht bei allen Völkern des ehemaligen Frankenreichs, und auch die Reformation vermag sich nicht bei allen Völkern durchzusetzen. Die Reformation wird als das „wiederauflebende konkrete Bewußtsein des freien Geistes" gedeutet. Dieses Bewußtsein bildet für Hegel die Grundlage für die Rekonstruktion der Staatsverfassung: Mit der Reformation ergeht an die Subjekte die Forderung, daß auch das Staatsleben „mit Bewußtsein, der Vernunft gemäß eingerichtet werde" (417). „Aufgegangen" ist die Reformation in Deutschland, und „sie ist auch nur von den rein germanischen Völkern erfaßt worden", von Deutsch-
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Wenn Hegel an dieser Stelle betont, daß die hier herrschenden Gegensätze nicht nur gegeneinander bestehen, sondern sich in jedem dieser Prinzipien auszubilden haben, so wird deutlich, daß eine einfache Versöhnung in dem Sinne, daß Kirche und Staat wieder wie im Frankenreich eins werden für Hegel keine Auflösung dieses Gegensatzes darstellt.
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land, Skandinavien und England. Die romanischen und slawischen Volker haben sich aber fern davon gehalten" (500). Mit dem Beginn der „neuen Zeit" treten somit Entwicklungen ein, die sich faktisch nur partiell durchzusetzen vermögen. Daß diese Ereignisse aber als weltgeschichtliche Prinzipien aufzufassen sind, daß sie zurecht als für die gesamte abendländische Welt gültig auftreten und zum Maßstab für das Gelingen oder Mißlingen der modernen Staatsbildung werden, das ist Hegels Anspruch. Da die „weltgeschichtliche Bedeutung" und die politische Durchsetzung der von Hegel ins Zentrum dieser Epoche gestellten Prinzipien divergiert, bleibt die Frage zu beantworten, worauf Hegel die „weltgeschichtliche Bedeutung" dieser Ereignisse gründet. Die Frage soll hier auf die Rolle der Reformation begrenzt werden. Es wird sich zeigen, daß für Hegel die Herausbildung beider Prinzipien, die Konstituierung souveräner Einzelstaaten, die Entstehung von Kunst und Wissenschaft sowie die Umsetzung der Ziele der Reformation letztlich konvergiert. Wenn hier insbesondere die Rolle der christlichen Religion für die Entwicklung der germanischen Welt betrachtet wird, so bedarf dies einer Differenzierung hinsichtlich der Gesichtspunkte, die für Hegel eine Thematisierung des Verhältnisses von Religion und geschichtlichem Handeln bzw. Staat gestatten. In systematischer Hinsicht ist es für Hegel eine zentrale Bestimmung der Religion „in Verfassung, weltliches Regiment, weltliches Leben... überzugehen" (Hoff., 130). Einer systematischen Deutung des Verhältnisses von Religion und politischem Leben ist es Vorbehalten, im Rückgriff auf die Historie die geschichtlich möglichen Modelle von Sittlichkeit zu entfalten. Diese systematischen Bestimmungen werden im Rahmen einer spezifisch geschichtsphilosophischen Fragestellung konkretisiert, etwa hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung der Reformation für die „germanische Welt". Die empirische Analyse kann schließlich die Umsetzung reformatorischer Ansprüche und Forderungen für die Verwirklichung moderner Staatlichkeit prüfen. Eine weitere Unterscheidung muß beachtet werden, bevor nach der geschichtsphilosophischen Bedeutung der Reformation gefragt werden kann. In Hegels Systemaufbau folgt auf den objektiven der absolute Geist, wobei letzterer sich in regionalen' Geschichten - Kirnst, Religion und Philosophie - verwirklicht. Dieser Aufbau stellt vor die Frage, in welchem Verhältnis die Entwicklung der Gestalten des absoluten Geistes und die Weltgeschichte stehen.5 Hegels 5 Zu diesem Problem vgl. W. Jaeschke: Kirche und Staat bei Hegel. In: Reports on Philosophy 9 (1985), 5-19.
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Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte gibt hier m. E. einen eindeutigen Hinweis: Kunst, Religion und Philosophie treten innerhalb der Weltgeschichte nicht in ihrer eigentümlichen und ganzen Bedeutung auf, sondern nur „nach der Seite, wie sie im menschlichen Bewußtsein erscheinen. Religion und Religiosität haben in der Weltgeschichte im subjektiven Willen nur insofern „ihren Boden", als „sie in den Individuen existieren, somit insofern sie der individuellen Freiheit anheimgegeben sind". (Hoff., 107) Die Frage nach der geschichtsphilosophischen Bedeutung der Reformation muß somit abgegrenzt werden von der religionsphilosophischen Bedeutung, wie sie für Hegel im Rahmen einer Darstellung des absoluten Geistes zu thematisieren wäre. Die geschichtliche Zeit läßt sich nicht auf die Religion reduzieren. Sehr wohl allerdings verläuft für Hegel die Geschichte des absoluten Geistes innerhalb der Weltgeschichte. Nicht grundsätzlich sondern nur in spezifischen Epochen gründet die Religiosität eines Volkes auch dessen sittliche Lebensform, Bewußtseinsformen des absoluten Geistes sind nur unter bestimmten Bedingungen für die Sittlichkeit konstitutiv.6 Einen Leitfaden für die folgende Auseinandersetzung mit Hegels Beurteilung der Reformation und der Politik Friedrichs II. bildet das Problem, inwieweit es Hegel gelingt, die Reformation bzw. das politische Wirken Friedrichs als weltgeschichtliche Phänomene auszuweisen. Ausschlaggebend ist dabei Hegels Ausgangspunkt, die Zuordnung der Reformation zur „neuen Zeit", als dem letzten Abschnitt der germanischen Welt. Mit dieser Zuordnung ist der Anspruch verbunden, die Reformation als ein für die gesamte germanische Welt bedeutsames Ereignis auszuweisen. Wird damit die Unverzichtbarkeit einer faktischen Verwirklichung behauptet oder genügt es, daß diese Ereignisse in einem Land stattfinden und der Geist bzw. die neu auftretenden Prinzipien von den anderen Völkern dieser Epoche aufgenommen werden? Insistierte Hegel auf die faktische Verwirklichung, so würde dies bedeuten, daß sich die „germanische Welt" auf die „rein germanischen Volker" reduziert, also auf jene Völker, bei denen die Reformation sich bleibend durchzusetzen vermochte. Hegels Rede von der „weltgeschichtlichen Bedeutung" der Reformation gilt es auch angesichts des Vorwurfs zu klären, Hegel spiele unter dem Eindruck der politischen Ereignisse der dreißiger Jahre (Juli-Revolution) Reformation und Revo6
Vgl. hierzu auch G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hrsg. v. F. Nicolin u. O. Pöggeler. Hamburg 1969. §§ 552 und 562,430 f bzw. 444 f.
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lution zunehmend gegeneinander aus.7 In den Vorlesungen etwa findet sich die These: „Die Abstraktion des Liberalismus hat... von Frankreich aus die romanische Welt durchlaufen, aber diese blieb durch religiöse Knechtschaft an politische Unfreiheit angeschmiedet. Denn es ist ein falsches Prinzip, daß die Fesseln des Rechts und der Freiheit ohne die Befreiung des Gewissens abgestreift werden, daß eine Revolution ohne Reformation sein könne." (535) Die Revolution erscheint hier als der im Gegensatz zur Reformation vergebliche Versuch, die Staats- und Verfassungsbildung auf einer vernünftigen Grundlage zu vollenden.
II. Hegels Begriff der Reformation Es gehört zu den bleibenden Einsichten des jungen Hegel, daß die abendländische Geschichte den modernen Menschen vor die Aufgabe stellt, die schöne SittUchkeit der griechischen Polis als eine harmonische Vereinigung von Individuahtät und Allgemeinheit mit dem modernen Anspruch des Individuums auf Selbstverwirklichung in Einklang zu bringen. Bei der Lösung dieser Aufgabe ist die Rolle und Funktion der Kirche sowie der gegenwärtigen Religionen für Hegel problematisch. Die Tübinger Kritik an den Religionen der Gegenwart, nimmt auch den Protestantismus nicht aus, rechtfertigt dieser doch nur das eigennützige Treiben der Menschen. Die frühen Berner Reflexionen akzeptieren zunächst die Kantische Arbeitsteilung von Staat und Kirche, erstere muß die äußere, verständige Ordnung sichern, letztere fordert und sichert dagegen die Moralität der Bürger. Dabei sind die Konsequenzen dieses Modells unübersehbar: Die Religion wird zur unverfügbaren Grundlage des Staates8. Die Praxis in den „allermeisten" katholischen als auch protestantischen Ländern zeigt denn auch, daß „der kirchliche gegen den bürgerlichen Staat seine Rechte behauptet; und kein Andersgläubiger ist darin fähig, bürgerliche Rechte zu erlangen". „Wer die Kirche seines Landes verläßt, verbannt sich aus seinem Vaterlande mit dem Verluste seiner bürgerlichen Freiheiten ... Staat und Kirche sind insofern in eins geschmolzen" (Werke 1,149). Wie aber ist diese Bindung des Staates an eine Kirche mit seiner 7
So G. Lukäcs in Der junge Hegel. Frankfurt 1973. Bd 2,709. Da der Staat nicht als Staat, sondern nur als moralisches Wesen Moralität von seinen Bürgern fordern kann ... G.W.F. Hegel: Frühe Schriften. In: Ders.: Werke in zwanzig Bänden. Bd 1 Hrsg. v. E. Moldenhauer. Frankfurt a. M. 1971.137. (hier zitiert als Werke 1). 8
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Pflicht, den Menschen zum Menschen zu erziehen, zu vereinbaren? Nathans Lösung, den Menschen frei von jedem Glauben zu erziehen, scheitert in den Augen Hegels an der Praktikabilität. Der Widerstand der Kirchen wird alle Bemühungen in dieser Richtung zum Scheitern bringen, denn die Erziehung der Kirche beruht weniger auf Vernunft und Einsicht, als auf dem Versuch, den Glauben „bis ins Mark der Seele einzudrücken" (Werke 1, 158). Als Staatsbürger hat der Mensch das Recht, „freie ReUgionsausübung zu haben und seinem Glauben getreu zu sein". Der Fürst als Fürst hat die Pflicht dieses Recht seiner Untertanen zu schützen. Die vom Christentum beförderte Moral entstammt einem Kodex, dem der Mensch unterworfen wird. Vor diesem Hintergrund „ist die ganze Gewalt der Kirche unrechtmäßig" (Werke 1,190). Hegel muß erkennen, daß das Christentum als „positiver Glaube" mit den Anforderungen eines modernen Staats nicht in Einklang zu bringen ist. Wenn nicht die christliche ReUgion, welche Kraft vermag dann die moralische und sittliche Grundlage für den Staat bereitzustellen? In Frankfurt formuliert Hegel, daß nur eine neue „schöne", nicht aber die christliche Religion diese Aufgabe zu lösen vermag. Mit den Frankfurter Arbeiten Hegels, der Einsicht in die Notwendigkeit von Eigentum und Arbeit setzt allmählich eine Neubewertung des Christentums ein, die schließlich auch die Differenzierungen innerhalb der christlichen Religion in fruchtbarer Weise aufgreift. Der Schwerpunkt der Hegelschen Auseinandersetzung mit dem Christentum bzw. den christlichen Religionen hat sich in den Jenaer Arbeiten insofern verlagert, als nun weniger die praktischen Konsequenzen der Dogmen im Zentrum der Analyse stehen, vielmehr die zeitgenössische Philosophie, der sogenannte „Idealismus des Endlichen" hinsichtlich der Fähigkeit „Glauben und Wissen" als Einheit zu begreifen auf dem Prüfstand steht. Die neuzeitliche Philosophie verlegt als das „Prinzip des Nordens" den alten Gegensatz von Vernunft und Glauben in die Philosophie selbst und gibt damit für Hegel die ureigene Aufgabe der Philosophie, das „Erkennen des Absoluten", preis. Wie sehr diese Philosophie damit hinter der (christlichen) ReUgion zurückbleibt, zeigt die Weise in der sie das Böse auffaßt, nämhch als bloße Zufälligkeit und Willkür einer an sich endlichen Natur, die ohne eine wahrhafte Versöhnung und Erlösung bleibt. Dem Anspruch, diese Versöhnung zu erfassen, genügt das Christentum für Hegel weit eher als die Philosophie. Die religiöse Form des in der neuzeitlichen Philosophie sich erkennenden Prinzips ist für Hegel der Protestantismus, der sich „im Herzen des Individuums seinen Tempel baut". Der „die Objektivität der Erkenntnis
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fliehende Glaube" muß zwar „sich in äußerer Bewegung aus drücken" aber die Vorherrschaft des Verstandes in der neuzeitlichen Philosophie scheidet das Subjekt von dem Objekt, und letzteres wird dasjenige, was keinen Wert hat und nichts ist. Die neuzeitliche Reflexionsphilosophie verhindert für Hegel geradezu das Hervortreten der wahren Prinzipien der christlichen Religion. In den Jenaer Arbeiten finden sich Hinweise darauf, daß Hegel die beiden christlichen Religionen nun hinsichtlich ihrer staatspolitischen Relevanz unterscheidet. Die katholische Religion wird als „ästhetische Religion", als „Heiligung des empirischen Daseins" oder als „Sabbath der Welt" durch die hereinbrechende Prosa des Protestantismus zerstört. Dieses Hereinbrechen wird von Hegel nicht als ein zufälliges Ereignis gewertet, vielmehr fordert er, die Notwendigkeit der Auflösung der katholischen Einheit zu erkennen. Erst mit dieser Einsicht kann dem Höheren in Form einer dritten Religion der Weg gebahnt werden.9 Der Protestantismus als die religiöse Seite des nordischen Prinzips fordert das Einlassen auf die Endlichkeit und bereitet, dies ist eine entscheidende Einsicht der Jenaer Jahre, der empirischen Versöhnung mit der Wirklichkeit des Daseins den Weg. Im Protestantismus rechtfertigt die christliche Religion das Versinken in der Gemeinheit der empirischen Existenz als mit der Religion vereinbar.10 Der Naturrechts-Aufsatz hebt die politische Bedeutung der verschiedenen Religionen für die einzelnen Stände hervor. Nicht länger sichert die Einheit der Religion das Volksganze, sondern gerade über die Spezifizierung und Gliederung soll sich diese Einheit noch einmal herstellen lassen. Die Forderung des Naturrechts-Aufsatzes, daß der Staat katholisch werden müsse, beschwört mit der Katholizität noch einmal - ganz im Sinne Schellings - die einheitliche Vorstellungswelt der Polis. Die Phänomenologie des Geistes ignoriert in ihrem Bildungsgang dann wieder die Differenzen zwischen den beiden christlichen Religionen. Im Vordergrund steht die geschichtliche Entwicklung der Religion, für die Hegel bereits hier eine viergliedrige Grundstruktur einführt. Für diesen Bildungsprozeß enthält die christliche Religion all' jene Prinzipien, die zur Aufhebung der fixierten Endlichkeit benötigt werden. Wie auch
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Vgl. zu dieser Jenaer Auffassung Karl Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844. Nachdruck 1988.133,140. 10 In der Phänomenologie des Gastes werden die Differenzen zwischen den beiden christlichen Religionen vernachlässigt. Hegel subsumiert hier beide ,Kirchen' unter die christliche Religion.
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später steht hier für Hegel die Einheit der christlichen Religion im Vordergrund. In Nürnberg sind es für Hegel dann die konkreten politischen Fragen, wie die Neugestaltung des bayrischen Bildungswesens, die die spezifische Bedeutung des Protestantismus für die politische Entwicklung hervortreten lassen. In der ersten Auflage der Enzyklopädie (Heidelberg 1817), weist Hegel der „Weltgeschichte" einen Platz zwischen objektivem und absolutem Geist zu. Die einzelnen Volkerindividuen treten aus ihrer Beschränkung heraus vor das Weltgericht11. Der Verweis auf die Weltgeschichte bleibt hier allerdings noch gänzlich unausgearbeitet. In der Heidelberger „Ur"-Rechtsphilosophie12 entwickelt Hegel die Lehre von den vier weltgeschichtlichen Reichen. Die Jenaer Dreigliederung der Weltgeschichte wird nun durch den Einbezug der orientalischen Welt um eine vierte Epoche erweitert.13 Bleibend für Hegels Philosophie der Weltgeschichte ist die mit der Enzyklopädie festgeschriebene Einbettung des Begriffs der Weltgeschichte zwischen die Sphäre des objektiven Geistes und die des absoluten Geistes.14 Für Hegel sind weltgeschichtliche Betrachtungen auf jene Prinzipien und Strukturen angewiesen, die den „Geist eines Volkes" als objektive Einheit faßbar werden lassen. Geschichtlich ist ein Handeln erst dort, wo ein in sich organisiertes Ganzes auftritt, sich in der Auseinandersetzung mit anderen Völkern bewähren muß und in dieser Bewährung sich seiner Historie bewußt wird. Das Handeln der geschichtlichen Individuen, wie auch das Wissen der Völker um ihre Besonderheit bleibt allerdings - dies in Abgrenzung von der Sphäre des absoluten Geistes der Sphäre der Zufälligkeit und Beschränktheit verhaftet. So muß die Philosophie der Weltgeschichte auch ,Naturbedingungen', wie sie 11
G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaßen im Grundrisse und andere Schrißen aus der Heidelberger Zeit. Neu hrsg. v. H. Glöckner. Sämtliche Werke Bd 6. Stuttgart 1938. Vgl. § 448,298. 12 G. W.F. Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaß. Heidelberg 1817/ 18. Nachgeschrieben von P. Wannenmann. Hrsg. v. C. Becker u. a. Hamburg 1983. § 245. 13 Es wäre interessant, den Motiven, die für diese Gliederung sprechen, nachzugehen. Auch ihre Verbreitung unter den Zeitgenossen ist in diesem Zusammenhang zu beachten. Schinkels Weltgeschichtszyklus für die Berliner Gemäldegalerie sieht ebenfalls einen vierteiligen Bildaufbau vor, der sich an den vier Jahres- und Tageszeiten orientiert und das Leben auf der Erde vom Morgen zum Abend darzustellen beabsichtigt. Vgl. H. Börsch-Supan: Zur Entstehungsgeschichte von Schinkels Entwürfen ßr die Museumsßesken. In: Zeitschrift d. Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft. Sonderheft zum SchinkelJahr. Bd 35 (1981) 1/4,36-46. 14 Diese Situierung der Weltgeschichte hat bei den Hegel-Interpreten immer wieder Kritik ausgelöst. Vgl. T. Bautz: Hegels Lehre von der Weltgeschichte. München 1988.25-40.
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durch geographische, klimatische oder charakterliche Eigenschaften der Völker vorgegeben sind, berücksichtigen. Erst als absoluter hat der Geist das Kontingente der „objektiven Sphäre" hinter sich gelassen. Die in der philosophischen Betrachtung der Weltgeschichte sich konstituierende Entwicklung macht deutlich, wie die /Naturbedingungen' für die Weltgeschichte an Bedeutung vertieren. Mit der philosophischen Betrachtung ist jener Deutungshorizont erreicht, der die Zufälligkeit aller geschichtlichen Existenz in die Notwendigkeit im Gang der Weltgeschichte zu integrieren vermag.15 Im Anschluß an das Prinzip des objektiven Geistes bildet der Staat, die „Sittlichkeit eines Volkes", den Ausgangspunkt für die geschichtliche Betrachtung. Mit diesem Prinzip sind allerdings eine Vielfalt möglicher Perspektiven auf die Weltgeschichte gegeben. So ist unklar, in welcher Weise hier die Religion ins Spiel zu kommen hat, bzw. von welcher Interpretationsbasis aus, die Rolle der Religion zu erörtern ist. Wenn für Hegel die weltgeschichtliche Betrachtung mit der Konstituierung von Sittlichkeit bzw. staatlicher Sittlichkeit ihren Ausgang nimmt, so können Verfassungstypen, Rechtssysteme (abstraktes Recht, Moral, Sittlichkeit) oder aber die verschiedenen Sittlichkeitstypen (Familie, Gesellschaft, Staat) zum Bezugsrahmen der Interpretation gewählt werden.16 Im folgenden wird Hegels Konzeption der „Sittlichkeit eines Volkes" zum Ausgangspunkt für seine Interpretation der Reformation gewählt. Diese Entscheidung kann sich auf den inneren Aufbau der Sphäre des objektiven Geistes in den Grundlinien stützten17, sie findet aber auch im Aufbau der weltgeschichtlichen Betrachtung Bestätigung. Einer Klärung bedürftig ist in diesem Zusammenhang die spezifische Rolle der Religion, die Hegel in seine Konzeption der Sphäre des objektiven Geistes integriert. Bereits Hegels früheste Arbeiten reflektierten das Verhältnis von Religion und Staat. Im folgenden soll Hegels späte
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Für dieses Zurückdrängen der /Naturbedingungen' steht insbesondere die „germanische Welt", wenn in ihr unter gleichbleibenden Naturbedingungen eine gänzlich neue Gestaltung der Welt möglich wird. 16 Die Probleme um die Deutung der Hegelschen Rechtsphüosophie verlagern sich hier auf die Geschichtsphilosophie. Neben den genannten Interpretationsansätzen sind in der Vergangenheit auch die Idee der menschlichen Freiheit bzw. das System des Geistes als Ganzes zum Interpretationsrahmen der Weltgeschichte gemacht worden, vgl. T. Bautz: Hegels Lehre von der Weltgeschichte. München 1988.28. 17 Die Sittlichkeit wird dort als „Vollendung des objektiven Geistes" gefaßt: Recht und Moralität aber auch die innere Struktur des Staates können erst auf dieser Grundlage gebildet werden, vgl. Enzyklopädie § 552, Anm., 434.
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Fassung dieses Verhältnisses in erster Linie anhand der Grundlinien der Philosophie des Rechts und der Enzyklopädie herausgearbeitet werden.18 Zieht man die „Urfassung" der Hegelschen Rechtsphilosophie19 zur Klärung der Frage heran, welchen Anteil die Religion an der Entwicklung moderner Staatlichkeit hat, so fällt ins Auge, daß Hegel in der Konzeption des inneren Staatsrechts die historischen Ergebnisse der Reformation voraussetzt. So geht Hegel etwa von der Aufhebung der Klöster und ihre Ersetzung durch moderne Bildungsstätten, wie Schulen und Universitäten aus. Das Resultat dieses Säkularisationsprozesses wird als für die Gegenwart erreichter Stand vorausgesetzt. Wie aber gestaltet sich das innere Verhältnis dieses Staates zur Religion? Drei verschiedene Gesichtspunkte20 können hier unterschieden werden: Erstens, wie bestimmt Hegel das prinzipielle Verhältnis von Kirche und Staat, zweitens, welche Bedeutung wird der Reformation als einem geschichtlichen Ereignis für die Entwicklung des Staates beigemessen, drittens, wie bewertet Hegel die reformierten Staaten der Zeit bezüglich der Frage der Verwirklichung moderner Staatlichkeit. Gegen die Behauptung Rousseaus, die Religion sei die Grundlage des Staates, klärt Hegel das Verhältnis beider in § 270 der Grundlinien. Es ist ein Anliegen der Religion, die die „absolute Wahrheit zu ihrem Inhalt hat“, daß Staat, Gesetz und die Pflichten alles in dieser Beziehung zum Absoluten gefaßt werde. Indem sie den öffentlichen Einrichtungen diese Deutung zu geben vermag, wird sie zur Grundlage des Sittlichen - „zugleich" ist sie für Hegel aber nur Grundlage. Staat, Gesetz, Pflicht werden von der Religion nicht nur als in Einklang mit der absoluten Wahrheit stehend aufgefaßt, die sittlichen Einrichtungen sind selbst Ausdruck dieser Wahrheit. Ist damit die Religion nicht in diesen Einrichtungen aufgegangen? Kann die Religion in der Wirklichkeit noch als Kraft außerhalb dieser Einrichtungen auftreten? Für die Existenz des Frankenreichs war die Einheit des Staates mit der Kirche unverzichtbar. Mit dem Zerfall dieses Reichs gehen beide
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Ergänzend wird auf die dritte Auflage der Enzyklopädie (G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. 1830. Hrsg. v. O. Pöggeler u. F. Nicolin. Hamburg 1963, zitiert als Enzyklopädie) sowie auf den ersten Band der Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (siehe Anm. 2) zurückgegriffen. 19 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Heidelberg 1817/ 18. Nachgeschrieben von P. Wannenmann. Hrsg. v. C. Becker u. a. Hamburg 1983. 20 Zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel vgl. die Studie von W. Böckenförde: Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel. In: Der Staat. 21 (1982) 4,481503, auf die ich mich im folgenden stütze.
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getrennte Wege. Dabei nimmt der sich entwickelnde Staat Formen und Prinzipien der gesamten geschichtlichen Entwicklung (orientalische, griechische und römische Welt) in sich auf. Auch das Christentum als nunmehr eigenständige Kraft prägt die Entwicklung des modernen Staates. In seine Gestalt gehen die Forderungen der Aufklärung sowie die politischen Ereignisse der Zeit ein. Der aus diesen Prozessen hervorgegangene Staat ist für Hegel daher weit mehr als die Summe jener Einrichtungen, die zur Verwaltung und Ordnung des öffentlichen Lebens benötigt werden. „Das geistige Individuum, das Volk, insofern es in sich gegliedert, ein organisches Ganzes ist, nennen wir den Staat." (Hoff., 114) Durch diese Bestimmung integriert Hegel in den Staatsbegriff auch die Kultur, die Bildung, das Wissen und das Bewußtsein der Staatsbürger. Einerseits erscheint der Staat als das Resultat der geschichtlichen Entwicklung andererseits ergeht an diesen Staat die Forderung, „Wirklichkeit der konkreten Freiheit" (Grundlinien, § 260) zu sein. „Konkrete Freiheit" das heißt hier für Hegel, daß im und durch den Staat das „Prinzip der Subjektivität" zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit sich vollendet und zugleich „in die substantielle Einheit zurückzuführen" (Grundlinien, § 260) ist. In der Eigenständigkeit der Familie, der Verwirklichung des Einzelnen in der Arbeit, in der Teilhabe an den Korporationen und Verbänden der bürgerlichen Gesellschaft zeigt sich für Hegel die selbständige Entfaltung und Reintegration der freien Subjektivität. Dieser Staatsbegriff ist das Ergebnis einer Entwicklung, die die abendländische Welt vom orientalischen Großreich, über die antike Polis und den Staat des Mittelalters durchlaufen hat. Der moderne Staat ist das Ergebnis dieser Entwicklung, insofern er die jeweils entscheidenden Prinzipien (die Allgemeinheit des antiken Staats, die subjektive Freiheit und Vereinzelung im mittelalterlichen Staat) in sich aufnimmt und in differenzierter Form weiterführt. Indem die geschichtsphilosophische Betrachtung diese Aufnahme und Differenzierung verschiedener weltgeschichtlicher Prinzipien nachzeichnet, zeigt sie, daß dieser Staat kein Produkt des Zufalls ist, sondern ihm eine prinzipielle Legitimation zukommt. Die im modernen Staat verwirklichten Prinzipien sind „vernünftig". Wie wenig es Hegel dabei um die bloß formale Erfüllung einiger Kriterien geht, zeigt seine Kritik an dem /Staat' des Frankenreichs oder an den durch Napoleon oktroyierten Verfassungen. Der von Hegel in der Rechtsphilosophie entwickelte Staatsbegriff ist das Ergebnis vielfältiger geschichtlicher Differenzierungsprozesse. Gegen die vormaligen Großreiche muß der Staat erstens eine Individualität bil-
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den. Die nationale Besonderheit muß zweitens als organische Einheit bestehen. Dazu muß sie eine innere Strukturierung aufweisen, d. h. der Staat muß in den Staatsbürgern und ihrem Handeln selbständige Glieder besitzen. In ihrem Handeln in Familie und Arbeitswelt verwirklichen die Individuen diese Forderung. Ihr Bewußtsein, ihre Bildung ermöglicht es ihnen aber auch, dieses selbständige, egoistische Tun auf das Ganze, den Staat zu beziehen und zurückzubinden. Welchen Anteil hat das Christentum bzw. die Reformation an der Ausbildung dieser Differenzierungen? Die Einleitung zu den Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte stellt den Zusammenhang von Religion und Staat heraus: „Die Religion also muß betrachtet werden als notwendig übergehend in Verfassung, weltliches Regiment, weltliches Leben". Die Religion tritt jeweils als ein allgemeines Prinzip auf, das sich in der Welt zu verwirklichen hat. Die „besonderen Sphären des Lebens" sind vom „religiös praktischen Bewußtsein durchdrungen" (Hoff., 130,131). Für den modernen Staat wird das durch den christlichen Glauben hervorgebrachte religiöse Bewußtsein entscheidend. Hegel charakterisiert es als das Prinzip der selbständigen, in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen (vgl. Grundlinien, § 185 Anm.). Dieses Bewußtsein durchdringt und trägt die moderne politische Verfassung. Böckenförde21 faßt Hegels Grundbestimmung des Verhältnisses von Staat und christlicher Religion in drei fundamentalen Aussagen zusammen: Erstens stehen Staat und Religion in einem Verhältnis der Parallelität, Staat und Religion erweisen sich als unterschiedliche Wirklichkeitsund Verwirklichungsformen der gleichen einheitlichen Substanz"22. Zweitens definiert der § 270 der Grundlinien den Staat als den göttlichen Willen, als gegenwärtigen, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltenden Geist. Die Religion hat ihre Verwirklichung dagegen in der Form der Empfindung, der Vorstellung und des Glaubens.23 Diese Grundbestimmung des Verhältnisses von Staat und christlicher Religion hat drittens die Entzweiung von Staat und Kirche, die Auflösung der religiös-politischen Einheitswelt zur Voraussetzung. Mit der Glaubensspaltung hat der Staat eine die Konfessionsgegensätze übergreifende Allgemeinheit gewonnen. Dies ist die weltgeschichtliche
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Böckenförde: Bemerkungen, siehe Amn. 17. Böckenförde: Bemerkungen, 488,489.
Wie sehr Hegels Auffassung der Religion von der Situation der protestantischen Theologie der Zeit geprägt ist, zeigt für Böckenförde, E. Hirschs Geschichte der neueren evangelischen Theologie. Gütersloh 1954. Bd 5.3-144.
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Bedeutung der Reformation. Die beiden erstgenannten Merkmale des Verhältnisses von Staat und christlicher Religion ergeben sich im Ausgang von Hegels System des Geistes. Das letztgenannte Merkmal ist aus der Lehre vom objektiven Geist gewonnen. Erst die Reformation gibt dem Staat die Möglichkeit an die Hand, konfessionsübergreifende Allgemeinheit zu sein. Erst aus der Spaltung der Religion ist eine Distanz und Unabhängigkeit des Staates von der Religion möglich geworden, eine Distanz, die dem Staat Toleranz ermöglicht. Der weiteren Klärung bedürftig ist der Zusammenhang dieser drei Grundbestimmungen. Die Spaltung von Religion und Staat ist nicht nur Voraussetzung für die Konsolidierung moderner Staatlichkeit, sie soll auch ermöglichen, das Verhältnis beider im System des Geistes zu bestimmen. Hier soll ausschließlich der erste Teil der These, der behauptete Zusammenhang von moderner Staatlichkeit und Reformation geprüft werden. Der Verweis auf das System des Geistes klärt nämlich die geschichtsphilosophische Rolle der Reformation nicht hinreichend. Äußerst knapp ist der Verweis auf die Bedeutung der Reformation für den modernen Staat in den Grundlinien. In der Forschung wurde wiederholt beklagt, daß dies in Widerspruch zu der Würdigung der Reformation in Hegels Rede anläßlich des Jahrestages der Augsburger Konfession bzw. den Ausführungen in den Vorlesungen zur Philosophie der Religion steht. Die Vorlesungen lassen den Eindruck entstehen, so Maurer, „als wenn erst der Protestantismus den Geist zur Freiheit und Vernünftigkeit gebildet und damit den freien, vernünftigen Staat ermöglicht hätte.24 Wie sind diese Differenzen, ja Widersprüche zu erklären? Sind sie lediglich das Ergebnis des unterschiedlichen Blickwinkels, den die Rechtsphilosophie bzw. die Religionsphilosophie auf dieses Verhältnis haben? Ist die Reformation ein historischer Durchgangspunkt, der eine „säkularisierte, politische Ethik" freigibt25 oder hat „das Bestimmte des Rechts und der Sittlichkeit" für das Volk seine Bewährung nur in der Form einer vorhandenen Religion", so daß der moderne Staat diese Sicherheit allein in der protestantischen Religion zu finden vermag.26 24 R. Maurer: Hegels politischer Protestantismus. In: Stuttgarter Hegel-Tage 1976. Hegel Studien Beiheft 11. Hrsg. v. H.-G. Gadamer. Bonn 1974.384r-415.406. 25 So L. Oeing-Hanhoff: Hegels Deutung der Reformation. In: Hegel; L'Esprit Objectif. Akten des 3. Internat. Hegelkongresses 1968. Lille 1970.239-257.249. 26 So R. Maurer: Hegels politischer Protestantismus. 396. (Anm. 24) „Der Protestantismus ist für Hegel diejenige Religion, die eine fundamentale Versittlichung und Sozialisierung des Individuums bereits in der Subjektivität bewirkt."
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Zur Klärung dieser Frage sei noch einmal an die entscheidenden Momente der Hegelschen Bestimmungen der Reformation erinnert. Schon die Berner Reflexionen betonen den „Grundsatz der protestantischen Freiheit", keinen Menschen „durch Mehrheitsentscheid zu einem Glauben zu zwingen ... Der Glaube eines jeden Protestanten muß also sein Glaube sein, weil es sein Glaube ist, nicht weil es der Glaube der Kirche ist" (Werke 1,163). Diese ,Kerndeutung' des Protestantismus baut Hegel sukzessive weiter aus. So wird die Einsicht in die notwendige Anerkennung von Arbeit und Eigentum, die Hegel bereits in seiner Frankfurter Zeit formuliert, mit dieser Lehre verbunden. Die Entscheidung des Selbst diesem Glauben anzuhängen, ist eine Entscheidung nicht der bloßen Innerlichkeit, sondern eine Entscheidung, die Konsequenzen zeitigt für das Verhältnis des Individuums zur Welt. Ein Rückzug in die bloße Innerlichkeit des Glaubens ist mit der Akzeptation der Reformation zugleich verwehrt. Das Individuum ist nämlich mit der Übernahme der Reformation vor eine Entscheidung in der Welt gestellt.27 Die Wertschätzung von Arbeit und Eigentum wird nun mit dem Glauben vereinbar. Arbeit und Eigentum werden, wie Hegel später in den Grundlinien entwickelt, Faktoren der sittlichen Welt selbst, insofern die moderne Berufswelt zusammen mit der Familie Grundlage der Identitätsbildung im Staat ist. Eine weitere Konsequenz dieses Sich-entscheidenmüssens liegt in der Aufwertung des Selbst gegen die Lehrmeinung der Autoritäten in der Gemeinde. Die Notwendigkeit der Bildung des Individuums rückt in den Vordergrund. „Die katholische Gemeinde hat... an der ganzen Hierarchie einen festen Mittelpunkt, dessen die protestantische entbehrt... bei ersterer beruht alles auf der Instruktion der Geistlichkeit, bei dieser hingegen ebenso sehr auf der der Laien, daß wir eigentlich keine Laien haben und alle Gemeindeglieder gleiches Recht und gleichen Anteil an der Festsetzung und Erhaltung des kirchlichen Wesens in Lehre und Disziplin haben"28. Auf der politischen Ebene wird der das gesamte Mittelalter beherrschende Dualismus von Staat und Kirche durch die Reformation insofern überwunden, als die Trennung von innen und außen, von Glauben 27
Wenn man der Selbstdeutung Glauben schenken will, so gründet die Herkunft der Familie Hegel selbst auf einem solchen Akt der Selbstbestimmung: ein Vorfahr Hegels hatte seine Heimat Österreich aus religiösen Gründen verlassen und war nach Schwaben ausgewandert. Vgl. O. Pöggeler: Hegels Option für Österreich. - In: Hegel-Studien, 12 (1977), 87. 28 Briefe von und an Hegel. Hrsg. v. J. Hoffmeister u. F. Nicolin. 4 Bde. Hamburg 19693. Bd 2,141 (im folgenden mit Briefe abgekürzt).
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und Welt aufgehoben ist. An seine Stelle tritt eine neue Einheit zwischen dem religiösen Bewußtsein und der Welt. Familie und Arbeit stehen nicht länger konträr zum christlichen Glauben, sondern werden zu den neuen Tätigkeitsfeldern des Glaubens. Luthers Wertschätzung des Berufsethos wird in Hegels Deutung der Reformation deutlich herausgestellt. Die Aufhebung der Trennung von innen und außen, von Ich und Welt bleibt aber nicht bei dieser unmittelbaren Wirklichkeit des Individuums stehen. Uber Famihe und Arbeitswelt hinaus muß der Einzelne sich auch mit dem Allgemeinen, dem Staat identifizieren können. Sind der Selbstverwirklichung des Einzelnen in der Berufswelt bei der Schaffung von Reichtum keine Grenzen gesetzt, so muß um des Ganzen willen, das Tun des Einzelnen an das Gesamtinteresse zurückgebunden werden. Wie ist diese Identifikation mit dem Allgemeinen zu leisten und welche Rolle kommt dabei der Reformation bzw. dem Protestantismus zu? Eine neue Einheit zwischen dem zu wahrer Freiheit gelangten Individuum und dem Staat soll sich durch die Rückbindung des egoistischen Handelns des Einzelnen an das Allgemeine vollziehen. Ist diese Rückbindung durch das „Gewissen" der christlichen Religion gewährleistet, wie in der Forschung immer wieder betont wurde? Hegel setzt in seiner Rechtsphilosophie auf andere Kräfte, wenn dort die Mitgliedschaft in Korporationen, Berufsverbänden als Bildungselemente zum Allgemeinen gefordert wird. Das christliche „Gewissen" gehört überhaupt nicht in diesen Kreis. In § 137 unterscheidet Hegel deutlich zwischen formellem, wahrhaftem und christlichem Gewissen, um letzteres aus den rechtsphilosophischen Überlegungen auszuschließen. Auch besteht in der bürgerlichen Gesellschaft die Tendenz, das traditionelle Betätigungsfeld christlicher Nächstenliebe, die Linderung der Armut und Not, nicht länger der subjektiven Zufälligkeit des Einzelnen zu überlassen. Die Gesellschaft ist vielmehr bestrebt, „in der Notdurft und ihrer Abhilfe das Allgemeine herauszufinden und zu veranstalten und jene Hilfe entbehrlich zu machen" (Grundlinien, § 242,388). Nicht auf spezifisch christliche Eigenschaften setzt die bürgerliche Gesellschaft, sondern auf die Institutionen, die in der Bildung und dem mündig selbstverantwortlichen Urteil ihrer Mitglieder ihr Bestehen haben. In der Auseinandersetzung mit den Interessen der Anderen bildet sich das Individuum, erhält es jene Anerkennung, die den Menschen dazu bringt, die egoistischen Interessen zugunsten des Allgemeinen zurückzustellen. Die neue Wertschätzung des Selbst wurde durch die Reformation ermöglicht, weil mit ihr das Gewissen des Einzelnen zu einer unhinter-
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gehbaren Instanz, die blinde Anerkennung von kirchlichen Autoritäten unhaltbar geworden war. Statt den Festsetzungen des Klerus ist die „intellektuelle und morahsche Bildung aller" zur einzigen Autorität in der Gemeinde geworden. Das christliche Gewissen verpflichtet den Einzelnen innerhalb der Gemeinde zur Rückbindung und Vermittlung auf das Allgemeine. Dadurch werden im Hinblick auf das politische Handeln Verhaltensweisen eingeübt und gefestigt, die für das Handeln in der bürgerlichen Welt gebraucht werden. Die leitenden Prinzipien dieses Handelns können aber, wie die Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft, Not und Armut durch öffentliche Institutionen zu Undern, zeigt, nicht dem Einzelnen überlassen bleiben. Armut und Not haben in der bürgerlichen Gesellschaft neue Formen angenommen, sie sind öffentlich geworden. Es kann daher nicht länger der Willkür des Einzelnen überlassen bleiben, diese Not zu lindern. Im Tun des Einzelnen müssen vielmehr öffentliche Institutionen, Normen und Einsichten zur Wirksamkeit kommen. Neben den engeren ,kirchenpolitischen' Konsequenzen hat die reformatische Fortbildung der christlichen Lehre Konsequenzen auch für die Stellung von Ehe, Familie, Arbeit und Staat. Für Hegel bleibt nämlich die Erhebung des Gewissens zur Entscheidungsinstanz in sittlichreligiösen Fragen nicht auf Gemeinde- und Religionsfragen im engeren Sinn beschränkt. Das Weltliche insgesamt wird in den Rang erhoben, nicht nur das Negative des Wahren zu sein, sondern dieses in sich zu tragen. Die Reformation führt im Handeln des Einzelnen zu einer Versöhnung Gottes mit der Welt. Diese Versöhnung besteht allerdings zunächst allein in „abstrakter Form". Die Aufgabe, das Luthersche Erbe zu einem „System der sittlichen Welt" zu entwickeln, ist nach dem geschichtlichen Ereignis Reformation' als Aufgabe der gesamten „germanischen Welt" aufgegeben. Die genannten Bestimmungen der Reformation sind letztlich aus dem Horizont der Rechtsphilosophie entwickelt worden. Hegels Deutung der Reformation zeigt, wie innerhalb der christlichen Religion, die sich zunächst nur als das „Dasein der absoluten Wahrheit" begreift, das weltliche Prinzip zur Geltung kommt und die Versöhnung mit der Welt fordert. Die Reformation macht die Welt als das der christlichen Religion eigene Prinzip offenbar. Auch in den Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte, der zweiten und dritten Auflage der Enzyklopädie und den politischen Reden geht Hegel auf die Bedeutung der Reformation ein. Die dortigen Bestimmungen sollen im folgenden im Hinblick auf die Rolle Preußens für Hegels Deutung der Reformation analysiert werden.
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III. Reformation und preußischer Staat Sucht man in Hegels Werk nach Hinweisen darauf, wo die mit der Reformation gestellte Aufgabe am besten verwirklicht wurde, so fällt vor allem im Spätwerk Hegels -, der Verweis auf Preußen und die dort vollzogene Umsetzung des reformatorischen Programms ins Auge. Dieses späte, dezidierte Votum für Preußen und die reformierten Staaten ist von den Interpreten immer wieder als Zeichen für eine „Umformung“29 der rechtsphilosophischen Grundbestimmungen verstanden worden. Aus dem Blickwinkel des frühen Reformationsverständnisses, wie es Hegel in Nürnberg formulierte - Aufhebung des Unterschieds von Priester und Laien, Verinnerlichung des Glaubens, Neubewertung der Bildung - ist das Votum für Preußen durchaus konsequent. Preußen wird von Hegel zu Beginn seiner Lehrtätigkeit in Berlin als Staat wahrgenommen, der in erster Linie auf Bildung gebaut ist. Der Politik Preußens gelingt die Umsetzung der protestantischen Forderung nach Bildung beispielhaft. Auf „Bildung" als einen entscheidenden Faktor in der Entwicklung der modernen Gesellschaften setzt Hegel ja nicht erst in den Berliner Jahren, bereits sein Nürnberger Rektorat gilt der Verteidigung und dem Ausbau der bayerischen Bildungsanstalten. Maßstab für Hegels Schulpolitik ist dabei das ,bildungspolitische' Erbe der Reformation: den „Protestanten sind die gelehrten Bildungsanstalten so teuer als die Kirchen", und gewiß „sind sie so viel wert als diese". „Der Protestantismus besteht nicht so sehr in einer besondem Konfession als im Geiste des Nachdenkens und höherer vernünftiger Bildung, nicht eines zu irgend diesen und jenen Brauchbarkeiten zweckmäßigen Dressierens."30 Die klassischen Bildungsanstalten eines Landes sichern nicht nur die moralische und sittliche Bildung der Bürger. Die vermittelte „vernünftige Bildung" ist für den Staat selbst unverzichtbar, rekrutiert er doch aus den Abgängern dieser Anstalten seine Staatsdiener.31 Friedrich II. wurde für Hegel zum „Held des Protestantismus", da dieser das protestantische Prinzip von der „weltlichen Seite" auffaßte. Als König hat Friedrich der preußischen Staatsmacht die Selbständig29
Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat. Neudruck der Ausgabe 1920. Aalen 1962. 30 Briefef 1.337. 31 Wie maßgeblich die schlechte Bildung der Staatsdiener für die Zerrüttung des Staates verantwortlich ist, zeigt für Hegel das „Wirken" des Schreiberstandes in Württemberg, vgl. Hegels Kommentar zu den Verhandlungen in der Versammlung der württembergischen Landstände. In: G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 15. Schriften und Entwürfe (1817-1825). Hrsg. v. F. Hogemann u. Ch. Jamme. Hamburg 1990.
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keit gegen fast ganz Europa zu bewahren vermocht. Geradezu philosophisch aber war Friedrichs Wirken, indem er sich nicht als „spitzfindiger Theologe" in religiöse Streitereien einließ, sondern gegen alle Einseitigkeit der einzelnen Meinung am Allgemeinen festhielt. Daß ein Handeln, das das Allgemeine gegen die Besonderheit festzuhalten vermag, nicht auf die reformierten Staaten und ihre Herrscher beschränkt ist, macht Hegel in der Vorlesung des Wintersemesters 1826/27 deutlich: Auch die amerikanischen Unabhängigkeitskriege, das politische Handeln Josephs II., die Entscheidungen von Katharina der Großen sprechen diese „Allgemeinheit des Bewußtseins" aus.32 Die Allgemeinheit der Grundsätze war auch für die französische Revolution leitend geworden, mit dem Mangel allerdings, daß dieses Prinzip dort nur abstrakt gefaßt worden ist. Festzuhalten ist zunächst, daß religiöse Toleranz und die Hochschätzung der Bildung für Hegel die entscheidenden Merkmale des preußischen Staates sind. Die späten zwanziger Jahre, die zweite Auflage der Enzyklopädie bringen dann allerdings, so Rosenzweig, eine Neugewichtung der Rolle Preußens und der Reformation. Nicht länger ist es die Kirchentrennung, das Dasein mehrerer Kirchen in einem Staat, die dem Staat Einheit und Selbstgesetzlichkeit zukommen lassen. Der moderne die Freiheit schützende Staat scheint für Hegel nun ausschließlich mit dem Glauben der neuen Religion möglich. Diese „Umformung" führt für Rosenzweig zur Preisgabe der „weltlichen Seele", der „Eigenständigkeit" des Hegelschen Staates, die Verwirklichung moderner Staatlichkeit gerät in Abhängigkeit von der Religion.33 Die ,neue' Bedeutung der Religion für den Staat leitet Hegel z. e., so Rosenzweig, aus einer neuen Fassung des religiösen Bewußtseins her. Dieses ist nicht länger nur Gesinnung, eine reine Gewissensangelegenheit, sondern wird zur Basis des Staates und seiner Verfassung. Z. a. geht diese „Umformung" für Rosenzweig auf eine Veränderung der geschichtsphilosophischen Konzeption zurück. Für den ,neuen' Ansatz ist es eine geschichtsphilosophische Gesetzmäßigkeit, daß der Staat „notwendig später kommt als die Religion"34. Legt Hegel mit der zweiten Auflage der Enzyklopädie tatsächlich eine veränderte Geschichtsphilosophie vor, die ihm die Grundlage dafür liefert, die Reformation zur 32
Vgl. die Nachschrift von Hube, WS 1826/27, für die Überlassung der Transkription danke ich Herrn Professor O. Pöggeler. 33 Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd 2.218. 34 Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd 2.215.
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conditio sine qua non moderner Staatlichkeit zu erklären? Hegel macht in der Anmerkung zu § 552 der zweiten Auflage der Enzyklopädie deutlich, daß die Religion für das Selbstbewußtsein die Basis der Sittlichkeit und des Staates bildet. „Basis für das Selbstbewußtsein" wird von Hegel in diesem Zusammenhang so verstanden, daß das, was im Staat als wahr gelten, als Recht und Gerechtigkeit anerkannt werden soll, nur insofern gelten kann, als es Teil an der religiösen Wahrheit hat, unter sie subsumiert ist und aus ihr folgt. Daß die Religion die Grundlage des Staates bildet, hatte Hegel bereits in den Grundlinien ausgesprochen (vgl. § 270) und dort nicht nur im Anmerkungstext, sondern im Haupttext des Paragraphen. Wichtiger war es für Hegel um 1820 allerdings, die Differenzen zwischen Religion und Staat herauszustellen, die zweite Auflage der Enzyklopädie betont dagegen das Gemeinsame. Weit eher ist hier daher von einer Gewichtsverlagerung als von einer Umformung zu sprechen. Um Hegels Votum für den protestantischen Staat richtig bewerten zu können, sei an dieser Stelle noch einmal an Hegels ,politischen Werdegang' erinnert. Mit dem Sturz Napoleons war Friedrich II. für Hegel zum Vorbild unter den europäischen Regenten aufgestiegen. Friedrich II. war „der erste unter den Regenten, der das Allgemeine im Staate" festhielt, „immer das Beste seines Staates als das letzte Prinzip im Auge hatte und das Besondere, wenn es dem Staatszwecke entgegen war, nicht weiter gelten ließ". Für Hegel hat sich das „Einswerden von Herrscher und Staat" (Freyer) mit Friedrich II. erstmals auch auf deutschem Boden vollzogen. Diese Einheit ließ Preußen zu einem entscheidenden Faktor in Europa aufsteigen. Friedrichs Leistung wird von Hegel in diesem Zusammenhang mit derjenigen Richelieus in Frankreich verglichen, denn auch hier sind mit dem Aufbau einer Verwaltung alle Menschen und Sachen des Landes in den Dienst des Staates gestellt worden. Spezifisch protestantisch erweist sich die Politik Friedrichs im Behaupten des Allgemeinen gegen die besonderen Interessen. Diese Allgemeinheit konnte erst mit der Spaltung der Religion sich zum selbständigen Prinzip durchringen. Dieses Festhalten am Allgemeinen findet sich nicht nur in reformierten Staaten. In Preußen behauptet sich diese Allgemeinheit im Unterschied zu anderen Ländern nicht durch eine konsequente Umsetzung aufklärerischer Forderungen, der Versachlichung aller individuellen und dinglichen Verhältnisse, sondern das Individuum wird durch Bildung mit dem Allgemeinen versöhnt. Diese Form der Umsetzung der Forderungen der Reformation wird für Hegel in den späten Berliner Jahren unter dem Eindruck der Juli-Revolution zum entscheidenden Garanten stabiler sittlicher Verhältnisse in
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einem Gemeinwesen. Hegels Rede bei der dritten Säkularfeier der Übergabe der Augsburger Konfession macht diese Überzeugung geltend. „Preußen" wird zum Modell für die Verwirklichung des mit der Reformation politisch Geforderten. Diese Rolle kam „Preußen" nicht immer zu. In Jena erscheint Hegel die „preußische Monarchie" als „ein vollkommenes Institut für pesthafte und zu Schaden gekommene Gelehrte". In der Verfassungsschrift35 stellt er Preußen neben den Zentralismus der französischen Monarchie, mit der Charakteristik, alles werde von oben erfaßt und verwaltet: Welche „Dürre, welch' völliger Mangel an wissenschaftlichem und künstlerischem Genie" in einem so geregelten Staat herrscht, „falle jedem auf, der das erste Dorf Preußens betrete". Nicht auf Preußen, sondern auf Österreich setzt Hegel zur Zeit der Niederschrift der Verfassungsschrift seine politischen Hoffnungen. Geht man auch für die Jenaer Zeit davon aus, daß Hegel die Notwendigkeit einer pohtischen Umsetzung der Reformation für unverzichtbar hält, wie ist dann dieses Votum für einen katholischen Staat zu erklären? O. Pöggeler hat darauf hingewiesen, daß diese „Option vor allem durch eine Konzeption des innerstaatlichen Aufbaus bestimmt" ist, „die den Leitgedanken der Französischen Revolution entgegengestellt wird"36. „Hegels Option für Österreich" ist bestimmt von der Hoffnung, daß das deutsche Reich als politische Einheit wiederhergestellt werden kann. Damit ist Hegels Votum keineswegs restaurativ zu deuten, denn Hegel „setzt voraus, daß Reformen - wie Josef II. sie begann , „zu erreichen vermögen, was die Revolution verfehlte"37. Die vordringliche Aufgabe, eine Einheit für das Deutsche Reich zu erwirken, ist nur dann zu meistern, wenn den vereinigten Völkern eine Mitwirkung an den politischen Entscheidungen möglich ist. Die ständische Gliederung Österreichs liefert für Hegel die Garantie dafür, daß die anderen Länder des Reichs unter der Führung Österreichs ihre Freiheit bewahrt sehen können. Diese Einschätzung Österreichs wird auch nicht durch die gewaltsame Rekatholisierung Österreichs im Dreißigjährigen Krieg korrigiert, ist doch das ,katholische Prinzip', die Bindung der Religion an den Staat, durch das Toleranzprinzip ersetzt worden. Wie Hegel die Frankfurter ,Kerndeutung' der Reformation allmählich um Prinzipien ergänzt, die diesem Ereignis weltgeschichtlichen 35 36 37
Zur Verfassungs-Schrift vgl. den Beitrag von Hans Maier in diesem Band, S. 15-33. O. Pöggeler, Hegels Option ßr Österreich, 120, siehe Anm. 25. O. Pöggeler, Hegels Option ßr Österreich, 120.
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Rang zusprechen, läßt sich am Beispiel der Bewertung des Dreißigjährigen Krieges zeigen. Noch in Jena bewertet Hegel diesen Krieg als einen Krieg, der sich allein um die Privatinteressen der kriegsführenden Mächte drehte. In der Berliner Vorlesung von 1822/23 kommt es zu einer Neueinschätzung - auf der Grundlage der erweiterten Deutung der Reformation-: dieser Krieg ist nun ein „konstitutioneller Krieg", in dem sich der moderne Staat durch die Staatsräson geführt, allmählich ausbildet und durchsetzt.38 Als 1806 Franz von Österreich die Krone des Deutschen Reiches niederlegt, wird Napoleon für Hegel zum neuen Hoffnungsträger. Von dem „Friedensstifter Europens" erwartet Hegel auf deutschem Boden nun die Verwirklichung einer politischen Einheit, die in der Lage ist, sich gegen Agressoren zu verteidigen. Nach innen muß dieses Gemeinwesen eine Einheit bilden, indem das Volk durch ein Repräsentativsystem mit der Regierung verbunden wird. Bei der Verwirklichung dieser Ziele ist eine Beteiligung der Kirche schädlich. Hegel beurteilt das Wirken jener Institutionen, die die Religion im Staat repräsentieren, negativ. Der moderne Staat muß gerade unabhängig von den Kirchen gegründet sein. Diese Trennung von Staat und Kirche war Hegels Forderung bereits zu Beginn der Jenaer Zeit: sein Votum für Österreich ist an der Politik Josefs II. orientiert. Aufklärung, der Aufbau eines zentralistischen Staates, das sind für Hegel die Prinzipien, für die Österreich steht. Nach anfänglicher Skepsis gegen die Organisationswut der neuen Herren39 gewinnt Hegel die Überzeugung, daß Napoleons Politik für die Modernisierung der europäischen Staaten steht. Napoleon nicht Österreich ist mm die politische Kraft, von der Hegel die Stiftung liberaler Verfassungen in Europa erwartet. Auf den Sturz Napoleons folgt allerdings auch die Einsicht, daß die Macht allein nicht genügt, um ein stabiles modernes Gemeinwesen aufzubauen. Für die Formulierung dieser Einsicht wird wiederum die Bestimmung der Reformation leitend: Die in den von Napoleon eroberten Ländern ,verordnete' Freiheit bleibt nur ein abstraktes Prinzip, das schließlich gestürzt wird: „Die Individualität und die Gesinnung der Volker, d. h. ihre religiöse und die ihrer Nationalität, hat endlich diesen Koloß gestürzt". „Bei all' diesen Revolutionen ist herauszuheben, daß sie nur politisch sind, ohne Änderung der Religion ... aber ohne Änderung der Religion kann keine politische Revolution erfolgen". Eine Änderung der Religion unterblieb in den romanischen Ländern und so 38 39
Vgl. hierzu ebenfalls O. Pöggeler: Hegels Optionßr Österreich. 96. Vgl. Hegels Brief vom 7. Mai 1809 (Briefe Bd 1,283).
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mußte die hier ,verordnete' Freiheit nur abstraktes Prinzip bleiben. Die Prinzipien der Freiheit „sind gegen ein Positives gegangen und waren nicht aus der Religion geschöpft" (Lasson, 931). Die Reformation ist für diesen Übergang konstitutiv, so daß Hegel überspitzt formulieren kann: Spanien komme so wenig zur Freiheit, als Holland zur Knechtschaft gezwungen werden könne. Die Einsicht in diese /religiöse' Bedingung einer wahren Modernisierung des Staates zeigt sich bei Hegel nicht nur eng verknüpft mit dem Scheitern Napoleons. Die Auseinandersetzung mit der politischen Entwicklung der dreißiger Jahre läßt ihn diese Einsicht darüber hinaus stärker betonen40. Napoleons Untergang, so lehrt Hegel, zeigt die Unverzichtbarkeit der Reformation für die Verwirklichung der Freiheit. „Reformation" ist hier für Hegel nicht mehr beschränkt auf das geschichtliche Ereignis und seine Konsequenzen für die Politik in Europa, d. i. die Aufspaltung der einen Kirche in viele besondere, von denen der Staat sich als neue Einheit abgrenzt, sich als selbständiges Prinzip etabliert. Erbe der „Reformation" ist es für Hegel nun auch, daß die Völker, die Individuen sich selbst zum protestantischen Glauben entschließen müssen, wenn das politische Erbe der Moderne angetreten werden soll. Denn es ist ein falsches Prinzip, wenn nur von außen /Freiheit' verordnet wird, ohne die Überzeugung der Individuen in ihre Freiheit. Die Änderung der Religion, das Bekenntnis zum Protestantismus ist allerdings in dem oben entwickelten /Weltlichen' Sinn zu verstehen: die Entscheidung des Einzelnen für die Wirklichkeit ist gefordert. Die Verwirklichung des Selbst in Familie und Arbeit heben diese Sphären in den Rang von Sittlichen, d. h. in ihnen wird Freiheit allererst konkret.41 Um sich in diesen Sphären bewähren zu können, muß das Individuum Bildung besitzen. Die Bildung versöhnt die Einzelegoismen darüber hinaus mit dem allgemeinen Interesse. An dieser Einsicht hält Hegel bis in die späte Berliner Zeit fest: Preußens Reformwerk, das Bildung und Wissenschaft zu einer „der wesentlichsten Momente selbst im Staatsle40
Daß es dabei nicht um ein Ausspielen der Reformation gegen die Revolution geht, machen die erhaltenen Nachschriften zum letzten Vorlesungsjahrgang (1830/31) deutlich. Vgl. die Auswertung der Nachschriften durch A. Großmann: Weltgeschichtliche Betrachtungen in systematischer Absicht. Zur Gestalt von Hegels Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. In: Hegel-Studien. 31 (1996), sowie den Tagungsbeitrag von A. Großmann: Hegel oder „Hegel"? in diesem Band S. 51-69. 41 Vgl. in diesem Zusammenhang Hegels Kritik an der abstrakten Auffassung der Freiheit durch die französische Revolution. Dieser Freiheit ist es unmöglich, sich in besonderen Sphären zu verwirklichen. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, insbesondere das Kapitel „Die absolute Freiheit und der Schrecken".
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ben" macht, garantiert für Hegel die Wirklichkeit der Freiheit.42 Diese ,realen' Konsequenzen des Bekenntniswechsels begründen für Hegel die politische Existenz der protestantischen Kirche und bilden die Grundlage für seine Forderung nach einer „Änderung der Religion" in den katholischen Ländern. Betrachtet man die verschiedenen politischen Optionen Hegels, so fällt auf, wie sehr das einzelne Urteil die jeweilige politische Situation mit ins Kalkül nimmt. Bei gleichbleibendem Ziel - Schaffung einer dauerhaften, souveränen pohtischen Einheit in Deutschland - wandelt sich der politischen Situation entsprechend Hegels Parteinahme. Auch das Votum für Preußen und die reformierten Länder untersteht diesen Bedingungen. Die Forderungen der französischen Revolution nach Freiheit und Gleichheit ist von den reformierten Ländern (neben Preußen nennt Hegel die Niederlande und England43) am besten eingelöst worden. Wenn Hegel Ende der zwanziger Jahre das verbindende Glied zwischen Staat und Religion stärker betont, so sind hierfür in erster Linie die politischen Verhältnisse verantwortlich. Wie schwierig sich das Zusammenleben der verschiedenen Kirchen tatsächlich gestaltete, machte in Preußen der Streit um die Mischehen deutlich. Das Wiedererstarken des Katholizismus war auch in Preußen spürbar44, die konfessionellen Gegensätze standen wieder im Vordergrund. Und auch innerhalb der protestantischen Kirche traten die Gegensätze stärker hervor. Die auch von Hegel geforderte Einheit zwischen Lutheranern und Reformierten scheitert am Widerstand „des Fleisches", wie Niethammer notierte.45 Beachtet man den politischen Kontext der Rede zur Säkularfeier (25. Juni 1830) bzw. der Reformbill-Schrift46, so enthält Hegels Votum für Preußen und die Reformation noch einen anderen Aspekt. Nicht nur werden in den Rezensionen der Jahrbücher die Werke katholischer Schriftsteller und ihr Bemühen der katholischen Religion
42
G. W. F. Hegel: Rede zum Antritt des philosophischen Lehramts. In: G. W. F. Hegel: Berliner Schriften. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 19564. 43 Vgl. die Nachschrift von Karl Hegel, 486. Für die Überlassung der Transkription danke ich Herrn Professor O. Pöggeler. 44 Hegel selbst war mit dem neuen Selbstbewußtsein des Katholizismus in Konflikt geraten, vgl. den Bericht von Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd 2,211,212. 45 Vgl. seinen Bericht an Hegel über die Stimmung auf der 2. Generalsynode. Briefe Bd 3.216. 46 Vgl. den Sammelband, Politik und Geschichte. Zu den Intentionen von G. W. F. Hegels Reformbill-Schrift Hrsg. v. Ch. Jamme und E. Weisser-Lohmann. Bonn 1995. (Hegel-Studien Beiheft 35).
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„Allgemeinheit... zu vindizieren"47, zum Gegenstand der Kritik. Im Kontext der Ereignisse um die Juli-Revolution in Frankreich, deren Auswirkungen auf die anderen europäischen Länder sowie die preußischen Bemühungen, um eine Revision der Städteordnung - die in letzter Konsequenz eine einheitliche Staatsbürgerschaft nach französischem Vorbild anstrebt - hat Hegels Insistieren auf ,die' Konsequenzen der Reformation auch anachronistische Züge. Die revidierte preußische Städteordnung von 1831 strebt mit der Aufhebung des Unterschieds von Stadt- und Landbevölkerung auch die Auflösung der Bindung der Repräsentanten des Volkes an spezifische Interessenssphären an. Die Städteordnung mußte daher für Hegel einen entscheidenden Schritt zu allgemeinen Wahlen und zum atomisierten Staatsbürger nach französischem Modell darstellen. Mit der Verwirklichung der Städteordnung wäre die Herrschaft eines nur abstrakten Freiheitsprinzips unweigerlich die Folge. Wenn Hegel in dieser Situation auf die Gefahren der englischen Reformbill aufmerksam macht, bzw. den preußischen Staat an das politische Erbe der Reformation erinnert, so ist dies auch als Kritik an den Bestrebungen der preußischen Regierung zu lesen. Das Hauptmoment der Reformation, die Forderung, daß jeder Einzelne die Einsicht in das, was sittlich und recht ist, besitzen muß, bleibt nach Hegels Ansicht unverzichtbare Grundlage für die Erneuerung der bürgerlichen Gesetze und Sitten. Gerade diese Forderung wird durch die Einrichtung eines allgemeinen Wahlrechts ignoriert, denn es verhindert eine Identifikation des Bürgers mit seinen Angelegenheiten. Die heterogenen Landesteile des preußischen Staates machen eine Identifikation mit dem nur abstrakt Allgemeinen darüber hinaus unmöglich.48 Für Hegel wird die Erinnerung an das politische Erbe der Reformation in dieser Situation zum Werkzeug der Kritik an diesen Entwicklungen. Hegels Insistieren auf „Änderung der Religion“ als Bedingung für die Konsolidierung moderner Staatlichkeit zeigt sich daher auch als in der politischen Situation der Zeit begründet, obgleich der systematische Kern seiner Reformationsdeutung davon unberührt bleibt. Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, ob die von Hegel der Reformation zugewiesenen politischen Prinzipien, tatsächlich ausschließlich 47
Hegels Görres-Rezension, in: Berliner Schriften, 427. Zu den Jahrbüchern, vgl. Die Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik. Hegels Berliner Gegenakademie. Hrsg. v. Ch. Jamme. Stuttgart 1994. 48 Vgl. meinen Beitrag Englische Reformbill und preußische Städteordnung. In: Politik und Geschichte. Zu den Intentionen von G. W. F. Hegels Reformbill-Schnft. Hrsg. v. Ch. Jamme und E. Weisser-Lohmann. Hegel-Studien Beiheft 35. Bonn 1995.281-309.
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als politisches Erbe der Lutherschen Lehre aufzufassen sind und inwiefern deren weltliche Umsetzung einen Bekenntniswechsel zur Voraussetzung hat. Das Auf und Ab der Revolutionen in Europa zeigte für Hegel die Stagnation in der Entwicklung stabiler politischer Verhältnisse. In dieser Situation sucht Hegel im religiösen Bewußtsein einen Garanten für die politische Entwicklung. Wie wenig das Bekenntnis zur Reformation allein stabile freiheitliche Verhältnisse zu garantieren vermag, war Hegel dabei wohl bewußt, ist doch gerade die politische Umsetzung notwendig. Vernachlässigt Hegel unter dem Eindruck der Stagnation aber nicht andere Faktoren geschichtlichen Handelns? Die geschichtliche Entwicklung hat gezeigt, daß etwa die Reformierung der bestehenden Eigentumsverhältnisse sowie die Umstrukturierung der Arbeitswelt das Bewußtsein des Volkes ebenfalls verändern und einer Modernisierung der Gesellschaft und des Staates günstig sein können.
JÖRG DIERKEN (HAMBURG)
HEGELS PROTESTANTISCHES PRINZIP' Religionsphilosophische Implikationen einer geschichtsphilosophischen Denkfigur 1. Uneindeutigkeiten in Hegels Protestantismus-Verständnis Hegels Geschichtsphilosophie1 erhebt bekanntlich den Anspruch, ebenso der Vernunft wie der Empirie verpflichtet zu sein.2 Gerechtfertigt wird dieser Anspruch durch die Grundannahme, daß in der empirischen Welt selbst Vernunft walte. Freilich bedürfe es zur Einsicht in diesen Sachverhalt eines philosophisch-vernünftigen Blickes: „Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an, beides ist in Wechselbestimmung".3 Diese ,Wechselbestimmung' ist jedoch zwiespältig. Einerseits kann sie gelesen werden als Beleg für ein zirkulär-idealistisches Selbstverständnis der Hegelschen Geschichtsphilosophie, nämlich eben selbst im philosophischen Blick auf die Welt, die Welt zum Spiegel dieses Blicks zu erheben. Denn die Kongruenz von Welt und Blick wird von Hegel beschrieben als Resultat einer dem absoluten Endzweck des Geistes entsprechenden Teleologie der Weltgeschichte, die in der ihr korrespondierenden Entwicklung der spekulativen Geschichtsphilosophie ihren Höhepunkt hat. Andererseits kann jene ,Wechselbestimmung' auch gelesen werden als Beleg für einen kruden Positivismus Hegels. Danach impliziert sein philosophisches Pathos für die in der Welt waltende Vernunft eine Verklärung der ihn umgebenden Weltverhältnisse. 1
Vgl. allgemein hierzu T. Bautz: Hegels Lehre von der Weltgeschichte. Zur logischen und systematischen Grundlegung der Hegelschen Geschichtsphilosophie. München 1988. 2 Vgl. nur G. W.F. Hegel: Philosophie der Weltgeschichte. Einleitung 1830/31. In: Vorlesungsmanuskripte II (1816-1831). GW 18. Hrsg. v. W. Jaeschke. Hamburg 1995. 140,142 u. ö. [= Einl 1830]. 3 Soweit die Neueditionen von Hegels Vorlesungen noch nicht vorliegen, wird nach der verbreiteten Theorie-Werkausgabe (G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hrsg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel. Frankfurt a. M. 1969-71 [= ThWA]) zitiert; hier ThWA 12, 23. Nach dieser Ausgabe werden mit gesonderten Siglen die Grundlinien der Philosophie des Rechts [= R] und die dritte Auflage der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) [= E] zitiert.
