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German Pages 488 [492] Year 1999
Klaus Hartmann Hegels Logik
1749
1999
Klaus Hartmann
Hegels Logik Herausgegeben von
Olaf Müller mit einem Vorwort von
Klaus Brinkmann
W DE G
1999 Walter de Gruyter · Berlin · New York
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Hartmann, Klaus: Hegels Logik / Klaus Hartmann. Hrsg. von Olaf Müller. Mit einem Vorw. von Klaus Brinkmann. - Berlin; New York : deGruyter, 1999 ISBN 3-11-013763-1
© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: OLD-Satz digital, Neckarsteinach Druck und Buchbinderische Verarbeitung: Strauss Offsetdruck, Mörlenbach
Vorwort von Klaus Brinkmann Die hier vorgelegte Untersuchung Klaus Hartmanns zu Hegels Wissenschaft der Logik entstammt dem Nachlaß des 1991 verstorbenen Tübinger Philosophen. Der Herausgeber dieses Bandes gibt in seiner Vorbemerkung Auskunft über den Zustand und den Grad der Fertigstellung des Manuskripts zum Zeitpunkt von Hartmanns Tod. Nur so viel sei hier dazu gesagt, daß das Manuskript einen vollständigen Durchgang durch Hegels Wissenschaft der Logik bietet. Einzig die für Hartmann sonst typische „Schlußreflexion", der Versuch einer Gesamtbesinnung auf das Dargestellte, fehlt. Dieses Vorwort kann eine solche Gesamtbesinnung nicht ersetzen. Es möchte dem Leser aber Orientierung bieten über Hartmanns interpretatorischen Ansatz im allgemeinen und sein Verständnis der Hegeischen Logik im vorliegenden Werk. Hartmann nannte seine Art der philosophischen Deutung historischer Texte - die außer Hegel, Marx, Husserl und Sartre auch Aristoteles, Kant, Fichte, Schelling und Whitehead umfaßte - zunächst eine ,systemtheoretische1, später dann, als dieser Begriff durch die Luhmannsche Systemtheorie besetzt war, eine ,theorielogischec Betrachtung. Diese Betrachtungsweise zielt auf die ganzheitliche Strukturdeutung einer philosophischen Theorie. Sie faßt sie als Artikulation eines Standpunkts zu Grundfragen der Philosophie (im Bereich der Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ethik etc.) auf, d.h. als Formulierung einer Position. Mit einer Wendung Hegels könnte man sagen, daß philosophische Theorien für Hartmann eine „Stellung des Gedankens zur Objektivität" zum Ausdruck bringen. Über die Analyse einzelner Argumente und Theoriestükke hinaus sieht die theorielogische Betrachtung eine philosophische Theorie immer auch als ein Gesamtargument an, das gewissen selbstauferlegten Struktur- und Stringenzerfordernissen unterliegt, die, wie Hartmann gerne sagte, die „Machart" einer Theorie kennzeichnen. Diese theorielogische Betrachtung verband Hartmann mit einer theorievergleichenden, typologischen, wonach Theorien in bezug auf jene philosophischen Grundfragen in ihren Positionen immer auch konkurrieren. Sie stellen dann ,Optionen' dar, die unter- und gegeneinander abzuwägen sind. Dieses Abwägen von philosophischen Optionen auf der Ebene von
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Vorwort
Theorien mit ihrer je spezifischen Machart galt Hartmann als das Ziel der kritischen Sichtung und Aneignung des Reichtums an historischen und zeitgenössischen Philosophien.1 Gerade aus einer solchen Abwägung, so meinte er, würde man auch Hinweise für die Verortung und Artikulation der jeweils eigenen Position gewinnen können. Im Theorievergleich erweist sich ihm Hegels Philosophie als eine Kategorienlehre oder Ontologie mit transzendentalem Anspruch. Gelegentlich nannte er sie auch eine „kategoriale Hermeneutik" oder eine „ontologische Semantik",2 wobei zu bemerken ist, daß Hartmann darunter eine Semantik ohne referentielle Verweisung und eine Hermeneutik mit apriorischer Zielsetzung verstand. Im vorliegenden Text gebraucht er auch den Ausdruck „systematische Hermeneutik". Näher galt ihm die Hegeische Logik als eine Theorie, die die Wahrheitsfähigkeit des Denkens nachweisen will, sofern Denken Anspruch auf Seins- oder Wirklichkeitserkenntnis erhebt. Die Logik artikuliert somit ein transzendentales Begründungsprogramm. Hartmann grenzt dabei jedoch die Hegeische Position von der Kantischen ab, deren These von der Anschauungsgebundenheit des Erkennens sie zurückweise, deren apriorische Zielsetzung sie aber beibehalte. Hegel müsse daher die ontologische Sachhaltigkeit des Denkens, seine Kategorialität behaupten. Die Verteidigung einer solchen Position, die dem reinen Begriff auch ohne Anschauungsbezug Der interessierte Leser sei verwiesen auf die Darstellung und Würdigung des Hartmannschen Werks durch Klaus Rosen, Transzendentalphilosophie und kategoriale Theorie des Politischen. Zum Gedenken an Klaus Hartmann, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 17.1 (1992) 35-47 und Klaus Brinkmann, Klaus Hartmann zum Gedächtnis, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 19 (1993) 343-366. Erwähnt seien auch die beiden Hartmann gewidmeten Festschriften (beide mit ausführlichem Verzeichnis der Schriften Hartmanns): Kategorie und Kategorialität. Historisch-systematische Untersuchungen zum Begriff der Kategorie im philosophischen Denken. Festschriftfür Klaus Hartmann zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Dietmar Koch und Klaus Bort, Würzburg (Königshausen & Neumann) 1990 sowie Hegel Reconsidered. Beyond Metaphysics and the Authoritarian State, hrsg. v. H. Tristram Engelhardt, Jr. und Terry Pinkard, Dordrecht/Boston/London (Kluwer Academic Publishers) 1994. Vgl. K. Hartmann, Transzendentale Argumentation. Eine Abwägung der verschiedenen Ansätze, in: Bedingungen der Möglichkeit. „ Transcendental Arguments" und transzendentales Denken, hrsg. v. E. Schaper und W. Vossenkuhl, Stuttgart (Klett-Cotta) 1984, 17-41 und ders., Metaphysik und Metaphysikkritik, in: Neue Hefte für Philosophie 30/31 (1991) 109-138. Hartmanns Deutung der Hegeischen Philosophie als Kategorienlehre war bisher nur in zwei kleineren Arbeiten zugänglich: Hegel: A Non-Metaphysical View, in: Hegel. A Collection of Critical Essays, hrsg. v. A. Maclntyre, New York (Anchor Books) 1972, 101-124 und ders., Die ontologische Option, in: Die ontologische Option. Studien zu Hegels Propädeutik, Schellings Hegel-Kritik und Hegels Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. Klaus Hartmann, Berlin/New York (de Gruyter) 1976, 1-30.
Vorwort
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wahre Inhalte, und letztlich das Wahre selbst (unter dem Titel der Idee, des Absoluten oder des Geistes), zutraut, erfordert einiges transzendentale Raffinement. Auf die kürzeste Formel gebracht muß Hegel argumentieren, daß er eine Immanenz des Denkens ansetzt, die allumfassend, also auch voraussetzungslos, ist und zu der es deswegen keine Alternative gibt, weil sie alle Alternativen innerhalb ihrer selbst abbildet und als dem eigenen spekulativen Standpunkt unterlegen erweist. Ob Hegel dieser Nachweis letztlich gelungen ist, diskutiert Hartmann hier nicht. Er hat aber wohl trotz kritischer Bedenken im einzelnen an der grundsätzlichen Durchführbarkeit dieses Programms bis zum Schluß festgehalten. Nicht verträgt sich mit einer solchen kategorialen Sicht auf Hegel jedenfalls eine (im Kantischen Sinn) metaphysische, Existenzsetzungen von Transzendentem erlaubende Position. Auch die Unterstellung einer apriorischen Parallelität von System und Geschichte wies Hartmann als nicht haltbare Hegeische „Lizenz" zurück. Die Rekonstruktion der Denkinhalte, die den Nachweis der Wahrheitsfähigkeit des Denkens erbringen soll, arbeitet mit einem komparativen Wahrheitsbegriff. Das Wahre hat, wie in der Platonisch-Aristotelischen Tradition oder bei Spinoza und Leibniz, in sich eine Erstreckung. Die wahr/falsch-Dichotomie wird dem empirischen Erkennen und dem sog. Verstandesdenken zugewiesen und als Richtigkeits- oder Korrektheitsprinzip aus der spekulativen Theorie ausgeschlossen. Die Logik bewegt sich von vornherein im Bereich des Wahren. Das Unwahre ist nicht falsch, sondern eine unvollkommene Form des Wahren. Es wird nicht verworfen, sondern ,aufgehoben'. Denkinhalte werden daher gemäß einer „Affinitätsspekulation" so rangiert, daß relativ Denkfernes (und insofern relativ Unwahres) und relativ Denknahes (und insofern relativ Wahres) sich sukzessive dem wahren Denkinhalt (in der Logik die absolute Idee, im System der absolute Geist) annähern. Ohne diese Architektonik wäre die Dialektik ziellos, weswegen Hartmann immer für eine „regressive", architektonische Lesart der Logik argumentiert hat. Hartmann bietet dem Leser außer einer Gesamtdeutung der Hegelschen Logik und der fortlaufenden Textanalyse eine Fülle wertvoller Reflexionen zu Einzelfragen. So diskutiert er das Problem einer systematischen Hinführung zum spekultativen Standpunkt, wobei er drei unterschiedliche Wege der Einleitung in das System unterscheidet: den der Phänomenologie des Geistes, den der Einleitung zur Wissenschaft der Logik und den der Einleitung zur Enzyklopädie. Bedenkenswert ist dabei Hartmanns Fazit, daß die Hinführung über die Phänomenologie des Geistes für den kategorialen Standpunkt der Logik nicht konstitutiv, die Phänomenologie also insofern nicht Voraussetzung des Systems ist. Wie Hartmann in seiner eingehenden
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Vorwort
Betrachtung zur Einleitung der Enzyklopädie zeigt, läßt sich der Standpunkt der Logik und des Systems systemimmanent verständlich machen und ohnehin nur systemimmanent rechtfertigen. In seiner Analyse des Anfangs der Logik stellt Hartmann im Detail seine Deutung der Progression von Sein und Nichts über Werden zum Dasein als Hegels Versuch vor, der mit dem Dasein erreichten Minimalbestimmtheit des Begriffs eine „Genealogie" zu geben, d.h. Bestimmtheit selbst noch herzuleiten. Dieser Anfang unterliegt Hartmann zufolge einer irregulären Dialektik, die das Argument für die Dialektizität des kategorialen Denkens erst entwickelt. Funktion der Dialektik ist es, für die apriorische Bestimmtheit der Kategorien aufzukommen. Die Logik ist insofern Theorie der Bestimmtheit kategorialer Begriffe, letztlich Theorie der Eigenbestimmtheit des Begriffs oder des Denkens. (Man vesteht, daß auf Grund des Immanenzstandpunkts nicht wir den Begriff bestimmen, sondern dieser als sich selbst bestimmend gedeutet werden muß.) Das Anfangstheorem zeigt dieser Interpretation zufolge, daß Begriffsbestimmtheit nur möglich ist, wenn der Begriff sein Oppositum inkludiert, also durch „sein Anderes" bestimmt ist und also sein Negat als bloß Anderes, das ihm nicht zugehören würde, negiert. Ohne Negation der Negation keine Begriffsbestimmtheit. Andernfalls ergibt sich die Konversion von Sein und Nichts oder die Steresis von Bestimmtheit. Hartmann versteht das Qualitätskapitel der Seinslogik als paradigmatische Darstellung der Dialektik der Begriffsbestimmtheit, die im Fürsichsein einen ersten, vorläufigen Ruhepunkt erreicht. Der Begriff des Fürsichseins (der Selbstbezüglichkeit) als erster konkreter Einheit von Begriff und Oppositum (mit der Vorstufe des Etwas) markiert den inneren Nukleus des gesamten Hegeischen Rekonstruktionsprogramms. Den Leser erwarten außer der Entfaltung dieser Deutung der Logik als Begriffsbestimmtheitstheorie auch kritische Überlegungen Hartmanns zu einzelnen Aspekten oder Abschnitten der Logik, etwa die Diskussion der Behandlung der logischen Formen von Begriff, Urteil und Schluß unter ontologischem Gesichtspunkt. Bedenken macht Hartmann gegenüber Hegels Einschluß regionalontologischer Themen geltend, z.B. der Kraft in der Wesenslogik und des Mechanismus, des Chemismus und des Lebens in der Begriffslogik, sosehr er Hegel zugesteht, daß etwa Mechanismus und Chemismus Systemkonzeptionen darstellen, die ihrer logischen Struktur zufolge auf der Ebene der Begriffslogik anzusiedeln wären. Überhaupt bietet Hartmanns Kommentierung eine Fülle von Anregungen zur weiteren kritischen Auseinandersetzung mit Hegels Text. Hartmann interpretiert Hegels Logik als eine Strukturdeutung des Denkens, das sich der Apriorizität seiner kategorialen Inhalte versichert
Vorwort
IX
und sich auf diesem Wege zur transparenten Erkenntnis seiner selbst als Rechtfertigungsinstanz für alle Wahrheitsansprüche erhebt. Hartmann darf die Erarbeitung dieses unmetaphysischen, kategorialen Hegelverständnisses als seinen unverwechselbaren Beitrag zur Hegelforschung reklamieren. Die Herausgabe des Manuskripts aus dem Nachlaß möchte dem Zweck dienen, dem fachlich Interessierten Hartmanns detaillierteste Darstellung seiner Hegeldeutung zugänglich zu machen. Die Veröffentlichung dieses Nachlaßmanuskripts Klaus Hartmanns wäre ohne die Hilfe vieler Freunde und Förderer nicht zustande gekommen. Großer Dank gebührt zunächst Frau Marianne Ott-Haug für ihre Mitarbeit bei der gesamten Erstellung des Textes. Ohne sie wäre diese Veröffentlichung nicht zustande gekommen. Dank gesagt sei weiterhin Klaus Hartmanns Assistent, Herrn Dietmar Koch, der sich unermüdlich für das Erscheinen dieses Buches eingesetzt hat. Klaus Hartmanns Schüler Dr. Reinhold Aschenberg hat das Manuskript und dessen Transkription mehrfach kritisch gesichtet und begutachtet. Ebenso hat er die mühevolle Arbeit des Registers mitbesorgt. Dafür sei ihm besonders gedankt. Für die wertvolle Hilfe bei der Korrektur sei Frau Brigitta Kasprzik herzlich gedankt. Für die finanzielle Förderung der für die Herausgabe unerläßlichen Arbeiten sind alle Beteiligten dem ehemaligen Präsidenten und jetzigen Chancellor der Universität Boston, Professor Dr. John Silber, und Herrn Stevin Hoover, Investment Counselor und Eigner von Hoover Capital Management Inc., zu größtem Dank verpflichtet. Auf Grund seiner freundschaftlichen Verbundenheit mit Klaus Hartmann hat Chancellor Silber das Projekt von Anfang an tatkräftig unterstützt. In der kritischen Phase der Arbeiten an dem Hartmannschen Manuskript konnte er Herrn Hoover für eine großzügige Spende gewinnen, ohne die die Herausgabe nicht möglich gewesen wäre. Mit dieser Unterstützung wollte Herr Hoover sowohl seine Bewunderung für die deutsche philosophische Tradition als auch seine Wertschätzung für das philosophische Werk Klaus Hartmanns zum Ausdruck bringen. Zu Dank verbunden sind die an der Herausgabe Beteiligten auch dem ehemaligen Präsidenten der Universität Tübingen, Herrn Ehrensenator Professor Dr. h.c. mult. Adolf Theis, sowie Frau Professor Dr. Ingrid Gamer-Wallert, die durch ihre Fürsprache eine Spende des Universitätsbundes e.V. Tübingen ermöglichten. Nicht zuletzt gilt dem Verlagshaus Walter de Gruyter Dank für die Bereitschaft, die Veröffentlichung des Nachlaßmanuskripts zu übernehmen. Boston, im Sommer 1999