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Beiden Lesarten hat Hegel selbst Vorschub geleistet. Und in beiden Lesarten diskreditiert sich die Hegelsche Geschichtsphilosophie gleichermaßen: Sie kann für eine spätere systematische Geschichts- und Gegenwartsdeutung allenfalls als abstoßendes Illustrationsmaterial eines ebenso monströsen wie leeren Geschichtsdenkens dienen. Beide Lesarten haben gemein, daß sie die in Hegels Argumentation auch vorhandenen Spannungen harmonistisch glätten. Gerade auf solche Spannungen aufmerksam gemacht zu haben, ist jedoch das Verdienst der neueren kritischen Hegel-Forschung, in der die philologische Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der Hegelschen Texte auch die systematische Hegel-Interpretation befruchtet hat. Jedenfalls zeigen dies die Resultate der editorischen und interpretatorischen Arbeiten an anderen Systemteilen,4 und es ist per Analogieschluß zu vermuten, daß dies auch für die Geschichtsphilosophie zutrifft. Andreas Großmann formuliert aufgrund seiner Vergleiche zwischen verschiedenen Textfassungen von Nachschriften der geschichtsphilosophischen Vorlesungen gar die These, daß sich in ihnen schließlich ein „anderer" Hegel präsentiere.5 Dies kann schwerlich ohne Auswirkungen auf ein systematisches Hegel-Verständnis bleiben. Gerade eine systematische Interpretation hat mithin die Spannungen in Hegels Argumentation wahrzunehmen und zu akzentuieren. Nur so läßt sich die produktive Kraft entbinden, die Hegels,Wechselbestimmung' auch für gegenwärtiges Denken haben möchte. Hierzu suchen die folgenden Ausführungen zu der von Hegel geprägten Wendung protestantisches Prinzip', einen Beitrag zu leisten. Denn gerade im Umkreis dieses Prinzips steht die überschwengliche und damit Skepsis provozierende Deutung Preußens durch den späten Hegel. Das „auf Intelligenz gebaut[e]", insbesondere durch Friedrich den Großen verkörperte Preußen ist die Vollendung der ,,politische[n] Garantie" der ,,protestantische[n] Kirche" und die „selbständige europäische Macht" des „Protestantismus".6 In der Fluchtlinie jenes protestantischen Prinzips steht auch das berühmte auf Frankreich bezogene ^ Dies gilt beispielsweise für die Hegelsche Religionsphilosophie, für welche durch die Neuedition der Vorlesungen zugleich die Möglichkeit einer neuen Interpretation gewonnen worden ist. 5 Vgl. den Beitrag von A. Großmann: Hegel oder „Hegel"? Zum Problem des philosophischen und editorischen Umgangs mit Hegels geschichtsphilosophischen Vorlesungen, in diesem Band. 6 ThWA 18,12; ThWA 12,519. Vgl. in diesem Zusammenhang E. Weisser-Lohmann: Hegels Deutung der Reformation und die Rolle Friedrichs II., in diesem Band.
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Diktum, daß keine Revolution ohne Reformation erfolgreich sein könne7 - ein Diktum, dessen Kehrseite der Verweis auf Preußens protestantische Hintergründe ist. Friedrich der Große ist ein „philosophischer König" gerade deswegen, weil er „das protestantische Prinzip von der weltlichen Seite" auffaßte, und Friedrich II. „trat als Held des Protestantismus auf" - vergleichbar gar mit „Gustav Adolf".8 In diese Linie läßt sich auch das von Hegel selbst propagierte Theorem eines grundsätzlichen Zusammenfallens von „Staatsmacht, Religion und d[en] Prinzipien der Philosophie" einstellen, fußt es doch auf der im Sinne des „protestantischen Gewissen[s]" interpretierten „wahrhafte[n] Religion".9 Verbindet man diese Aussagen mit dem Motiv, wonach der Staat „die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist",10 sei, so scheint Hegels philosophisches Protestantismus-Verständnis im wesentlichen auf eine Apotheose des - preußischen - Staates seiner Gegenwart hinauszulaufen: Eine partikulare religiöse Konfession stände für die sich aufs Absolute berufende Verklärung eines ebenso partikularen politischen Staatsgebildes. Im Verein mit Hegels epochalem Selbstbewußtsein würde diese Verklärung auf paradoxe Weise gar dem Motiv des ,Posthistoire' Nahrung liefern und es zugleich diskreditieren, wonach für und mit Hegel das Ende der nunmehr vollendeten Geschichte gekommen sei. In solcher Eindeutigkeit erscheint Hegels Protestantismus-Verständnis allerdings nur für den oberflächlichen Blick. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich, daß mit der Bedeutung, die für Hegel das protestantische Prinzip' einnimmt, nahezu eine Bedeutungslosigkeit klassischer Figuren und Theologumena des reformatorischen Christentums einhergeht. Von den protestantischen Theologen in engerem Sinne ist nur Luther selbst für Hegel von Interesse; die Systematisierung der reformatorischen Lehren, ihr Weg in die Orthodoxie, aber auch deren Veränderung durch Neologie, Rationalismus und beginnende historische Kritik werden übergangen oder Gegenstand distanzierender Polemik. Dies hängt damit zusammen, daß das „subjektiv religiöse Prinzip" das Merkmal des Protestantismus - auf dessen Boden sich „von der Philosophie getrennt" habe und deshalb erst in der sich herausbildenden spekulativen Philosophie „auf wahrhafte Weise wieder auferstan7 Vgl. ThWA 12,535,72; R § 270, Anm.; E § 552, Anm. u. ö. 8 ThWA 12,519. 9 ThWA 10,364 f. 10 ThWA 12,57.
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den" sei.11 Damit scheidet die protestantische Theologiegeschichte in engerem Sinne aus Hegels Interessenkreis aus.12 Aber auch klassische evangelische Theologumena wie Rechtfertigungslehre und Schriftverständnis kommen nur insofern in Betracht, als die Bibel als „Volksbuch" die selbständige Bildung hebt und die Werke im Katholizismus „äußerlich auf Autorität" hin geschehen.13 Luthers Obrigkeitsverständnis, seine Christologie und Gnadenlehre im engeren Sinne finden kaum Erwähnung; eigentümlicherweise wird der „Begriff des freien Willens" im Wirkungskreis der Reformation verortet und auf seine Bedeutung für die politische Welt abgeklopft.14 Die überragende Bedeutung Luthers liegt demgegenüber in der Aufhebung von Mönchtum, Ehelosigkeit, Fasten und Bettelei; seine vorgebliche Legitimierung des Zinses verbindet sich mit dem für Hegel zentralen Merkmal der ethischen Folgen der Reformation, daß nunmehr das bürgerliche Erwerbsleben in sittlich-religiöse Geltung gesetzt worden sei. Ansonsten ist die „lutherische Lehre ... ganz die katholische" - allerdings ohne äußerlichen Autoritätsglauben, das entscheidende Zeichen des römischen Katholizismus.15 Doch der von Luther angestoßene Hang zur Verinnerlichung führt in Verbindung mit einem übersteigerten Sündenbewußtsein auch zur Wendung des Protestantismus hin zum „kleinlichen Grübeln über den subjektiven Seelenzustand"16; die Beschäftigung hiermit hat „lange Zeit den Charakter einer innerlichen Quälerei und einer Jämmerlichkeit in sich gehabt" - „heutzutage" für viele ein Motiv zum Konfessionswechsel zugunsten des Katholizismus.17 Offensichtlich ist die Figur des protestantischen Prinzips' keine Kopie einer empirischen Gestalt des Reformationschristentums - weder einer der Theologie, noch einer des Kirchentums. Dieses Prinzip läßt sich nicht im 16., aber auch nicht im ausgehenden 18. oder beginnenden
11 ThWA 20,55. Nicht gemeint ist damit natürlich die Reihe großer protestantischer Philosophen, die ihrerseits die Theologiegeschichte vorangetrieben haben. 13 ThWA 12,498,495. 14 ThWA 12,497. 15 Th WA 12, 495. Will man die von E. Troeltsch geprägte Unterscheidung zwischen Alt- und Neuprotestantismus aufnehmen, so gehört Luther nach Hegel auf die Seite eines noch in mittelalterlichem Denken verwurzelten Altprotestantismus. 16 ThWA 12, 505. Hierin sieht Hegel die Wurzel der auf protestantischem Boden aufblühenden irrationalen Beschäftigung mit dem ins Dämonische umschlagenden Bösen, aus dem der Teufels- und Hexenglauben mitsamt der entsprechenden Verfolgungen seine Nahrung zog. 17 Ebd. Gemeint sind die romantischen Konvertiten. 12
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19. Jahrhundert rein empirisch aufgreifen. Schon deswegen handelt es sich bei ihm um eine konstruktive Deutungsfigur, die die Hegelsche Philosophie aufbietet, um die ,Vernunft in der Geschichte' zu erhellen. Das protestantische Prinzip', als bloßes Prinzip eben auch noch weiterer ,Einbildung' in die Wirklichkeit bedürftig,18 ist mithin ein begriffliches Konzept, ohne das die Anschauung der historischen Geschehnisse blind, d. h. für Hegel vernunftlos werden müßte. Bleibt man dieses konstruktiven Charakters des protestantischen Prinzips' eingedenk, dann bedarf es freilich zugleich des Blicks auf die historischen Materialien, um das einem Idealtypus ähnelnde protestantische Prinzip' nicht zu einer bloßen Begriffskonstruktion ohne jeden geschichtlichen Anhalt verkommen zu lassen. Nur so läßt sich die ,Wechselbestimmung' von Vernunft und Welt, von Begriff und Empirie unter Einbeziehung von deren Differenz fruchtbar machen und von einer leeren Selbstbespiegelung des vorgeblich mit der Empirie identischen Begriffs - oder umgekehrt unterscheiden. Zur Taxierung der geschichtsphilosophischen Leistungskraft der Figur des protestantischen Prinzips' ist es deshalb einerseits erforderlich, seinen begrifflichen Aufbaumomenten nachzugehen, wie andererseits, seine historische Bedeutung auszumitteln.
2. ,Unendliche Subjektivität' und Freiheit' als Leitbegriffe von Hegels Verständnis des Christentums In Kontrast zu dem Desinteresse, das Hegels Darlegungen bezüglich der Einzelheiten der historischen Ursprungsgestalt des Protestantismus zeigen, steht Hegels Entschiedenheit bei der Bestimmung seiner wesentlichen Charaktere. „Luthers einfache Lehre" konzentriert sich in der Freisetzung der ,,unendliche[n] Subjektivität" des diesseitigen Menschen gegenüber allem äußerlichen Autoritätsglauben; weiterhin zielt sie auf „eigene" und „subjektive Gewißheit des Ewigen", die dem Subjekt „nach seinem Wesen" in der Erfüllung „mit dem göttlichen Geiste" zukommt; ferner beinhaltet sie ein subjektives „zu eigen [Machen]" des objektiven Inhalts der Kirchenlehren.19 Diese Charaktere von Luthers Lehre finden schließlich ihre Zusammenfassung in der ,,christliche[n] Freiheit": „Dies ist der wesentliche Inhalt der Reforma-
is Vgl. ThWA 20,50; ThWA 12,496. 19 ThWA 12,494-496.
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tion; der Mensch ist durch sich selbst bestimmt, frei zu sein."20 Freiheit, Gewißheit und unendliche Subjektivität rücken also in den Rang von wesentlichen Leitbegriffen für Hegels Protestantismusverständnis, an denen auch das hinter ihnen Zurückbleibende der historischen Erscheinung des Reformationschristentums kritisch beurteilt werden kann. Sie fungieren - cum grano salis - als zentrale Momente einer transzendental-theoretischen Konzeptualisierung im Interesse der ,denkenden Betrachtung' der nachreformatorischen Geschichte, in der die Gehalte jener Leitbegriffe zu ihrer Verwirklichung drängen. Schon deshalb können die Leitbegriffe nicht lediglich empirisch aufgegriffen sein. Allerdings sind sie auch keine bloßen Begriffskonstrukte bar aller geschichtlichen Sättigung. Das erhellt daraus, daß diese Leitbegriffe zugleich den Kulminationspunkt von Hegels religionsphilosophischer -und d. h. für Hegel immer auch: religionsgeschichtlicher - Christentumsdeutung darstellen. Hierin markieren sie den Punkt, an dem das Christentum seine in engerem Sinne religiöse Gestalt als vom theoretischen Vorstellen geleitetes Bewußtseinsformativ überschreiten muß auf eine praktische Realisierung seines Gehalts in den Formen weltlicher Sittlichkeit. Dabei werden diese jedoch ihrerseits erhoben zu eigenständigen Realisaten des Gehalts jener für das Christentum signifikanten Leitbegriffe. Mit dieser Überschreitung von Religion in Sittlichkeit und ihrer Erhebung zu deren Realisaten geht jedoch zugleich ein Abbau an direkter religiöser Legitimation sittlicher Formationen einher: Sie können gerade nur in ihrer weltlich-praktischen Autonomie ,unendliche Subjektivität' und ,Freiheit' darstellen.21 Religionsphilosophisch rücken diese Leitbegriffe insofern ins Zentrum von Hegels Christentumsdeutung, als das Christentum die letztgültige Fundierung des unendlichen Wertes des Menschen als Menschen geschichtlich heraufführt. Entstanden in der Universalität des römischen Reiches der Kaiserperiode, löst es die im römischen Privatrecht verankerte Anerkennung der Person mittels der äußeren Zufälligkeit des Besitzes ab durch die Anerkennung der Person als solcher; da20 ThWA 12,496,497. 21
Das praktisch-philosophisch der Moralität zuzuordnende und geschichtsphilosophisch im Zusammenhang mit der germanischen Innerlichkeit stehende Gewissen läßt sich eng an den Freiheitsbegriff heranrücken, da es in der Perspektive einzelmenschlichen Selbstbewußtseins das gleiche Thema wie der Freiheitsbegriff hat: nämlich die Vermittlung von besonderer und allgemeiner Subjektivität. Hiermit ist freilich nicht der in individuelle Willkür umschlagende Gewissensvollzug gemeint, wie er ebenso in moralischen wie religiösen Kontexten beobachtbar ist.
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mit kommt die aller Bestimmtheit durch Eigentum und gesellschaftlichen Stand vorausliegende subjektive Freiheit des einzelnen zur allgemeinen Geltung.22 Diese jedem einzelnen zu eigene Freiheit geht schon aufgrund ihrer Fundierung in einem Verhältnis der Anerkennung nicht in bloßer Willkür auf. Deshalb ist es im Christentum um eine wechselseitige Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem, von individuellem Selbstsein und sozialem Anderssein zu tun. Eben für sie steht das symbolische Zentrum des Christentums: die Menschwerdung Gottes. Ihr Sinngehalt ist nicht der Mythos von der Inkarnation eines supranaturalen Himmelswesens, sondern sie ist die Vorstellungsweise, in der „die Individualität als positiv im göttlichen Wesen gewußt wird".23 Mit der Vorstellung von der „Einheit des Menschen und Gottes" bringt die christliche Religion also den Umstand zum Ausdruck, daß „der Mensch ... selbst in dem Begriffe Gottes enthalten" ist.24 Freilich ist dies das Resultat der Deutung der Geschichte und des Todes Jesu durch die urchristliche Gemeinde, welche mit ebendieser Deutung sich konstituiert. Erfaßt die Gemeinde in ihrer deifizierenden Deutung Jesu, daß die Menschwerdung Gottes nur in einem kontingenten Individuum stattfinden kann, dann begreift sie auch, daß dieses Individuum aufgrund seiner stets anderes ausschließenden Exklusivität zu überschreiten ist hin auf die in ihm Gott erblickende allgemeine Subjektivität: „In Einem - Alle".25 Doch damit holt die christliche Gemeinde in ihrer Entstehung nur die subjektivitäts- und geistphilosophische Grundbestimmung von Religion überhaupt auf religionsgeschichtliche Weise ein. Religion ist für Hegel die vorstellungshafte Vergegenwärtigung der Bestimmtheit des Selbstvollzugs von endlicher, weil durch Intentionalität und Reflexivität gleichermaßen charakterisierter, Subjektivität. Diese Vergegenwärtigung geschieht mit Hilfe der Idee des Unendlichen26, genauer, durch dessen Funktion für die wechselseitige Durchdringung des VerhältnisVgl. ThWA 12,385 ff. 23 ThWA 12,70. 24 ThWA 12,392. 25 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3: Die vollendete Religion. Hg. v. W. Jaeschke. Hamburg 1984 [= VR]. 49. Vgl. zu Hegels Christentumsdeutung W. Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels. Stuttgart 1986. 26 Diese Formulierung lehnt sich nicht an Hegels spezifische Begrifflichkeit an, da sie dann Hegels Kritik des Unendlichkeitsbegriffs einbeziehen müßte; sie ist pragmatisch um der Kürze willen zur Explikation des religiösen Verhältnisses von Endlichem und seinem komplementären Pendant gewählt. 22
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ses von Gottesbewußtsein und Gottesgedanken, in dem die Idee des Unendlichen religiös gefaßt wird. In diesem Verhältnis erfüllt sich der immanente Sinngehalt des Unendlichkeit repräsentierenden Gottesgedankens schließlich in einem Aufschluß der internen Bestimmtheit von endlicher Subjektivität; in diesem Aufschluß über ihre eigene Bestimmtheit erhebt sie sich zugleich über ihre bloße Endlichkeit, insofern sie selbst um sich selbst weiß. Da ihr eine unmittelbare Introspektion verwehrt ist, geschieht dieser Aufschluß eben über den Umweg des Gottesgedankens. In seiner komplexen Logik stellt er exemplarisch den Aufbau der Struktur Subjektivität' dar und geht zugleich in die über sich Aufschluß findende Subjektivität ein. Durch diese immanent-gegenläufige Doppelbewegung im religiösen Verhältnis von Endlichem und Unendlichem, von Gottesbewußtsein und Gottesgedanken wird es möglich, daß die menschliche Subjektivität sich selbst in der ihrerseits die immanent-gegenläufige Doppelbewegung begrifflich zusammenfassenden Struktur des Geistes vergewissert und auslegt. Diese Struktur ist die eines ihrem Binnenverhältnis entsprechenden Außenverhältnisses. In ihr erschließt der prozessuale und relationale Grundcharakter des Geistes27 die Freiheit und Unendlichkeit von Subjektivität insofern, als sie hierin ihr Selbstsein und Selbstverhältnis als ein solches zu erfassen vermag, das sich gerade im Verhältnis zum Anderssein gewinnt ist doch Anderssein schon im Aufbau von Selbstsein mit der Intentionalität reflexiver Subjektivität gesetzt. Ein von allem anderen separiertes Selbstsein jedoch verkommt in leerer Abstraktion. Da dies in der christlichen Religion über eine komplexe Logik des Gottesgedankens, seiner Menschwerdung und deren Aneignung durch die Gemeinde versinnbildlicht ist, ist für Hegel das Christentum die Religion der Freiheit und der absoluten, unendlichen Subjektivität.28
27 Dessen Selbstbewußtsein stellt nach Hegels spekulativer Religionsformel eben die Religion im weiteren Sinne dar - allerdings so, daß das Selbstbewußtsein des Geistes sich gerade im religiösen Bewußtseinsverhältnis von Selbst- und Gottesbewußtsein realisiert. 28 Vgl. nur VR, 76,106 ff, 194 u. ö. Zur näheren Erläuterung und Begründung der hier notwendigerweise sehr knapp skizzierten religionsphilosophischen, christentumstheoretischen und dogmenhermeneutischen Argumentation Hegels verweise ich auf meine ausführliche Darstellung: Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Studien zum Verhältnis von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Hegel und Schleiermacher. Tübingen 1996.203-307.
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3. Die Realisierung der Religion in der Sittlichkeit Wenngleich Religion überhaupt dadurch ausgezeichnet ist, die Struktur Subjektivität' sub specie mentis mit Hilfe der Logik religiös-theologischer Inhalte für ein vorstellendes Bewußtsein zu vergegenwärtigen, so kann sich Religion gleichwohl nicht in einem theoretisch-vorstellungshaften Bewußtseinsverhältnis erschöpfen. Vielmehr zielt Religion darauf, daß sich das einzelne religiöse Bewußtsein in Entsprechung zu seiner religiös explizierten „Unendlichkeit in ihm selbst"29 im praktischen Kult-Verhältnis über seine bloße Partikularität erhebt. Dies kann zunächst in einem in der Innerlichkeit mentaler Vollzüge wie Glauben und Gefühlsandacht sich abspielenden Vorgang geschehen. Doch aufgrund der gerade auch hierin herrschenden Trennung von Jenseits und Diesseits, von Religion und Welt ist es Hegel darum zu tun, die praktischen religiösen Vollzüge in weltlicher Sittlichkeit gipfeln zu lassen. Ist der Kultus die Reinigung des Menschen von seiner „unmittelbaren Natürlichkeit" und die Durchbildung des Herzens zum Allgemeinen, dann vollendet sich „diese Bearbeitung der Subjektivität,... wenn sie durch und durch ausgeführt wird und einen bleibenden Zustand schafft,... als Sittlichkeit, und auf diesem Weg geht die Religion hinüber in die Sitte, den Staat".30 Insofern die Sittlichkeit ihrerseits die Bildung der Subjektivität zum Konkret-Allgemeinen und deren Erhebung über ihre bloße Partikularität beinhaltet, ist die Sittlichkeit selbst „der wahrhafteste Kultus".31 Mittels des an der christlichen Religion gewonnenen Begriffs der unendlichen Subjektivität entfaltet Hegel deshalb sein pneumatologisches Konzept der „Realisierung des Geistigen der Gemeinde zur allgemeinen Wirklichkeit".32 Es besteht im Kern darin, daß die adäquate Realität der Gemeinde die Welt der SittUchkeit ist. Denn Sittlichkeit ist die allgemeine Objektivierung der in sich unendlichen Subjektivität. In die Sittlichkeit entäußert sich deshalb die religiös zunächst im Inneren beheimatete Vergegenwärtigung der unendlichen Subjektivität und univer29 ThWA 12,403. 30 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1: Einleitung. Der Begriff der Religion. Hrsg. v. W. Jaeschke. Hamburg 1983 [= BR]. 339. 31 BR, 334. 32 VR, 262; dies Konzept aus der Religionsphilosophie-Vorlesung von 1827 löst den resignativen Schluß des Kollegs von 1821 ab, demzufolge aufgrund des Verfalls der Religionskultur in Hegels Gegenwart ein isolierter philosophischer Priesterstand die religiöse Wahrheit zu hüten habe.
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salisiert sich hierin zu einer Welt der Freiheit. Sittlichkeit ist gleichsam die Gestaltung einer zweiten Natur, in der humane Subjektivität - entsprechend ihrer das Anderssein umfassenden Unendlichkeit - sich im anderen auf sich selbst bezieht und darin frei ist. Mit Hegels Worten: Das religiös „in sich unendliche Subjekt" verhält sich „zum Weltlichen, Wirklichen als bei sich selbst seiende, in sich versöhnt seiende, schlechthin feste und unendliche Subjektivität".33 Eben damit die religiös im kultischen Zusammenschluß mit dem Göttlichen geleistete Versöhnung nicht auf ein partikulares Inneres beschränkt wird und ihrer Allgemeinheit widerspricht, ist es „darum zu tun, daß diese Versöhnung auch in dem Weltlichen vollbracht sei".34 Die Versöhnung im Weltlichen aber ist dessen Erhebung zur Sittlichkeit. „Die wahre Versöhnung, wodurch das Göttliche sich im Felde der Wirklichkeit realisiert, besteht in dem sittlichen und weltlichen Staatsleben: Dies ist die wahrhafte Subaktion der Weltlichkeit".35 Diese Realisierung der Religion in Gestalt von Sittlichkeit steht freilich nicht am Anfang der Christentumsgeschichte. Wenngleich sie dem Begriff des Christentums entspricht, ist die enge Verbindung von Religion und Sittlichkeit erst durch die Reformation realisiert worden, welche die älteren Kirchengestalten, die teils nach dem Ideal der Separierung der Gemeinde von der Welt, teils nach dem der Beherrschung der Welt durch die Kirche organisiert sind, ablöst. Das altkirchliche Ideal eines kontemplativen monastischen Lebens wird in der Reformation ebenso überwunden wie das mittelalterliche einer Subsumtion der politischen Welt unter die klerikale Hierarchie. Denn indem die Reformation das Prinzip der freien Subjektivität gegenüber dem römischen Autoritätssystem religiös durchsetzt, befreit sie auch die weltliche Sittlichkeit von dem Verdacht der bloßen Profanität und Unheiligkeit. Das „Weltliche" wird im Gefolge des Reformationschristentums für fähig gehalten, „das Wahre in ihm zu haben, wogegen das Weltliche vorher nur für böse galt, unfähig des Guten, welches ein Jenseits blieb. Es wird nun gewußt, daß das Sittliche und Rechte im Staate auch das Göttliche und das Gebot Gottes sind und daß es dem Inhalte nach kein Höheres, Heiligeres gibt".36 Neben der Aufhebung der Trennung von Klerus und Laien, derzufolge der von Laien verwaltete Staat eo ipso in minderer 33 VR, 262. 34 VR, 263. 35 VR,264. 3« ThWA 12,502.
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Geltung steht, führt Hegel - wie schon erwähnt - beständig die reformatorische Verwerfung von Ehelosigkeit und Mönchtum, des religiös motivierten Betteins und des Armutsideals an; überstrahlt werden diese Leistungen der Reformation von ihrer Autoritätskritik, welche mit der vorherigen „Verknechtung des menschlichen Geistes" aufgeräumt hat.37 Da sich „Religion ... nicht in einen Seelenwinkel eingrenzen" läßt, sondern, „was immer zum menschlichen Leben gehört, umfaßt und lenkt,... ist bei einer Reformation der Religion die Grundlage auch von Staat, Gesetz und Sitte zu reformieren."38 „Bürgerliche Freiheit und Gerechtigkeit", „endlich die freie Übereinstimmung von Staat und Religion" - das ist für Hegel „das überaus kostbare Erbe ... der evangelischen Religion".39
4. Die Funktion der Philosophie für das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit Diese - durchaus harmonistische - Verbindung von Religion und Sittlichkeit wirft freilich einige systematische Schwierigkeiten auf. Zwar ist es eine Konsequenz der für die christlich-protestantische Religion signifikanten Leitbegriffe der ,Freiheit' und ,unendlichen Subjektivität', daß die Religion den Binnenraum des theoretischen Vorstellungs- und des praktischen Kultverhältnisses überschreiten muß, um die Trennung von Innen und Außen, Heilig und Profan, Jenseits und Diesseits zu überwinden. Aber daß die Religion mit dem die Sittlichkeit krönenden Staat übereinstimmt, wirft nicht nur Schwierigkeiten angesichts der konfessionellen Religionsinstitutionen auf, sondern hintertreibt auch die im Reformationschristentum grundsätzlich erreichte Differenzierung von Religion und Politik. Weiterhin unterschlägt das Theorem der Übereinstimmung beider den Umstand, daß Sittlichkeit und Religion auch in Hegels Systematik verschiedenen Sphären des Geistes angehören: Die Religion als Gestalt des absoluten Geistes erfüllt sich danach in 37
Vgl. Hegels Akademische Festrede zur dritten Säkularfeier der Confessio Augustana. Hrsg, und übersetzt von S. Strohm. In: Ders.: Freiheit des Christenmenschen im Heiligtum des Gewissens. Die Fundierung des Hegelschen Staatsbegriffs nach seiner „Akademischen Festrede zur dritten Säkularfeier der Confessio Augustana", gehalten am 25. Juni 1830 in Berlin. In: Blätter zur württembergischen Kirchengeschichte 80/81 (1980/81), 204-278, darin die Edition und Übersetzung der Rede: 208-229; hier: 223. 3» Ebd. 39 AaO.,225,227.
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einer des objektiven Geistes. Und schließlich steht diesem Ausgang der Religion in die Sittlichkeit ihre Aufhebung in die Philosophie gegenüber, welche in der Sequenz der Formen des absoluten Geistes auf die Religion folgt. Um mit dem letzten Punkt zu beginnen: Die Aufhebung der vorstellungsgebundenen Religion in engerem Sinne in die in der Form des begreifenden Denkens tätige Philosophie ist eine Gedankenfigur, die sich zwingend aus Hegels Systematik des absoluten Geistes ergibt.40 Zwar ist es hierin nicht um die Aufhebung der Religion überhaupt zu tun bezeichnet Hegel doch die gesamte Sphäre des absoluten Geistes „im allgemeinen" als Religion -, aber das mit der religiösen Vorstellungsform verbundene „Auseinandertreten" und „zeitliche und äußerliche Aufeinanderfolgen" der religiösen Inhalte macht ihre gedankliche Kritik und Überführung in die Begriffsform notwendig.41 Dies liegt nicht nur an den religiösen Explikationsweisen der Narration oder der sinnlichen Metaphembildung für nichtsinnliche Sachverhalte. Sondern es ist vielmehr auch darin begründet, daß das religiöse Bewußtsein die innere und in sich gegenläufige Logik, in der sich seine Themen wie Gottesgedanke, Christologie und Pneumatologie miteinander verbinden, sowie die hierzu noch einmal gegenläufige Verflechtung derselben mit dem rehgiösen Selbstbewußtsein, nur partiell durchdringt und deren logisches /Zugleich' in einer bloß sukzessiven Aneinanderreihung der entsprechenden Themenbestände verdeckt: Ihm erscheint die /Unendliche Subjektivität' als partiell im Jenseitigen, sei es des Raumes, sei es der Zeit, verbleibend, obwohl es selbst eben diese ist. Deshalb kennt das religiöse Bewußtsein die Struktur des Geistes nur als gegenständliches Bewußtseinsverhältnis. Es weiß sich aber nicht gleichermaßen selbst als Vollzugsinstanz des ,Selbstbewußtseins des Geistes' - um Hegels spekulative Religionsformel heranzuziehen. Aus diesem Grund geht es in der Aufhebung der rehgiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff darum, den Gehalt der Religion unter seiner momentanen Negation in die „immanente Einfachheit" des Denkens zu überführen, in der das „Zusammenschließen des Geistes mit sich selbst" gewußt wird „als ein untrennbarer Zusammenhang des allgemeinen, einfachen
40
Vgl. hierzu F. Wagner: Die Aufliebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff - Zur Rekonstruktion des religionsphilosophischen Grundproblems der Hegelschen Philosophie. In: Ders.: Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit. Gütersloh 1989.204-232. « E§§554,571.
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und ewigen Geistes in sich selbst".42 Bei diesem Vorgang kommt es zu einer Veränderung des religiösen Inhalts: Der Begriff stellt keine gleichsam philosophische Dogmatik dar. Vielmehr bestimmt sich in der philosophischen Begriffsform diese selbst zum Inhalt, so daß in deren SichWissen die im religiösen Vorstellen unüberwindliche Differenz von Form und Inhalt getilgt wird. Die hiermit erreichte Erkenntnis des Geistes im selbstbewußten Denken wird von Hegel daher auch als Überwindung der Differenzen von Begriff und Reaütät sowie von Prinzip und Element beschrieben.43 So einsichtig die systematischen Gründe dafür sind, daß im absoluten Geist die Aufhebung der vorstellungsgebundenen Religion - ähnliches gilt für die anschauungsgeleitete Kunst - in die Begriffsform geschieht, so problematisch wird jedoch die Stellung der Philosophie, wenn sie sich nur noch in ihrem eigenen logisch-wissenschaftlichen Element bewegt. Denn sie wird jenseits der Erfüllung der Funktion, die sich aus der Überschreitungsbedürftigkeit der immanenten Widersprüche der niederen Gestalten des absoluten Geistes ergibt, ortlos und tendenziell leer. Deshalb beinhaltet sie selbst nichts anderes als einen Rückblick auf ihre realphilosophischen Gehalte; als /philosophische' Philosophie umfaßt sie lediglich eine, wenn auch syllogistisch komplexe, dreifache Rekapitulation der Gesamtsystematik. Neue Themenbestände kennt sie nicht. Deshalb nimmt es nicht wunder, wenn Hegel die Philosophie aufgrund ihrer interesselosen Selbstgenügsamkeit exoterisch geradezu als eine Nachfolgegestalt des monastisch-weltabgewandten und nur im Dienste des Ewigen stehenden Standes beschreiben kann - etwa in der Berliner Antrittsrede, die in zeitlicher Nähe zu dem Schluß des das Bild vom philosophischen „Priesterstand" beschwörenden Rehgionsphilosophie-Manuskripts liegt.44 Wie aber diese „völlige Ausscheidung" des philosophischen Priesterstands „nur partiell sein" kann,45 so kann auch eine substantialistische Apartsetzung der /philosophischen' Philosophie von ihrer transzendentaltheoretischen Prinzipienfunktion für die Durchdringung und Balancierung der Realien angesichts ihrer inneren Gegenläufigkeit nicht das einzige Wort Hegels zur Philosophie sein. Eben dies kommt zur Geltung in der Bedeutung der Philosophie für die Verhältnisbestim42 E§571. 43 Vgl. E§§ 573,574,553. 44 VR, 96 f; vgl. ThWA 10,413. 45 ThWA 10,413.
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mung von Religion und Sittlichkeit unter den Bedingungen geschichtlichen Werdens. Denn es ist insbesondere die Philosophie, die die Einsicht vermittelt, daß Religion und Sittlichkeit zusammengehören, gerade auch dann, wenn - wie in der Neuzeit - ihre jeweiligen institutionellen Gestalten nicht zusammenfallen können. Indem die Philosophie zum wechselseitigen Aufschluß von Sittlichkeit und Religion ihren unverzichtbaren Beitrag leistet, dokumentiert sich exemplarisch deren funktionale Selbstverortung unter den neuzeitlichen Bedingungen der Dissoziation von religiösen und sittlichen Gestalten. In dieser Funktion steht die Philosophie dafür, den kognitiven Gehalt des protestantischen Gewissens' zu explizieren und bildungspraktisch auf die Gestalten von Sittlichkeit und Religion zu applizieren. Bietet Hegel doch die „philosophische Einsicht"46 gegen eine Einhausung der Religion in ihre partikularen Vorstellungswelten und die ihnen entsprechenden konfessionellen Kirchentümer auf - und ebenso gegen eine Reduktion der sittlichen Institutionen, insbesondere des Staates, auf Erfüllungsinstanzen von willkürlichen Einzelinteressen sowie auf eine bloße Not- und Verstandesordnung. Diese Funktion vermag die Philosophie allerdings nur deshalb zu erfüllen, weil Sittlichkeit und Religion an sich in einem Verhältnis der wechselseitigen Übersetz- und Uberschreitbarkeit stehen. Sie liegt in der geistphilosophisch gegründeten ,unendlichen Subjektivität' und ,Freiheit' beschlossen, also im Vollzug einer Vermittlung von Besonderheit und Allgemeinheit, welcher sich zugleich auch in einer entsprechenden Wissensgestalt selbst vergegenwärtigt. Der Religion eignet diese Wissensgestalt in der Vorstellung von der Einheit des Göttlichen und Menschlichen, und sie vollzieht deren Gehalt im Kultverhältnis. Die Sittlichkeit tätigt jenen Vermittlungsvollzug in ihren im modernen Staat zusammengefaßten Institutionen,47 und sie besitzt im kodifizierten Recht ihre eigene Wissensgestalt. Daß beide, obgleich solcherart bereits jeweils für sich eine /Totalität', in einem Verhältnis der Übersetzund Überschreitbarkeit stehen, wurzelt darin, daß die Religion insgesamt eine primär in der Sphäre der Innerlichkeit des Bewußtseins angesiedelte Reflexion der Prinzipien des sittlichen Geistes darstellt, wäh-
46
R § 270, Anm., Zus. Vgl. nur R § 260: „Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten." 47
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rend die Sittlichkeit es vornehmlich mit der Gestaltung äußerer Weltverhältnisse zu tun hat. Doch wie diese Weltgestaltung nach einer gedanklichen Vergewisserung ihrer absoluten, gleichsam göttlichen Geltung drängt, so verlangt jene geltungsorientierte Prinzipienreflexion nach Selbstanwendung im Element der Wirklichkeit. Deshalb können sie unbeschadet des Unterschieds zwischen den Sphären des objektiven und des absoluten Geistes zusammenstimmen - sofern deren Formunterschied in philosophischer Einsicht gehalten ist. Beide Sphären stehen - trotz ihrer hierarchischen Sequenz in der Anordnung innerhalb von Hegels Systemkonzept - auch nicht in einem bloßen Aufstufungs- oder Folgeverhältnis: Ebensowenig wie die Formen des subjektiven Geistes als solche im objektiven oder absoluten verschwunden' wären,48 lassen die des absoluten einfach die des objektiven obsolet werden. Zwar übt der absolute Geist auch eine Sollensfunktion gegenüber dem objektiven aus, aber diese wäre hintertrieben, wollte man die letzte Sphäre des Geistes, in der der Begriff des Geistes seine Realität im Geist aufschlägt, von seinen sozio-kulturellen Objektivationen abstrakt abtrennen: Eben in sie hat sich die Vernünftigkeit' des Geistes geschichtlich eingebildet. Deshalb kann Hegel in der Anmerkung zum Paragraphen 552 der Enzyklopädie, die den Übergang von objektivem zu absolutem Geist mit einer Erörterung des Verhältnisses von Religion und Staat verbindet, die „wahrhafte Religion ... nur aus der Sittlichkeit hervor [gehen]" sehen und in Umkehrung ihrer Herkunft zugleich „das wahrhafte Sittliche [als] Folge der Religion" beschreiben.49 Denn die Religion ist „die denkende, d. i. der freien Allgemeinheit ihres konkreten Wesens bewußtwerdende Sittlichkeit"; „außerhalb des sittlichen Geistes ist es daher vergebens, wahrhafte Religion und Religiosität zu suchen."50 Aller48
Im absoluten Geist stehen sie vielmehr für die Organisation seiner Gestaltmomente
ein. 49
E § 552, Anm. Bezeichnenderweise hat Hegel diese Anmerkung in der 2. Auflage der Enzyklopädie - die Erstauflage bietet sie noch nicht - im absoluten Geist verortet, um dem Ausgang der vollendeten Religion aus der Kunst noch einen zweiten aus der im Staat realisierten Sittlichkeit zur Seite zu stellen: „Die wahrhafte Religion hat noch ein anderes Rückwärts als die Kunst, nämlich in der Erscheinung der wissenschaftlichen Folge, den Staat" (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1827], GW 19. Hrsg. v. W. Bonsiepen u. H.-Ch. Lucas. Hamburg 1989. § 563, Anm.). - Einen Übergang von der Religion und ihrer Institutionalität zur staatlichen Institutionalität der Sittlichkeit kennt bereits das Manuskript von 1805/06, das zur Mediatisierung von deren Differenz auch bereits die philosophische Wissenschaft heranzieht (vgl. Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1931.269 ff). so Ebd.
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dings hat „dieses Hervorgehen ... wie überall im Spekulativen die Bedeutung, daß das zunächst als Folgendes und Hervorgegangenes Gestellte vielmehr das absolute Prius dessen ist, durch das es als vermittelt erscheint“51 - ein Sachverhalt, der nur dadurch bewährt werden kann, daß das ,Prius' sich seinerseits als Grund für das erweist, aus dem es ,hervorgegangen' ist. Dann aber kann es ihm nur um den Preis eines für den Geist unangemessenen mechanischen Kausalitätsverhältnisses äußerlich bleiben. Darum geht die Religion selbst in die Sittlichkeit als ihre Vollzugsweise ein, und die Sittlichkeit reflektiert ihrerseits in der Religion ihren Geltungsgrund. Bei dieser Verbindung von Religion und Sittlichkeit darf jedoch nicht die Formdifferenz zwischen beiden Sphären abgeblendet werden. Anderenfalls wäre die neuzeitliche Dissozüerung von Politik und Religion untergraben; dies geschieht nach Hegel ebenso in einem romantischtheokratischen Staatsverständnis, das die freiheitsermöglichende Formalität des Rechts aushebelt, wie in einer strikt laizistischen Religionsgesetzgebung, in der die reine Säkularität des Staates letztlich durch politische GesinmmgsVerpflichtungen und -kontrollen gesichert wird. Aus diesem Grund bietet Hegels Konzeption des protestantischen Gewissens' die philosophische Einsicht auf, die erkennt, daß Religion und Sittlichkeit sowie deren institutioneile Gestalten „nicht im Gegensätze des Inhalts der Wahrheit und Vernünftigkeit, aber im Unterschied der Form stehen."52 Indem die Philosophie diese differenzbestimmte Relation zur Geltung bringt, differenziert sich auch die Wissenschaft des Allgemeinen selbst zu „einer ihrer [sc. der absoluten Wahrheit] Formen" aus.53 Geschichtlich die Religion im Rücken habend, aber institutionell als freie Wissenschaft von seiten des Staates ausgehend und unter dessen Schutz stehend, vermag die Philosophie somit deutlich zu machen, daß der Unterschied der Formen von Sittlichkeit und Religion auch zur besonderen Existenz kommen muß.
51 Ebd. 52 R § 270, Anm. 53 E§ 552, Anm.
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5. Die getrennten institutionellen Formen von Sittlichkeit und Religion und die geschichtsphilosophische Bedeutung der Kirchenspaltung Wenngleich Hegel diesen Unterschied in systematischer Perspektive namhaft macht, so hat diese Perspektive doch einen geschichtsphilosophischen Hintergrund. Denn die Herausbildung dieses Unterschieds in der Existenz der Formen von Sittlichkeit und Religion ist das geschichtliche Resultat der durch die Reformation bewirkten Kirchenspaltung. Durch sie kommt es ebenso zur Entstehung des modernen Staates wie zu Konfessionskirchentümern, in denen die Religion ihre besondere institutionelle Gestalt findet. Allerdings stehen diese nicht im Mittelpunkt von Hegels Interesse: Nicht nur begreift er das theologische Lehrstück der Ekklesiologie im Zeichen von gemeinde' - welche nichts weniger als die religiöse Existenz Gottes darstellt54 sondern es ist ihm religionsphilosophisch auch um eine „Umwandlung"55 und Umformung der Gemeinde zu tim, in der sie gerade ihre kirchliche Gestalt überschreitet. Schon deshalb korrespondiert Hegels enger Verbindung von Religion und Sittlichkeit die strikte Unterscheidung von Kirche und Staat. Folglich ist ,Religion' auch nicht mit ,Kirche' gleichzusetzen.56 Da bereits im Reformationszeitalter die Kirche „hinter den Weltgeist zurück[zutreten]" beginnt und da die /Realisierung des Geistigen der Gemeinde' unter Negation von deren kirchlicher Partikularität auf ihre Bildung zum Denken und zur Sittlichkeit hinausläuft, kann kein konfessionelles Kirchentum die endgültige Wirklichkeitsgestalt der Religion sein.57 Dies gilt auch für die protestantische Kirche - mag sie auch in Preußen ihre „politische Garantie ... vollendet" gefunden haben.58 Eben der Überschritt der Religion über ihre kirchliche Gestalt hinaus ist das Spezifikum des Protestantismus: Sein Prinzip ist das der Umformung. Deshalb ist die Kirchenspaltung auch für die Kirche „das Glück54
Vgl. VR, 254. Zu den geistphilosophischen Implikationen von Hegels Gemeinde-Begriff vgl. H. Scheit: Geist und Gemeinde. Zum Verhältnis von Religion und Politik bei Hegel. München 1973. 55 VR, 262. 56 Diese - schon terminologisch bei Hegel nachweisbare - Differenz zwischen Staat und Kirche innerhalb des Konzepts der Verbindung von Religion und Sittlichkeit wird weder von K. Leese (Die Geschichtsphilosophie Hegels. Auf Grund der neu erschlossenen Quellen untersucht und dargestellt. Berlin 1922), noch von R. Maurer (Hegels politischer Protestantismus. In: Stuttgarter Hegel-Tage 1970. Hegel-Studien. Beiheft 11. Bonn 1974, 383-415) hinreichend beachtet. 57 ThWA 12,492. 58 ThWA 12,519.
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lichste, was [... ihr] für ihre eigene und was dem Gedanken für seine Freiheit und Vernünftigkeit hat widerfahren können".59 Insbesondere als protestantische Kirche kann sie sich deshalb ihrer eigentümlichen Aufgabe widmen: der Bildung der einzelnen, in der sie sich als bloße Kirche zugleich transzendiert - besteht doch „der Protestantismus ... nicht so sehr in einer besonderen Konfession als im Geiste des Nachdenkens und höherer, vernünftiger Bildung".60 In eben diesem Geist ist auch Hegels eigenes Bemühen um die Religion gehalten: Es sucht das religiöse Bewußtsein zum vernünftigen Begreifen des religiösen Inhalts anzuleiten und damit zugleich einen Beitrag zu leisten gegen die in der Vorstellungsform angelegten religiösen Verfallstendenzen, manifestieren sie sich in einer objektivistisch-orthodoxen oder einer subjektivistisch-neupietistischen Weise. Schon deshalb kann Hegels lutherischer Protestantismus auch nicht in einer Konservierung der Theologie Luthers liegen: Wahrend diesem der religiöse Inhalt „ein Gegebenes", „Offenbartes" blieb, verficht Hegel das mit der Aufklärung aufgekommene „Prinzip ..., daß dieser Inhalt ein gegenwärtiger sei, wovon ich mich innerlich überzeugen könne".61 Darum ist jeder Glaubensinhalt kritikbedürftig, der nicht im Denken eingesehen werden kann. Solche Kritik läßt sich jedoch erst dann durchführen, wenn die institutioneile Autorität der kirchlichen Lehre abgebaut ist.62 Geschichtsphilosophisch entscheidend und der Negation der kirchlich-lehrmäßig bestimmten Religiosität entsprechend ist jedoch eine weitere Folge der Kirchenspaltung: nämlich die durch sie ermöglichte Herausbüdung des modernen Staates. Nur „über den besonderen Kir59 R § 270, Anm. Briefe von und an Hegel. Bd 1:1785-1812. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 31969.337. Vgl. zur Bedeutung der Bildung in Hegels Religionsphilosophie F. Wagner: Religion zwischen Rechtfertigung und Aufhebung - Zum systematischen Ort von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion. In: Ders.: Was ist Theologie? Gütersloh 1989.233-255. 61 ThWA 12,523. Überhaupt kann er die Bildungsleistung der Aufklärung zunehmend würdigen - trotz aller Polemik gegen ihre Verstandesfixierung, wie sie sich insbesondere in religionsphilosophischen und philosophiegeschichtlichen Kontexten zeigt. 62 Dieser Umstand ist für die Interpretation der bekannten Formulierung aus der Vorrede der Rechtsphilosophie von 1820 zu berücksichtigen, derzufolge „nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist", gleichermaßen das „Charakteristische der neueren Zeit" wie auch das „eigentümliche Prinzip des Protestantismus" sei (R, 27). Diese Parallelisierung von neuerer Zeit und Protestantismus wird von Hegel sodann im Sinne einer geradlinigen Entwicklung von der lutherischen Reformation hin zur gegenwärtigen Philosophie erläutert: „Was Luther als Glauben im Gefühl und im Zeugnis des Geistes begonnen, es ist dasselbe, was der weiterhin gereifte Geist im Begriffe zu fassen und so in der Gegenwart sich zu befreien und dadurch in ihr sich zu finden bestrebt ist" (ebd.). 60
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chen ... hat der Staat die Allgemeinheit des Gedankens, das Prinzip seiner Form" gewinnen und sie „zur Existenz" bringen können; nur durch die kirchliche Trennung „hat [er] werden können, was seine Bestimmung ist, die selbstbewußte Vernünftigkeit und Sittlichkeit".63 Schon in der Verfassungsschrift sieht Hegel, daß die Grundsätze, auf denen ein Staat beruht, „auf eine wunderbare Weise" durch die Religionsspaltung ,erahnbar' wurden: nämlich eine Einheit des Staates, welche sich durch die Verbindung „über äußere Dinge" herstellt.64 Und sie hat eben die „Spaltung" zur Voraussetzung, die „die Menschen in dem innersten Wesen auseinanderriß", also die Religionsspaltung.65 Gerade diese Spaltung bedingt aufgrund der ihr folgenden Kämpfe zwischen den Religionsparteien eine Emanzipation der staatlich-politischen Sphäre von den strittigen Religionsdingen und damit Anerkennung eines Staates, der über den Religionsparteien steht. Gewiß sind in diese geraffte Argumentation solche religionspolitisch zentralen historischen Sachverhalte wie das ius emigrandi und die Bedeutung des landesherrlichen Summepiskopats noch einzustellen. Sie werden auch in den späteren geschichtsphilosophischen Vorlesungen kaum gewürdigt. Hier wird der Vorgang der Konstitution des modernen Staates - genauer: der Mehrzahl moderner Staaten - vor allem über die Konflikte der Interessen rekonstruiert. Getreu der geschichtsphilosophischen Devise, wonach ,Interesse' bzw. ,Dabeisein' die Realisierung geschichtlicher Prinzipien und Gesetze vermittelt,66 begreift der reife Hegel das konfliktreiche Zusammenspiel der politischen Interessen der europäischen Mächte mitsamt deren religionspolitischen Gewinnen und Verlusten als historischen Entstehungszusammenhang des ,modernen Staates'. Jene ,wunderbare Weise' - oder gar mit einer späteren Formulierung: „List der Vernunft"?67 - der ,Erahnung' der Grundsätze des modernen Staates durch die Kirchenspaltung wird von Hegel nun darin gesehen, daß gerade das Ende des dreißigjährigen Krieges aus „Ermüdung" geschehen und „ohne Idee" geblieben ist, was einen „nur politische[n]" Fortgang der Geschichte ermöglicht hat.68 In dessen Linie liegt bekannt«3 R § 270, Anm. 64 ThWA 1,521. Vgl. zur Konzeption der Verfassungsschrift den Beitrag von Hans Maier: „... diese dritte universale Gestalt des Weltgeistes". Weltgeschichtliches Denken in Hegels Verfassungsschrift, in diesem Band. 65 ThWA 1,521. 66 Vgl. Einl 1830,158 f. 67 ThWA 12,49. 6» ThWA 12,516.
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lieh für Hegel die Etablierung der Idee des modernen Staates, bei der der zur konstitutionellen Monarchie gewandelte aufgeklärte Absolutismus eine entscheidende Rolle spielt.69 Diese schließlich von Hegel selbst systematisierte moderne Staatsidee liegt mithin im Bereich der geschichthchen Langzeitwirkung der reformatorischen Kirchenspaltung. Sie ist in Rechnung zu stellen, will man die fragwürdigen Metaphern Hegels vom Staat als dem „wirklichen Gott", welcher zugleich das Ziel darstellt des ,,Gang[es] Gottes in der Welt", angemessen interpretieren.70 Auf jeden Fall stehen diese Metaphern nicht für ein wie auch immer geartetes Staatskirchentum. Zwar kennt Hegels Philosophie einen Staat aus christlichem Prinzip, nicht aber einen christlichen Staat.71 Die Religion ist denn auch „nur Grundlage" des Sittlichen und des Staates, „und hier ist es, worin beide auseinandergehen".72 Dies gilt vor allem im Blick auf die besondere Existenz der Religion als Kirche. Institutionentheoretisch verficht Hegel deshalb eine deutliche Trennung von staatlichen und religiösen Einrichtungen: Die Einheit von Staat und Kirche ist mit Hegels ,protestantischem Prinzip' nicht vereinbar. Der Kirche kommt auch keine besondere politische Aufgabe oder Kompetenz zu - abgesehen von ihrer Bildungsaufgabe, in deren Konsequenz die Integration des Staates in „das Tiefste der Gesinnung" liegt.73 Als Korporation verfaßt und damit - wenn auch als „sittliche Wurzel des Staates" - der durch Entzweiung charakterisierten Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft zugeordnet, besitzt die Kirche außer besonderem staatlichen „Schutz" und „Vorschub" für ihren „religiösen Zweck" keine speziellen Vorrechte und Privilegien; hinsichtlich ihrer äußeren, kultischen Zwecken dienenden Besitztümer und den die Organisation betreffen-
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Deshalb ist der gedankliche Weg zum friederizianischen Preußen schnell beschritten, aber auch hin zum Österreich Josephs II. 70 R § 258, Zus. 71 Vgl. W. Jaeschke: Staat aus christlichem Prinzip und christlicher Staat. Zur Ambivalenz der Berufung auf das Christentum in der Rechtsphilosophie Hegels und der Restauration. In: Der Staat 18 (1979), 349-374. Keinen christlichen Staat zu kennen, unterscheidet Hegels Konzeption von der des späten Fichte, die bei aller grundsätzlichen Ähnlichkeit in der Betonung der Bildungsfunktion der Religion und deren darin begründeter Umformung doch einen Ausblick tut auf einen „das ganze Menschengeschlecht auf der Erde umfass[enden ...,] einzigen innig verbündeten christlichen Staat". /. G. Fichte: Die Staatslehre, oder über das Verhältnis des UrStaates zum Vernunftreiche, in Vorlesungen. In: Fichtes Werke. Bd 4. Hrsg. v. I. H. Fichte. Nachdr. Berlin 1971.367-600; hier: 600. 72 R § 270, Anm. 73 Ebd.
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den Bestimmungen unterliegt die Kirche den staatlichen Gesetzen.74 Eine eigene Gerichtsbarkeit konzediert Hegel der Kirche ebensowenig wie eine spezielle Kompetenz in Eides- oder Ehescheidungsangelegenheiten. Doch im Blick auf die Lehre, in der das Innere von Vorstellungen thematisch ist, ist die Kirche frei von staatlicher Einflußnahme. Die Lehre „steht in ... der Sphäre der Innerlichkeit, die als solche nicht das Gebiet des Staates ausmacht.//75 Darum kann auch der Staat nicht fordern, zu welcher Kirche sich seine Mitglieder halten - wenngleich er irgendeine Kirchenzugehörigkeit verlangt.76 Der Staat kann zwar seine Autorität gegen Übergriffe oder Verweigerungshaltungen von seiten gewisser fanatischer religiöser Positionen geltend machen, oder auch, sofern sie ihn nicht gefährden, Toleranz üben. Doch ein staatlicherseits wahrnehmbares ius in sacra kennt Hegel nicht. Denn der Staat beschränkt sich gerade aufgrund seiner inneren Vernünftigkeit auf die äußeren rechtlichen Verhältnisse. Was der Staat fordert, hat „die Gestalt einer rechtlichen Pflicht", für die „es gleichgültig ist, in welcher Gemütsweise [sie] geleistet wird."77 Obschon die Gesinnung seiner Glieder für den Staat höchst bedeutsam ist, gehört es zu seiner sittlichen Qualität, daß er die Sphäre der Innerlichkeit respektiert und ihr Raum gibt. Eine solche Freigabe der Innerlichkeitssphäre wirft jedoch das Problem auf, daß die Religion ihre Bildungsaufgabe verfehlen und sich durch konfessionelle Selbsteinhausung gegen die politische Modernität sperren kann. Dies Problem ist die Kehrseite der über die Kirchenspaltung erfolgten Ausdifferenzierung der institutionellen Gestalten von Religion und Politik. Diesem Problem begegnet in Hegels Konzept der Staat nicht nur durch Festigkeit im Verfolgen seiner vernünftigen Zwecke, sondern er setzt auch gegen die Religion und ihre kirchliche Obhut die Freiheit des Denkens in der Gestalt der Wissenschaft durch. Hierdurch wird die Philosophie institutionentheoretisch im inneren Staatsrecht verortet. Hier hat sie die Funktion, die im religiösen Geist gegründete Bildungsaufgabe gegebenenfalls gegen die institutionelle Religion zu wahren. Eben deshalb muß auch der moderne Staat ein In74 R §§ 255,270, Anm. 75 R§ 270, Anm. 76 Darin spiegelt sich die Grenze der Religionsfreiheit des Preußischen Allgemeinen Landrechts. Vgl. E.-W. Böckenförde: Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel In: Der Staat 21 (1982), 481-503; hier: Anm. 25. - Der hier berührte Umstand einer Mehrzahl von Kirchen zeigt zugleich, daß Hegels Aufstellungen zum Thema ,Kirche' schon im Interesse innerer Konsequenz den Plural favorisieren müßten. 77 R § 270, Zus.
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teresse daran haben, die kirchlichen Religionsgestalten durch /philosophische Einsicht', genauer: Bildung und Kritik, zu kultivieren. Allerdings folgt hieraus nicht, „daß Philosophie und Staatsmacht in eines zusanunenfallen müssen".78 Die platonische Vorstellung von „regieren[den]" „Philosophen", von „philosophierenden" ,,Könige[n] und Herrscherin]"79 hintergeht die für die Moderne signifikante Herausbildung subjektiver Freiheit. Deren unumgänglicher Preis ist das Moment der Willkür - auch und gerade im freiheits- und subjektivitätszentrierten Reformationschristentum und seinen politischen Langzeitfolgen. Gegen dieses Moment der Willkür bietet Hegel die Philosophie auf, welche das christlich-protestantische Prinzip der/Unendlichen und freien Subjektivität' zur Geltung bringt. Nur hierdurch vermögen „die Sittlichkeit des Staates und die religiöse Geistigkeit des Staates... sich ... die gegenseitigen festen Garantien" zu sein, wie Hegel nicht ohne harmonistisches Pathos betont.80
6. Hegels protestantisches Prinzip': ein philosophisches Konzept zur praktisch-vernünftigen Geschichtserschließung Hegels /protestantisches Prinzip' erweist sich als eine genuine Eigenschöpfung seiner Philosophie. Obzwar in der gleichsam metaphysischen Sphäre der spekulativen Religionstheorie verankert, beinhaltet es zugleich auch eine praktisch-geschichtliche Perspektive: nämlich die der Umformung und Veränderung der Religion - gemessen an ihrer tradierten Gestalt. Das /protestantische Prinzip' entbindet eine Bildungspragmatik, in deren Zeichen die Religion im Zeitalter der Moderne begriffen wird.81 Hierin geht es darum, die mit ,unendlicher Subjektivität' geeinte Freiheit zum Zuge zu bringen - auch ,nach' dem von dieser Epoche eingeleiteten ,Ende' der Religion. Deshalb verlangt das /protestantische Prinzip' auch eine Einstellung dieser Bildungspragmatik mitsamt ihren inneren Problemen in die sittliche Institutionalität des objektiven Geistes, zu deren geschichtlichem Gewordensein Hegels 78 E § 552, Anm. Ebd. Welche Implikationen für Hegels Verständnis des preußischen philosophischen Königs' diese Ausführungen haben, sei dahingestellt. so Ebd. 81 Darin ist sie der Kunst vergleichbar. Vgl. den Beitrag von Jeong-Im Kwon: Kunst und Geschichte. Hegels Bildungskonzeption als Grundlage der Geschichtlichkeit der Kunst, in diesem Band. 79
Hegels ,protestantisches Prinzip'
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Protestantismusdeutung ihrerseits einen Beitrag leistet. Deshalb läßt sich jenes Prinzip sowohl im objektiven wie im absoluten Geist namhaft machen. Überdies nimmt es eine prominente Stelle in der Geschichtsphilosophie ein, die im Übergang beider Geistesgestalten ineinander ihren Ort hat. In deren Perspektive lassen sich die Momente beider Geistesgestalten noch einmal erörtern, fallen doch Religions- und Weltgeschichte laut Hegel zusammen.82 Dieser Zusammenfall von - modern gesprochen - kultureller und politischer Evolution vollzieht sich freilich durch jeweilige Ungleichzeitigkeiten und Differenzen hindurch, wie etwa an der Entstehung des Christentums sichtbar ist. Anderenfalls wäre keine geschichtliche Evolution des Geistes denkbar, geschieht sie doch auch nach Hegel durch „Bewußtsejm und Willen" - und zwar so, daß hierin „der Geist in ihm selbst sich entgegen" ist und einen „unendlichein] Kampf gegen sich selbst" vollbringt.83 Ins Licht solcher, freilich weiterer gedanklicher Entfaltung bedürftiger Motive sind Hegels vielfache Beschwörungen eines harmonistischen Entwicklungs- und Einheitsgedankens zu rücken - namentlich im Hinblick auf Religion und Sittlichkeit. Nur dann kann die kritische Beschäftigung mit Hegels Philosophie, welche bekanntlich beanspruchte, ihre Zeit in Gedanken zu fassen, der geschichtsphilosophischen Bestimmung Hegels Rechnung tragen, daß die Philosophie es gerade im Vergangenen mit Gegenwärtigem zu tun habe.84 Dies betrifft jedenfalls eine Renkende' Geschichtsbetrachtung, die die Einsicht in das Gewordene im Interesse der Gegenwartsdeutung tätigt - und sei es gerade, um sich der Abständigkeit des Geistes von vergangenen Zeiten zu vergewissern. Denn andernfalls käme nur der schwärmerische Blick in die Zukunft in Frage, um den „Geist in der Zeit" zu explizieren.85 Doch diese noch vom sogenannten ältesten Systemprogramm vertretene Position hat Hegel später fallengelassen. Wie Hegels religions- und geschichtsphilosophische Ausführungen zeigen, kann jedoch gerade der rückwärtsgewandte Blick etwas in der Vergangenheit Gewordenes zur Gegenwartsgeltung bringen: nämlich die kulturell entstandene Selbstzwecklichkeit individueller Subjektivität. Dies betrifft jedenfalls die ihr Allgemeines repräsentierende Seite von „Moralität, Sittlichkeit, Religiosität"; hierin ist in den Individuen 82 83 84 85
Vgl. E § 562, Anm. Einl 1830,184. Vgl. ThWA 12,104. ThWA 12,97.
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gerade „Ewiges, Göttliches".86 Eben diese Bedeutung von Individualität hebt Hegels Christentums- und Protestantismusdeutung nachdrücklich hervor. Freilich bietet sie nur die Kehrseite von der These einer weltgeschichtlichen Aufopferung der Individuen. Doch es ist nicht zu unterschlagen, daß eine im ewigen spekulativen Selbstgenuß des Geistes gipfelnde Philosophie zugleich in praktischer Absicht die Nichtverrechenbarkeit von individueller Subjektivität betont- und dies in einem von einer Entwicklungsteleologie imprägnierten geschichtsphilosophischen Kontext. Dieser Umstand mag eine Entsprechung haben in der zeittheoretischen Zentralthese Hegels, wonach die Zeit selbst in ihrem Begriffe ewig ist und zugleich nur im ungreifbaren Jetzt der Gegenwart Sein gewinnt.87 Diese These, deren geisttheoretische Implikation darauf hinausläuft, daß „der Geist... über der Zeit [ist]"88, bedarf jedoch schon um ihrer Durchführbarkeit willen der Darstellung der Zeit anhand veränderlicher Geschehensabläufe, die die Negativität der Zeit in der Negation der Sequenz ihrer Modi geltend macht. Solche Geschehensabläufe beinhaltet in der Region des Geistes die über das konfliktreiche Zusammenspiel von Bewußtsein und Wille aufgebaute Prozessuahtät von Geschichte, welche Hegel als „Auslegung des Geistes in der Zeit" bezeichnet.89 Es sei in diesem Rahmen dahingestellt, ob sich hieraus die Nötigung ergibt, schließlich auch die Zeit im Geist zu denken - gewissermaßen als Entfaltung auch der intellektuellen und kulturellen Prinzipien innerhalb der Vollzüge von Bewußtsein und Wille.
86
Einl 1830,166; vgl. 167; vgl. ThWA 12,49 f. Hegel kann gar davon sprechen, daß die „Religiosität, die Sittlichkeit eines beschränkten Lebens ... unendlichen Werth, und denselben Werth [hat], als die Religiosität und Sittlichkeit einer ausgebildeten Erkenntniß und eines an Umfang der Beziehungen und Handlungen reichen Daseyns" (Einl 1830, 170; vgl. ThWA 12,54). Dieses Motiv wird durch den Gedanken des,weltgeschichtlichen Individuums' nicht hinfällig. 87 Vgl. E §§ 257 ff. 88 E § 258, Zus. 89 ThWA 12, 96 f. Vgl. in diesem Zusammenhang die Schlußüberlegungen von K. R. Meist: Differenzen in Hegels Deutung der „Neuesten Zeit“ innerhalb seiner Konzeption der Weltgeschichte. In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg. v. H.-Ch. Lucas u. O. Pöggeler. Stuttgart 1986.465-501.
JEONG-IM KWON (HAGEN/SEOUL)
KUNST UND GESCHICHTE Zur Wiederbelebung der orientalischen Weltanschauung und Kunstform in Hegels Bildungskonzeption Die folgenden Überlegungen versuchen, auf eine oft an Hegel und seine Philosophie der Kunst gestellte Frage eine Antwort zu finden. Unter Rückgriff auf ein bislang wenig beachtetes Beispiel aus der Welt der Kunst geht es um die Frage nach der Aktualität der Hegelschen Ästhetik, genauer um den Versuch, herauszuarbeiten, auf welche Weise wir für die Hegelsche Bestimmung der Kunst in der modernen Welt, in dem von Hegel sogenannten Zeitalter nach dem „Ende der Kunst“, eine aktuelle Bedeutung gewinnen können. Hegel hebt in seinen Überlegungen zur Rolle der Kunst in der modernen Welt die historische sowie kulturelle Bildung als „formelle Bildung" zur „Allgemeinheit“ (zum „Staat") als wesentliche Leistung der Kunst hervor.1 Mit dieser Bestimmung geht keine Verengung des Gesichtsfeldes einher, vielmehr dehnt sich Hegels Interesse an der Bestimmung der geschichtlichen Bedeutung der Kunst auf alle Weltkulturen, darunter insbesondere die orientalische Kultur und Weltanschauung aus. Wenn man die grundlegende Frage nach der Bedeutung der Kunst in den von Hegel selbst vorgeschlagenen Kontext der „formellen Bildung" stellt, so führt dies zu einer Verknüpfung von geschichtlichem Selbstbewußtsein, dessen Ursprung in einem reflektierten Umgehen mit der Geschichte und der Erörterung von mehr oder weniger geeigneten Exempeln für ein Lernen aus der Geschichte. Bei Hegel selbst führt dies zugleich zu einer neuen Gewichtung der „symbolischen Kunstform". Im Unterschied zur bisherigen Deutung läßt sich aus dem Quellenmaterial zu Hegels Berliner Ästhetikvorlesungen eine neue bislang wenig beachtete Wertschätzung der orientahschen Weltanschauung und Kunstform eruieren. Die in der „symbolischen Kunstform" strukturell 1
Dieser Zusammenhang wird ausführlich dargestellt in einem Teil meiner Dissertation über Die Charakteristik der symbolischen Kunstform in Hegels Ästhetik. Neue Quellen und die Reformulierung der systematischen Bestimmung der Kunst (in Vorb.).
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zusammengefaßte orientalische Kunst bietet nach Hegels Deutung nämlich auf der einen Seite eine neue, über die Orientierung an der Kunst des klassischen Griechentums hinausführende Möglichkeit geschichtlicher Bildung, und sie ist auf der anderen Seite geeignet, die Konzeption der „formellen Bildung" im Unterschied zu einer Bildung durch affirmative Übernahme inhaltlicher Orientierungen zu charakterisieren. Die Fremdheit der in der Kunst präsenten orientalischen Kultur verwehrt nämlich einerseits eine direkte Transposition solcher oder ähnlicher Gestaltungsmöglichkeiten in die moderne, auf Vernunft gegründete Welt, bietet aber andererseits eine notwendige Ergänzung zur romantischen Innerlichkeit. Hegel hat unter diesem Aspekt der Aktualität der orientalischen Kunst für die moderne Welt, für die Integration eines geschichtlichen Selbstbewußtseins in den Ästhetikvorlesungen nicht nur eine geschichtliche Gewichtung der orientalischen Weltanschauung und Kunst entwickelt, sondern zugleich auch die Möglichkeit eröffnet, sich mit der Bedeutung der Kunst in der Moderne - durch den geschichtlichen Rückblick angeleitet - auseinanderzusetzen. Wenn sich die folgenden Überlegungen daher schwerpunktmäßig mit dem geschichtlichen Rückgriff auf die orientalische Weltanschauung und seiner Entwicklung in Hegels verschiedenen Reflexionen beschäftigen, kann die letztgenannte Perspektive, die er in seiner Konzeption der Bildung entwikkelt, nicht übergangen werden. Denn in ihr liegt die Aktualität des geschichtlichen Rückblicks: Es geht in der Kunst um ein Lernen aus der Geschichte, und zwar - das zeigt sich insbesondere an der Auseinandersetzung mit der orientalischen Kunst—um ein epochen- und kulturübergreifendes, unvoreingenommenes Lernen aus dem Fremden für die eigene Situation als Bürger eines modernen Staates. Die folgende Analyse der Hegelschen Charakteristik der orientalischen Weltanschauung und Kunstform sowie seiner Konzeption der „formellen Bildung" führt zur Skepsis gegenüber der gängigen Meinung, Hegel habe in der Berliner Zeit die Entwicklung der Weltgeschichte lediglich unter einem teleologischen Gesichtspunkt konstruiert und die letzte höchste Entwicklungsstufe ausschließlich in der germanischen Welt gesehen. Dieser Punkt wird zum Schluß kurz behandelt und kann zugleich ein Ansatzpunkt für weiterführende Überlegungen werden.