Klaus Brinkmann
Vorbemerkungen des Herausgebers Klaus Hartmann verstarb im Juli 1991 nach kurzer schwerer Krankheit. Er hinterließ ein großes Manuskript über Hegels Logik, an dem er zu jener Zeit intensiv arbeitete. Hartmann hatte schon früher die Möglichkeit einer ,nicht-metaphysischen Sicht' auf dieses Werk erläutert und der sich daraus ergebenden ,ontologischen Option' Hegels. Das Vorhaben der Logik war aus dieser Sicht die Grundlegung einer Philosophie, deren Kategorien objektiv-unbedingte Gültigkeit beanspruchen, die aber Postulate vermeidet. Die Möglichkeit einer solchen Interpretation wollte er nun im Gesamtzusammenhang der Logik bewähren - als das positive Fundament seiner oft strengen Kritik anderer Theorien. Hartmann hatte diese Arbeit nur zögernd begonnen. Der Plan war ursprünglich, eine während der Semester 1980/81 bis 1981/82 in Tübingen gehaltene Vorlesung über denselben Gegenstand zu veröffentlichen. Bei der Redaktion des mitgeschnittenen Textes erwies sich dieser jedoch offenbar als letztlich unbefriedigend, was Hartmann zur Arbeit am vorliegenden Manuskript veranlaßte. Davon liegen die ersten drei Kapitel und der Anfang des vierten in maschinenschriftlicher Form vor, d.h. bis einschließlich Beginn der Wesenslogik; der Rest nur in einer handschriftlichen Erstfassung: knapp 600 schwer lesbare Seiten. Diese hat Hartmann zuletzt noch durchgesehen und dabei zahlreiche Randbemerkungen gemacht. Hier ist ein grundsätzlicher Hinweis zu Hartmanns Verfahren angebracht. Er begann jede Arbeit mit einem ausführlichen Exzerpt des zugrundeliegenden Textes - um diese erste Fassung handelt es sich beim Manuskript der Kapitel 4 und 5. Daraus entstanden dann in mehreren auseinander folgenden Arbeitsgängen immer entwickeltere Fassungen. Hartmann machte Anmerkungen, ergänzte, schrieb um und collagierte zu einer zwar genauen, aber vom Ausgangstext immer unabhängigeren Aneignung (sowohl im sprachlichen Nachvollzug wie in der Herausarbeitung systematischer Schwerpunkte): eine wohl einmal beendete, aber nie wirklich abgeschlossene Redaktion. Als abschließend durchgearbeitet kann man deshalb auch die maschinenschriftlich vorliegenden Kapitel nicht bezeichnen. Mit dem handschriftlichen Teil ändert sich dann, wie gesagt, der gesamte Charakter des Manuskripts. Es ergibt sich so etwas wie ein Logik-Kommentar, immer wieder von kritischen Reflexionen und Exkursen unterbrochen (letztere einige Male leider nur in Form von Stichworten). Um diesen Kommen-
XII
Vorbemerkungen des Herausgebers
tar-Charakter zu unterstreichen, hat der Herausgeber die komplette Gliederung der Hegeischen Logik eingefügt, während Hartmann im Text nur die hauptsächlichen Überschriften (und auch dies nicht immer konsequent) anführt. Weiter hat der Herausgeber gerade hier zahlreiche eigene, auch ausführlichere Anmerkungen gemacht, die fehlende Nachweise bringen und dem Textverständnis aufhelfen sollen. Schließlich schien es insbesondere aufgrund dieses Kommentar-Charakters angebracht, ein umfangreiches Register anzufügen - bei allen Schwierigkeiten, die Hegels ganz eigene Diktion einem solchen Vorhaben bereitet. Der Text wurde leicht redigiert. Auch im handschriftlichen Teil wurde versucht, so viel wie möglich der späteren Notate oder Randbemerkungen Hartmanns zu übernehmen - meist als Anmerkungen. Zusätze zu Hartmanns eigenem Text stehen in eckigen Klammern; in Zitaten stammen solche Zusätze von ihm selbst oder in seltenen und nicht eigens gekennzeichneten Fällen vom jeweiligen Herausgeber des Hegel-Werkes. Es sei noch bemerkt, daß Hartmann, wenn er „in Anführungszeichen" spricht, um Verwechslungen mit wirklichen Zitaten zu vermeiden, einfache Zeichen gebraucht. Dem ist der Herausgeber in seinen Anmerkungen gefolgt. Sicher hätte Hartmann dieses Manuskript noch eingehend überarbeitet, und natürlich konnte der Herausgeber diese Arbeit nicht an seiner Stelle leisten. Viele werden insbesondere eine abschließende Reflexion zur Theorie vermissen. Auch im Mitschnitt der erwähnten dreisemestrigen Vorlesung fand sich nichts dafür Verwertbares. Die hier beschriebene Anlage des Manuskripts gibt jedoch Hinweise auf ein solches Resümee. Denn daß Hartmann dem Text um so distanzierter gegenübersteht, je näher er ihn verfolgt, ist unverkennbar. Andererseits hält Hartmann die im zweiten Kapitel diskutierte Grundlegung des spekulativen Standpunkts' durch Hegel für überzeugend, ja er glaubt, von dieser Einschätzung überzeugen zu können, wie es an der wohl einzigen persönlich gehaltenen Stelle im Manuskript heißt. Und auch in den späteren Passagen hält Hartmann seine Interpretation dem Hegeischen Text für durchaus adäquat: für einen kritischen Maßstab, der nicht ausschließt, daß einzelne der Figuren als nicht überzeugend entwickelt oder überhaupt entbehrlich erscheinen. Anders ausgedrückt: exegetisch wie objektiv wirkt es fest gegründet, in Hegels Logik eine ,Ontologie als Kategorienlehre' zu sehen, mag im einzelnen auch noch manches gestalt- und verbesserbar sein. Vielleicht hätte es Hartmann sogar bei diesen Hinweisen belassen; dabei belassen jedenfalls muß es der Herausgeber. Tübingen, im Sommer 1999
Olaf Müller
Inhaltsverzeichnis Vorwort Vorbemerkungen des Herausgebers
V XI
Einleitung
l
Erstes Kapitel Thema und Theorie in der Hegeischen Philosophie
4
1. [Das System als Denken des Ganzen]
4
2. Das Desiderat einer Einleitung in die Logik und in die Hegeische Philosophie allgemein Hinführung über das Bewußtsein Besinnung auf das Denken Denken und andere Zugänge zur Wirklichkeit Denken von Fremdem Affinitätsspekulation und formales Denken Gewißheit und Affinität Ein Bedenken Analogien
8 9 12 13 16 18 20 22 22
3. Die Idee einer begründeten Ontologie Der spekulative Standpunkt Das Verstandesdenken Empirie Begriff und Kategorie Die „vormalige Metaphysik" Theoriebedürfnis, Ontologie Das Theoriesubjekt Die Methode Der Bereich der Hegeischen Ontologie Einteilung der Logik Ontologizität, Propositionalität, Nominalität
23 24 24 25 26 28 29 30 31 32 33 34
XIV
Inhaltsverzeichnis
Zweites Kapitel Die Grundlegung von Bestimmtheit: die qualitative Seinslogik
37
1. Der Ausgangspunkt der Hegeischen Bestimmtheitstheorie: Sein und Nichts 2. Sein und Existentialsein 3. Die Anbahnung von Bestimmtheit: Werden 4. Dasein 5. Etwas 6. Etwas und ein Anderes 7. Zur Deutung des Seins in der qualitativen Seinslogik (1) 8. Denkmittel 9. Kategorialität 10. Typisch Qualitativ-Seinslogisches 11. Eine Kritik an Hegels Denkmitteln 12. Die Dialektik der Grenze; Endliches 13. Zur Deutung des Seins in der qualitativen Seinslogik (2) 14. Übergang zur Schließung: Sollen und Schranke 15. Schließung: Unendliches und Fürsichsein 16. Das Eins 17. Ansich, Fürsich und die Deutung der Qualität
37 43 44 50 54 56 60 60 61 62 66 69 75 77 80 83 85
Drittes Kapitel Quantität und Maß 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Die Konzeption der Quantität Die qualitative Anbahnung der Quantität Reine Quantität oder Quantität als begriffene Kontinuierliche und diskrete Größe Das Quantum als Zahl Geometrie Arithmetik Extensives und intensives Quantum Die quantitative Unendlichkeit Das quantitative Verhältnis Exkurs zur Infinitesimalrechnung Ontologische Betrachtung des Unendlichen in der Differentialrechnung Die Differentialrechnung als Operation Entwicklungsfunktionen: Binom und Reihe Verhältnis und Gleichung
90 91 97 99 100 104 106 109 112 114 116 117 121 125 130
Inhaltsverzeichnis
XV
Das Interesse der Differentialrechnung: die Anwendung Integralrechnung Integration und Kontinuum Die Ontologie der Quantität 12. Das Maß Stationen des Maßes Das Werden des Wesens
134 137 140 145 147 150 158
Viertes Kapitel Grundlegung von Erklärung: Die Wesenslogik
163
Die Wesenskonzeption [Erster Abschnitt. Das Wesen als Reflexion in ihm selbst] 163 Die systemanalytische Situierung des Wesens 164 Leistungen der Wesenskonzeption 165 Die dialektische Konstitution des Wesens [Erstes Kapitel. Der Schein] 167 A. Das Wesentliche und das Unwesentliche 167 B. Der Schein 168 C. Die Reflexion 168 1. Die setzende Reflexion 169 2. Die äußere (oder voraussetzende) Reflexion 171 Anmerkung 172 3. Bestimmende Reflexion 172 Die wesenslogische Deutung der sogenannten logischen Prinzipien oder „allgemeinen Denkgesetze" (II, 24). [Zweites Kapitel. Die Wesenheiten oder die Reflexionsbestimmungen] 174 Formale Wesenskonzeption und Sätze [Anmerkung. Die Reflexionsbestimmungen in der Form von Sätzen] 175 A. Die Identität 176 Anmerkung l. Abstrakte Identität 177 Anmerkung 2. Erstes ursprüngliches Denkgesetz, Satz der Identität 177 B. Der Unterschied 181 1. Der absolute Unterschied 181 2. Die Verschiedenheit 182 Anmerkung. Satz der Verschiedenheit 183 3. Der Gegensatz 185 Anmerkung. Die entgegengesetzten Größen in der Arithmetik 186 Anmerkung. Einheit des Positiven und Negativen . . . 186
XVI
Inhaltsverzeichnis
Anmerkung. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten C. Der Widerspruch Der Widerspruch als Problem der Hegeischen Dialektik [insbesondere: Anmerkung. Der Satz des Widerspruchs] [Drittes Kapitel. Der Grund] Anmerkung. Satz des Grundes A. Der absolute Grund a) Form und Wesen b) Form und Materie c) Form und Inhalt B. Der bestimmte Grund a) Der formelle Grund Anmerkung. Formelle Erklärungsweise aus tautologischen Gründen b) Der reale Grund Anmerkung. Formelle Erklärungsweise aus einem vom Begründeten verschiedenen Grund c) Der vollständige Grund C. Die Bedingung a) Das relativ Unbedingte b) Das absolute Unbedingte c) Hervorgang der Sache in die Existenz Probleme der abstrakten Wesenslogik Zweiter Abschnitt. Die Erscheinung Erstes Kapitel. Die Existenz Ding an sich und Ding [A. Das Ding und seine Eigenschaften] a) Ding an sich und Existenz b) Die Eigenschaft Anmerkung. Das Ding-an-sich des transzendentalen Idealismus c) Die Wechselwirkung der Dinge B. Das Bestehen des Dings aus Materien C. Die Auflösung des Dings Anmerkung. Die Porosität der Materien Ding-an-sich und Ding [eine erste Wertung] Zweites Kapitel. Die Erscheinung A. Das Gesetz der Erscheinung B. Die erscheinende und die an sich seiende Welt C. Auflösung der Erscheinung
187 188 190 195 197 197 198 200 202 204 204 204 205 206 208 210 211 212 213 215 221 221 224 224 226 227 227 228 229 229 230 231 231 234 237
Inhaltsverzeichnis
XVII
Drittes Kapitel. Das wesentliche Verhältnis A. Das Verhältnis des Ganzen und der Teile Anmerkung. Unendliche Teilbarkeit B. Das Verhältnis der Kraft und ihrer Äußerung a) Das Bedingtsein der Kraft b) Die Sollizitation der Kraft c) Die Unendlichkeit der Kraft C. Verhältnis des Äußern und Innern Anmerkung. Unmittelbare Identität des Innern und Äußern
238 239 241 242 243 243 244 245
Dritter Abschnitt. Die Wirklichkeit Erstes Kapitel. Das Absolute A. Die Auslegung des Absoluten B. Das absolute Attribut C. Der Modus des Absoluten Anmerkung. Spinozistische und Leibnizsche Philosophie Modalität [Zweites Kapitel. Die Wirklichkeit] A. Zufälligkeit oder formelle Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit B. Relative Notwendigkeit oder reale Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit C. Absolute Notwendigkeit Anmerkungen zur Modalität Die Substanz [Drittes Kapitel. Das absolute Verhältnis] A. Das Verhältnis der Substantialität B. Das Kausalitätsverhältnis a) Die formelle Kausalität b) Das bestimmte Kausalitätsverhältnis c) Wirkung und Gegenwirkung C. Die Wechselwirkung [Schlußreflexionen zum 4. Kapitel]
250 251 253 255 256
265 268 270 272 273 275 276 276 278 278 280
Fünftes Kapitel [Vollendete Erklärung: Die .subjektive' Logik]
285
Einleitendes zur subjektiven Logik Die Konzeption des Begriffs [Vom Begriff im Allgemeinen].. Einteilung
248
257 258 261
285 288 292
XVIII
Inhaltsverzeichnis
Erster Abschnitt. Die Subjektivität Begriff und Begriffe [Erstes Kapitel. Der Begriff] A. Der allgemeine Begriff Der Allgemeinbegriff oder der besondere Begriff [B. Der besondere Begriff] C. Das Einzelne Zweites Kapitel. Das Urteil Einleitendes A. Das Urteil des Daseins a) Das positive Urteil b) Negatives Urteil c) Unendliches Urteil B. Das Urteil der Reflexion a) Das singuläre Urteil b) Das partikuläre Urteil c) Das universelle Urteil C. Das Urteil der Notwendigkeit a) Das kategorische Urteil b) Das hypothetische Urteil c) Das disjunktive Urteil D. Das Urteil des Begriffs a) Das assertorische Urteil b) Das problematische Urteil c) Das apodiktische Urteil Drittes Kapitel. Der Schluß Einleitendes A. Der Schluß des Daseins a) Erste Figur des Schlusses b) Die zweite Figur: B-E-A c) Die dritte Figur: E-A-B d) Die vierte Figur: A-A-A, oder der mathematische Schluß Anmerkung. Die gewöhnliche Ansicht des Schlusses B. Der Schluß der Reflexion a) Der Schluß der Allheit b) Schluß der Induktion c) Der Schluß der Analogie C. Der Schluß der Notwendigkeit a) Der kategorische Schluß b) Der hypothetische Schluß c) Der disjunktive Schluß
293 293 294 295 297 300 300 306 306 310 313 316 317 318 318 320 320 322 323 326 327 328 328 331 331 334 334 338 341 343 344 344 346 347 348 351 352 354 358
Inhaltsverzeichnis
XIX
Zweiter Abschnitt. Die Objektivität Erstes Kapitel. Der Mechanismus A. Das mechanische Objekt B. Der mechanische Prozeß a) Der formale mechanische Prozeß b) Der reale mechanische Prozeß c) Das Produkt des mechanischen Prozesses C. Der absolute Mechanismus a) Das Zentrum b) Das Gesetz c) Übergang des Mechanismus Zweites Kapitel. Der Chemismus A. Das chemische Objekt B. Der Prozeß C. Übergang des Chemismus Drittes Kapitel. Teleologie A. Der subjektive Zweck B. Das Mittel C. Der ausgeführte Zweck
360 364 364 365 366 366 367 367 367 368 368 369 369 370 371 374 377 379 380
Dritter Abschnitt. Die Idee Erstes Kapitel. Das Leben A. Das lebendige Individuum B. Der Lebensprozeß C. Die Gattung Zweites Kapitel. Die Idee des Erkennens A. Die Idee des Wahren a) Das analytische Erkennen b) Das synthetische Erkennen 1. Die Definition 2. Die Einteilung 3. Der Lehrsatz B. Die Idee des Guten Drittes Kapitel. Die absolute Idee
385 389 393 396 398 400 409 411 416 417 420 423 432 440
Personenregister
463
Sachregister
465
Einleitung Die für das vorliegende Buch leitende Idee ist, daß Hegels Logik eine bedeutsame philosophische Theorie ist (worüber sie Theorie ist, und auch, was philosophische Theorie* besagt, mag noch der Klärung bedürftig sein). Dementsprechend muß es uns darum gehen, ihren Theorieanspruch zu verstehen und zu beurteilen, also die eigenen Gründe für ihre Machart und ihre Rechtfertigung abzuschätzen. Ein solches Vorhaben erscheint heute auf dreierlei Weise naiv. Einmal kann die generelle Einsicht der Hermeneutik ins Feld geführt werden, daß ein historisches Werk, auch ein philosophisches, , verstanden' werden müsse, wobei das Verstehen die Distanz zwischen unserem Selbst- und Theorieverständnis [einerseits] und dem Werk mit dem zugrundeliegenden Selbstverständnis des Autors und dessen Theorieverständnis [andererseits] überbrücken müßte (die Gadamer-Problematik).1 Das Unwillkommene hieran wäre die Relativierung des Werks auf seine Zeit und der Deutung auf unsere. Dann könnte ein Werk wie Hegels Logik gesehen werden als Ergebnis (oder doch Stufe) im Rahmen von Hegels eigener Denkentwicklung, so daß hermeneutisch zu Verstehendes noch wieder in sich selbst komplex ist, Aufklärung aus früheren Stufen verlangt. (Hier sind eindrucksvolle moderne Bemühungen - etwa die Untersuchung im Umkreis des Bochumer Hegel-Archivs, besonders auch Arbeiten von K. Düsing, L. Siep u.a. - zu verzeichnen.2 Ein solcher Rückgriff kann sich zudem auf eine ganze geistesgeschichtliche Epoche, wie die des Deutschen Idealismus, erstrekken (R. Kroner,3 z.T. auch die genannten modernen Bemühungen). Schließlich kann, gleichsam entgegen der Hermeneutik, die Meinung bestehen, daß Uminterpretationen, deren Beliebigkeit schwer abgrenzbar 1 2
3
Siehe H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975. K. Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, Hegel-Studien Beiheft 15, Bonn 1976; L. Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg/München 1979; H.S. Harris, Hegel's Development. Toward the Sunlight 1770-1801, Oxford 1972; ders., Hegel's Development. Night Thoughts 1801-1806, Oxford 1984; R.-P. Horstmann, Einleitungen [zu den Bde. II u. III von: G.W.F. Hegel, Jenaer Systementwürfe, Hamburg 1982 bzw. 1987]; M. Baum, Die Entstehung der Hegeischen Dialektik, Bonn 1987. R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Tübingen 21961.
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Einleitung
ist, statthaft seien, wobei gewisse große Werke die Eigenart hätten, Uminterpretation zu gestatten und dennoch von Interesse zu bleiben. Zu denken wäre etwa an eine Uminterpretation der Hegeischen Logik wie die von M. Theunissen, der in dem Werk eine Sozialphilosophie erblickt.4 Anders zu beurteilen wären Uminterpretationen im Sinne der Abbildung auf eine andere grundlegende Position, so wenn etwa versucht wird, das für einen analytischen Ansatz Faßbare und Haltbare an Hegels Logik herauszustellen und anderes, dem sich nicht Fügendes - etwa Hegels ontologische Orientierung - einer Kritik zu unterwerfen oder als unterwegs zu etwas Besserem zu deuten.5 Hier können wertvolle Erkenntnisse zu Tage treten, aber auch bedenkliche Beurteilungen entstehen. Angesichts dieser Gesichtspunkte, die der Betrachtung eines Werks wie der Hegeischen Logik als philosophische Theorie im Wege stehen könnten, soll hier die Meinung vertreten werden, daß Naivität vermieden werden kann und doch ein Ernstnehmen des Werks als philosophische Theorie möglich ist. Eine Theorie gibt die besten Gründe, die sie meint geben zu können, sie unterstellt sich der Kraft von Argumenten, und solche Argumente und Gründe für ihre Machart und Geltung gilt es zu beurteilen. Die Freiheit besteht dann durchaus, die Machart der Theorie zu kritisieren, sich überzeugenden Gegengründen anzuschließen. Der Hermeneutiker mag das Verständnis, das in dieser Metabetrachtung einer philosophischen Theorie liegt, nachträglich relativieren, aber wie eine Theorie sich nicht selbst relativieren kann, so kann es auch eine Metabetrachtung nicht. Gesagt sein soll nur, daß nicht aus Furcht vor nachfolgender Relativierung eine Bemühung um Theoriebildung und Metabetrachtung unterbleiben sollte. Die Metabetrachtung nimmt in Anspruch, daß es Argumente und Gründe gibt, die geltend gemacht (oder bei der Thematheorie vorgefunden und gebilligt) werden können. - Die Gefahr der willkürlichen Uminterpretation läßt sich dabei vermeiden, wenn die untersuchte Theorie nach ihrem Theorietyp und ihrem Thema geklärt und beurteilt wird, man aber zugleich Abstand nimmt von Bemühungen, das andersartige Gewünschte schon in der Thematheorie finden zu wollen. - Schließlich wird es entbehrlich sein, die Hegeische Denkentwicklung näher einzubeziehen, soweit gelten kann, daß die Logik (in WdL
M. Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegeischen Logik, Frankfurt/M. 1978. Dazu: H.F. Fulda, R.-P. Horstmann, M. Theunissen [Kritische Darstellung der Metaphysik: Eine Diskussion über Hegels Logik, Frankfurt/M. 1980]. Siehe etwa die bemerkenswerte Schrift von H.-P. Falk, Das Wissen in Hegels Wissenschaft der Logik, Freiburg/München 1983.
Einleitung
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und E)6 eine fertige Theorie, ein Endergebnis dieser Denkentwicklung ist, das in sich selbst verständlich sein muß (mit Mängeln, die Hegel in seiner Redaktion des 1. Buches der WdL im Jahre 1831 noch zu beheben suchte, so daß die übrigen zwei Bücher den Charakter einer letztwilligen Position nicht haben; auch sie hätte Hegel wohl umgearbeitet). Die der Logik vorausliegende Denkentwicklung wird dort heranzuziehen sein, wo Besonderheiten der Hegeischen Lehrmeinung, ja Absonderlichkeiten und Idiosynkrasien auf frühere Lehrmeinungen oder allgemeiner auf deutschidealistische Theoriestücke verweisen und hierdurch als aufklärbar erscheinen. Die systematische Betrachtung wird sich nicht scheuen, Verbesserungen anzudeuten, Möglichkeiten größerer Stringenz, wo diese notleidend zu sein scheint. Da es sich um die Theorie in Hegels Logik handelt, wird es etwa auch angängig sein, systematische Reflexionen und Plausibilitätsüberlegungen zu geben und nicht einfach einen kursorischen Kommentar zur WdL, so sehr der Abfolge der Theorieschritte Rechnung getragen werden soll.
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Hartmanns Abkürzungen wurden übernommen. Es bedeuten ,WdL': G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik (Ausgabe: Hamburg 21932); ,E': ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (Hamburg 71969). Des weiteren ,PG': ders., Phänomenologie des Geistes (Hamburg 61952); ,Rph': ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts (Hamburg 41955); ,Gph': ders., Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (Hamburg M955). - ,KrV: I. Kant, Kritik der reinen Vernunft; A = 1. Auflage von 1781, B = 2. Auflage von 1787. - Bei Zitatangaben aus der WdL wird nur jeweils Band- und Seitenzahl genannt. Anm. d. Hrsg.
Erstes Kapitel Thema und Theorie in der Hegeischen Philosophie 1. [Das System als Denken des Ganzen] Die Hegeische Logik ist Teil einer umfassenden Philosophie, eines ,Systems', und ihr Verhältnis zu den anderen Systemteilen - aber auch ihre separate Thematisierbarkeit - bedarf der Klärung. Hegel war ein Philosoph der Fülle: er hat so gut wie alle philosophischen Disziplinen abgehandelt, von Erkenntnistheorie (in der PG, auch in E) über Logik und Metaphysik mit einem noch zu klärenden Sinn (in der WdL, parallelisiert in E) zu Anthropologie (E), Rechtsphilosophie (Rph und E), Geschichtsphilosophie (Rph und Gph), Ästhetik (in den diesbezüglichen Vorlesungen, aber auch der PG) und Religionsphilosophie (PG, E und in den diesbezüglichen Vorlesungen). Es ist nun naheliegend, daß Hegels Gesamtsicht im System eine privilegierte Auslegung der Welt, eine Orientierung an einer bevorzugten Region oder an einer bestimmten Charakteristik der Welt widerspiegelt. In Frage kommt für solch eine ,regionalistische' Deutung Hegels etwa die Geschichte (auf der Ebene staatlicher Existenz des Menschen) oder auch die geschichtliche Sicht der Welt in einem umfassenderen Sinn (als Philosophie, Kunst und Religion betreffend).1 Eine andere regionalistische Deutung der Hegeischen Philosophie wäre, daß sie eine Philosophie des primär Ganzheit liehen, Organischen, die Philosophie einer organizistischen Sicht der Welt, sei. (Diltheys Akzent auf ,Lebensphilosophie' hat hier ihren Ansatzpunkt.)2 Engere regionale Auslegungen besagten etwa, daß Hegel der Philosoph des Staates, insbesondere vielleicht des monarchischen Staates sei. Hier, so könnte die Meinung sein, kulminiere für ihn etwas Sozial-Ganz Von der Geschichte beherrschte Hegeldeutungen etwa bei K. Marx („Die deutsche Ideologie") [in: K. Marx, F. Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1959] oder bei Linkshegelianern wie A. v. Cieszkowski, in: Prolegomena zur Historiosophie [Berlin 1838, Nachdruck Hamburg 1981]. Zu Dilthey, vgl. [W. Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels, Stuttgart 31959]. Neuerdings werden Parallelen zwischen Hegels Organik und A.N. Whitehead gezogen. Vgl. etwa G.R. Lucas, Jr., Two Views of Freedom in Process Thought. AAR-Dissertation Series 28, Missoula (Montana) 1979.
[Das System als Denken des Ganzen]
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heitliches in der Konkretion. - Oder wir könnten sagen, Hegel sei einer der ersten Philosophen, die das Thema der menschlichen Selbstverwirklichung durch Arbeit behandelt hätten, wie dies Marx in seiner Deutung der PG darstellt.3 (Zu denken ist auch [an] J. Habermas' Pointierung der Jenaer Schriften unter dem Motto von ,Arbeit und Interaktion'.4) - Solche regionalistischen Festlegungen Hegels auf Lieblingsthemen erscheinen [aber], wenn nicht irrig, so doch nicht zwingend. Die wichtigste, und von Hegel am ehesten urgierte regionale Festlegung ist diejenige auf den Geist als Thema. Geist wäre der thematische Bereich, dem Hegel am meisten gerecht geworden ist, ja den er erst entworfen oder aufgewertet hat zu etwas, was Hauptsache der Philosophie sein könnte (wobei allerdings der Aristotelische Vorgang nicht übersehen werden darf). Der Geist wäre etwas Lebendiges, Ganzheitliches, Eines, Absolutes, das alles durchwirkt, wobei wir auf Phänomene wie Erkenntnis und Wissenschaft, auf die sittliche Gemeinschaft, auf den Staat und so manches Weitere verweisen könnten. Die Welt böte sich unter dieser Perspektive gleichsam von ihrer geistigen Seite dar.5 So gesehen wäre Hegels Philosophie eine regionale, und darin monistische Philosophie; Geist wäre ihr bevorzugter Gegenstand. Das Thema Idealismus gegenüber Materialismus meldet sich hier.6 Möglicher Vorwurf gegenüber einer so verstandenen Philosophie Hegels ist der der einseitigen Sicht von Wirklichkeit, wenn nicht gar ihrer Verkehrung (ein Vorwurf, den Feuerbach und Marx gegen Hegel erhoben haben).7 Nun kann es aber nicht sein Bewenden damit haben, den Geist als Gegenstand der Hegeischen Philosophie anzusehen, so sehr die Bevorzugung dieses Themas auch vorliegt. Schon eine exoterische Plausibilitätser3 4 5
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Marx-Engels-Werke, Ergänzungsband l, Berlin 1968, S. 574. J. Habermas, Technik und Wissenschaft als .Ideologie', Frankfurt a.M. 51971, S. 9-47. Trotz aller Offensichtlichkeit des Geist-Themas bei Hegel mag es dennoch angängig sein, auf einen Autor wie J.N. Findlay hinzuweisen. Siehe bes.: Ascent to the Absolute, London 1970. Vgl. J.N. Findlay, a.a.O., S. 132, wo Hegel ebenso ein absoluter Idealismus und Spiritualismus wie ein dialektischer Materialismus zugeschrieben wird. Bei L. Feuerbach, der Hegels Philosophie als philosophische Theologie sieht, vgl. bes. „Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie und Grundsätze der Philosophie der Zukunft" in: Sämtliche Werke, neu hrsg. von W. Bolin und F. Jodl, Bd. 2, Nachdruck Stuttgart 1959, S. 222-244 u. 245-320 (vgl. auch I. Iljin, Die Philosophie Hegels als kontemplative Gotteslehre, Bern 1946). Bei K. Marx, siehe bes. alle philosophischen Frühschriften, beginnend mit den „Anmerkungen zur Dissertation" bis hin zu den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten (1844) [Marx-Engels-Werke, Ergänzungsband l, Berlin 1968], aber auch „Die deutsche Ideologie" [Marx-Engels-Werke, Bd. 3, 1959]. Die „Thesen über Feuerbach" liefern eine Kritik an der Feuerbachschen Hegelkritik [a.a.O.].