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1. Der geschichtsphilosophische Ansatzpunkt für Hegels Interesse an der orientalischen Welt Hegels erste Auseinandersetzung mit der orientalischen Welt findet sich in dem Fragment lieber den Geist der Orientalen.2 Dieses Fragment dokumentiert - worauf E. Schulin hinweist - Hegels Interesse am Judentum, in dem er die „Wurzel des Positivismus des Christentums" gesehen hat.3 Wenn auch Hegels weltgeschichtliche Einordnung des Judentums in die orientalische Welt in den späteren Vorlesungen nicht mehr zu finden ist, entwickelt er bereits in diesem Fragment die grundlegende Charakteristik der orientalischen Welt, die für deren spätere Bestimmung in den Berliner Vorlesungen gültig bleibt. Als Hauptmerkmal des orientalischen Geistes kennzeichnet Hegel die Zerrissenheit des Bewußtseins, die er in den Berliner Ästhetikvorlesungen als „Erhabenheit" spezifiziert. In diesem Fragment erscheint seine Charakteristik des orientalischen Geistes eher abwertend, wenn er die orientalische Weltanschauung im Gegensatz zur christlichen so darstellt, daß im orientalischen Geist keine Vereinigung durch die „Liebe", sondern nur die Entgegensetzung herrscht.4 Auch in seinen weiteren Überlegungen gewinnt die Auseinandersetzung mit der orientalischen Mythologie und Weltanschauung noch keine vordringliche Bedeutung. Wenn Hegel im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus (1797) einen „Polytheismus d[e]r Einbildungskraft u[nd] der Kunst" aus der Notwendigkeit ,,eine[r] neue[n] Mythologie", ,,e[iner] Mythologie der Vernunft'' fordert,5 so denkt er hier zunächst an eine an der schönen Gestalt(ung) des Göttlichen orientierte neue Mythologie, die die spezifischen Defizite der christlichen Religiosität aufheben soll. Zu einer solchen Mythologie rechnet er hier aber noch nicht die orientalische Mythologie. In der Phänomenologie des Geistes (1807) entwickelt Hegel bereits die systematische Grundlage der Bestimmung der orientalischen religiösen
2
Nach E. Schulins Datierung ist dieses Fragment um 1797 entstanden (vgl. Ernst Schulin: Die weltgeschichtliche Erfassung des Orients bei Hegel und Ranke. Güttingen 1953.18). 3 Ebd. * Karl Rosenkranz: G. W. F. Hegels Leben. Mit einer Nachbemerkung zum Nachdruck 1977 von Otto Pöggeler. Darmstadt 1977.514-518, hier: 516. 5 G. W. F. Hegel: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. In: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus. Hrsg, von Rüdiger Bubner. Bonn 1973. (Hegel-Studien Beiheft 9.) 263-265, hier: 264 f.
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Anschauungen und bereitet damit die „Triadik" der Kunstformen in den Berliner Ästhetikvorlesungen vor.6 Wichtig ist hier, daß seine Charakteristik der orientalischen Weltanschauung nun nicht mehr abwertend ist. An die Stelle einer Hierarchie der verschiedenen Weltanschauungen in der Geschichte setzt Hegel den Gedanken einer Entwicklung des Geistes in den verschiedenen, aber geistesphilosophisch gleichwertigen Gestaltungen. Es geht ihm nämlich darum, zu wissen und zu zeigen, in welcher Weise sich der Geist konkret ausgestaltet und welche Bedeutung bzw. Rolle diese Ausgestaltung des Geistes für das jeweilige Volk, d. h. für die empirische geschichtliche Realität hat, deren geschichtliche Differenzheit er durch diese Perspektive in die Geistphilosophie einbringt. Derselbe Gedanke liegt den Berliner Ästhetikvorlesungen zugrunde. Aus den Quellen zu den Ästhetikvorlesungen7 wird deutlich, daß Hegel die orientalischen religiösen Anschauungen und ihre Kunstform (nämlich die symbolische Kunstform) vor allem unter dem Aspekt seiner Geschichtsphilosophie charakterisiert. Die symbolische Kunstform wird im Unterschied zu ihrer ästhetischen Abwertung in der Druckfassung der Ästhetik als eine spezifische Darstellungsweise des Geistes, als dessen „substantielle" Gegebenheit aufgefaßt. Dadurch rückt die orientalische Weltanschauung besonders in den letzten beiden Ästhetikvorlesungen (von 1826 und von 1828/29) in den Mittelpunkt auch des Interesses an der aktuellen Bedeutung der Kunst, weil Hegel in einer zu seiner Zeit entstandenen und diskutierten Aktualisierung der orientalischen Weltanschauung8 die Möglichkeit der Überwindung der romantischen Innerlichkeit, der Weltlosigkeit des Subjekts sieht. In diesen Überlegungen zur Wiederbelebung der symbolischen Kunstform bzw. der orientalischen Weltanschauung als Ablösung der 6
Dazu vgl. O. Pöggeler: Die Entstehung von Hegels Ästhetik in Jena. In: Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit Schelling. Hrsg, von Dieter Henrich und Klaus Düsing. Bonn 1980. (Hegel-Studien Beiheft 20.) 249-270. 7 Die folgenden Überlegungen müssen sich auf die Zeugnisse zu Hegels Berliner Ästhetikvorlesungen stützen, da die nach Hegels Tod publizierte Ästhetik die Differenziertheit der Überlegungen und ihre Entwicklung nicht mehr erkennen läßt. Die Ausführungen, die die Vorlesungsnachschriften tradieren, bestätigen sich überdies als die der Ästhetik in den von Hegel ansonsten vorgebrachten Überlegungen. 8 In diesem Zusammenhang können sowohl einzelne Elemente der symbolischen Kunstform (Metapher und Vergleichung etc.) - im Rückgriff auf Gedanken der Romantik - als auch poetische Ganzheit angeführt werden. Beispiele für die Wertgeltung der symbolischen Elemente entdeckt Hegel z. B. bei Shakespeare, für die poetischen Wiederbelebungsversuche greift er aus einer ganzen Reihe der ihm z. T. über poetische Kontakte (mit H. W. A. Stieglitz) bekannten Versuche Goethes West-östlichen Divan heraus (s. u.).
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weltlosen romantischen Innerlichkeit durch eine weltzugewandte „Heiterkeit bei den Dingen" greift Hegel seine frühen Überlegungen zur Mythologie der Vernunft wieder auf. Allerdings hat er in der Entwicklung seines Systems der Philosophie die frühere Bestimmung der Kunst im Rahmen des Systemprogramms auf eine nur „partiale" Bedeutung der Kunst in der Orientierung des modernen, vemunftfordemden Menschen und seiner Welt eingeschränkt. Diese eingeschränkte Bestimmung der Kunst bleibt und erhält sich in der späteren Bestimmung der Kunst, sie gilt freilich auch für die Bestimmung der symbolischen Kunstform unter dem oben genannten Aspekt. Eine neue Mythologie, die anstelle der Mythologie der griechischen Antike als eine alternative Quelle für die Kunst in der modernen Welt angesehen werden könnte, läßt sich - so betont Hegel - weder durch den Rückgriff auf das deutsche Mittelalter (wie es Schelling und die Hegelianer versuchten) gewinnen noch durch die Wiederbelebung etwa der indischen Weltanschauung (wie es Fr. Schlegel und die Romantiker versuchten). Für Hegel könnte sich eine neue Mythologie der modernen Welt allerdings auf der Basis der „Pluralität" geschichtlicher Weltanschauungen ausbilden, ja sie müßte die Vielheit ausdrücklich fordern. Daher richtet sich Hegels Interesse auf alle möglichen Weltanschauungen, auf die Weltkultur, nicht auf eingegrenzte kulturelle Phänomene. Wichtig ist daher, daß es im geschichtlichen Rückblick auf die „Monumenta nationtun" nicht um eine inhaltliche Wiederbelebung des Vergangenen geht, sondern um ein Lernen aus der Geschichte. Über die nähere Festlegung dieses „Lernens" für die Zukunft wird - was sich exemplarisch an der Auseinandersetzung mit der orientahschen Welt verdeutlichen läßt - Hegels Konzeption der „formellen Bildung" Aufschluß geben, die er in den Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte endgültig entwickelt. Diese Konzeption der „formellen Bildung" faßt sowohl den geistesphilosophischen als auch den kulturphilosophischen Gesichtspunkt für Hegels Betrachtung der Künste sowie der Weltgeschichte zusammen. Damit legt Hegel die formale Basis für die Auseinandersetzung mit der orientalischen Weltanschauung fest. Auf der anderen Seite vertieft Hegel, worauf er selbst in den Grundlinien zur Philosophie des Rechts hinweist,9 sein inhaltliches Verständnis der 9
Vgl. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Mit Hegels eigenhändigen Randbemerkungen in seinem Handexemplar. Hrsg, von Johannes Hoffmeister. Hamburg 41955. §355.
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orientalischen Welt unter Berufung auf Stuhrs Schrift Vom Untergang der Naturstaaten, die 1812 unter dem Pseudonym Feodor Eggo erschienen ist. Stuhr versteht den,Naturstaat' als ,Moment der noch substantiellen, natürlichen Geistigkeit in der Staatsbildung' und stellt „zwei Prinzipien" ,frühen kindlichen Staatslebens' in der orientalischen Welt dar, nämlich „den Kastenstaat" und „den Familien Staat", die jeweils in Indien und in China zu finden sind. Nach E. Schulin ändert Hegel durch die Rezeption der Stuhrschen Erläuterung seine „einfachfe], äußerlichte] Beziehung dieser Stufe als ,orientalische[n] Despotismus'", so daß er für seine weiteren Überlegungen insgesamt eine spezifischgeschichtliche bzw. geschichtsphilosophische Bestimmung der orientalischen Welt gewinnt.10 M. E. läßt sich Hegels geistes- bzw. geschichtsphilosophische Auseinandersetzung mit der orientalischen Kultur an zwei Fragestellungen exemplarisch verdeutlichen. Es ist a) die Frage, welchen Stellenwert die orientalische Welt und Kultur in Hegels Konzeption der Entwicklung des absoluten Geistes im modernen Staat hat und b) warum Hegel sowohl in seinen Überlegungen zur Bedeutung der Kunst in der modernen Welt als auch in Hinsicht auf die Konzeption der „formellen Bildung“ auf die orientalische Weltanschauung zurückgreift. Beides spielt zusammen in Hegels geistes- bzw. geschichtsphilosophischer Deutung der orientalischen Weltanschauung und Kunstform, die im folgenden kurz skizziert wird.
2. Hegels geistes- bzw. geschichtsphilosophische Deutung der orientalischen Weltanschauung und Kunstform Hegel hat die Vorlesungen zur Weltgeschichte (1822/23, 1824/25, 1825/26,1826/27,1828/29,1830/31) parallel zu bzw. im Wechsel mit den Ästhetikvorlesungen sowie den Vorlesungen zur Religionsphilosophie gehalten. Auch wenn er erst in der Berliner Zeit Vorlesungen zur Weltgeschichte gehalten hat, finden sich weltgeschichtliche Überlegungen bereits zu Beginn seines philosophischen Denkens. Angeregt durch Edward Gibbons History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1795) wurde - so E. Schuün - „eine Frage, die den historischen Ort des Zwiespalts unserer ganzen Kultur anrührte", zu Hegels Ausgangs10
37 f.
Vgl. dazu E. Schulin: Die weltgeschichtliche Erfassung des Orients bei Hegel und Ranke.
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punkt des weltgeschichtlichen Interesses, während Voltaires Interesse an der Weltgeschichte sich auf die „Eigentümlichkeit eines anderen Volkes" und Herders Interesse auf die „Entwicklung der Zivilisation" richtet.11 Daher widmet Hegel sich bereits in der Frankfurter Zeit (17971801) dem „Problem des Untergangs und Übergangs in der Weltgeschichte" und erfaßt darüber hinaus den Volksgeist als das Grundprinzip des weltgeschichtlichen Prozesses.12 Die Konzeption des Volksgeistes bildet auch in den späteren Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte die Grundlage für die Erläuterung der Entwicklung des Geistes in der Weltgeschichte. Den Volksgeist als den individualisierten allgemeinen Geist faßt Hegel wie ein organisches Wesen auf, das naturhaft entsteht und vergeht, und durch den Auf- und Untergang der Volksgeister erklärt er Diskontinuität und Kontinuität der Weltgeschichte.13 Die Entwicklung des Geistes in der Weltgeschichte erläutert Hegel auf der anderen Seite zugleich durch das Prinzip, dessen Gehalt „der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" ist.14 Nach seiner systematischen Erläuterung vollzieht sich die Entwicklung des Geistes in der Weltgeschichte bekanntlich in vier Hauptperioden, nämlich der orientalischen, der griechischen, der römischen und der germanischen Welt. Hegel polarisiert diese Vierheit nochmals unter der Rücksicht auf die Entwicklung der Staaten. Für die orientalische Welt ist „die allgemeine Substanz des Staates" das vorherrschende Prinzip, für die abendländische Welt hingegen „die subjektive Freiheit" des Individuums. Hegel sieht dann in der germanischen Welt (die er nochmals in drei Perioden unterteilt, nämlich „Der Anfang", „Das Mittelalter" und „Die neue Zeit") die höchste Realisation der Freiheit bzw. des Bewußtseins der Freiheit. Im folgenden wird auf der Grundlage von Hegels Bestimmung der germanischen Welt der Ansatzpunkt für den Sinn seines Rückgriffs auf die orientalische Weltanschauung kurz skizziert. Die christlich-germa11 A.a.O.18. A. a. O. 25. Hegel entwickelt in dieser Zeit beispielsweise die Bestimmung des Judentums, das er dem Geist der Orientalen zuschreibt, und des Griechentums durch die Charakteristik des Volksgeistes unter dem geschichtsphilosophischen Gesichtspunkt. Er charakterisiert nämlich den Geist der Juden als „Erhabenheit und Größe", den Geist der Griechen als „Schönheit" (a. a. 0.24). 13 Zur näheren Analyse der Hegelschen Bestimmung des Volksgeistes vgl. Friedrich Dittmann: Der Begriff des Volksgeistes bei Hegel. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Begriffs der Entwicklung im 19. Jahrhundert. Leipzig 1909. 14 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd 1: Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1955.63. 12
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nische Welt ist für Hegel „eine einheitliche Welt der Vollendung7' des Entwicklungsprinzips,15 und ihr weiterer Zweck liegt darin, die „absolut[e] Wahrheit" als ,,unendlich[e] Selbstbestimmung" zu realisieren und „das Prinzip der Versöhnung" zu verwirklichen.16 Da die Idee in dieser Welt „kein wahrhaftes Verhältnis nach außen" und „kein absolutes Außen mehr, sondern nur ein relatives" hat,17 ist diese Realisation de facto aber nicht gelungen, sondern bleibt ein bloßes Postulat. Diese Seite der christlich-germanischen Welt verdeutlicht Hegel durch die Charakteristik der christlichen Religion. Für diese ist typisch, daß sie sich aufgrund ihrer „ganz abstraktelnl Intensität des neuen [Prinzips]" nicht um die Welt kümmert.18 Die Gefahr des Untergangs der christlich-germanischen Welt ist nach Hegels Darstellung in der Abstraktheit der christlichen Religion angelegt, die „so rein und in sich geistig ist".19 Aufgrund dieser von Hegel kritisch hervorgehobenen Tatsache, daß das christliche Bewußtsein der Freiheit sich nur auf das Individuum auswirkt, ist - wie K. Leese gezeigt hat20 - in der germanischen Welt keine „Sittlichkeit" möglich, „die substantiell an einer Gemeinschaft vorhanden sein kann". D. h. die Völker der germanischen Welt haben „das Prinzip des Christentums", nämlich „das Prinzip der Freiheit" aufgenommen,21 dieses Prinzip bleibt aber auf die religiöse Frömmigkeit beschränkt, erhält keine Wirklichkeit, weil es nur eine individuelle, keine allgemeine Sittlichkeit ausbildet. Von der Religion geht daher die Aufgabe, das Prinzip der christlichen Religion in der Organisation eines Staates sowie in der Staatsverfassung zu realisieren, an den Staat selbst über. Der Staat hat „den Willen der Individuen zu einem wirklich 15
G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd 4: Die germanische Welt. Hrsg, von Georg Lasson. Hamburg 51988. 762. 16 A.a. 0.763. 17 A. a. 0.762. is Ebd. 19 A.a. 0.771. 20 Vgl. Kurt Leese: Die Geschichtsphilosophie Hegels auf Grund der neu erschlossenen Quellen. Berlin 1922.256 ff: K. Leese hebt hervor, daß Hegel in der Charakteristik der germanischen Welt „eher die Probleme der abendländischen Kultur" artikuliert, die die Realisierung der geforderten Vollendung des christlichen Prinzips hindern. Mit der Behauptung, daß das christliche Prinzip, solange es in der Tat stets vor den Problemen der Realisierung steht, „eine niemals fertige, sondern eine ... unendliche Aufgabe" hat, wendet er sich gegen die gängige These, daß für Hegel die Geschichte mit der germanischen Welt, mit dem Erreichen des christlichen Prinzips vollendet und mithin an ihr Ende gelangt ist. Auch im Hinweis auf Hegels Prognose für Amerika als „das Land der Zukunft" versucht Leese, die Offenheit der weiteren Entwicklung der Geschichte bei Hegel zu zeigen (K. Leese: a. a. 0.306 f). 21 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd 4.809.
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rechtlichen'' zu machen.22 In der Erörterung, wie der Staat dieser Aufgabe gerecht werden kann, hebt Hegel die Notwendigkeit der Bildung hervor, die er als „formelle Bildung" charakterisiert. Denn in dieser Art der Bildung geht es um die Allgemeinheit im Gegensatz zu „Privatinteressen und partikulärer Meinung" 23 Der Mangel an Substantialität und damit an Objektivität, der das christlich-germanische subjektive Bewußtsein beeinträchtigt, wird in den Ästhetikvorlesungen zum Angelpunkt der Kritik an der romantischen Kunst. Für Hegel darf ein geschichtliches Bewußtsein nicht bloß durch subjektive Innerlichkeit, also „subjektive Subjektivität" bestimmt werden, sondern es muß die zugleich „subjektive und substantielle Subjektivität" sein, d. h. die Subjektivität mit der Objektivität der Dinge und der Welt zur Synthese bringen. Wichtig für die folgenden Überlegungen ist der Aspekt, daß Hegel die Überwindungsmöglichkeit des Mangels des christlich-germanischen subjektiven Bewußtseins in der orientalischen Weltanschauung, insbesondere im Neupantheismus vermutet, den er im poetischen Vollzug des Mohammedanismus beispielsweise in der Dichtung Duschelaled-Din Rumis und Schams od-DinMohammed Hafis' entdeckt24 Das Hauptmerkmal der neupantheistischen Weltanschauung definiert Hegel als eine affirmative Einheit des Weltlichen mit dem Überweltlichen, hier noch genauer: mit dem Einen (das gilt wiederum aber nicht nur als die spezifische Charakteristik des Mohammedanismus, sondern für die orientalische Welt generell); und diese Affirmativität ermöglicht den Orientalen „die objektive Heiterkeit" im Umgehen mit den Dingen. Hegel greift in seinen Überlegungen zur Bedeutung der Kunst in der modernen Welt, in der die Kunst durch die romantische Innerlichkeit 22 A. a. 0.771. 23 A. a. O. 760. 24 Der Orientalist Joseph von Hammer hat 1812/13 den Divan von Hafis (1327-1390) übersetzt und 1818 eine Geschichte der schönen Redekünste Persiens herausgegeben, in der die Übersetzung des Divan enthalten ist. Goethes und Rückerts Nachdichtung persischer Poesie war gerade durch ihn angeregt worden. Vor allem Rückerts freie Nachdichtung der Verse des Divan von Rumi (1207-1273) findet sich in seiner Veröffentlichung im Taschenbuch fiir Damen auf das Jahr 1821 (vgl. Michel Hulin: Hegel et Vorient. Paris 1979 und Helmut Prang: Friedrich Rückert. Geist und Form der Sprache. Schweinfurt 1963). Das pantheistische Element, insbesondere die „Heiterkeit" in der Dichtung der Mohammedaner ist dadurch möglich, daß „der Mensch sein eigenes Selbst aufgibt, es in schwelgerischer Seligkeit in das Ewige und Absolute versenkt und in allem das Bild des Göttlichen erkennt" (Wolfgang Bonsiepen: Altpersische Lichtreligion und neupersische Poesie. In: Hegel in Berlin. Preußische Kulturpolitik und idealistische Ästhetik. Zum 150. Todestag des Philosophen. Hrsg, von O. Pöggeler. Berlin 1981,196-204, hier: 199).
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für die Kultur als ganze nur „partial" bedeutsam ist, auf diesen Charakter der Orientalen und deren Dichtkunst zurück, und er entwickelt daraus die Möglichkeit eines „objektiven Humors", der durch den reflektierenden poetischen Genuß am Dinge über die bloß innerliche Empfindung und Willkürlichkeit im subjektiven Humor wie Jean Pauls hinaus zum substantiellen, objektiven Verhältnis zur Welt hinführen kann.25 Die Möglichkeit eines solchen objektiven Humors exemplifiziert Hegel in Goethes West-östlichem Divan, der Hafis' Divan nachdichtet, und er charakterisiert den objektiven Humor als eine neue Form, wie die Kunst in der modernen Welt Bedeutung gewinnt.
3. Hegels späte Konzeption des Lernens aus der Geschichte: „formelle Bildung" Hegels aufwertender Rückgriff auf die orientalische Weltanschauung und ihre Vermittlung in der Poesie läßt sich zugleich durch die Konzeption der „formellen Bildung" näher bestimmen, die er in den Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte insbesondere in der Bestimmung des Staates in der modernen Welt entwickelt. Hegel hatte diese Konzeption bereits in der Rechtsphilosophie von 1817 im Blick auf die Bestimmung der Bedeutung von Kunst und Religion im modernen Staat ausgeführt und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts nochmals strikter gefaßt im Sinne einer genauen Bestimmung des Lernens aus unterschiedlichen geschichtlichen Versionen inhaltlich geprägter Formen der Sittlichkeit.26 Hier werden diese Formen der Sittlichkeit von Kunst und Religion jeweils als Monumenta der Tradition und Vermittlung spezifisch geprägter Sittlichkeit vorgestellt.
25
Hegels Überlegungen zum objektiven Humor in Hinsicht auf die orientalische, „objektive Heiterkeit" und seine Exemplifikation der Möglichkeit eines solchen objektiven Humors in Goethes West-östlichem Divan wurden erstmals von O. Pöggeler erhellt (O. Pöggeler: Hegel in Heidelberg. In: Hegel-Studien 6 [1971], 65-134, hier: 114 f). Des weiteren verknüpfte A. Gethmann-Siefert die Charakteristik des „objektiven Humors" mit der Deutung der niederländischen Malerei und entwickelt dessen Charakteristik - nun unter Rücksicht auf die in der Sache eindeutige Charakteristik in den Vorlesungsnachschriften zu Hegels Ästhetik - fort als einen für die Kunst in der Moderne konstitutiven reflektierten Genuß (Annemarie Gethmann-Siefert: Hegel über Kunst und Alltäglichkeit. Zur Rehabilitierung der schönen Kunst und des ästhetischen Genusses. In: Hegel-Studien. 28 [1993], 215-265, hier: 234 ff). 26 Zur näheren Darstellung der Konzeption der „formellen Bildung" vgl. J.-I. Kwon: Die Charakteristik der symbolischen Kunstform in Hegels Ästhetik (s. o. Anm. 1).
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und es wird geprüft, wieweit sie ein Lernen aus der Geschichte ermöglichen. Hegel integriert die spezifischen Gestalten der Sittlichkeit, Kunst und ReUgion, in seiner Gesamtkonzeption der modernen Welt in die Formen der institutionalisierten Sittlichkeit, letztlich in den Staat und fragt nach ihrer Rolle im modernen Staat. Dadurch gewinnt die Konzeption einer Bildung durch den (Nach-)Vollzug bestimmter Formen der Sittlichkeit eine geänderte Bedeutung: Kunst und Religion verlieren ihre „Vorherrschaft" im Sinne einer inhaltlich festgelegten Bildung des Individuums durch die Integration in den Staat; andererseits gewinnen sie aber zugleich mit einer spezifischen Funktion auch ihre Unverzichtbarkeit im neuen Rahmen, im modernen Staat. Sie leisten die dem Staat nötige, aber durch ihn selbst nicht gewährleistete Bildung zur Allgemeinheit. Nach Hegel ist der Staat ursprünglich die Totalität der Sittlichkeit, die substantielle Allgemeinheit. In der modernen Welt herrscht im Staat (selbst als „Partialität") aber die formale Allgemeinheit vor, da im modernen Staat nicht mehr eine verallgemeinerbare, verbindliche „Sittlichkeit" bestimmend wirkt, sondern nur die partiellen, kulturbedingt unterschiedlichen Formen der Sittlichkeit vermittelt werden können. Im modernen Staat, für den die formale Allgemeinheit wesentlich ist, wird daher die Bildung zur Allgemeinheit nötig. Diese Bildung definiert Hegel als „formelle Bildung", d. h. als eine bestimmte Form, aus der Geschichte ein Selbstbewußtsein zu gewinnen bzw. das gegebene Bewußtsein durch den Rückgriff auf Fremdes, Anderes zu integrieren und zu verallgemeinern. In der „formellen Bildung" geht es lediglich um die Bereicherung der Kenntnisse des Selbst von sich und von der Welt. Zu ihr gehört daher historische und kulturelle Bildung, und nach Hegel übernimmt die Kunst in der modernen Welt die Rolle, diese „formelle Bildung" zu vermitteln, indem sie die der Zeit (Epoche) wie dem Gehalt nach fremden Stoffen aufgreift und dadurch die unterschiedlichsten Weltanschauungen verschiedener Kulturen anschaulich vermittelt. Im Rahmen dieser Bestimmung der Kunst als geschichtlicher Bildung legt Hegel auch die Bedeutung der orientalischen Kultur für die Moderne fest: Die orientalische Welt und Kultur gewinnt durch die Kunst und die Reflexion auf die Religion ebenfalls im Kontext der näheren Bestimmung der „formellen Bildung" ihre Bedeutung als historisch fremder Stoff, der eine spezifische Weise der Vermittlung der Idee und Sittlichkeit des Volks überliefert. Insoweit bleibt die „formelle Bildung" historische Bildung. Hegel geht aber gerade in der Bestimmung der
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Kunst noch einen Schritt weiter, denn in der Poesie seiner Zeit (Goethe) sieht er die Möglichkeit einer Wiederbelebung der orientalischen Kultur und Weltanschauung, die für die Moderne (die Formalität der Sittlichkeit im Staat und die subjektive Innerlichkeit) zu einem kritischen Spiegel wird.27 Die orientalische Welt wird daher zugleich als eine mögliche Quelle der neuen Kunst in der modernen Welt untersucht.
4. Zielgerichtete Entwicklung versus Pluralität der Kulturen Für die neue Sichtweise der orientalischen Welt und Kultur, wie Hegel sie im Zusammenhang seiner Charakteristik der christlich-germanischen Welt sowie seiner Konzeption der „formellen Bildung" entwikkelt, stellt sich abschließend die Frage, inwieweit Hegels Systematisierung der Weltgeschichte in heutiger Sicht noch aktuell sein kann und ob bzw. wie die Geschichte in der Gegenwart gemäß Hegels Entwicklungsprinzip aufgefaßt werden könnte.28 Mit dieser Fragestellung geht eine Prüfung von Hegels Deutung der Weltgeschichte einher, gängige Vorstellungen von Hegels Konzeption der Weltgeschichte müssen revidiert werden. Nach Hegel ist die Weltgeschichte der Gang des Geistes zu sich selbst, anders ausgedrückt: „der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit". Für ihn wird die christlich-germanische Welt zur Vollendung dieses Fortschritts. Insofern scheint sein Gesichtspunkt für die Betrachtung der Weltgeschichte durch eine inhaltlich (nämlich durch die christliche Weitsicht) festgelegte teleologische Prämisse geprägt zu sein, durch die Auszeichnung einer Epoche und Kultur als der höchsten Stufe der Entwicklung des Geistes. Unter dem Hinblick auf die Periodisierung der Entwicklung des Geistes und auf die Annahme einer Vollendung der Entwicklung in der germanischen Welt erhebt sich die kritische Frage nach der „Zukunft der Geschichte".29 Muß Hegel nicht aus systemati27
Dazu vgl. A. Gethmann-Siefert/Barbara Stemmrich-Köhler: Faust: Die „absolute philosophische Tragödie" - und die „gesellschaftliche Artigkeit" des West-östlichen Divan. Zu Editionsproblemen der Ästhetikvorlesungen. In: Hegel-Studien. 18 (1983), 23-64. 28 Zur näheren Darstellung der Probleme sowie Möglichkeit der Aktualisierung der Hegelschen Geschichtsphilosophie vgl. Hegel-Bilanz. Zur Aktualität und Inaktualität der Philosophie Hegels. Hrsg, von Reinhard Heede und Joachim Ritter. Frankfurt a. M. 1973. 29 Zum Thema vom Ende der Geschichte und zur Frage nach der Zukunft der Geschichte vgl. M. Rubinstein: Die logischen Grundlagen des Hegelschen Systems. In: Kantstudien. 11 (1906), 40-108; R. K. Maurer: Hegel und das Ende der Geschichte. Interpretationen zur „Phänomenologie des Geistes''. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1965, bes. 146 f;
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sehen Vorurteilen ein „Ende der Geschichte" annehmen, und wird nicht seine Konstruktion der Entwicklung dadurch dogmatisch-ungeschichtlich? In der bisherigen Hegelinterpretation findet sich zumindest häufig diese Kritik. Diese geläufige Deutung der Hegelschen Konzeption der Weltgeschichte erscheint als einseitig und revisionsbedürftig, wenn man Hegels Konzeption unter dem hier gewählten Aspekt der Bedeutung der Geschichte für die Bildung des Individuums interpretiert. Den Begriff „Entwicklung" verwendet Hegel einerseits zweifellos im Sinne der Teleologie, wenn er mit diesem Begriff den Fortschritt in der Geschichte meint. Aber in diesem Fall wird „Entwicklung" von Hegel nicht im strikten Sinne einer Teleologie auf ein faktisch-inhaltlich festgelegtes Ziel hin, sondern eher im Sinne der naturhaften Entfaltung (eines organischen Wesens) zu verstehen sein.30 Daher bauen für Hegel die weltgeschichtlichen Perioden in der Entwicklung des Geistes als notwendige Momente für die gesamte Entwicklung nicht hierarchisch aufeinander auf, und die früheren Perioden dürfen nicht durch den Vergleich mit den späteren Perioden abgewertet werden. Sie entwickeln sich vielmehr organisch auseinander, so daß die Vollendung erst da erreicht ist, wo sich prinzipieller Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit und Vollendung im Sinne der Aufhebung (d. h. Neuvermittlung) des auf vorhergehenden Stufen bereits Erreichten zusammenschließen. Insbesondere Hegels Auffassung der orientalischen Weltanschauung ist in dieser Hinsicht als Kombination von struktureller Fortschrittsgeschichte (Teleologie) und Konzeption der Unabschließbarkeit des Lernens aus der Geschichte („formeller Bildung") aufschlußreich. Die orientalische Welt und Kultur ist für Hegel unter „unserem" Gesichtspunkt (d. h. aus der Perspektive der Moderne) interessant, insofern der Geist in der Gegenwart alle Entwicklungsmomente in sich enthält und K. Leese: Die Geschichtsphilosophie Hegels auf Grund der neu erschlossenen Quellen (s. o. Anm. 20), bes. 306 f; G. Lasson: Hegel als Geschichtsphilosoph. Leipzig 1920, bes. 174 ff. 30 Im Hinblick auf die Bestimmung der Geschichte als „Morphologie des Organischen" im Sinne von Goethes Physiognomik sieht K. Leese trotz O. Spenglers Kritik an Hegel in dessen Untergang des Abendlandes vielmehr „eine Einstimmigkeit" zwischen beiden. Aber auf der anderen Seite unterscheidet er auch zwischen beiden, indem er Spenglers Denkart als „pluralistisch", Hegels als „monistisch" kennzeichnet (K. Leese: Die Geschichtsphilosophie Hegels auf Grund der neu erschlossenen Quellen. 101). Dabei scheint K. Leese jedoch übersehen zu haben, daß es in Hegels geschichtlicher Auffassung der neuzeitlichen Periode, die sich vor allem in seiner Charakteristik des protestantischen Prinzips und des modernen Staates verdeutlichen läßt, um die „Partikularität" und damit um die Anerkennung der „Pluralität" der Kulturen und Weltanschauungen geht.
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umgekehrt die früheren Entwicklungsmomente konstruktiv sind für unsere Erkenntnis des jetzigen Zustandes des Geistes. Auf der Basis der Analyse der „formellen Bildung" als der Notwendigkeit des Lernens aus der Geschichte läßt sich Hegels teleologisches Konzept der Weltgeschichte nur als methodischer Entwurf verstehen, nicht als inhaltliche Festsetzung des Telos, der Vollendung. D. h. Hegel entwickelt eine Theorie, um die Entwicklung des Geistes in der Weltgeschichte zu erläutern, aber er kann die reale Konstellation der letzten Entwicklungsperiode, wo die germanische Welt im Zentrum stehen sollte, nicht ohne weiteres auch inhaltlich mit seiner teleologischen Theorie abdecken. In den späteren Vorlesungen in Berlin spricht er daher von der „Partikularität" des Ideals, das in der Weltgeschichte als „Staat" zu erfassen ist. Das heißt, Hegel sieht offensichtlich ein, daß es in der modernen Welt keine absolute, für alle verbindliche Sittlichkeit und damit zugleich keinen Staat gibt, in dem sich eine solche Sittlichkeit endgültig verwirklicht. Solange sich der Geist, die Idee durch eine konkrete Gestalt, d. h. das Ideal realisiert, um als wahr vollziehbar zu sein, muß die Realisierung „partiell" bzw. „partikular" bleiben. Stellt man es am Beispiel der Asthetikvorlesungen dar, so ist die harmonische Identität der Idee und der Gestalt nur in der griechischen Antike möglich, auch hier aber nicht ohne Einschränkung.31 In der modernen Welt kann die Gestalt also nur auf den Geist verweisen, ihn nicht in einer isolierten Gestalt und Gestaltung vollständig verwirklichen.32 Ebenso gelangt der Staat, der nach Hegel „konkrete Allgemeinheit", „substantielle Freiheit" ist, in der modernen Welt nicht über die „Partikularität" hinaus, „sofern er ein faktisch-singulärer ist".33 Die „Partikularität" ist in Hegels logischem System eben dasjenige, was zur Allgemeinheit aufgehoben werden muß. Sie ist aber de facto in der modernen Welt herrschend und enthält andererseits ein positives Element unter kulturphilosophischem Gesichtspunkt, wo es Hegel um die Erhaltung der Pluralität der Weltkulturen geht, die auf der jeweiligen „Parti31
Dieses hat O. Pöggeler in seiner Analyse der griechischen Tragödie gezeigt (vgl. O. Pöggeler: Hegel und die griechische Tragödie. In: ders.: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg/München 1973,79-109). 32 Vgl. Emil Angehrn: Vernunft in der Geschichte? Zum Problem der Hegelschen Geschichtsphilosophie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 35 (1981), 341-365, hier: 344. 33 Ebd. E. Angehrn weist darauf hin, daß Hegel eine Institution, die die einzelnen Partikularitäten (Staaten) übergreift, zu konzipieren versucht, daher vom „Weltgericht'' spricht, das „die Stelle der fehlenden überstaatlichen Rechtsinstanz einnimmt" (G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 340).
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kularität" basieren, aber in den kulturell nächstfolgenden Entwicklungsstand „aufgehoben" werden müssen. Diese Notwendigkeit einer Unabschließbarkeit des geschichtlichen Fortschritts wird durch Hegels Konzeption der „formellen Bildung" ersichtlich. Da in der modernen Welt nur die „Partikularität" und mithin die jeweils beschränkte Entfaltung in der Realisierung des Geistes möglich ist, bleibt die „formelle Bildung" nötig, durch die wir möglichst vieles Verschiedene, Andersartige, zu akzeptieren lernen und damit zugleich unseren eigenen Standpunkt einschätzen können (im Sinne der Selbstvergewisserung) und bereichern können (im Sinne des Fortschritts). Die alten und fremden Kulturen, hier insbesondere die orientalische Welt und Kultur gewinnen daher bei Hegel in Hinsicht auf die partikuläre und mithin plurale Entfaltung des Geistes im modernen Staat Aktualität. Verbunden mit dieser allgemeinen geschichtlichen Bildung bleibt auch die Bedeutung der Kunst „für uns" bestehen, solange sie die Funktion der „formellen Bildung" durch die Vermittlung der „Partikularität" des Fremden und Anderen übernimmt und damit unser geschichtliches Bewußtsein in Frage stellt (durch die Konfrontation der Partikularität als wechselseitige Kritik) und bereichert (durch die Integration des zeitlich wie kulturell Fremden).
Ill HEGELS WE LT GE SCHICHTS KONZEPTION REZEPTION UND KRITIK
OTTO PÖGGELER (BOCHUM)
KONKURRENZ IN SACHEN GESCHICHTSPHILOSOPHIE: FRIEDRICH SCHLEGEL UND HEGEL In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts versuchten die Deutschen in Kunst und Literatur eine goldene Zeit heraufzuführen, wie Italien, Spanien, Frankreich und England sie längst gehabt hatten. Dieser Versuch ging aber zusammen mit einem reflektierten geschichtlichen Bewußtsein. Lessing sprach von einer „Erziehung des Menschengeschlechts"; als man ihm die theologischen Kontroversen untersagte, suchte er durch sein Nathan-Drama von der Bühne her zu zeigen, wie die Grunderfahrungen der Menschen zu einer Grenze führen, wo eine „Weisheit" ungesichert und ein Wagnis bleibt.1 Immanuel Kant blickte auf die Geschichte mit weltbürgerlichen Absichten, wenn auch ohne Drängen nach einem Weltstaat. Die Urteilskraft sollte Geschichte aufschließen. Für uns heute bleibt der Streit, ob diese Urteilskraft gegenüber der Auslieferung an ein schicksalhaftes Geschehen die politische Dimension im menschlichen Leben wachhält oder nur noch ein schwacher Abglanz etwa von Vicos Zugang zur Geschichte ist. Kant wurde nicht nur überboten durch die konstruktive Radikalität Fichtes; neben ihm stand auch Herder, der sich die Geschichte der Menschheit mit einem reichen Erfahrungswissen erschloß. Der Versuch Winckelmanns wurde aufgenommen, die Sache der Kirnst aus der Geschichte der antiken Kunst und dem erschöpfenden Ablauf ihrer Stile zu erfassen. Doch zur Orientierung an der Antike trat nun der Bezug zur altgermanischen, zur persischen und zur indischen Geschichte.2 1
Vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs: Vernunft als Weisheit. Studien zum späten Lessing. Tübingen 1991. - Zum folgenden vgl. die Skepsis, die Hans-Georg Gadamer (anders als etwa Hannah Arendt oder Ernst Vollrath) zu Anfang von Wahrheit und Methode gegenüber Kant äußert. 2 Erich Auerbach hat Meineckes Darstellung des „Historismus" aus europäischer Perspektive heraus relativiert: Mimesis, Bern 21959.413. Andererseits hat Michael Landmann unter Berufung auf Erich Rothacker Herders Metaphysik des geschichtlichen Absoluten verteidigt; vgl. Otto Pöggeler: Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie. Freiburg/München 1994.464 ff.
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Jene, die um 1770 geboren wurden, bildeten in dieser Aufbruchszeit zum ersten Mal so etwas wie eine zusammenhängende „Generation“; die Burschenschaftler und die Jugendbewegung konnten ihnen in dieser Erfahrung folgen. Man traf sich damals nicht nur in Berlin, in Dresden und in Jena; auch der Raum um Frankfurt gab mannigfache Möglichkeiten der Vereinigung. Hölderlin, durch Isaak von Sinclair in die Einsamkeit von Homburg vor der Höhe gerufen, wollte dem Leichtsinn und Synkretismus des Athenäums einen Widerstand entgegenstellen. Als er mit dem Plan der Zeitschrift Iduna scheiterte, wandte sein Weggefährte Hegel sich doch dem „literarischen Saus" von Jena zu.3 In Jena wirkte nach Reinhold und Fichte nunmehr Schelling; doch zeigen Hegels Arbeiten, daß er auch die „neue Schule", nämlich die Schriften Friedrich Schlegels genau studiert hatte. Hegel hat immer anerkannt, welche Bedeutung Friedrich Schlegel, der Lehrer der Brüder Boisseree, für die Neuentdeckung der mittelalterlichen Literatur und Kunst hatte. Hegel hat auch einmal festgehalten, daß die „Vortrefflichkeit des katholischen Mittelalters" bekanntlich „nirgends als in Norddeutschland erfunden worden ist".4 Es bleibt aber unklar, ob Hegel sich dabei über Novalis hinaus auf die frühesten Anfänge zurückbezieht. Die Berliner Stadtkinder Wackenroder und Tieck hatten Bamberg und Nürnberg und dann auch die Dresdener Gemäldegalerie besucht. So hatte Wackenroder Raffael neben Dürer gestellt; Raffaels Wort, er habe seine Galathea nach einem inneren Bild in seiner Seele gemalt, wurde auf Raffaels Madonnenbilder bezogen. Die christliche Malerei war nun so lebensbedeutsam geworden, wie das für Winckelmann die antiken Statuen gewesen waren. Zugleich zeigte Wackenroder (auch an seiner Figur des Musikers Berglinger), daß diese eher genießende als schaffende Kunstreligion zum Gift für das Leben werden kann. Tieck nahm dieses Künstlerschicksal als Thema seiner Romankunst auf: sein Maler Sternbald kann den Zwiespalt zwischen Leben und Kunst nicht schließen. Der Dürer-Schüler wandert in die Niederlande und nach Italien. Er will die Natur wiedergeben wie die Niederländer, doch treffen seine Empfindungen schon so auf Naturmächte, wie das später Caspar David Friedrich zeigte. Sternbald soll ins Mittel-
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Briefe von und an Hegel. Hrsg, von Johannes Hoffmeister u. a. Hamburg 1952 ff. Bd 1. 58 ff. Vgl. auch Otto Pöggeler: Ist Hegel Schlegel? Friedrich Schlegel und Hölderlins Frankfurter Freundeskreis. In: „Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde". Das Schicksal einer Generation der Goethezeit. Hrsg, von Christoph Jamme, Otto Pöggeler. Stuttgart 1983.325 ff. 4 Briefe von und an Hegel. Bd 1.205.
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alter gehören, doch verfällt er der sinnlichen Pracht Tizians und Corregios, hört aber auch den ethischen Anspruch in Michelangelos Jüngstem Gericht. Vor lauter Nachempfindung kommt der Maler nicht zum eigenen Werk. Der Roman muß Fragment werden, da das Leben des Malers sich in den langen Wanderungen nicht zur Gestalt rundet. Aus einer ganz anderen Atmosphäre stammt das Gespräch Die Gemälde, das August Wilhelm Schlegel 1799 im Athenäum erscheinen ließ. Wiedergegeben werden die Gespräche der Romantiker in der Dresdener Gemäldegalerie; muß die Forderung einer neuen Mythologie nicht auch die christliche Malerei als Urbild nehmen? Während Schleiermacher Religion ohne Mythos wollte, bestätigten Schelling wie auch Hegel, daß die Kunst wieder „katholisch" werden, nämlich durch eine Mythologie das Leben des Volkes prägen müsse. Als Friedrich Schlegel auf der Reise nach Paris die Burgen und Dome Europas gesehen hatte, konnte er die Geschichte dieser Malerei beschreiben und zu den Italienern die Niederländer und Deutschen seit Johann van Eyck stellen. Schlegels Weg führte in die katholische Kirche; seine Stiefsöhne, die Brüder Veit, konnten sich den Malern anschließen, die im Wiener Lukasbund oder im Kloster S. Isidore in Rom zum großen Teil den Weg zurück zur alten Kirche fanden. Für einen Philosophen wie Hegel dagegen wurde die christliche Malerei zu einer grundstürzenden Erfahrung erst, als er in Heidelberg die Ausstellung der Sammlung der Brüder Boisseree sah. Dabei gehörten die Bilder nicht mehr in eine fortwirkende Tradition, die man ablehnte (wie in Köln); sie forderten auch nicht dazu auf, die alte Kirche zu erneuern. Vielmehr wurden die Bilder im reformierten Heidelberg, über das der Bildersturm hinweggegangen war, mit neuen Augen, aber historisch und ästhetisch gesehen.5 Die differenzierte Romantikforschung unserer Tage beachtet, daß Friedrich Schlegel die geschichtsphilosophische Problematik schon in seinen literarischen Anfängen aufgenommen hat. Er rezensierte 1795 in Niethammers Philosophischem Journal jene Skizze vom Fortschreiten des menschlichen Geistes, die Condorcet beim Scheitern der Revolution kurz vor dem Tode entworfen hatte. Schlegel nahm den Gedanken der „Perfektibilität" des menschlichen Geistes auf; doch überwog in der Erörterung der Details die Kritik. Die wirklich geschehene Geschichte sollte von einer transzendentalen oder apriorischen Geschichte her verstanden werden. So sagte Schlegel gegen Condorcet: „Die Epochen einer 5
Vgl. Kunst als Kulturgut. Die Bildersammlung der Brüder Boisseree. Hrsg, von Annemarie Gethmann-Siefert, Otto Pöggeler. Bonn 1995.
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wissenschaftlichen Geschichte der Menschheit müssen nicht nach glücklichen äußern Veranlassungen, und daraus erfolgten merkwürdigen äußern Revolutionen, sondern nach den notwendigen Stufen der innem Entwicklung eingeteilt werden." Wenn die Geschichte ihren Newton findet, kann auch der künftige Gang der menschlichen Bildung sicherer vorherbestimmt werden.6 Kants Schrift Zum ewigen Frieden veranlaßte Schlegel zu dem Versuch über den Begriff des Republikanismus. Während Kant auf Gewaltenteilung und auf ein Repräsentativsystem setzte, suchte der junge Schlegel unter Berufung auf die Griechen und im Sinne der französischen Revolution eine unmittelbare Demokratie. Er begnügte sich nicht mehr mit dem Völkerrecht und den Menschenrechten, sondern forderte eine Weltrepublik. Schlegel hatte den Entschluß gefaßt, der Winckelmann der griechischen Poesie werden zu wollen. Die Geschichte der griechischen Dichtung sollte als ein Prozeß beschrieben werden, in dem die Dichtung ihre natürlichen Möglichkeiten erschöpft. Doch zum Alten trat das Moderne, und damit folgte dem sich in sich schließenden Zyklus der alten Literatur eine Geschichte der modernen Literatur, die unvollendet und offen bleibt. An diese Gedanken konnte das Athenäum mit der Forderung nach einer unvollendbaren, progressiven Universalpoesie anschließen. Schlegel trat an der Jenaer Universität mit der Auffassung auf, daß nun geschichtlich und nicht nur kritisch gedacht und philosophiert werden müsse. Da Schiller naive und sentimentale Poesie unterschied, war der Zusammenstoß mit ihm unvermeidlich. Als Schlegel 1802 nach Frankreich aufbrach, traten die Zeugnisse der christlichen Baukunst und Malerei vor seinen Blick; dazu kam dann das Studium der indischen Sprache und Weisheit. Im Winter 1805/06 konnte Schlegel in Köln Vorlesungen über Universalgeschichte halten. Der erste Satz faßte die Wissenschaft überhaupt als eine genetische, die Geschichte als „die universellste, allgemeinste und höchste aller Wissenschaften". Der dritte Satz fand in Religion und Politik den eigentlichen Gegenstand der Universalgeschichte; die Fortschritte in den Wissenschaften, den Künsten und den technischen Erfindungen gehörten „nur indirekt" zur Universalgeschichte.7 6
Vgl. Friedrich Schlegel: Studien zur Geschichte und Politik. Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Hrsg, von Ernst Behler u. a. München, Paderborn, Wien und Zürich 1958 ff. Bd 7.3 ff, vor allem 5 f; zum folgenden 11 ff. 7 Vgl. Friedrich Schlegel: Vorlesungen über Universalgeschichte (1805-1806). Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd 14.3.
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Der junge Hegel war als Stipendiat des Herzogs von Württemberg und dann als Hofmeister in der Schweiz und in Frankfurt damit konfrontiert worden, daß Frankreich die Gedanken seiner Revolution schließlich gewaltsam und durch Eroberungen in andere Länder trug. So hatte Hegel sich sehr früh schon mit Verfassungsfragen beschäftigt. Was sich in Jena hervorgetan hatte, war für ihn ein wirklichkeitsfernes Treiben, und so bezeichnete er Jena schließlich als ein „Kloster“.8 Er selbst wollte mit einer Schrift über die Verfassung Deutschlands Österreich für die Erneuerung des Reiches mobilisieren. Als Österreich sich mit dem freiheitsungewohnten Rußland verband, bekannte Hegel sich zum Rheinbund und zu Napoleon. Im Mai 1809 gratulierte er seinem Freund und Förderer Niethammer zur Befreiung von den Österreichern durch Napoleon; er rechnete den Wiener Kriegspublizisten Schlegel zu den „arbeitslosen und ausgehausten Lumpen", die für kurze Zeit auch in Nürnberg die Österreicher bejubelt hatten. Hegel begrüßte es, daß „die Friedrich Schlegelsche Befreiung und Katholisierung“ geradezu „vor die Schweine gegangen“ war.9 Als Hegel dann Mitredakteur der Heidelberger Jahrbücher wurde, wollte er selbstverständlich Schlegels Vorlesungen Über die neuere Geschichte rezensiert sehen. In Berlin konnte Hegel für seine geschichtsphilosophischen Vorlesungen schließlich noch Schlegels Philosophie der Geschichte verwenden. Die Auseinandersetzung der beiden Konkurrenten wird aber bis heute dadurch verdeckt, daß Hegel und die Hegelianer Schlegels Geschichtsphilosophie aus der Diskussion verdrängen konnten.
I. Die Verdrängung Schlegels Hegels Phänomenologie des Geistes, 1807 als Versprechen eines Systems der Wissenschaft publiziert, wurde schon von Rudolf Haym als Abschluß und Überwindung der Tendenzen der „romantischen Schule“ aufgefaßt. Emanuel Hirsch publizierte 1924 den detaillierten Nachweis für die „Beisetzung der Romantiker" im Gewissenskapitel der Hegelschen Phänomenologie. Zu zeigen blieb, daß Hegel die Gestalten und Sta8
Vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 4. Teil 2. 83. Zum einzelnen vgl. Otto Pöggeler: Hegel und die Jenenser Romantik. In: Evolution des Geistes: Jena um 1800. Hrsg, von Friedrich Strack. Stuttgart 1994. 545 ff. - Zum folgenden vgl. meine Einleitung zu G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft Heidelberg 1817/18. Hrsg, von C. Becker u. a. Hamburg 1983. 9 Vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 1.283; zum folgenden Bd 2.153.
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tionen von Jacobis Roman Waldemar nahm, um mitleidslos das Schicksal von Generationsgenossen wie Novalis, Schleiermacher, Hölderlin und Friedrich Schlegel zu entschlüsseln.10 Für den Berliner Hegel waren diese romantischen Gestalten, die drängend um die Geburtsstätte des selbstbewußten Geistes standen, bloße Herumsteher geworden. Er drosch nun auf Schlegel ein, um zugleich den „Nachtreter" in den Briefen eines „Ungenannten" über die Lucinde zu treffen, also seinen neuen Berliner Konkurrenten Schleiermacher. Als Schlegel 1822 den Zyklus der ideahstischen Philosophie überhaupt als eine Verirrung abtat, erschien Hegel nur als nachgeäffter Fichte. Es verwundert nicht, daß Hegel Schlegel nun die Fortentwicklung von der „göttlichen Frechheit" der Lucinde zu einer „satanischen oder diabolischen Frechheit" zusprach. Die Nachricht, daß er selbst (bei seiner Ankunft in Jena 1801) einmal eine Vorlesung Schlegels besucht habe, kann Hegel nur verhöhnen: durch solche „Allotria" solle der „Ursprung der Hegelschen Philosophie etwa sogar einer gewissen Kirche" vindiziert werden.11 Doch der Scharlatan Schlegel, der nach Hegel immer nur über Philosophie urteilte und nie selbst systematisch philosophierte, publizierte 1829 eine Philosophie der Geschichte. Damit trat er auf Hegels ureigenstem Gebiet als Konkurrent auf. Hegel hat seine Philosophie der Weltgeschichte erst in der Vorlesung vom Winter 1822/23 von der Rechtsphilosophie abgelöst. Für die Vorlesung vom Winter 1830/31 schrieb er (offenbar auch als Vorbereitung einer Publikation) eine neue Einleitung. Dieses Manuskript kommt sehr bald auf Schlegels Thematik, die aber von Schlegels Gegner Niebuhr her eingeführt wird: auch unter Historikern, die „auf das sog. Quellenstudium sich alles zugute tun", seien apriorische „Erdichtungen" üblich. So fabele man von einem ersten und ältesten Volk, das unmittelbar von Gott belehrt worden sei, in vollkommener Weisheit gelebt und die Natur gekannt habe. Man spreche von Priestervölkem oder von einem römischen Epos als Quelle der römischen Geschichtsschreiber.12 In seiner Solger-Rezension hatte Hegel Solgers Kritik an dieser These vom 10
Vgl. Otto Pöggeler: Hegels Kritik der Romantik. Bonn 1956.49 ff; Dietmar Köhler: Hegels Gewissensdialektik. In: Hegel-Studien. 28 (1993). 127 ff. - Zum folgenden vgl. Hegels Erläuterung zu § 140 und § 164 der Rechtsphilosophie. 11 Vgl. G. W. F. Hegel: Berliner Schriflen. Hamburg 1956.182,372. Vgl. auch den Ausstellungskatalog Hegel in Berlin. Preußische Kulturpolitik und idealistische Ästhetik. Hrsg, von Otto Pöggeler u. a. Berlin 1981.113 ff. Uber Schlegel und Hegel vgl. unten Anm. 22. 12 Vgl. G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Hamburg 1968 ff. Bd 18.142. - Zum folgenden vgl. Hegel: Berliner Schriften. 171.
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Zusammenhang zwischen Epos und Geschichtsschreibung in Rom angeführt; er hatte dabei auch auf Schlegels Niebuhr-Rezension von 1822 verwiesen, die nach Solgers Auffassung Niebuhrs Hypothesen vom römischen Epos widerlegt habe. Für den Gang der Geschichte verteidigt Hegel den Gedanken der Perfektibilität, der von Religionen wie der katholischen und von statarischen Staaten übel aufgenommen worden sei. Er zitiert dann aus Schlegels Philosophie der Geschichte besonders eindrucksvolle Ausführungen über eine angebliche Uroffenbarung und deren „Spuren“ als eine Erdichtung.13 Doch hätten Auffassungen wie diese dazu geführt, die alte Volkergeschichte zu erforschen und „Fragmente“ der ersten geoffenbarten Erkenntnis „noch in ihrer größeren Reinheit“ aufzusuchen. Schlegel hatte sich offenbar der Zeit der Gemeinsamkeit mit Novalis erinnert und am Schluß seiner Vorlesungen auf Saint-Martin und de Maistre verwiesen. Hegel gibt zu, daß die katholischen Regierungen in gebildeten Ländern sich der Anforderung des Gedankens nicht entschlagen konnten und sich in den Bund mit Gelehrsamkeit und Philosophie gesetzt haben. Auf diese Weise sei Schätzenswertes in der Erforschung der orientalischen Literatur, der altasiatischen Zustände, überhaupt der Mythologie, Religion und Geschichte zustandegekommen. Hegel verweist auf aktuelle Bemühungen in Frankreich: auf die apologetische Gelehrsamkeit des Abbe Lamennais, die neue Wirksamkeit der Congregation de Marie unter den zurückgekehrten Bourbonen. Das Journal le Catholique des Barons von Eckstein arbeite mit den oberflächlichen „naturphilosophischen" Vorstellungen Schlegels, aber geistreicher als dieser selbst. Hegel läßt die Buddhismusforschung von Abel-Remusat nicht aus, verwechselt aber den mystischen Philosophen Louis Claude de Saint-Martin mit Antoine Jean Saint-Martin, der Arbeiten zur orientalischen Geschichte vorgelegt hatte. Als Hegel seine letzte Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte hielt, kamen ihm Vorträge in die Hand, die Joseph Görres gehalten hatte - an der neuen Münchener Universität, welche nun mit Berlin konkurrieren wollte. Görres ließ nur die drei Einleitungsvorträge einer Vorlesung drucken, in denen es um den Ansatz zu einer Geschichtsphilosophie und um die Gliederung der Weltgeschichte ging. Hegel rezensierte das Büchlein in den Jahrbüchern Jur wissenschaftliche Kritik. Dabei machte er darauf aufmerksam, daß der Ausleger alter My-
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Vgl. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 18.187; zum folgenden ebenda 188 f.
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then und der Tagespolitiker Görres sich nun vorstelle als Deuter der Weltgeschichte, welche Ältestes und Jüngstes verbinde. Görres gebe aber nicht den „Beweis", daß Vernunft auch in der Geschichte sei. Vielmehr stütze er sich auf die „Anschauung" (was Hegel schon in Jena am Naturphilosophen Görres kritisiert hatte). Hegel mißbilligt die Vorliebe für älteste Mythen; er kann es nicht hinnehmen, daß die griechischen Götter auf ihre orientalischen Wurzeln und damit auf Naturmächte oder auf die Dämonen der Kirchenväter reduziert werden; vor allem erscheint es ihm nicht als angemessen, daß die Mythologie ihre höchste Ausgestaltung oder Umgestaltung in der hebräischen und der christlichen Bibel finde und Hinweise der Bibel auf die Zeiten vor und nach der Sintflut sich mit Spekulationen zur Geschichtsgliederung verbinden. Es mußte Hegel unbehaglich werden, wenn Görres noch einmal die Hoffnung der Jenaer Romantik, aber auch des Hegelschen „Systemprogramms" artikulierte, es werde ein Zeitalter wiederkommen, das über die staatliche Verfaßtheit des gemeinsamen Lebens und auch über die verfestigte Kirchlichkeit hinausführe. Auch hier kritisiert Hegel den Glauben an eine Uroffenbarung, die von Priesterkasten tradiert worden sei, jedenfalls mit ihren Spuren die Geschichte durchziehe. Hegel läßt den Hinweis nicht aus, daß die Münchener Bestrebungen sich mit Tendenzen im kaiserlichen Wien und im bourbonischen Paris verbinden. Görres, so schreibt er, treffe sich mit Friedrich Schlegel und mit katholischen Schriftstellern in Frankreich wie dem Abbe Lamennais, dem Baron Eckstein und der „Kongregation".14 Hegel konnte nicht ahnen, was sein Schüler Rosenkranz dann festhielt: daß Görres schon vergegenwärtigte, was Schelling ein Jahrzehnt später in Berlin gegen die Hegelschule als Philosophie der Mythologie und Offenbarung vortrug. Hätte Hegel sich nicht besser auseinandergesetzt mit der Philosophie der Geschichte von Friedrich Schlegel, die vollständig ausgearbeitet, in Wien 1828 vorgetragen und dann 1829 auch in zwei Bänden gedruckt wurde? Hegels Schüler konnten sich diese Auseinandersetzung nicht ersparen. Karl Rosenkranz veröffentlichte schon 1831 in dem Hallenser Literarischen Anzeiger Tholucks eine ausführliche Besprechung. Friedrich Schlegel habe „vor vielen Andern Beruf zur Philosophie der Geschichte", da er viele Bildungswelten durchlebte, sich in manchen gesellschaftlichen Kreisen und vielen Ländern bewegte. Doch die Vorle14
Vgl. Hegel: Berliner Schrißen. 427, 436. - Zum folgenden vgl. Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben. Berlin 1844.404 f.
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sungen enttäuschten, weil Schlegel vor allem das Bestreben habe „den Römischen Katholizismus zu rechtfertigen". Das sei nicht abzulehnen, doch stand für Rosenkranz fest: „Wir Protestanten können durchaus nicht anders, als in der Wissenschaft die Vermittlung sehen, welche allein den Katholizismus aus seiner Starrheit zu lösen und ihn dem Protestantismus zu nähern fähig ist." Freilich hoffe Schlegel, daß Katholizismus wie Protestantismus sich reinigten und eine bessere christliche Kirche hervorbrächten; doch stehe das Dogma für ihn unabänderlich fest.15 Rosenkranz kann die Freiheit als Ziel der Geschichte nicht schon in ihrem Beginn finden, nicht eine ursprüngliche Offenbarung dem Priestertum anvertrauen, da nach protestantischer Auffassung das „Pfaffentum" zerstört sei. Schlegel sehe vor allem nicht, daß im Christlichen jenes „demokratische Element" liege, das Bürgertum, Adel und Volk neu verbinden könne. Vielmehr verfolge Schlegel dieses Element mit Haß, und seine Vorlesungen würden immer unbefriedigender, je mehr sie sich der Gegenwart näherten. Schlegel fordere die „Restauration", doch für Protestanten gebe es „keine Wiederherstellung, nur Fortschritt". Es bleibe bei „rührenden" Worten, wenn Schlegel am Schluß diese Restauration mit apokalyptischen Hoffnungen verbinde. Als Eduard Gans 1837 Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte herausgab, bemerkte er in der Vorrede, daß sich viele mit der Geschichte befaßt, aber nur „vier Männer" eine ausgearbeitete Philosophie der Geschichte vorgelegt hätten: Vico, Herder, Friedrich von Schlegel und Hegel. Gans gibt (offenbar von Pariser Anstößen her) eine Rechtfertigung Vicos, der Hegel wohl noch nicht konkret bekannt wurde. Die Leistung von Herders dichterischer und predigender Geschichtsphilosophie wird eingeschränkt. Die schärfste Kritik trifft Schlegel. Bei ihm fange die Philosophie der Geschichte mit dem „ungeheuren Bedauern" an, „daß es überhaupt eine Geschichte gebe". „Die Geschichte ist Abfall, Verdunkelung des reinen und göttlichen Seins, und statt daß Gott darin erkannt werden soll, ist es vielmehr das Negative Gottes, was sich darin spiegelt." Der Protestantismus gilt als eine weitere Verdunkelung, und so bleibt die Hoffnung auf Besserung voller Zweifel. In der Darstellung der Geschichte der einzelnen Völker durch Schlegel findet Gans eine „geistreichflache Entwickelung, die in einer glatten Sprache Ersatz für den oft ausgehenden Gedanken sucht". „Ein Wunsch sich zu beruhigen, sich zu rechtfertigen und den katholischen 15
Vgl. Karl Rosenkranz: Das Verdienst der Deutschen um die Philosophie der Geschichte. Königsberg 1835.61 ff, vor allem 64 f, 67; zum folgenden 70,73 f, 75,78.
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Standpunkt gegen die Forderungen der neuen Welt festzuhalten, gibt der Behandlung etwas Gesuchtes und Prämeditiertes Als F. Lederbogen 1908 von Dilthey her und auf dem Boden der Geschichtsphilosophie Rudolf Euckens Schlegels Geschichtsphilosophie von den Anfängen bis zur späten Philosophie der Geschichte darstellte, verwies er auf die Kritik von Rosenkranz, daß Schlegel vor allem den römischen Katholizismus in seiner späten Geschichtsphilosophie habe rechtfertigen wollen. Gans habe sich dann vernichtend geäußert. „Das Urteil von Gans bildet für lange Zeit einen letzten Abschiedsgruß für die Schlegelsche Geschichtsphilosophie." Lederbogen aber will zeigen, daß Schlegels Beiträge zur Ausbildung einer historischen Weltanschauung und eines wissenschaftlichen Zugangs zur Geschichte zu wenig beachtet worden seien. In den späten Vorlesungen vereinigten sich Theolog, Historiker und Philosoph zu einem Triumvirat. Der Theolog habe die „dirigierende Leitung" übernommen, wenn er auch dem Philosophen „weitgehende Konzessionen" mache und dem Historiker „großen Einfluß" gewähre.16 Um 1840 waren es nicht mehr die Philosophen, sondern die großen Historiker, die Maßgebliches zur Selbstverständigung der Menschen beitrugen. Wenn sie ihre Eigenständigkeit suchten, dann setzten sie sich nicht ab von einer romantischen Geschichtsphilosophie, sondern von Hegel. Das gilt nicht nur für Karl Marx, sondern auch für Ranke, der Schlegel viele Anregungen verdankte. Wenn vor und nach dem Zweiten Weltkrieg die Geschichte erneut zum dringendsten Problem der Philosophie wurde, dann war der Widerpart wieder Hegel. Für Karl Jaspers stand fest, daß die Romantiker eine erfüllte Vorzeit imaginierten; zur Auseinandersetzung provozierten Hegel, Tocqueville, Burckhardt, Nietzsche und Max Weber. Karl Löwith hatte die Auflösung der Vermischung von Theologie und Philosophie auf dem Weg von Hegel zu Nietzsche schon dargestellt, als er die Geschichtsphilosophie als eine Säkularisierung der christlichen Heilsgeschichte zu entlarven suchte. Löwith zitierte das Athenäums-Fragment vom revolutionären Wunsch nach Realisierung des Reiches Gottes als Formulierung eines „Zeitgenossen Fichtes"; der Name des Autors Schlegel wurde im Text nicht einmal genannt. Rudolf Bultmann bestand auf der Linie, die von Herder zur Romantik führt; er nannte auch Novalis mit seiner Verherrlichung des Mittelalters. Doch geschieht nach seiner Auffassung schon 16
F. Lederbogen: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie. Ein Beitrag zur Genesis der historischen Weltanschauung. Leipzig 1908.65,7,151.
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bei Vico und Herder eine Naturalisierung der Geschichte - als ob die Erfahrung, daß geschichtliche Perspektiven das Denken der Menschen leiten, nicht einfach ein Phänomen wäre! Hans Freyer benutzte in seiner Weltgeschichte Europas neben Hegel und Nietzsche die Romantik nur indirekt über Dilthey.17 Kojeves hegelianische Geschichtsauslegung ließ die Romantik völlig aus. Heidegger zitierte gelegentlich Novalis; zum Widerstand gegen Hegels Geschichtsphilosophie ließ er sich durch Hölderlin führen. Sicherlich haben Wilhelm Dilthey (und in anderer Weise Friedrich Meinecke oder Hans-Georg Gadamer) eine Rechtfertigung der Leistungen Friedrich Schlegels eingeleitet. Diese Rechtfertigung bezog sich aber vor allem auf den frühen Schlegel; auch heute ziehen Schlegels Auseinandersetzung mit Schiller und die frühen Fragmente der Philosophischen Lehrjahre die Aufmerksamkeit auf sich. Besteht aber Reinhardt Koselleck nicht zu Recht darauf, daß Hegel nur zusammen mit der Romantik zur Historischen Schule führt und diese dann bleibende Anstöße für unser Verständnis von Geschichte gibt? Nichts darf uns davon abhalten, auch bei Friedrich Schlegel auf die Kontinuität seines Denkens zu achten und dann seine späten Vorlesungen auf gültig gebliebene geschichtsphilosophische Einsichten zu befragen.18
II. Der Streit um die Sache Zu Schlegels Kölner Vorlesungsreihen gehörten auch die 45 Vorlesungen über Universalgeschichte vom Winter 1805/06. Mit diesen Vorlesungen legte Schlegel die Grundlage auch für eine Philosophie der Geschichte als Universalgeschichte. Veröffentlicht wurde diese Vorlesung von ihm nicht. Doch stimmt das Manuskript mit bald folgenden Publikationen überein, wenn es nach einigen Prolegomena mit Indien beginnt. Die Untersuchung der Geschichte der Sprache, aber auch der Geschichte der Gesetzgebung und Mythologie hatten zu der Überzeugung geführt, daß die persische und die deutsche, die griechische und die römische Sprache mit der indischen verwandt seien. Alte Überliefe-
17
Hierzu und zum folgenden vgl. Otto Pöggeler: Ein Ende der Geschichte? Von Hegel zu Fukuyama. Opladen 1995. 18 Vgl. Reinhard Koselleck: Vergangene Zukunft. Frankfurt a. M. 1979, 21984. 18 f, 197 ff. Vgl. ferner Otto Pöggeler: „Der hohe weite Standpunkt der Geschichte der Menschheit". Romantische Geschichtsphilosophie. Turiner Kolloquium Romanticismo e Modemitä. 1995.
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rungen (nicht die Spatenforschung der heutigen Frühgeschichte) hatten sich in der Hypothese von einem Urvolk mit Spekulationen aller Art verbunden; die Hypothese konnte dem Fortschrittsgedanken dienen, aber auch im Rousseauismus einen Konkurrenten sehen. Für Schlegel hat sich die Sage von der Insel Atlantis wie die Hypothese von einem nordischen oder auch asiatischen Urvolk schon aufgelöst (seine Lehre von der Uroffenbarung und deren Spuren verknüpft sich in anderer Weise mit neuen Forschungen).19 Ägypten war nach der Eroberung durch Napoleon intensiv erforscht worden, doch tritt es bei Schlegel zurück. China kann nicht mehr die Rolle spielen, die es bei Voltaire hatte. Eine zeitgenössische krude Auffassung, die den Buddhismus vorzüglich vom Lamaismus her sieht, verzerrt das Bild Ostasiens. Die Bedeutung Zoroasters und der Feueranbeter kann gesehen werden, weil der Zendavesta von versprengten Gruppen in Asien tradiert wurde. Die neueren Perser stellen das Bindeglied zwischen der orientahschen und der griechischen Geschichte dar. Das zweite Buch gilt der alten, der griechischen und römischen Geschichte. Es sieht im Entstehen des Christentums einen „wunderbaren Anfang", der nicht „Gegenstand der Geschichte" sein könne, vielmehr Angelegenheit des Glaubens bleibe. Damit erinnert dieser neue Anfang nur daran, daß der Anfang wie das Ende der Geschichte nicht „natürlich", sondern nur „wunderbar" sein können.20 Das dritte Buch zur „mittleren Geschichte" beginnt mit Karl dem Großen. Schlegel verschweigt nicht, daß das „Mittelalter" den Menschen „in Rücksicht des Lebens und der Sitten zum Urbild dienen" muß. Es stellt als „Zusammenfassung der orientalischen Tiefe, der griechisch-römischen Form und der deutschen Moralität" ein Höchstes und Vollkommenstes dar. Byzanz biete als „ganz verdorbene lebendig-tote Nation" einen „so ermüdenden und traurigen Anblick", wie er sonst kaum in der ganzen Geschichte zu finden sei. Das vierte Buch läßt die „neuere Geschichte" mit der Reformation und der Entdeckung der Neuen Welt beginnen. Doch habe die „Revolutionszeit" der Reformation das schönste und größte Kunstwerk, nämlich das Urbild des Lebens im Mittelalter, zerstört. Abschließend stellt Schlegel die Aufgabe, die unvollendet gebliebene Verfassung des Mittelalters aufzunehmen und zu vollenden. Sie verdiene den Vorzug vor der „Nichtverfassung der Römer und Grie19
Vgl. Manfred Petri: Die Urvolkhypothese. Ein Beitrag zum Geschichtsdenken der Spätaufklärung und des Deutschen Idealismus. Berlin 1990. 20 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd 14.118; zum folgenden 168,210,213,255.