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Thema und Theorie in der Hegeischen Philosophie
wägung zeigt das; denn es gehört zu dieser Konzeption doch auch, daß es sich dabei um etwas Subjektives handelt: daß sich Geist zu Geist verhält, wenn dieser das Thema ist. Geist wäre Gegenstand und Organ, also die Einheit beider. Geist kann als Vereinzelung seiner selbst, als einzelnes Subjekt, einem einzelnen Subjekt gegenüberstehen (etwa in einem Anerkennungsverhältnis), oder ein oberstes (.absolutes') Selbstverhältnis beinhalten. Es eröffnet sich auch die Verallgemeinerung, wonach etwas Beliebiges vom Geist her, im Denken, erfaßt wird, oder gerade ungeistig fehlverstanden wird. Der privilegierte Gegenstand ,Geist' erweist sich also zugleich in subjektiver Hinsicht als theorierelevant. Die Genesis dieser bevorzugten Konzeption ,Geist' in Hegels Denkentwicklung zeigt denn auch, daß sie nicht aus einer naiven regional-thematischen Überlegung stammt, sondern in theorielogische Zusammenhänge gehört. Zunächst ging es Hegel, wenn wir Düsing folgen, um eine Einheit von Gegensätzen: im ethischen Kontext um eine Einigkeit von Getrennten in der Liebe, um Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit; im metaphysischen Kontext um [Einheit von] Sein und Leben oder Gott, um eine Synthese von Subjekt und Objekt, um Vereinigung als Grund des Bestehens Entgegengesetzter; und in erkenntnistheoretischem Kontext um das Verhältnis zwischen einer Reflexion, die an endlichen Getrennten festhält, und der zugrundeliegenden Einheit, um Philosopheme also, die wie das Fichtes in endlicher Reflexion befangen blieben, und um deren Kritik.8 Sind solche Intentionen im ,Systemfragment* von 1800 sichtbar, so gelangt Hegel mit seinem .Ersten System' von 1801/02 zu einem philosophischen Gesamtaufbau, in dem Geist für das vorher verschieden benannte Ganze, Vereinigte, Oberste steht.9 In eins damit gelangt Hegel auch zur versuchsweisen Lösung der Aufgabe, diese Konzeption als Ergebnis eines Denkens anzubahnen, das von Gegensätzen auf verschiedenen Stufen ausgeht. (Hegel steht hier in einer Tradition deutsch-idealistischer Begründungsprogramme; eine interessante Frage ist, wie weit 1800 oder 1801/02 schon Dialektik vorliegt.)10 Die Hegeische Philosophie wäre ein Denken des Ganzen, und zwar insofern dieses und sie selbst Geist sind. Sie wäre als Metaphysik (wie wir vorläufig sagen wollen) - als Erkennenwollen des Obersten - gleichzeitig eine Philosophie, die, insofern sie selbst Denken ist und damit Geist, das 8 9
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K. Düsing, a.a.O., S. 50-64. ,Systemfragment' in: G.W.F. Hegel, Frühe Studien und Entwürfe 1787-1800, Berlin 1991. Die Veröffentlichung des .Ersten Systems' ist offenbar für Bd. 5 der Ges. Werkausgabe, Hamburg vorgesehen. Anm. d. Hrsg. K. Düsing, a.a.O., S. 102. - Zur Genesis der Dialektik bei Hegel vgl. Anm. 2.
[Das System als Denken des Ganzen]
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ihr affine, kongeniale Thema erfassen, ja ihren metaphysischen Gegenstand und in eins damit sich selbst begründen will. Hier tritt also eine begründungsphilosophische Thematik ein; vom Geistbegriff aus könnte es so sein, daß das Programm einer kritischen Philosophie, die Begründungsansprüche stellt, wie dies Kant tat, in anderer - zunächst unkritisch anmutender - Form wiedererscheint.11 Die Logik nun wäre der Bereich Hegelscher Philosophie, in dem das Begründungsprogramm seinen Ursprungsort hat, so sehr dafür noch näher zu argumentieren ist. Hier müßten die entscheidenden Schritte getan werden, um Welt als Geist zu begreifen. Die Logik tritt damit an die Stelle dessen, was die Transzendentalphilosophie zu leisten versuchte. Hegels Begründungsphilosophie ist nicht unmittelbar Fortsetzung des Kantischen Ansatzes, auf den Hegel zurückblickt als auf etwas Unvollkommenes, an ein fixiertes menschliches Subjekt Angeknüpftes. Vielmehr scheint Hegels Philosophie orientiert an dem Gedanken, was der wahre Gegenstand (oder das Absolute) sei. Ist Leben, ist Geist der wahre Gegenstand, ist die Welt letztlich Geist? Die Wendung vom ,Gegenstand' recht verstanden, führt diese Intention auf eine Begründung von Wahrheit in einem von Kant abweichenden Programm. So gesehen laßt sich Hegels Philosophie auffassen als eine Verbindung von Metaphysik und Transzendentalphilosophie in verändertem Sinne: sie will zur Erkenntnis des wahren, oder, wenn es deren mehrere gibt, der wahren Gegenstände kommen, und zwar begründetermaßen. Während bei Kant die Kritik daran, daß solches aus dem Denken heraus möglich sei, sehr einschneidend ist - dahingehend, daß die wahren Gegenstände sich beschränken lassen müssen auf Erfahrungsgegenstände, Wahrheit also an ein Erscheinen geknüpft ist, hinter dem eine andere Wahrheit lauern könnte -, besteht die Aufgabe des Hegeischen Programms im Nachweis, daß man über solche wahr erscheinende Gegenstände hinaus zur Wahrheit im absoluten Sinn kommen kann.12 Die Logik hätte die Grundlage für ein solches Begründungsverfahren zu liefern. (Ihr genauer Stellenwert im Verhältnis zu den anderen Domänen der Hegeischen Philoso-
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Man kann der Meinung sein, daß dieser Gedanke das Werk von R. Kroner (Von Kant bis Hegel) beherrscht. R.-P. Horstmann erwägt zwar, ob Hegel „alles das als Gegenstand der Ontologie akzeptieren" wolle, „was an Bestimmungen in seiner Seins- und Wesenslogik auftritt" (Ontologie und Relationen, Königstein/Ts. 1984, S. 45), meint aber dann, daß das, „was ,die Wahrheit' des Ens der traditionellen Metaphysik ist [vgl. 1,45 f. E, § 44]", „,der reale Begriff oder ,die Idee'" sei - das übrige nur dessen „genetische Exposition' [II, 213]" (a.a.O., S. 46). Vgl. auch die Kritik am Standpunkt des Autors (a.a.O., S. 47, Anm. 13).
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Thema und Theorie in der Hegeischen Philosophie
phie - Naturphilosophie, Philosophie des Geistes - bedarf offensichtlich weiterer Klärung.)
2. Das Desiderat einer Einleitung in die Logik und in die Hegeische Philosophie allgemein In der Anbahnung des Vorhabens der Hegeischen Philosophie von ihrem Thema her erschien der Geist als ein Lieblingsgedanke oder auch als eine kluge Dezision, zeigte sich doch die Affinität des Themas zu einer Theorie der Wahrheit. Es ist auch anzusetzen, daß Hegel nach einem wesentlich intuitiven (im wörtlichen Sinne ,spekulativen') Stadium Denkmittel·^ findet, um seinen Gedanken Strenge zu geben, also die Aufstellung des Absoluten selbst als des Bezugspunkts für alles Nicht-Absolute zu rechtfertigen. (Unter diesen Denkmitteln verstehen wir, was zur Dialektik in ihrer positiven - nicht nur das Negative aufzeigenden Funktion gehört.) Aber schon vor dieser Durchführung - von der wir vorausahnen, daß sie in einer Immanenz der am Absoluten festgemachten Wahrheitsauffassung bleiben muß - möchte man zu ihrem Standpunkt hingeführt werden, ohne ihn bereits eingenommen zu haben; wir wünschen also eine Einleitung. Wenn man davon absieht, daß einzelne frühe Schriften (wie „Glauben und Wissen", das Systemprogramm von 1800, die Jenaer Entwürfe oder auch die .Differenzschrift')14 Besinnungen auf eine am Absoluten festgemachte Sicht und somit auch Hinführungen darstellen, so kann gelten, daß Hegel drei Einleitungen der gewünschten Art geschrieben hat.
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Dieser Ausdruck mag entgegen Hegels Kritik am Begriff des Mittels oder Werkzeugs hingehen (vgl. PG, S. 63-65). Durch diese Kritik wird nicht bestritten, daß Begriffe für das Denken und das Erkennen erforderlich sind. Wenn die Verwendung gewisser Begriffe und die Ansetzung gewisser Verhältnisse zwischen ihnen angeraten ist, kann durchaus von .Denkmitteln' gesprochen werden. „Glauben und Wissen", Jenaer Kritische Schriften Bd. 3, Hamburg 1986; mit „Systemprogramm" meint Hartmann wohl das sog. .Systemfragment' (vgl. Anm. 15). Jenaer Systementwürfe Bd. 1-3, Hamburg 1986, 1982, 1987. .Differenzschrift': „Differenz des Fichteschen und Schellingschen System der Philosophie", Hamburg 1979. Anm. d. Hrsg.
Desiderat einer Einleitung in Logik und in Hegeische Philosophie allgemein
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Hinführung über das Bewußtsein
Eine ein ganzes Buch ausmachende Einleitung, die Phänomenologie des Geistes, ist in sich eine Gesamtdarstellung der Hegeischen Philosophie von einem subjektiven Standort aus; durch ihren Charakter einer Gesamtdarstellung, welche zwar auf Späteres verweist, aber dies Spätere doch andererseits schon enthält, geht der Einleitungscharakter in gewisser Weise verloren.15 Die PG ist, wenn wir ihren Titel übersetzen, eine Erscheinungslehre des Geistes oder eine Philosophie des erscheinenden Geistes. Oder sie ist eine Philosophie des Bewußtseins unter dem Gesichtspunkt, daß Stadien der Vollkommenheit dieses Bewußtseins unterschieden werden können. Ein höchst unvollkommenes Stadium wäre das Konfrontiertsein mit einem jDiesen', oder einem ,Hier oder Jetzt'; keine sachhaltig-allgemeine Charakterisierung des Gegenstandes findet darin statt [vgl. PG, Kap. I, S. 79 ff.]. Ein vollkommeneres Stadium wäre dasjenige, worin Gegenstände auch bedacht und allgemein charakterisiert werden, so daß sie für das Bewußtsein als ,das und das' dastehen [vgl. PG, Kap. II, S. 89 ff.]. Im weiteren Verfolg gelten sie nicht als bloß wahrgenommen und charakterisiert, sondern als in gesetzlichen (kausalen) Zusammenhängen stehend [vgl. PG., Kap. III, S. 102 ff.]. Ein [noch] höheres Stadium in Hegelscher Deutung wäre dann eines, wo das Bewußtsein sich mit sich selbst in Beziehung setzt, sich versteht, etwa indem es sich im Anderen erkennt; das Thema der gegenseitigen Anerkennung im Stück „Herrschaft und Knechtschaft" dient der Herleitung des Selbstbewußtseins (gemeint als Stufe, die sowohl beim Herrn wie beim Knecht exemplifiziert ist; nicht intendiert ist hier schon eine soziale Pluralität) [vgl. PG, Kap. IV, S. 133 ff.]. Hegel entwirft weitere Stadien - der Vernunft, der Ethik, des Sozialen, der Kunst und Religion -, bis schließlich am Schluß die These ist, das zum Geist emporgebildete Bewußtsein erkenne, daß nichts mehr außerhalb seines Zugriffs liege. Es gäbe nichts mehr, das es nicht erfaßt. Und ein solcher Fall, eine solche Stufe, wird gedacht als der Fall des ,absoluten Wissens'. Das Gegenstehen eines Objekts, dessen Fremdsein, wäre behoben. Hegel meint, indem dieses Stadium in begründeter Progression erreicht wird, sei ein Standort gesichert, auf dem kein Zweifel mehr bestehen kann, daß ich Erkenntnis habe, sondern [wo ich] vergewissert bin, die Wahrheit zu haben.16 15
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Die PG hat natürlich ihrerseits Vorrede und Einleitung. Sie seien hier - bis auf einen Hinweis zur Einleitung - nicht eigens betrachtet. Dies Verfahren, nach einer nicht-standhaltenden Deutung des Gegenstandes den neuen wahren Gegenstand entspringen zu lassen, wird in der Einleitung näher beschrieben
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Thema und Theorie in der Hegeischen Philosophie
Man könnte nun die PG auffassen als legitime, von Hegel selbst gegebene Hinführung zur Logik und zu weiteren Systemteilen. In der WdL etwa meint er, daß der Begriff der Wissenschaft, den er für die Logik benutzt, seine Rechtfertigung „daselbst", also in der PG, erhalten habe (I, 29). Weiter heißt es, daß der „Begriff der reinen Wissenschaft und seine Deduktion [...] insofern vorausgesetzt" werde, „als die Phänomenologie des Geistes nichts anderes als die Deduktion desselben" sei (I, 30). Ähnlich bekräftigt Hegel an anderer Stelle, daß der „Begriff der Logik [...] als das Resultat einer jenseits liegenden Wissenschaft, damit hier gleichfalls als eine Voraussetzung angegeben worden" sei (I, 42). Oder er sagt, „daß die Phänomenologie des Geistes die Wissenschaft des Bewußtseins, die Darstellung davon ist, daß das Bewußtsein den Begriff der Wissenschaft, d.i. das reine Wissen, zum Resultate hat. Die Logik hat insofern die Wissenschaft des erscheinenden Geistes zu ihrer Voraussetzung" (I, 53). Dann wiederum hält Hegel die PG für „ein Beispiel von dieser Methode [der allein wahrhaften Methode der philosophischen Wissenschaft] an einem konkretem Gegenstande, an dem Bewußtsein"; das Werk wäre also Parallele, nicht Hinführung (I, 35). Nach letzterem Verständnis, aber auch in eins mit dem ersteren, rechtfertigt die Logik selbst ihren Standort: es heißt, daß der „Begriff der Wissenschaft [...] innerhalb der Logik selbst hervorgeht" (I, 29). Oder: „Die Exposition dessen aber, was allein die wahrhafte Methode der philosophischen Wissenschaft sein kann, fällt in die Abhandlung der Logik selbst" (I, 35). Eine Hinführung aber wäre die PG, indem sie auf ihrem Wege zeigt, daß das Wissen absolut sein kann, ja notwendig zum absoluten Wissen wird, und zwar dies zeigt, indem sie den Menschen dort aufnimmt, wo er, mit einiger Systematisierung, sich zunächst befindet, in der Sinnlichkeit, in Wahrnehmung und Verstandesdenken. Allerdings ist das Ansinnen der Progression des Menschen oder Bewußtseins durch die verschiedenen Stadien von einem schon Bescheid wissenden Bewußtsein geleitet, das das ,für uns' Wahre kennt und so dasjenige antizipiert, was für das thematische Bewußtsein (,für es') erst noch erfahren werden muß. Auf diese Weise werden Schritte metatheoretisch disponiert, die im Werk selbst nicht einsichtig gemacht sind.17 Das Auf-
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(vgl. PG, S. 73). Es resümiert darin, daß ein Ansich des Gegenstands zum subjektabhängigen Gegenstand für es - für das Bewußtsein - wird, dieses Für-es-sein des Ansich aber jeweils das neue Wahre ist. Im neuen Ansich soll trotz des Schon-für-das-BewußtseinSeins des Gegenstandes ein noch unbezogenes Ansich auferstehen, das es sukzessiv in Bezogenes zu verwandeln gilt. - Zur Interpretation: J. Heinrichs, Die .Logik' der Phänomenologie des Geistes, Bonn 1974, S. 7-43 (zur Vorrede [der PG]: a.a.O., S. 46-76.) Es ist dieser Mangel, der dazu nötigt, die geheime ,Logik' der PG aufzudecken, welcher Aufgabe sich das genannte Buch von Heinrichs widmet.
Desiderat einer Einleitung in Logik und in Hegeische Philosophie allgemein
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nehmen des Menschen, so wie er im systematisch einfachsten Fall, als „sinnliche Gewißheit" [PG, 79 ff.] ist, gibt zwar die Evidenz des ,tua res agitur', braucht aber nicht für die Begründung von Wissen maßgebend zu sein. Die Hinführung der PG wäre demnach nicht konstitutiv für die Logik (auch schon das Erste System und die Jenaer Logiken haben keine vorausliegende PG), und Hegel selbst entscheidet sich, Konstitutivität für die PG nicht zu fordern. (Neben den zitierten Stellen (I, 29 u. 35) liegt ein Beweis hierfür in der Einordnung einer ,Rumpf'-PG in die Philosophie des Geistes der E.) Die Logik läßt sich als Theorie gegebenenfalls billigen, auch wenn man die Hinführung der PG für theoretisch notleidend hält.18 Es muß ohne diese Hinführung gehen, und es mag eine andere, ebenfalls nicht-konstitutive Hinführung möglich sein. Wir werden noch ein weiteres Bedenken gegen die Konstitutivität der PG für den Standort der WdL kennenlernen. Vorerst haben wir nur den Hegeischen Anspruch (und die für Hegel ebenfalls gegebene Entbehrlichkeit dieses Anspruchs) erwogen, daß die PG eine Voraussetzung der Logik [sei], [was] deren Standort - das absolute Wissen, den Begriff der Wissenschaft - zu etwas Deduziertem machte, und [haben] im übrigen auf Mängel des Werkes verwiesen. 18
Abgesehen von der ,nicht-reinen' Durchführung des Hinwegs zum Standort der Logik - was den Ausgangspunkt beim Bewußtsein und die einzelnen Schritte angeht -, heften sich Bedenken gegen die PG daran, daß Hegel in ihr die ganze soziale, ästhetische und religiöse Extension des Geistes unterbringen will, bevor er die Identität von Sein und Begriff erreicht. Hiervon ist er selbst in seiner ,Rumpf'-Phänomenologie der E abgerückt. Vgl. auch die Kommentierung der PG durch G.A. Gabler (in: Kritik des Bewußtseins, Neue Ausgabe Leiden 1901), der die PG mit dem Kapitel .Vernunft' enden läßt. Zur Frage der Entbehrlichkeit der PG nimmt R. Aschenberg einen eigenen Standpunkt ein. Er meint (in: Sprachanalyse und Transzendentalphilosophie, Stuttgart 1982, S. 388) - obwohl der „transzendental-spekulative Standpunkt der Kategorialität" „auch .innerhalb der Logik selbst hervorgeht', so daß die Phänomenologie als ein elenktisch-epagogisches Einleitungsargument .entbehrlich' scheinen könnte" -, sei die Phänomenologie „insoweit gerade nicht .entbehrlich', als die systeminterne Begründung des Prinzips nur den Transzendentalisten selbst zu überzeugen vermag, aber nicht das .natürliche Bewußtsein', dem von seinem Standpunkt her der Standpunkt der Spekulation ganz fremd bleiben müßte, würde ihm keine .Leiter' gereicht." Zur Überwindung des Skeptikers bedarf es also der PG. Dieses Argument ist sicherlich Hegelsch, spricht dieser selbst doch vom „sich vollbringenden Skeptizismus" (PG 67); dann aber fällt das Gewicht wiederum auf die internen Mängel des Werkes, dem die Stringenz der Progression mangelt. [Im Vorangegangenen zitiert Aschenberg aus bzw. verweist auf: WdL I, 57; R. Wiehl, Phänomenologie und Dialektik, in: H.-G. Gadarner (Hrsg.), Stuttgarter-Hegeltage 1970, Bonn 1974, S. 631 f.; K. Hartmann, Die ontologische Option, Berlin/New York 1976, S. 25; PG, S. 22, vgl. auch S. 17.]
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Thema und Theorie in der Hegeischen Philosophie
Besinnung auf das Denken Die zweite Hinführung, diesmal nur zur Logik, liegt vor in deren Vorreden zur 1. und zur 2. Ausgabe und in der Einleitung (I, 3-41). Diese drei Texte haben (ähnlich wie die Vorrede zur PG) etwas Schweifendes, wird in ihnen doch einerseits Propädeutisches geboten, andererseits aber auch schon auf die Durchführung einer am Absoluten orientierten Philosophie eingegangen, auf die dialektische Methode [also], die hier im Augenblick noch zurückgestellt sei (vgl. I, 34 ff.). Ebenso findet sich ein Eingehen darauf, was Sache der Logik und was Sache anderer philosophischer Disziplinen sei; auch dies ist noch zurückzustellen. Die beiden wesentlichen Gedanken, die wir aus diesem Text entnehmen wollen, sind [zum einen] der Hinweis darauf, daß im Denken und in der Sprache Kategorien „eingehüllt" sind (I, 10, ähnlich schon 9, dann 16 f., 20), daß es einen „bewußtlosen Gebrauch der Kategorien" gebe (I, 13), wogegen es gelte, diese Kategorien zu erkennen (vgl. 1,11 f.), sich mit ihnen als „reinen Gedanken" zu beschäftigen (1,12) - und [zum anderen] das Plädoyer für den Begriff (oder die bestimmten Kategorien) als „Denkbestimmungen" (1,14 f., 19 f.), die auch Bestimmungen der Sache' seien (vgl. I, 30), also ein Plädoyer für die Kategorialität gewisser Begriffe oder des Denkens (vgl. I, 18 f.). Diese beiden Thesen, die Relevanzthese im Zusammenhang mit Kategorien und die Identitätsthese von Sein und Begriff, werden im folgenden, zusammen mit dem Einleitungstext zur E, noch näher zu bedenken sein. Die dritte Hinführung zur Hegeischen Philosophie und damit auch und zunächst zur Logik, nämlich der der E als Einleitung vorangestellte Text (E, §§ 1-18 unter Hinzunahme von §§ 20-25 des , Vorbegriffs') sei hier näher betrachtet. (Der längere darauf folgende Abschnitt des , Vorbegriffs', welcher die Stellung des Gedankens zur Objektivität behandelt, kann ungeachtet des Umstands, daß es sich um kritische Ausführungen zu abgelehnten Positionen handelt, ebenfalls als einleitend betrachtet werden. Eine Kennzeichnung der Dialektik findet sich erst in E, §§ 79-82.) Die nähere Betrachtung dieses im Vergleich zur WdL späteren Textes rechtfertigt sich, wenn wir die Logik in Gestalt der WdL und des 1. Buches der E, wie schon oben geltend gemacht, als fertige Theorie betrachten. Wie den anderen Einleitungen zur Logik oder zur Hegeischen Philosophie geht es auch der Einleitung in E darum zu zeigen, daß das Denken wahrheitsfähig sei. (Dies im Gegensatz zu Kant, wo die Wahrheitsfähigkeit des Denkens zu einer kritischen Überlegung führt derart, daß diese in der Metaphysik, wo das Denken sich allein auf sich selbst stützt, nicht gegeben sei, sondern nur dort, wo es sich auf Anschauung anweist.) Die
Desiderat einer Einleitung in Logik und in Hegeische Philosophie allgemein
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gegenläufige Hinführung Hegels zu seinem Standpunkt setzt ein mit einer theorielogischen Reflexion, welche die Schwierigkeit, zur Philosophie hinzuführen, beleuchtet. Hegel meint, die Philosophie habe, wie die Religion, „die Wahrheit zu ihrem Gegenstande", und zwar „im höchsten Sinne" wie auch im Sinne einer Wahrheit von Nicht-Höchstem, Endlichem, also „von der Natur und dem menschlichen Geiste" und „deren Beziehung aufeinander und auf Gott, als auf ihre Wahrheit" (E, § 1). Hierfür muß sich Philosophie immer schon auf eine Bekanntschaft mit den Gegenständen stützen. Philosophie ließe sich bestimmen als ein „denkendes Erkennen und Begreifen", als ein „denkendes Betrachten" (E, § 1), als „eine denkende Betrachtung der Gegenstände" (E, § 2). Bloße „Bekanntschaft mit ihren Gegenständen", wie sie in der Vorstellung gelegen ist, erscheint als unzureichend, schließt das denkende Betrachten doch die Forderung in sich, „die Notwendigkeit seines Inhalts zu zeigen, sowohl das Sein schon als die Bestimmung seiner Gegenstände zu beweisen" (E, § 1). Die Frage ist dann, wie weit die Philosophie den Vorgegebenheiten - als einem Unmittelbaren - verpflichtet bleibt, oder aus sich selbst heraus anfangen kann. „Voraussetzungen und Versicherungen" (E, § 1) erscheinen unzulässig, und doch kann die Hinführung der Versicherung nicht entbehren, daß das Denken das Verlangte leisten kann, nämlich die Voraussetzungen entbehrlich zu machen. Denken und andere Zugänge zur Wirklichkeit Hegel geht zunächst ein auf das Verhältnis des Denkens zu anderen Zugängen zur Wirklichkeit, die die Bekanntschaft mit Gegenständen vermitteln. Man kann von einer ^oetisch-noematischen' Betrachtung sprechen. (Damit sei gemeint eine Betrachtung von intentionalen Akten, oder Noesen, im Verhältnis zu ihrem Inhalt oder Ertrag, ihrem Noema.) Eine Abbildung Hegels auf Husserlsche Konzeptionen scheint zur Klärung nicht ungeeignet, ja, lehrreich.19 Das Denken ist [für Hegel] einerseits eine Intentionalität eigener Art (durch die sich im übrigen der Mensch vom Tier unterscheidet), andererseits ist es mit anderen Noesen koordiniert. Es hat einen Unterschied zu Anschauung, Gefühl und Vorstellung, ist aber in gewisser Weise [diesen] auch gleichartig. Der Gehalt des Bewußtseins erscheint „zunächst nicht in Form des Gedankens" (,Form' steht für noetische Charakteristik) (E, § 2 [S. 34]); zunächst - und damit reproduziert 19
Siehe E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch, Halle/Saale 1913, 3. Abschnitt, 3. Kapitel, bes. §§ 88, 90 ff.
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Thema und Theorie in der Hegeischen Philosophie
Hegel im Prinzip die noetische Disposition der PG - gäbe es näherliegende Zugänge zur Wirklichkeit wie Anschauung, Fühlen und Vorstellen. Denken ist noetisch etwas Eigenes. Der Inhalt, das Noematische, scheint dagegen nicht spezifisch auf eine Noesis beschränkt: er bleibt „ein und derselbe [...], ob er gefühlt, angeschaut, vorgestellt, gewollt und ob er nur gefühlt oder aber mit Vermischung von Gedanken gefühlt, angeschaut usf., oder ganz unvermischt gedacht wird" (E, § 3). Das Noematische ist also einerseits identisch in den verschiedenen Noesen, andererseits differenziert es sich, vermischt sich etwas dem Denken zugehörig Noematisches mit dem Noematischen der anderen Formen: „in jedem Satze von ganz sinnlichem Inhalte [...] sind schon Kategorien, Sein, Einzelheit, eingemischt" (E, § 3 [S. 36]). Von der Philosophie gilt nun, daß sie „Gedanken, Kategorien, aber näher Begriffe an die Stelle der Vorstellungen setzt" (E, § 3 [S. 35]). Der „wahrhafte Inhalt unseres Bewußtseins" wird „in dem Übersetzen desselben in die Form des Gedankens und Begriffs erhalten, ja erst in sein eigentümliches Licht gesetzt" (wobei ,erhaltenc anscheinend beides, ,bewahrt' und ,gewonnen', bedeutet) (E, § 5). Es stellt sich das Problem, ob Denken nur ein den verschiedenen noetischen Formen gemeinsames noematisches Minimum herausstellt, isoliert, oder gemeinsamen und spezifischen Inhalt faßt, also dies tut, „die Gefühle, Vorstellungen usf. in Gedanken zu verwandeln" (wie es vom - sonst auch kritisierten .Nachdenken' heißt) (E, § 5). Ist Denken abstrakt oder konkret? Stellt es etwas nur heraus, ,faßt' es, oder „verändert" es etwas,20 wie Hegel an anderer Stelle meint, so daß es „nur vermittelst einer Veränderung" ist, „daß die wahre Natur des Gegenstandes zum Bewußtsein kommt" (E, § 22)? Hiermit soll die wahre Natur des Gegenstandes, wenn sie im Nachdenken „zum Vorschein kommt", „Erzeugnis meines Geistes" sein (E, § 23). Wie ist dies noetisch-noematisch näher zu kennzeichnen? Vergleichen wir hierzu Kant. Bei Kant hat die Aufgabe, das Verhältnis von Denken und anderen Intentionalitäten zu bestimmen, die Lösung, dem Denken einen Anteil an der Erfahrung (an der Erscheinung, als erfahren) zu vindizieren (vgl. KrV A, S. 51). Seine Unentbehrlichkeit soll, von der Anschauung ausgehend, durch eine Synthesis-Lehre nachgewiesen werden. Umgekehrt muß die Aufgabe auch sein, die Unentbehrlichkeit der Anschauung, vom Denken ausgehend, nachzuweisen, also die Angewiesenheit des Denkens auf Unverstandenes, auf Anschauliches und auf Affektion zu behaupten, so daß keine reine Theorie des Denkens 20
Insofern zuvor ja das .Isolieren' und .Fassen' des Gegenstandes einander gegenübergestellt sind, sollte es besser heißen: „Stellt es [das Denken] nur heraus, oder .faßt' es [und d.h. zugleich] verändert' es etwas". Anm. d. Hrsg.