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chen"; sie vereine den Grundtypus der ältesten Verfassung, nämlich die indische Kasteneinteilung, mit der höheren Freiheit und den Rechten der Bürger und Künstler. Die Universalgeschichte wird Geschichtsphilosophie, wenn sie die Hauptperioden der Geschichte aus Prinzipien abzuleiten versucht. Schlegel geht davon aus, daß „die Epochen der Geschichte sich durchaus nicht mit Sicherheit a priori bestimmen lassen". In der menschlichen Geschichte sei eine „höhere Einwirkung" historisch sichtbar, die aber mit dem Bösen zu kämpfen habe. So legt Schlegel in der Bestimmung der Epochen drei Prinzipien zugrunde: ein natürliches, dann ein höheres göttliches und ein entgegenstehendes böses. Die Entwicklung der Welt und des Menschen zeige sich mit ihren Stufen auch in der Geschichte, aber mit der Möglichkeit der Abweichung. So kommt Schlegel zu sieben Perioden, von denen vier bisher verflossen seien. Die Gegenwart als fünfte Periode läßt z. B. in der Revolution antichristliche Tendenzen sich auswirken; ihr folgen die Perioden des Gerichts und der Erfüllung der Geschichte im Reiche Gottes.21 Der Darstellung der neueren Geschichte hat Schlegel Reflexionen über den politischen Zustand Europas angefügt. Er fordert ein Gleichgewicht zwischen Adel, Geistlichkeit und Bürgertum. Wenn dieses Gleichgewicht der Stände gestört sei, würden despotische Maßnahmen entweder Anarchie und Bürgerkrieg oder beim Gelingen den absoluten Despotismus erzeugen. Schlegel will den Auseinandersetzungen zwischen den Nationen durch Herstellung „natürlicher Grenzen" begegnen. Die Grenzen seien nicht nur klimatisch (also geographisch) bestimmt, sondern mehr noch durch Sprache, Nationalcharakter und Sitten. Nur bei Spanien und Italien träfen die klimatischen Grenzen mit den Nationen zusammen. So macht Schlegel Vorschläge zu einer Neuordnung, der er die kleineren Staaten bedenkenlos opfert. England soll mit Europa Zusammenhängen und deshalb einen festen Punkt auf dem Kontinent haben; dafür könne Holland besser dienen als Hannover. Rußland müsse einen Zugang zum Meer haben; deshalb sollen entweder die skandinavischen Mächte oder Teile der Türkei am Bosporus mit ihm vereinigt werden. Die Schweiz fällt an Frankreich. In Amerika sind nach Schlegel „alle Prinzipien von Verfassung zerstört"; so hat es keine Zukunft. Preußen hat sich diskreditiert, seit es im Kampf mit Schweden eine „geheime, tückische Politik" verfolgte. Wünschbar ist, daß es unter
21
Ebenda. 247 ff; zum folgenden 241 ff.
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den Rang einer bedeutenden Macht herabsinkt. Verhindert werden muß, daß Frankreich und Rußland sich Europa teilen. Frankreich, „jetzt das störende Prinzip von Europa", muß auf seine natürlichen Grenzen reduziert werden; da in diesem Lande „alles Gute zu sehr ausgerottet" ist, soll es unter eine geistliche Herrschaft gesetzt werden. Die Universalgeschichte Schlegels läuft in eine offene Zukunft aus. Doch mit den genannten Vorschlägen führt Schlegel sich als Politiker selbst ad absurdum. Er fragt nicht einmal, ob denn die alte Ständeordnung noch die Geschichte bestimme; vom abseitigen Schreibtisch aus verfügt er über das Schicksal von Völkern. Es ist verständlich, daß Metternich Schlegel als Propagandist nur in untergeordneten Stellungen verwandte und von der Formulierung der Direktiven seiner Politik femhielt. Von den späteren Arbeiten Schlegels lernte Hegel zuerst das Buch Über die Sprache und Weisheit der Indier von 1808 und die Vorlesungen Über die neuere Geschichte von 1811 kennen. Dazu mochten propagandistische Äußerungen und kleinere philosophische Arbeiten kommen.22 Hegel gehörte zu denen, die (wie Othmar Frank) die Geschichte mit der Unterscheidung von Gut und Böse auf dem iranischen Hochland durch einen sehr früh angesetzten Zoroaster beginnen lassen wollten. Die Ausstrahlung sei sowohl nach Indien wie zur Mittelmeerküste und nach Ägypten erfolgt. Noch in seinen ersten Berliner Vorlesungen über Philosophie der Kunst und Philosophie der Religion klingt diese Auffassung nach; dann erst läßt Hegel die Geschichte dem Lauf der Sonne folgen und von China über Indien und den Vorderen Orient nach Griechenland, Rom und Europa verlaufen. Hegel führt das Interesse französischer Forscher an Laotse oder Zoroaster zurück auf den Versuch, aus einer ursprünglichen und reinen, katholisch bewahrten Religion alle Religionen herzuleiten; für die Aktualität dieses Versuches steht dann Friedrich Schlegel. Die Weise, wie Hegel Schlegels Studien mit den neueren Untersuchungen von Colebrooke vergleicht, ist nichts als grobe und ungerechte Polemik: „Was Friedrich von Schlegel in seinem Buch Über die Sprache und Weisheit der Inder sagt, ist auch mehr aus den religiösen Vorstellungen gezogen. Er ist zwar einer der ersten Deutschen, die sich mit indischer Philosophie beschäftigt haben; aber er ist noch nicht weit damit gekommen; es zeigt sich gelegentlich, daß er weiter 22
Über Schlegel und Hegel vgl. Emst Hehler: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie. Paderborn 1988 und 1993. Bd 1. 9 ff und 236 ff; Bd 2.119 ff. - Zum folgenden vgl. Otto Pöggeler: Die Entstehung von Hegels Ästhetik in Jena. In: Hegel in Jena. Bonn 1980. (Hegel-Studien Beiheft 20.) 249 ff.
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nichts als die Inhaltsanzeige des Ramayana gelesen hat. Colebrooke ist mit der indischen Sprache bekannt, hat Sanskrit studiert (weil die Möglichkeit der Verfälschungen hierbei so mannigfach ist) und Auszüge aus den Vedas geliefert. Seine Abhandlungen sind also das erste Bestimmte, was wir von indischer Philosophie haben."23 Wenn Hegel von „natürlicher Religion" spricht, dann meint er nicht die Urreligion, die dann in Fragmenten bewahrt und schließlich durch das Christentum wiederhergestellt worden sei. Er sagt ausdrücklich gegen Schlegel, daß das Goldene Zeitalter durch Einfachheit der Bedürfnisse, aber nicht durch Erkenntnis der Gottheit ausgezeichnet sei. Der Geist sei nur, zu was er sich mache, und dafür brauche es dann die Geschichte. In seiner Kölner Zeit hat Friedrich Schlegel sich mit Karl V. befaßt und ein Drama über diesen universalen kaiserlichen Herrscher aus der europäischen Umbruchszeit geplant. Schlegels Vorarbeiten gingen dann ein in das Projekt, die Geschichte der neueren Zeit zu schreiben. Als Schlegel in Wien angekommen war, konnte er mit Hilfe des Historikers Hormayr Quellenstudien treiben, z. B. in der Korrespondenz des Kaisers. Die Vorlesung Über die neuere Geschichte, im Frühjahr 1810 in Wien vor einem erlauchten Publikum gehalten und 1811 gedruckt, wurde von der Kritik mehr auf ihre Schwächen hin angesprochen. Schlegel will die Philosophie, den Genuß der Schönen Künste und die Darstellung der Geschichte verflochten sehen. Die Philosophie ist geschichtlich geworden, die Schönen Künste haben in der Geschichte ihren Halt; umgekehrt ist die Darstellung der Geschichte nichts ohne Philosophie. Die Gedanken über die Vergangenheit erhellen die Gegenwart. Schlegel stellt die Völkerwanderung dar als Anstoß für den unvergleichlichen Reichtum der europäischen Geschichte: Rom konnte die Welt nicht zu einer einförmigen Einheit verschmelzen! Erst mit der elften der einundzwanzig Vorlesungen kommt Schlegel zu Kaiser Maximilian, um dann Karl V. einen breiten Raum zu gewähren. An dieser Stelle gibt Schlegel das Ziel seiner Vorlesungen an: Er möchte den verborgenen Grund jener Erschütterungen verstehen, welche sich in seiner eigenen Zeit zeigen; deshalb sollen die großen Erschütterungen der europäischen Geschichte - die Völkerwanderung, die Kreuzzüge, die Reformation - vergegenwärtigt werden. Nur beobachtend einzelne Züge der Zeitgeschichte zu erfassen, könne nicht ge23
G. W. F. Hegel: System und Geschichte der Philosophie. Leipzig 1940. 264, 294; zum folgenden G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 2. Hamburg 1985. 612.
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nügen. Man könne das eigene Zeitalter aber auch nicht dadurch erfassen, daß man ihm seine Stelle bestimmt in einem angeblich notwendigen Stufengang der Geschichte überhaupt. Bei weitem sei es nicht hinreichend, wenn wir durch einen Philosophen erfahren, das Zeitalter stehe ungefähr an der Grenze „zwischen der äußersten Entartung und der zu hoffenden Wiederherstellung und Verbesserung". Der Hinweis auf Fichtes Schrift von 1804 Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters ist deutlich. Schlegel gibt auch schon an, was ihm als „erste Grundkraft des bürgerlichen Vereins und der gesellschaftlichen Verfassung" bleibt: der Adel.24 Gegen Schluß seiner Vorlesungen verweilt Schlegel bei dem Gefühl, mit welchem „der Anblick der herannahenden Katastrophe" erfülle: „Wandelbar und vergänglich ist die Weltherrschaft. Aus ihrem uralten Sitz, an den großen Strömen Asiens, in Persiens reichen Tälern und Höhen kam sie an das kunstgebildete, frohgesinnte Volk der Griechen; dann an das ernste Rom, in des schönen Italiens Mitte; später je mehr und mehr in den Norden, an die Deutschen, an Österreich und Spanien, an Frankreich, England und Rußland." Das „wahre Leben" der Menschen aber bleibe dasselbe. Die Freiheit, die das Leben der Einzelnen trage, müsse gegenüber der Künstlichkeit des Staats bewahrt werden. Während England sich der Wirtschaft und dem Welthandel zugewandt habe, bleibe Österreich die bestimmende Macht des europäischen Kontinents. Kaiser Joseph II., der Sohn Maria Theresias, habe es unterlassen, die Öffentlichkeit für seine Reformabsichten zu gewinnen. Doch von Deutschland und von Österreich her erwartet Schlegel, daß das „Gift der Zerstörung", eine „falsche Aufklärung" zurückgewiesen und die Geschichte zu ihren Grundkräften zurückgeführt werde. Wenn Schlegel innerhalb seiner späten Vorlesungsreihen sich der Geschichte zuwendet, dann liest er nicht nur Universalgeschichte oder neuere Geschichte; er will die Geschichte im ganzen philosophisch von Prinzipien her aufarbeiten. Die Unterteilung der Geschichte von Wort, Kraft und Licht her weist zugleich auf eine Steigerung. Die erste Weltperiode sucht die Spuren des Urwortes der ältesten Offenbarung. Schlegel beginnt mit China, doch behält Indien weiterhin einen besonderen Akzent; es folgen die vorderasiatischen Reiche. Der Gedanke einer transzendentalen Geschichte scheint verwandelt auf, wenn Schlegel die einzelnen Völker auf die Ausbildung einer leitenden Fähigkeit bezieht: die Chinesen auf die Vernunft, die Inder auf die Phantasie, die
24 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd 7.271,272; zum folgenden 395,407.
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Ägypter auf den Verstand mit der Magie, die Hebräer auf den Willen mit der Sehnsucht. Die welterobemden Perser können dann den Übergang zur zweiten Weltperiode machen. Dort leiten die geistige und die sittliche Kraft die Griechen und Römer, doch darf das Symbol der Mythologie nicht mit dem Gegenstand verwechselt und magisch mißbraucht werden. Es muß hinführen zum Licht des christlichen Glaubens und damit zur dritten Weltperiode. Schlegel schließt mit einer Abgrenzung von der Philosophie seiner Zeit. „Der eigentümliche Grundfehler der deutschen Philosophie ist das Absolute, der wissenschaftliche Reflex von dem allgemeinen Fehler des jetzt auch im Leben absolut gewordenen Zeitgeistes, es mag derselbe nun in der philosophischen Gestalt der absoluten Ichheit, oder der pantheistischen Naturallheit, oder überhaupt als absoluter Gedanke, und absolute Vernunft auftreten .. Z'25 Die Ichheit verweist auf Fichte, die Naturallheit auf Schelling und die Romantiker; doch reklamiert Schlegel durchaus eine richtige, nicht „pantheistische“ Fortbildung der Naturphilosophie. Als Vertreter der absoluten Vernunft und des absoluten Gedankens mag Hegel im Blick stehen (der ja seine Enzyklopädie mit Überlegungen zur Stellung des Gedankens zur Objektivität begann). Was Schlegel gegen den Idealismus und dessen Konstruktionen betont, ist die Individualisierung der geschichtlichen Bildungen und die Offenheit der Geschichte, aber auch die stete Möglichkeit des Falls zum Bösen hin. Schlegel lehnt die oberflächliche und seichte Ausbildung der Idee der Aufklärung im 18. Jahrhundert ab. Auch der Gedanke eines europäischen Gleichgewichts scheint ihm nicht mehr zu genügen, da die Engländer durch den „Schiffsfaden" Europa mit Indien verknüpften. Müßte es nicht zu einem Gespräch der Völker oder Kulturen kommen, damit der „gordische Knoten des großen Welträtsels" gelöst werden kann? Schlegel berührt diese Frage flüchtig, ohne entscheidend über den Eurozentrismus hinauszugehen. Wenn er in grober Weise biblizistische oder apokryphe Ansätze zur Deutung und Gliederung der Weltgeschichte vorträgt, diskreditiert er sich selbst vor aller Verdrängung seiner berechtigten Anliegen. Mit seinen Stärken hätte Schlegel eine Alternative zu Hegels Geschichtsphilosophie geben können. Worauf man achtete, war aber allenfalls die katholisch-österreichische Position in ihrer konservativen Färbung; ihr trat der Vernunftprotestantismus Hegels unter Berufung
25
Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd 9.425; zum folgenden 392.
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auf das neue Preußen entgegen. Zu einer Auseinandersetzung um die jeweils entscheidenden geschichtsphilosophischen Motive, wie sie sich auf beiden Seiten in unterschiedlicher Gewichtung zeigten, kam es nicht. Auch der junge Hegel war von der französischen Revolution, ihrem künstlichen Staat und ihren Eroberungskriegen enttäuscht worden; so hatte er eine zeitlang auf die Josephinisch-Leopoldinische Reformtradition Österreichs gesetzt. Er glaubte gar in Österreich besonders starke Ansätze zur Bewahrung der Tradition der Selbstverwaltung in Kommunen und Korporationen sehen, Österreich wieder in die Pflicht für das deutsche Reich nehmen zu können. Als der Kaiser die Krone des alten Reiches niederlegte, Österreich sich mit dem freiheitsungewohnten Rußland verband, setzte Hegel auf Napoleon und erwartete von diesem „Staatsrechtslehrer" in Paris freiheitliche Verfassungen für die deutschen Staaten. In der Tat erhielten die kleineren süd- und westdeutschen Staaten neue Konstitutionen. Hegel entschloß sich schließlich doch für Berlin: Preußen blieb ihm nicht länger der ungeliebte Parvenü; Besucher aus dem Norden hatten ihm deutlich gemacht, daß dieser Staat nun auf Intelligenz gebaut werden sollte. Auch als der Schritt zur Verfassung in Preußen (wie in Österreich) zuerst einmal sistiert wurde, vertraute Hegel auf den langen Weg, der zu neuen Institutionen führen mußte.26 Hegel sah die Weise, wie sich in der Geschichte Neues vorbereitet hatte, ganz anders als Schlegel. Entscheidend für ihn war, daß die Stadt gegenüber dem Land in den neuen mittelalterlichen Gewerbe- und Handelsstädten den Weg in die Zukunft gefunden hatte: den Versuch, die Subsistenz für das Leben durch eigene Arbeit und Leistung zu gewinnen, die Effektivität der Arbeit durch die Arbeitsteilung zu steigern und die Arbeit überhaupt als Zugehörigkeit zum Wesen des freien Menschen anzuerkennen. Diese „bürgerliche Gesellschaft" sollte nun auch institutionell abgesichert werden: durch einen Aufbau des Staates mittels der Selbstverwaltung in Kommunen und Korporationen von unten herauf und dann durch eine Kammer gewählter bürgerlicher Vertretung in einem neuen Zwei-Kammer-System. Auch das agrarische Land mit seiner Gebundenheit an Erdverwurzelung und Tradition sollte durch den Adel und die Bauern bewahrt werden, aber so, daß der 26
Zum einzelnen vgl. Otto Pöggeler: Hegels Option für Österreich. In: Hegel-Studien. 12 (1977). 83 ff; ders.: Hegels Begegnung mit Preußen. In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von Hans-Christian Lucas und Otto Pöggeler: Stuttgart 1986.311 ff.
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Adel und auch der Monarch funktionalisiert wurden für begrenzte Rollen in der Gesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft hatte sich zu einer Weltzivilisation ausgebildet: Der Handel und die Gewerbe, dazu die Gemeinsamkeit in Religion, Kunst und Wissenschaft relativierten die Nationen, die dennoch auch ihre Abgeschlossenheit gegeneinander behalten sollten. Hegel kam zu der Auffassung, daß die Geschichte entfaltet hatte, was als System der Möglichkeiten überhaupt im Menschen liege, und so konnte er auf die Geschichte zurückblicken als auf einen Prozeß, der im wesentlichen an sein Ziel gekommen sei. Sicherlich konnte er gelegentlich anmerken, daß nach dem Untergang des alten Europa die Flügelmächte Amerika und Rußland die Zukunft bestimmen könnten - aber so, daß Amerika auf dem Weg zum Staat und Rußland auf dem Weg zur bürgerlichen Gesellschaft den europäischen Weg nachzeichneten. Mochte man die Geschichte in einem konservativen oder revolutionären Sinn dieser Tendenz zu einer Erfüllung und einem Ende unterwerfen - übersehen blieb, was Schlegel als Individualisierung in der Geschichte und als Offenheit und ständige Bedrohtheit der Geschichte betont hatte. So können die Hegelsche und die romantische Tradition nur zusammen den Weg zur heutigen Geschichtsphilosophie bezeichnen.
NORBERT WASZEK (PARIS)
GANS' ERBRECHT ALS RECHTSHISTORISCHE ANWENDUNG DER HEGELSCHEN GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND IM KONTEXT DES RECHTSWISSENSCHAFTLICHEN METHODENSTREITS SEINER ZEIT Weder um Gans' eigenes, bemerkenswertes Gelehrtenschicksal kann es in den folgenden Ausführungen gehen,1 noch soll hier seine kontroverse Leistung als Herausgeber Hegels gewürdigt werden.2 Anstelle dieser legitimen Fragestellungen sei Gans' Erbrecht3 als Fortsetzung, präziser als rechtshistorisches Anwendungsbeispiel der Hegelschen Geschichtsphilosophie thematisiert. Als Ausgangspunkt mag der Begleitbrief dienen, mit welchem Gans den ersten Band seines Erbrechts an Hegel schickte, und worin er schrieb: „Wie allein das Studium Ihrer Philosophie den Gedanken zur Ausarbeitung des einliegenden Buches gegeben, habe ich in der Vorrede zu demselben bekennen müssen." (Hegel-Briefe III, 32) Die Stelle seiner Vorrede, auf welche Gans hier anspielt, ist leicht zu identifizieren und lautet: „In den letzten Jahren habe ich mich mit größerem Eifer dem Studium der Philosophie, und namentlich ihrer letzten, tiefen und zeitgemäßen Gestaltung im Hegelschen Systeme zugewandt, und die Berechtigung für meine positive Wissenschaft in derselben zu finden gesucht. Seitdem ist mir das volle Bewustseyn aufgegangen, daß ein historisches Treiben, das nicht auf den Begriff, also auf das Letzte geht, nur hohle Aeußerlichkeit und lee-
1
Vgl. hierzu die einschlägigen Ergebnisse meiner bisherigen Bemühungen, Gans der Vergessenheit zu entreißen: Eduard Gans (1797-1839): Hegelianer - Jude - Europäer. Texte und Dokumente. Hrsg, von N. Waszek. Frankfurt/Main 1991 (Sigle: Waszek: Gans); Edouard Gans: Chroniques franqaises 1825-1830-1835. Übersetzt von Myriam Bienenstock, hrsg. von N. Waszek. Paris 1993; Eduard Gans: Rückblicke auf Personen und Zustände. Berlin 1836. Nachdruck mit Einleitung, Anmerkungen und Bibliographie. Hrsg, von N. Waszek. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995 (Sigle: Gans: Rückblicke). 2 Gans betreute Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) und seine Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte im Rahmen der sogenannten ,Freundesvereinsausgabe' von Hegels Werken Berlin 1832-45. Die von Gans betreuten Bände erschienen 1833 (Rechtsphilosophie) und 1837 (Geschichtsphilosophie). 3 Eduard Gans: Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung. Nur 4 der geplanten 6 Bde sind erschienen: Bd 1: Berlin 1824; Bd 2: Berlin 1825; Bd 3: Stuttgart/Tübingen 1829; Bd 4: Stuttgart/Tübingen 1835 (Sigle: Gans: Erbrecht).
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res inhaltloses Spiel bleibt. Hegel und seinen Schriften habe ich, der ich im Zwiespalt, zwischen meinem abstracten Denken und meiner Wissenschaft begriffen war, die vollere Versöhnung mit der letzteren zu danken: namentlich ist mir seit dem Erscheinen der Rechtsphilosophie zuerst ein heller Tag geworden, wo ich mir nur eines dunkeln Herumtappens bewußt war. Was mir vor dieser Zeit wohl auch schon als einzelner Pfeiler und Bogen haltbar geschienen hatte, das habe ich nicht ohne die kräftigste Anregung in der einfachen und großen Architectonik eines tiefbegründeten Gebäudes wieder erkennen können. So hat denn nicht allein dieses Studium den unmittelbarsten Einfluß auf die folgende Abhandlung gehabt, sondern alles, was vielleicht von einigem Werth seyn dürfte, gehört nicht mir an, sondern demselben." (Gans: Erbrecht I, xxxix - Waszek: Gans, 101). Der zweite Band seines Erbrechts enthält auch eine der Passagen, in denen Gans Hegel zum „deutschen Aristoteles" (Gans: Erbrecht II, xin) stilisiert, womit an dieser Stelle deutlich ein enzyklopädischer Geist gemeint ist, der alle Wissenszweige befruchtet. Somit intendiert Gans sein juristisches Hauptwerk, Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung, eindeutig als rechtswissenschaftliche Anwendung von Hegels Rechtsund Geschichtsphilosophie. Da der Jurist von Savigny (mit Schleiermacher) zu Hegels schlimmsten Feinden im Berliner Kontext gehört, läßt Gans über seine Stellung in diesem Konflikt also keinen Zweifel. So erklärt sich auch Hegels unverhohlener Jubel über die Nominierung von Gans in der juristischen Fakultät der Berliner Universität.4 Wichtiger für unsere Fragestellung ist es dann, daß Hegel dieser Zuordnung des Erbrechts zu seiner Geschichtsphilosophie zuzustimmen scheint, denn er schreibt seinerseits in einem Brief an Windischmann (11.4. 1824): „Haben Sie Dr. Gans' Schrift über die Geschichte des Erbrechts nicht gesehen? - Er hat darin meine Vorlesungen über die Weltgeschichte zugrunde gelegt." (Hegel-Briefe III41) In den folgenden Ausführungen soll es darum gehen, dieses „zugrunde legen", diese ,Anwendung' der Hegelschen Geschichtsphilosophie näher zu erläutern. Es soll gezeigt werden, wie Gans mit seinem Erbrecht bei Hegel steht. Auch wenn Gans und Hegel aber zusammenstehen, stehen sie natürlich nicht allein, sondern sie sind im Kontext
4
So schreibt Hegel zum Beispiel an Victor Cousin (5. 4.1826): „M. Gans a ete nomme Professeur en droit ä notre Universite, ce qui m'a donne beaucoup de satisfaction sous tous les rapports'' (Hegel-Briefe. Bd 3.111).
Gans' Erbrecht
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des damaligen Methodenstreits der Rechtswissenschaften zu verorten, an den hier zunächst mit den Namen von Thibaut, Savigny, Feuerbach u. a. erinnert sei4a. In diesem Methodenstreit ist dann aber immer wieder, teils zustimmend, teils ablehnend, auf Montesquieu zurückgegriffen worden, so daß auch diesem entscheidenden Bezugspunkt Rechnung getragen werden muß.
I.
Wie kam Gans zum Erbrecht in weltgeschichtlicher Perspektive - im Untertitel bezeichnet er sein Werk auch als „Eine Abhandlung der Universalrechtsgeschichte" - und warum blieb er diesem Thema bis zu seinem Lebensende treu - vier Bände hat er vorgelegt: 1824,1825,1829,1835 zwei weitere Bände (über Deutschland und die slawischen Völker im Mittelalter) hatte er, zum Schrecken seines Verlegers, schon angekündigt (Gans: Erbrecht IV, ix), als er 1839 frühzeitig starb? Hanns Günther Reissner bietet in seiner verdienstvollen, pionierhaften Studie eine biographische Erklärung dafür, daß sich Gans in seinen wissenschaftlichen Aktivitäten vorzugsweise dem Erbrecht widmete: „Die Wahl des Studiums der Rechte war möglicherweise ein praktischer Kompromiß. Ein ausgebildeter Jurist würde qualifiziert sein, die an dem väterlichen Nachlaß haftenden, verwickelten Klagen und Gegenklagen direkt aufzunehmen bzw. durchzuführen. Obwohl Eduard Gans nie ausdrücklich erklärt hat, warum er von allen denkbaren Sparten des Zivilrechts gerade das Erbrecht zu seinem Spezialgebiet erkor, drängt der innere Zusammenhang mit seinen Familienumständen sich dem Betrachter auf."5 Um diesen Erklärungsversuch nachvollziehbar zu machen, ist daran zu erinnern, daß Gans' Vater Abraham (1766-1813) in den Wirren der anti-napoleonischen Kriege wirtschaftlich gescheitert war und seinen Erben bei seinem plötzlichen Tode im Jahre 1813 Schulden und anhängige Gerichtsverfahren hinterließ. Dieser biographische Erklärungsversuch von Gans' Interesse am Erbrecht scheint jedoch in mehrfacher Hinsicht problematisch zu sein. Grundsätzlich teilt ein solch einseitiger Rekurs auf die Biographie alle 4a
Vgl. hierzu den Überblick von Hans Ulrich Stühler: Die Diskussion um die Erneuerung der Rechtswissenschaft 1780-1815. Berlin 1978. 5 Hanns Günther Reissner: Eduard Gans. Ein Leben im Vormärz. Tübingen 1965 (Sigle: Reissner: Gans), hier 25.
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Schwächen der psychologisierenden Geschichtsschreibung. Zweitenswird, wer sich den überwiegend historischen Gehalt von Gans' Erbrecht vergegenwärtigt, sehr schnell zu dem Ergebnis kommen, daß hier kein praxisbezogener Zweck zugrunde liegt. Drittens kann der Hinweis auf die Erbschaftsprobleme seiner Famihe nicht Gans' dauerndes Engagement am Erbrecht erklären. Wäre sein Interesse so punktuell gewesen, hätte er sich diesem Thema nicht lebenslang gewidmet, sondern nur bis zum Ende der Erbschaftsstreiterei. Stellen wir dem biographischen Deutungsmodell des Gansschen Interesses zunächst einen frühen Hinweis von Gans selbst gegenüber. In der Vorrede seiner Scholien zum Gajus (die Vorrede ist auf 1820 datiert, das Buch erschien 1821 in Berlin) wird dieses Thema nämlich wie folgt angekündigt: „Aber auch in dem Erbrecht ist der Verfasser von seinem Plan, bloß das zu erläutern was als Zuwachs aus Gajus betrachtet werden konnte, abgewichen. Die Ausbeute ist hier viel zu winzig, als daß man sie gehörig würdigen könnte, wenn ihr nicht als Theil des Ganzen die Stelle zugewiesen wird die ihr gebührt. Demnächst hat sich der Verfasser entschlossen, eine wenigstens in so weit vollständige Geschichte des Erbrechts zu liefern, als nöthig war um das Neue aus Gajus nicht isolirt stehen zu lassen."6 Wenngleich die Scholien in mancher Hinsicht noch den romanistischen Detailstudien der historischen Schule gleichen,7 die Gans wenig später als ,Mikrologie' ablehnen sollte, setzt sich die zitierte Stelle seiner Vorrede als Absichtserklärung doch schon deutlich davon ab. Isolierte Einzelergebnisse genügen Gans nicht mehr, diese sollen bald („demnächst") als „Theil des Ganzen" in eine „vollständige Geschichte des Erbrechts" eingehen. Bemerkenswert an diesem Programm ist, daß die Einordnung der Details in einen größeren Kontext als notwendig erscheint. Der größere Zusammenhang scheint dann seinerseits den Schlüssel zur Interpretation der Details zu liefern. In seiner Distanzierung von den „isoli[e]rten" Details nähert sich Gans schon dem Ideal der Hegelschen Totalität, welches er nur drei Jahre später, in der Vorrede des ersten Bandes seines Erbrechts, explizit auf6
Gans: Scholien zum Gajus. Berlin 1821, VI. (Sigle: Gans: Scholien). Johann Braun erinnert zu Recht daran, daß sich Gans am Anfang seiner Laufbahn noch durchaus im Kielwasser der Historischen Rechtsschule bewegte und verweist als Belege dafür auf Passagen aus Gans' früher Schrift Über römisches Obligatonenrecht, Heidelberg 1819, die voller Verehrung für von Savigny sind, ebenso auf den Begleitbrief, mit welchem Gans ein Exemplar dieser Publikation an von Savigny schickte; Johann Braun: ,Schwan und Gans'. Zur Geschichte des Zerwürfnisses zwischen Friedrich Carl von Savigny und Eduard Gans. In: Juristenzeitung. 34 (1979), 769-775, hier 770. 1
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greifen wird. Dort überträgt er das genannte Totalitätsideal als Forderung einer Universalrechtsgeschichte auf sein Fachgebiet: „in der neuesten Zeit ist die Forderung an die Rechtsgeschichte universell zu werden und sich zur Totalität zu erheben, vielfach ausgesprochen worden" (Gans: Erbrecht l, xix - Waszek: Gans 92). Mit seiner Arbeit über Gajus sind wir aber bereits auf Gans' Fleidelberger Promotionszeit, damit auf seinen dortigen Lehrer A. F. J. Thibaut (1772-1840) und auf die besonderen Bedingungen der juristischen Fakultät des damaligen Heidelberg zurückverwiesen.7a Es erscheint durchaus plausibel, daß Gans' Faszination für das Erbrecht ihm von Thibaut vermittelt wurde, denn auch jener hatte erbrechtlichen Fragen, insbesondere in seinem System des Pandekten-Rechtsseine besondere Aufmerksamkeit geschenkt.9 Ehe dem Bezug zu Thibaut näher nachgegangen sei, ist hier noch diejenige Stelle aus der Vorrede zu Gans' Erbrecht hinzuzuziehen, in der er sich über juristische Vorgänger oder Vorbilder seiner Studie äußert: „Drei Männer, die nicht bloß das juridische Deutschland längst zu seinen Koryphäen rechnet, v. Grolmann, v. Feuerbach und Thibaut haben sich neben so vielen anderen Verdiensten auch das erworben, zuerst auf eine erweiterte Behandlung der Rechtswissenschaft gedrungen zu haben, ersterer in der ursprünglichen Anlage einer Zeitschrift, worin weder die Philosophie verspottet und ausgeschlossen, noch die Geschichte in den Kreis des Römischen und Germanischen Rechts gebannt war, die beiden letztem aber in ausdrücklichen Worten." (Gans: Erbrecht I, xix - Waszek: Gans 92). Die Erwähnung von Karl L. W. von Grolmann (1775-1829) kann hier nur durch den Nachweis der Zeitschrift ergänzt werden, deren Namen uns Gans nicht nennt: es handelt sich um das Magazin für die Philosophie und Geschichte des Rechts und der Gesetzgebung.10 Interessanter wird es dann bei Paul Jo7a Vgl. hierzu: Joachim Rückert: Heidelberg um 1804. In Heidelberg im säkularen Umbruch. Hrsg, von Friedrich Stark. Stuttgart 1987,83-116. 8 Anton Friedrich Justus Thibaut: System des Pandekten-Rechts. 2 Bde. Jena 1803. 9 So sieht es auch Michael H. Hoffheimer in seiner neuen Studie: „Gans's extensive treatment of the substantive law of law of succession was characteristic of eighteenth-century legal theorists. The most relevant model for a systematic treatment of the law of the Digest, Thibaut's System of the Law of the Pandects, had devoted 182 out of the 300 sections in the ,Law of Things' - about one-fifth of the total textual coverage of the work - to testate and intestate succession under Roman Law." Michael H. Hoffheimer: Eduard Gans and the Hegelian Philosophy of Law. Dordrecht, Boston, London 1995.35. 10 Magazin für die Philosophie und Geschichte des Rechts und der Gesetzgebung. Hrsg, von Karl Grolmann. Bd I ff. Giessen und Darmstadt 1800 ff. - Diesen Nachweis verdanke ich Herrn Dr. Heinz Mohnhaupt vom Max Planck Institut für Rechtsgeschichte, Frankfurt/ Main.
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hann Anselm von Feuerbach (1775-1833). In einer Fußnote präzisiert Gans, daß er bei den „ausdrücklichen Worten" Feuerbachs über die Notwendigkeit einer Universalrechtsgeschichte an dessen Vorrede zu Carl August Dominik Unterholzners (1787-1838) Juristischen Abhandlungen denkt.11 Auf den von Gans genannten Seiten (xi-xvi der Erstausgabe von 1810; 163 ff in der Sammlung des Jahres 1833) findet sich bei Feuerbach tatsächlich die nachdrückliche Forderung nach einer „Universal-Jurisprudenz", welche beim Juristen die Stelle einnehmen solle, die der Universalgeschichte beim Historiker zukommt. Neben dieser allgemeinen Forderung einer Universalrechtsgeschichte präzisiert Feuerbach aber auch - eine Passage, die gewiß großen Eindruck auf Gans machte -, wie eine solche Wissenschaft aussehen sollte. Er wünscht ihr nämlich insbesondere, daß sie „philosophischen Geist" besitzen möge, um mit dessen Hilfe „das Allgemeine aus dem Besonderen herauszufinden, und in ein großes sinnvolles Ganzes zusammen zu fassen verstehe". Der 1833er Nachdruck von Feuerbachs Vorrede enthält übrigens auch eine zusätzliche Fußnote, in welcher Gans als Ausführer des zitierten Programms präsentiert wird: „Der Verf. hatte zur Ausführung dieser Idee bereits eine Reihe von Jahren hindurch große Zurüstungen gemacht, bedeutende Materialien zusammengebracht, und zum Theil schon manches vollständig ausgearbeitet, als eine Menge widriger Umstände ihn nöthigten, diesem Werk für immer seine Thätigkeit zu entziehen. Hr. Prof. Gans zu Berlin hat des Verf. Ansicht glücklich aufgefaßt; was dem Leztem nicht vergönnt war, wird wahrscheinlich Jenem, unter günstigeren Verhältnissen, beschieden sein (1832)".12 Obwohl er es nicht ausdrücklich erwähnt, kann sich Feuerbach mit dieser Äußerung nur auf Gans' Schriften zum Erbrecht beziehen, das einzige Thema von welchem Gans eine weltgeschichtliche Darstellung zu geben suchte. 11
Carl August Dominik Unterholzner: Juristische Abhandlungen. Mit einer Vorrede P. J. A. von Feuerbachs. München 1810; später hat Feuerbach diese Vorrede unter dem Titel „Blick auf die teutsche Rechtswissenschaft'' in eine seiner Aufsatzsammlungen aufgenommen: Anselm von Feuerbachs kleine Schriften vermischten Inhalts. Nürnberg 1833, hier: 152-177. - Ein Teil der Vorarbeiten zu der angestrebten Universaljurisprudenz, die Feuerbach hier mit den „gemachten Zurüstungen" anspricht, wurde unter dem Titel „Idee und Nothwendigkeit einer Universaljurisprudenz" im Rahmen der Nachlaß-Edition veröffentlicht: Anselm Ritter von Feuerbach's Biographischer Nachlaß (Sigle: Feuerbach's Biographischer Nachlaß). 2 Bde. Hrsg, von seinem Sohne Ludwig Feuerbach. Leipzig 1853, hier II, 378-401. Eine entscheidende Passage dieses Fragmentes wird unten noch zitiert (s. Anm. 12). 12 Feuerbachs kleine Schriften (siehe vorherige Anm.), 164 f.
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Gans und Feuerbach nahmen sich also gegenseitig wahr und schätzten einander gerade wegen der sie einigenden Bemühungen um eine Universalrechtsgeschichte im „philosophischen Geist“. Gans' expliziter Bezug auf Feuerbach geht nicht viel weiter, als die zitierte Stelle, implizit verbindet sie aber sicher mehr und in manchen seiner Formulierungen stecken wohl auch Echos von Feuerbach. Erstens greifen nicht nur beide auf Montesquieu zurück, sondern der Rückgriff von Gans scheint durch denjenigen Feuerbachs vermittelt zu sein. Schon in seinem Aufsatz des Jahres 1810 präsentiert Feuerbach Montesquieu als den ersten, der sich der Aufgabe des universalen Rechtsvergleichs und der universalen Rechtsgeschichte gestellt hatte und er fügt hinzu: „aber er (Montesquieu) blieb bis jetzt der letzte.“ (Feuerbachs kleine Schriften, 164) Ganz ähnlich sollte Gans in der Vorrede seines Erbrechts ausführen, daß „die Forderung (...) sich zur vergleichenden (Rechts)Wissenschaft zu erheben" (Gans: Erbrecht I, xvii - Waszek: Gans, 91), durch Montesquieus De Vesprit des lois erfüllt worden sei: „In diesem großen Geiste stellte sich die Forderung einer Rechtsgeschichte nicht anders dar, denn als die Forderung nach dem Geiste der Gesetze. Ihm war nicht die Gesetzgebung eines Volkes ein für sich bestehendes Absolutes, sondern sie war nur ein aus dem Leben dieses Volkes überhaupt gegriffenes Moment: ihm genügte ferner nicht die kleinliche Beschränktheit auf ein Volk und auf eine Zeit, sondern nur in der Totalität der Geschichte fand er die Berechtigung, und die Nothwendigkeit jedes einzelnen Volks und jeder einzelnen Zeit." (Gans: Erbrecht I, xviii - Waszek: Gans, 92) So war Montesquieu für Feuerbach wie für Gans Vorbild und Vorgänger ihrer eigenen philosophisch inspirierten Universalrechtsgeschichte. Der zustimmende Rückgriff auf und die anerkennende Fortsetzung von Montesquieus Programm, worin Feuerbach und Gans übereinstimmen, markiert im damaligen Kontext aber auch eine Trennungslinie zur Historischen Rechtsschule von Savignys. Fast jedes Wort der zitierten Lobeshymne auf Montesquieu, die Gans anstimmt, läßt sich als Distanzierung von, bzw. als Kritik an von Savigny lesen: das Absolute', die /Totalität der Geschichte', der ,Geist der Gesetze' sind lauter Schlüsselbegriffe, die gegen die ,mikrologischen' Methoden der Historischen Schule stechen sollen. Der gemeinsame Rückbezug auf Montesquieu beinhaltet einen zweiten Punkt, in dem Feuerbach und Gans übereinstimmen und gemeinsam gegen von Savigny stehen: die Ablehnung einer auf das römischkanonische Recht beschränkten Rechtshistorie. Im Rahmen der Vorarbeiten zu seinem unvollendeten Projekt einer Universalrechtsge-
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schichte schreibt Feuerbach ganz in diesem Sinne: „Geschichtliche Erforschung eines einzelnen Rechtssystems kann nicht als Ersatz für den Mangel einer allgemeinen Rechtswissenschaft gelten. Die vollständigste Geschichte der Entwickelung des vollkommensten aller Rechtssysteme (des römischen) lehrt uns immer nur Römisches, ein winzig kleines Bruchstück aus der Geschichte der Menschheit. Was an den Formen, in welchen sich unter diesem Volk und dieser Zeit der Geist der Gesetzgebung offenbaret hat, das rein Menschliche, das Nothwendige und Allgemeine, was das Zufällige und Besondere sei? ... Dies lehrt nur die Vergleichung des Uebereinstimmenden und Verschiedenen in dem Rechtszustand der verschiedenen Völker. Je fremder das Volk, je eigner sein Wesen, je schärfer die hieraus hervorspringenden Gegensätze, desto reicher die Lehre ... Grab also, ohne Vorliebe und Abneigung, mit offenem Auge in das Gewühl der Völker, zu dem Lebenden, Denkenden ihres Geistes, ihres Willens und Wirkens! Kein Volk, kein Stamm sei uns in dieser Flinsicht zu gering oder zu verächtlich. Jedes hat seine ihm eigenthümlichen Schätze, die dem großen Zwecke (einer Philosophie der Gesetzgebung) dienen."13 Daß Gans diesen Text aus Feuerbachs Nachlaß nicht kennen konnte, macht die inhaltliche Nähe ihrer Auffassungen umso bemerkenswerter. Aus Gans' ausführlicher Metakritik an von Savignys Ablehnung der Universalrechtsgeschichte seien hier nur zentrale Auszüge zitiert: „Es giebt Völker, heißt es (bei von Savigny; N. W.), die im Recht eine größere Virtuosität erlangt haben, als andre: der Schluß ist der, es könne daher der Rechtssinn hier mehr Befriedigung finden, wie der Kunstsinn z. B. bei Griechischen Kunstwerken mehr Befriedigung finde, als bei Chinesischen. Der weitere und letzte Schluß endlich, ist der: die Rechtsgeschichte dieser Virtuosenvölker sey daher wichtiger, wie die der Nichtvirtuosen. Diesem Satze liegt folgende Verwechselung zum Grunde, die Verwechselung des subjectiven Interesses (des Sinnes) und der Objectivität der Wissenschaft... Gar nicht zu verwechseln aber mit Rechtskunde und Rechtsgelehrsamkeit ist die Rechtswissenschaft. Diese hat es nicht mit Juristen, als fertig Vorgefundenen Personen zu thun, sondern mit etwas ganz anderem, mit Ideen. Als Wissenschaft ist sie nothwendig ein Theil der Philosophie; als Theil aber hat sie ihre bestimmte nothwendige Stellung zu Vorangehendem ...
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Feuerbach's Biographischer Nachlaß (s. Anm. 11), hier II, 398 f.
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Die Rechtsgeschichte, in so fern sie nicht bloße Abstractionen zum Inhalte haben will, begreift nothwendig in sich die Totalität der Entwickelung des Rechtsbegriffes in der Zeit, sie ist daher eben so nothwendig Universalrechtsgeschichte: denn sie gesteht keinem Volke und keiner Zeit eine ausschließliche Wichtigkeit zu, sondern jedes Volk wird nur berücksichtigt, in so fern es auf der nun aus dem Begriffe folgenden Stufe der Entwickelung steht." (Gans: Erbrecht I, xxüi, xxix ff - Waszek: Gans, 94,97 f) Der Vergleich der Zitate von Feuerbach und Gans zeigt deutlich die Gemeinsamkeiten ihrer Auffassungen, offenbart aber auch feine Unterschiede zwischen ihren Positionen. Einig sind sie sich in ihrem Wunsch, über die Geschichte des römischen Rechts und seiner Rezeption hinauszugehen und eine universelle Rechtshistorie anzustreben. Einig sind sie sich auch darüber, daß diese Erweiterung der Perspektive einer philosophischen Fundierung bedarf. Über die genaue Art dieser Fundierung gehen ihre Wege dann allerdings auseinander. Wahrend Gans in seiner Vorlesung Naturrecht und Universalrechtsgeschichte Feuerbach unter die juristischen Kantianer zählt,14 verweisen seine eigenen Formulierungen (wie z. B.: „die Totalität der Entwickelung des Rechtsbegriffes" und die „aus dem Begriffe folgende Stufe der Entwickelung") schon merklich auf seine Hegelschen Affinitäten. Wie das Ganssche Projekt einer Einbindung der Universalrechtsgeschichte in die philosophische Wissenschaft auf methodischen und philosophischen Prämissen von Thibaut und vor allem von Hegel beruht und aufbaut, soll nun gezeigt werden.
II. Eine bemerkenswerte Stelle des Vorwortes, das Gans der von ihm edierten 2. Auflage von Hegels Rechtsphilosophie (1833, s. Anm. 2) voranstellte, führt uns zu der weiterführenden Frage, wie Gans die Hegelsche Philosophie für sein eigenes Fachgebiet, die Rechtswissenschaft, interpretierte und fruchtbar machte. Am Ende eines langen Plädoyers für den „freiheitlichen" Charakter der Hegelschen Rechtsphilosophie folgt das Bekenntnis: „Mir, dem dieses Buch zuerst den Muth 14
Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte (Sigle: Gans: NU). Vorlesung des Wintersemesters 1832/33 in der Nachschrift von Hegels Sohn Immanuel. Hrsg, von Manfred Riedel. Stuttgart 1981, hier 48.
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gab, einen neuen Standpunkt für die Rechtswissenschaft aufzustellen, und der die Freiheit stets neben der Wissenschaft als liebe Gefährtin begrüßte, hat die neue Durcharbeitung dieses Werks nur den stärkendsten Genuß und die festere Bestätigung aller früheren Gedanken gewährt." (Waszek: Gans 130) Gans sah also seine eigene Leistung vornehmlich in der Anwendung Hegelscher Ideen auf die Rechtswissenschaft. An Hegels System scheint ihn dann aber die weltgeschichtliche Perspektive am stärksten beeindruckt zu haben, wie es seine Lobrede auf die welthistorische Skizze, in der die Rechtsphilosophie endet, deutlich zum Ausdruck bringt: „Der bedeutendste Werth des gegenwärtigen Buches [Hegels Rechtsphilosophie] ist, daß dem Naturrecht nicht bloß ein Anfang und eine Grundlegung..., sondern auch ein Ausfluß und eine Mündung ... gegeben worden. Die bisherigen Naturrechtslehrer hatten übersehen, daß das Naturrecht nicht bloß aufhört, sondern in etwas aufhört, daß wie es vom Boden des subjektiven Geistes ausgeht, es ebenso in die Weltströmungen der Geschichte hineinfällt ... Welches ungeheure Schauspiel ist aber diesem Buche als Schluß beigegeben! Von der Höhe des Staates aus sieht man die einzelnen Staaten, als ebenso viele Flüsse sich in das Weltmeer der Geschichte stürzen, und der kurze Abriß der Entwickelung derselben ist nur die Ahnung der wichtigeren Interessen, die diesem Boden anheimfallen." (Waszek: Gans 129) Der Nachdruck, den Gans auf die Weltgeschichte als Teil der Rechtsphilosophie legt, und die Nuance am Ende seiner Lobrede („kurzer Abriß", „nur die Ahnung"), eröffnen uns darüber hinaus einen ersten Ausblick darauf, wie die Hegelianische Rechtswissenschaft von Gans aussehen wird: es geht ihm, bei Aufrechterhaltung Hegelscher Prinzipien, um eine noch weiterreichende Integration der Weltgeschichte in die Rechtsphilosophie, als die von Hegel selbst bereits geleistete. Damit sind wir aber bei den wissenschaftlich weitreichenden Konsequenzen der sogenannten Kodifikationsdebatte von 1814/15.15 Denn in dieser Debatte entstand eigentlich erst und entfaltete sich dann der große Streit zwischen der /geschichtlichen' und ,ungeschichtlichen' Juristen-
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Vgl. zu diesem Themenkomplex die gediegene Dokumentation: Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften. Hrsg, von Hans Hattenhauer. München 1973 (Sigle: Thibaut und Savigny) und Hans Kiefner: Thibaut und Savigny. Bemerkungen zum Kodifikationsstreit. In: Festschriß ßir Rudolf Gmür zum 70. Geburtstag 28. Juli 1983. Hrsg, von Arno Buschmann u. a. Bielefeld 1983,53-87.
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schule,16 wie von Savigny 1815 die Fronten definierte,17 oder der,bloßgeschichtlichen' und der geschichtlich-philosophischen' Schule, wie Thibaut zu korrigieren suchte.18 Diese Kodifikationsdebatte entzündete sich eigentlich erst mit der militärischen Niederlage Napoleons an der Frage, was nun mit dem Code Napoleon geschehen sollte. Sollte man das erfolgreiche Gesetzbuch einfach beibehalten, wie es in den linksrheinischen preußischen Gebieten geschah? Sollte man zu dem brüchig gewordenen römischen Recht des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nationen von vor 1806 zurückkehren? Oder sollte man ein eigenes, nationales Kodifikationswerk erarbeiten? Vor diesem Hintergrund entfaltete sich eine reiche Debatte. Wenn im Folgenden vorzugsweise die Positionen betrachtet werden, die Thibaut, von Savigny und Hegel vertraten, weil diese aus der Perspektive von Gans entscheidend sind, sollte darüber nicht vergessen werden, daß diese wichtigen Positionen keineswegs das volle Spektrum des Streites darstellen.19 Thibaut, der berühmte Zivilrechtler und Gans' Heidelberger Lehrer, vertrat in dieser Situation folgende Position:20 Er bemühte sich um eine leidenschaftslose und gerechte Würdigung des Code Napoleon, was er 16
In diesem Sinne bezeichnet auch Hattenhauer den Kodifikationsstreit als die „Geburtsstunde" der Historischen Schule: Thibaut und Savigny. 46. - In seinem Rückblick des Jahres 1838 drückt Thibaut selbst dies so aus: „meine, im Jahre 1814 erschienene Abhandlung über Verbesserung des bürgerlichen Rechts veranlaßte jene Eintheilung der Schulen hauptsächlich": „Über die sogenannte historische und nicht-historische Schule". In: Archiv für civilistische Praxis. 21 (1838), 391-419 - jetzt in: Thibaut und Savigny. 274-298, hier 274 f. 17 Vgl. von Savignys Eröffnungsartikel zur Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft. 1 (1815), 1 - jetzt in: Thibaut und Savigny. 261. 18 Thibaut: „Besprechung des Einleitungsaufsatzes aus der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft". In: Heidelberger Jahrbücher der Literatur (1815), 657 f - jetzt in: Thibaut und Savigny, 269 f. 19 Schon aus unserer oben gegebenen Charakterisierung der Problemlage ergibt sich ja auch die Option, den Code Napoleon einfach als allgemeines Recht Deutschlands beizubehalten bzw. zu übernehmen - diese Alternative vertrat z. B. Johann Friedrich Reitemeier: Das Napoleonsrecht als allgemeines Recht in Europa, insbesondere in Deutschland, betrachtet. Frankfurt/Oder 1808 -, und schon aus den Beiträgen Thibauts und von Savignys selbst, dann aus der modernen Forschung darüber, ließen sich wichtige weitere Beiträger zu der damaligen Kontroverse nennen, wie z. B. P. J. A. Feuerbach, A. W. Rehberg, H. R. Brinkmann, N. Th. von Gönner, B. W. Pfeiffer, L. H. von Almendingen usw.; vgl. hierzu Joachim Rückert: Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (Sigle: Rückert: Savigny). Ebelsbach 1984, z. B. 164 ff u. ö.; Hermann Klenner: Deutsche Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert. Berlin 1992, insbesondere 125 ff. 20 Hier, wie in der folgenden Skizze von Savignys Position, müssen wir uns mit knappen Charakteristiken begnügen, die den Modifikationen und Entwicklungen, die ihre einzelnen Stellungnahmen enthalten, nicht gerecht werden können.
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um so überzeugender tun konnte, da er auch zu Napoleons Zeiten nicht zu den unkritischen Lobrednem des Code gehört hatte. Er kam dabei zu dem Schluß, daß eine übereilte Aufhebung des Code nicht förderlich sein würde, denn damit kehrte man zu den Verhältnissen des römischen Rechts zurück, die er sehr kritisch schildert.21 Letztlich empfiehlt er, die seltene Chance zu einer neuen, für alle deutschen Staaten gültigen Kodifikation zu nutzen.22 Von Savigny, der schon vorher die Abschaffung des Code für „ebenso dringlich, wie ungefährlich" gehalten hatte, bezeichnete Thibauts Aufsatz in einem privaten Brief bald nach Erscheinen als „Schandschrift" {Thibaut und Savigny, 45) und publizierte die Gegenschrift: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Heidelberg 1814). Darin kritisierte er den Code Napoleon als dem „Fluch" der Französischen Revolution entsprungen (in privaten Briefen der Zeit spricht er auch von der „Napoleonischen Teufeley"23), der „für Deutschland ... ein(en) Schritt in den Zustand der Revolution hinein" darstellte.24 Grundsätzlicher spricht er seiner, wie jeder Zeit, den Beruf, d. h. die Befähigung zur Kodifikation ab, um statt dessen das „organische Fortschreiten" einer neuzustiftenden „Rechtswissenschaft" zu fordern.25 Die Kodifikationsdebatte von 1814/15 verlor zwar rasch ihre Aktualität,26 doch hatte sie folgende weitreichende Konsequenz: mit der erwähnten neuen Rechtswissenschaft' erreichen wir schon die Nahtstelle, an der aus dem Kodifikationsstreit das Programm der Historischen Rechtsschule hervorgeht. Dies sollte nun nicht so mißverstanden werden, als seien die Begriffe und die inhaltlichen Positionen ganz neu gewesen.27 Die Konstitution der Schule von Savignys mit 21
So kritisiert er „die zahllosen Gebrechen unsrer früheren bürgerlichen Verfassung" und spricht sogar von dem „krausen Gemisch des alten Wirrwarrs". A. F. J. Thibaut: lieber die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland. Heidelberg 1814, 11 - jetzt in: Thibaut und Savigny, 67. 22 Z. B.: „Der Wunsch muß sich aufdrängen, daß ein einfaches Gesetzbuch, das Werk eigner Kraft und Thätigkeit, endlich unsem bürgerlichen Zustand, den Bedürfnissen des Volks gemäß, gehörig begründen und befestigen möge, und daß ein patriotischer Verein aller Deutschen Regierungen dem ganzen Reich die Wöhlthaten einer gleichen bürgerlichen Verfassung auf ewige Zeiten angedeihen lasse." Ibid., 24 f. In: Thibaut und Savigny, 73. 23 Zitiert nach Polley: Thibaut 1,198. 24 Savigny (1814), 57 - Thibaut und Savigny, 130. 23 Savigny (1814), 161 - Thibaut und Savigny, 192. 26 Zunächst gelang es von Savigny, Thibauts Initiative zurückzuschlagen, dann vertagte die Restauration das Thema um Jahrzehnte. 27 Das Gegenteü dürfte der Fall gewesen sein. Rückert: Savigny 73 ff bietet einen kenntnisreichen Überblick über die verschiedenen Belege, die zum früheren Gebrauch des Begriffes „historische Schule" und für die frühere Entstehung der Kemgedanken von Savig-
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ihren spezifischen Auffassungen zur und programmatischen Erklärungen über „die streng historische Methode der Rechtswissenschaft" und die Weise, „wie ... die alten Juristen zu studieren sind",28 wurde der Öffentlichkeit aber erst im Kontext des Kodifikationsstreites bewußt. In seinen Antworten und Metakritiken mußte Thibaut dann auch auf die rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Konsequenzen, die von Savigny gezogen hatte, reagieren, d. h. er mußte seine Position, zumindest programmatisch, ebenfalls in rechtstheoretischer Hinsicht erweitern. Eine der Kernstellen, in denen Thibaut dies tut, stellte mm Gans als Motto dem ersten Band seines Erbrechts voran, eine Entscheidung, die doch wohl nichts weniger bedeutet, als daß es ihm um die Einlösung des Thibautschen Programms geht. Thibauts kraftvolle Stelle lautet: „Denn das ist nicht die wahre belebende Rechtsgeschichte, welche mit gefesseltem Blick auf der Geschichte eines Volkes ruht, aus dieser alle Kleinigkeiten engherzig herauspflückt, und mit ihrer Mikrologie der Dissertation eines großen Practikers über das ,et cetera' gleicht. Wie man den Europäischen Reisenden, welche ihren Geist kräftig berührt, und ihr Innerstes umgekehrt wissen wollen, den Rath geben sollte, nur außer Europa ihr Heil zu versuchen, so sollten auch unsere Rechtsgeschichten, um wahrhaft pragmatisch zu werden, die Gesetzgebungen aller andrer alter und neuer Volker umfassen. Zehn geistvolle Vorlesungen über die Rechtsverfassung der Perser und Chinesen würden in unseren Studierenden mehr wahren juristischen Sinn wecken, als hundert über die jämmerlichen Pfuschereien, denen die Intestaterbfolge von Augustus bis Justinianus unterlag."29 Von Savigny hatte diese Stelle besonders mißfallen, vermutlich war ihm bewußt, wie gefährlich seiner Schule das Etikett ,Mikrologie' werden konnte,30 und er versuchte es im nys Beiträgen zur Debatte inzwischen gefunden wurden, und trägt zur begrifflichen Klärung weiter bei (insb. 85). 28 Savigny (1814), 117 und 120 - Thibaut und Savigny, 166 f. 29 Diese Stelle publizierte Thibaut zunächst in der Selbstanzeige seiner Abhandlung, die in den Heidelberger Jahrbüchern. 7 (1814), 526-528 erschien, hier 527. Die Passage bildete dann Teil des 7. Zusatzes zur 2. Auflage der Abhandlung, die im Rahmen von Thibauts Civilistischen Abhandlungen (Heidelberg 1814), 404-466 erschien - jetzt in: Thibaut und Savigny, 193-199, hier 196. 30 Am 22.10.1814 schrieb von Savigny an G. A. Heise: „Wenn ich über den Werth seiner Ansicht zweifelhaft geblieben wäre, so würde mich die Selbstrezension ganz zur Ruhe gebracht haben, denn sie ist viel ärger als die Schrift selbst, und so daß ich dergleichen einem verständigen Mann nicht zugetraut hätte ... Hierbey einige Beyträge zu Ihrem LL. restitutae Codicis. Es ist ein Glück, daß Sie von Heidelberg weg sind, bey Thibaut wären Sie mit solcher Mikrologie schön angekommen." Zeitschrift der Savigny-Stiftungfür Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung. 36 (1915), 96-156, hier 138.
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dritten Band seiner Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft abzuwenden. Gans, der die in Thibauts Spottnamen enthaltene Kritik an von Savigny übernimmt, zitiert im Vorwort zum ersten Band seines Erbrechts gerade diese spätere Äußerung von Savignys und erneuert daran anknüpfend Thibauts Kritik: „ ,Mikrologie, die jeder gering schätzen müsse, sey nicht zu verwechseln mit genauer und strenger Detailkenntniß.' (Savigny: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft. III, 5 f). Wir geben dieses nicht allein zu, sondern glauben, dies mit Freuden anerkennend, daß die historische Schule sich für die Detailkenntniß viele Lorbeeren erworben habe. Aber es heißt weiter: ,Detailkenntniß sey in aller Geschichte so wenig entbehrlich, daß sie vielmehr das einzige ist, was der Geschichte ihren Werth sichern kann.' In dieser ganz charakteristischen Aeußerung ist die so schön in Detailkenntniß umgewandelte Mikrologie, wiederum zu ihrem Ursprung zur Mikrologie zurückgegangen. Denn eine Detailkenntniß, welche das Einzige ist, was der Geschichte ihren Werth sichert, also eine Detailkenntniß, die nicht das Mittel ist zum Geiste aufzusteigen, sondern nur Werth hat in sich selbst, als Detailkenntniß, ist nichts anders, als die in Detailkenntniß übersetzte Mikrologie, der man durch diese Uebersetzung die Gehässigkeit des Namens benehmen zu können glaubte. Das heißt wahrlich das Unendliche zum Endlichen machen, die Substanz zum wesenlosen Schein, Gott zur leeren Aeußerlichkeit."31 Gans übernimmt also Thibauts Programm und dessen Kritik an von Savigny, schon in seine Erneuerung dieser Kritik fließen aber über die Begriffe ,Geist' und ,Substanz' spezifisch Hegelsche Theoreme ein. Spätestens an dieser Stelle ist also Hegels Stellung in der Debatte nachzutragen. Wenn Hegel in seiner Rechtsphilosophie, bei deren Lektüre Gans „ein heller Tag" aufging, die Kodifikationsfrage behandelt (Hegel: GPhR §§ 211 ff - TWA, VII, 361 ff), sind Thibaut und von Savigny, obwohl sie nicht namentlich genannt werden, die beiden Kontrahenten, auf die recht deutlich angespielt wird. Scharf führt er gegen von Savigny aus: „Einer gebildeten Nation oder dem juristischen Stande in derselben die Fähigkeit abzusprechen, ein Gesetzbuch zu machen... wäre einer der größten Schimpfe, die einer Nation oder jenem Stande angetan werden könnte."32 Mit seinem person31
Gans: Erbrecht I, xx f - Waszek: Gans 93. Hegel: GPhR § 211 Anm. - TWA, VII, 363. Für Hegel war der Kodifikationsstreit von 1814 ein Anlaß, seine hierzu schon viel früher vertretene Position zu aktualisieren und zu präzisieren. Unter den älteren Vergleichsstellen, die sich anführen ließen, sei nur die be32
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lichen Freund Thibaut33 kritisiert es Hegel, „die Gesetze... in den weitläufigen Apparat von gelehrten Büchern, Sammlungen von Dezisionen abweichender Urteile und Meinungen, Gewohnheiten usf. und noch dazu in einer fremden Sprache (zu) vergraben"34 und forderte „für das allgemeine Gesetzbuch ... einfache, allgemeine Bestimmungen".35 Diese Thibaut-Hegelsche Position vertritt Gans in seinen eigenen Vorlesungen36 und bekanntlich auch in seiner Redaktion der ,Zusätze' zu Hegels Rechtsphilosophie.37 Dieser Hegelsche Anteil tritt noch deutlicher hervor, wenn Gans seine Kritik an der sogenannten „historischen Rechtsschule" grundsätzlicher formuliert: Die „historische Schule" ist nicht historisch genug, weil sie die „Totalität der Geschichte" vernachlässigt und sich in „kleinlicher Beschränktheit auf ein Volk und eine Zeit" konzentriert38 Thibaut sprach nur von dem wohltuenden Einfluß einer Erweiterung des rechtsgeschichtlichen Studiums und erwähnte beispielhaft „die Rechtsverfassung der Perser und Chinesen". In Gans' Reformulierung dieser programmatisonders prägnante Stelle aus dem Naturrechtsaufsatz zitiert, worin er die Unfähigkeit, „die wahrhaften Sitten in die Form von Gesetzen zu bringen" als „Zeichen der Barbarei" bezeichnet. TWA II, 508; vgl. hierzu: Myriam Bienenstock: Politique du jeune Hegel (Paris 1992), 81 ff. 33 Hegel und Thibaut kannten sich noch aus den Jahren, da sie gemeinsam an der Universität Jena lehrten (1802-1805). Thibaut hat sich für Hegels Berufung nach Heidelberg ausgesprochen, und die beiden Männer pflegten in Heidelberg freundschaftlichen Umgang. Auch später, als Hegel schon nach Berlin gegangen war, reißt der Kontakt nicht ganz ab. In der Sorge um ihre Söhne schreibt noch Hegels Witwe im Dezember 1831 an den „verehrten Freund" Thibaut. 34 Hegel: GPhR § 215 Anm. (TWA, VII, 368). Die Parallelstelle bei Thibaut lautet: „Alle eure Gelehrsamkeit, alle eure Varianten und Conjecturen, - alles dieß hat die friedliche Sicherheit des Bürgers tausendfältig gestört, und nur den Anwälden (sic.) die Taschen gefüllt." Thibaut (1814), 23 - Thibaut und Savigny, 72. Beide spitzen ihre Kritik übrigens noch zu. Für Thibaut ist der Bürger ebenso wenig für den Juristen „als für die Lehrer der Chirurgie geschaffen, um an sich lebendigen Leibs anatomische Versuche anstellen zu lassen." Für Hegel ist die kritisierte Praxis ebenso verabscheuenswert wie das Vorgehen des Tyrannen Dionysios, der „die Gesetze so hoch aufhängen" ließ, „daß sie kein Bürger lesen konnte". 35 Hegel: GPhR § 216 (TWA, VII, 368; Hegels Hervorhebung). Eine einschlägige Stelle aus Thibauts Schrift wurde oben schon zitiert (s. Anm. 22). 36 Eduard Gans: Philosophische Schriften (Sigle: Gans: PhS). Hrsg, von Horst Schröder (Glashütten im Taunus 1971), 112 ff; Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte (Sigle: Gans: NU). Hrsg, von Manfred Riedel. Stuttgart 1981.86 ff. 37 Es handelt sich hier um die Zusätze zu den §§ 211,213-218. Ohne hier der komplexen Frage nachzugehen, wie groß Gans' Anteil an diesen Zusätzen war, läßt sich festhalten, daß darin nicht nur die Anspielung auf Savigny deutlicher (Savignys Titelwort „Beruf" wird benutzt), sondern auch die Kritik zugespitzt wird: neben den „Schimpf" des § 211, tritt im Zusatz noch ein „abgeschmackt" (TYJA, VII, 364). 38 Gans: Erbrecht I, xviii - Waszek: Gans 92.
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sehen Erklärung treten Hegel und Montesquieu, dessen Erbe ja auch in Hegel weiterlebt, hinzu. Statt um die „Mikrologie", die bloßen Details der Historischen Rechtsschule, geht es Gans um den von Hegel entlehnten, aber auf Montesquieu verweisenden „Geist" der Gesetze. Dies ist der Sinn seiner, dem Hegelschen „das Wahre ist das Ganze" verpflichteten Rede von der „Totalität der Geschichte". In seinem Erbrecht hat Gans diese Grundsätze an einem rechtsgeschichtlichen Thema konkretisiert. Seine Vorgehensweise sei hier wenigstens an einem Beispiel illustriert. Gans eröffnet sein Werk, indem er das reiche Material der orientalischen Rechtssysteme ausbreitet. Daß der ganze erste Band seines Erbrechts so dem „vorrömischen Erbrecht" (dem orientalischen und attischen) gewidmet ist, richtet sich, als Einlösung des Programmes von Thibaut, gegen die Schule von Savignys. Gans schreitet aber insofern mit Hegel über Thibaut hinaus, als die universalhistorische Entwicklung mit Hilfe der Kategorien Hegelscher Geschichtsphilosophie „begriffen" wird. So bietet Gans im ersten Band seines Erbrechts, nach der Behandlung des indischen, chinesischen, mosaisch-talmudischen und moslemitischen Erbrechts, im fünften Kapitel den „Begriff des Orientalischen Erbrechts" und begründet diesen Hegelianismus wie folgt: „In den vorangegangenen Darstellungen von vier Orientalischen Hauptgesetzgebungen über Erbrecht, war es die Aufgabe, dieselben bloß ihrer Breite nach vorzuführen, und wie sie sich in einem Aggregate von Bestimmungen sichtbar machen. Daß dieses weder eine wissenschaftliche Behandlung der Sache sey, noch daß es bei dieser Seichtigkeit sein Bewenden haben könne, wird wohl keiner in Abrede stellen. Der Wissenschaft liegt es vielmehr ob, das, was in diesen vier Gesetzgebungen als disparate Bestimmung und absolut selbständige Satzung erschien, aus dieser Selbständigkeit in die Abhängigkeit eines Momentes zu verkehren, und was als die Zufälligkeit gesetzgebender Willkühr auftrat, als das nothwendige Müssen der Vernunft in dieser Stufe ihrer Entwickelung aufzuzeigen. Indem so jedes dieser Rechte die Aeußerlichkeit seiner Erscheinung abthut und inwendig wird, hat sich das positive Recht zu einem Naturrecht umgewandelt, und die Abgeschlossenheit und Unmittelbarkeit eines jeden Volksgeistes wird zur lebendigen Vermittelung, welche den Weltgeist in seinem Schreiten durch die geöffneten Thore jedes Gebietes seinen Durchgang feiern, aber eben so wieder verschwinden läßt."39 39 Gans: Erbrecht 1,5. Kapitel, 234-280, hier 234.