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gegeben werden kann. Kants Bestimmung des Denkens (die in eins seine Unentbehrlichkeit wie seine Angewiesenheit auf anderes enthält) wird gefunden in der Lehre von der Einheit der transzendentalen Apperzeption (vgl. KrV B, § 16 ff.). Das Denken erscheint als Komposition zum Zwecke der Aneignung von Gegenständlichem, also als Formung. Dabei sind die Leistungen des Denkens höchst allgemein, als Synthesisfunktion, die in Kategorien ausdrückbar sein soll. [Solches] Denken ist deshalb qua kategorial in keinem Fall inhaltliches Analogon, ja Übersetzung des Anschaulichen. Wohl allerdings wäre etwas derartiges für die empirischen Begriffe zu fordern.21 Gegenüber der Kantischen Funktionsauffassung bedient sich Hegel eines auf Inhalte bezogenen Begriffs des Denkens. Entgegen Kant ist bei dieser Fassung zunächst [an] keine Scheidung gedacht zwischen der Inhalte beisteuernden Sinnlichkeit und apriorischer Form oder Funktion. Es besteht so die Aussicht, reichere Inhalte des Denkens für apriorisch zu erklären - gemäß der Koordination des Denkens mit anderen Noesen, falls sich Gründe dafür geben lassen. Wenn es das Interesse der Philosophie ist, Gedanken selbst unvermischt zum Gegenstande zu machen, so bedeutet das gleichzeitig ein Interesse an der Rechtfertigung kategorialer Inhalte (nicht wie bei Kant [bloß funktional-Jbeschränkter). Von hier aus gesehen steht Hegel eher Husserl als Kant nahe. (Nur so konnte auch die obige Abbildung Hegelscher Zurechtlegungen auf Husserlsche Konzeptionen sinnvoll sein). Das wesentlich Gemeinsame liegt in Husserls Auffassung, jede Intentionalität oder Noesis habe ein noematisches ,Korrelat', ein Moment des Inhalts.22 - Es gibt allerdings auch wesentliche Unterschiede. Husserls phänomenologische Lehre ist, anders als die Hegels, nicht orientiert an einer Ordnung, nach der die Sinnlichkeit für ein Extrem des denkfremden Inhalts steht, von dem aus ein Fortgang zu Gedanken (latenten, unterstellten und letztlich explizit zu machenden) aufgegeben ist. Vielmehr gilt Husserl, in der Haltung einer Bestandsaufnahme, Noematisches im Normalfall gebender (wahrnehmender oder objektivierender) Akte immer schon [als] vereint mit Anschauung. So stellt sich nur in der Abstraktion die Frage, ob [ein] bloß Sinnliches noematisch sei (es ist im Grenzfall Empfindung, sonst aber immer schon eingebunden in ein gegenständliches Noema).23 Verständli21 22 23
Kurze Ausführungen hierzu finden sich in Kants Schematismuskapitel, bes. KrV A, S. 137-142. E. Husserl, Ideen ... I, § 90, S. 187. Das Anschauliche könnte für sich genommen Gegenstand einer eidetischen Mannigfaltigkeitslehre sein. Siehe [E. Husserl], Formale und transzendentale Logik, Halle/Saale 1929,1. Abschnitt, 3. Kapitel. Vgl. [ders.], Ideen ... I, § 72.
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cherweise sind Beispiele für nicht-objektivierende Akte dann Fühlen und Werten, nicht die Anschauung. Das Noema solcher nicht-objektivierender Akte erscheint gleichsam als Zusatz zum »objektiven' Noema, gehört als fundiertes Teilnoema zu dem einen Noema.24 Denken seinerseits wäre, über seine noematische Latenz im Gegebenen und Gemeinten hinaus, auch eminenter zu verstehen als etwas für sich, als eine Intentionalität mit diesem speziellen Noesis-Namen ,Denken', dem noematisch Bedeutungen und Begriffe entsprechen. Das Noematische einer jeweiligen Noesis kann im denkspezifisch Noematischen - in Bedeutungen und Begriffen - gefaßt werden. Allerdings, angesichts der durchgängigen Noematizität der intentionalen Akte bei Husserl fragt es sich, ob das Denken als Übersetzung und Verwandlung genommen werden soll, wie bei Hegel;25 Husserl scheint keine völlige Klarheit hierin zu besitzen.26
Denken von Fremdem Die Frage, ob Hegels Lehre vom Denken abstrakt oder konkret oder in dieser Hinsicht überhaupt eindeutig zu machen ist, erscheint durch die Husserlsche Parallele neu beleuchtet, muß aber an ihr selbst geklärt werden. Bei Hegel finden sich widersprechende Äußerungen dazu, ob das Denken einen Gedanken aus einem Reicheren, in dem er latent liegt, isoliert, ob der Inhalt (der dann das Noematische wäre) in nichtdenkmäßi24
25 26
Husserl denkt an eine Aufstufung von Noesen und Noemata der Willens- und Gefühlssphäre auf solche der sie fundierenden Wahrnehmung (vgl. Ideen ... I, § 95). (In den „Logischen Untersuchungen" [Halle/Saale 21913] bevorzugt Husserl den Ausdruck „objektivierender Akt" zur Bezeichnung des fundierenden Akts. Bd. II, l, §§ 3743.) Das Fundierte ist verstanden als eine „Schicht", die etwa mit einer „Wertheit" ins volle Noema eingebracht wird. Zum „vollen Noema" vgl. Ideen ... I, § 90. Hier heißt es: „Es wird sich bald zeigen, daß das volle Noema in einem Komplex noematischer Momente besteht, daß darin das spezifische Sinnesmoment nur eine Art notwendiger Kernschicht bildet, in der weitere Momente wesentlich fundiert sind, die wir nur darum ebenfalls, aber in extendiertem Sinn, als Sinnesmomente bezeichnen durften" (S. 185). Ein Beispiel für denkende Verwandlung wäre, daß Nicht-Noematisches (Empfindung) noematische Fassung erhält, etwa Farbe im Farbnoema. Siehe Ideen ... I, S. 202. Vgl. Ideen ... I, § 124, Husserl spricht von „Ausdruck" als „merkwürdiger Form, die sich allem ,Sinne' (dem noematischen ,Kern') anpassen läßt und ihn in das Reich des .Logos', des Begrifflichen und damit des ^Allgemeinen' erhebt" (S. 257). „Ein eigentümliches intentionales Medium liegt vor, das seinem Wesen nach die Auszeichnung hat, jede andere Intentionalität nach Form und Inhalt sozusagen widerzuspiegeln, in eigener Farbengebung abzubilden und ihr dabei seine eigene Form der .Begrifflichkeit' einzubilden. Doch sind diese sich aufdrängenden Reden vom Spiegeln oder Abbilden mit Vorsicht aufzunehmen, da die ihre Anwendung vermittelnde Bildlichkeit leicht irreführen könnte" (ebd.). Man vermißt letzte Präzision.
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gen Intentionalitäten und im Denken ein und derselbe ist, oder ob das Denken ein Reicheres in explizite Gedanken verwandelt. Wie denkt das Denken ihm Fremdes? Dächte das Denken, wenn es den Ertrag anderer Intentionalitäten in sich übersetzt, das Enthaltene, Partielle, Gedankliche, dann dächte es nichts Fremdes, dächte nur den rationalen Anteil daran. Wenn nicht, dann dächte es das Fremde so, daß die Fremdheit, die mit den Intentionalitäten des Gefühls, der Anschauung und der Vorstellung einhergeht, im Denken Gedachtes, gedachtes Fremdes ist. Hegel sagt hierzu in einer kurzen, aber bedeutsamen Wendung, in welcher er die allgemeine Noematizität aller Akte anspricht: „Der Inhalt, der unser Bewußtsein erfüllt, von welcher Art er sei, macht die Bestimmtheit der Gefühle, Anschauungen, Bilder, Vorstellungen, der Zwecke, Pflichten usf. und der Gedanken und Begriffe aus" (E, § 3, S. 35). Dann heißt es weiter: „In irgendeiner dieser Formen" (d.h. der verschiedenen Intentionalitäten) „oder in der Vermischung mehrerer ist der Inhalt Gegenstand des Bewußtseins. In dieser Gegenständlichkeit schlagen sich aber auch die Bestimmtheiten dieser Formen zum Inhalte; so daß nach jeder dieser Formen ein besonderer Gegenstand zu entstehen scheint, und was an sich dasselbe ist, als ein verschiedener Inhalt aussehen kann" (ebd.). Die Stelle läßt denken, daß kein dem Denken und den anderen .Formen' oder intentionalen Akten gemeinsames ,noematisches Minimum' angesetzt wird, sondern daß das Denken, im eminenten Sinn genommen, Gedanken über nichtdenkmäßiges Fremdes bildet. Bestimmtheit ist nun nicht ganz klar beides: Bestimmtheit als identisch mit dem Inhalt, und zwar bezogen auf alle intentionalen Akte, einschließlich des Denkens, und Bestimmtheit im Sinne einer Bestimmtheit der nichtdenkmäßigen Formen, die sich zum Inhalt schlägt, also zunächst nicht dazu gehört. Danach wäre Inhalt nur Denkinhalt, in den nichtdenkmäßige Bestimmtheiten eingehen. Es fällt zwar auf, daß die herangezogene Stelle nicht assertorisch ist - es „scheint" ein besonderer Gegenstand zu entstehen, „was an sich dasselbe ist", kann „als ein verschiedener Inhalt aussehen" -, die Meinung ist aber wohl doch, daß das Denken aus den Erträgen der anderen Intentionalitäten oder Formen neue Inhalte gewinnt. Das Eigene der fremden Form macht sich im Inhalt, den das Denken resümiert, als neuer Gegenstand geltend, oder umgekehrt: das Denken macht dies Eigene zum neuen Gegenstand. Das Interesse der Philosophie ist es, solchen Denkinhalt explizit und theoriefähig zu machen.
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Affinitätsspekulation und formales Denken Die Unklarheit im Inhalts- und Bestimmtheitsbegriff bei Hegel kann als Motivation für eine Lösung verstanden werden. Sie wäre etwa so zu skizzieren. Es gibt Denkfremdes, dem als typische Gegebenheitsweise oder Herkunft eine nichtdenkmäßige Intentionalität entspricht. Die Anschauung wird gewisses Anschauliches als ihren affinen Gegenstand haben, so die anderen Intentionalitäten, einschließlich des Denkens: Es wird den typischen, dem Denken affinen Gegenstand geben, der nicht in verwandelnder Übersetzung von Erträgen anderer Intentionalitäten besteht. Gelingt es nun, die Denkfremdheit der verschiedenen nichtdenkmäßigen Intentionalitäten in eine Ordnung zu bringen, und ist Denken das Interesse, so ergäbe sich eine ideologische Affinitätsspekulation, die die Inhalte des Denkens ordnet nach gedachtem Fremdem, gedachtem weniger Fremdem, relativ oder zunehmend Denkaffinem, und schließlich dem Denken Kongenialen. Dann kann zwar Eigenbestimmtheit des Fremden gegeben sein und doch Bestimmtheit im Denkertrag liegen, bis hin zum reinen Fall, bei dem Denken bei sich selbst ist. Hegel meint die Sachlage nun nicht so streng, daß jeder Gedanke, der Fremdes denkt, dieses auch schon in einen neuen Gegenstand verwandelt haben muß. (Die oben genannte Unklarheit, angesichts derer der Inhalt des Denkens als identisch mit, und verschieden von den Bestimmtheiten der Formen erscheint, gestattet ihm dies. Der Inhalt bleibt auch „ein und derselbe".)27 Hegel diskutiert eine gleichsam reproduzierende oder formale Rolle des Denkens gegenüber dem, was ihm aus anderen Intentionalitäten zukommt oder worauf es für eine Bekanntschaft mit der Wirklichkeit angewiesen ist. Er versteht darin das Denken als „undankbar", vergleicht es mit dem Essen: das Denken bezieht sich auf die anderen Intentionalitäten und ißt ihre Erträge auf, verleibt sie sich ein, ist Aneignung (E, § 12, S. 45). Damit ist die Kantische Idee der Apperzeption - das Wort bedeutet ja ,Aneignung' - eingeholt, allerdings nunmehr verallgemeinert auf die Aneignung von schon in der empirischen Erfahrung und den Wissenschaften vor-angeeigneten Gegenständen. Das Denken ist bei dem Angeeigneten (in relativer Affinität) bei sich; es ist, indem es dem
27
Man vergleiche die Kantische Fragestellung, ob uns Erscheinungen schon in der Anschauung gegeben sein können (KrV A, S. 89) oder des Denkens, d.h. der Verstandesbegriffe, bedürfen (KrV B, S. 163 ff.) oder zumindest eine Einheitsstiftung erfordern, auf daß ein Gegenstand - oder ein gegenüber dem Anschauungsgegenstand neuer Gegenstand - vorliege (KrV B, Anm. S. 160 f.).
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„Reiz" nachkommt, „die Form zu besiegen" (gemeint ist die der Unmittelbarkeit), vermittelte Unmittelbarkeit (ebd.). Einzuordnen in diesen Gedanken ist auch die Allgemeinheit des Denkens: es stellt das Identische von vielerlei anschaulich Gegebenem heraus, die eine Bestimmung, welche es ausgemacht [oder gewonnen] hat, gilt von solchem räumlich Mehrfachem, zeitlich Mehrfachem, Sich-Wiederholendem. Bestimmungen, die das Denken aufstellt, sind identische, allgemeine, einfache (vgl. E, § 20). Hierin liegt eine Auszeichnung, die mit der Wahrheitsfähigkeit des Denkens zu tun hat. Durch explizites Denken allein ist es möglich, das, was andere Intentionalitäten an Wirklichkeit erschließen, auch zu sagen; ich kann z.B. einem Gefühl nicht Ausdruck geben, es sei denn, ich übersetze es ins Denken (oder wie Husserl lieber will: spiegele es im Denken). Diese Auszeichnung geht einher mit Allgemeinheit, mit dem Identischen im Vielen. Das Denken leistet über bloßes Gegebensein hinaus Aneignung in einem Medium, in dem Wahrheit allein sein kann. Die Allgemeinheit des Gedankens enthält eine Abstraktion, die, genau genommen, unterschieden werden muß von dem ,noematischen Minimum' im Verhältnis zu Denkfremdem. Der Gedanke steht in einer homogenen Reihe der Subordination von Begriffen und kann so mehr und mehr abstrakt sein, während er auch Einheit von Fremdem als Vielem ist, und also Denken von Fremdem, also konkret. Beides kommt zusammen.28 Das Thema des Allgemeinen führt darauf, die Auszeichnung des Denkens weiter zu differenzieren - in eine des Verstandes und in eine darüber hinausreichende. Für die Vorstellung liegt das Auszeichnende darin, daß der Inhalt vereinzelt für mich dasteht. Der sinnliche Stoff, so heißt es bei Hegel, ist in die Bestimmung des Meinigen gebracht (dies in Entsprechung zum Kantischen Gedanken der Meinigkeit in der transzendentalen Apperzeption). Gegenstände der Vorstellung sind Gegenstände des Verstandes, der Mannigfaltiges auffaßt und bestimmt. Verstand ist demnach eine unvollkommene Art des Denkens. Ein schon im Denken gefaßter Anschauungsgegenstand, in welchem wir Einzelheiten unterscheiden, wäre ein typischer, dem Verstand - oder dem Verstandesdenken - affiner Gegenstand.29 28
29
Vgl. Kants Deutung der transzendentalen Apperzeption als „conceptus communis" (KrV B, Anm. S. 133 f.). Die Allgemeinheit ist noch wiederum zu reflektieren von der Unterscheidung in Essenz und Kategorie her. Hier ist vielleicht zu ergänzen, daß sich für Hegel das Verstandesdenken ebenso manifestiert in der Isolierung des Unmittelbaren wie in der .schlechten' Abstraktion, d.h. einer leeren, nicht aus der Bestimmung entwickelten, sondern von ihr absehenden Abstraktion (vgl. E §5 12, 65). Anm. d. Hrsg.
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Ist Denken gleichsam formal als das des Verstandes im Blick (als Aneignung, als Allgemeinheit stiftend, als denkend reproduzierend, wobei einerseits der Gegenstand noch derselbe ist, andererseits aber auch schon ein neuer Gegenstand im Verhältnis zu einem bloß sinnlichen vorliegt), so kommt die Auszeichnung des Denkens voll zum Zuge in der Erreichung von dem Denken eigenen Gegenständen, gemäß der genannten Affinitätsspekulation. Sie verweist uns auf Inhalte, in denen nicht Fremdes mehr ein Denkanalogon hat, sondern etwas dem Denken genuin affin, ja kongenial ist. Solche Gegenstände müssen die wahren Gegenstände sein, während übersetzte Inhalte von anderen Intentionalitäten [demnach] Teilwahrheiten oder weniger wahre Gegenstände sind. Denken ist in seinem obersten wahren Gegenstand - der nicht fremd, sondern eben eminent der Seinige, ja es selbst, ist - Ausweis der ihm eigenen Wahrheitsfähigkeit.
Gewißheit und Affinität Hegel macht in bezug auf Gegenstände ein weiteres Moment geltend, und zwar das der Gewißheit. Gemeint ist damit, daß „der Mensch selbst dabei sein müsse [...], daß er solchen Inhalt [den der Erfahrung] mit der Gewißheit seiner selbst in Einigkeit und vereinigt finde" (E, § 7 [S. 40]). Gewißheit wäre ein unmittelbares Moment, welches das Hinterfragen erübrigt.30 Bei Hegel ist dies der Gegensatz der Einholung von Inhalten ins Denken einerseits, und der Gewißheit andererseits. Gewisse (Erfahrungs-)Inhalte wären durch die Weisen des Zugangs zu Wirklichkeit als gewiß vermittelt. Aber die Tatsache, daß etwas noetisch Gewißheit hat, rivalisiert mit dem Gedanken der noematischen Affinität, daß also das Denken dann das Wahre hat, wenn es bei sich ist, beim affinen Gegenstand. Daraus ergibt sich ein Konflikt zwischen Gewißheit und Wahrheit. Ich kann Gewißheit ggf. unter Absehung vom Denken haben, ich kann aber eine Wahrheit nur im Denken haben, vom relativen, übersetzenden Fall bis hin zum reinen Fall, wo ein affiner Gegenstand für das Denken da ist.31 Die PG läßt sich auffassen als ein Versuch, diesen Konflikt von Ge30
31
Erinnert sei an Philosophien, die wesentlich auf Gewißheit oder Evidenz aufgebaut sind. Wichtige Beispiele sind Descartes' „Meditationen" [Hamburg 31992] (siehe II, l u. 6; IV), Lockes „Essay Concerning Human Understanding" [„Über den menschlichen Verstand", Hamburg 31976] (siehe IV, 7, 1-3; IV, 2, 1), schließlich auch Husserls „Ideen ... (siehe §§103 f.,136 f.). Diese Auffassung ist - geistesgeschichtlich gesehen — eine Kritik an Jacobi, der Wahrheit als Gewißheit versteht, und zwar gerade bei einem Gegenstand wie Gott, der für Hegel als denkaffin gilt (vgl. E, § 65).
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wißheit und Wahrheit unter Berücksichtigung der Hegeischen Deutung einer noematischen Affinität zu schlichten. Wenn am Anfang ein unmittelbares Bewußtsein bloß konfrontativer Art steht („sinnliche Gewißheit"), so wird mit Erreichung des Stadiums „Vernunft" eine Einholung des Gegenstands vorgeführt derart, daß Gewißheit und Wahrheit vereinigt sein sollen. Es gäbe nichts mehr, was auf dem Wege über Gewißheit anerkannt werden müßte und [damit] nicht auf dem der noematischen Affinität oder Wahrheit. Gewißheit erscheint als in Wahrheit eingeholt. Letztlich, wenn die weiten Umwege Hegels in der PG gebilligt werden und wir nicht schon (wie Gabler) beim Titel , Vernunft' ablassen, ist dies erst im »absoluten Wissen' am Ende des Werks gegeben. In anderer Weise ist so sichtbar, daß das Verhältnis von Noetischem und Noematischem - jetzt als Konflikt von noetischer Gewißheit und noematischer Affinität - zu einem ideologischen Denkgebäude führt, welches geordnet ist unter der Devise: wann ist Denken bei sich, wann hat Denken einen endgültig affinen Gegenstand erreicht? Dies ist [in der PG] als Selbstbestimmung des Denkens in Form einer Versicherung vorgetragen. Sehen wir die PG als Hinführung zur Logik, so ist nach einem langen Weg durch Stadien und Gegenstände des Bewußtseins dessen Zielbestimmung ,absolutes Wissen' erreicht. Dieses ist nicht so sehr ein endgültig affiner Gegenstand, sondern mögliche Anfangsbestimmung, welche die (der Absicht nach erwiesene) Wahrheitsfähigkeit oder Kategorialität des Denkens beinhaltet. Mit ihr als gegeben würde man die nochmalige Vorführung der einzelnen Denkinhalte - fremde, relativ affine, völlig affine - vom Standpunkt des absoluten Wissens aus erwarten. Die Einleitung zur E ist demgegenüber eine Besinnung auf das Verhältnis von Denken und Wirklichkeit, die einen Gang durch die noetischen und noematischen Bestimmungen nicht beschreitet, aber in Aussicht stellt, so daß zunehmend denkaffine Gegenstände (Hegel nennt .Freiheit',,Geist', ,Gott') die Zielbestimmungen sind. Man könnte sagen: die PG versucht den Nachweis prinzipieller Kate gor ialität auf dem Wege über relative und absolute Kategorialität (dies, weil denkaffine Gegenstände unter dem Motto ,Geist' erreicht werden); die Einleitung der E [dagegen] versichert uns der prinzipiellen Kategorialität und entwirft ein Gebäude des Weges (über relative zu absoluter Kategorialität).32 Das Problem der Abschlußbestimmung, nämlich inwiefern diese als selbstre32
Die geschilderte Konzeption zuerst bei K. Hartmann in: Rezension zu W. Becker, Hegels Phänomenologie des Geistes und W. Marx, Hegels Phänomenologie des Geistes (Hegel-Studien Bd. 8, Bonn 1973, S. 196-201). Vgl. hierzu: K. Brinkmann, Aristoteles' allgemeine und spezielle Metaphysik, Berlin 1979, S. 201, 221.
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flexive nicht wieder nur prinzipiell-kategorial und metatheoretisch, sondern inhaltlich ist, wird uns noch zu beschäftigen haben.
Ein Bedenken Es ist jetzt die Formulierung eines weiteren Einwands gegen die Konstitutivität der PG für den Standort der Logik möglich. Die PG kann nur dadurch, daß ihr Ergebnis des Weges des Bewußtseins durch verschieden affine Gegenstände metatheoretisch gemeint ist - als absolutes Wissen, als Standort für wahres Wissen - den Standpunkt der Identität von Denk- und Seinsbestimmungen stützen. Es handelt sich nicht um einen total affinen Gegenstand des Bewußtseins (nunmehr als Denkens), sondern um die Gewißheit prinzipieller Kategorialität, die für jegliches thematische Wissen gelten soll. Hegel läßt dies metatheoretisch gewendete Fazit der PG verbindlich sein für die Logik und das übrige System, indem er darin alle ontologischen Themen ohne den Gegensatz des Bewußtseins erneut abhandelt. (Es ergibt sich von daher eine partielle Verdoppelung der Themen der PG in Logik und übrigem System.) Ist die metatheoretische Deutung des Ertrags der PG statthaft? Wir belassen es zunächst bei der Frage. Die E scheint von unserem Bedenken nicht betroffen (wenn wir Ontologizität der Theorie zugestehen und als Zielbestimmung einen völlig affinen Gegenstand ansetzen); die Frage der Selbstreflexivität der Abschlußbestimmung in der durchgeführten Logik wie im übrigen System (also ,Methode' einerseits und ,Philosophie' andererseits) mag allerdings doch wieder auf ein ähnliches Bedenken wie im Fall der PG führen, nämlich daß der Gedanke eines metatheoretischen Ertrages iteriert wird. Um hier klarer zu sehen, bedarf es eines erst noch zu erreichenden Verständnisses der subjektiven Logik.33
Analogien Nur kurz sei hingewiesen auf antike Analogien zum Hegeischen Gedanken. Eine entfernte könnte man bei Platon erblicken. Im 7. Buch der Republik', im sogenannten Höhlengleichnis, gibt Platon ein Schema, das eine Steigerung von Gegebenheit zum Inhalt hat: das Gleichnis beginnt 33
Daß die Selbstreflexivität der Abschlußbestimmung nicht selbstverständlich ist, zeigt Schellings Abschlußbestimmung der Kunst im „System des [transzendentalen] Idealismus" [Tübingen 1800, Neubearbeitung Hamburg 1992].
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mit Schatten und Spiegelungen, dann folgen Gegenstände an der Höhlenrampe ([sozusagen] im Gegenlicht?), dann wirkliche Gegenstände, dann die geometrische Fassung der wirklichen Gegenstände, und schließlich die Sonne. Diese Progression wäre zunächst eine der besseren Gegebenheit desselben (Schatten und Spiegelungen, wirkliche Gegenstände, geometrische Fassung) und [kulminierte] schließlich [im] Schritt zu einem neuen Gegenstand, der die anderen in ihrer Sichtbarkeit ermöglicht. Die Progression führt zur Wahrheit.34 Ein anderes antikes Beispiel wäre Buch Lambda der Metaphysik des Aristoteles. Hier findet sich die Auffassung, daß Denken einen Höhepunkt erreicht, wenn es sich selbst denkt (vgl. die entsprechenden Ausführungen in ,de anima').35 Dementsprechend dächte das Denken etwas Unvollkommneres, wenn es sich nicht selbst denkt. Was es in solchem Fall denkt, ist etwas Potentielles, Materielles, Fremdes. Denkt es aber sich selbst, so hat es den vornehmsten Gegenstand und ist Vollkommenes in seiner Bezogenheit auf Vollkommenes (vgl. Met. 1074 b, 30 ff., 1072 a, 27 ff.). Hier ist ein Affinitäts-Schema entwickelt - wenn auch in anderer, am Vollkommenheitsgedanken orientierter Weise -, das dem Hegeischen ähnlich ist (Hegel zitiert ja aus Metaphysik Lambda 7 am Ende der E).36 Auch Zwischenstadien ließen sich in einer systematisierenden Interpretation der Metaphysik einfügen - gemäß der Ordnung: prinzipielle Kategorialität, Buch Gamma, relative Kategorialität, Bücher Zeta, Eta, Theta, und totale Kategorialität, Buch Lambda [analog Sein, Wesen und Begriff]. (Wieder stellt sich die Frage des selbstreflexiven Abschlusses [- ob] als thematisch oder als metatheoretisch gemeint.) 3. Die Idee einer begründeten Ontologie Es gilt nun, Hegels - im Rahmen einer Versicherung aufgestellte , Vortheorie' der Denkinhalte (zu der die PG eine argumentative Fassung darstellt) in ihren Implikationen zu entfalten. Denken ist mit anderen In34
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Vgl. R. Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1979, zu G. Pitcher's „Platonic Principle" (S. 105). [An dieser Stelle waren im Manuskript noch Ausführungen zum Neuplatonismus vorgesehen.] Aristoteles, Metaphysik, Hamburg, Bd. l 31989, Bd. 2 21984. ,De anmima': „Über die Seele", Berlin 61983. Die etwas weiter unten im Manuskript erwähnte .Kategorienschrift' in: „Kategorien", Hamburg 1974. Anm. d. Hrsg. K. Düsing (a.a.O., S. 306-313) macht auf subtile Unterschiede [zwischen] der Aristotelischen und der Hegeischen Konzeption aufmerksam.
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tentionalitäten vermischt, übersetzt deren Erträge in sein Medium, liefert also Fremdes als Gedachtes, worin eine Anweisung liegt, ganz zu Eigenem überzugehen. In der Aufgabenstellung, „die Gedanken selbst unvermischt zum Gegenstande zu machen", liegt dies Doppelte: Gedanken von Fremdem aufzustellen und auf sie zu reflektieren, über sie eine Theorie zu machen - wie auch, sich von der Teleologie leiten zu lassen, dergemäß wir über das übersetzte Fremde hinaus auf dem Denken affine Gedanken oder wahre Gegenstände verwiesen sind (E, § 3, S. 36).
Der spekulative Standpunkt Wenn nun die Inhaltstheorie Hegels die Gedanken zu Gegenständen, und zwar (mit der Kautele der relativen oder totalen Denkaffinität) zu wahren Gegenständen macht, so erscheint es einerseits nach dem Gang der PG, andererseits nach der noetisch-noematischen Besinnung der E als plausibel, die epistemische Beziehung eines Subjekts auf seinen Gegenstand aufzugeben: kann doch der Gedanke an dessen Stelle treten. Der damit gegebene Standpunkt ist, wie wir schon sahen, einer, auf dem der Gegensatz des Bewußtseins verschwunden ist, oder es ist „die Befreiung von dem Gegensatze des Bewußtseins", welche die „reine Wissenschaft" voraussetzt (I, 30). Mit noch anderen Worten: Hegel philosophiert vom sog. ,spekulativen Standpunkt' aus.37 Das Denken verbleibt in einer Immanenz seiner selbst, aus der es nicht mehr heraustritt. Es muß nicht mehr ,finden', wie der Verstand oder die Anschauung; es hat den Gegenstand in sich, im Denkinhalt oder Gedanken (vgl. E, § 9). Man kann von einer .spekulativen Reduktion' sprechen (mit den ,Obertönen', die diese Konzeption in Husserls „phänomenologischer Reduktion" hat).38
Das Verstandesdenken Der spekulative Standpunkt wird von Hegel verteidigt durch eine Kritik am entgegengesetzten Standpunkt der mit dem Subjekt-ObjektGegensatz operiert. Gilt dieser Gegensatz für Anschauung, Gefühl, Vor37
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Diese von Hartmann als Zitat gekennzeichnete Stelle war wörtlich nicht nachzuweisen. Ein geeigneter Beleg wäre etwa: „in diesem Dialektischen wie es hier genommen wird, und damit in dem Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit oder des Positiven im Negativen besteht das Spekulative" (I, 38) Anm. d. Hrsg. Zur „phänomenologischen Reduktion" vgl. etwa: E. Husserl, Ideen ... I, S. 59,94 f. u.ö. Anm. d. Hrsg.