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Hierin liegt nichts weniger als eine „Theorie der Vergeschichtlichung des Rechts",40 deren faszinierendes Programm er im Vorwort seiner Ausgabe von Hegels Rechtsphilosophie (s. Anm. 2) folgendermaßen ausdrückt: es handelt sich nicht nur darum, dem Naturrecht eine „Grundlegung" zu geben, oder auch zu zeigen, wie das Naturrecht in die Konstitution des Staates „mündet" und damit „bloß aufhört". Gans will darüber hinaus aufweisen, daß das Naturrecht „in etwas aufhört", wie es in die Weltgeschichte, „in die Weltströmungen der Geschichte hineinfällt" (Waszek: Gans 129). Es scheint ihm sogar um den Nachweis zu gehen, daß das Naturrecht nur aus der Betrachtung der Weltgeschichte gewonnen werden kann: In der eben zitierten Passage seines Erbrechts glaubt Gans zumindest zeigen zu können, wie „sich das positive Recht" in der Geschichte „zu einem Naturrecht umgewandelt" hat. Wie schon zu Beginn dieses Abschnittes bemerkt, zielt Gans also auf eine noch engere Integration von Naturrecht und Geschichte ab, als die von Hegel selbst geleistete,41 und es ist beklagenswert, daß ihn sein früher Tod diese Integration nur im Hinblick auf das Erbrecht durchführen ließ 42 Gans' Theorie der Vergeschichtlichung des Rechts hat jedoch auch politisch-praktische Konsequenzen, die uns zu den bislang ausgeklammerten politischen Obertönen der ganzen Kodifikationsdebatte zurückführen. Es gehört indessen nicht viel Vorstellungsvermögen dazu, diese politischen Obertöne zu evozieren. Bei allen gelehrten Einschränkun40
Wie schon Manfred Riedel in der „Einleitung" seiner Gans-Edition trefflich bemerkte: Gans: NU 13 f; vgl. hierzu auch die Rezension von G. Göhler in: Der Staat. 21 (1982), 607-609. 41 Die schwierige Frage, wie sich Hegel selbst dieser Integrationsaufgabe stellt, kann hier nicht angemessen erörtert werden. Schon sein Naturrechtsaufsatz von 1802 ist in gewisser Hinsicht einer Untersuchung dieser Aufgabe gewidmet; vgl. hierzu Bernard Bourgeois: Le Droit Naturei de Hegel. Commentaire. Paris 1986, insbesondere 555-629. Um dann die Position zu erhellen, die Hegel im Hinblick auf diese Aufgabe in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts einnimmt - der weitere Titel, den Hegel diesem Werk bekanntlich gibt, ist in diesem Kontext schon bedeutungsträchtig: Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse -, ist die Struktur zu untersuchen, die Hegel seinem Werk verleiht: er läßt es mit dem Abschnitt über das „abstrakte Recht" beginnen, in dem viele Kommentatoren das moderne Naturrecht wiederfinden, und in den Ausführungen über die „Weltgeschichte" enden; vgl. hierzu Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik. Hrsg, von D. Henrich und R. P. Horstmann. Stuttgart 1982, darin insbesondere die Beiträge von K. H. Ilting, M. Theunissen, L. Siep, D. Henrich und H. F. Fulda. 42 Über seine Publikationen hinausführende einschlägige Hinweise enthalten, bei allen Problemen dieser Überlieferungsart, die studentischen Nachschriften seiner Vorlesung „Naturrecht und Universalrechtsgeschichte" (Gans: NU bietet die Vorlesung von 1832/ 33), deren Titel schon das kühne Programm andeutet.
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gen, die sich gegen eine solche Pauschalisierung Vorbringen lassen, entspringt der Code Napoleon doch dem Geist der Französischen Revolution. Die Beibehaltung des Code oder das Schaffen einer vergleichbaren Kodifikation wurden also von Freund und Feind, wie auch die oben (s. Anm. 23 und 24) angeführte Äußerung von Savignys belegt, mit den Prinzipien der Revolution identifiziert. Demgegenüber scheinen sich in der Abschaffung des Code und der Ablehnung einer neuen Kodifikation das rechtspolitische Programm der Restauration auszusprechen.43 Auf der Basis solcher Kontraste gelangten viele Darstellungen des Kodifikationsstreites zu grundsätzlich dualistischen Formeln, wie zum Beispiel Franz Wieacker, der große Historiker der Privatrechtsgeschichte: „Im Duell Thibaut-Savigny treten einander persönliche Grundentscheidungen gegenüber: aristokratische Kultur und demokratische Politik, europäische Tradition und junges Nationalgefühl.. Z'44 Neuere Forschungen haben diese starke Kontrastierung wieder in Frage gestellt45, und zumindest zwei historische Einwände lassen sich dagegen Vorbringen: Erstens kann, wie bereits angemerkt, gar kein Zweifel daran bestehen, daß die dualistische Perspektive erhebliche Aspekte und bedeutende weitere Teilnehmer an der damaligen Debatte verdeckt. Zweitens kann die „jakobinische" bzw. „demokratische" Charakterisierung Thibauts problematisiert werden, da nicht nur die Quellen für Thibauts politische Optionen „spärlich fließen"46 und mit Vorsicht zu genießen sind47, sondern weil die wenigen Quellen für Thibauts Politik auch ganz anders gedeutet werden können48. Dieses Problem würde jedoch zu weit von Gans wegführen, als daß es hier weiter verfolgt werden könnte. Aber das Schiboleth, um den berühmten Ausdruck Hegels aufzugreifen, das Thibaut und von Savigny bleibend trennt, ist die Beurteilung der Französischen Revolution 49 Von Savignys durchgängiger Ablehnung der Revolution50 steht Thibauts Ausge43
So auch Hattenhauer in seiner Edition: Thibaut und Savigny, 46. Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Göttingen 21967,395. 45 Insb. Riickert: Savigny 160 ff; dort weitere Literaturhinweise. 46 Riickert: Savigny 167; auch die ansonsten verdienstvolle Arbeit von Polley: Thibaut hat dies nicht grundsätzlich geändert. 47 Das Adjektiv „jakobinistisch" aus dem Munde von Eichendorffs besagt eben nicht viel; so auch Riickert: Savigny 161 f. 48 Bei Hans Wrobel: Die Kontroverse Thibaut-Savigny im Jahre 1814 und ihre Deutung in der Gegenwart. Diss. Univ. Bremen 1975,44-68 wird Thibauts Haltung als „bürgerlich'' interpretiert; bei Riickert: Savigny (160-193), dessen differenzierende Sichtweise ich hier vereinfachen muß, wird Thibaut näher an von Savigny herangerückt. 49 Bei allen Differenzierungen bleibt auch Riickert: Savigny (170) bei dieser Scheidung. 44
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wogen heit51 gegenüber, die sich vom konterrevolutionären Geschrei nicht beirren läßt und die ihn in die Nähe Hegels rückt. Gans steht hier nicht nur mit Thibaut und Hegel gegen von Savigny, seine weiterreichende Vergeschichtlichung des Rechts hat eine praktische Konsequenz, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann: Wenn alle Rechts- und Verfassungsinstitutionen geschichtlich sind, dann ist auch der status quo des Preußischen Staates nur ein transitorischer Zustand, der sich verändern läßt. Varnhagen erkannte seinen Freund tief, wenn er sich bei dessen Tode notierte, daß Gans „immer, aus Liebe, gegen die [Preußische] Heimath in Opposition stand, und sie zum Bessern aufreizen wollte."52
50 Für den jungen von Savigny werden in diesem Zusammenhang vielfach die Briefe aus dem Jahre 1799 zitiert, worin von Savigny seiner Hoffnung Ausdruck gibt, daß „der Geist der gewaltsamen Revolutionen erlöschen" möge, sowie jene aus dem Jahre 1806, worin er das Organisieren „auf französischem Fuß" ablehnt. 1814 spricht er u. a. von einer „überstandenen politischen Krankheit"; Thibaut und Savigny, 24,35,176. 51 Noch in seinem späten Rückblick (1838) auf die ganze Kontroverse tadelt es Thibaut, „von Tag zu Tag mehr die Angst vor Revolutionen" zu schüren und, sich an die Hoffnungen erinnernd, die er in seinen Studentenjahren an die Französische Revolution knüpfte, fügt er hinzu, daß „deren leider viele, aber doch zum Glück nicht alle, durch die späteren Begebenheiten vernichtet worden sind." Thibaut und Savigny, 278 und 285. 52 Varnhagen: Tagebücher 1,127 (Eintrag vom 5. 5.1839).
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HEGEL UND DER HISTORISMUS . der Weltgeist ist der Geist überhaupt... das muß, wie gesagt, das Ergebnis der Geschichte selbst sein... die Geschichte haben wir zu nehmen, wie sie ist... wir haben historisch, empirisch zu verfahren ... unter anderem dürfen wir uns nicht durch die Historiker, durch die Fachleute verführen lassen .. Thomas Bernhard, Der Italiener1
I.
„Der Historiker ist ein rückwärts gekehrter Prophet."2 Wenn dieser von Friedrich Schlegel überlieferte Aphorismus Gültigkeit beanspruchen darf, so ist die Beschäftigung mit dem Historismus für den Geschichtswissenschaftler eine Prophezeiung in eigener Sache. Gut einhundert Jahre reicht nun die Auseinandersetzung mit diesem Begriff zurück, und obwohl die Literatur hierzu seitenreich und vielfältig ist, konnte bislang kaum eine Einigung darüber erzielt werden, was genau unter Historismus zu verstehen sei. Allgemein anerkannt ist - neben der mittlerweile etwas resignativ zur Kenntnis genommenen Vieldeutigkeit des Begriffs - dessen Charakter als Kampfausdruck zur Denunziation obsoleter oder abzulehnender Geschichtsauffassungen sowie seine Initialwirkung für die Auslösung einer geschichtstheoretischen Selbstreflexion. Gerade dieser letzte Punkt bietet aber eine Möglichkeit, sich im Zeichen einer metahistorischen Rückbesinnung mit Modellen auseinanderzusetzen, nach denen Geschichte gedacht worden ist, die dabei aber kaum als ^istoristisch' eingeschätzt wurden. In der Hegelschen Geschichtsauffassung, wie sie in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte konzipiert ist, findet man eine solch ,nicht-histori1 Th. Bernhard: Der Italiener. Frankfurt a. M. 1989.65. F. Schlegel: Der Historiker als rückwärts gekehrter Prophet. Aufsätze und Vorlesungen zur Literatur. Leipzig 1991.161. 2
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stische' Sicht auf die Geschichte. Welches, so wird man zunächst fragen müssen, sind die Kriterien, die über die Aufnahme von Geschichtsphilosophen und -theoretikern in den Kanon der Historisten7 bestimmen? Was für Elemente der Hegelschen Geschichtsphilosophie sind es, die trotz der unterschiedlichen Historismusdefinitionen- verbieten, sie dem Historismus zuzurechnen? Gleichwohl ist der Einfluß Hegels auf die Entwicklung der Geschichtswissenschaft vor allem im 19. Jahrhundert nie bestritten worden. Die gerade in den 1990er Jahren wieder verstärkten Bemühungen, eine Übersicht über den Begriff und das darunter begriffene Phänomen des Historismus zu geben, sehen in seinem Geschichtsmodell häufig einen wesentlichen Faktor für die Ausbildung einer Hstoristischen7 Geschichtswissenschaft, der, da er nicht zum Historismus hinzugezählt wird, quasi ,von außen7 auf die Entwicklung moderner Geschichtswissenschaft eingewirkt habe. Wie ist also die Entstehung des Historismus als Ausprägung leitender Wesensmerkmale zu betrachten, so wird man weiter fragen müssen, und für welche Bereiche ist ein Einfluß Hegelschen Geschichtsdenkens feststellbar? Um diese Fragen zu beantworten, soll im folgenden von einer Vorstellung der verschiedenen Definitionsansätze zum Historismusbegriff und der Ausgrenzung Hegels hieraus ausgegangen werden, um daran anschließend auf die Entwicklung der Geschichtswissenschaft und die Einflußnahme Hegelschen Denkens auf sie einzugehen.
II. Die beiden immer noch gültigen Standardwerke zum Historismus stammen von E. Troeltsch und F. Meinecke.3 Troeltsch zufolge bezeichnet der Begriff Historismus die „grundsätzliche Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte77.4 von ihm wie von vielen anderen Zeitgenossen konstatierte ,Krisis des Historismus75 sei auf die Relativierung aller Werte, von denen aus eine
3
E. Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (= Gesammelte Schriften Bd 3). Tübingen 1922. F. Meinecke: Die Entstehung des Historismus (1936) (= Werke Bd 3). München 1959. 4 Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. 102. 5 Diese geläufige Wendung ist der Titel eines Werkes von Heussi: K. Heussi: Die Krisis des Historismus. Tübingen 1932.
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Einheit der Geschichte erst gewährleistet sei, zurückzuführen.6 Die Ausdehnung der historischen Erkenntnis auf alle vergangenen und bestehenden Entitäten und Normen habe zum sogenannten ,Werterelativismus' geführt, worunter die prinzipielle Verzeitlichung und die Einsicht in die Endlichkeit alles Bestehenden und Geltenden verstanden wird. Dadurch sei die Formulierung einer Geschichtsethik, einer Weltanschauung als Ausgangspunkt einer gültigen und verbindlichen Geschichtsauffassung verunmöglicht worden. Die Krisis des Historismus, so Troeltsch weiter, sei durch eine ,Kultursynthese' zu lösen, worunter er die Verschmelzung empirisch-historischer Forschung und geschichtsphilosophisch-ethischer Maßstäbe verstand.7 Dieses Konzept ist - möglicherweise durch das jähe Ableben Troeltschs - nicht näher ausformuliert worden. Wichtig für die weitere Geschichte des Historismusbegriffs ist die Möglichkeit seiner Anwendung als spezifische Denkformation auf die gesamten (europäischen) Kulturwissenschaften. Demgegenüber faßt Meinecke unter Historismus' „nichts anderes als die Anwendung der in der großen deutschen Bewegung von Leibniz bis zu Goethes Tode gewonnenen neuen Lebensprinzipien auf das geschichtliche Leben". Der Kern des Historismus bestehe in der Verbindung einer „individualisierenden Betrachtung" mit dem Entwicklungsgedanken.8 So ist der Historismus nach Meineckes Definition im wesentlichen eine Epoche der deutschen Geschichtsphilosophie und -Schreibung, die in der Zeit von Shaftesbury und Leibniz bis Goethe und Ranke entstand und deren Einheit durch die Ausprägung der beiden leitenden Merkmale gestiftet wird. Diese Charakterisierung ist vor allem im Bemühen um eine /Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus'9 und die Ideologiekritik in den späten 1960er und den Anfängen der 1970er Jahre wiederholt diskutiert worden. In politischer Hinsicht wurde nun in den von Meinecke als Ideal jeder deutschen Geschichtswissenschaft vorangestellten Prinzipien ein Ausdruck des verhängnisvollen deutschen Sonderwegs gesehen, der nach den „politischen Katastrophen ... der gründlichen Überprüfung" bedürfe.10 In 6
Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. 4. 7 Ebd. 164. 8 Meinecke: Die Entstehung des Historismus. 2,5. 9 So der Titel eines Werkes von W. J. Mommsen: Geschichtswissenschaß jenseits des Historismus. Düsseldorf 1971. 10 So etwa G. G. Iggers: The German Conception of History. The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present. Middletown 1968. (hier zit. nach der
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wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht wurde der Historismus als Epoche nach der Etabherung der Historischen Sozialwissenschaften zum Synonym für eine anachronistische Geschichtsvorstellung. Eine Weiterentwicklung hat die Historismusdefinition Meineckes in den 1980er und 1990er Jahren durch U. Muhlack, J. Rüsen sowie dessen Schüler F. Jaeger und H. W. Blanke erfahren. Wahrend Muhlack die Bestimmung Meineckes weitgehend übernimmt, nur hinsichtlich der Epochenperiodisierung den Humanismus und die Aufklärung als „Vorgeschichte des Historismus" faßt,11 stellen Rüsen und seine Schüler eine Neudefinition in Anlehnung an Meinecke vor. Jaegers und Rüsens einführendes Handbuch versteht unter Historismus „eine bestimmte Weise des historischen Denkens und eine ihr entsprechende Konzeption von Geschichtswissenschaft. Es ist ein Denken, dem es um die Erkenntnis der Eigenart vergangener Zeiten im Unterschied zur Gegenwart und dem es zugleich um einen übergreifenden Zusammenhang verschiedener Zeiten geht: Deren Aufeinanderfolge erscheint als einheitliche und durchgängige Entwicklung eigentümlicher menschlicher Lebensformen. Individualität' und Entwicklung' sind die dafür charakteristischen Kategorien."12 Der Historismus erscheint so als Epoche deutschsprachiger Geschichtswissenschaft, deren Anfänge „in die späte Aufklärung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts" zurückreichten, und die wesentlich definiert wird über die Ausbildung einer spezifischen Methode: des historischen Verstehens.13 Troeltschs Gedanken sind vor allem von O. G. Oexle und seiner Schülerin A. Wittkau rezipiert worden. In ihrer Dissertation zeichnet diese die Verwendung des Historismusbegriffs in fachwissenschaftlichen Argumentationszusammenhängen nach. Sie skizziert so - ausgehend von der Troeltschen Definition - die Geschichte des Werterelativismusproblems, dessen Lösung sich bereits bei Max Weber abzeichne und das so schließlich von Meinecke „um die wesentlichen Dimensionen", die sie näher als „Historisierung des Denkens und das Problem der Relativierung der Werte" benennt, reduziert worden sei.14 Für Wittdt. Übersetzung:) Deutsche Geschichtswissenschaß. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart. München 1971.8. 11 Am deutlichsten in seinem Werk: U. Muhlack: Geschichtswissenschaß im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991.22 f. 12 JE Jaeger/J. Rüsen: Geschichte des Historismus. Eine Einführung. München 1992.1. 13 Ebd. 1 ff. 14 A. Wittkau: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems. Göttingen 1992.15 f, 195 f.
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kau, wie auch für Oexle, gestaltet sich damit die Geschichte des Historismus als „Problemgeschichte"15 der Historisierung des Denkens in den Kulturwissenschaften. Die Entwicklung eines Ansatzes, der beide scheinbar antagonistischen Positionen wenn nicht verbinden, so doch zumindest überbrükken kann, ist der Gegenstand der aktuellen Diskussion. Ob dies über den Begriff einer geschichtlichen Rationalität, einer historischen Vernunft zu leisten ist, wie V. Steenblock fordert,16 oder ob dies durch neuartige Narrativitätskonzepte, die von der „ ,Sprache' zur ,Erfahrung'" überleiten, wie F. R. Ankersmit prognostiziert,17 bleibt abzuwarten.
III. Sowohl jene Definitionsansätze, die unter Historismus die Historisierung alles Denkens verstehen,18 als auch jene, die darunter eine geschichtswissenschaftliche Epoche mit spezifischen Paradigmen fassen, zählen Hegel in der Regel nicht zu den Historisten. 1. Die Vertreter jener Historismusdefinition, die darunter den Werterelativismus begreifen, erkennen in dem Gegensatz von Spekulation und Empirie einen Antagonismus, der zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Hegel und dem Historismus benutzt wird. Troeltsch, der - wie O. Hintze treffend bemerkt hat - in der Tradition der Identitätsphilosophie steht,19 sieht in Hegels Geschichtsphilosophie einen 15
Dieser Begriff aus Oexles programmatischem Vorwort zu seinem neu edierten Sammelband, der alle seine einschlägigen Aufsätze zum Thema zusammenfaßt: O. G. Oexle: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Göttingen 1996.9. 16 V. Steenblock: Transformationen des Historismus. München 1991. 17 F. R. Ankersmit: Historismus: Versuch einer Synthese. In: Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme. Hrsg. v. O. G. Oexle u. J. Rüsen. Köln, Weimar, Wien 1996.409. 18 Eine der wenigen Ausnahmen findet man im Historismusartikel der ersten Auflage von Eislers Wörterbuch von 1900, doch schon in der dritten Auflage bestimmt Eisler den Historismus als Relativismus im Gegensatz zum „ethischen Idealismus und der idealistischen Rechtsphilosophie". R. Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe und Ausdrücke. Berlin 1900. 329. Ebd. Berlin 19103. 490. Von „Hegels Historismus" spricht auch Rothakker, wenn er Hegels Geschichtskonzeption meint, wie sie in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts vertreten wird. E. Rothacker: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Tübingen 19302.82 ff. 19 Troeltsch sei - so Hintze - ein „Epigone des mit Leibniz anhebenden und in Hegel und Ranke gipfelnden deutschen Idealismus". O. Hintze: Troeltsch und die Probleme des Historismus (1927). In: Ders.: Soziologie und Geschichte (= Gesammelte Abhandlungen Bd 2). Göttingen 19642. 324. Meinecke sieht in ihm einen „Idealisten" in der Tradition Hegels.
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Anknüpfungspunkt für seine Theorie der Kultursynthese. In scharfer Wendung gegen die „Organologie der historischen Schule"20 als des eigentlichen Protagonisten des Historismus sind es vor allem Hegels Dialektik, sein Versöhnungsbegriff und sein „Europäismus",21 die sich seiner Meinung nach zur Überwindung des Historismus eigneten. Für die Kultursynthese ist gerade der Gegensatz zwischen der Hegelschen „Logisierung", von der Troeltsch spricht,22 und empirischer Forschung eine Voraussetzung: der Hegelschen Vernunftlogik wird dabei der geschichtsphilosophische Part der Kultursynthese zugewiesen, der den werterelativierenden Einfluß der generellen Historisierung zu ergänzen habe.23 Troeltsch weist den gegen Hegel gerichteten Vorwurf zurück, dieser sei von apriorischen Setzungen ausgegangen, und sieht das dialektische Modell als zweiten Schritt nach vollzogener Forschung24 Indem er aber das „Rational-Begriffliche" bei Hegel betont und es gegen das „Konkret-Historische" abgrenzt, weist er die Hegelsche Geschichtsphilosophie als andersartig gegenüber der historischen Forschung aus, was auch durch das dialektische Modell nicht aufgehoben werde. So wird Hegels Geschichtskonzeption nicht als Gegensatz zum Historismus definiert - diesen sieht Troeltsch im Naturahsmus25 -, sondern als Differenz. Diese Differenz gründe - so Wittkau - im unterschiedlichen Erkenntnisinteresse. Während die Hegelsche Geschichtsphilosophie versuche, „Antwort auf die Frage nach dem Sinn und Ziel der Geschichte zu geben", antworte „die empirische Geschichtswissenschaft... auf eng begrenzte Fragen über die Vergangenheit".26 Es sei daher kein Zufall, daß in der Zeit, da sich die empirische Geschichtswissenschaft von der spekulativen Geschichtsphilosophie zu scheiden beginne - der Mitte des
Meinecke: Ein Wort über geschichtliche Entwicklung (1942). In: Ders.: Zur Theorie und Philosophie der Geschichte (= Werke Bd 4). Stuttgart 19652.102. 20 Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. 262. Daß diese Frontstellung unter anderem auf den politischen Gegensatz zur „konservativen Denkweise" zurückzuführen ist, die an die „Antriebe der Romantik" angeknüpft habe, erhellt aus der Fußnote. Ebd. 262. Ebd. 268 f. 22 Ebd. 131. 23 Ebd. 246. Troeltsch: Über den Begriff einer historischen Dialektik. Windelband-Rickert und Hegel. In: Historische Zeitschrift. 119 (1919). 390 ff. 24 Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. 130. 25 Worunter er „die Unterbauung eines Systems von möglichst mathematisch ausdrückbaren, quantitativen Beziehungsgesetzen unter die Alltagserfahrung des gemeinen Bewußtseins" begreift. Ebd. 103. 26 Wittkau: Historismus. 32.
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19. Jahrhundertsder Begriff ,Historismus' erstmals systematische Verwendung finde.27 Das Hauptargument, Hegel nach dieser Definition nicht zum Historismus zu rechnen, gründet also im unterschiedlichen Erkenntnisinteresse. Wenn Troeltsch in Hegels Geschichtsphilosophie ein Vorbild für eine Ergänzung der werterelativierenden historischen Forschung sieht, spricht dies schon dagegen, ihn zu den Historisten zu rechnen. Hegels geschichtsphilosophischer Ansatz relativiere gerade durch sein Festhalten „an der fortschreitenden Wertsteigerung der derart sich selbst klärenden, vertiefenden und kraftvoll durchsetzenden Vernunft" den Werterelativismus selbst.28 In wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive wird dem Historismus eine andere Traditionslinie als der Hegelschen Philosophie der Weltgeschichte zugeordnet. Die Trennung der spekulativen Geschichtsphilosophie Hegels von der empirischen historischen Forschung - so Wittkaus Argument - bedinge erst die Rede vom Historismus zur Differenzierung beider Formen des Geschichtsdenkens. 2. Eben diese beiden Argumente stehen auch bei den Vertretern jener Historismusdefinition im Vordergrund, die in ihm eine geschichtswissenschaftliche Epoche mit spezifisch ausgeprägten Paradigmen sehen. Sie beziehen sich dabei wie auch Troeltsch, Wittkau und Oexle vorwiegend auf den ersten Teil der Hegelschen Weltgeschichtsvorlesung, der auch unter dem Titel Die Vernunft in der Geschichte bekannt ist. Von ihnen wird Hegel als Geschichtsphilosoph, nicht als Universalhistoriograph beurteilt, was der zweite Teil seiner Vorlesung durchaus gestatten könnte, und fällt so schon als erstes aus dem engeren Kreis der Historisten als Geschichtswissenschaftler. Sowohl Meinecke als auch Jaeger und Rüsen sehen in der Hegelschen Geschichtsphilosophie eine Vorstufe der Transformation des Historismus zur empirischen Wissenschaft.29 Zwei Punkte hätten die Konfliktlinien zwischen Hegel und Ranke und Humboldt, die als Vertreter des sich ausprägenden Historismus angeführt werden, bestimmt: „die Auseinandersetzung um die adäquate Methode der historischen Erkenntnis und eine konkurrierende Interpretation der Welt als einer geschichtlichen Totalität."30 Jaeger und Rüsen, die ein spezifisches Paradigma des Historismus vor allem
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Zu diesem Phänomen siehe vor allem: G. Scholtz: „Historismus" als spekulative Geschichtsphilosophie: Chr. J. Braniß. Frankfurt a. M. 1973. 28 Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. 246. 29 So der Titel eines Unterkapitels in: Jaeger/Rüsen: Geschichte des Historismus. 34. 30 Ebd.34.
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in der Ausbildung einer historischen Hermeneutik sehen, vermissen dies bei Hegel. Nach Meinecke, der den Historismus in systematischer Hinsicht als Betrachtung von Individualität und Entwicklung faßt, fehle bei Hegel die erforderliche Berücksichtigung historischer Einzelheiten. Hegel habe es nicht geschafft, seine „logische Norm" mit der individualisierenden Betrachtung zu verbinden.31 Da Meinecke der Historismus Rankes als Ideal von Geschichtswissenschaft vorsteht, kommt er zu dem Schluß, „Hegels Panlogismus ist für uns erledigt".32 Alle Vertreter der Epochendefinition sehen in Hegels Versuch, den „absoluten Endzweck... des welthistorischen Prozesses"33 erkennen zu wollen, einen Unterschied zum Historismus. Hegels Geschichtsmodell sei durch überindividuelle Prozesse eines leitenden Fortschritts der Vernunft geprägt, der die Individuen zu „bloßen Funktionären ... herabsinken" lasse.34 Die Individualität werde damit „Mittel zum Zweck".35 An der Stelle des „antizipierten Endzustandes der Welt", der bei Hegel in identitätsphilosophischer Weise in der Gleichsetzung von „historischer Wirklichkeit und spekulativem Vemunftbegriff" zu sehen sei, stehe im Historismus die Betrachtung „der historischen Entwicklung mit ihrer Ausprägung historischer Individualitäten".36 Obwohl beide Definitionstraditionen den Historismus aus den gleichen Gründen von Hegels Philosophie der Weltgeschichte abgrenzen, wird von beiden doch ein naher Bedingungskontext betont. Nicht nur, daß der Historismus als systematischer Begriff in der Auseinandersetzung zwischen empirischer Geschichtswissenschaft und spekulativer Geschichtsphilosophie erstmals gebraucht werde, wie Wittkau anführt, sondern auch, indem Meinecke wie auch Jaeger und Rüsen die idealistische Geschichtsphilosophie als Wurzel modernen Geschichtsdenkens beurteilen, wird auf den Einfluß Hegels auf die Entstehung des Historismus verwiesen, dem es nun näher nachzugehen gilt.
31 32
Meinecke: Aphorismen. In: Ders.: Zur Theorie und Philosophie der Geschichte. 231. Ders.: Deutung eines Rankewortes. In: Ders.: Zur Theorie und Philosophie der Geschichte.
137. 33
Jaeger/Rüsen: Geschichte des Historismus. 36. Meinecke: Ein Wort über geschichtliche Entwicklung, a. a. 0.115. 35 Ders.: Schleiermachers Individualitätsgedanke. In: Ders.: Zur Theorie und Philosophie der Geschichte. 343. 36 Jaeger/Rüsen: Geschichte des Historismus. 37. 34
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IV. Um einen ersten Aufschluß darüber zu erhalten, inwieweit Hegel mit den Entwicklungen der Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertraut war, läßt sich ein Blick auf den Versteigerungskatalog seiner Bibliothek werfen. Neben vier geschichtsphilosophischen Werken von Schneller und F. Schlegel, Pabst und Meiners, finden sich vier Weltgeschichten37, Gibbons History of the Decline and Fall of the Roman Empire sowie relativ wenige Spezialgeschichten. Als ,geschichtstheoretische' Schrift befand sich allein Savignys Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtszvissenschaß in seinem Besitz. Für den Historismus als grundlegend angesehene Werke wie Niebuhrs Einleitungen zu den Vorlesungen über Römische Alterthümer, Humboldts lieber die Aufgabe des Geschichtschreibers, Savignys Vorwort zur ersten Ausgabe der Zeitschrift für historische Rechtswissenschaft oder Rankes Einleitung zu den Geschichten der romanischen und germanischen Völker fehlen.38 Freilich kann man dies nur als groben Hinweis auf die historische Lektüre Hegels werten, da ungewiß bleibt, wieviele Werke aus seinem Bestand in den Besitz seiner Erben übergingen. Aber auch das Personenregister zu seiner Weltgeschichtsvorlesung läßt kaum auf Bezüge zu zeitgenössischen Historikern schließen. Neben den neuzeitlichen Geschichtsphilosophien Lessings, F. Schlegels, Schellings und Rousseaus, werden K. F. Eichhorn, J. und K. O. Müller, B. G. Niebuhr, L. Ranke, W. Scott, Ae. Tschudi und K. L. Weltmann genannt - die meisten hiervon als Vertreter defizitärer Geschichtsauffassungen.39 Von vielen dieser Historiker dürfte Hegel nur relativ oberflächliche Kenntnisse besessen haben, wie es sich am Beispiel des Verhältnisses zu Ranke nachweisen läßt.40 Achtet man umgekehrt auf die Zitation Hegels in geschichtstheoreti-
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Von K. F. Becker, C. D. Beck, J. Bolingbroke, J. G. Kühnemann und F. C. Schlosser. Verzeichniß der von dem Professor Herrn Dr. Hegel und dem Dr. Herrn Seeheck hinterlassenen Bücher-Sammlungen. Berlin 1832. 39 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd 1 (= Die Vernunft in der Geschichte). Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1955. 279. Dabei ist zu bemerken, daß die Zitation von Historikern in der letzten Fassung der Vorlesung deutlich höher lag als in der rekonstruierten ersten. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Berlin 1822/23. Hrsg. v. K. H. Ilting (= Vorlesungen Bd 12). Hamburg 1996. 623 ff. Auch das Gesamtregister zu seinen Werken zeitigt keinen anderen Befund. Ders.: Werke. Frankfurt a. M. 1986. Bd 12. 40 Dies ist gesondert nachzulesen in meinem Aufsatz: S. Jordan: Der Weltgeist als Betrüger oder Das kleinliche Interesse des Historikers. Elemente geschichtstheoretischen Denkens bei Hegel und Ranke. In: Jahrbuch für Hegelforschung. 3 (1997). 38
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sehen Schriften41 von Historikern, so erhält man den passenden Gegenbefund: nicht in einem einzigen Werk vor 1857 wird auf Hegel verwiesen! Die erste bekannte Nennung bezieht sich noch nicht einmal auf Hegel selbst, als vielmehr auf die „Hegel'sehe Schule". Sie stammt von H. Bischof, der in seinem Aufsatz Die Regeln der Geschichtschreibung ein „Heimweh nach der Naivetät der Chronik" konstatiert, das als Reaktion auf die „Constructionen der Hegel'sehen Schule" zu werten sei.42 Eine systematische Auseinandersetzung von seiten historistischer Geschichtstheorie mit dem Hegelschen Geschichtsmodell - darauf hat Rüsen seit seiner Dissertation43 wiederholt verwiesen - findet sich zuerst beij. G. Droysen.44 Droysen, dessen historiographisches Erstlingswerk, die Geschichte Alexanders des Grossen (1833), deutlich Züge der Hegelschen Geschichtsphilosophie zeigt, hatte schon in der geschichtstheoretischen Beilage zu seiner Übersetzung der Werke des Aischylos (1832) - den Didaskalien die bei Hegel verwendeten Denkfiguren, wie das teleologische Fortschrittsmodell, den dialektischen Stufengang der Geschichte, den Sittlichkeits- und den Fortschrittsbegriff, übernommen.45 Anders als Ranke gehörte Droysen zu jener jüngeren Generation deutscher Historiker, die Hegel noch im Rahmen ihres Studiums in Berlin gehört hatten;46 über den Gesellschaftskreis der Mendelssohns war er auch persönlich mit ihm bekannt.47 Zunächst stark beeindruckt und beeinflußt von ,sei-
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Im folgenden soll ,historistisches Denken' ausschließlich an geschichtstheoretischen Texten untersucht werden, um so dem Problem der Divergenz zwischen expliziten und in historiographischen Werken implizierten Theorien zu entgehen, welches zwar sehr interessant ist, den Rahmen dieser Untersuchung aber sprengen würde. 42 H. Bischof: Die Regeln der Geschichtsschreibung und Deutschlands Historiker im 19. Jahrhundert. In: Deutsches Museum. 46 (1857). 718. 43 Rüsen: Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droysens. Paderborn 1969. 44 Zum folgenden siehe meine Zusammenfassung über das Verhältnis von Droysens altertumswissenschaftlichem Werk zu Hegels Denken: S. Jordan: G. W. F. Hegels Einfluß auf das philologische und altertumswissenschaftliche Schaffen Johann Gustav Droysens. In: Jahrbuch für Hegelforschung. 1 (1995). 141-155. 45 /. G. Droysen: Geschichte Alexanders des Grossen. Berlin 1833. Ders.: Des Aischylos Werke. Berlin 1832. 46 Die Philosophie der Geschichte Hegels hörte Droysen im WS 1828/29. H. Astholz: Das Problem „Geschichte" untersucht bei Johann Gustav Droysen. Berlin 1933 (Repr. Vaduz 1965). Beilage. 47 C. Wagner: Die Entwicklung Johann Gustav Droysens als Althistoriker. Bonn Diss. 1991. 20.
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nem alten unvergeßlichen Hegel'48, stellt sich bei Droysen nach Hegels Reaktion auf die Julirevolution 1831 eine zunächst politisch motivierte Hegelkritik ein, die aber bald in eine wissenschaftliche Differenz übergeht.49 In Abgrenzung zu den „windschiefen Spekulationen" der Hegelschen Schule50, beginnt Droysen spätestens seit Ende der 1830er Jahre eine eigene Geschichtstheorie zu konzipieren. In der kaum verbreiteten Privatvorrede des zweiten Bandes seines Hellenismuswerkes von 1843 revidiert er seine frühere Geschichtsauffassung und hebt sich explizit in einigen Punkten von Hegel ab.51 Eine endgültige Trennung vom Primat Hegelschen Denkens vollzieht Droysen in seiner HistorikVorlesung, die er zwischen 1857 und 1882/83 insgesamt 17mal hält. Mit der Historik erhält der Historismus die Fundamentalschrift, an der sich spätere Geschichtstheorien immer wieder orientieren. Droysens Kapitel Systematik proklamiert den Zusammenhang von Entwicklung und Individualität, auf dem Meineckes Definition fußt. Das Kapitel Methodik enthält als Kern eine historische Verstehenslehre, die Jaegers und Rüsens Definition erstmals in vollem Umfang anwendbar macht. Daß es sich hierbei nicht um eine schulbildende Einzelposition handelt, sondern daß sich Droysen mit seiner,Überwindung der Hegelschen Geschichtsphilosophie' durchaus im Einklang mit seiner Zeit befindet, erhellt unter anderem aus dem Umstand, daß mit dem Ende der 1840er Jahre in der Philosophie eine erste systematische Auseinandersetzung über den ,Historismus' und den ,Naturismus' entbrennt,52 worin unschwer ein Vorläufer des Troeltschen Antagonismus zu erkennen ist.
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Droysen: Brief an einen Unbenannten, etwa Juli 1846. In: Ders.: Briefwechsel. Bd 1. Leipzig/Berlin 1929. 335. 49 Im Juli 1831 bittet sich Droysen in einem Brief an W. Arendt das Privatvergnügen aus, „Hegel als Philosophen der Restauration darzustellen und womöglich nach Cherbourg zu begleiten". Droysen: Brief an W. Arendt vom Juli 1831. In: Ebd. 38. 50 Droysen: Brief an A. Heydemann vom November 1829. In: Ebd. 15. 51 Die Privatvorrede wurde von R. Hübner unter dem Titel Theologie der Geschichte in die erste Edition der Historik mitaufgenommen: Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hrsg. v. R. Hübner. München/Berlin 1937. Nähere Ausführungen hierzu: S. Jordan. Hegels Einfluß auf Droysen. a. a. 0.149 f. 52 Die Diskussion über den Historismus wurde vor allem von C. J. Braniß, I. H. Fichte, C. H. Weiße und R. Haym vorangetrieben. Siehe hierzu besonders: Scholtz: „Historismus" als spekulative Geschichtsphilosophie. 87 ff.
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V. So lassen sich anhand der Unterschiede in den Geschichtskonzeptionen der Hegelschen Weltgeschichts- und der Droysenschen H/sfon/c-Vorlesung die Differenzen von Hegels Geschichtsdenken und dem Historismus darlegen. Die oben aufgezeigte Verquickung politischer und wissenschaftlicher Hegelkritik findet sich auch in der Historik: Hegels Philosophie bedeute, in das „Praktische und Politische übersetzt", eine „falsche historische Doktrin, die Restauration und Reaktion proklamiert".53 Droysen begründet dieses Diktum wissenschaftstheoretisch damit, daß er die Legitimation des gegenwärtigen politisch-sozialen Zustandes bei Hegel als Notwendigkeit einer historisch-genetischen Entwicklung gedacht findet. Hinter dem politischen Argument Droysens verbirgt sich so die Abkehr vom Hegelschen Gedanken des Endzwecks der Geschichte wie auch vom Notwendigkeitsbegriff. Das Hegelsche Modell der Weltgeschichte, wie es in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte vertreten wird, kennt drei Stufen: 1. die orientalische Welt als „Versenktsein des Geistes in seine Natürlichkeit", 2a. die griechische Welt, in der der Geist seine Freiheit für sich erkennt, 2b. die römische Welt, worin die Freiheit des Geistes im Dienste des Allgemeinen steht und schließlich 3. das germanische Zeitalter, die christliche Welt, in der der Geist an und für sich frei wird, der subjektive Geist mit dem objektiven Geist versöhnt wird.54 Diese letzte Stufe habe mit der Reformation begonnen, ihre Aufgabe liege nun darin, das letzte Prinzip des Weltgeistes nicht mehr historisch, sondern geographisch über die gesamte Welt auszudehnen. Damit verstößt Hegel nicht nur in den Augen Droysens und anderer Vertreter des Historismus gegen das Gebot der Historisierung, indem er die Gegenwart der Geschichtlichkeit entzieht, er impliziert darüber hinaus auch politischpraktische Konsequenzen, die den Prinzipien des Historismus zuwi53
Droysen: Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857), Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/58) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Hrsg. v. P. Leyh. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977.162. 54 Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. 155 ff. „Hier wäre der Endzweck der Welt. Die Vernunft erkennt das Wahrhafte, an und für sich Seiende, das keine Beschränkung hat. Der Begriff des Geistes ist Rückkehr in sich selbst, sich zum Gegenstände zu machen; also ist das Fortschreiten kein Unbestimmtes ins Unendliche, sondern es ist ein Zweck da, nämlich die Rückkehr in sich selber. Also ist auch ein gewisser Kreislauf da, der Geist sucht sich selbst." Ebd. 181. T. Bautz: Hegels Lehre von der Weltgeschichte. München 1988. 149 ff.
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derlaufen. Für Droysen, der nicht in der gegenwärtigen Formation des preußischen Staates das Ziel der Geschichte erfüllt sieht, sondern statt dessen in ihm eine Vorstufe zur Schaffung eines Nationalstaates angelegt erkennt, ergibt sich durch die Beurteilung der Gegenwart als historisch bedingter und bedingender eine praktische Konsequenz. Die Charakterisierung der Gegenwart als einer ,werdenden Geschichte' führt bei Droysen zum ethischen Imperativ einer Arbeit an der Geschichte im Gegensatz zum quietistischen Vollendungsbewußtseins Hegels.55 Dessen Nachtvogel der Minerva beginnt den Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung;56 Droysens geflügelte Erkenntnis hingegen schwebt im noch hellen Licht zeitlicher Realität. Hegels dialektisches Stufenmodell und sein daran gebundener teleologisch auf den „Endzweck der Welt" bezogener Fortschrittsbegriff57 bedingen ein Verständnis von Notwendigkeit, von dem sowohl Prozesse als auch Personen betroffen sind. In der organologischen Definition des Volksgeistes - er „blüht... auf, ist stark, nimmt ab und stirbt"58 - ist die Notwendigkeit der „Aufhebung" in und auf eine neue höhere Stufe der historischen Entwicklung angelegt. „Das Konkrete, die Wege der Vorsehung sind die Mittel, die Erscheinungen in der Geschichte, welche offen vor uns liegen; und wir haben sie nur auf jenes allgemeine Prinzip zu beziehen."59 Während der Geist das „Substanzielle" der Geschichte ist, sind die natürlichen Individualitäten - einzelne Menschen- und die Kollektivindividualitäten - die Volksgeister - nur Mittel seiner Verwirklichung, die durch die Vernunft als das Prinzip der Freiheit strukturiert sind.60 Sowohl durch ihre Vernunft als auch durch ihre Leidenschaften tragen so historische Persönlichkeiten immer bewußt oder unbewußt zum Fortschreiten der Geschichte bei. 55
Hierzu vor allem: R. Koselleck: Zur Rezeption der preußischen Reformen in der Historiographie. In: Formen der Geschichtsschreibung (= Theorie der Geschichte Bd 4). Hrsg. v. R. Koselleck e. a. München 1982. 250. F. Gilbert: Johann Gustav Droysen und die Preußisch-Deutsche Frage. München/Berlin 1931.145. 56 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1955. 17. 57 „Unter der Sonne geschieht nichts Neues. Aber mit der Sonne des Geistes ist es anders. Deren Gang, Bewegung ist nicht eine Selbstwiederholung, sondern das wechselnde Ansehen, das der Geist sich in immer andern Gebilden macht, ist wesentlich Fortschreiten/' Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. 70. 58 Ebd. 67. T. Bautz: Hegels Lehre von der Weltgeschichte. 121 ff. 59 Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. 40. 60 „Der einzige Gedanke, den sie (die Phüosophie der Weltgeschichte, S. J.) mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrscht, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist." Ebd. 28.
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Hegels berühmt-berüchtigte Konzeption einer „List der Vernunft"61 reduziere historische Persönhchkeiten zu „bloßen Funktionären", so auch Droysens Kritik in Meineckescher Wendung. Wenngleich Droysen bestimmte Grundaxiome der Hegelschen Geschichtsphilosophie affirmiert, wie den Präformationsgedanken des Christentums in der Antike, den Gang der Geschichte als stufenweise Abfolge von Volksgeistern und die Steigerung menschlicher Freiheit,62 so weicht er doch die Notwendigkeit der Entwicklung und die Freiheit des Individuums betreffend deutlich von Hegel ab. Freiheit wird bei ihm als vemunftbedingte Akzeptanz des Notwendigen, als Teilhabe an der „sittlichen Welt" bestimmt. Sie unterscheide sich von „Willkür".63 Die historischen Persönlichkeiten trieben den Prozeß der Geschichte als historische Arbeit nur bewußt voran. „Die Geschichte ist das Bewußtwerden und das Bewußtsein der Menschheit über sich selbst."64 In Kantischer Wendung spricht er von der Geschichte als der „Genesis des ,Postulats der praktischen Vernunft', das der,reinen Vernunft' unauffindbar blieb."65 Während also bei Hegel geschichtliche Prozesse durch die Verwirklichung einer übermenschlichen Vernunft durch das Mittel der Individualitäten bedingt werden, ist dieser Gedanke in der Rezeption Droysens stark säkularisiert: die Vernunft selbst als Teil des weltlichen Geschehens ist geworden-werdend gedacht. Historische Entscheidungen und Handlungen werden nicht als unbewußte Partizipation an einem transzendentalen Allgemeinen, als ,Überlistung durch die Vernunft' begründet, sondern als ethische, freiheitliche Entscheidung des Individuums für das Notwendige, die aus der Einsichtnahme in die historische Gewordenheit der Vernunft und des prospektiven Entwurfs einer vernünftigen Zukunft resultiere. Mit der Befreiung des Menschen aus seiner Stellung als unbewußtem Mittel der Geschichte einher geht die Umbewertung historischer Entwicklung. An die Stelle des teleologischen Fortschreitens der Welt als historisch-jeweilige Konkretionen des Absoluten, wie dies bei Hegel zu finden ist, tritt bei Droysen die aristotelische Vorstellung der epidosis eis auto, des „sich selbst steigernden Werdens"66, als « Ebd. 105. Zu den Gemeinsamkeiten zwischen Droysen und Hegel siehe: H. Blumenthal: Johann Gustav Droysens Auseinandersetzung mit dem Idealismus. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung. 9 (1933). 347 f. 63 Droysen: Historik. 55,341. 64 Droysen: Grundriß der Historik. (1857/58). § 83. In: Ders.: Historik. 444. 65 Ebd. § 82.444. 66 H. Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Freiburg, München 1974.95. 62
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„Wesen der sittlichen Welt".67 In der Originalzitatstelle aus De anima mit dem Gedanken der entelecheia68 verbunden, begreift Droysen hierunter eine Entwicklung aus sich selbst. Dem Hegelschen Begriff des Fortschreitens als Verwirklichung der Notwendigkeiten des absoluten Allgemeinen, steht somit die historische Erkenntnis der Freiheit zur Vernunft und ihre implizierten ethisch-praktischen Konsequenzen für die Schaffung einer vernünftigen Gegenwart und Zukunft bei Droysen gegenüber. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Droysen und Hegel betrifft das auch zur Scheidung Hegels vom Historismus benutzte Argument des Erkenntnisinteresses. Zunächst einmal scheint es, als ob die Unterschiede beider Denker nicht allzu groß seien. Wenn es für Hegel die Aufgabe der philosophischen Weltgeschichte ist, „einen allgemeinen Zweck aufzusuchen, den Endzweck der Welt",69 um einen Beweis des Absoluten in den Verwirklichungen der Vernunft zu finden, so spricht Droysen in Anlehnung an ihn von der „Geschichte ... als eine(r) Theodizee".70 Er hebt an Hegel hervor, es sei dessen Verdienst, erkannt zu haben, daß „der Inhalt der Geschichte Gedanken seien"; so habe er dazu beigetragen, die Geschichte auf dem Boden der „sog. moralischen Wissenschaften" zu gründen.71 Prekär wird dieser Gedanke für Droysen an dem Punkt, an dem Hegel aus dem Gesagten folgert, die Geschichte müsse das „Allgemeine", „das unendlich Konkrete" zum Gegenstand haben, „das alles in sich faßt, das überall gegenwärtig ist, weil der Geist ewig bei sich ist, für das keine Vergangenheit ist, das immer dasselbe ist, in seiner Kraft und Gewalt bleibt".72 Mit explizitem Bezug auf Hegel unterscheidet Droysen zwischen der historischen und der philosophischen Darstellung der Geschichte. Der Historiker dürfe die Tatsächlichkeiten nicht mit „spekulativen Gedanken" maskieren, sondern die Tatsachen selbst als „Momente seiner Gedankenreihe" erzählen.73 Es ist weniger das Verhältnis von Spekulation und Empirie, das Droysen bei Hegel mißgestaltet sieht, als vielmehr die fehlende Einsicht in die eigene Subjektivität, die er bemängelt. Die bewußte Arbeit an der Geschichte, die Droysen für seine historischen Persönlichkeiten 67
Droysen: Historik. 255. Aristoteles: De anima. II. 5. 4176. 69 Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. 29. 70 Droysen: Historik. 256. 71 Ebd. 256. 72 Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. 33. 78 Droysen: Historik. 233. (Hervorhebung durch mich). 68
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geltend macht, verlangt er auch vom Historiker. Geschichte kann bei ihm nicht von einem Standpunkt, an dem die Geschichte schon vollbracht ist, aus betrachtet werden; die Erkenntnis des Historikers steuert in das prinzipiell gleiche Dunkel der Zukunft wie jenes der historischen Individualitäten. Durch die Negation des Prinzips eines zu sich selbst zurückgekehrten Geistes bei Droysen fehlt die Kategorie einer,List der Vernunft', von der aus ein allgemeiner Weltprozeß konstruierbar wäre. Statt der Vermittlung von Vergangenheit und Absolutem konzipiert er eine Relation zwischen Geschehenem oder Geschäften als Vergangenem und der Geschichte als gegenwärtigem Handeln. So tritt an die Stelle der Konstruktion der Geschichte bei Hegel die gegenwärtige Rekonstruktion der Geschichte durch den Historiker bei Droysen.74 Geschichte wird so „das rückwärts gewandte Verstehen des Seienden als eines Gewordenen, ein Gegenbild desselben, das sich uns aus der Rekonstruktion seines Gewordenseins erzeugt und in dem uns dessen Wahrheit, dessen lebensvolle Kraft entgegentritt."75 Damit ist ein grundsätzlich von Hegel verschiedener epistemologischer Akt verbunden. Die hermeneutische Relation zwischen zu Verstehendem und Verstehendem wird zum Wesensmerkmal historischer Erkenntnis. Die Erklärung der Geschichte des verwirklichten Absoluten, die auf einer über-historischen Kategorie - der absoluten Vernunft - basieren muß, wird durch das Verstehen als innerweltlichen Akt einer historisierten und subjektivierten rein endlichen Vernunft substituiert. Dieser Gedanke bedingt mehrere Eigenheiten Droysens, die ihn von Hegel trennen. Die Rekonstruktion als geschichtskonstituierender Akt wird in der Herstellung einer Relation zwischen geschichtlichem Einzelnen und gegenwärtigem Einzelnem (dem Historiker) vollzogen. Sie bedarf dazu einer bestimmten Methode, des /forschenden Verstehens', die auf einer zeitlich differenten Gleichheit, der Verstehbarkeit, als Voraussetzung beruht. Diese Gleichheit, die in der Vernünftigkeit des Menschen begründet ist, erlaubt es, historisches Verstehen in Analogie zum apperzeptiven Selbstverstehen als Ausdruck eines Ganzen im Einzelnen aufzufassen. Die Fremdheit anderer Zeiten wird dabei auf der Grundlage der Gleichheit historischer Vernunft verstanden. Genetische Abläufe in den Entwicklungen der „sittlichen Gemeinsamkeiten" können so als „sich 74
„Was wir notwendig nennen, ist nicht ein produzierender Zwang, sondern eine rückwärts begreifende Konstruktion". Droysen, zit. nach: Blumenthal: Droysens Auseinandersetzung mit dem Idealismus, a. a. 0.347. 75 Ebd. 41.
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selbst steigerndes Werden" begriffen werden. „Historisches Denken heißt in den Wirklichkeiten ihre Wahrheit sehen."76
VI. Droysens Kritik an der Hegelschen Philosophie der Weltgeschichte ist paradigmatisch für die Beziehung des Historismus zu Hegel. Ähnliche Differenzen sind auch in den geschichtstheoretischen Werken Rankes zu finden: die Vorstellungen einer Dienstbarkeit der Individualitäten für das Absolute, eines Ziel oder Zwecks der Geschichte, einer,List der Vernunft' werden von Ranke ebenso abgelehnt wie die Konstruktion von Geschichte anhand leitender philosophischer Axiome.77 Selbst der häufig als „Außenseiter des Historismus" beurteilte J. Burckhardt78 bemängelt im Kern jene Punkte des Hegelschen Geschichtsmodells, die auch in der Droysenschen Kritik zu finden sind - wenngleich er freilich andere Schlußfolgerungen für die Aufgabe einer Geschichtstheorie hieraus zieht.79 Erkennt man den Befund einer allgemeinen Negation bestimmter Theoreme der Hegelschen Geschichtsphilosophie durch historistische Geschichtstheoretiker an, so stellt sich die Frage nach der Stoßrichtung, in die diese Kritik weist. Handelt es sich um den Versuch, einzelne inakzeptable Elemente der Hegelschen Geschichtsauffassung zu ersetzen, resultiert die Detailkritik aus einer prinzipiellen Ablehnung von Hegels systematischer Philosophie, einer kuitik seiner Person oder gar aus der
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Droysen: Grundriß der Historik (1857/58). §§ 6-11. In: Ders.: Historik. 398 f. L. v. Ranke: Aus Werk und Nachlaß Bd 4. München/Wien 1975. 72,74. Eine detaillierte Auflistung von unterschiedlichen Elementen der Geschichtstheorien Rankes und Hegels ist in meinem Aufsatz: S. Jordan: Der Weltgeist als Betrüger oder das kleinliche Interesse des Historikers (a. a. O.) zu finden. Für eine umfassendere Beurteilung des Verhältnisses zwischen Ranke und Hegel siehe: E. Simon: Ranke und Hegel München/Berlin 1928. 78 Jaeger/Rüsen: Geschichte des Historismus. 122 ff. 79 Die geschichtstheoretische Position Burckhardts ist am deutlichsten in seiner zwischen 1868 und 1873 konzipierten Vorlesung Über geschichtliches Studium ablesbar, die 1905 erstmals postum von seinem Neffen J. Oeri unter dem Titel Weltgeschichtliche Betrachtungen ediert wurde. Eine Analyse ihrer geschichtstheoretischen Elemente und deren Unterschied zu Hegels Konzeption ist von Heftrich geleistet worden: E. Heftrich: Hegel und Jacob Burckhardt. Zur Krisis des geschichtlichen Bewußtseins. Frankfurt 1967. Weitere Details sind zu finden bei: Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel. § 3.48 ff. H. Knittermeyer: Jacob Burckhardt. Deutung und Berufung des abendländischen Menschen. Stuttgart 1949. (bes. Kap. V. Der Begriff der Geschichte. 151 ff). 77
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so gern berufenen Opposition historischer Forschung gegen Geschichtsphilosophie überhaupt? Die Tradierung einzelner Elemente der Geschichtsphilosophie Hegels läßt sich deutlich bei Ranke und vor allem Droysen - weniger bei Burckhardt - aufzeigen.80 Dies spricht deutlich dagegen, eine umfassende Kritik der Hegelschen Philosophie, ja selbst seiner gesamten Geschichtsphilosophie anzunehmen. Auch die Hypothese, daß die Unterschiede zu Hegel aus einer Ablehnung seiner Person folgten, scheint wenig zugkräftig: trotz der angesprochenen politischen Vorbehalte haben sich sowohl Droysen als auch Ranke äußerst respektvoll nach dem Tode Hegels über dessen Werk und Schaffen geäußert.81 Daß die Kritik an Elementen der geschichtsphilosophischen Konzeption Hegels mit einer Lösung der sich als moderner Wissenschaft formierenden Geschichte vom Primat der Philosophie verbunden ist, läßt sich kaum von der Hand weisen. Die Geschichtswissenschaft, so Droysen, „wird ebensowenig glauben, daß etwa eine Philosophie oder Theologie der Geschichte mehr als ein geistvolles Gedankenspiel sei, wird es nie zugeben, daß die philosophische oder theologische Spekulation die historische Welt zu einem nur doketischen Dasein herabsetze, daß erst die Philosophie oder die Theologie die Formel finden müsse, um die ethische Welt zu fassen und zu verstehen."82 Die historische Forschung bilde neben den Naturwissenschaften und der Philosophie und Theologie eine eigenständige Disziplin mit einer besonderen Methode; während erstere erkennen bzw. erklären wollten, versuche die Geschichtswissenschaft zu verstehen.83 Fraglich ist, ob die Feststellung einer eigenen historischen Methode aus einer Abgrenzung historischer Wissenschaft gegen die Philosophie resultiert, oder ob umgekehrt diese eine Voraussetzung für eine methodische Differenzierung ist. Zur Lösung dieses Problems gilt es, den wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund von Droysens Historik zu berücksichtigen. Schon in den Historiken und theoretischen Großschriften der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in denen sich noch kein Bezug zu Hegel feststellen läßt, wird die Emanzipation der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis von der Philosophie und Theologie angestrebt. Auch 80
Rüsen: Begriffene Geschichte. 95 ff. Für Droysen s. o. Anm. 48; In einem Brief Rankes an K. Hegel ist folgende Steile zu finden: Ihr Vater, „den ich im Sommer 31 kennengelemt, war doch gut und geistreich//. Ranke: Neue Briefe. Hamburg 1949.171. 82 Droysen: Historik. 36. 83 Droysen: Grundriß der Historik (1857/58). § 14. In: Ebd. 424. 81
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lassen sich Ansätze hermeneutischen Denkens nachweisen, wenngleich dieses noch nicht zum institutionalisierten Kernbegriff der historischen Methode geworden ist wie bei Droysen.84 Ebenfalls erkennbar ist die deutliche Tendenz, historische Erkenntnis an die Person des gegenwärtigen Historikers zu binden. Alle diese drei Punkte werden von Droysen weiterentwickelt und gegen die Hegelschen Entwürfe ins Spiel gebracht. Die Droysensche Opposition von Spekulation und historischer Empirie, die Betonung des Verstehens als Inbegriff der historischen Methode und die Tendenz zur Subjektivierung historischer Erkenntnis als Rekonstruktionsakt eines gegenwärtigen Historikers stehen also in klarer Tradition zur sich gegen den Pragmatismus - ein zeitgenössischer Begriff, der heute weitgehend durch das Wort ,Aufklärungshistorie' ersetzt worden ist - absetzenden Geschichtstheorie der Übergangszeit zwischen der Aufklärung und dem voll entwickelten Historismus nach Ranke und Droysen. Diese Entwicklungslinie spricht dagegen, die Formulierung der geschichtswissenschaftlichen Methodologie in der Historik auf den Gegensatz von historischer Wissenschaft und Philosophie zurückzuführen wie auch von ihr als einer Voraussetzung für diesen Gegensatz zu sprechen. Statt dessen empfiehlt es sich, beide Punkte als zeitgleiche Ausformungen des innerdisziplinären Diskurses einer sich im Sinne moderner Wissenschaft entfaltenden Disziplin zu sehen. Berücksichtigt man die spezifische Formation der Kernelemente in Droysens Historik, so ist es naheliegend, daß dieser eher versucht, an die Geschichtsphilosophie W. v. Humboldts anzuknüpfen, in dem er einen „Bacon für die Geschichtswissenschaft'' sieht,85 als an Hegels Ausführungen. Hierdurch läßt sich das Argument, seine Detailkritik sei auf den Gegensatz von historischer Forschung und Geschichtsphilosophie zurückzuführen, entkräften. Viel eher muß man von einer innergeschichtswissenschaftlichen Tradition ausgehen, die entscheidend für die Theoriebildung bei Droysen ist. Die Abgrenzung zu Hegel folgt dann aus der Unvereinbarkeit von bestimmten Elementen der Philosophie der Weltgeschichte mit den neugewonnenen Positionen einer,modern' verstandenen Geschichtswissenschaft.86 84 Als drei Beispiele solcher Werke seien hier genannt: F. Rühs: Entwurf einer Propädeutik des historischen Studiums. Berlin 1811. W. Wachsmuth: Entwurf einer Theorie der Geschichte. Halle 1820. F. Rehm: Lehrbuch der historischen Propädeutik. Marburg 1830. 85 Droysen: Grundriß der Historik (1857/58). Einführung. In: Ders.: Historik. 419. 86 Die Kritikpunkte Droysens an Hegel und die Verteidigung moderner' Geschichtswissenschaft gegen die Hegelsche Geschichtsphilosophie sind auch in der zweiten bedeutenden Historik des Historismus zu finden, wo es heißt: „Die Idealphilosophie hat
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Hiermit korrespondiert der eingangs angeführte Befund, daß Hegel vom geschichtstheoretischen Diskurs seiner Zeit kaum Notiz genommen hat und innerhalb dessen gar keine Rolle spielte. Der Historismus, sowohl als Historisierung alles Denkens wie auch als Epoche verstanden, formiert sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Produkt der Traditionslinien des geschichtswissenschaftlichen Diskurses. Die Geschichtsphilosophie, die - Hegel ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel - in dieser Zeit in der Regel an systematische Gesamtentwürfe gebunden ist, wird von der Geschichtstheorie rezipiert, jedoch als eigenständiger Bereich aus der Perspektive spezifisch geschichtstheoretischer Erfordernisse. So ist es erklärlich, daß Hegel seine Geschichtsphilosophie parallel zu Geschichtstheorien von Historikern formulieren konnte. Der Einfluß seines Geschichtsdenkens auf die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus liegt darum weniger in der Affirmation seiner Gedanken als in der Negation, um sich des dialektischen Modells zu bedienen. Die „Art seiner Darlegungen" dienen so als Reflexionsgrundlage für aus der Tradition des geschichtstheoretischen Diskurses entwickelte Positionen. „Nicht wie er sie machte, sondern daß er sie machte, war das Bedeutsame".87 Wie immer man auch Historismus' definiert, so handelt es sich doch stets um eine Selbstvergewisserung der Historizität des eigenen Denkens. Das Verhältnis zwischen Hegel und dem Historismus ist wesentlich dadurch geprägt, daß diese Selbstreflexion im Zeichen der Unterschiede zu Elementen der Philosophie der Weltgeschichte geleistet worden ist und weiterhin werden kann. Meinem akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Lucian Hölscher, gilt mein herzlicher Dank für seine Anregungen.
sich somit zu einer deduktiven Auffassung der Geschichte abgeschlossen, welche mit dem Detail der konkreten Wissenschaft unverträglich ist; einer speciell philosophischen Idee zuliebe wird dem Stoffe Gewalt angethan; Hegels Verteidigung dagegen ist nicht zutreffend, weil die philosophischen Ideen für die Geschichte nicht... allgemeingültige Elementarbestimmungen sind/' E. Bentheim: Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Leipzig 19033/4.646 f. 87 Droysen: Historik. 256.
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GOTT IN DER RELIGION", NICHT „GOTT IN DER GESCHICHTE" Rosenzweigs Auseinandersetzung mit Hegel 1. Rosenzweigs leitendes Interesse Die zitierten Wendungen im Titel dieser Überlegungen stammen aus einem Brief Franz Rosenzweigs an seinen Vetter Hans Ehrenberg vom 26. September 19101: Es ist dies ein Brief, der zum einen noch in der fernen Vorgeschichte des Rosenzweigschen Hauptwerks Der Stern der Erlösung liegt.2 In den Schützengräben der Balkanfront auf Feldpostkarten entworfen und Ende 1918/Anfang 1919 in einer „sechsmonatlichen ekstasis"3 niedergeschrieben, geht es Rosenzweig in diesem außergewöhnlichen Buch um die philosophische Verantwortung der „Tatsache", Jude zu sein. Ihm ist es in Anlehnung an Schellings „positive Philosophie" nach seinen eigenen Worten im Stern der Erlösung „ja wirklich nur um den einen Begriff der Tatsächlichkeit" zu tun, weshalb dieser zuletzt auch in seiner „messianischen Erkenntnistheorie" eine entscheidende Rolle spielt.4 „Das Wesen der Offenbarung ists, daß sie eine Tatsache ist", notiert er im November 1916.5 Existenz heißt es in den Skizzen zu Vorträgen über Lessings Nathan in seiner Heimatstadt Kassel Ende Dezember 1919: „Der jüdische
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Siehe F. Rosenzweig: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften I: Briefe und Tagebücher. 2 Bde. Hrsg, von R. Rosenzweig und E. Rosenzweig-Scheinmann unter Mitwirkung von B. Casper. Haag 1979.11,111-113. 2 F. Rosenzweig: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften II. Der Stern der Erlösung. Haag 41976. 3 12,887. 4 So im Brief vom 13. November 1918; zit. bei: H. M. Stahmer: The letters of Franz Rosenzweig to Margrit Rosenstock-Huessy: /Franz7, /Gritli', /Eugen7 and „The star of redemption77. In: Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929). Hrsg. v. W. Schmied-Kowarzik. Internationaler Kongreß - Kassel 1986. Band I: Die Herausforderung jüdischen Lernens. Freiburg/ München 1988.109-137, hier 134. 5 F. Rosenzweig: Paralipomena. In: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III. Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken. Hrsg, von R. und A. Mayer. Dordrecht 1984.61-124, hier 94.
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Mensch - er hat... selber die Gewalt einer Tatsache" oder „er muß [sie] haben".6 Der zitierte Brief steht des weiteren in der unmittelbaren Vorgeschichte der von Rosenzweig bei dem Historiker Friedrich Meinecke gefertigten und ganz dessen ideengeschichtlicher Methode folgenden Dissertation „Die Entstehung der Hegelschen Staatsansicht. Ein Beitrag zu seiner Lebensgeschichte". Die Arbeit wurde 1912 an der Universität Freiburg eingereicht, erschien aber erst 1920 unter dem Titel Hegel und der Staat in zwei Bänden: Erster Band. Lebensstationen (1770-1806), Zweiter Band. Weltepochen (1806-1831)7. Diese Gesamtdarstellung gilt noch heute als „grundlegendes" Standardwerk der Hegelforschung.8 Wenn das Hegelbuch in der Rosenzweigforschung weitgehend von seinem eigentlichen Werk abgekoppelt wurde, dann hat Rosenzweig selbst dazu beigetragen. Daß es innerhalb des „Schulbetriebs" mehr Beachtung fand als der Stern, hat ihn gekränkt.9 Schließlich bringt der zitierte Brief die Fragestellung Rosenzweigs und das ihn als Autor beider Bücher durchgängig leitende Interesse zur Sprache, und das im lebensgeschichtlich bedeutsamen Ort der Beziehung zu Rosenzweigs Vetter Hans Ehrenberg (1883-1958), zu jenem ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammenden Heidelberger Philosophen, der sich 1909 hatte taufen lassen, 1925 Pfarrer in Bochum wurde und zu den Gründern der Bekennenden Kirche gehörte. Der Briefwechsel Rosenzweigs und Ehrenbergs ist ein lebendiges Zeugnis ihrer existentiellen und philosophischen Auseinandersetzung. Beide kehren heim zu den Quellen der religiösen Überlieferung und kehren damit zugleich um aus einem assimilierten Judentum bzw. aus dem Kulturprotestantismus in ein „neues" - jüdisches bzw. christliches - „Denken".10 6 III449-453, hier 450. 7 2 Bde. München und Berlin 1920. (Nachdruck. Aalen 1962). 8 Vgl. M. Baum/K. Rainer Meist: Recht-Politik-Geschichte. In: Hegel. Einführung in seine Philosophie Hrsg. v. O. Pöggeler. Freiburg/München 1977.106-126, hier 109. 9 Siehe dazu etwa 12,644,953,983. 10 Zum Verhältnis Franz Rosenzweig - Hans Ehrenberg siehe: Franz Rosenzweig und Hans Ehrenberg. Bericht einer Beziehung Hrsg. v. W. Licharz u. M. Keller, Frankfurt a. M. 1986. (Amoldshainer Texte, Bd 42). W. Schmied-Kowarzik: Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung. Freiburg/München 1991. H.-J. Görtz: Franz Rosenzweig und Hans Ehrenberg. Jüdisch-christliches Religionsgespräch als „Entdeckungsreise" in ein „neues Denken". In: Das jüdisch-christliche Religionsgespräch. Hrsg. v. H. Kremers u. J. H. Schoeps. Stuttgart/Bonn 1988.90-113. Auf den Begriff des „neuen Denkens" hat Rosenzweig selbst sein Anliegen gebracht, und zwar in: „Das Neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum ,Stem der Erlösung'". (III139-161).
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Rosenzweigs Fragestellung und durchgängig leitendes Interesse ist das Verhältnis von „Gott in der Religion" und „Gott in der Geschichte". In seiner eigenen Lebens- und Werkgeschichte werden nun aber die Begriffe von „Gott", „Religion" und „Geschichte" und deshalb auch deren Verhältnis jeweils auf unterschiedliche Weise akzentuiert. Der jeweilige Akzent selbst reflektiert dabei Rosenzweigs Auseinandersetzung mit Hegel. Und diese schlägt sich sowohl in der wechselvollen Geschichte seiner Beziehung zu Hans Ehrenberg nieder, wie sie sich auch entscheidend in seinen Hauptwerken Hegel und der Staat und Der Stern der Erlösung ausdrückt. Wenn ein Theologe sich diesem leitenden Interesse in Leben und Werk Rosenzweigs widmet, dann sucht er mit ihm das Gespräch in eigener Sache, und die spitzt sich im Kontext neuzeitlichen und nachneuzeitlichen Denkens noch immer in der sogenannten „Theodizeefrage" zu. Wo es gegenwärtiger christlicher Theologie um eine „Theologie ohne Theodizee" (Emmanuel Levinas) geht, d. h. um eine Theologie, die nicht ein geschlossenes, selbst ihren „Gott" noch umgreifendes „System" konstruiert, sondern um eine demhingegen offene, „geschichtliche" Theologie, eine „Theologie als reflektierte Nachfolge" etwa, die „auf den göttlichen Gott zudenkt" und „unterwegs" ist „mit dem dreieinigen Gott" (Klaus Hemmerle),11 da wird sie aufmerken, wenn es im Brief Rosenzweigs an Hans Ehrenberg vom 26. 9.1910 heißt: „Viel Metareligiöses steckt in all diesen Fragen nach dem Ursprung des Bösen, nach Gott und der Geschichte. Das Religiöse selbst ist immer positive Religion, beginnt mit dem Faktum, nicht mit dem Ursprung und Wesen des Faktums." An Schleiermachers „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern", so schreibt er weiter, sei ihm „das Verhältnis von Religion und Geschichte im 19. sei. und heute" klargeworden, und er zitiert dazu aus seinem Tagebuch: „Das praktische Moment der Religion hat das 18. sei. in seiner Weise gesehen, Kant am tiefsten (auch Lessing). Das neunzehnte hat es abgelehnt", was man deutlich an Schleiermacher sehe. „Hegels religiöser Intellektualismus' " gehöre auch hierher. Und Rosenzweig fährt fort: „Wir heute betonen das Praktische, den Sündenfall, die Geschichte [... ] als Tat des 7a-
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Siehe dazu K. Hemmerle: Auf den göttlichen Gott zudenken. Beiträge zur Religionsphilosophie und Fundamentaltheologie 1 (Ausgewählte Schriften, Bd 1) Hrsg, von R. Feiter. Freiburg i. Br. 1996. Ders.: Unterwegs mit dem dreieinen Gott. Beiträge zur Religionsphilosophie und Fundamentaltheologie 2 (Ausgewählte Schriften. Bd 2) Hrsg, von R. Feiter. Freiburg i. Br. 1996.
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ters. Daher weigern wir uns auch, ,Gott in der Geschichte' zu sehen, weil wir die Geschichte (in religiöser Beziehung) nicht als Bild, nicht als Sein sehen wollen; sondern wir leugnen Gott in ihr, um ihn in dem Prozeß, durch den sie wird, zu restaurieren. Wir sehen Gott in jedem ethischen Geschehen, aber nicht in dem fertigen Ganzen, in der Geschichte; - denn" - und nun wendet Rosenzweig seine Gedanken ausdrücklich in die Theodizeefrage - „wozu brauchten wir einen Gott, wenn die Geschichte göttlich wäre, wenn alle Tat, in dieses Becken fließend, ohne weiteres göttlich, gerechtfertigt würde. Nein, jede Tat wird sündig, wenn sie in die Geschichte tritt (der later wollte nicht, was wurde) und deshalb muß Gott den Menschen erlösen nicht durch die Geschichte, sondern wirklich - es bleibt nichts andres übrig - als ,Gott in der Religion'. Für Hegel war die Geschichte göttlich, /Theodizee'; die Tat - als vorgeschichtliche moralische, subjektive - ohne weiteres ungöttlich, Leidenschaft', Individuum', ,gute Absicht', ,Ritter der Tugend'. Für uns ist die Religion die ,einzig wahrhafte Theodizee'. - Der Kampf gegen die Geschichte im Sinne des 19. sei. ist uns deshalb zugleich Kampf für die Religion im Sinne des 20. "12 Im folgenden sollen die genannten Kontexte dieser geschichtsphilosophischen und geschichtstheologischen Gedanken Rosenzweigs, die sich ja bis in die Sprache hinein „ausdrücklich" auf seine Auseinandersetzung mit Hegel beziehen, skizziert werden, ohne den Anspruch zu erheben, alle Hintergründe ganz auszuleuchten.
2. Franz Rosenzweigs und Hans Ehrenbergs Kehre in den Glauben als Kehre in ein „neues Denken" Unser Brief hat zunächst seine für unsere Fragestellung relevante Vorgeschichte in der Beziehung Rosenzweigs zu Hans Ehrenberg, und er hat darin eine nicht weniger wichtige längere Nachgeschichte. Diese Nachgeschichte ist vom jeweils ganz eigenen Weg Rosenzweigs ins Judentum bzw. Ehrenbergs ins Christentum bestimmt und andererseits davon, daß für beide, wenn auch wieder auf jeweils eigene Weise, die Kehre in den Glauben zugleich die Kehre in ein „neues Denken" besagt. Gerade das verbindet sie nach Rosenzweig in „philosophischer Kampfgemeinschaft"13 und als „Ketzer". „Cohen mehr Jude als ich?", so fragt etwa u 11, m-113. 13 12,889.
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Rosenzweig Ehrenberg in einem Brief vom September 1921. „Gewiß, wie Schleiermacher mehr Christ als ihr. Der zwischen Glauben und Wissende taumelnde Kavalier zeigt, wenn er gerade auf der Glaubensseite angekommen ist, natürlich das normalere, gewohntere Bild des Gläubigen (eben weil ihm Glauben und Wissen zweierlei sind) als wir Synthetiker, Syndetiker, - Ketzer (zu deutsch). Gläubiges Wissen und weiser Glaube - das ist freilich ein neues Bild. Die Umrisse davon kann man bei Schleiermacher wie bei Cohen erst ahnen."u Zur Vorgeschichte: Ähnlich wie Rosenzweig wächst Ehrenberg in einem wirtschaftlich gesicherten, geistig und politisch liberalen, deutschjüdisch assimilierten Haus auf. In einem Lebenslauf von 1937 schreibt er: „Ich bin nicht bewußt religiös erzogen worden. Meine Familie lebte so wie damals so viele deutsche Familien aus den Kreisen der Bildung nicht in der Kirche, ob dies die Kirche oder die Synagoge war, sondern in der Welt der Sittlichkeit, der Ideen und der Bildung."15 Ehrenberg studiert in Heidelberg Philosophie und Psychologie, promoviert 1909 bei Wilhelm Windelband mit einer Kantarbeit, wird nach seiner Habilitation - wiederum über Kant - 1910 Privatdozent für Philosophie in Heidelberg und hält dort unter anderem Vorlesungen „über das System der Geschichts- und Kulturphilosophie" sowie über den „Staatsbegriff Hegels".16 In die Phase des Philosophiestudiums fällt die Taufe Ehrenbergs zum evangelisch-lutherischen Christen im November 1909 in Berlin. Rosenzweig ist nicht ohne Einfluß auf diese Entscheidung gewesen. Wenige Tage nach der Taufe schreibt er an seine Eltern: „Wir sind in allen Dingen Christen, wir leben in einem christlichen Staat, gehen in christliche Schulen, lesen christliche Bücher, kurzum unsere ganze Kultur' ist ganz und gar auf christlicher Grundlage; deshalb gehört für den, der kein hemmendes Moment in sich hat, weiter nichts als der ganz leichte Entschluß ... dazu, um das Christentum anzunehmen. Das Judentum kann man im heutigen Deutschland nicht,annehmen', das muß einem
14 12,720. 15 H. Ehrenberg: Von Gott geführt. Ein Lebensrückblick. 1937. In: Franz Rosenzweig und Hans Ehrenberg. Hrsg. v. W. Licharz u. M. Keller. 209-220, hier 210. 16 Das Thema der Dissertation lautete: „Kants mathematische Grundsätze der reinen Naturwissenschaft'7, der spätere Buchtitel der Habilitationsschrift: „Kritik der Psychologie als Wissenschaft. Forschungen nach den systematischen Prinzipien der Erkenntnislehre Kants". Siehe dazu G. Brakeimann: Leben und Werk von Hans Ehrenberg - eine biographische Skizze bis 1932. In: Franz Rosenzweig und Hans Ehrenberg. Hrsg. v. W. Licharz u. M. Keller. 81-119, hier 85 f.
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anbeschnitten, angegessen, angebarmizwet sein. Das Christentum ist da unendlich im Vorteil: Es wäre völlig ausgeschlossen gewesen, daß Hans Jude geworden wäre, Christ dagegen kann er werden... ich habe ihm selbst heftig zugeraten und würde es wieder und wieder tun.“17 Christ werden ist also nach Rosenzweig für Ehrenberg „an der Zeit", und das eben in einem Hegelschen Sinn. Daß Rosenzweigs Bemerkung zu Ehrenbergs Taufe vom intensiven Hegelstudium beider in jenen Jahren nicht zu trennen ist, klingt bereits in seinen Worten an, wird aber auch noch auf andere Weise offenbar. Es findet nämhch seinen eigenen Ausdruck in Ehrenbergs Initiative für eine Konferenz von Doktoranden und angehenden Dozenten der Geschichte und der Philosophie, der sogenannten „Baden-Badener-Gesellschaft". Diese setzte sich in ihren Leitsätzen zum Ziel, „die zeitgenössische Kultur zum Gegenstand historischer Betrachtung zu machen."'18 Rosenzweig propagiert diesen Gedanken seinerseits. Für ihn ist Baden-Baden das für einen Historiker „gefahrvolle“ Unterfangen, „gründliche und feingliedrige Synthesen zu konstruieren“.19 Es „soll die, mindestens in der Anlage, in den Einzelnen, schon vorhandene zeit-geistige Gemeinsamkeit sich allmählich zu einer geistes-geschichtlichen Einheit verdichten, einer formalen' Einheit inhaltlich möglichst verschiedener Individuen." Vorausgesetzt dazu werde vom einzelnen, „daß er den Trieb hat, statt sich selbst als seinen Privatgott anzubeten [...], sich mehr oder weniger bewußt objektiv in seiner Zeit zu finden, in ihr das Größere, gewissermaßen den heut und hier sich offenbarenden Gott, zu verehren."20 Das Unternehmen „Baden-Baden“ scheitert bereits in seiner ersten Sitzung im Januar 1910. Und es ist Rosenzweig, der - laut Viktor von Weizsäcker - mit einer die Geschichte „vergewaltigenden“ hegelisch-
17 11,94 f. Zitiert nach 11,96. 19 11,99. 20 1 1,99 bzw. 11,101. Auf solche Worte könnte Wilhelm Windelbands Begründung der „Auferstehung Hegels" zutreffen, wenn er 1910 in seiner Akademierede über die „Erneuerung des Hegelianismus" feststellt: „Es ist der Hunger nach Weltanschauung, der unsere junge Generation ergriffen hat und bei Hegel Sättigung sucht." Und auf Ehrenberg insbesondere könnte hier gemünzt werden, daß Windelband darüber hinaus „bei den persönlichen und literarischen Formen des Neuhegelianismus vielfach den Einschlag des religiösen Motivs" beobachtet, „das in den Weltanschauungsbedürfnissen einer aufgeregten Zeit noch immer sich so lebhaft als wirksam erwiesen" habe. (W. Windelband: Präludien. Aufsätze zur Philosophie und ihrer Geschichte. Erster Band. Tübingen 91924. 277 f). 18
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dialektischen Konstruktion der vergangenen drei Jahrhunderte „als Thesis, Antithesis und Synthesis" die Teilnehmer spaltet.21 In einem Brief an Ehrenberg am Jahresende 1910 hält Rosenzweig den „Gewinn" fest, der für ihn „Baden-Baden" gewesen sei und der sich in jenem Verständnis von „Religion" und „Geschichte" in dem eingangs zitierten Brief niederschlägt. Ohne diese Erfahrung, so Rosenzweig, wäre er immer ein „naiver Idealist" geblieben. Und dann setzt er sich kritisch mit Ehrenberg auseinander: „Was ich dir zuallererst, als du Versucher mir das Trugbild der /Zeit' vorgaukeltest, erstaunt und ungläubig antwortete: Ein Verein der Unvereinbaren auf Grund eben dieser ihrer Unvereinbarkeit?? - das würdest du heut selber sagen; aber wie anders verstehen wir es nun als ich damals, seit wir es uns aussprechen können, daß diese Unvereinbarkeit bis in unsere intimsten Verhältnisse hineingeht ... Denn B.-B. war kein soziologischer Irrtum, sondern ein phänomenologischer; nicht in den vielen Ichen lag die Unmöglichkeit, sondern in dem unserm subjektiven Lebensideal zugrunde liegenden Gebot, unser Unvereinbares mit unserm Vereinbaren nicht zu vereinen. Dieses Bewußtsein ist für mich durch B.-B. gekräftigt,... für dich hat es sich in Schmerzen aus B.-B. gebildet."22 Heraus springt also für Rosenzweig aus „Baden-Baden" die Erkenntnis der „Positivität" der Religion ebenso wie der eigenen, eben deshalb „unvereinbaren" Existenz; und das muß ein neues Geschichtsverständnis nach sich ziehen, das dieser doppelten „Positivität" Rechnung trägt. Rosenzweig wird schließlich Gott von der Geschichte als einer im ganzen selbst göttlichen trennen und ihn zugleich - als „Tater" von „Schöpfung", „Offenbarung", „Erlösung" - zu ihr in ein neues Verhältnis der Freiheit setzen. Zur Kehre in den Glauben als Kehre in ein „neues Denken": Die gemeinsame Suche Rosenzweigs und Ehrenbergs nach einem in dieser „Positivität" begründeten „neuen Denken" verweist sie an den späten Schelling als ihren Ausgangspunkt. Auf ihre jeweils eigene Weise wollen sie weiterführen und vollenden, was Schellings positive Philosophie angeregt
21
Siehe dazu den Bericht von Weizsäckers. Zit. nach II. 96 f. Rosenzweig selbst blickt auf Baden-Baden später anders zurück, wenn er 1916 notiert: „Der Badener Vortrag war noch ein Kampf gegen ,1800'; ich spürte ,1800', wollte es aber nicht anerkennen - aus Historismus." (F. Rosenzweig: Paralipomena. III94) Siehe dazu auch den Brief an Friedrich Meinecke vom 30. 8.1920 (12,678-682), in dem Rosenzweig „Baden-Baden" in den Kontext seiner „Umkehr" von 1913 und den darin sich ereignenden Schritt vom „(durchaus habilitierbaren) Historiker zu einem (durchaus unhabilitierbaren) Philosophen" stellt. 22 11,116.
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hatte.23 Wie die Vettern sich an diese Aufgabe machen, das spiegelt sich im Verhältnis der zentralen Werke beider. In einem regen philosophisch-theologischen Gedankenaustausch treiben sie sich in ihrem Denken jeweils wechselseitig mit entscheidenden Anstößen voran. Rosenzweig wird dabei für Ehrenberg vor allem wichtig, wo es um den „zeitlichen" und „dialogischen" Charakter des „neuen Denkens" geht. Das ist besonders greifbar in Ehrenbergs Schrift aus den Jahren 19231925: Disputation. Drei Bücher vom Deutschen Idealismus.24 Sie atmet im ganzen den Geist des Stern der Erlösung und ist bezeichnenderweise dem Freund und seinem Hauptwerk gewidmet.25 Ehrenberg wird umgekehrt für Rosenzweig wichtig, wo es auf das „dialektische Verhältnis" des „neuen Denkens" zum „alten" ankommt, näherhin wo das neue sich als „metalogisches" - so der Begriff Ehrenbergs - durch eine Umkehrung hindurch aus dem alten bloß logischen herausarbeitet. Um die philosophische Erschließung des Anfangs Rosenzweigs mit der Offenbarung geht es hier bzw. um dessen philosophische Vergewisserung. Daß Rosenzweig hier Ehrenberg etwas ver-
23
Siehe hierzu W. Schmied-Kowarzik: Franz Rosenzweig. Bes. 27, 54-56, 62-67,102-104; H.-J. Görtz: Franz Rosenzweig und Hans Ehrenberg. 103-105. Und ders.: Tod und Erfahrung. Rosenzweigs „erfahrende Philosophie'' und Hegels „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins". Düsseldorf 1984. 352-379. Und weiter unten unter 4. Anm. 76. Die Freunde greifen insbesondere auch die geschichtstheologische Kategorie eines dritten nachpetrinischen und nachpaulinischen, nämlich johanneischen Zeitalters in der Form auf, die Schelling ihr in seiner „Philosophie der Offenbarung" gegeben hat. Die johanneische Zeit ist zugleich die Zeit des „Geistes", d. h. die Zeit, in der die Vernunft ganz gläubig und der Glaube ganz vernünftig werden, also die Zeit einer höheren Synthese aller Gegensätze. In diesem Sinne wäre nach Schelling Johannes „der Apostel der Zukunft, der letzten Zeit, wo das Christentum Gegenstand allgemeiner Erkenntniß" und damit zur „Religion des Menschengeschlechts" geworden ist, „das in ihm zugleich die höchste Wissenschaft besitzt." (Philosophie der Offenbarung. Zweiter Band [Nachdruck der Ausgabe 1858]. Darmstadt 1983.328.) 24 Fichte. Der Disputation Erstes Buch. München 1923. Schelling: Der Disputation Zweites Buch. München 1924. Hegel. Der Disputation Drittes Buch. München 1925. Ehrenberg präzisiert selbst die Titel noch einmal: „I. Fichte oder die Logik (Exposition) II. Schelling oder die Metaphysik (Konflikt) III. Hegel oder die Ethik (Katastrophe)''. (Disputation 16) Im Anhang gibt Ehrenberg an: „Das Forschungsmaterial stammt aus den Jahren 1910 bis 1913, eine Vorlesung über Fichte, Schelling, Hegel wurde im Winter 1912/13 gelesen." (Disputation III179). Diese Vorlesung hat Rosenzweig gehört, wie aus einem Brief vom 23.1.1917 an die Eltern (vgl. 11, 340) hervorgeht. Später hat Rosenzweig die „Disputation" zu den „prinzipiellen Darstellungen der neuen Wissenschaft" gezählt. (Siehe dazu III150 bzw. 12,1015) 23 Vgl. Disputation 15.
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dankt, bringt er dadurch zum Ausdruck, daß er dem Freund die Einleitung zum Ersten Teil des Stern widmet.26 Diese „Widmung" geht zurück auf Ehrenbergs Schrift aus dem Jahre 1911 mit dem Titel: Die Parteiung der Philosophie. Studien wider Hegel und die ^Kantianer.27 Aus ihr schöpft Rosenzweig den Begriff des „Metalogischen".28 Schon in der sogenannten Urzelle des Stern der Erlösung, einem Brief an Rudolf Ehrenberg vom 18.11. 1917, bezieht Rosenzweig sich auf Hans Ehrenbergs metalogische Rede von der „Wirklichkeit der Vernunft"29, und im Stern der Erlösung selbst ist das Zweite Buch des Ersten Teils ausdrücklich Metalogik betitelt.30 Ehrenberg unternimmt es in der Parteiung, den Gegensatz von Kantianismus und Hegelianismus in eine neue Synthese hinein zu überwinden und das „System von der Vorherrschaft der Logik" zu befreien.31 In der Disputation erzählt er zurückblikkend: „Es war ein Mensch, der ist wie ihr alle durch die philosophischen Richtungen hindurchgegangen, zuerst durch Kant und die Neukantianer, hernach durch die anderen Idealisten. Der Ehrgeiz seiner Jugend war, ein Hegel redivivus zu werden, und eine Zeitlang war er so vermessen, das nur für eine Frage der Zeit zu halten."32 Als ein solcher „Hegel redivivus" geht es Ehrenberg im „Schluß" der Parteiung gar um eine „Neuschöpfung des dialektischen Prinzips".33 Daß Rosenzweig dies im Vorgang des Stern der Erlösung auf seine Weise unternimmt, davon wird noch zu handeln sein. In seiner Entwicklung des „Metalogischen" sucht Ehrenberg einen Weg aus dem sich zur Totalität schließenden teleologischen „Panlogismus" Hegels hinaus, indem er zum „Prinzip" erhebt, „innerlogische Probleme sich über die Grenzen des Innerlogischen ausdehnen zu sehen."34 Rosenzweig bringt in der Urzelle das Anliegen Ehrenbergs auf den Punkt: „Nicht bloß ist die Vernunft der Grund der Wirklichkeit,
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Diese Widmung ist allerdings nicht der Einleitung vorangestellt, sondern findet sich versteckt im Brief vom 24. 6.1919 an Ehrenberg: „Im übrigen ists wie du sagst: ich hatte nur den ersten Teil für dich geschrieben (deshalb dir die Einleitung - ja auch ,gewidmet')"(12,634). 27 Leipzig 1911. 28 Siehe dazu H. Ehrenberg: Die Parteiung der Philosophie. IV bzw. Franz Rosenzweig II15. 29 Siehe III125-138, hier 127 und 130. 30 n 25. 31 Vgl. Die Parteiung der Philosophie, 123. 32 Disputation III137. 33 Vgl. Die Parteiung der Philosophie. 129-133. 34 Die Parteiung der Philosophie. 98. Zum „teleologischen Panlogismus" siehe 55-64.
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sondern es gibt auch eine Wirklichkeit der Vernunft selbst.//35 Michael Theunissen deutet diese Wendung: „Die Vernunft selbst entdeckt ihre Kontingenz', d. h. dies, daß sie, die Allsetzende, immer schon ohne ihr Zutun in das Setzen eingesetzt ist. Sie entdeckt so den ,Schein der Selbstbegründung'. Sie vermag sich selbst nicht zu begründen, weil ihre eigene Wirklichkeit, als ,Etwas an der Vernunft jenseits der Vernunft' sich ihr entzieht."36 Für Rosenzweig ist Ehrenbergs Parteiung „ein imponierendes Buch",37 er liest es mehrmals, einmal „unter fortwährendem Hurragebrüll"und bezeichnet sich als „Ehrenbergianer"38 Angesichts dessen ist die Feststellung nicht übertrieben, daß die Weise, in der Rosenzweig die Philosophie des Deutschen Idealismus rezipiert hat, und daß der Weg, auf dem er selbst sie zu überwinden trachtet, nicht unwesentlich vermittelt sind durch Ehrenberg. Gegenüber Emst Simon rühmt er Ehrenberg 1922 immerhin als seinen „eigentlichen Lehrer in Philosophie".39 Zur Nachgeschichte: Aufgrund der unterschiedlichen Wege Ehrenbergs und Rosenzweigs ins evangelisch-lutherische Christentum bzw. ins Judentum entwickelt sich ihr Verhältnis schließlich zu einem „Religionsgespräch" ganz eigener Art.40 In diesem Gespräch vom Frühjahr 1918 leistet Ehrenberg für Rosenzweig einen wichtigen „maieutischen" Dienst. Rosenzweig schreibt am 11. 5. 1918 an Ehrenberg: „Denn hier hast du endlich maieutisch bei mir gewirkt, und eine ganz entscheidende Formulierung bei mir ans Licht gebracht, ein Grundparadoxon, durch das sich wahrscheinlich alles Widersprechende in meinem Material ordnet... die klare Formulierung der beiden jüdischen Bewußtseins-Grundfakten (des noch nicht gekommenen Messias und des
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III 127. M. Theunissen: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin 1965.
249. 37 11,494. 38 11,499. 39 12, 809. Umgekehrt hatte Ehrenberg Rosenzweig zu Beginn des Krieges als seinen „philosophischen Testamentsvollstrecker^ eingesetzt. Siehe dazu G. Brakeimann: Leben und Werk von Hans Ehrenberg. 88. 40 Diese Entwicklung verUef durchaus kritische Phasen; so schreibt Rosenzweig noch im Dezember 1917 an Ehrenberg: „Lieber Hans, nächstgeliebter Hans, wir können darüber nicht sprechen. Jedenfalls nicht, solange du noch auf deine weüand standesamtlich beglaubigte jüdische Konfessionszugehörigkeit irgendein Bewußtsein näheren Bescheidwissens oder Betroffenwerdens oder auch nur Interessiertseins in jüdischen Fragen' begründest." Rosenzweig vergleicht Ehrenbergs Stellung zum Judentum mit der Hegels, „der übrigens wirklich politisch und philosophisch genau so, nämlich dort Überal und hier negativ zum Judentum stand wie du." (11,500 f)
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schon wirklichen Gottesreichs) und ihrer gemeinsamen und notwendigen Abhängigkeit von dem jüdischen Standpunkt der Verneinung des christlichen Zwischenreichs".41 Es geht in dieser Sache der christlichen Bejahung und der jüdischen Verneinung des „Zwischenreichs" um das einerseits gemeinsame, andererseits je eigene christliche und jüdische Verständnis des Verhältnisses Gottes und seines Reiches zur Geschichte, um die „Geschichtlichkeit" des Christentums und die „Übergeschichtlichkeit" des Judentums zueinander, wie Rosenzweig es im Dritten Teil des Stern der Erlösung wenige Monate später niederschreiben wird. Daß das „ eigentliche Dogma des Christentums' dies ist", so Rosenzweig an Ehrenberg, „Ich, der,Gesandte', bin der Weg, die Wahrheit und das Leben [Joh. 14,6] - das macht die Absolutheit des Christentums zu einer Absolutheit in der Zeit, aber zu einer Relativität gegenüber der Ewigkeit."42 Aufgrund dieser „Absolutheit in der Zeit" begreift Rosenzweig das Christentum im Stern als Religion des „ewigen Wegs", das auf diesem Weg die „Leiden der Weltbejahung" auf sich zu nehmen hat, während das Judentum die Religion des Ziels ist, des „ewigen Lebens", das deshalb die „Leiden der Weltvemeinung" zu tragen hat.43 Rosenzweig empfindet dabei diese Ansichten über die geschichtlichen Rollen von Judentum und Christentum nicht als „Religion [...], sondern als Philosophie". Und wie sehr er diese „Philosophie" der Auseinandersetzung mit Hegel verdankt, das klingt durch, wenn er gegenüber Ehrenberg festhält: „Für mich ist Gott allein Wirklichkeit, dem Zwischenreich gehöre ich nur durch den Zwang der Natur (= Geschichte) an, nicht mit Freiheit; Jesus gehört dem Zwischenreich an; ob er der Messias war, wird sich ausweisen, wenn der Messias kommt. Heut ist er mir so problematisch wie das ganze Zwischenreich. Gewiß ist mir nur Gott und sein Reich, nicht das Zwischenreich."44
« 11,561. 42 11,555. 43 Siehe hierzu den Brief an Rudolf Ehrenberg vom 1.11.1913.11,134 f. 44 11,543 f. Zum schon häufig angemerkten höchst problematischen, da eben auch hier von Hegel bestimmten Umgang Rosenzweigs mit dem Islam siehe bes. S. Pines: Der Islam im .Stem der Erlösung'. Eine Untersuchung zu Tendenzen und Quellen Franz Rosenzweigs. In: Hebräische Beiträge zur Wissenschaft des Judentums deutsch angezeigt. Jg. III-V (1987-89). 138-148.
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3. „Hegel und der Staat": Rosenzweigs „Durchgang durch Hegel" Indem Rosenzweig und Ehrenberg also schließlich ihre großen Werke der theoretischen Selbstvergewisserung ihres neuen nachhegelschen und durch die Offenbarung orientierten Standpunkts entwerfen,45 dokumentieren sie damit, daß ihr „Durchgang durch Hegel", wie Otto Pöggeler formuliert hat, „zu neuen Orthodoxien" führt,46 zu neuen Orthodoxien allerdings, die auch und gerade die Philosophie erneuern wollen. Diesen „Durchgang durch Hegel" unternimmt nun Rosenzweig gründlich und ausführlich in seinen Studien im Rahmen der Dissertation über die Hegelsche Staatsansicht, und dieser „Durchgang durch Hegel" schlägt sich sowohl der Sache nach wie auch bezügüch der Methode des eigenen Denkwegs - im Sinne der „Gangart" seines Denkens - in Rosenzweigs Werk nieder: der Sache nach in seinem Begriff von Geschichte im Stern der Erlösung, der Gangart des Denkens nach im eigenen, von ihm selbst als erzählende Philosophie begriffenen, geschichtlichen Denken. Rosenzweigs Begriff von Geschichte ist von seinem Begriff des Christentums nicht zu trennen. Das wird schon an der Unterscheidung der geschichtlichen Rollen von Judentum und Christentum deutlich. Im Juni 1918 schreibt Rosenzweig an Ehrenberg: „Der Sabbat soll jeden Werktag lehren, auszuharren bis zum Ende und gewiß zu sein, daß es kommt." Denn der Jude ist bereits beim Herrn der Zeit. Das begründet die Übergeschichtlichkeit und Weltlosigkeit des Judentums im Sinne Rosenzweigs. Die „Sonntagsfeier" demhingegen „soll jedem Werktag die Weihe und den Mut des Anfangens einflößen - das ist das ,Wesen des Christentums'." Diese Welt ist dem Christen eine „immer noch in den Kinderschuhen steckende Welt", solange noch nicht alle Menschen „auf Christus hin erzogen" sind. Darin ist das „sich festbeißende Wichtignehmen der Welt und Welterkenntnis" des Christen begründet. Gerade dieses „Wesen" läßt das Christentum für Rosenzweig immer wieder in die gefahrvolle Nähe des philosophischen Idealismus geraten, denn der Christ muß, wie es schließlich im Stern heißt, in der Geschichte „der Zeit Herr werden".47 Diese „Besitzergreifung der Zeit"
45
Rosenzweig seinen Stern der Erlösung, Ehrenberg Die Heimkehr des Ketzers - Eine Wegweisung (Würzburg 1920). Tragödie und Kreuz (2 Bde. Würzburg 1920) und eben die Disputation. Drei Bücher vom Deutschen Idealismus (München 1923-25). 46 Vgl. O. Pöggeler: Werk und Wirkung. In ders.: Hegel, 7-27, hier 25. 47 Vgl. II374.
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wird durch die Tatsache versinnbildlicht, daß das Christentum in der abendländischen Welt seinen eigenen Kalender durchgesetzt hat.48 Damit ist aber zugleich deutlich: Rosenzweigs Begriff von Geschichte ist deshalb nicht von seinem Begriff des Christentums zu trennen, weil für Rosenzweig „christliches Geschichtsbild" Hegels Begriff der „Weltgeschichte" Pate steht.49 Das bezeugt nun gerade sein Hegelbuch. Otto Pöggeler hat darauf hingewiesen, wie sehr die ideengeschichtliche Auffassung Hegels durch Friedrich Meinecke Rosenzweigs leitendes Interesse an der Geschichte prägt und wie sehr Rosenzweig die Impulse Hegels für die eigene Gegenwart habe fruchtbar machen wollen. Rosenzweig fasse Hegel als „den repräsentativen ,Weltphilosophen' seiner Zeit" auf, der „seinen Weg zur Bejahung des Staates" fand, wobei er in der Welt der europäischen Staaten die „Verwirklichung der neuen Freiheit des christlichen Glaubens" sah. Und wenn Rosenzweig Hegel in der Dissertation den Weg zum Nationalstaat und zum Kulturprotestantismus gehen lasse, dann deshalb, weil er selbst diesen Weg sucht. Deshalb lassen sich auch die Ereignisse des Jahres 1913 im Licht des Hegelbuchs lesen. Rosenzweig hatte im Sommer 1913 in Leipzig mit Eugen Rosenstock und Rudolf Ehrenberg Gespräche geführt, in deren Verlauf er erwägt, Christ zu werden. Pöggeler kann diese Absicht durchaus als eine Konsequenz des das Hegelbuch leitenden Interesses verstehen: „Da Rosenzweig seine eigene Zeit in Hegel und in Hegels Zeitgenossen begründet verstand, war es nur konsequent, daß er zum Christentum übertreten wollte. Gerade seinen christlichen Gesprächspartner (sowohl Eugen Rosenstock wie Rudolf und Hans Ehrenberg) aber hatten eine kritische Distanz zum Deutschen Idealismus und zum Kulturprotestantismus gewonnen" und brachten Rosenzweig auf einen anderen Weg.50 Er bleibt Jude, was für ihn nur heißen konnte, allererst Jude zu werden. Er
48
Vgl. S. Moses: System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs. München 1985.183. 49 Siehe hierzu bes. S. Moses: Hegel beim Wort genommen. Geschichtskritik bei Franz Rosenzweig. In: Zeitgewinn. Messianisches Denken nach Franz Rosenzweig. Hrsg. v. G. Fuchs u. H. H. Henrix. Frankfurt a. M. 1987. 67-89. O. Pöggeler: Between Enlightenment and Romanticism: Rosenzweig and Hegel. In: The philosophy of Franz Rosenzweig. Ed. by P. Mendes-Flohr. Hannover and London 1988. 107-123. Ders.: Rosenzweig und Hegel. In: Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929). Hrsg. v. W. Schmied-Kowarzik. Internationaler Kongreß - Kassel 1986. Band II: Das neue Denken und seine Dimensionen. Freiburg/ München 1988. 839-853. U. Hortian: Zeit und Geschichte bei Franz Rosenzweig und Walter Benjamin. In: Der Philosoph Franz Rosenzweig. Bd 2, 815-827. U. Bieberich: Wenn die Geschichtegöttlich wäre. Rosenzweigs Auseinandersetzung mit Hegel. St. Ottilien 1989. 50 Vgl. O. Pöggeler: Between Enlightenment and Romanticism. 112-115.
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spricht später von seiner „Entschleiermacherisierung//51 und auch vom „Zusammenbruch"52, der ihm 1913 geschehen sei. In einem Brief an Margrit-Rosenstock-Hüssy vom 15. 6.1920 begreift er den inneren Zusammenbruch in Korrespondenz zum äußeren Zusammenbruch der „humanistisch-protestantischen Kultur Deutschlands und des durch sie befruchteten Staatslebens"53 im Ersten Weltkrieg. Rosenzweig schreibt ihr: „Es ist das Besondere in uns, daß Gott in unserm Fall nicht nur durch unser Leben zu uns gesprochen hat; darüber hinaus hat er das Leben um uns einstürzen lassen wie die Kulissen einer Theaterdekoration, und auf der leeren Bühne hat er mit uns geredet."54 Was damit zusammengebrochen ist, ist der Glaube an die „Geschichte im Sinne des 19. sei.", d. h. an die Geschichte als Theodizee. „Der Leser hat ein Anrecht, schon auf der Schwelle zu erfahren", so schreibt Rosenzweig im Vorwort des Hegelbuchs im Mai 1920, „daß das Buch im Jahr 1919 nur noch abgeschlossen werden konnte; begonnen hätte ich es heute nimmermehr."55 Die Ereignisse der Jahre 19141918 selbst haben Hegels Geschichtsphilosophie für Rosenzweig entlarvt. Der „blutige Zusammenstoß der europäischen Staaten im Namen des Nationalitätenprinzips bzw. des diesem zugrundeliegenden Nationalmythos", so Stephane Moses, „bestätigt auf grauenvolle Weise Hegels Auffassung der Geschichte als Schauplatz des Kampfes der souveränen Staaten - d. h. verurteilt sie."56 Schon in Frankfurt 1799 bei den Arbeiten über die deutsche Verfassung bekommt nach Rosenzweig die Geschichte „für Hegel die sittliche, ja geradezu religiöse Bedeutung, die sie ihm zeitlebens behalten hat". Insofern „das Schicksal... zur Geschichte" wird, ist diese nun „das große Becken, in welchem der Mensch von aller Schuld reingewaschen wird,... der Strom, in den zu münden dem Einzelnen Pflicht und Seligkeit zugleich ist."57 Parallel dazu gilt Rosenzweig später - in den Ausführungen zur Enzyklopädie von 1817, zur Rechtsphilosophie und den geschichtsphilosophischen Vorlesungen- die „Weltgeschichte" als „Schicksal" der Staaten, eben als „Weltgericht": „Ohne Bild gesprochen: die Weltgeschichte' bedient sich zu ihren Urteilen der Staaten selber; ein Volk wird 5’ Vgl. m 93 (19.11.1916). 52 Vgl. 12,679 (30. 8.1920 an Friedrich Meinecke). 53 So der Bericht Friedrich Meineckes. In 12,635 f. 54 12,675. 55 Hegel und der Staat. XII. 56 S. Moses: Hegel beim Wort genommen. 68. 57 Hegel und der Staat. 197.
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von der Weltgeschichte gerichtet', indem es von einem anderen vernichtet oder verdrängt wird." Dieses „Weltgericht" ist dabei alles andere als ein „blindes Schicksal": Aufgrund der „ ,List der Vernunft'" enthüllt sich vielmehr „das, was scheinbar das bloße Gericht der Macht, ,vemunftlose Notwendigkeit eines blinden Schicksals' ist, als Entwicklung', als ,Auslegung und Verwirklichung des allgemeinen Geists'. Das Prinzip dieser Entwickelung' ist dann das Prinzip des ,Geistes' überhaupt: daß er immer mehr er selbst und immer reiner er selbst, daß er also immer geistiger und immer freier wird, - ein Prozeß, den Hegel mit dem Namen des Bewußtwerdens bezeichnen kann. Diesem Fortschritt des Selbstbewußtseins müssen sich nun die Volksgeschichten einfügen; ein Volk ist eine Stufe in diesem Prozeß". In dieser Dialektik kommen nun der Prozeß der „Weltgeschichte" und der der „Vernunft" als ein und derselbe zusammen, und so kann denn hier Hegel seinen Grundsatz aus der Vorrede einholen: „Nur weil die Weltgeschichte das Weltgericht ist, das nach den Gesetzen der Vernunft seine unwiderruflichen Sprüche fällt, nur deshalb ist das Wirkliche vernünftig."58 Diese Einsicht aber führt zur Rolle des Christentums zurück. Zunächst erreicht diese „Weltgeschichte" im christlichen Europa ihr Endstadium, jenes Stadium nämlich, in dem sich die Volker bewußt werden, in ihrem Dasein zum „ ,Gang Gottes in der Welt' "59 „erwählt" zu sein, und in dem sie dies auch als ihre Aufgabe ergreifen. Der moderne Nationalismus zeigt sich hier als nichts anderes denn als säkularisierte Form des Erwählungsgedanken, und diese Säkularisierung ist wiederum durch die christliche Universalisierung der jüdischen Kategorie der Erwählung vorbereitet. Den Nationalismus begreift Rosenzweig daher als „die vollendete Christianisierung des Volksbegriffs. Denn Nationalismus heißt, daß die Völker nicht bloß glauben, von Gott zu sein ..., sondern zu Gott zu gehen."60 Der metahistorische Charakter des Erwählungsgedankens wird hier in den Strom der geschichtlichen Immanenz versenkt und zuletzt in der europäischen Welt, die das Christentum regiert, zwar als Ende der Geschichte, aber eben doch als Ende in der Geschichte „verwirklicht".61 Begründet ist dies für Rosenzweig zuletzt darin, daß Hegel das „Christentum mit seinem Triebe, die Ver58 Hegel und der Staat. II176 f. 58 Vgl. Hegel und der Staat. II178. 80 11,281 (Brief an Eugen Rosenstock vom 7.11.1916). 81 Siehe hierzu S. Moses: Hegel beim Wort genommen. 86-88, und die Ausführungen Rosenzweigs zur „messianischen Politik" im Stern der Erlösung II364-371 und zur „christlichen Geschichte" II374-386.
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nunft zu verwirklichen", als „das Urphänomen des Zusammenstimmens von Wirklichkeit und Vernünftigkeit"62 begreift. Dem Christentum ist daher auch jene „Einsicht" zu verdanken, „daß das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist", d. h. eben „die wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte".63 Gerade damit aber ist, so Rosenzweig, „die scheinbar anerkannte reine Geschichtlichkeit der Geschichte... wieder zum bloßen Schein herabgesetzt".64
4. „Das neue Denken": „Erzählende Philosophie" und „messianische Erkenntnistheorie" Rosenzweigs Umkehr aus einer Philosophie Hegelscher Prägung und seine Heimkehr ins Judentum erschließen ihm ein neues Verständnis der Stellung des philosophierenden Menschen in der Philosophie und ein neues Verständnis der Wirklichkeit als Geschichte. Wie ein Philosophieren nach Hegel noch möglich ist, diese Frage bedrängt ihn; und daß ein neues Philosophieren nach Hegel die Geschichtlichkeit der Wirklichkeit in besonderer Weise zu verantworten hat, diese Aufgabe treibt ihn an. Orientiert werden diese neuen Verständnisse der Philosophie und der Wirklichkeit durch Rosenzweigs religiöse Erfahrung mit der „Tatsache" seines Judeseins und der jüdischen Offenbarung. Die „Tatsache" der Offenbarung ist für Rosenzweig ein „Ereignis" in dem Sinne, daß es „den Zusammenhang auf einen Augenblick' zu sprengen scheint und durch das er in Wahrheit erst hergestellt wird, erst geschlossen wird," jenes Ereignis also, das das „Rätsel" des Zusammenhangs der Lebensgeschichte des einzelnen zwischen Geburt und Tod „löst", jenes Ereignis zugleich, „durch das Weltgeschichte und Entwicklung erst möglich ist".65 Vor dem Forum der Vernunft erfährt Rosenzweig dieses Ereignis der Offenbarung als die unerschöpfliche Voraussetzung des Denkens und als dessen umkehrende Erfüllung und Bewahrheitung. 62
Hegel und der Staat. II182. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Sämtliche Werke. Bd 11. Hrsg, von H. Glöckner). Stuttgart 41961. 569. Siehe dazu aus theologischer Perspektive K. Kienzier: „Der kommende Gott". Vorsehung-Theodizee-Geschichtsphilosophie. In: Spuren der Erlösung. Religiöse Tiefendimensionen neuzeitlichen Denkens. Hrsg. v. A. Haider, K. Kienzier, J. Möller. Düsseldorf 1986.228-284, bes. 267-273. 64 Hegel und der Staat. II176. 65 F. Rosenzweig: Glauben und Wissen. In: III581-595, hier 587. 63
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4.1 Die „Neuschöpfung des dialektischen Prinzips" in der „erzählenden Philosophie" Rosenzweig stellt sich damit dem Anspruch des „dialektischen Prinzips", wie Hegel es in der Erfahrungsbewegung der Phänomenologie des Geistes durchgeführt hat. Die „idealistische Bibel der Philosophie" hieß dieses Buch unter den Vettern und Freunden.66 Rosenzweigs Faszination rührt dabei gerade vom Ringen Hegels um das Verhältnis von spekulativer Philosophie und Geschichte her. Mit Rosenzweigschen Worten: Hegel läßt in der Phänomenologie sehen, daß auch das Denken selbst als geschichtliche „Tatsache" erfahren werden kann. Ihm geht es ja in der Phänomenologie in seiner Weise, nämlich in der der „Reflexion" und der „Anstrengung des Begriffs", um die Rechtfertigung und Bewährung der „Tatsache", daß er Philosoph ist, daß er „denkt". Allerdings macht es das Eigentümliche dieser Rechtfertigung aus, daß in ihr die Erfahrung dieser „Tatsächlichkeit" des Denkers Hegel ins „absolute Wissen" als dessen geschichtliche „Erscheinung" aufgehoben wird. Was „Tatsache" heißt, wird so zuletzt wieder vom Denken selbst definiert. Demnach ginge dann Hegel in der Phänomenologie den Weg der Erfahrung des Bewußtseins als Weg vom tatsächlichen Ereignis seines Denkens, in dem es sich selbst geschichtlich widerfährt, zum reflexiven Vollzug des Denkens, in dem es sich in seine geschichtliche Tatsächlichkeit vertieft und deren Subjektivität „erfährt", und von dort wieder den Weg zurück zur „Tatsache" seines Denkens als Erscheinung des Geistes, der nun in ihm sein „Dasein", seine „Gegenwart" und sein „Werden" hat. „Weiter scheint das Denken nicht mehr gehen zu können," so Rosenzweig im Stern, „als daß es sich selber als innerste Tatsache, die ihm bekannt ist, nun als einen Teil des Systembaus, und natürlich als den abschließenden Teil, sichtbar hinstellt. "67 Deshalb unternimmt Rosenzweig von innen heraus auf seine ganz eigene Weise die „Neuschöpfung des dialektischen Prinzips"68: „nichts zu wissen, als was es erfahren hat", so proklamiert er, sei „das eigenartige Verhalten" seines „neuen Denkens". Deshalb spricht er auch von sei66
So erzählt H. Ehrenberg in Disputation. III154. 67 n 6. 68 Siehe hierzu vom Verf. neben Tod und Erfahrung: Der Tod als Krisis geschichtlicher Synthese, In: Zeitgewinn. Hrsg. v. G. Fuchs, H. H. Henrix. 91-126; bzw.: La refondation du /principe dialectique' chez Hegel et chez Rosenzweig. In: La pensee de Franz Rosenzweig. Hrsg. v. A. Münster. Paris 1994.95-122.
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nem „absoluten Empirismus"69 bzw. von seiner „erfahrenden Philosophie"70. Wenn Rosenzweig nichts weiß, als was er erfahren hat, so heißt das eben: Er weiß, daß er Jude ist, und das versteht er in den Notizen zu Lessings Nathan auf dem Hintergrund des Hiob-Schicksals Nathans als die „Gewalt einer Tatsache", die es für ihn „notwendig" macht, sich als Jude zu „erhalten" und mit der „Forderung der Zeit (im höchsten Sinn)" Hegels zu brechen.71 Rosenzweig weiß damit die „Tatsächlichkeit" der Unaufhebbarkeit und der „Unvereinbarkeit" seines Ich; er weiß, daß es sich als solches der Synthese eines „allgemeinen Menschentums" ebenso sperrt wie der Synthese der „Kultur" wie auch der „Zeit" als Erscheinung des „hier und heut sich offenbarenden Gottes".72 Er weiß, daß die Religion „positive Religion" ist, die als solche im Ereignis der Offenbarung Gottes gründet. Er weiß damit einen Gott, der nicht in der Geschichte „wird", so daß diese selbst göttlich und die „einzig wahrhafte Theodizee" wäre. Er weiß, daß die „Tatsache" die Geschichte als ein „fertiges Ganzes" sprengt. Und er weiß, daß es um die Tat geht, in der die „Tatsache" seines Judeseins gerechtfertigt und „bewährt" wird - und in der auch noch dies bewährt wird, daß zuletzt Gott ihn „wirklich" erlösen und rechtfertigen muß.73 In seiner so in der „Offenbarung" begründeten Weise der „Neuschöpfung des dialektischen Prinzips" durch das „neue Denken" bestimmt Rosenzweig Hegels Phänomenologie des Geistes neu als Phänomenologie des im neuen Sinnhorizont der Religion waltenden Geistes und bestimmt er Hegels Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins neu als Wissenschaft der Erfahrung des im Ereignis der Offenbarung bei seinem Namen gerufenen, in der,Angst des Todes' lebenden Menschen. Diese Erfahrung, die sich dem Ereignis der Offenbarung verdankt, ist als solche „gestiftete Erfahrung". Sie hat dann nicht wie die Hegels dialektisch-teleologische, sondern vielmehr eschatologisch-dialektische Struktur. Dialektik wird in ihrer Umkehrungsbewegung neu bestimmt als das Geschehen der Zeit selbst. - In den Worten von Levinas: ,,[D]ie Offenbarung ist hier gerade ein ganz anderes In-Beziehung-Treten als dasjenige, das einer Synthese entspricht oder das sich unter eine zwischen den Elementen verknüpfende Kategorie stellt. Die Verknüpfung würde nur Systeme be-
Vgl. III 161. 70 Vgl. III144. 71 Vgl. III452. 72 Vgl. II, 101. 73 Vgl. 11,111-113,144.12,890. 69
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gründen, während die Offenbarung Leben, Sprache und Zeitlichkeit ist."74 - Und Teleologie wird in der Umkehrungsbewegung der Rosenzweigschen Erfahrung neu bestimmt als das Geschehen der die Geschichte vollendenden, unabsehbar zukünftigen und doch auf uns zukommenden Erlösungstat Gottes selbst. Die solchermaßen eschatologisch-dialektisch strukturierte Erfahrung zeichnet dann aber nach Rosenzweig aus, daß sie die Erfahrung des neuen „wahren Zusammenhangs" der Geschichte von Gott und Mensch und Welt ist, eines Zusammenhangs, der nun gerade im Vorgang des „neuen", „erfahrenden" Denkens in Wort und Tat „verwirklicht" wird. Wenn dieser „Vorgang" Rosenzweigs auch solchermaßen in der Auseinandersetzung mit der hegelschen Dialektik seine eigene „Gangart" erhält, seinen eigenen „spekulativen Gestus"75, so bringt er ihn gleichwohl auf einen Begriff Schellings. Rosenzweig nimmt jenes Stichwort einer „erzählenden Philosophie" auf, deren Programm Schelling in den „Weltaltern" proklamiert hatte. Ernster aber als Schelling macht Rosenzweig mit der Sprachlogik solch neuen erzählenden Philosophierens.76 Seine „erzählende Philosophie" trägt der durch das Ereignis gestifteten, neuen Situation des Denkens Rechnung: „Das Denken kommt [jetzt] hernach. Hernach freilich muß es kommen"77 und den neuen Zusammenhang vom Ereignis her knüpfen, d. h. eben „erzählen".
74
E. Levinas: Vorwort. In: S. Moses: System und Offenbarung. 9-18, hier 16. Von „neuen spekulativen Gesten" in „Franz Rosenzweigs geistigem Vorgehen" spricht E. Levinas, in: Vorwort, 15. 76 Siehe dazu bes. A. Zok: Vom reinen Denken zur Sprachvernunft. Über die Grundmotive der Offenbarungsphilosophie Franz Rosenzweigs (Münchener philosophische Studien. Neue Folge Band 1). Stuttgart 1987. Verf.: Tod und Erfahrung. 352-379 bzw. Franz Rosenzweigs neues Denken. Eine Einführung aus der Perspektive christlicher Theologie (Bonner dogmatische Studien Bd 12). Würzburg 1992, bes. 49-118. Was das Verhältnis von HegelRezeption und Schelling-Rezeption bei Rosenzweig angeht, so scheint mir immer noch Otto Pöggelers Feststellung zu gelten: „Rosenzweig selbst ist ohne Zweifel davon ausgegangen, daß sein Bezug zur erzählenden' Philosophie Schellings die hegelsche Dialektik überwunden habe. Doch war dieser Ausblick auf eine erzählende Philosophie, von Schellings Weltaltern her gewonnen, wirklich aus Schelling selbst erhoben und nicht eher in Schellings Ansätze hineingetragen? Kennt Schellings positive Philosophie außer der Freiheit Gottes noch Positives in der konkreten Geschichte oder wird nicht diese Geschichte von der Potenzenlehre aus streng konstruiert und philosophisch auf ihre Wahrheit hin gestellt? ... Fragt man nach der konkreten Geste der Arbeiten von Rosenzweig ... dann scheint diese Geste doch eher der Denkweise nahezustehen, wie wir sie in Hegels Phänomenologie des Geistes finden ... Es kann aber kein Zweifel sein, daß diese Denkweise bei Rosenzweig aus der spekulativen Dialektik herausgelöst und zur Kontingenz und Geschichte hingeführt wird." (Rosenzweig und Hegel. 852 f). 77 12,1197. 75
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Eine „erzählende Philosophie" ist deshalb für Rosenzweig zum einen die neue Form des Philosophierens, insofern sie der Tatsächlichkeit des Philosophen selbst Rechnung trägt. So schreibt Rosenzweig in einem Brief an Rudolf Ehrenberg vom Mai 1917: „Wenn er [d. i. Schelling] in den ... Weltaltem sagt, die künftige Philosophie werde erzählend' sein, so stimmt das auch subjektiv (nicht bloß objektiv wie er es da meint): sie ruht imbedenklich auf der autobiographischen Konfession."78 In diesem Sinne ist die „erzählende Philosophie" für Rosenzweig das nach Hegel noch einzig mögliche „Philosophieren in der Form unserer Menschlichkeit".79 Rosenzweig entläßt aber die „autobiographische Konfession" durchaus nicht aus ihrer philosophischen „Objektivitätspflicht". „Daß die Philosophie", so schreibt er in einem Brief von 1920, „wenn sie wahr sein soll, vom wirklichen Standpunkt des Philosophierenden aus erphilosophiert sein muß, meine ich ja wirklich. Es gibt da keine andere Möglichkeit, objektiv zu sein, als daß man ehrlich von seiner Subjektivität ausgeht. Die Objektivitätspflicht verlangt nur, daß man wirklich den ganzen Horizont besieht, nicht aber daß man von einem andern Standpunkt aus sieht als auf dem man steht, oder gar von ,gar keinem Standpunkt'."80 Den „ganzen Horizont besehen" heißt für Rosenzweig zum einen die einzelne und eigene Geschichte des Erzählers erzählen und darin noch einmal insbesondere das Ereignis jener Tatsache, das den Erzähler zu seinem Zeugen macht und den Zusammenhang der Geschichte des Erzählers zwischen Geburt und Tod allererst stiftet. Den „ganzen Horizont besehen" heißt andererseits die eigene und einzelne Geschichte so erzählen, daß zugleich deren Zeit in der ganzen Geschichte und damit Wirklichkeit überhaupt erst als Geschichte erzählt werden. Der Erzähler erzählt so in dieser Doppelwertigkeit seiner Erzählung eine Geschichte, die Geschichte der Tatsache Gottes, die er selbst in seiner angesichts des Todes erfahrenen Tatsächlichkeit ist, und die Geschichte, die ganze Wirklichkeit als jene Geschichte des „Welttags des Herrn" und ihrer Tatsachen von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung, die Gottes Offenbarung stiftet.81 So erzählt denn Rosenzweig im „Herzbuch" des Stern, dem „Buch der Offenbarung", das „Wunder" der Offenbarung nach. Er gibt dieses Ereignis der „gegenwärtigen Offenbarung" und ihrer gläubigen Erfah78 11,410. 79 Vgl. II, 318. 80 12,1154. 81 Vgl. n 95-99.
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rung als „unmittelbare Wechselrede" des liebenden Gottes mit der geliebten menschlichen Seele wieder. „Gestiftet" werden dieses Gespräch und diese Erfahrung durch den göttlichen Anruf des Menschen wie des Volkes bei ihren Namen. Es ist dieser Anruf beim Namen, in dem das „stumme Selbst" zum Ich der „Seele" und das „Volk" zum Wir der „Gemeinde" „erwachen", und es ist dieser Anruf durch einen anderen, der jene „(Geistes)Gegenwart" stiftet und jene Mitte einräumt, von der aus der ganze Horizont besehen werden und der Erzähler seine und die ganze Geschichte erzählen kann.82 Auf diese Weise entledigt sich Rosenzweig im Stern seiner Objektivitätspflicht eben durch „autobiographische Konfession": Er erzählt, um seine eigene Geschichte zu erzählen, das „große Weltgedicht"83 von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung. Diese Geschichte des „Welttags des Herrn" ereignet den Sinnzusammenhang der Wirklichkeit als Geschichte. Von entscheidender Bedeutung für unsere Fragestellung ist Rosenzweigs Unterscheidung des „Welttags des Herrn" vom „Gottestag der Ewigkeit". Diese Unterscheidung ist zum einen entscheidend für den eschatologischen Charakter der Dialektik der erzählenden Philosophie und zum anderen für das praktische Moment im Verhältnis von Religion und Geschichte. Rosenzweig will mit dieser Unterscheidung der Tatsache Rechnung tragen, daß der Welt und dem Menschen Schöpfung, Offenbarung und Erlösung nicht das gleiche bedeuten, was es Gott bedeutet. Erst „in seinem letzten Augenblick", in der Erlösung, offenbart sich der Welttag „als das, was er in seinem ersten war: als Gottestag, als Tag des Herrn".84 Es sind Gottes Tatsachen, die die Bahn des Welttags bestimmen, die ihm aber doch auch „eigne Erlebnisse" sind, nämlich das Schöpfer-, Offenbarer- und Erlöserwerden.85 Was der ewige Gott als Schöpfer, Offenbarer, Erlöser „ist", der Sinn dieses Seins, steht als das endzeitliche Ereignis des ewigen Gottes aus. Gott „wird" daher nicht unmittelbar „in" der Geschichte, wo sie Geschichte seiner Tatsachen und nicht seines Wesens (Schelling) ist, sondern die Geschichte „wird" durch ihn, und nur in diesem eschatologisch vermittelten Sinne „wird" auch Gott in seinem „Welttag". Hier löst Rosenzweig ein, was er 1910 Hans Ehrenberg schreibt: ,,[W]ir leugnen Gott in ... [der Geschichte],
82 Vgl. F. Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand. Königstein/Ts 21984.87 f. 83
miso.
84 II265. ss Vgl. II287.
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um ihn in den Prozeß, durch den sie wird, zu restaurieren. Wir sehen Gott in jedem ethischen Geschehen, aber nicht in dem fertigen Ganzen, in der Geschichte. ... Gott [muß] den Menschen erlösen nicht durch die Geschichte, sondern wirklich - es bleibt nichts andres übrig als - ,Gott in der Religion'."86 Es ist Gottes Tat der Erlösung, die den „Welttag" als seinen eigenen Tag offenbart und vollendet. Erst der erlösten Menschheit ist die Vergangenheit erzählbar, weil dann Gott selbst sie als seine Geschichte „erzählt".
4. 2 Wahrheit und Geschichte in der „messianischen Erkenntnistheorie" Diese „erzählende Philosophie" Rosenzweigs entwickelt deshalb zugleich eine „messianische Erkenntnistheorie".87 Der Ansatz bei der Positivität der Religion schlägt sich im „eschatologischen" Charakter des Seins und der Wahrheit nieder. Im Geschehen von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung „wird" für Rosenzweig noch erst das, was - nicht nur - wirklich, sondern auch wahr - „ist". Wahrheit hört auf „zu sein, was wahr ,ist', und wird das, was als wahr - bewährt werden will". „Der Begriff der Bewährung der Wahrheit wird zum Grundbegriff dieser neuen Erkenntnistheorie" 88 In der „Bewährung" wird die Wahrheit selbst zur Tatsache und als solche allererst „verwirklicht". Die Erneuerung des Denkens, die Rosenzweig unternimmt, betrifft so zuletzt gerade das Verständnis von Wahrheit und kehrt dieses um. Daß das „alte Denken" „mit einem Schlag tausend Verbindungen schlagen" will, daß ihm „das Letzte, das Ziel... das Erste" ist, läßt für Rosenzweig sehen: Es ist „zeitlos, will es sein", und es bedarf keines anderen, wie es eben umgekehrt auch selbst „für niemanden" denkt, wobei man, „wenn einem das lieblicher klingt, auch alle, die berühmte Allgemeinheit', setzen kann."89 Und solcherart ist denn auch seine Wahrheit. Wenn für Hegel gilt: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein",90 so ist 86
11,112. Im Aufsatz Atheistische Theologie von 1914 (III 687-697) spricht Rosenzweig von „Gott, dem durch seine geschichtliche Tat die Geschichtlichkeit der Geschichte untertan wird". (III 697). 87 Vgl. III158-160; siehe dazu vom Verf.: Franz Rosenzweigs neues Denken, bes. 119-130. 88 III158. 89 Vgl. III151 f. 90 G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. (Sämtliche Werke. Bd 2. Hrsg, von H. Glöckner). Stuttgart4!964.14.
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in diesem Wahrheits-„begriff// die Zeit getilgt, verlautet kein Wort und hat sich das Denken alles andere als das andere seiner selbst angeeignet. Hegels eindimensionales System- und Totalitätsdenken ist daher für Rosenzweig der Gipfel dessen, was mit Thaies Satz „Alles ist Wasser" seinen Anfang nahm.91 Die Grundentscheidungen des „neuen Denkens" Rosenzweigs bestimmen nun auch dessen Erkenntnistheorie und seine Rede von der Wahrheit: daß dieses Sprachdenken „die Zeit ernst nimmt" und „des anderen bedarf", daß es daher nicht nach dem zuletzt einen und selben „Wesen" hinter der begegneten Vielheit der Wirklichkeit oder auf deren Grund fragt, sondern daß ihm das Und von Gott und Mensch und Welt zum „Grundwort aller Erfahrungen" wird, und daß es die „Brückenschläge" zwischen diesen „Tatsächlichkeiten", nämlich Schöpfung und Offenbarung und Erlösung, als „Tatsachen" des Handelns Gottes und des Menschen erfährt.92 Daher ist das Wahrheitsverständnis am Ende des Stern aufgeladen mit den Erfahrungen seines Vorgangs: „Hineingetan ist in den Stern der Erlösung zu Beginn die Erfahrung der Tatsächlichkeit [Gott, Mensch, Welt] vor allen Tatsachen der wirklichen Erfahrung [Schöpfung, Offenbarung, Erlösung]. Der Tatsächlichkeit, die dem Denken statt seines Lieblingsworts Eigentlich das seiner Zunge ungewohnte Grundwort aller Erfahrung, das Wörtchen Und, aufzwingt. Gott und die Welt und der Mensch".93 Hineingetan ist also in das Erkennen, das im Stern geschieht, was Rosenzweig auch die „Trennung ihres Seins" nennt, 94 die Differenz der unvereinbaren, da unreduzierbaren Tatsächlichkeiten Gott, Welt, Mensch, die in der Angst des Todes aufbricht und sich jeder Synthesis zu einem Ganzen sperrt. Hier wird von der Wahrheit selbst erfahren, daß sie eine Tatsächlichkeit ist. Wenn vom Tod „alles Erkennen des All" anfängt, dann wird das Denken entmächtigt, Grund und Prinzip der Einheit des All und seiner selbst und damit der Wahrheit zu sein; Wahrheit wird „größer" als die „Wahrheit der Philosophen". Das Denken selbst wird zum kontingenten bedürftigen Denken, das der Tatsächlichkeit der Wahrheit in einem vortheologischen Sinn „glauben" muß.95 Dieser Sinn wird in seinen theologisch exakten umgekehrt und also
91 92 93 94 95
vgl. n 16. Siehe hierzu III142-152. m 158. vgi. m 150. Siehe dazu II430.
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verwirklicht,96 wo in der Offenbarung „alles Erkennen des All" vom Ereignis der liebenden Zuwendung Gottes her anfängt. Hineingetan sind in den Stern in seiner Mitte die „Tatsachen der wirklichen Erfahrung", Schöpfung und Offenbarung und Erlösung. Dadurch wird die Wahrheit selbst zur Tatsache, zur geschichtlichen Wahrheit des „Welttags des Herrn" und der Lebensgeschichte des einzelnen. Das gilt in einem dreifachen Sinne: Die Wahrheit wird zunächst auf neue Weise in ihrer Tatsächlichkeit glaub- und vertrauenswürdig, wo der Mensch seine Kontingenz und Sterblichkeit als Geschöpflichkeit seinem Schöpfer verdankt; dadurch wird sie in einem ersten Sinn zur Tatsache und Wirklichkeit des Menschen selbst.97 Das geschieht in einem zweiten Sinn, wo dem Menschen das Gerufensein bei seinem Namen, wo dieses Ereignis der Offenbarung im engeren Sinne, zur Mitte seines Lebens wird. Von ihm her ist das Ich Ich, weil es das Rätsel des Zusammenhangs des Lebens zwischen Geburt und Tod löst, indem es diesen Zusammenhang „in Wahrheit erst stiftet".98 Die Wirklichkeit des Menschen und „die" Wahrheit sind nun nicht mehr voneinander zu trennen. Deshalb kann Rosenzweig von der „Gewalt der Tatsache" seines Judeseins sprechen: Sein Judesein ist die wirkliche Wahrheit bzw. wahre Wirklichkeit, auf die er „leben und sterben" kann. Die „Bewährung geschieht im Allereigensten",99 „nicht das Gesagte ist wahr, sondern der Sagende ist wahrhaft".100 Die Wahrheit wird schließlich zur Tatsache in einem dritten Sinn, nämlich zu jener Tatsache der Liebestat, mit der der in der Angst des Todes lebende und bei seinem Namen gerufene Mensch aus seiner Freiheit „die" Wahrheit tut, die „seine" Wahrheit ist und die Wahrheit der „Welt". Jede Tat, so Rosenzweig, „kann an ihrer Stirne das Kainszeichen der Anfängerschaft tragen, der Gewolltheit, der verstimmenden Absicht, und über jeder kann der Glanz der Erfülltheit, des Endes, der Reife liegen. Jede Tat kann Anfang vom Ende sein. In jeder kann es dem Menschen geschenkt werden, daß er bewähren kann, sich herauszuheben aus den Verflochtenheiten von Absichtlichkeit und Erzwungenheit, wo die Tat noch Anfang sein will - ob er gelernt hat, im Leben vom Leben frei zu sein, in jeder Tat kann er es bewähren, ob ihn das Leben gelehrt hat -, zu sterben." Es ist diese Liebestat, die den Tod
96 Vgl. 12,715 und III148, III582. 97 Vgl. II436 f. 98 Vgl. III586 f. 99 II438. 100 m 103.
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media in vita anerkennt und die ihn deshalb überwindet, und es ist also diese Liebestat, die die Welt erlöst, weil in ihr das Reich Gottes kommt. Um diese Tat, die die wahrhaft freie Tat ist, muß gebetet werden.101 Auf diese dreifache Weise wird „die" Wahrheit verwirklicht und zu „unserer" vielfältigen Wahrheit. Da das Und „das Erste der Erfahrung" war, so Rosenzweig, „muß es auch im Letzten der Wahrheit wiederkehren. Noch in der Wahrheit selber, der letzten, die nur eine sein kann, muß ein Und stecken; sie muß anders als die Wahrheit der Philosophen, die nur sich selber kennen darf, Wahrheit für jemanden sein. Soll sie dann gleichwohl die eine sein, so kann sie es nur für den Einen sein. Und damit wird es zur Notwendigkeit, daß unsre Wahrheit vielfältig wird und daß ^ie' Wahrheit sich in unsre Wahrheit wandelt."102 „Eine" kann die Wahrheit nur als transzendente, nämlich als Wahrheit für den Einen sein. „Was" dieser Eine ist, insofern er er selbst und die Wahrheit ist, das „verbirgt sich gerade", so Rosenzweig, „indem es sich offenbart"; das Ereignis dieses Wesens begibt sich nicht im „Welttag des Herrn", sondern in der anderen Zeitlichkeit des „Gottestags der Ewigkeit". „Die" Wahrheit als „eine" ist daher für Rosenzweig die „letzte" - mit dem ganzen eschatologischen Klang des Wortes. Gott selbst gibt der Wahrheit „ihre wahre Gestalt". Er ist die Wahrheit. Und wenn es zum Unterscheidenden der Wahrheit gehört, daß sie Wahrheit für jemanden „ist", so müssen wir alle die letzte Wahrheit jeweils als Wahrheit für uns bzw. für mich erkennen können, ohne daß uns dies länger voneinander trennt. Denn wo Gott die Wahrheit ist und der Wahrheit ihre Einheit gibt, da eint er schließlich die Menschen untereinander und mit der Welt. Daß aber dem so ist, das gilt es schon jetzt zu bewähren. Heraus kommt damit bei Rosenzweigs Erkenntnistheorie etwas konkret Einforderndes: die Erwartung der kommenden Wahrheit im Leben ihres Noch-nicht-Gekommenseins. Die messianische Erkenntnistheorie wertet die Wahrheiten „nach dem Preis ihrer Bewährung und dem Band, das sie unter den Menschen stiften".103 Auch in seiner „messianischen Erkenntnistheorie" spricht Rosenzweig wieder von Judentum und Christentum als den beiden „letzten Einsätzen" um die Wahrheit und daher von ihnen als den „Endtatsachen".104 Und auch hier ist dies wieder eher als „Philosophie" denn als 101 Vgl. III588-593. 102 151.
ms 104
m m 159. Vgl. m 159.
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Heinz-Jürgen Görtz
„Religion" zu nehmen, das aber nun eben im Sinne des „neuen Denkens" und seiner eschatologischen Orientierung. Rosenzweigs geschichtsphilosophische Konzeption vom „Welttag des Herrn" und vom „Gottestag der Ewigkeit" läßt sich von daher als „bestimmte Negation" der „Weltgeschichte" Hegels lesen. In ihr wird der geschichtliche Zusammenhang unserer Welt mit dem „Reich Gottes" zum unabschließbaren Freiheitsgeschehen, in dem um die Wahrheit gerungen wird. Das Ringen um „die Wahrheit", so Rosenzweig, geschieht im „Bewähren" „unserer Wahrheit". Solches Bewähren „stiftet" und „verheißt" in Gebet und Liebestat das „Kommen des Reichs"105 und zuletzt das „Wunder" der Erlösungstat Gottes selbst. Die „gestiftete Erfahrung" wird so in ihrem eigenen Vorgang „bewährende Erfahrung". Sie wird selbst „praktisch". Und im selben Maß wird denn in der messianischen Erkenntnistheorie „Wahrheit" zur „utopischen Wahrheit" im spezifischen Sinn Rosenzweigs. Es geht in dieser Wahrheit nicht um die „verneinende", sondern die „verwirklichende, sich selbst verwirklichende Utopie. Die Utopie, die da weiß, daß ihr Nirgendwo nicht Irgendwo liegt, sondern- hier." Auf sich als Juden bezogen heißt das für Rosenzweig: „Nicht daß die Juden auf den Messias hoffen, sondern daß sie auf ihn harren (d. h. ein Leben der Hoffnung führen), das macht ihren ,Messianismus' zu mehr als einem Ismus, das macht ihn zu einem Glauben, einem Leben."106 Hegel, so zeigt sich, war für Rosenzweig insgesamt in der Tat „eine Quelle ... und nicht nur ein System, das es zu zerstören galt." Denn gerade auch für Rosenzweigs „neues Denken" gilt die Feststellung von Emmanuel Levinas: „Die neue Philosophie ist... bestrebt, die Religion -Schöpfung, Offenbarung und Erlösung, die deren Geistigkeit als Orientierungspunkte dienen - als den ursprünglichen Horizont jedes Sinnes, einschließlich der Welt- und Geschichtserfahrung zu denken. Dennoch verdient diese Philosophie wohl ihren Namen, soweit sie zu diesem religiösen Knoten, der einen ursprünglichen Sinnhorizont erschließt, aufgrund einer stringenten Reflexion über die Krise des Weltverständnisses, also der Totalität und des Hegelschen Systems gelangt."1^
105 Siehe dazu n 295-330.
io« m 589. Vorwort. 10 bzw. 14.
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THOMAS GIL (ST. GALLEN/BRUSSEL)
HANS FREYERS REKONSTRUKTION DER WELTGESCHICHTE EUROPAS Erst heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, vermag man aufgrund einer Reihe globalisierender politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Entwicklungen, die die kanonischen Themenstellungen und Grenzziehungen der etablierten Sozial- und Kulturwissenschaften radikal in Frage stellen, Weltgeschichte zu erfahren. Allerdings handelt es sich hierbei um eine trivialisierte Weltgeschichte, die mit der „Weltgeschichte" der klassischen Geschichtsphilosophen des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts nur den Namen gemeinsam hat. Diese war nämlich nicht unmittelbar erfahrbar. Sie war vielmehr das komplexe Resultat subtiler Begriffskonstruktionen, d. h. nur vermittelt im Medium des Begriffs zu erkennen und oft in kontraintuitiver, spekulativer und höchst artifiziell-gekonnter Weise erfaßbar. Nur denjenigen, die sich mit den „Augen der Vernunft" die geschichtlichen Ereignisse und Zusammenhänge anschauten, war sie zugänglich. Den anderen, den meisten, blieb sie verborgen. Diese vermochten im jeweiligen Geschehen allein subjektive Interessen, Machenschaften, Machtspiele, Schlachten, Eroberungen, Enteignungen, Abhängigkeiten und Willkürakte zu sehen. Auf diese fixierten sie sich. Sie weigerten sich auch in ihnen irgend etwas Vernünftiges zu entdecken. Von den Begriffsphilosophen wurden sie daher kritisiert. Deren kleinliche, unmittelbare Sicht wurde als die Sicht des „Kammerdieners" relativiert, der seinem Herrn die Stiefel an- und ausziehe und genau wisse, was dieser zu essen und zu trinken pflege. Die deutschen Idealisten, insbesondere Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, verkörpern den spekulativen geschichtsphilosophischen Reflexionstypus, der mittels Begriffskonstruktionen den vernünftigen Wesenskem der Universalgeschichte zur Darstellung bringt. Die „Weltgeschichte", um die es bei ihnen ging, war eine vergeistigte Weltgeschichte, bemühten sie sich doch um die konzeptuelle Erfassung der geistigen Dimension dessen, was der Fall gewesen war. In der heutigen, im Zuge der Globalisierung der Wirtschaftsprozesse,
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Thomas Gil
der Entstehung der Weltgesellschaft, der selbstverständlichen Präsenz des Anderen, Differenten im Gleichen, aber auch der gewaltigen Homogenisierung von Lebensformen und -Stilen zustande gekommenen unmittelbar erfahrbaren Weltgeschichte scheint hingegen jene geistige Dimension abhanden gekommen zu sein, um die die klassischen geschichtsphilosophischen Entwürfe kreisten. Es gibt sehr wahrscheinlich keinen zweiten Autor, in dessen Werk die Spannungen, die Ambivalenzen und die Widersprüche, die in den klassischen geschichtsphilosophischen Entwürfen selbst, aber auch in den Reaktionen auf sie enthalten sind, so gut wie im Werk Hans Freyers zum Ausdruck kommen. Skeptisch gegenüber allen „idealwissenschaftlichen'' Konstruktionen, fasziniert dennoch vom sie tragenden theoretischen und geistigen Mut, unzufrieden mit der trivialisierten Weltgeschichte der entwickelten Industriegesellschaften und auf die „das Substantielle" zur Erscheinung bringende Vernunftperspektive immer wieder setzend, erarbeitet Hans Freyer eine realistische, „wirklichkeitswissenschaftliche" Rekonstruktion der „Weltgeschichte" Europas, die trotz aller kritischen Distanzierung von den idealistischen klassisch-geschichtsphilosophischen Konstruktionen Fichtes und Hegels Vieles mit ihnen gemeinsam hat. Im folgenden beabsichtige ich die Freyersche Rekonstruktion der Weltgeschichte Europas als eine geschichtsphilosophische Begriffskonstruktion darzustellen, für die es heute vielleicht wieder gute pragmatische Gründe geben mag, die aber die gleichen „idealwissenschaftlichen" Prämissen teilt, welche Freyer selbst im Falle Hegels so kritisch beurteilt hat. Diese Freyersche Konzeption einer Weltgeschichte Europas wird Thema des dritten Abschnitts sein, nachdem in den zwei ersten Abschnitten die Freyersche epistemologisch motivierte Kritik der Hegelschen Geschichtsphilosophie sowie Hans Freyers Idee einer „Wirklichkeitswissenschaft" erörtert worden sind.
1. Hans Freyers Kritik der Hegelschen Geschichtsphilosophie Wo die ewig seiende Idee und das unwandelbare Wesentlich-Substantielle zum Thema der philosophischen Reflexion erklärt werden, wird alles, was geschichtlich ist, für die Philosophie irrelevant. Geschichtliches ist dann Thema für Chronisten und Historiographen, die sich mit dem Kontingenten und Unwesentlichen beschäftigen und dieses in mehr oder weniger wohlgestalteten Geschichten („historia rerum gesta-
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rum") präsentieren. Sie ist kein Thema für die um das Allgemeine bemühten Philosophierenden. Erst wenn die Idee und das WesentlichSubstantielle als Geschichtliches aufgefaßt wird, das heißt als sich in der Zeit Entwickelndes, für das die Entstehungsbedingungen und der Selbstwerdungs- bzw. der Selbstbildungsprozeß wesenskonstitutiv sind, muß die um die Idee und das Wesentliche bemühte Philosophie Theorie von Geschichtlichem werden. Geschichte ist ihr, der Wissenschaft des Allgemeinen, dann nicht mehr fremd. Sie wird vielmehr ihr Thema, denn das, was sie begrifflich zu erfassen hat, ist geschichtlich. Allerdings nicht alles, was geschichtlich ist, kann für sie relevant sein, sondern nur jenes Geschichtliche, in dem und durch das Substantielles wird. Philosophie gestaltet sich dann als die Theorie der Geschichte der Idee und des Wesentlich-Substantiellen, als die begriffene Geschichte der Idee und des Wesentlich-Substantiellen. In der Geschichte findet die Philosophie ihren Gegenstand als ein Werdendes und Sich-Bildendes, nicht in jeder Geschichte, sondern in der Entwicklungs- und Bildungsgeschichte des Ideellen-Geistigen. Philosophie wird Geschichtsphilosophie des Geistigen: der subjektiven geistigen Leistungen, der objektiven geistigen Funktionen und ihrer Institutionalisierungsformen sowie des „absolut" Geistigen, wie dieses in den Medien der Kunst, der Religion und der Begriffsarbeit zum Ausdruck kommt. Anhand einer Reihe überlieferter und neu zu entwickelnder Begriffe wie der Begriffe der „Unmittelbarkeit", der „Vermittlung", der „bestimmten Negation", der „Widersprüche", des „Verhältnisses", der „Arbeit", des „Geistes", des „Selbstbewußtseins", der „Freiheit" und der Begriffsgegensatzpaare „Einheit"-,,Vielheit", „Allgemeines"-„Besonderes" sowie „Endlichkeit"-„Unendlichkeit" usw. vermag die philosophische Reflexion ihre Aufgabe, sachangemessene geschichtsphilosophische Vermittlungsforschung zu sein, konkret zu bewältigen, wohl wissend, daß diese Begriffe ihre Gültigkeit und erklärende Potenz nur entfalten können, wenn sie nicht kategorisch, „ur-teilend" zur Anwendung gebracht werden, sondern in „spekulativen Sätzen", die (im Medium des Begriffs) den komplexen-konkreten, aus vielen Schichten, Stufen und Dimensionen zusammenwachsenden („con-crescere") Entstehungs- und Entfaltungsprozeß von Geistigem-Ideellem mimetisch reflektieren.1 1 Zur Beschaffenheit und Struktur der sogenannten „spekulativen Sätze" in der Hegelschen Philosophie vgl. neuerdings Vernunftkritik nach Hegel. Analytisch-kritische Inter-
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So oder ähnlich könnte man in sehr groben Zügen das PhilosophieVerständnis Georg Wilhelm Friedrich Hegels charakterisieren und dessen Phänomenologie des Geistes oder dessen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte oder aber dessen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (um nur einige prägnante Beispiele zu nennen) als repräsentative Ausdrucksgestalten eines solchen Philosophie-Verständnisses deuten. Thesenförmig formuliert, heißt dies: das Hegelsche philosophische System ist als Theorie des Werdegangs der Idee oder des Selbstbildungsprozesses des Geistes (auf der Ebene der einzelnen Erkenntnisleistungen der Individuen, auf der Ebene der verschiedenen sozialen und kulturellen Objektivationen sowie auf der Ebene der Ausdrucksmedien „Kunst", „Religion" und „Philosophie") begriffene Geschichte, Geschichtsphilosophie. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie kommt dieses Philosophie-Verständnis besonders zum Tragen. Ist Philosophie begriffene Geschichte, so heißt das für die „philosophische Geschichte" der Philosophie, daß die Geschichte der philosophischen Reflexion dieser gar nicht äußerlich bleibt, sondern für sie wesentlich in dem Sinne ist, daß in der jeweiligen Gegenwart Philosophie ohne deren Geschichte nicht möglich ist, da die Geschichte der Philosophie für die Philosophie „notwendig" ist. Das Werden dieser Wissenschaft, der Philosophie (das heißt konkret: „die Reihe der edlen Geister, die Galerie der Heroen der denkenden Vernunft, welche kraft dieser Vernunft in das Wesen der Dinge, der Natur und des Geistes, in das Wesen Gottes eingedrungen sind und uns den höchsten Schatz, den Schatz der Vemunfterkenntnis erarbeitet haben,")2 ist für die jeweils gegenwärtige Gestalt der philosophischen Reflexion in unhintergehbarer Weise maßgebend. Es nachzuweisen, ist die ausdrückliche Absicht der Hegelschen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Mit den Worten Hegels ausgedrückt: „Wenn wir es (das Interesse an der Geschichte der Philosophie - T. G.) in seinem Mittelpunkt erfassen wollen, so haben wir ihn in dem wesentlichen Zusammenhang dieser scheinbaren Vergangenheit zu suchen mit der gegenwärtigen Stufe, welche die Philosophie erreicht hat. pretationen zur Dialektik. Hrsg. v. C. Demmerling, F. Kambartel. Frankfurt a. M. 1992. 67 ff (insbesondere 88 f, 92 und 95). Vgl. auch Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels. Hrsg. v. R.-P. Horstmann. Frankfurt a. M. 21989. 2 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Hegel: Werke. 18.) Frankfurt a. M. 1986. 20. Selbst wenn die Ausgabe von E. Moldenhauer und K. M. Michel textkritischen Ansprüchen nicht ganz genügt, habe ich mich im folgenden aufgrund der Tatsache, daß sie allgemein benützt wird, für sie entschieden.
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Daß dieser Zusammenhang nicht eine der äußerlichen Rücksichten ist, welche bei der Geschichte dieser Wissenschaft in Betrachtung genommen werden können, sondern vielmehr die innere Natur ihrer Bestimmung ausdrückt, daß die Begebenheiten dieser Geschichte zwar wie alle Begebenheiten sich in Wirkungen fortsetzen, aber auf eine eigentümliche Weise produktiv sind, dies ist es, was hier näher auseinandergesetzt werden soll/'3 Philosophie ist nach Hegel begriffene Geschichte oder Geschichtsphilosophie, nicht nur als das Begreifen ihrer eigenen Entwicklung, sondern auch als der Begriff der jeweiligen geschichtlichen Gegenwart, in der sie sich in spezifischer Form konkret gestaltet. Nichts anderes will jener oft bemühte Satz aus den Grundlinien der Philosophie des Rechts, die Philosophie sei „ihre Zeit in Gedanken erfaßt", sagen. Philosophie ist demnach nicht nur der Begriff ihrer eigenen Geschichte, sondern auch der Begriff dessen, was (geschichtlich gegenwärtig) ist, das begriffliche „Erfassen des Gegenwärtigen, Wirklichen". Bereits Johann Gottlieb Fichte hatte ein solches radikal-historisches Verständnis der philosophischen Begriffsarbeit in seinen in Berlin 1804/1805 gehaltenen Vorlesungen über Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters emphatisch vorgetragen und verteidigt. Philosophie als die Wissenschaft der Vernunft wird in diesen Vorlesungen als philosophische Konstruktion der Vemunftgeschichte, d. h. des Wirkens und Handelns der Vernunft in der Geschichte, praktiziert. Philosophie wird zur philosophischen Theorie der Gegenwart als spezifischer Epoche eines Vernunftrealisierungsprozesses. Allerdings ist diese Gegenwartstheorie im Verständnis Fichtes, da sie eine philosophische Theorie ist, eine nicht-empirische, mehr-als-empirische Theorie, die nicht nur begrifflich nachvollzieht, was der Fall gewesen ist, sondern nachweist, daß das, was der Fall gewesen ist, Vemunftgeschichte gewesen ist, da es in einem „Weltplan" enthalten ist und dem „Endzweck" des menschlichen „Erdenlebens" entspricht.4 Deswegen ist die philosophische Theorie der Gegenwart Fichtes „geschichtliche" (nicht-historische und nicht-empirische) Theorie des Geschichtlichen, welche kraft der Macht des in ihr zur Geltung kommenden Begriffs apriori, deduktiv zu verfahren vermag. Im Text der Vorlesungen selbst heißt es: „Ein philosophisches Gemälde des gegenwärtigen Zeitalters ist es, was diese Vorträ3
G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. 20. Vgl. Fichtes Werke. Hrsg. v. I. H. Fichte. Bd 7. Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte. Berlin 1971.6 f, 17,133 und 238. 4
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ge versprechen. Philosophisch kann aber nur diejenige Ansicht genannt werden, welche ein vorliegendes Mannigfaltiges der Erfahrung auf die Einheit des Einen gemeinschaftlichen Princips zurückführt, und wiederum aus dieser Einheit jedes Mannigfaltige erschöpfend erklärt und ableitet... Der Philosoph, der sich die Aufgabe einer solchen Beschreibung setzte, würde unabhängig von aller Erfahrung einen Begriff des Zeitalters, der als Begriff in gar keiner Erfahrung Vorkommen kann, aufsuchen, und die Weisen, wie dieser Begriff in der Erfahrung eintritt, als die nothwendigen Phänomene dieses Zeitalters darlegen .. ."5 Mit anderen Worten: Da der Philosoph die in der Erfahrung möglichen Phänomene aus der Einheit seines vorausgesetzten Begriffs abzuleiten hat, . so ist klar, dass er zu seinem Geschäfte durchaus keiner Erfahrung bedürfe, und dass er bloss als Philosoph ... ohne Rücksicht auf irgend eine Erfahrung und schlechthin a priori... sein Geschäft treibe .. ."6 Es gibt in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte einige wenige Aussagen, die im Sinne der starken apriorischen Begriffskonstruktion Fichtes interpretiert werden könnten. Zwar redet Hegel, wenn er den „Stufengang der Entwicklung des Princips ..., dessen Gehalt das Bewußtsein der Freiheit ist", darstellt, vom „Apriorischen der Geschichte, dem die Erfahrung entsprechen muß."7 Aber Hegel konzipiert seine philosophische Theorie der Weltgeschichte als eine spezifische, perspektivierte Geschichtsschreibungsform, nämlich die „philosophische Geschichte" oder „philosophische Weltgeschichte", deren einziger Gesichtspunkt oder Gedanke nicht abstrakt allgemein, sondern „konkret und schlechthin gegenwärtig" ist und darin besteht, zu unterstellen, daß die Vernunft in der Welt des Wöllens und des Handelns herrscht bzw. daß es auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist.8 Anmaßend oder einfach maximalistisch klingt für heute Philosophierende Hegels Anspruch, Gottesplan zu erkennen („daß die Vorsehung die Welt regiert") bzw. das Wesentlich-Substantielle bei Übergehung der vielen Zufälligkeiten erkennen zu können. Dennoch legt Hegel Rechenschaft über die Prinzipien, Kriterien oder den Hauptgesichtspunkt seiner philosophischen Theorie der Geschichte ab, was dem Vorwurf,
5
Fichtes Werke. Bd 7.5. Fichtes Werke. Bd 7.5. 7 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Hegel: Werke. 12.) Frankfurt a. M. 1986.76 f. 8 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. 20. 6
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er würde naiv annehmen, daß seine eigenen Darlegungen die einzig wahre, perspektivenlose Sicht der Dinge darstellen, jede Grundlage entzieht. Man kann in der Tat belegen, daß Hegel unterschiedliche „Geschichten" oder Geschichtsschreibungsweisen kennt, die in unterschiedlicher Weise interessiert und perspektiviert sind und die jeweils ihre eigene Berechtigung haben, womit man indirekt nachweisen würde, daß die Hegelsche Theorie der Weltgeschichte eine methodologisch aufgeklärte ist und nicht jene naive Konstruktion, für die sie häufig gehalten worden ist. Für den deutschen Soziologen und Kulturphilosophen Hans Freyer ist aber Hegels Theorie der Weltgeschichte der Modellfall einer idealistisch vorgehenden Konstruktion, in der die Realitäten, um die es in ihr gehen sollte, nicht sachangemessen in Rechnung gestellt werden. Im Dienste des Begriffs werde, und hierauf läuft die Kritik Hans Freyers an der Hegelschen Geschichtsphilosophie hinaus. Wissen so organisiert, daß das Besondere aufgrund der Vorherrschaft des Allgemeinen im System gar nicht richtig erkannt werden kann. Hegel konstruiere logisch Idealgestalten, die es in der Wirklichkeit gar nicht so gäbe, um gemäß a priori festgelegten Zwecken und Theorieentscheidungen das erkennen zu können, was er erkennen muß, um die ganze Begriffskonstruktion retten zu können.9 Dabei ist der Hegel, den Freyer meint, wenn er den Namen „Hegel" gebraucht, nicht der wirklich denkende und denkend um das vernünftige Erfassen des Vernünftigen im Wirklichen bemühte Hegel, sondern die Kontrastfolie, die er selbst braucht, um gegen die „Logoswissenschaften" die „Wirklichkeitswissenschaft" Soziologie epistemologisch zu fundieren. Hegel wird zum wirkungsgeschichtlich relevanten Prototypen der „Logoswissenschaften", gegen den es zu kämpfen gilt, um die „Wirklichkeitswissenschaft" Soziologie möglich zu machen.
2. Wirklichkeitswissenschaft versus Idealwissenschaft In seinem epistemologischen Hauptwerk Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft will Hans Freyer der Soziologie eine philosophische 9
Vgl. H. Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie. Darmstadt 21964.21 ff und 212 ff; H. Freyer: Einleitung in die Soziologie. Leipzig 1931. 40 ff und 63 ff sowie H. Freyer: Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie. Stuttgart 1973.
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Grundlegung geben, welche bestimmen soll, worin die Spezifizität der soziologischen Denkweise besteht und die Berechtigung sowie Produktivität einer solchen Denkweise nachweist. Hans Freyer geht es darum, konkret vorzuführen, daß die soziologische Betrachtungsweise sich von anderen Betrachtungsweisen unterscheidet und daß diese Betrachtungsweise besser, sachadäquater und produktiver ist, um viele der klassischen Probleme in den sogenannten „Geisteswissenschaften" effektiv zu lösen. Allerdings eignet sich nicht - in Freyers Urteil - jede Soziologie, eine solche fundamentale Rolle in den Geisteswissenschaften zu erfüllen. Nur eine radikal „ ethos wissenschaftliche" oder „wirklichkeitswissenschaftliche", „geschichtliche" Soziologie, um deren Systemaufbau er sich bemüht, wird nach Freyer die anstehenden Aufgaben optimal erledigen können. Der konkrete Systemaufbau der „wirklichkeitswissenschaftlichen" Soziologie setzt aber voraus, daß bestimmte irrige Vorstellungen über Erkenntnismethoden und Erkenntnisgegenstände der Soziologie im besonderen und der Geisteswissenschaften im allgemeinen als solche entlarvt werden, damit richtigere an ihre Stelle treten können. In der Einleitung zu Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft skizziert Hans Freyer die Grundlinien seines epistemologischen Vorhabens. Gegen den „wahllosen Empirismus" einer die Vielfalt der empirischen Tatsachen katalogisierenden Soziologie und gegen eine abstrakt-systematische Idealsoziologie, die den „geschichtlichen Charakter ihrer Gegenstände" „vernichtet", sei die Konzeption einer geschichtlichen Soziologie als „das wissenschaftliche Selbstbewußtsein einer gesellschaftlichen Wirklichkeit" konsequent zu entwickeln und zu verteidigen.10 Allein diese Konzeption einer geschichtlichen Soziologie vermag das Systemisch-Strukturelle ihres Erkenntnisgegenstandes, nämlich der jeweiligen gesellschaftlichen Formation, sowie deren geschichtliche Handlungsdimension, welche Handeln, Entscheiden und Tatigsein seitens der in der Gesellschaft lebensweltlich Verwurzelten erfordert, adäquat konzeptuell zu erfassen. Deswegen kann die geschichtliche Soziologie Freyers weder eine Formalwissenschaft noch eine Logoswissenschaft sein. Sie ist vielmehr eine „Ethoswissenschaft" (weniger emphatisch formuliert: eine pragmatische Handlungswissenschaft).11 Hans Freyer selbst formuliert: „Die Erkenntnishaltung der Wirklichkeitswis10
Vgl. H. Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. 5. Vgl. H. Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. 206 f sowie H. Freyer: Einleitung in die Soziologie. 4-13. 11
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senschaften ist weder reine Anschauung eines bündigen Vollendeten noch Analyse eines ewig Gegenwärtigen auf seinen gesetzlichen Zusammenhang. Sondern sie ist denkende Teilnahme an einem Geschehen, das im Willen der Gegenwart seine prägnante Existenz und seine potenzielle Weiterführung gefunden hat. Alle Erkenntnis vergangener Wirklichkeiten wird zur historischen Unterbauung der Selbsterkenntnis der Gegenwart, die mit ihrer Zukunft schwanger geht. Dieser Willensgehalt, dieses Ethos der Geschehenswirklichkeit wird hier zur Achse der Erkenntnishaltung. Wirklichkeitswissenschaften sind zugleich ethische Wissenschaften. Nicht in dem Sinne, daß in ihnen ethische Normen gewonnen oder angewandt würden; sondern in dem Sinne, daß ihr Erkenntnisobjekt eine Willensrichtung in sich trägt. Die Erfassung dieser Willensrichtung wird deshalb zur unwegdenkbaren Aufgabe, weil sie allererst den zentralen Gehalt des Erkenntnisgegenstandes, nämlich seinen Charakter als existenzielle Wirklichkeit ausmacht/'12 Die geschichtliche Ethos-Wissenschaft „Soziologie" gestaltet sich konkret als ein System „historisch gesättigter" Strukturbegriffe, die in der Lage sind, der Tatsache gerecht zu werden, daß die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit, in der sie als Denkleistung lebensweltlich verankert resp. entstanden sind und der sie ihre „primordiale"13 Plausibilität verdanken, „geschehende Geschichte" ist. Da die Realitäten, die in der Soziologie begrifflich zu erfassen sind, geschichtlicher Natur sind, müssen die Begriffe der soziologischen „Wirklichkeitswissenschaft" geschichtlich sein. Als Begriffe aber einer Wissenschaft, als theoretische Begriffe, sind sie „generalisierbare" „Strukturschemata", die prinzipiell nicht nur in einer bestimmten geschichtlichen Konstellation und für die sie repräsentierende Formation Gültigkeit haben, sondern auch in allen möglichen Konstellationen und für alle möglichen Formationen Gültigkeit beanspruchen können.14 Hans Freyer entwickelt sein wirklichkeitswissenschaftliches Soziologie-System geschichtlicher und schematischer Begriffe in direkter und in indirekter Auseinandersetzung mit Hegel. Dieser, der für Hans Freyer „der Grundlagentext" der maßgeblichen Theoretiker der Geistes12 13
H. Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. 206.
Zur Husserlschen These der „Bodengeltung" der Lebenswelt für jedwede (auch wissenschaftliche) Begriffsbildung bzw. zur Husserlschen Theorie der „primordialen Bedeutungsschichten" s. E. Husserl: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. E. Ströker. Bd 8. Hamburg 1992.123 ff. 14 Vgl. H. Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. 12 und 213 ff sowie H. Freyer: Einleitung in die Soziologie. 124 ff.
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Wissenschaften überhaupt ist und dessen Präsenz im Werk Wilhelm Diltheys im besonderen H. Freyer von verschiedenen Seiten durchleuchtet, ist der „logoswissenschaftliche'' Hauptgegner Hans Freyers. Gleichzeitig ist Hegel für Freyer der Philosoph, dessen Konzeptualisierungsprojekt und Reflexionskraft es verdienen, aufgenommen und transformiert zu werden, damit jener vergeistigte, irrealisierende statische „Logismus", der sich zum Schluß im Hegelschen Philosophie-System durchsetzt, aufgehoben werden kann. Die Weltwirklichkeit, die Hegel begreifen will, wird in der Hegelschen „Metaphysik des Geistes" als Logos, die Geschichte ausschließlich als abstrakter Sinnzusammenhang dargestellt und somit, nach Freyer, verfehlt. Mit der Hegelschen Rechtsphilosophie im Auge formuliert Hans Freyer: „Der Logismus des Hegelschen Systems und der seinerzeit besprochene Charakter seiner Dialektik als einer zeitenthobenen Idealdialektik führt nun dazu, daß die Grundformen der gesellschaftlichen Struktur in der Rechtsphilosophie zwar als ein gedanklich notwendiger, nicht aber als ein realzeitlicher Zusammenhang aufgefaßt werden .. ."15 Erst Karl Marx gebührt in den Augen Freyers das Verdienst, jene Transformation der Hegelschen Idealdialektik in Realdialektik vollzogen zu haben, durch welche die „deutsche" Soziologie (als spezifische Denktradition neben der englischen oder französischen Tradition) ihren Anfang in der Hegelschen Rechtsphilosophie bewußt aufgreift und sich als Realwissenschaft konstituiert: Transformationsprojekt, das Hans Freyer zu beerben beabsichtigt.
15
H. Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. 215. Ähnlich lautende Abschnitte lassen sich finden in: H. Freyer: Einleitung in die Soziologie. 62 ff. Jerry Z. Muller geht in seiner biographischen Studie über Hans Freyer auf den spezifischen „Neohegelianismus" Hans Freyers kurz ein, der unter den Prämissen der Diltheyschen Hegel-Rezeption und Hegel-Deutung gestanden hat. Vgl. /. Z. Muller: The Other God that failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism. Princeton, New Jersey 1987. 115 ff. Anhand des Falles „Hans Freyer" will Muller, und dies ist die Hauptintention seiner Arbeit, die engagierte Teilnahme deutscher Intellektueller an totalitär-politischen Bewegungen wie dem Nationalsozialismus untersuchen. Deswegen tituliert Muller seine biographische Studie „repräsentativ-biographisch", ist Hans Freyer doch repräsentativ für eine Gruppe von deutschen Intellektuellen. Ausführlicher zum Einfluß Hegels auf den frühen Freyer: E. M. Lange: Rezeption und Revision von Themen Hegelschen Denkens im frühen Werk Hans Freyers. Dissertation, Freie Universität Berlin 1971.
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3. Hans Freyers Rekonstruktion der Weltgeschichte Europas Hegels Projekt der konkreten Gestaltung der philosophischen Reflexion als geschichtsphilosophische Theorie der geschichtlichen gegenwärtigen Zeit bleibt für das Werk Hans Freyers ein maßgebender Referenzpunkt.16 Sowohl positiv, denn Freyer nimmt sich vor, „realdialektisch" durchzuführen, was Hegel in seiner „idealdialektisch" vorgehenden Geschichtsphilosophie verspricht, als auch negativ, denn Freyer will, wissenschaftstheoretisch bzw. epistemologisch ausgedrückt, eine Wirklichkeitswissenschaft fundieren und zur Anwendung bringen, die nicht in eine spekulative, abstrakte Idealgestalten konstruierende „logizistische" Metaphysik des Geistes mündet. Als konkretes Ergebnis einer „wirklichkeitswissenschaftlichen" Rekonstruktion der Geschichte Europas ist Hans Freyers zweibändige Weltgeschichte Europas zu betrachten, in der Hans Freyer das, was Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte konstruktiv durchführt, „wirklichkeitswissenschaftlich "-rekonstruktiv entwickeln möchte. Doch die Freyersche Rekonstruktion wird selbst im Vollzug und aus sachinternen Gründen zu einer geschichtsphilosophischen Konstruktion. Im folgenden werde ich erstens etwas über die Struktur und Beschaffenheit vernünftiger universalgeschichtlicher Darstellungen der vergangenen Geschichte im allgemeinen und der Freyerschen Darstellung insbesondere sagen, zweitens auf drei wichtige Momente oder Knotenpunkte der konstruktiven Rekonstruktion Hans Freyers (die griechische Polis, das Christentum und die Industrialisierung) kurz eingehen und schließlich andeuten, in welcher Hinsicht und zu welchem Zweck gegenwärtig solche weltgeschichtlichen Konstruktionen sinnvoll sein können.
16
Ohne die Fruchtbarkeit anderer Periodisierungen des Werkes Hans Freyers zu bestreiten, möchte ich hier jene Periodisierung favorisieren, die drei unterschiedliche Phasen markiert: eine erste existentialistische, lebensphilosophische, „außerakademische" Phase, für die W. Dilthey und H. Bergson Modellfiguren sind; die zweite soziologietheoretische und universalhistorische Phase, in der die Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie explizit geschieht; und eine dritte und letzte „zeitdiagnostische" Phase, in der die Freyerschen Analysen der technisierten Industriegesellschaft abgefaßt werden. Vgl. T. Gil: Die Eigendynamik technischer Rationalität. Hans Freyers gegenwartsanalytische Bestimmung der technisierten Industriegesellschaft. In: Philosophisches Jahrbuch. 103 (1996)1,150 ff.
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In der geschichtlichen Handlungs- und Leidenswelt, in der menschhche Individuen und Menschengruppen ihr Leben konkret gestalten und leben müssen, geschieht Vieles und Mannigfaltiges: Menschen werden geboren und sterben. Natürliches wird bearbeitet, Staaten und Institutionen werden gegründet, Orientierungs- und Steuerungssysteme (wie Recht, Religion oder Wirtschaft) werden entwickelt, Kriege werden geführt, Friedens- und Freiheitsräume geschaffen und garantiert usw. Dies alles sind tatsächliche materielle Entwicklungen, welche geistig dimensioniert sind. „Materialität" und „Geistigkeit" sind selbstverständlich zwei Begriffe, mit denen wir uns auf zwei verschiedene Aspekte oder Momente unserer Lebenswirklichkeiten beziehen und die uns helfen sollen, diese besser zu verstehen. Dabei gibt es nur Lebenswirklichkeiten, in denen wir berechtigterweise und mit bestimmten Absichten „Materielles" und „Geistiges" reflektierend trennen. „Materielle" Handlungen und Zustände sind sichtbar, beobachtbar. Sie sind physikalischer Natur, in naturwissenschaftlichen Theorien modellierbar und deswegen grundsätzlich „naturahsierbar". „Geistiges" hingegen erfaßt man nur mittels mehr oder weniger angemessener Interpretationen oder Reflexionen. Von diesen Interpretationen und Reflexionen kommt der Sinn, der materiell Ambivalentes oder Plurivalentes eindeutig macht. „Materiell" führen beispielsweise bestimmte Menschengruppen Kriege, die dann im Zuge von einfachen oder komplexeren weltanschaulichen Deutungen zu „heiligen" oder „Emanzipationsund Freiheitskriegen" werden. Geschichte als geschehene und geschehende Lebenswirklichkeit von handlungsfähigen intelligenten Lebewesen ist dementsprechend sowohl materiell als auch geistig, wobei unter „geistig" das Mentale verstanden wird, durch das materielle Zustände und Begebenheiten diesen oder jenen Sinn haben, dieses oder jenes Ereignis sind, diese oder jene Handlung darstellen. In Hans Freyers Weltgeschichte Europas ist „Europa" (oder „das Abendland") eine geistige oder mentale Größe, eine Vorstellung oder eine Idee, die aufgrund verschiedener Deutungen dessen, was materiell der Fall gewesen ist, entstanden ist und die Materielles hat auch zustande kommen lassen, indem sie eine materielle Wirkungsgeschichte dort gehabt hat, wo sie in die dispositionale und motivationale Struktur handelnder Individuen sowie in die Programmatik handelnder Institutionen und Organisationen eingegangen ist. Europa ist für Hans Freyer eine „weltgeschichtliche Tatsache", eine „geschichtliche Kategorie",
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eine „Kulturidee", die erst die „denkende Betrachtung" der materiellen Geschichte hervorgebracht hat.17 Ohne bestimmte materielle „Energien", „Bewegungen", „Tatbestände", „Ereignisse", „natürliche" Konstellationen und „Entwicklungen" kann es Europa gar nicht geben. Doch ist Europa etwas mehr als die jeweilige materielle Größe, welche als Basis für die geistige Konstruktion Europas dienen kann. Europa ist eine in einem komplexen Denkvorgang von Interpretationen, Beschreibungen, Analysen und kontrafaktischen fiktionalisierenden Unterstellungen zustande gekommene Idee, der man, wenn entstanden, eine Wirkungsgeschichte im Empirisch-Faktischen zusprechen kann. Die Geschichte „Europas" ist aufgrund der qualitativen Merkmale der Größe, deren Geschichte sie ist, „Weltgeschichte": „Weltgeschichte" nicht in einem „summarischen" Sinne, sondern in einem „spezifischen" kulturphilosophischen Sinne, denn sie steht für einen „hohen Stil des menschlichen Daseins", auf dessen Wesensmerkmale Freyer sich mit den Begriffen der Freiheit, des technischen Könnens, des wissenschaftlichen Wissens bzw. Erkennens, der Vernunftkultur, der Menschlichkeit (Humanität) und des selbstbewußten, entschlossenen Gestaltens bezieht.18 In Freyers Urteil ist letzten Endes die europäische Geschichte „Weltgeschichte", weil in Europa das gedacht und gemacht worden ist, was sich nicht auf einen partikularen Kontinent einschränken läßt. Die Qualität des im europäischen geographischen Raum in der Vergangenheit Gedachten und Gemachten macht die Geschichte Europas zur Weltgeschichte. „Denn hier hat das Abendland Gedanken gedacht, die in ihm selbst gar nicht zu Ende gedacht werden können, Machtmittel ersonnen, die zuerst ihm selbst dienen, die aber außerdem ihrem Wesen nach herrenloses Gut sind."19
II. Hans Freyers Weltgeschichte Europas enthält glänzende Analysen einzelner Epochen der verschiedenen europäischen Nationen und Mächte, die für sich gelesen werden können. In ihnen bemüht sich Freyer um die anschauliche Darstellung der Interpretation von Materiellem und 17
Vgl. H. Freyer: Weltgeschichte Europas. Bd 1. Wiesbaden 1948. IX und XI f. Vgl. H. Freyer: Weltgeschichte Europas. Bd 2. IX, 33,56 f und 427 sowie H. Freyer: Weltgeschichte Europas. Bd 2. Wiesbaden 1948.796 ff, 836 ff, 865 ff, 932 ff und 967 ff. 19 H. Freyer: Weltgeschichte Europas. Bd 2.972. 18
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Geistigem in der Weltgeschichte, indem er zeigt, wie durch das bewußte und gekonnte Formen von Materiell-Natürlichem kulturelle Gebilde entstehen, in denen „menschliche Seele" oder „Menschentum" als Gesamtheit geistiger Dispositionen, Einstellungen, Motivationen und Kompetenzen geschaffen und gestaltet wird. Ohne Materielles gibt es kein Geistiges. Das Wissenswerte ist aber immer, wie aus Materiellem Geistiges wird: wie zum Beispiel eine bestimmte Technik eine neue Handlungskonstellation oder einen erweiterten Handlungsraum ermöglicht, in dem sich neue und potenzierte Weisen des Menschseins entwickeln können. Anhand bestimmter komplexer politischer Entwicklungen veranschaulicht Freyer immer wieder diese wechselseitige Durchdringung von Materialität und Vergeistigung oder geistiger Kultivierung. Ein sehr einfaches Beispiel möge hier dennoch die Arbeits- und Deutungsweise Hans Freyers veranschaulichen. Nachdem Hans Freyer dargelegt hat, daß Kulturen aufgrund bestimmter natürlich-materieller Bedingungen entstehen, um dann diese Bedingungen zu „weltgeschichtlichen Tatsachen" zu machen (was er später anhand der ägyptischen Kultur und des natürlichen Nilschlamms exemplifizieren wird), erläutert er die kulturschaffende Macht des „Pferds am Streitwagen" mit der Absicht, darzulegen, wie ein bestimmtes Kriegsinstrument einen „neuen Menschen", einen neuen „ritterlichen Geist", eine neue „heldenhafte Seele" mitschafft: „Zum Streitwagen gehört ein Menschentypus, der wie sein Pferd so auch sich selber für den Kampf erzogen hat, der ganz in Krieg und Eroberung lebt... Jetzt erst gibt es bewußtes Heldentum, seiner selbst bewußt und den anderen: Helden mit klingenden Namen, die man raunt, fürchtet oder preist... wegen der Taten, die von ihnen bekannt sind und erwartet werden. Jetzt erst wird Epos möglich .. ."20 Kulturelles setzt also Materielles voraus, geht aus ihm hervor und formt zukünftiges Materielles bzw. Materielles läßt unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen Kulturell-Geistiges entstehen, das ohne jenes gar nicht möglich gewesen wäre. Dabei ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß man sich bei der Erfassung von Kulturell-Geistigem immer in einem offenen Interpretationsraum von alternativen Möglichkeiten der Deutung und der Evaluation bewegt. Drei materiell-kulturelle Konstellationen bzw. Mächte interessieren Hans Freyer in besonderer Weise: die Kulturwelt der griechischen Polis,
20
H. Freyer: Weltgeschichte Europas. Bd 1.28 f.
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das Christentum und dessen verschiedene (auch säkularisierte) Gestalten sowie das Phänomen der Industrialisierung. Die Kulturwelt der griechischen Polis rekonstruiert Hans Freyer als einen mächtigen „geschichtlichen Wirkungszusammenhang" von „Kraftlinien", in dem politische Ordnungsleistungen, ästhetische Gebilde und philosophische Reflexionsformen möglich wurden, welche für das Abendland von paradigmatischer Bedeutung werden sollten. Durch sie wurde eine spezifische „Formwerdung" des menschlichen Geistes realisiert, welche „freie Politik" sowie eine qualitative Gestalt des Menschseins („hohes Menschentum") ermöglichte. Die griechische Kultur und Geistkonfiguration ist für Hans Freyer eine aufgeklärte Formation, die keine heiligen Texte kennt und in der Lage ist, große Individuen hervorzubringen.21 Das vielgestaltige Phänomen des Christentums, welches in der Interpretation Hans Freyers das Beste der griechischen Kultur „aufzunehmen" und „fortzusetzen" vermochte, sollte dann in der westlichen Welt der wichtigste katalysierende Faktor für Vergeistigung und Kulturdynamik werden: Katalysator für politische, soziale, rechtliche, wissenschaftliche und technische Entwicklungen, die im Mittelalter initiiert wurden und heute weltweit zivilisatorisch wirken.22 Anhand des Phänomens der Industrialisierung kann Hans Freyer vorführen, was es heißt, daß Technik mehr als Technik ist. Technik ist effektives, potenziertes maschinenbasiertes Handeln, durch welches ein Wollen Welt macht und gestaltet. Technik heißt: potenziertes Handeln und Machen sowie das es begleitende Macht- und Selbstbewußtsein des neuzeitlichen Menschen. In der emphatischen Sprache Hans Freyers ausgedrückt: „Jede Technik ist die Aufrüstung eines Willens bis zu dem Punkte, daß er gerade eben losschlagen kann."23 Allerdings huldigt Hans Freyer keinem naiven optimistischen Liberalismus. Vielmehr stellt er drei der Ansichten des optimistischen Liberalismus radikal in Frage: a) daß die Waffenproduktion mit der Zeit abnehmen wird; b) daß der Handel sich letzten Endes pazifizierend auswirkt und c) daß die Nationalstaaten aufgrund von globalen Industrialisierungsvorgängen ihre alte Bedeutung verlieren werden. Diesen drei Ansichten setzt er eine eher pessimistische Sicht der Entwicklung der industrialisierten modernen Welt entgegen, eine Sicht allerdings, die 21 22 23
Vgl. H. Freyer: Weltgeschichte Europas. Bd 1.412 f, 430,432 f und 445 f. Vgl. H. Freyer: Weltgeschichte Europas. Bd 2.576,727,782,785,799 f und 801. H. Freyer: Weltgeschichte Europas. Bd 2.786.
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noch nicht den resignativen Pessimismus erreicht hat, der beispielsweise in den späten zeitanalytischen Studien der Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, der Gedanken zur Industriegesellschaft und der Schwelle der Zeiten zum Ausdruck kommt.24
III. In Anlehnung an Friedrich Nietzsches zweite Unzeitgemäße Betrachtung tituliert Hans Freyer das zweite Kapitel seiner Weltgeschichte Europas „Nutzen und Nachteil der Historie" und dokumentiert somit sein praktisches Interesse an Geschichtskonstruktionen, welche förderlich oder aber hemmend für das konkrete Leben von Individuen, Gruppen und Nationen sein können. In diesem zweiten Kapitel geht Freyer auf die drei von Nietzsche unterschiedenen Arten von Historie ein: die dem Tätigen und Strebenden dienende „monumentalische" Historie, die jene Vorbilder, Tröster und Lehrer, die in der Gegenwart nicht zu haben sind, aus der Vergangenheit zurückholt und zur Nachahmung vorführt; die dem Bewahrenden und Verehrenden entgegenkommende „antiquarische" Historie; die dem der Befreiung Bedürftigen helfende „kritische" Historie. Mit dem Philosophen Friedrich Nietzsche teilt Hans Freyer die Sicht, daß Geschichtspräsentationen, Geschichtsdarstellungen und Geschichtsrekonstruktionen nicht zwecklos sind, sondern daß sie vielmehr im Dienste der in der Gegenwart Entscheidenden und Handelnden stehen und letzten Endes immer pragmatisch motiviert sind. Bei ihnen kann es also in der Hauptsache nicht um die desinteressierte Schilderung dessen gehen, was in der Vergangenheit der Fall gewesen ist, sondern um die produktive und handlungsmotivierende Darstellung des Gewesenen als „Erbe", das uns bestimmt, das wir aufzugreifen haben und an das wir handelnd anzuknüpfen haben, um es weiterzuführen und fortzusetzen. Geschichtserkenntnis kann deswegen für Freyer (genausowenig wie für Nietzsche) nicht interesse- und zwecklos sein, da es immer um uns, um unsere Vergangenheit und unser Werden oder Gewordensein geht. Rekonstruktion von Geschichte ist für Hans Freyer dementsprechend Konstruktion des Vergangenen als „Entschluß zur 24
Zu diesen „zeitdiagnostischen" späten Arbeiten H. Freyers vgl. V. Kruse: Historischsoziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945. Eduard Heimann, Alfred von Martin, Hans Freyer. Frankfurt a. M. 1994.141 ff.
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Zukunft7'. Im Falle Europas: konstruktive Darstellung seiner Vergangenheit, damit die Zukunft „europäischer Art" oder „abendländischer Art" werde. Denn Europa heißt: das „aufgreifen" und „fortsetzen", was sich im europäischen Raum ereignet hat und als europäische Kultur konstruktiv-rekonstruktiv darstellen läßt.25 Europa ist folglich eine Idee, ein Projekt, ein Anliegen: was die Erben aus ihrer Erbschaft machen, wenn sie diese als solche zu erkennen vermögen und sie weiterführen. Zweifelsohne ist die Freyersche Rekonstruktion der Weltgeschichte Europas eine dezisionistisch-voluntaristische Konstruktion der besten Vergangenheit und Gegenwart Europas, damit Europa eine gute Zukunft hat. Der pathetische dezisionistische Voluntarismus, der der Konstruktion zugrunde liegt, wirkt heute übertrieben gekünstelt und aufgesetzt. Nicht nur die Gefühlslagen sind andere geworden, sondern auch der Denk- und der Diskursstil. Die großen heldenhaften Individuen, die einen privilegierten Zugang zu höheren Einsichten haben und einsam weltbewegende Entscheidungen treffen, sind die Stilisierungsgestalten eines Denkens, das heute nicht mehr plausibel ist. Dennoch bleibt die Frage, ob und wie der in der weltgeschichtlichen Konstruktion Hans Freyers zum Tragen kommende und auf bestimmten universalisierbaren Prinzipien oder regulativen Ideen beruhende kultur- und moralphilosophische Impuls einerseits mit einer trivialen globalisierten Weltwirklichkeit und andererseits mit der Vielfalt der (trotz aller wirtschaftlichen Globalisierung weiterhin) real-existierenden „differenten", eigensinnigen Kulturen (bzw. kulturellen Kontexte der konkreten Lebensgestaltung) vermittelt werden kann. Die Freyersche Weltgeschichte Europas ist entgegen der expliziten Intention ihres Autors, eine „wirklichkeitswissenschaftliche" Beschreibung zu sein, eine geschichtsphilosophische idealistische Konstruktion in praktisch-moralischer Absicht. Ihre idealpragmatische Stärke wäre heute gegen jedes (ideologiekritisch leicht zu entlarvende) deskriptivistische Mißverständnis zu verteidigen.
25
Vgl. H. Freyer: Weltgeschichte Europas. Bd 2.576,993,995 und 1011.
BURKHARD LIEBSCH (ULM)
DIESSEITS EINES „NEUEN URSPRUNGS" Überlegungen zu Ricceurs Verhältnis zu Hegel
I.
Ricceurs verschlungene Denkwege haben sich mit denen Hegels immer wieder gekreuzt. Mehrfach hat Ricoeur Hegel als Verbündeten ins Spiel gebracht; und Kernstücke der Ricoeurschen hermeneutischen Philosophie sind eindeutig als Hegelsches Erbe erkennbar, das bis zuletzt keineswegs so entschieden zurückgewiesen wird, wie es die schroffe Kapitelüberschrift in Zeit und Erzählung Hl „Auf Hegel verzichten" suggeriert. Wahrend andere einer fröhlichen „Verabschiedung" oder gar einem „Vergessen" Hegels das Wort reden, spricht Ricoeur einerseits mit dem Unterton des Bedauerns von der Notwendigkeit eines „Verzichts" auf Hegel und läßt andererseits zugleich Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit einer Abstandnahme von Hegel anklingen. Ricoeur ist sich dessen durchaus bewußt, daß er nicht der erste wäre, dem das Vorhaben mißlingen würde und vielleicht mißlingen muß, eine konsequent nach-Hegelsche Philosophie ins Werk zu setzen. Wenn Derrida Recht hat mit der auf Bataille gemünzten, ähnlich aber auch gegen Foucault und Levinas gerichteten Behauptung, daß bislang noch jede Kritik an Hegel „ein Hegelsches Tun" geblieben ist, so steht zu erwarten, daß auch Ricoeur „scheitern" wird, sofern er darauf abzielt, kompromißlos und endgültig von Hegel Abstand zu gewinnen.1 Ein solches Vorhaben brauchen wir Ricoeur freilich gar nicht zu unterstellen. Es ist nicht intellektueller Ehrgeiz, was Ricceurs Auseinandersetzung mit Hegel in Zeit und Erzählung auf den Plan ruft; es sind vielmehr Erfahrungen, Ereignisse, die uns, so unterstellt Ricoeur hier, in gewisser Weise bereits an einem dem Hegelianismus (wenn eine solche Pauschalierung denn erlaubt ist) gegenüberliegenden Ufer angekommen sein lassen. Die Schwierig-
1
Vgl. /. Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 1976.60 f, 182,382 ff, 395.
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keit besteht darin, von der Transformation an diesen Ort, die bereits stattgefunden zu haben scheint, Rechenschaft abzulegen; und zwar so, daß man nicht wieder ganz und gar in eine überkommene Sprache zurückfällt, die von dieser Transformation noch keinen Schimmer hat haben können und sie darum nicht verständlich machen kann. Bei diesem Versuch, Rechenschaft abzulegen, steht weniger die geschichtliche Gestalt des Hegelschen Werkes zur Diskussion als vielmehr die Sache selbst, der es in einzigartiger Weise zur Geltung verholten hat: die Sache der Vernunft in der Geschichte.2 Gewiß prätendiert Ricceurs Hegel-Kritik nirgends, sich ohne weiteres außerhalb eines Hegelschen Diskurstyps stellen zu können. Im Gegenteil: sie erwächst auf dem Boden einer Hermeneutik, die Ricceur strekkenweise so beschreibt, daß der Eindruck entsteht, sie habe erst mit Hegel wirklich begonnen. Noch in der phänomenologisch-hermeneutischen Ortsbestimmung der Dialektik aus dem Jahre 19753 schließt Ricoeur den Hegelschen mit dem Husserlschen Begriff der Phänomenologie kurz, um die „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins" ganz und gar auf das Noema des Erfahrenen hin auszurichten.4 Ricoeur hält die Sagbarkeit des Erfahrenen auf allen Ebenen - von der Wahrnehmung bis hin zum Getanen - für fundamental. Und er hält in Hegelscher Redeweise an einer „Aufhebbarkeit" des Sagbaren im Gesagten fest.5 Noch in Zeit und Erzählung III wird die Überlieferung als die Ge2
Gewiß ist Ricoeur auch Leser der Logik, der Phänomenologie des Geistes, der Enzyklopädie, der Grundlinien der Philosophie des Rechts usw. Für alles, was das von der späten Theorie der Narrativität bis hin zu den frühen Arbeiten im Umkreis von Geschichte und Wahrheit zurückreichende thematische Feld betrifft, sind aber die geschichtsphilosophischen Vorlesungen Hegels über die „Vernunft in der Geschichte" von entscheidender Bedeutung. 3 Vgl. P. Ricoeur: Le ,lieu' de la dialectique. In: Dialectics. Ed. by Ch. Pervelman, Dialectics. The Hague 1975.92-108. 4 Ricoeur betont freilich mehrfach die Nichtreduzierbarkeit der „Phänomenologie" auf die „Logik" innerhalb des Hegelschen Systems. Im übrigen lautet ein mehrfach wiederholter Vorwurf gegen Hegel, sein Denken „resorbe le tragique dans le logique". Trotz dieser Gefahr bilde aber Hegel ein notwendiges Korrektiv zur Husserlschen Phänomenologie, die kein „travail du negatif" kenne; vgl. P. Ricoeur: Lectures T. 2. Paris 1992.186 f; Sur la phenomenologie. In: Esprit. 21 (1953), 821-839, hier: 823 f; L'humanite de Yhomme. In: Studium Generale. 15 (1962), 309-323, hier: 317; New Developments in Phenomenology in France: The Phenomenology of Language. In: Social Research. 34 (1967), 1-30, hier: 3 f. 5 Vgl. hierzu P. Ricoeur: Hegel aujourd'hui. In: Etudes theologiques et religieuses. 49 (1974), no 3,335-355, sowie den Aufsatz Objektivierung und Entfremdung in der geschichtlichen Erfahrung. In: Philosophisches Jahrbuch. 84 (1977), 1-12, hier: 9 f. Auf einige Aspekte der Ricoeurschen Hermeneutik, die von dieser „Aufhebbarkeit" abzuweichen scheinen und die besonders im Hinblick auf Ricoeurs spätere Auseinandersetzung mit Levinas von Bedeutung sind, habe ich hingewiesen in dem Aufsatz Geschichte als Antwort; in: Me-
Diesseits eines „Neuen Ursprungs'
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samtheit des bereits Gesagten und heute Lesbaren definiert, die der „Hermeneutik des geschichtlichen Bewußtseins'' eingestandenermaßen eine Hegelsche Aufgabenstellung vorgibt;6 eine Aufgabenstellung aber, die im Zeichen des hermeneutischen Begriffs einer radikalen Endlichkeit, wie ihn Gadamer begründet hat, keine Hegelsche Lösungsperspektive mehr eröffnet. Der Hypostasierung einer der geschichtlichen Wirklichkeit selbst immanenten Vernunft begegnet Ricceur von Anfang an mit einer von Kant belehrten Reserviertheit und zieht es vor, sich an die „regulative Idee" zu halten. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß sich Ricoeur je von Hegels Kritik der Idee eines „ewigen Friedens" hätte überzeugen lassen. Zwar spricht Ricoeur anfangs von Dialektik, doch kann es sich bestenfalls noch um eine Dialektik mit unausgesetzt „aufgeschobener" Synthese handeln;7 die Folge ihrer Gestalten erweist sich weniger als eine Stufenfolge denn als divergent-verästelt. Die Differenz scheint den Sieg über die Synthese davonzutragen.8 Zwar hat sich auch Ricoeur von Hegel her eine archäologisch-teleologische Deutung „geistiger Entwicklung" aufgedrängt;9 aber in seiner von Bergson inspirierten Deutung des Freudschen Diktums „Wo Es war, soll Ich werden"10 läßt sich die Zeit nicht mit Hegel zum Kreis runden.11 Gelingt aber die
tageschichte. Hrsg. v. J. Stückrath und J. Zbinden Baden-Baden 1997, 199-229; vgl. auch vom Verf.: Geschichte im Zeichen des Abschieds. München 1996. Teil II/III. 6 P. Ricceur: Le \ieu de la dialectique. 102. 7 Vgl. P. Ricceur, Geschichte und Wahrheit (1955). München 1974, 34 (fortan zit. als GW); Philosophieren nach Kierkegaard. In: Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards. Hrsg. v. M. Theunissen u. W. Grewe. Frankfurt/M. 1979.579-596, hier: 591. 8 P. Ricoeur: Zeit und Erzählung III. München 1991. 325-331, sowie die lange Anmerkung 46 auf S. 282 (fortan zit. als ZEIH); G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Werke. Bd 20. Hrsg. v. K. M. Michel, E. Moldenhauer. Frankfurt/M. 1986. 476. 9 Gewiß läßt sich diese, auf die Suche nach einem verstandenen Selbst angewandte Deutung, bei aller formal gegebenen Verwandtschaft, nicht mit dem Ansatz einer archäologisch-teleologischen Metaphysik ohne weiteres kurzschließen. Vgl. dazu die Hegel-Interpretation M. Theunissens: Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat. Berlin 1970.335 ff, 368-385. 10 Ricceur: Hegel aujourd'hui. 343, 347; Hermeneutik und Strukturalismus. München 1973. 32. 11 Vgl. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Werke. Bd 3. Hrsg. v. K. M. Michel, E. Moldenhauer. Frankfurt/M. 41980. 23,225,231,585 (= Werke 3). Es ist die Zeit des Geistes bzw. seiner Verwirklichung im Sinne eines Zu-sich-selbst-Kommens, die sich kreishaft rundet, nicht etwa die reale Zeit des Lebens oder die historische Zeit. Alles, was rückhaltlos verzeitlicht ist, erscheint Hegel als ohnmächtig, insofern es nicht in der Lage ist, sein Ende an seinen Anfang zu knüpfen. Vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd I. Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg. y. J. Hoffmeister. Hamburg 1994. 55, 72, 88, 131. Fortan zit. als VG. Ein „rückkehrloses" Überantwortetsein an eine
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„Wiederholung" der Vergangenheit des Geistes letztlich nicht, die am Ende sollte wiederfinden können, was der Geist „an sich schon war", so gleicht sein Werden eher einem Exodus als einer Odyssee. Dennoch bleibt Ricoeur vom archetypischen Vorbild der Odyssee tief beeindruckt.12 Selbst der Ulysses bleibt in seinem Verständnis noch an diesem Vorbild - wenn auch negativ - orientiert. Der geschichtliche Sinn der Vernunft scheint Ricceur ganz und gar in einer mit Heidegger und von Kierkegaard her gedachten „Wiederholung" des Vergangenen als des Gewesenen zu liegen. Doch kann einem geschichtlichen, sich nachträglich auf das Gewesene zurückwendenden Begreifen des Vergangenen nach Ricceurs Ansicht eine Versöhnung mit der Tragik des Geschehenen nicht gelingen. Zugleich kann es sich dem Geschehenen gegenüber nicht indifferent verhalten, wie es Hegel unterstellt, wenn er beiläufig bemerkt, das Unrecht, das dem einzelnen in der Geschichte widerfahre, gehe die Weltgeschichte nichts an.13 Heißt das, daß die Tragik des Geschehenen letztlich unbegriffen bleibt und nicht „aufgehoben" werden kann? Kann das nicht Aufzuhebende gedacht werden? Hebt man es nicht auf, wenn man es denkt?14 Oder widersetzt es sich einer schriftlich fixierbaren Sagbarkeit, die nur als zugleich der Lesbarkeit geöffnete in den Zusammenhang der Überlieferung eingehen kann? Scheitert die Totalisierung der Überlieferung erst auf dieser Ebene - aufgrund einer unüberwindlichen, radikalen Endlichkeit des historischen Bewußtseins, wie Gadamer meint - oder trennt sich bereits auf der Ebene der Erfahrung der integrale, idealistisch hypostasierte Zusammenhang von Sein und Wissen, von Wirklichkeit und Vernunft auf? Genau diese Vermutung präsentiert Ricoeur als ein Ergebnis, vor dem wir bereits definitiv stünden.15 Die Dialektik ist nicht mehr die „wirkliche" Logik der Realität, die den Sieg des Allgemeinen herbeiführt; und der Geschichte können wir nicht länger den emphatischen Begriff einer Wirklichkeit unterschieben, die im Unterschied zu einem „abstrakten" Sollen die Macht hätte, die Verwirklichung des Geistes aus eigener Kraft voranzuZeit zu denken, die nicht zu „wiederholen'7 ist, versucht in Anknüpfung an Hegel /. Derrida: Falschgeld. Zeit geben I. München 1993. Vgl. 18 f. 12 P. Ricoeur: The human experience of time and narrative. In: Research in Phenomenology. 9 (1979), 17-34, hier: 31 f. 13 VG, 76. 14 Hegel deutet diese Frage - und seine Antwort - selbst an: „Gäbe es so etwas, was der Begriff nicht verdauen, nicht auflösen könnte, so läge dies [... ] als die höchste Zerrissenheit, Unseligkeit da. Aber gäbe es so etwas, so wäre es nur der Gedanke selbst, wie er sich selbst faßt." (VG, 181) 15 Vgl. P. Ricoeur: Hegel aujourd'hui. 342-346; Philosophieren nach Kierkegaard. 571.
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treiben. Uns wird zunächst nicht gesagt, was denn zeigt oder beweist, daß dieses Resultat fortan als verbindliches zu betrachten ist und woraus es zwingend resultiert. Hier wird in „Hegelschen Ruinen", in den Trümmern einer gescheiterten Totalisierung gedacht, mit Mitteln aber, die ihren Sinn gerade dem gescheiterten Versuch Hegels verdanken.16 Bei diesem negativen Ergebnis stehen zu bleiben, würde freilich verkennen lassen, was denn - anders - zu denken gibt.17 Was veranlaßt Ricoeur, von einem „neuen Ursprung" nach Hegel zu sprechen, der die Geschichte, auch die Geschichte der begrifflichen Mittel, mit denen wir sie zu verstehen versuchen, auf eine Weise zäsuriert, die es offenbar nicht mehr gestattet, die vom späten Husserl erneuerte Tradition einer archäologisch-teleologischen Vernunft (in) der Geschichte einfach fortzuschreiben?18 Wenn die selber geschichtlich verfaßte Vernunft, die „Vernunft in der Geschichte", von der Hegel spricht, von diesem Ursprung selbst auf irreversible Weise affiziert ist, so daß sich ein Zurück zu Hegel verbietet, kann sie dann noch als Vernunft der Geschichte gelten, als eine Vernunft, die jegliche „Herabsetzung, Zertrümmerung, Zerstörung der vorhergehenden Weiseln] der Wirklichkeit", die sich ein Begriff des Geistes „durchgebildet hatte", müßte „unbeschädigt" überleben können?19 Diese Vernunft erscheint uns nun als selbst erschütterte. Es sind Rückfragen einer erschütterten Vernunft, die uns über diesen auf noch unverstandene Weise maßgeblichen Ursprung hinweg zur Vergangenheit hinzuwenden zwingen, um die Zäsur zu verstehen, die sich inzwischen ereignet hat und aus der Hegel-Kritik etwas anderes macht als ein intellektuelles Spiel.
16
Vgl. Fr. Hogemann: Ricceurs ,Zeit und Erzählung'. In: Hegel-Studien. 23 (1988), 256264, hier: S. 262; vgl. P. Ricoeur: A l'ecole de la phenomenologie. Paris 1986.57. 17 Nicht nur das Symbol, auch das inzwischen Geschehene „gibt zu denken" (Kant), so aber, daß das, was sich als zu Denkendes der begrifflichen Aufhebung verweigert, dennoch nicht einer wesenlosen Nicht-Wahrheit preisgegeben ist. Wo Hegel nur diese Alternative (die Alternative von „Wirklichkeit" und bloßem „Dasein") sah, ist uns ein dritter Weg zu denken aufgegeben. is Von einer solchen Erneuerung ist zu reden, obgleich die Abstandnahme Husserls von Hegel dezidiert und deutlich war; vgl. /. Derrida: Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. München 1987, sowie den Kommentar O. Pöggelers: Heidegger und Hegel. In: Hegel-Studien. 25 (1990), 139-160, hier: 154 ff. 19 Vgl. VG, 96.
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II. Was uns inzwischen als - anders- zu denken aufgegeben ist, läßt sich nur im Kontrast, im Widerspruch und Widerstreit mit Philosophien verstehen, die noch am anderen Ufer entstanden sind. Aber das Andere, das ihnen entgeht, bewohnt bereits unsere Zeit und zwingt sich uns als zu denken auf.20 Ricoeur selbst sieht sich mit dieser Frage erst am Ende eines langen Denkweges konfrontiert. In bezug auf Hegel beginnt dieser Denkweg mit der Anknüpfung der französischen, christlichen Variante des sogenannten Existentialismus an Kierkegaards Häresie,21 um zunächst einzuklagen, was sich dem „Allgemeinen" und dem „System" der Vernunft nicht fügt; dieser Denkweg wird schließlich ausgehend von der Unmöglichkeit einer Rechtfertigung der Geschichte - in den Versuch münden, einer Vernunft den Weg zu bahnen, die sich affizieren läßt angesichts der Opfer, die die Geschichte angeblich „kostet" und „fordert". Eine nicht-indifferente Vernunft soll denkbar werden, die nicht etwa nur begrifflich mit einer Logik der Geschichte versöhnt, um die Opfer und die vorläufig Überlebenden der Trostlosigkeit ihres Schicksals zu überlassen, das man im Namen einer souverän jeden Untergang überlebenden Vernunft rechtfertigt. Die von Hegel vollzogene und gebilligte Trennung von Trost und Versöhnung22 erscheint Ricceur als objektiv unannehmbar angesichts von „Geschichtszeichen" (Kant), die uns eben diese Unannehmbarkeit im Lichte schlechterdings nicht zu rechtfertigender Ereignisse zu denken aufgeben.23 Der frühe Ricoeur sympathisierte mit einem maßgeblich von Gabriel Marcel und vom Personalismus Emmanuel Mouniers beeinflußten, christlich gedeuteten Marxismus. Sein besonderes Augenmerk galt freilich, wie Ricceurs mehrfache Auseinandersetzung mit Merleau-Pontys Büchern Humanismus und Terror und Die Abenteuer der Dialektik zeigt, einer „Pathologie" des Marxismus, der an sich als verbindlich erachteten Philosophie der Geschichte überhaupt.24 Eine Geschichtsphilosophie, 20
Die Frage ist freilich, ob es sich noch um ein Hegelsches „Denken" wird handeln können, dem zuzutrauen wäre, sich jeden Stoff zu assimilieren; vgl. VG, 32,42. 21 Vgl. P. Ricoeur: Lhumanite de l'homme. 317 f. 22 Zu Hegels Zurückweisung des Trostes, der bloß „im Endlichen zuhause" sei, vgl. VG, 78. 23 ZEIH, 319. 24 P. Ricoeur: Le yogi, le commissaire, le proletaire et le prophete. In: Christianisme social. 57 (1949), 41-54.
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die wie diejenige Merleau-Pontys den Sinn der Geschichte bzw. der Vernunft in der Geschichte ganz und gar einem unvorhersehbaren geschichtlichen Geschehen auszuliefern scheint, um jeden Gedanken an eine „vertikale Transzendenz" zu ignorieren, droht sich nach Ricoeurs Einschätzung einer orientierungslosen Zeitlichkeit auszuliefern.25 Ricoeur hält dafür, daß die Geschichte zugleich ihre „dimension ,longitudinale'" einbüßen muß, wenn man ihre „vertikale" Dimension aus dem Blick verliert.26 Die Ausrichtung der Geschichte an einer vertikalen Transzendenz, die Ricceur in die Nähe einer kantischen regulativen Idee rückt, konfrontiert den Marxismus mit einer „existentiellen" Problematik, der er nicht gerecht werden könne. „L'echappatoire marxiste aux difficultes de l'ethique existentialiste reste une issue illusoire .. ."27 Nur eine existentielle Philosophie trage einer geschichtlich situierten Freiheit Rechnung, die sich aus eigener Verantwortung28 zur vertikalen Transzendenz, letztlich zum „ganz Anderen" verhält. Mit Kierkegaard aber glaubt Ricceur, daß sich diese Freiheit dem Allgemeinen nicht unterwirft;29 woraus aber nicht folgt, daß Hegel deshalb umstandslos zu „verabschieden" wäre. „Ich glaube", erklärt Ricceur in dem programmatischen Aufsatz Philosophieren nach Kierkegaard aus dem Jahre 1963, daß der „Gegensatz zwischen Hegel und Kierkegaard als solcher in den philosophischen Diskurs einzuführen ist. Auf der einen Seite kann die Distanz zwischen dem ganz Anderen und dem Menschen nicht ohne die Idee einer einschließenden Relation gedacht werden, die mit der Idee reiner Transzendenz Schluß macht. Sobald man von Transzendenz spricht, denkt man eine Totalität, die die Relation zwischen dem Anderen und mir selbst umschließt. In diesem Sinne hebt sich die Idee von Transzendenz selber auf, und Hegel wird gegen alle Forderung, die unendliche Distanz zwischen dem absolut Anderen und dem Menschen zu denken, immer Recht behalten. In diesem Sinn negiert sich auch jede ethische Sicht selber in dem Augenblick, wo sie versucht, sich auszusprechen. Auf der anderen Seite ist dieser Gesichtspunkt nirgends ohne denjenigen gegeben, der die profunde Identität des Wirklichen und des 25 Ebd. 48,51. Drastisch spricht Ricceur vom „Rückfall" einer „Amputation" der Transzendenz in einer Geschichte „hegeliano-marxiste". 26 Ebd. 51. 27 Ebd. 50. 28 Vgl. P. Ricosur: Dimensions d'une recherche commune. In: Esprit. (1948), 837-846. 29 Vgl. die Wiederaufnahme dieser Problemstellung bei /. Derrida: Den Tod geben. In: Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida - Benjamin. Hrsg. v. A. Haverkamp. Frankfurt/M. 1994. 331-^445, bes. 387 ff.
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Vernünftigen, des Existierenden und des Bedeutenden, des Individuums und des Diskurses im Auge hat. Und mit Kierkegaard muß man immer zu diesem Geständnis zurückkommen: ich bin nicht der absolute Diskurs; existieren bedeutet nicht wissen ..die Einzigartigkeit wird am Rande des Diskurses immer wieder geboren. Man braucht also einen anderen Diskurs, der darauf Rücksicht nimmt und es sagt."30 Ich werde an dieser Stelle nicht versuchen, das Recht jener, nach Kierkegaard immer wieder vorgebrachten Kritik am Denken des Allgemeinen als einer Unterdrückung des Individuellen und des Einzigartigen zu beurteilen. Mir geht es vielmehr zunächst um die Folgen dieser mit Kierkegaard erfolgten Weichenstellung für den weiteren Denkweg Ricoeurs. Was hier Einzigartigkeit genannt wird, paßt nicht ins System des Allgemeinen; aber darum können wir sie dennoch nicht einfach vergessen. Sind es nicht „Einzigartige", die sprechen und aus der Endlichkeit ihrer Existenz heraus nach Wissen verlangen und in den Diskurs eintreten? Genau deshalb ist das gesagte Wissen nicht alles. In ihm kommt zur Sprache, was nicht immer schon Gesagtes und Wissen ist, sondern ihm zuvor Sagen und Existenz. „In diesem Sinne ist die irrationale Seite von Kierkegaards Erfahrung genauso gut eine Quelle der Philosophie wie jede Genialität."31 Und diese Erfahrung kann als das, was nach Wissen verlangt, im Rahmen einer existentialen, ontologischen Philosophie, die mit Heidegger gleichsam die „Kategorien" (oder vielmehr die „Existentialien") der Existenz reflektiert, selbst zum philosophischen Thema werden. Folglich bedeutet die Frage nach der menschlichen Existenz „nicht den Tod der Sprache und der Logik; im Gegenteil, sie erfordert einen Zuwachs an Klarheit und Schärfe. Die Frage: was bedeutet das, zu existieren? Kann nicht von dieser anderen Frage losgelöst werden: Was bedeutet das, zu denken? Die Philosophie lebt aus der Einheit dieser beiden Fragen und stirbt an ihrer Trennung."32 Keineswegs läßt Ricoeur die Einzigartigkeit menschlicher Existenz geradewegs in die Unbegrifflichkeit ausscheren. Sie kann und muß selbst 30
Ricoeur: Philosophieren nach Kierkegaard. 593. Hervorhebung B. L. Ich betone hier das „Sagen", weil die Annahme, der Diskurs könne die Einzigartigkeit aussagen und insofern in sich aufheben, offenbar keineswegs über Hegel hinauszuführen verspricht. Die späten, stark von Levinas beeinflußten Arbeiten von Ricoeur reflektieren dieses Problem deutlich und spielen mit dem Gedanken eines anderen Sagens, das sich im Spannungsfeld zwischen Einzigartigkeit und Diskurs (im Sinne des Aussagbaren) bewegen könnte. Vgl. P. Ricoeur: Emmanuel Levinas, penseur du temoignage. In: Repondre d'autrui. Neuchatel 1989.17-^0. 31 Ebd. 595. 32 Ebd. 596.
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zur Sprache kommen; aber als das, was sich dem System widersetzt und sich doch dem Wissen öffnet und selbst nach ihm verlangt. So wenig wie die Nicht-Philosophie das Ende der Philosophie ist (da sie vielmehr als der ständige Grund ihres Anfangens fungiert), so wenig ist die Existenz das Ende des Denkens, obgleich wir damit rechnen müssen, daß sich das, was uns „sein" läßt, immer wieder einer Aneignung durch das Denken entzieht. Sein und Denken kommen nicht bloß vorläufig nicht zur Deckung. Das aber heißt, daß auch die Geschichte nicht sich selbst genügt, sondern auf unentrinnbare Weise mit einer Alterität verknüpft ist, der sie nicht Herr wird und der sie doch verpflichtet bleibt.33 Der Hegelschen Versuchung, die Geschichte als eine einzige, apriori im Lichte ihres Endes als versöhnt erscheinende Kontinuität eines „großen Sinnes" zu beschreiben, widersetzt sich die Ereignishaftigkeit, in der einzigartige Wesen geschichtliche Wirklichkeit zeitigen. Wir sprechen zwar von „der" Geschichte, „weil wir erwarten, daß ein menschlicher Sinn diese einzige Menschheitsgeschichte eint und vernünftig macht". Aber in der Geschichte als der Wissenschaft von den Menschen der Vergangenheit sprechen wir auch von den Menschen in der Mehrzahl, weil wir erwarten, daß die einzelnen als „radikal vielfache Zentren der Menschheit" auftreten.34 Die Pluralität der Menschen geht nicht in einer Summe oder in einem Kollektivbegriff auf. Und zum „einzelnen" haben wir, sobald er nicht bloß als eine numerische Größe, als Statist - sei es als „Held", sei es als „Kammerdiener" - der Geschichte, auftritt, ein Verhältnis, das es uns verbietet, ihn mit allen anderen „in einen Topf zu werfen".35 Die Geschichte der Menschheit ist nichts über den Ereignissen; sie ist nichts als deren Sinn. Aber die Ereignisse werden von einzelnen gezeitigt, deren Leben nicht bloß eine kümmerliche anekdotische Partikularität darstellt, die - abgesehen von sogenannten „historischen" Größen - im System der Geschichte keinen Platz beanspruchen kann. Die einzelnen verlangen nach „jenem Typus von Verstehen, der darin besteht, sich in einen anderen zu versetzen", aber als „zweite Person", nicht als mit jedem beliebigen anderen bereits gleichgeschalteten Dritten. Die Geschichte aber spricht nur von Dritten. Sie hat, wie es scheint, kein Verhältnis zum Anderen als Anderem, wie es uns, in Ricceurs Ver33
Vgl. vom Verf.: Geschichte und Überleben angesichts des Anderen. Levinas' Kritik der Geschichte. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 44 (1996), 389^406. 34 GW, 61. 33 GW, 72.
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ständnis, etwa die Freundschaft eröffnet. Vollkommen sinnhaft könnte die Geschichte nur um den Preis erscheinen, daß sie die Anderen als Andere vergessen ließe und die von ihnen gezeitigten Ereignisse in ein umfassendes System eingliederte. Ein solcher Triumph der Kohärenz des „Systems" wäre freilich ein Pyrrhussieg, denn er ließe ein „riesiges Stück Brachland zurück: Dieses Brachland ist aber gerade die Geschichte." Zurück bliebe so nicht nur ein unermeßliches Feld von UnSinn, der in eine im Licht der Vernunft betrachtete Geschichte ohnehin nicht eingehen kann; unberücksichtigt blieben vielmehr auch vielfältige Quellen „anderen Sinns", die nicht in eine kompossible Welt-Geschichte eines totalen Sinns eingehen können, der die „Totahtät aller Gesichtspunkte" berücksichtigte.36 „Aus diesem Grunde ist es unmöglich, Hegelianer zu sein."37 Die Möglichkeit des anderen Sinns liegt nicht nur darin begründet, daß man stets konkurrierende, teils unvereinbare Geschichten derselben Vergangenheit schreiben kann. Sie liegt tiefer noch in einer „radikalen Intersubjektivität" des geschichtlichen Sinns selbst begründet. Angesichts des Anderen, der nicht auf eine „dritte Person" zu reduzieren ist, bin ich in ein 'Währheitsgeschehen verwickelt, das grundsätzlich nicht in der ausgesagten Wahrheit adäquat zur Geltung kommen kann, die mich und den Anderen nur als Menschen wie alle anderen zu Wort kommen läßt. Aber kann die Geschichte von diesem Geschehen sprechen? Handelt sie nicht stets nur von Dritten - von „Zeitgenossen", „Vorfahren", „Ahnen", die in ihren geschichtlichen Rollen nur maskiert auftreten? Für Ricceur kann es jedenfalls keinen echten Dialog zwischen Lebenden und Toten geben. Und doch handelt die Geschichte von der Vergangenheit der Menschen in ihrer radikalen Pluralität. Diese aber verstehen zu wollen, müßte die Geschichte ebenso wie das System, das diese Pluralität ignoriert, aufheben. Die Anderen, die die Ereignisse zeitigten, lassen die Geschichte als eine diskontinuierliche erscheinen; das Geschichtsdenken dagegen, das die Ereignisse diachron verkettet, macht aus ihnen eine virtuell ununterbrochene Textur. Ricceur spricht in diesem Zusammenhang von einer Antinomie der geschichtUchen Zeit selbst. „Der Begriff des Sinns erschöpft sich nicht in den Begriffen Entwicklung und Folge; die von den Ereignissen gebildeten Knotenpunkte der Geschichte sind keineswegs Herde des Un-Sinns, sondern
36 37
Vgl. VG, 32. GW, 74.
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durchaus organisierte [signifikante] Zentren."38 Das laterale Ausstrahlen anderen Sinns, das von jedem dieser Zentren ausgeht, kann keine diachrone Verkettung ganz einfangen. Es handelt sich um Knotenpunkte, die auf teils gegensätzliche Weise Geschichten und Gegen-Geschichten als Markierungen dienen können. Jede dieser Geschichten wird anderen Sinn draußen lassen. Mehr noch: jede dieser Geschichten droht als Gesagtes das ständig sich ereignende Leben angesichts des Anderen als der „zweiten Person" in Vergessenheit fallen zu lassen. Der ethische Kern dieses Sichereignens ist für den Protestanten Ricoeur, daß der Andere gerade nicht nur als ein geschichtlich maskierter „Sozius", sondern als Nächster erscheint. „Der Nächste ..., das ist die persönliche Art und Weise, mit der ich einem anderen jenseits aller sozialen Vermittlung begegne; das ist die Begegnung, deren Sinn von keinem der Geschichte immanenten Kriterium abhängt."39 Gewiß ist der Andere auch Zeitgenosse, Mitmensch oder Bürger usw. Doch unterläuft der Andere, auch wenn er als Fremder begegnet, in seiner „aufrüttelnden Gegenwart" alle sozialen Kategorisierungen und Einstufungen.40 Gerade als Fremder „erfindet" er geradezu, wie Ricoeur sagt, die unvermittelte Beziehung von Mensch zu Mensch.41 Für das Geschehen dieser Beziehung aber ist die Geschichte blind. Sie verzeichnet nur das Getane, mit dem Hegel den Menschen gleichsetzt, während ihr das stumme, geschichtlich nicht sichtbare Geschehen unseres Lebens angesichts des Anderen nichts gilt.42 Die Geschichte hat keinen „Sinn" für diese Nicht-Geschichte.
38 GW, 62. GW, 123. Vgl. dazu P. Ricceur: Liebe und Gerechtigkeit. Amour et justice. Tübingen 1990. 40 Vgl. GW, 111. 41 Müßte die Beziehung aber nicht selbst diesen Begriff unterlaufen - zumal wir ihn längst nicht mehr ohne weiteres mit der „Menschlichkeit'' des Menschen kurzschließen können? 42 Wie alles, was nicht in einer Staats-Geschichte aufgeht, muß auch die Fürsorge für den Anderen nach Hegel dem Vergessen anheimfallen, wenn sie kein greifbares Resultat zeitigt. Gewiß ist die Sorge der Eltern für ihre Kinder beispielsweise ein über Jahre sich hinziehendes Tun. Doch worin - wenn nicht in einem „verlorenen" Sohn oder in einer „mißratenen" Tochter etwa - hat es sein Resultat? Was ist das „Getane" dieser Sorge? Wenn das Getane sich nicht objektiv identifizieren läßt, muß es jedenfalls der Nicht-Geschichte, der Nacht des vorübergehenden Daseins, der Äußerlichkeit, Zufälligkeit preisgegeben sein. Für den Gedanken, daß gerade in der Sorge für das der Zeit Preisgegebene Wahrheit liegen könnte (H. Jonas), ist hier kein Platz. Ricoeurs Hermeneutik der Handlung, die derjenigen von Hannah Arendt (Vita activa) sehr weit entgegenkommt, versäumt es, in dieser Perspektive der Differenz von Handeln und Handlung (im Sinne des Gehandelten) angemessen Rechnung zu tragen; vgl. Lectures. T. 1 Paris 1991. Bes. 54-61. 39
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Ricoeur ist allerdings weit davon entfernt, einer vom Anderen her bestimmten, der Geschichte sich widersetzenden Nächsten-Ethik das Wort zu reden, die „ohne Resonanz ..., vor allen verborgen, bar jeder geschichtlichen Tragweite" bleiben könnte. Ein im Sinne einer solchen Ethik intendiertes „reines Zeugnisablegen" für die Gewaltlosigkeit etwa genügt nicht. Es muß in der Geschichte Gestalt annehmen; und zwar so, daß es „mit der Wirksamkeit der Gewalt in der Geschichte konkurrieren kann".43 Der Kampf gegen das, was bislang Geschichte bedeutete, muß es in ihr mit ihr aufnehmen. Doch spricht Ricoeur auch von einer anderen, „verborgenen Geschichte", in die die Geschichte, wie sie „historisch" entziffert wird, ohne es zu wissen ihrerseits eingebettet zu denken sei.44 Es ist die Geschichte unseres Lebens angesichts des Anderen als des Nächsten, der, insofern er in geschichtlicher Perspektive nicht durch die vor allem an der Zahl seiner Opfer zu messende Größe seines Tuns auffällt, in Hegelscher Perspektive nur als Manövriermasse in einer Ökonomie des Allgemeinen gelten kann, die den für „historische Ereignisse" jeweils erforderlichen Anteil an Leid in Rechnung stellt45 Eines ist es, sich mit dem Uber-Leben des Allgemeinen, mit der geschichtlichen Substanz des Staates, in der Hoffnung zu identifizieren, so den Schrecken des Todes bannen zu können, dem wir ausgeliefert bleiben, „wenn ihn nichts überlebt".46 Ein anderes aber ist es, in Namen dieser Identifikation den Tod der Anderen - und sei es auch nur als „unvermeidlichen" - zu rechtfertigen. Und soweit dies Hegel vorzuwerfen ist, kann Ricoeur ihm nicht folgen. Der Staat schien ihm von Anfang an nicht mehr die „Substanz der Geschichte" darzustellen. Haben die Staaten nicht bis auf den heutigen Tag „durch Krieg überlebt"? Hat nicht eine schlechterdings nicht zu rechtfertigende Gewalt die Weitergabe all dessen ermöglicht, wovon man heute profitiert?47 Diese stillschweigende, weitgehend unreflektierte Kollusion mit dem Krieg kann uns nicht zu billigender Inkaufnahme dieser Form der Gewalt, des Mordens, nö« GW, 231,226,247. 44 GW, 113. 45 GW, 112. 46 Hegel: Werke 1,206. 47 Diese an Nietzsche und an W. Benjamins geschichtsphilosophische Thesen erinnernde Überlegung muß nicht ein billigendes Sichabfinden mit dem Krieg zur Folge haben. Nur auf den ersten Blick bleibt allein dieser Ausweg, wenn es heuchlerisch erscheint, zwar die Resultate der Geschichte, von denen man profitiert, zu billigen, nicht aber die Mittel, die diese Resultate gezeigt haben. Vgl. S. Avineri: Hegels Theorie des modernen Staates. Frankfurt/M. 1976.231 ff.
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tigen. Auch der Hinweis auf Befreiungskriege ändert in Ricoeurs Sicht nichts daran, daß der Krieg als solcher das nicht zu Rechtfertigende par excellence darstellt.48 Erfährt aber nicht das nicht zu Rechtfertigende, das Böse des Krieges49 eine Rechtfertigung, wenn Hegel in der Rechtsphilosophie erklärt, der Streit der Staaten könne nur durch Krieg entschieden werden und der Krieg sei im übrigen ohnehin ein Palliativ gegen das indifferente Verharren der Völker in ihrer Endlichkeit, im Tod ihres eingewöhnten Lebens?50 Rechtfertigt Hegel nicht einen „auf die zwischenstaatlichen Beziehungen projizierten Kampf ums Dasein“, um begründen zu können, daß das Böse des Krieges nicht „umsonst" sei, daß es also als Bestandteil einer Ökonomie der Vernunft in der Geschichte gelten könne?51 Dem Denken einer solchen Ökonomie, die den Tod des Anderen rechtfertigen könnte, verweigert Ricceur vor allem in dem Essay Staat und Gewalt (1957) eindeutig die Gefolgschaft. Wenn er feststellt, der Staat habe bis in unsere Zeit hinein den Mord als Bedingung seiner Entstehung, seiner Existenz, seines Überlebens und seines Fortbestandes eingeschlossen,52 so möchte Ricceur zwar keineswegs einem mit der gewaltsamen Geschichte nicht infizierten Pazifismus das Wort reden: auch das Zeugnis für die Gewaltlosigkeit, das sich dem staatlich verordneten Kriegsdienst verweigert, kann vielfach nur die Form der geringeren Gewalt annehmen. Doch ist Ricceur weit davon entfernt, deswegen schon den zwischen Staaten „institutionalisierten Mord" als „normales" Movens der Vernunft in der Geschichte anzuerkennen oder zu billigen. Diese Weigerung, das Böse als dem Fortschritt der Vernunft in der Geschichte dienendes zu rationalisieren und infolgedessen zu erklären, es geschehe nicht „umsonst", ist, wie in Geschichte und Wahrheit, der Kern der Wiederaufnahme vom Ricoeurs Auseinandersetzung mit Hegels Geschichtsphilosophie in Zeit und Erzählung.53
48 GW, 245. 49 Den Begriff des Bösen als des nicht zu Rechtfertigenden übernimmt Ricceur von Nähert. 50 Vgl. Avineri: Hegels Theorie. 240; A. Kojeve: Hegel. Frankfurt/M. 1975.149; Hegel: Werke 2.482; Werke 7,500-512. 51 GW, 244. 52 GW, 243. 53 ZEm,315.
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III. Hier kehren viele von Geschichte und Wahrheit her vertraute Gedanken wieder; so der Gedanke einer Pluralität des Geschichtlichen und der Wahrheit, die in „Geschichten" zur Sprache kommt. Eine „Fabel aller Fabeln" kann es nicht geben.54 Denn die unvermeidliche historische Perspektivität des Erzählens hat es - ganz anders als es Chladenius im Anschluß an Leibniz verstanden wissen wollte - prinzipiell mit Inkompossibilitäten des Erzählbaren zu tun.55 Diese Argumentation erscheint nicht toto coelo verschieden von dem, was wir schon in Geschichte und Wahrheit lesen können. Was Ricoeur allerdings dort als „Geschichte zweiten Grades" diskutiert, entspricht lediglich in etwa dem, was Hegel unter „kritischer" Geschichte verstand. Dem „apriorischen Gedanken", daß es in der Geschichte vernünftig zugegangen sei, kann aber nicht mittels einer „kritischen" Erzählung des Vergangenen Rechnung getragen werden.56 Hegel läßt keinen Zweifel daran, daß es ihm nicht um eine „vernünftige Erzählung" geht, die aus seiner Sicht auch bei einer indifferenten Kenntnis des Vergangenen stehen bleiben könnte.57 Ricoeur meint, es gehe Hegel geradezu um eine „Aufhebung alles Erzählerischen"58 in einer Geschichte, die der auf narrativem Wege niemals direkt zu verifizierenden Leitung einer „immanenten Vernunft" unterworfen ist; einer Vernunft, für die die Menschen und die Völker Mittel eines finalen, welt-geschichtlichen Zwecks darstellen, dessen Verwirklichung in ihrem Tun, auch ohne ihr Wissen, angelegt ist.59 Das Vorankommen der Vernunft in der Geschichte hängt überhaupt nicht davon ab, welche Folgen unseres Tuns beabsichtigt waren und welche nicht.60 Nicht einmal im Fall „welthistorischer" Individuen kommt es darauf an.61 Entscheidend ist vielmehr, daß das Geschehene sich nach54
ZEIH, 332. Eine solche Idee findet sich freilich bei Hegel gar nicht. Die Frage ist allerdings, wie eine von der verwirklichten Vernunft (in) der Geschichte her zu schreibende Weltgeschichte denn aussehen könnte, die die „Totalität aller Gesichtspunkte" (VG, 32) berücksichtigte. Hier muß offen bleiben, wie Hegel die Konzeption einer narrativen Perspektivität, wie sie Chladenius im Anschluß an Leibniz dargelegt hatte, für diesen Fall berücksichtigt hätte. Chladenius denkt noch ein „Geometral" aller möglichen Perspektiven; ein Gedanke, dem Ricoeur gerade widerspricht. 55 Vgl. ZEI, 227,239 f. 56 ZEIH, 314. 57 Hegel: Werke 2,15; Werke 20,468 f, 513 ff. 58 ZEIH, 315,322; vgl. Hegel: Werke 1,197; Werke 2,46; Werke 3,591; Werke 10,351 ff. 59 Ebd.,316. 60 ZEIH, 319. Vgl. Ch. Taylor: Hegel Frankfurt/M. 1978.550. 61 Vgl. Hegel: Werke 1.446.
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träglich stets als im Sinne des finalen Zwecks der Geschichte vernünftig heraussteilen kann. Das heißt nicht, daß eine Hegel zu unrecht vorgeworfene apriorische Geschichtsschreibung möglich wäre.62 Keineswegs geht es darum, reale, später erst zu erzählende zukünftige Geschehnisse im vorhinein aus der Vergangenheit zu deduzieren bzw. zu extrapolieren im Sinne einer „wahrsagenden" Geschichtsschreibung (Kant).63 Was auch immer auf unvorhersehbare Weise geschehen wird, wird vielmehr im Nachhinein eine Retrodiktion gestatten, die im Vergangenen das gewesene Vernünftige wiederzuerkennen erlaubt. Auch die Gegenwart wird nur als künftige Vergangenheit vernünftig gewesen sein können.64 Nur insofern ist sie es jetzt schon. Das gegenwärtig Wirkliche ist vernünftig, insofern sich in ihm das Vernunft-Werden vollzieht. Nicht das reale, sich womöglich auf Ab- und Umwegen verlierende geschichtliche Geschehen, wohl aber dessen langfristiger Sinn erscheint insofern als vorentschieden.63 Keineswegs läßt Hegel nur geradlinige Verlaufsformen des geschichtlichen Prozesses zu: „Es gibt in der Weltgeschichte mehrere große Perioden der Entwicklung, die vorübergegangen sind, ohne daß sie sich fortgesetzt zu haben scheinen, auf welche vielmehr der ganze ungeheure Gewinn der Bildung vernichtet worden ist und unglücklicherweise wieder von vom angefangen werden mußte, um mit einiger Beihilfe etwa von den geretteten Trümmern ..., mit erneuertem unermeßlichen Aufwand von Kräften und Zeit, von Verbrechen und von Leiden, wieder eine der längst gewonnen gewesenen Regionen [der] Bildung zu erreichen." Doch stets muß der „Geist" in Form einer residualen „Bildung" überleben, an der wieder anzuknüpfen ist; andernfalls drohte ein absolutes Vergessen, und der Geist späterer Zeiten könnte nicht „alle in der Geschichte als früher erscheinenden Stufen in sich begreifen".66 Diese Geschichte beschreibt Hegel als die „Entwicklung" eines Ansich, das lediglich zu sich kommen soll. Insofern hat es die Geschichtsphilosophie hier weder mit dem zu tun, „was nur gewesen ist", noch 62 Hegel: Werke 10.348. 63 GW, 35,107. 64 Vgl. GW, 58. Die Vernunft in der Geschichte bedarf insofern stets der konkreten, erst nachträglich möglichen Bewahrheitung. Versöhnendes Geschichtsdenken ist immer nur in „rückschauendem Durchschauen der Gründe gegenwärtiger Geschichtswirklichkeit" möglich, heißt es in Übereinstimmung mit der Vorrede zur Hegelschen Rechtsphüosophie bei Theunissen: Hegels Lehre. 385 f. 65 Vgl. /. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt/M. 21985. 55; O. Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt/M. 1982.41 ff. 66 VG, 152,182.
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bloß mit dem, „was erst nur sein wird".67 Gerade deshalb lautet nun Ricoeurs Vorwurf, Hegels Aufhebung der Vergangenheit in einer ewigen Gegenwart tilge die Differenz des Gegenwärtigen zum Vergangenen, an der sich überhaupt erst „historisches" Bewußtsein entzünde.68 Insofern die Vernunft sich „unbeschädigt" im Hintergrund dieser Gegenwart hält, wird sie nicht, wie die Geschichte seit dem 18. Jahrhundert, „verzeitlicht" gedacht. Die in der Geschichte sich durchsetzende Vernunft der Geschichte erscheint bei Hegel nirgends als eine selbst geschichtlich erschütterbare 69 Wäre diese Vernunft selbst verzeitlicht zu denken, geriete sie selbst in den Sog der sie gestaltenden, aber auch sie deformierenden und von ihrem Weg ablenkende Ereignisse, so würde nichts mehr gestatten, die unvorhersehbaren Formen dieser Verzeitlichung im Sinne einer progressiven, allerdings erst nachträglich zu bewahrheitenden Verwirklichung eines vorgängigen An-sich zu deuten.70 Nicht nur die erzählbare Geschichte, die geschichtliche Vernunft selbst wäre dann mit einer Kontingenz infiziert zu denken, die sich auch nachträglich nicht mehr entschärfen ließe. Vom Einbruch einer solchen Kontingenz geht Ricceur aus, wenn er sagt, der „Verlust an Glaubwürdigkeit", der Hegels Geschichtsphilosophie getroffen habe, stelle für uns eine Art „neuen Ursprungs", ein „Ereignis im Denken" dar, „von dem wir nicht sagen können, ob wir es herbeigeführt haben oder ob es uns widerfahren ist - von dem wir nicht wissen, ob es eine Katastrophe ist, deren Wunden noch nicht verheilt sind, oder eine Befreiung, über die wir nicht glücklich zu werden vermögen". Der dem Anschein nach faktisch bereits erzwungene „Ausgang aus dem Hegelianismus" wird fortan „mit unserer Art zu fragen so innig verwachsen [sein], daß wir ihn nicht noch durch irgendeine Vernunft legitimieren 67 Vgl. ZEIH, 324. 68 ZEIH, 329. Die Frage, die Ricoeur auch in seiner Anknüpfung an den Spurbegriff von Levinas und in seiner Kritik von de Certeau allerdings offen läßt, ist, wie radikal diese Differenz anzusetzen ist. Vgl. die in Anm. 33 zit. Arbeit des Verf. 69 Hegel war überzeugt davon, daß alles Geschehene „sich dem Begriffe einfügen wird" (VG, 42,32). Aber wie kann man das bereits im vorhinein wissen? Wenn feststeht und wenn es zum Apriorischen der Geschichte, das Hegel verteidigt, gehört, daß die Vernunft unbeschädigt aus jeder Asche wird wiederauferstehen können, dann steht sie in der Geschichte nicht selbst auf dem Spiel. Und nur deshalb kann sich die Vernunft in der Geschichte für Hegel trotz allem ungefährdet als Vernunft der Geschichte darstellen. Auf eben jenes „Wissen" aber können wir uns nicht mehr stützen. 70 Hier wäre Bergsons Begriff eines mouvement retrograde du vrai, den Ricceur in seiner großen Freud-Studie allzu schnell mit Hegel zusammenschließt, gerade gegen Hegel zu wenden. Vgl. die Kritik des Möglichkeitsbegriffs bei H. Bergson: Denken und schöpferisches Werden. Frankfurt/M. 1985.32 ff.
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können, die höher stände als die, die den Titel abgibt für Die Vernunft in der Geschichte - wir können nicht über unseren eigenen Schatten springen".7i Wie auch immer wir fortan die Frage nach dem Zusammenhang von Vernunft und Geschichte stellen werden, unser Fragen wird schon ein Antwortgeben auf diesen „neuen Ursprung'' sein, der sich bereits ereignet hat, ohne daß wir schon in der Lage wären, ihn angemessen zu beschreiben. Etwas hat sich ereignet, was uns von Hegel trennt und die Vernunft in der Geschichte mit einer irreduziblen Alterität dieses Ereignisses konfrontiert, so daß ein völlig adäquates geschichtliches Bewußtsein unmöglich geworden zu sein scheint. Wir wissen nicht, sagt Ricoeur, ob es sich um eine lediglich beschädigte Vernunft oder um eine gerade durch ihre Erschütterung befreite Vernunft handelt. Wenn uns Hegel vorschlägt, die Weltgeschichte als Weltgericht72 zu verstehen und auf den Trost zu verzichten, um zur Versöhnung zu gelangen, so müssen wir eingestehen, daß uns die Versöhnung mit den neuen, in unserer Zeit zu Tage getretenen Formen des nicht zu Rechtfertigenden nicht mehr gelingen will.73 Hegels Versöhnung gelingt nicht nur nicht; sie läßt auch nicht verstehen. Der Begriff der Verständlichkeit bzw. der Verstehbarkeit selbst hat Schaden gelitten.74 So behaupten die Trauer und die Trostlosigkeit angesichts des nicht zu Rechtfertigenden von neuem ihr Recht.75 In den Vorlesungen über die Vernunft in der Geschichte spricht Hegel mehrfach über Trauer und Melancholie. Ihm geht es nicht um die geschichtsphilosophisch bedeutungslose Trauer des einzelnen, „die am Grabe lieber Menschen bei persönlichen Verlusten und der Vergänglichkeit der eigenen Zwecke verweilt", sondern um eine „uninteressierte" Trauer über das, was der Geschichte des Geistes verloren geht. Aber geht wirklich etwas verloren, wenn der Geist sich durch den Tod dessen, was seiner Entwicklung zum Opfer fällt, nur „verjüngt", „erhöht und verklärt", um wie ein Phönix aus der Asche der Geschichte 71 ZEIH, 326. 72 Vgl. die Hinweise bei O. Pöggeler: Geschichtsphilosophie ohne Dogma. In: Hegel-Studien. 27 (1992), 178-184. Hier sind die entscheidenden Verkürzungen der Hegel-Rezeption Kojeves zu bemerken; vgl. V. Descombes: Das Selbe und das Andere. Frankfurt/M. 1981. 22 ff, 39,78. 73 ZEIH, 319. 74 Hegel: Werke 20.503. 75 Das „große Warum kehrt wieder", könnte man mit Hegel sagen (Werke 2, 555). Die Antwort einer Rechtfertigung der neuen, in unserer Zeit zutage getretenen Formen des nicht zu Rechtfertigenden verbietet sich uns aber.
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wiederaufzuerstehen?76 Vergleichgültigt der Philosoph nicht die Trauer des Endlichen um das Endliche, das der „faulen" Wirklichkeit preisgegeben ist? Stellt er nicht nur eine Versöhnung jenseits der Trauer in Aussicht, die in der Trauer des Endlichen77 auch nicht zu trösten verspricht? Die Einsicht, daß das, „was sonst Wirklichkeit heißt", gerade nicht im Sinne der Vernunft in der Geschichte „an und für sich wirklich ist", erscheint Hegel zwar zunächst als tröstend „gegen die Vorstellung von dem absoluten Unglück, der Verrücktheit dessen, was geschehen ist". Doch ist Trost „nur der Ersatz für ein Übel, das nicht hätte geschehen sollen, und ist im Endlichen zu Hause". Die Philosophie, die den Gedanken einer nicht der vulgären geschichtlichen Wirklichkeit verhafteten und ihr nicht ausgelieferten Verwirklichung der Vernunft begründen möchte, „ist also nicht Trost; sie ist mehr, sie versöhnt, sie verklärt das Wirkliche".78 Den Philosophen mag tiefste, „ratloseste Trauer" befallen angesichts da-gewesenen Lebens, doch wird er sich nicht dazu hinreißen lassen, sich deswegen, weil dieser Trauer „kein versöhnendes Resultat das Gegengewicht hält", in „leeren, unfruchtbaren Erhabenheiten ... trübselig zu gefallen".79 Erhabene Gefühle mögen sich einstellen, wo man selbst, beim „Anblick der verworrenen Trümmermasse" des Vergangenen, bereits an „ruhigerem Ufer" steht, in einer ungefährdeten Gegenwart, die nicht Trauer über Vergangenheit, „sondern unsere Wirksamkeit [fordert]". Die entscheidende, notwendige Vergleichgültigung80 der Trauer kann freilich erst dann erfolgen, wenn realisiert wird, daß das Betrauerte dem finalen Zweck der Vernunft in der Geschichte zum Opfer fiel oder zum Opfer gebracht wurde. So amortisiert sich das Opfer.81 Der trauernde einzelne kann in die „Kränkung", ja in die „Zerstörung", die ihm selbst widerfahren wird, und in den Tod des Anderen einwilligen.
76 VG, 35. Zu diesem transzendental, aus einem existentiellen Spannungsverhältnis zwischen Endlichkeit und Universalität begründeten Begriff vgl. bei Ricceur: Die Fehlbarkeit des Menschen. Freiburg/München 21989. 78 VG, 78. 79 VG, 80. 80 Eine „kalte Verzweifelung" weist Hegel zwar zurück und stellt selbst einen „wärmeren Frieden'' mit der als vernünftig anerkannten Wirklichkeit in Aussicht (Werke 7, 27). Doch ist es auch ein „Friede", der uns den Tod des Anderen, gleich wie er sich ereignet, annehmbar macht? Wenn ja, so kann bereits von einer Vergleichgültigung gesprochen werden. 81 Vgl. Hegel: Sämtliche Werke 22.415. Hrsg. v. H. Glöckner. Stuttgart 1927 ff, 193. 77
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weil der Tod der Menschen - in the long run, wie man heute gerne sagt den Triumph des Wahren herbeiführen wird.82 Wollen wir die Verwirklichung des Wahren, so müssen wir auch die Gewalt billigen, die sie notwendig begleitet und die geradezu das Movens der Bewahrheitung des Wahren darstellt. Ohne Zweifel kann man von einer Rechtfertigung des Krieges bei Hegel sprechen - insoweit der Krieg für das Allgemeine geführt wird. Der Krieg, der der Verwirklichung der Vernunft dient, erfordert die rückhaltlose Entäußerung an das Allgemeine; er muß eine völlig „abstrakte Form haben, individualitätslos sein"; in ihm muß „der Tod kalt empfangen und gegeben werden, nicht durch die statarische Schlacht, wo der Einzelne den Gegner in das Aug faßt und im unmittelbaren Hasse denselben tötet, sondern [so, daß] der Tod leer empfangen und gegeben wird - unpersönlich, aus dem Pulverdampf".83 Hegel rechtfertigt den Krieg als das, was das Festwerden der Völker in ihrer Endlichkeit (wie auch den Tod der Individuen in der Gewohnheit ihres Lebens) verhindert und so den Prozeß des Geistes in Atem hält.84 Er rechtfertigt ihn überdies als das einzige Mittel, den Streit der Staaten zu entscheiden, die zu keiner Übereinkunft finden (s. o.).85 Nachdem mm einmal der Geist in einer ersten, selbst keiner Rechtfertigung fähigen Ur-Teilung86 in das Wirkliche sich entäußert hat, muß Hegel darüber hinaus die „Länge" der Zeit rechtfertigen, die der Geist „braucht", um sich zu verwirklichen. Hegel spricht von der „Langsamkeit des Weltgeistes", die allerdings nur vom Standpunkt der Endlichkeit aus ein Problem sein könne, denn „er hat Zeit genug, eben weil er selbst außer der Zeit, weil er ewig ist. Die übernächtigen Ephemeren haben zu ... so vielen ihrer Zwecke nicht Zeit genug; wer stirbt nicht, ehe er mit seinen Zwecken fertig geworden! Er hat nicht nur Zeit genug; es ist nicht Zeit allein, die auf die Erwerbung eines Begriffs zu verwenden ist; es kostet noch viel anderes: daß er ebenso viele Menschengeschlechter und Generationen an diese Arbeiten seines Bewußtwerdens wendet, daß er einen ungeheuren Aufwand des Entstehens und Vergehens macht, darauf kommt es ihm auch nicht an; er ist reich genug für solchen Aufwand;... er hat Nationen und Individuen genug zu depensieren."
82 83 84 85 86
Vgl. VG, 42; Hegel: Werke 7.278,512. Vgl. Kojeve: Hegel. 52. Hegel: Werke 7.502,492; Werke 2.482; Werke 3.395. Hegel: Werke 7.500. Vgl. Theunissen: Hegels Lehre. 62 f.
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Der Weg des Geistes ist nicht, wie der der Natur, der kürzeste, sondern der der Vermittlung, des Umwegs. „Zeit, Mühe, Aufwand, solche Bestimmungen aus dem endlichen Leben gehören nicht hierher.“87 Daß die Vernunft in der Geschichte nur den Weg der Geschichte selbst nehmen kann und daß sie folglich alle Verirrungen mitmachen muß, die die Absichten der Handelnden zerstreuen, vereiteln und pervertieren, hat Hegel ausführlich zu begründen versucht. Sind die in Rechnung zu stellenden Opfer, die Umwege der Vernunft und die Länge, über die sie sich hinziehen, aber darum gerechtfertigt? Genau das scheint Hegel anzunehmen. Ricoeur indessen widerspricht hier erneut. Für Hegel sind diese Opfer gar nicht der Vernunft selbst „in Rechnung zu stellen“ und anzulasten. Der Geist kapitalisiert den für sein Werden zu treibenden Aufwand zwar zum eigenen Vorteil; aber er „bezahlt den Tribut“ nicht selbst.88 Und die Kränkung89, die dem Besonderen dadurch widerfährt, daß es wie die Volker, die nicht mehr „zählen“, nur als Material der Kapitalisierung des absoluten Geistes in Betracht kommt, soll nicht in einer gegen den Geist und seine Kosten aufgemachten Rechnung als auszugleichende Schuld geltend gemacht werden. Gewiß, Hegel stellt dem, der sich mit dem Uber-Leben des Allgemeinen identifiziert, ein Nachleben als eine gewisse Entschädigung in Aussicht, die der Lebende bereits empfangen kann, wenn er sich im Blick auf seine spätere, antizipierte Anerkennung als Toter, dessen sich die Überlebenden erinnern werden, selbst belohnt. Aber dadurch wird die Weltgeschichte als das Gericht der Vernunft über alles, was ihrer Verwirklichung zum Opfer fällt, nicht gerecht.90 Hegel spricht, wie Kojeve betont, jedem Menschen als „einzig-artigem“ in seiner „unersetzbaren Einzigkeit" einen „absoluten Wert“ zu. Ist daraus nicht der Schluß zu ziehen, daß der „Einsatz“ und das Opfer dieses „Wertes", der geschichtlich mediatisiert wird, nicht in einer Ökonomie der Weltgeschichte zu legitimieren ist, die für eine ausgleichende Entschädi-
87 Hegel: Werke 20.506 f; 3,324 f. Vgl. Avineri: Hegels Theorie. 269. 88 VG, 105; vgl. Werke 7.506; Werke 10.353,10. 89 VG, 36,48. 90 Gewiß hatte Hegel den Entschädigungsgedanken; vgl. Werke 1, 80; sieht sich aber später gezwungen, die offensichtliche Ungerechtigkeit, die dem Einzelnen in der Geschichte widerfährt, einzugestehen - „doch das geht die Weltgeschichte nichts an" (VG, 76). Mehr noch: die Geschichte wird weder den jüngsten Tag eines gerechten Gerichts herbeiführen, noch sich selbst als das Gericht vollziehen können, insofern sie kein Verhältnis hat zur Nicht-Indifferenz angesichts des Anderen.
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gung zu sorgen hätte?91 Das Opfer eines absoluten „Wertes" schließt den Gedanken einer Kompensation aus. Dennoch wird die Gewalt, insbesondere die Gewalt, die dem einzelnen Menschen im Krieg für das Allgemeine so widerfährt, daß kein Gedanke an eine Entschädigung in Betracht kommen kann, gerechtfertigt. Da Hegel sich genötigt sieht, den Krieg zwischen den Staaten als einziges Entscheidungsmittel zwischen ihren unvereinbaren Ansprüchen zu legitimieren, muß er auch die im Krieg verübten Verbrechen, ja den Krieg selbst als ein Verbrechen rechtfertigen.92 Der von Hegel propagierte neue Typus des Kriegsdienstes, der sich dem vom Staat repräsentierten Allgemeinen selbstlos unterstellt, findet seinen angemessenen Ausdruck in einer Indifferenz des Tötens.93 Im System der Sittlichkeit heißt es, das Schießgewehr sei „die Erfindung des allgemeinen, indifferenten, unpersönlichen Todes", der es gestattet, auf das „Verletztsein eines einzelnen" keine Rücksicht mehr zu nehmen 94 Gerade im indifferent dem Anderen gegebenen Tod triumphiert das Allgemeine, dessen Über-Leben in der gegenseitigen Indifferenz des Tötens nichts mehr widerspricht, da dieses nichts als reiner Dienst am Allgemeinen ist und selbst jegliches Interesse an einem „unverletzten Fürsichsein" und an der „Sicherheit der Person" hintanstellt.95 Die Philosophie der Geschichte als der Verwirklichung des Geistes mündet so in eine Apologie absoluter Indifferenz des Dienstes am Allgemeinen gegenüber der eigenen Verletzbarkeit und gegenüber der Verletzbarkeit des Anderen. Diese fällt, wie die „Dauer", die „Länge" der verheerenden Zeiten, von der man nicht erzählen kann, wie all das, was nicht „zählt", wie das „Unrecht", das dem einzelnen in der Geschichte widerfährt, dem Abfall der Nicht-Geschichte anheim und muß vergessen werden. Ricoeur dagegen entdeckt gerade in der „aufrüttelnden Gegenwart des Anderen", in der Beziehung zum Nächsten, Fremden und „Geringen", der nicht „zählt", ein von jeglichem geschichtlichen Kriterium unabhängiges gegengeschichtliches Potential (s. o.). Während in der Ordnung der Geschichte der Mensch mit dem zusammenfällt, was 91
Vgl. Kojeve: Hegel. 195. M. Mori: Krieg und Frieden in der klassischen deutschen Philosophie. In: Machtpolitischer Realismus und pazifistische Utopie. Hrsg. v. H. Joas u. H. Steiner. Frankfurt/M. 1989.49-91, hier: 61/8. 93 Werke 7,502. 94 Hegel: System der Sittlichkeit. Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Leipzig 1916.467 f. 95 Hegel: Phänomenologie des Geistes. Werke 3.335. 92
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er getan hat, bezeugt unser Leben angesichts des Anderen einen im Verhältnis zur Ordnung der Geschichte außer-ordentlichen ethischen Sinn. Im Extremfall manifestiert sich dieser Sinn in einem „reinen Zeugnisgeben", in einem reinen Sagen, das darauf verzichtet, als Getanes oder überlieferbares Gesagtes in die Geschichte einzugehen, und sich weigert, sich ihrem Gericht zu unterstellen.96 Es gibt eine außer-ordentliche Quelle der Ethik, die nicht in der substanziellen Sittlichkeit des Staates aufgeht. Doch kann sich diese Quelle nicht mit der Unsichtbarkeit einer Nicht-Geschichte begnügen, die der Vergessenheit anheimfällt. Sie muß vielmehr darauf ausgerichtet sein, die „objektive Sittlichkeit" zu inspirieren. Ricceur träumt von der Möglichkeit eines anderen Staates97, der sich der angesichts des Anderen gebotenen Gewaltlosigkeit unterwirft und infolgedessen jegliche kraft Amtes erfolgende Rechtfertigung des Mordens und des Tötens ausschließt. So kann Ricceur gerade die dem Anderen verpflichtete, aber nicht in der Ordnung der Geschichte aufgehende Quelle der Ethik als die eigentliche Hoffnung des Staates verstehen.98 Den Hegelschen Staat kann Ricceur nicht mehr als repräsentativ' für die Menschlichkeit des Menschen" ansehen." Das Allgemeine, das der Hegelsche Staat verkörpert, hat kein Verhältnis zur Nicht-Indifferenz angesichts des Anderen. Das darf freilich nicht dazu verleiten, einer Eschatologie der Nicht-Gewalt und der Unschuld das Wort zu reden, die erst zum Zuge käme, wenn der Staat abgestorben wäre. Ein solcher Pazifismus einer bis dahin vermeintlich bewahrten Unschuld, der es anderen überläßt, in den Lauf der Geschichte einzugreifen und sich die Hände schmutzig zu machen, würde sich an der Gewalt des status quo selbst schuldig machen, den er sich selbst überläßt. In Wahrheit geht es um eine Ethik der eingeschränkten Gewalt und um die Einrichtung insofern pazifizierter Institutionen, die nicht länger für eine Rechtfertigung des Sterbens der Anderen mißbraucht werden können.100 Die wichtigsten Beweggründe zu handeln nimmt diese Ethik nicht mehr „von jenseits des Grabes her", sondern sie ist vom gegenwärtigen Anderen her motiviert.101 Ist nun aber eine geschichtliche, vom Anderen her inspirierte Vernunft denkbar, die sich der inzwischen massenhaft vorgeführten Indif96 GW, 247. 97 GW, 141,143. «8 GW, 142. 99 GW, 265. IM GW, 266.
ioi Hegel: Werke 1.68.
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ferenz des Tötens widersetzt, die für uns einen neuartigen, unüberbotenen, von Hegel freilich nicht antizipierten Inbegriff des nicht zu Rechtfertigenden darstellt? In dieser Perspektive zwingen sich uns Rückfragen einer bereits erschütterten Vernunft auf, für die sich der „Ausgang aus dem Hegelianismus" nachträglich als ein „neuer Ursprung" darstellt.102 „Bewaffnet mit dem Begriffe der Vernunft, dürfen wir uns nicht vor irgendeinem Stoffe scheuen", sagte Hegel in seinen Vorlesungen.103 Womit er nicht rechnete, ist, daß die Vernunft in „ratlosester" Trauer angesichts des Geschehenen selbst die Waffen streckt und die begriffliche Versöhnung verweigert, wenn diese nur um den Preis der Trauer selbst möglich sein sollte. Ricoeur propagiert nicht den kathartischen Sinn einer „Arbeit" der Trauer, die uns vom Affiziertwerden angesichts des Geschehenen mehr und mehr absolvieren könnte.104 Zwar verlangen Trauer und Entrüstung über das Geschehene nach dessen Erkenntnis und Erklärung, nicht aber, um im Begreifen des Vergangenen zugleich das Affiziertwerden vom Vergangenen sich aufheben zu lassen.105 Im Gegenteil: das Begreifen versöhnt und tröstet nicht. „Je mehr wir historisch erklären, um so entrüsteter sind wir; je mehr uns das Entsetzen faßt, um so mehr versuchen wir zu begreifen."106 Aufgrund einer Erschütterbarkeit, die sich einer nicht in der Gegenwart aufzuhebenden Alterität der Vergangenheit exponiert, wird es zu keiner endgültigen Synthese von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mehr kommen können. Hartnäckig macht die erschütternde Vergangenheit diese ihre Alterität geltend.107 Ricoeur stellt denn auch nirgends mehr. 102
Zu fragen wäre, welche Folgen dies nachträglich für die damalige, damals nicht bezweifelte, ja von den Linkshegelianem noch futuristisch überbotene Möglichkeit hat, zur Gegenwart im voraus ein „historisches Verhältnis" zu haben, um sie als erinnerte Vergangenheit einer „künftigen" Vernunft zu begreifen. Dies müßte sich im Lichte des von Ricceur vermuteten „neuen Ursprungs" nachträglich als unmöglich herausstellen, denn inzwischen hat sich, mit Löwith zu reden, ein allerdings „unheiliger" „Ruck" ereignet, „der das Ganze des bisher Gewesenen von Grund aus verändert[e]", und der als solcher nicht zu antizipieren war. Die Frage, die uns von Hegel trennt, ist gerade, wie wir eine entsprechend selbst geschichtlich affizierte Vernunft denken können. Vgl. K. Löwith: Vom Hegel zu Nietzsche. Hamburg 1986.144 f, 70,74. 103 VG, 42. 104 Die Trauer könnte, folgen wir Hegel, wie der Schmerz durch die Tränen „zum Indifferenten" werden. Sind die Tränen nicht „ein Materielles [...], in welches sich der Schmerz verwandelt" und von der „Seele aus ihrer Leiblichkeit ausgeschieden" wird? Liegt „in dieser Ausscheidung wie in jener Verleiblichung [nicht] die Ursache der heilsamen Wirkung des Weinens"? Vgl. Werke. Bdl0(= Enzyklopädie III). 115 (§ 401). los Vgl. dagegen R. K. Maurer: Hegel und das Ende der Geschichte. Freiburg/München 21980.81 f. 106 ZEIH, 305.
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wie noch in Geschichte und Wahrheit, eine lediglich „aufgeschobene", vertagte Synthese in Aussicht. Die im Überlieferten sich „präsentierende" Vergangenheit geht nicht im Gesagten auf108, das seinerseits nur der in Texten resultierende Niederschlag unseres Antwortens auf ein vorgängiges, angesichts des Geschehenen nicht-indifferentes Infragegestellt- und Erschüttertwerden ist. Daß Ricoeur in Zeit und Erzählung noch nicht alle Konsequenzen aus dieser Sachlage gezogen hat, fällt vor allem dort auf, wo er mit nicht eigens diskutierten Anklängen an Hegel auf Erinnerung und Gedächtnis zu sprechen kommt.109 Versagt nicht eine das Gewesene „aufbewahrende" Er-Innerung und eine „in sich gehende", sich wissende Geschichte angesichts jener Alterität?110 Genügt es in dieser Hinsicht noch, von einer Arbeit des Negativen zu sprechen? „U experience avance par la douleur ou le travail du negatif", schreibt Ricoeur, der an Husserl stets diese „existentielle" Dimension der Erfahrung vermißt hatte, in seiner Bilanz Hegel aujourd'hui im Jahre 1974.111 Aber die von Ricoeur als maßgebend für den Sinn der Erinnerung bemühten Opfer, „die Zeugen par excellence" für die Affizierbarkeit, die „pathologische" Dimension geschichtlicher Existenz, künden nicht von solchem Vorankommen der Erfahrung.112 Sie lassen selbst an der Sagbarkeit des Erfahrenen zweifeln. Der Begriff geschichtlicher Erfahrung verknüpft sich uns so gesehen gewiß nicht mehr mit der Evidenz einer geschichtlichen Vernunft, „die für sich selbst zeugt", wie Hegel glaubte, und deren Geschichte am Ende geschrieben werden könnte, indem man „die Individuen ganz aus dem Spiele und unerwähnt ließe".113 Was jene Zeugen sagen, be-
107
Gleichwohl traut Ricoeur der Erzählung zu, das Erschütternde ins Intelligible aufnehmen zu können (Zeit und Erzählung I. München 1988. 75). Wenn dieses „aufnehmen" im Sinne einer Aufhebung im Gesagten der Narration gedacht ist, machen sich hier latente Widersprüche in Ricoeurs Denken bemerkbar, denen weiter nachzugehen wäre. 108 Vgl. den Hinweis in Anm. 5, oben. 109 Vgl. auch P. Ricoeur: Memory - Forgetfulness - History. In: ZiF-Mitteilungen. 2 (1995), 3-12. 110 Ich beziehe mich auf die Schlußpassagen der Phänomenologie des Geistes. 111 Hegel aujourd'hui. 338. 112 ZEIH, 304, 350. „Gedächtnislos" ist für Ricoeur auch die Geschichtsschreibung nur deshalb letztlich nicht, weil sie von der Vergangenheit sterblicher Anderer berichtet. In der Sterblichkeit kulminiert die Verletzbarkeit des Anderen. Geschichte und Erinnerung sind wahrhaft nur angesichts der Sterblichkeit des Anderen möglich. Die Affizierbarkeit so mit der Verletzbarkeit in Verbindung zu bringen, läßt bereits eine gewisse Verwandtschaft des Geschichtsdenkens von Ricoeur mit Levinas' Kritik der Geschichte erkennen; s. o. Anm. 33. 113 VG, 172.
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darf im Gegenteil einer nur von Überlebenden und Nicht-Überlebenden her möglichen nachträglichen Bewahrheitung. Die Wahrheit der „Zeugen par excellence" steht nicht, wie eine platonische Idee, ein für allemal fest; und sie überlebt nicht aus eigener Kraft wie die Hegelsche Vernunft. Sie lebt und stirbt mit den Menschen, die allein sie bewahrheiten können. Auch Ricoeur kann uns nicht sagen, wohin sie uns führen wird. Eine angemessene Hegelkritik, lesen wir in Zeit und Erzählung, „muß von der zentralen Behauptung ausgehen, die besagt, daß der Philosoph mehr erkennt als bloß eine Gegenwart, die dadurch, daß sie die bekannte Vergangenheit resümiert, im Keim die antizipierte Zukunft enthält: nämlich eine ewige Gegenwart, die die tiefe Einheit der erfaßten Vergangenheit mit jenen Formen des Lebens garantiert, die sich bereits in denen bekunden, die wir begreifen, weil sie alt geworden sind".114 Zur Uneinholbarkeit der Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart tritt die Uneinholbarkeit der Differenz zwischen Gegenwart und Zukunft. Deshalb plädiert Ricoeur im Blick auf den Spielraum, den diese Uneinholbarkeit freigibt, für einen ernüchterten und gemäßigten Kantischen Stil und kehrt zur Frage nach regulativen „täches directrices" zurück, die einer verzeitlichten Geschichte mögliche Wege weisen sollen, Wege, die die Vernunft aber nicht aus eigener Kraft bahnt.115 So legt Ricoeur nahe, den Titel der Hegelschen Vorlesungen ernst zu nehmen: „Die Vernunft in der Geschichte" hat sich selbst als eine erschütterbare erwiesen. Es ist eine trauernde Vernunft...
114 ZEIH, 327. ns Vgl. L. Landgrebe: Das philosophische Problem des Endes der Geschichte. In: Kritik und Metaphysik. H. Heimsoeth zum 80. Geburtstag. Berlin 1966.224-243.
Namensregister Zusammengestellt von Christoph Bauer (Bochum) Kursive Seitenzahlen verweisen auf die Anmerkungen
Abel-Remusat, Jean Pierre 171 Ackersdijck 71,90 Aichylos 214 Alexander der Große 214 Almendingen, Ludwig Harscher von 195 Anaxagoras 65,85 Angehrn, Emil 160 Ankersmit, Franklin Rudolf 209 Anselm v. Canterbury 63 Arendt, Hannah 51 f, 165,279 Arendt, Wilhelm 215 Aristoteles 10,36,75,77,89,92, 186,218 f Asbach,01af 58 Astholz, Hildegard 214 Auerbach, Erich 165 Augustus, römischer Kaiser 197 Avineri, Shlomo 280 f, 288 Bacon, Francis 223 Barth, Karl 130 Barthes, Roland 69 Bataille, Georges 269 Baum, Manfred 226 Bautz,Timo 104,105,123,216 f Beck, Christian Daniel 213
Becker, Claudia 57,104,106,169 Becker, Karl Friedrich 213 Behler, Ernst 168,178 Benjamin, Walter 237,275,280 Bergson, Henri 261,271,284 Bernhard, Thomas 205 Bernheim, Emst 224 Bieberich, Ulrich 237 Bienenstock, Myriam 185,199 Bischof, H. 214 Blanke, Horst Walter 208 Blumenthal, Hermann 218,220 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 106, 108,143 Boeckh, Philipp August 58 Börsch-Supan, Helmut 104 Boisseree, Melchior und Sulpiz 166 f Bolingbroke,John 213 Bonsiepen, Wolfgang 137,155 Boumann, Ludwig 71 Bourgeois, Bernard 67 Brakeimann, Günter 229,234 Braniß, Christlieb Julius 211,215 Braunjohann 188 Brehmer, Karl 56,79 Brescia, 63
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Namensregis ter
Brinkmann, H. R. 195 Brunstäd, Friedrich 8 Bubner, Rüdiger 67,149 Buchner, Hartmut 56 Bultmann, Rudolf 130,174 Burckhardt, Jacob 51,174,221 Buschmann, Arno 194 Caillois, Roger 27 Carl Eugen, Herzog von Württemberg 169 Casper, Bernhard 225 Cellarius, Christoph 95 Certeau, Michel de 284 Chladenius, Johann Martin 282 Cohen, Hermann 228 Colebrooke, Henry Thomas 178 Colli, Giorgio 51 Condorcet, Antoine 167 Corregio, Antonio 167 Correvon, Jules 58,60 Cousin, Victor 186 Dalberg, Karl Theodor von 33 Demmerling, Christoph 254 Derrida, Jaques 269,272 f, 275 Descartes, Rene 36,60 f, 64,72 Descombes, Vincent 199 Dierken,Jörg 10,66,123 Dilthey, Wilhelm 174 f, 260 f Dionysius, Tyrann von Syrakus 199 Dittmann, Friederich 153 Dopsch, Alfons 96 Dove,Kenley 58 Droysen, Johann Gustav 11,214 ff
Dürer, Albrecht 166 Düsing, Klaus 150 Ebeling, Gerhard 62 Eckstein, Ferdinand Baron von 171f Ehrenberg, Hans 225 ff, 241,245 Ehrenberg, Rudolf 233,237,244 Eichendorf, Joseph von 202 Eichhorn, Karl Friedrich 213 Eisler, Rudolf 209 Empedokles 28 Erdmann, Johann Eduard 71,91 Eucken, Rudolf 174 Eyck, Johann van 167 Falke, Gustav 38 Feiter, Reinhard 227 Feuerbach, Ludwig 190 Feuerbach, Paul Johann Anselm von 189 ff, 195 Fichte, Immanuel Hermann 142, 215,255 Fichte, Johann Gottlieb 77,142, 165 f, 170,174,180 f, 232,251 f, 255 f Foucault, Michel 269 Frank, Othmar 178 Franz I, Kaiser von Österreich 32, 117 Freud, Sigmund 271,284 Freyer, Hans 12,115,175,251 f, 257 ff Friedrich, Casper David 166 Friedrich II. (der Große), König von Preußen 32,59 ff, 64,95, 100,113 ff, 124 f, 142 Fuchs, Gotthard 237,241 Fukuyama, Francis 175
Namensregister
Fuhrmans, Horst 51 Fulda, Hans Friedrich 201 Gadamer, Hans-Georg 109,165, 175,271 f Gajus 188 f Gans, Abraham 187 Gans, Eduard 7,11,53 ff, 68 f, 173 f, 185 ff, 197 ff Gethmann-Siefert, Annemarie 156,158,167, Gibbon, Edward 152,213 Gil, Thomas 12,251,261 Gilbert, Felix 217 Glöckner, Hermann 53 f, 71,104, 240,246,286 Gmür, Rudolf 194 Göhler, Gerhard 201 Gönner, Nicolaus Thaddäus von 195 Görland, Ingtraud 46 Görres, Joseph 120,171 f Görtz, Hans-Jürgen 12,225,226, 232 Goethe, Johann Wolfgang von 150,155,156,158 f, 207 Grewe, Wilfried 271 Griesheim, Karl Gustav Julius von 53 ff, 58,71,79/, 83 Grolmann, Karl von 189 Grossmann, Andreas 8 f, 51 f, 118,124 Guizot, Francois Pierre Guillaume 69 Gustav Adolf, König von Schweden 32,125 Grotius, Hugo 64
297
Habermas, Jürgen 283 Hafis, Schams Od-DinMohammed 155 f Hagenbach, Rudolf 71,80 f Hammer, Joseph von 155 Hattenbauer, Hans 194,195 Haverkamp, Anselm 275 Haym, Rudolf 169,215 Heede, Reinhard 158 Heftrich, Eckhard 221 Hegel, Immanuel 193 Hegel, Karl Friedrich Wilhelm 54 ff, 58,71,84,90,96,119,222 Heidegger, Martin 46,56,69,175, 272,273,276 Heimann 54,58 Heimann, Eduard 266 Heimsoeth, Heinz 293 Heise, G.A. 197 Hemmerle, Klaus 227 Henrich, Dieter 26,91,150,201 Henrix, Hans Hermann 237,241 Herder, Johann Gottfried 153, 165,173 ff Hespe, Franz 10,58,71 Heussi,Karl 206 Heydemann, Albert 215 Hinze, Otto 24,209 Hirsch, Emanuel 108,169 Hölderlin, Friedrich 26,28,31,33, 166,170,175 Hölscher, Lucian 224 Hölzle, Erwin 21 Hoffheimer, Michael H. 189 Hoffmeister, Johannes 8,9,17,41, 55 f, 61,84,95 /, 107, HO, 119, 137,140,151,153,166,213,217, 271 Hogemann, Friedrich 113,273
298
Namensregister
Hormayr zu Hortenburg, Joseph 179 Horstmann, Rolf Peter 91, 201, 254
Hortian,U. 237 Hotho, Heinrich Gustav 54,56, 61,71,79/ Hube, Joseph 58,114 Hübinger, P. E. 97 Hübner, Rudolf 215 Hulin, Michel 155 Humboldt, Wilhelm von 51,211, 213,223 Huß, Johann 63 Husserl, Edmund 259,270,273, 292 Hutter, Axel 52 Iggers, Georg G. 207 Ilting, Karl-Heinz 79,201,213 Jaeschke, Walter 56,79,99,123, 129,131,142
Jacobi, Friedrich Heinrich 37,46, 170 Jaeger, Friedrich 208,211 f, 215 Jamme, Christoph 68 f, 113,119 f, 166 Jaspers, Karl 174 Jesus Christus 57,129,235 Joas, Hans 289 Johannes, (Evangelist) 232,235 Jonas, Hans 279 Jordan, Stefan 11,205,213 ff, 221 Joseph II., römisch-deutscher Kaiser 32,61,114,116 f, 142, 180,182 Justinian, oströmischer Kaiser 197
Kämpf, Heike 67 Kambartel, Friedrich 254 Kant, Immanuel 10,37 f, 46,52, 64 f, 72 f, 75,77,101,165,168, 218,227,229,271,273,274 f, 283, 293 Karl V., deutscher Kaiser 179 Karl der Große 97,176 Katharina die Große 61,114 Kehler, Friedrich Carl Hermann Victor von 55 f, 79 Kepler, Johannes 85 Kiefner, Hans 194 Kienzier, Klaus 240 Kierkegaard, Sören 271,272, 274 ff Kimmerle, Heinz 67 Kleist, Heinrich von 21,26,32 Klenner, Hermann 195 Klippel, Diethelm 21 Knittermeyer, Hinrich 221 Köhler, Dietmar 9,35,170 Kojeve, Alexandre 175,281,285, 287,288
Koselleck, Reinhardt 175,217 Kruse, Volker 266 Kühnemann, J. G. 213 Kwon, Jeong-Im 10,144,147,156 Lamennais, Hugues-FeliciteRobertde 171 f Landgrebe, Ludwig 293 Landmann, Michael 165 Lange, Ernst Michael 260 Laotse 178 Lassen, Georg 54 f, 68,96, 118, 154,159
Lederbogen, Friedrich 174 Leese, Kurt 68,139,154,159
Namensregister
Leibniz, Gottfried Wilhelm 36, 207,209,282 Leopold II., römisch deutscher Kaiser 182 Levinas, Emmanuel 227,242 f, 250,269,276 £,284,292 Leyh, Peter 216 Licharz, Werner 226,229 Liebsch, Burckhard 12,269 Lessing, Gotthold Ephraim 165, 213,225,227,242 Link, Christian 21 Löwith, Karl 174,291 Lucas, Hans-Christian 39,68,137, 146,182 Lukäcs, Georg 101 Luther, Martin 10,58 ff, 62 ff, 66, 101,119,121,126 f, 140 Machiavelli, Niccolö 16 Maier, Hans 9,15,21,46,116,141 Maistre, Joseph Marie de 171 Marcel, Gabriel 274 Maria Theresia 180 Marquard, Odo 283 Martin, Alfred von 266 Marx, Karl 174 Maurer, Reinhart Klemens 109, 139,158,291 Mayer, Annemarie 225 Mayer, Reinhold 225 Maximilian I., deutscher Kaiser 179 Meinecke, Friedrich 175,206 ff, 215,218,226,231,237 f Meiner, Johann Werner 213 Meist, Kurt Rainer 15,20,24,46, 68,146,226 Mendelssohn-Bartholdy, Familie 214
299
Mendelssohn-Bartholdy, Felix 69 Mendes-Flohr, Paul R. 237 Merleau-Ponty, Maurice 274 f Metternich, Clemens Wenzel Lothar Fürst von 178 Michel, Karl Markus 15,54,71, 123.254.271 Michelangelo Buonarroti 167 Michelet, Karl Ludwig 37 f Möller, Joseph 240 Möser, Justus 21,23 Mohnhaupt, Heinz 189 Moldenhauer, Eva 15,54,71,96, 101.123.254.271 Mommsen, Wolfgang J. 207 Montesquieu, Charles de 21,27 f, 31,187,191,200 Montinari, Mazzino 51 Mori, M. 289 Moses, Stephane 237,238 f, 243 Mouniers, Emmanuel 274 Müller, Johannes von 213 Müller, Karl Otfried 213 Münster, Arno 241 Muhlak, Ulrich 208 Muller, Jerry Z. 260 Nabert, Jean 281 Napoleon I. Bonaparte 21,33,61, 65,107,115,117 f, 169,176,182, 195 f, 202 Neske, Günther 56 Newton, Isaac 168 Nicolin, Friedhelm 61,100,106, 110 Niebuhr, Barthold Georg 170 f, 213 Niethammer, Friedrich Immanuel 61,119,167,169
300
Namensregister
Nietzsche, Friedrich 51,67,174 t, 266,280 Novalis (Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg) 23,166, 170 f, 174 f Oeing-Hanhoff, Ludger 109 Oeri, Jacob 221 Oexle, Otto Gerhard 208 f, 211 Osse, Melchior von 21 Papst, Johann Hinrich 213 Parmenides 36 Paulus (Apostel) 232 Perkins, Robert L. 62 Petri, Manfred 176 Petrus (Apostel) 232 Pevelman,Ch. 270 Pfeiffer, Burkhard Wilhelm 195 Pines, Shlomo 235 Planty-Bonjour, Guy 39,68 Platon 43 Pöggeler, Otto 11,26,37,39,42, 58,68,100,106,110,114,116 f, 119,146,149 f, 155 f, 160,165 ff, 169 f, 175,178,182,226,236 f, 243,273,285 Polley, Rainer 196,202 Pompa,Leon 67 Prang, Helmut 155 Press, Volker 26,33 Pythagoras 43 Raffael (Raffaello Santi) 166 Ranke, Leopold von 149,174,207, 209,211 ff Rassem, Mohammed 23 Rehberg, August Wilhelm W. 195 Rehm, Friedrich 223 Reinhold, Carl Leonhard 166
Reissner, Hans Günther 69,187 Reitemeier, Johann Friedrich 195 Reller, M. 226 Richelieu (Armand Jean du Plessis) 29,115 Rickert, Heinrich 210 Ricoeur, Paul 12,69,269 ff, 284 ff, 288 ff Riedel, Manfred 58,193,199,201 Ritter, Joachim 158 Robespierre, Maximilien 26,65 Rosenkranz, Karl 7 f, 37,57,90, 103,149,172 ft Rosenstock, Eugen 237,239 Rosenstock-Huessy, Margrit 225, 238 Rosenzweig, Franz 9 f, 12,63,113, 114,119,225 ff Rosenzweig, Rachel 225 Rosenzweig-Scheinmann, Edith 225 Rothacker, Erich 165,209 Rousseau, Jean-Jacques 26 f, 31 f, 61,64,106,176 Rubinstein, Moses 158 Rückert, Friedrich 155 Rückert, Joachim 195 f, 202 Rühs, Friedrich 223 Rüsen, Jörn 208 f, 211 f, 214 f, 223 Rumi, Duschelaled-Din 155 Saint-Martin, Antoine Jean 171 Saint-Martin, Louis Claude de 171 Savigny, Friedrich Carl von 186 ff, 191 f, 194 ff, 202 f, 213 Scheit, Herbert 139 Schelling, Friedrich Wilhelm 9, 37,51 f, 57,103,150,151,166 f, 172,181,213,225,231 f, 243 ff
Namensregister
Schiller, Friedrich 23,168,175 Schlegel, August Wilhelm 167 Schlegel, Friedrich 11,165 ff, 205, 213 Schleiermacher, Friedrich Emst Daniel 130,167,170,186,212, 227,229,238 Schlözer, August Ludwig von 23 Schlosser, Friedrich Christoph 213 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 225 f, 232,237 Schmitz, Hermann 41,45 Schnädelbach, Herbert 218,221 Schneller, Julius Franz 213 Schoeps, Hans Joachim 226 Schoeps, S. H. 226 Scholtz, Gunter 211,215 Schott, Rüdiger 67 Schröder, Horst 199 Schuhn, Ernst 149,152 Schulze, Johannes 54 Schwan 188 Scott, Walter 65,213 Seckendorff, Veit Ludwig von 21 Seebeck, Dr. 213 Seelmann, Hoo Nam 56,79 Shaftesbury, Anthony Ashley, Earl of Cooper 207 Shakespeare, William 150 Siep, Ludwig 201 Simon, Ernst 221,234 Sinclair, Isaak von 166 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 170 f Sophokles 46 Spengler, Oswald 96,159 Stagl,L. 23 Stahmer, Harold M. 225 Steenblock, Volker 209
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Steiner, Helmut 289 Stemmrich-Köhler, Barbara 158 Stieglitz, Heinrich Wilhelm August 150 Stieve, Friedrich 55 Ströker, Elisabeth 259 Strack, Friedrich 169 Strohm, Stefan 133 Strohschneider-Kohrs, Ingrid 165 Stückrath, Jöm 270 Stuhr, Peter Feddersen 152 Tacitus 21 Taylor, Charles 282 Thaies 247 Theseus 16 Theunissen, Michael 201,234, 271,283,287 Thibaut, Anton Friedrich Justus 187,189,193 ff, 202 f Thompson, John B. 70 Tieck, Ludwig 166 Tizian (Tiziano Vecellio) 166 Toqueville, Alexis de 174 Troeltsch, Ernst 126,206 ff, 215 Tschudi, Ägidius 213 Unterholzner, Carl August Dominik 190 Varnhagen von Ense, Karl August 203 Veit, Phillip und Simon 167 Vico, Giambattista 165,173 f Vieweg, Klaus 69 Vollrath, Emst 165 Voltaire (Frangois Marie Arouet) 19,61,153,176 Wachsmuth, Wilhelm 223
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Namensregister
Wackenroder, Wilhelm Heinrich 166 Wagner, Christine 214 Wagner, Falk 134,140 Wannemann, Peter 57,104,106 Waszek, Norbert 11,69,185 f, 189, 191,193 f, 198 f Weber, Max 174 Weinacht, Paul Ludwig 23 Weiße, Christian Hermann 215 Weisser-Lohmann, Elisabeth 12, 66,68,95,119 f,124 Weizsäcker, Victor von 230 f Werder, Karl Friedrich 54 Westphal, Merold 62 Wiacker, Franz 202
Wiehern, Johann Hinrich 71,90 Winckelmann, Johann Joachim 165 f, 168 Windelband, Wilhelm 210,229, 230 Windischmann, Karl Joseph Hieronymus 186 Wittkau, Annette 208 ff Woltmann, Karl Ludewig 213 Wrobel,Hans 202 Wycliff, John von 63 Zak, Adam 243 Zbinden,J. 270 Zoroaster 176,178
Literaturverzeichnis Erstellt von Christoph Bauer (Bochum)
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II. Liste der bekannten Vorlesungsnachschriften zur Philosophie der Weltgeschichte G. W. F. Hegel: Philosophie der Weltgeschichte. Winter 1822/23: Griesheim, Karl Gustav Julius von: Philosophie der Weltgeschichte. Vorgetragen von Hegel im Winterhalbjahre 1822/23. Hagenbach, Rudolf: Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/23. Hotho, Heinrich Gustav: Philosophie der Weltgeschichte nach dem Vortrage des Herrn Professor Hegel, im Winter 1822/23. Kehler, Friedrich Carl Hermann Victor von: (Ohne Titel) 1822/23 (unvollständiges Manuskript). -: Philosophie der Weltgeschichte. Winter 1824/25:
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