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Stellung und damit für den Verstand, so charakterisiert Hegel ein solches Denken wie folgt: „Sind die Denkbestimmungen mit einem festen Gegensatze behaftet, d.i. sind sie nur endlicher Natur [...], so kann die Wahrheit nicht in das Denken eintreten. Das Denken nur endliche Bestimmungen hervorbringend und in solchen sich bewegend, heißt Verstand (im genaueren Sinne des Wortes)" (E, § 25, S. 58). Es heißt dann weiter: „Näher ist die Endlichkeit der Denkbestimmungen auf die gedoppelte Weise aufzufassen, die eine, daß sie nur subjektiv sind und den bleibenden Gegensatz am Objektiven haben, die andere, daß sie als beschränkten Inhaltes überhaupt sowohl gegeneinander als noch mehr gegen das Absolute im Gegensatz verharren" (ebd.). Diese zweierlei Endlichkeiten oder Beschränkungen sollen ein Junktim darstellen. Daß der einem Subjekt opponierte Gegenstand endlich ist - weil er gedacht werden kann als Einschränkung einer Totalität, eines Bei-sich-Seins des Denkens -, leuchtet ein. Damit gilt für Hegel aber auch, daß ein so gesichtetes Gegenständliches an ihm selbst nur endlich bestimmt ist.39 Da nun für Hegel die Affinitätsspekulation angebahnt ist, nach der es (wie auch nach der Tradition) unendliche Gegenstände zu erfassen gilt, steht der Verstand als kritisiert da. Dieser Gedanke muß in der schon bemerkten Differenzierung gelesen werden, wonach das Denken auch Denkfremdes auf den Begriff bringt, in seinen affinen Gegenständen andererseits auf absolute Weise bei sich ist. D.h., auch Endliches kann unter Unendlichkeitsperspektive gedacht werden und erfüllt so relativ das Geforderte, während dies im Verstandesdenken nicht der Fall ist. Spekulativ gesehen können „Vorstellungen überhaupt [...] als Metaphern der Gedanken und Begriffe angesehen werden" (E, § 3, S. 35 f.). Empirie Es läßt sich hier natürlich der Einwand machen, daß Erkenntnis es wesentlich mit Empirischem, ja sinnlich Präsentem zu tun habe, so daß der spekulative Standpunkt uns zwar auf entsprechende Denkinhalte (Fremdes als Gedachtes) verweist, aber doch das Moment der Empirie als des unübersetzten Fremden beiseite läßt. Zu denken ist an Affektion, Empfindung, Vorkommen40 - eine Fülle von Bestimmtheiten, die wir ab39
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Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang Hegels Kantkritik (1,26-28,44-46). Hegel spricht sich, im Gegensatz zu einem Denken, das die Denkinhalte dem Subjekt vindiziert, für ein „objektives Denken" aus (I, 28). Letzteres im Sinne von: Erscheinen. Anm. d. Hrsg.
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lesen, benennen, noematisieren, die aber nicht in der Hinsicht, in der sie als empirisch gelten, denkimmanent theoriefähig sind (vgl. auch Hegels Ausführungen zur Vielfalt der Naturbestimmungen -1, 45; E, § 13, S. 47). Hegel muß all dies als unvollkommen auffassen, wenn auch nicht schlechthin unerfaßt lassen, kann er doch die Unvollkommenheit der Empirie im Denken noch placieren. Der spekulative Standpunkt ist der für die Philosophie einzunehmende, erweist sich jedoch gegenüber dem bleibenden Subjekt-Objekt-Gegensatz der Empirie als Standpunkt einer metatheoretischen Diagnose. In der Realphilosophie (aber auch in den auf diese hin antizipierenden Partien der Logik) hat Hegel allerdings einen gewissen Reichtum an Natur- und Geistbestimmungen aufgestellt. Diese Bemühung, der Empirie entgegenzukommen, bedarf eines späteren Eingehens. (Notiert sei hier, daß Hans Wagner glaubt, für solche Konkretion des spekulativen Denkens nur aufkommen zu können, indem er eine Eigenprinzipiiertheit des Seins ansetzt.)41 Begriff und Kategorie Eine schon angedeutete, aber noch zu bekräftigende Konsequenz des Gesagten ist, daß der Gedanke durch die an ihn gestellte Forderung (Inhalt des Denkens zu sein, ohne einen Grund in einem Fremden zu haben) sich einschränkt auf Bestimmtheiten, von denen das Geforderte sinnvollerweise gelten oder dargetan werden kann. (Zunächst schien es ja, daß Hegels Inhaltstheorie noch nicht auf Apriorisches festgelegt sei.) Der Denkinhalt in der genannten Einschränkung ist der Begriff oder die Kategorie, wenn Hegel auch noch vielfach ,Gedanke' (im allgemein noematischen Sinne) sagt.42 »Begriff oder .Kategorie' bedeutet eine Denkbestimmung, die - als Konsequenz aus der Theorie vom Denkinhalt oder der Überwindung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes - auch Seinsbestimmung ist (vgl. I, 30 ff.). .Begriff oder ,Kategorie' - den letzteren Ausdruck verwendet Hegel für die ,objektive', aber nicht für die .subjektive Logik'43 - ist der Topos, um die Einheit von Sein und Denken zu fassen. Hegel nimmt dabei eine 41
42
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H. Wagner, Philosophie und Reflexion [München/Basel, 1959], §20. Bemerkt sei die Nähe, in die Wagner zu N. Hartmann gelangt: a.a.O., S. 184. [Vgl. K. Hartmann, Die ontologische Option, S. 6,14.] Zu .Begriff: E, § 9, im Unterschied zu .Begriffen': E, § 3; 1,14,18 f., 43. Zu .Kategorie': E, § 3, § 9; I, 20. Zu diesen Bestimmungen vgl. I, 43. Anm. d. Hrsg.
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Homogenität der aufzugreifenden Bestimmungen an, so daß der Unterschied zwischen Kategorien im traditionellen Sinne und sonstigen Seinsbestimmungen nivelliert wird. Damit erscheinen dann ganz unterschiedliche Dinge wie Kategorien von Selbständigem (z.B. Etwas, Substanz, Subjekt), Kategorien von Unselbständigem oder Inhärentem (z.B. Eigenschaft, Größe, Inhalt und Form, Ursache und Wirkung) sowie Strukturoder Prinzipkategorien (z.B. Sein, Dasein, Fürsichsein, Wesen, Begriff) in einer sie verknüpfenden Abfolge. [Anders gesagt:] die verschiedenen Bestimmungen werden in einem einlinigen, homogenen Denkzusammenhang behandelt - nach hier noch unverstandenen Einteilungsgesichtspunkten. Erwähnt sei, daß Einwände möglich sind von einer Position aus, die kategoriales Denken als vorhandenheitlich kritisiert, und zwar als existentialem Denken nicht Rechnung tragend (Heidegger).44 Es wird sich zeigen, ob Hegels dem Sinne nach kategoriale Behandlung auch des Subjektiven dieser Kritik Paroli zu bieten vermag. Schließlich sei Hegels Inanspruchnahme der Kategorien von der Transzendentalphilosophie her reflektiert. Hegels kategoriales Denken kann die Transzendentalität der Begriffe - daß [also] ohne ihre Zugrundelegung wahrheitsdifferente empirische Urteile45 unmöglich wären - nicht [zusätzlich zu ihrer Konstitutivität] in einen Funktionszusammenhang einbringen (wie Kant [dies tut], der die Erfahrungsgegenständlichkeit und das Urteil darüber gleichermaßen von Verstandesbegriffen abhängig macht46). Vielmehr muß man sagen, daß [nach Hegels Ansatz] Kategorien ohne epistemische Funktionalität als grundlegende Bestimmungen für Empirisch-Konkretes gelten.47 44
45 46 47
Siehe [M. Heidegger], Sein und Zeit, Tübingen "1967, S. 44. Zu Heideggers Kritik an Hegels Geistbegriff als .vorhandenheitlicher' Konzeption: a.a.O., S. 435. - Anders scheint Sartre zu urteilen, wenn er Hegeische Kategorien auf das Subjekt und das Wechselspiel von Subjekt und Phänomen anwendet. Siehe: Q.-P. Sartre] L'etre et le neant, Paris 1943 u.ö., S. 30-34, 115 ff. Kritisch dazu Max Müller, Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart, Heidelberg 31964, S. 55 f. D.h.: nach wahr und falsch unterscheidbare Urteile. Anm. d. Hrsg. Zu Bedenken hiergegen siehe unten S. 34 f. Wenn Hans Wagner (in: Philosophie und Reflexion, München/Basel 1959, S. 184) Kategorien als „Entwurfsbegriffe" anspricht, so verbindet sich für ihn damit eine - wie schon bemerkt - von Hegel abweichende Inspiration, nämlich daß Entwurfsbegriffe (abgeleitet aus dem Denken als Absolutem) eine Differenz zu Seinsprinzipien aufweisen. „Mit dieser [der Wagnerschen] wahrhaft ontologischen Position haben wir uns von Hegel sowohl wie vom Neukantianismus in einem entscheidenden Punkt getrennt. Die Differenz von Denken und Sein ist für Hegel immer das Aufzuhebende gewesen, und die Wahrheit war ihm stets die Identität von Begriff und Sache. Er begriff sehr richtig, daß das ,ist' Setzung ist; denn ohne Setzung ist kein Gegenstand möglich. Er zog daraus
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Die „vormalige Metaphysik" Mit dem Gesagten ist nun eine - noch zur Vortheorie gehörende Versicherung für den Anspruch von Kategorien gegeben, wie er unbefangen auch schon früher erhoben worden ist. Hegel diskutiert entsprechend die „vormalige Metaphysik" - sie erscheint ihm als „Gebäude über die Welt, das nur durch Gedanken aufgeführt sein sollte" (I, 50). Er meint, von der damit gegebenen Identitätsthese her, nach der Denkbestimmungen Seinsbestimmungen sind, sei diese Metaphysik der reflektierenden Philosophie Kants überlegen - der Art von Verstandesdenken also, welche die Denkbestimmungen in das Subjekt verlegt (I, 28).48 Die vormalige Metaphysik war nicht epistemologisch, vertrat nicht den Subjekt-Objekt-Gegensatz. Aber auch die vormalige Metaphysik verfällt bei Hegel letztlich der Kritik, Verstandesdenken zu sein. Zwar handele es sich einerseits „seinem Gehalte nach um echtes spekulatives Philosophieren", doch verweile dieses andererseits noch „in endlichen Denkbestimmungen" (E, § 27, Beispiele dafür in E, §§ 28-31). Die Unvollkommenheit solch unbefangener Metaphysik zeige sich etwa darin, daß „fertige gegebene Subjekte" angesetzt und mit Prädikaten bestimmt werden, deren Angemessenheit oder deren Wahrheit nicht untersucht wurde (E, §§ 28,30). Auch sei die Prädikation als solche, die Urteilsform also, unangemessen zur Bestimmung der Gegenstände (E, § 31). Die Konsequenzen dieser Kritik für das Hegeische Vorgehen betreffen sein Verständnis von Kategorie. Letztere darf nicht einfach ein Wort oder ein Begriff in unverbundener Redeweise sein, das daher in sich nicht wahrheitsdifferent wäre - anders als etwa in Aristoteles' Kategorienschrift (so sehr dort auch eine quasi-transzendentale Verbindlichkeit für
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auch die völlig richtige Folgerung, daß das Problem des Gegenstandes nur als Problem der Möglichkeit der Gegenständlichkeit des Gegenstandes mit Erfolg angesetzt werden könne. Aber er übersah dabei eines: daß das Problem des Gegenstandes in dieser Form sich zwar allein ansetzen läßt, daß es sich aber darin unmöglich erschöpfen kann. Gewiß, die Gegenständlichkeit des Gegenstandes ist niemals Leistung des Gegenstandes selbst, sondern Leistung des Denkens. Aber eben dieses Denken macht den Gegenstand, indem es ihn gegenständlich werden läßt, als das von ihm, dem Denken, selbst Unterschiedene gegenständlich. Und das besagt: es macht ihn gegenständlich als ein von anderen Prinzipien Konstituiertes, als es die Prinzipien seiner Gegenständlichkeit selbst sind." (a.a.O., S. 185 f.). Man versteht, daß Wagner sich die von E. Lask entwickelte Auffassung der Kategorie als Prädikat in einem .metagrammatischen Urteil' zueignen kann (vgl. a.a.O., S. 177). Wagner spricht auch von „Seinssubstrat" (S. 178). - Es handelt sich hier um eine zentrale Frage der Hegeischen Ontologie, und wir werden Gelegenheit nehmen, auf sie zurückzukommen. Zu Kant vgl. auch I, 44-46.
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die Prädikation mitgemeint ist); sie muß vielmehr Gegenständlichkeit ausdrücken, die ihre (andernfalls durch Prädikate zugesprochene) Bestimmtheit in sich hat, die Fall von Einheit des Konkreten und Allgemeinen, „konkretes Allgemeines", ist [E, § 61]. Beansprucht wird dabei Apriorität (da hier ja kein Fund vorliegen soll, vgl. E, § 23). Es wird im folgenden eine entscheidende Aufgabe sein, diese Auffassung näher zu untersuchen und zu beurteilen.
Theoriebedürfnis, Ontologie Hat Hegel schon mit der Vortheorie des Denkinhalts - des Gedankens oder der Kategorie - ein Moment von Wahrheit ausgezeichnet, so verweist uns seine Bezugnahme auf die vormalige Metaphysik (oder auch die abgelehnte Philosophie Kants) auf eine weitere Aufgabe oder ein Theoriebedürfnis. Dieses kann nicht einfach als Noch-einmal-Machen dessen verstanden werden, was die Alten oder Kant gemacht haben; das Theoriebedürfnis muß aus den Grundansetzungen der Vortheorie entnommen und dann in der Theorie eingelöst werden. Hegel schreibt: „Fürs andere [nachdem die Gegenstände Freiheit, Geist, Gott genannt worden sind] verlangt die subjektive Vernunft der Form nach ihre weitere Befriedigung; diese Form ist die Notwendigkeit überhaupt. In jener wissenschaftlichen Weise" (der der empirischen Wissenschaften, des Verstandesdenkens, worin Gattungen unreflektiert geltend gemacht werden und Gefundenes den Anfang macht) „geschieht der Form der Notwendigkeit nicht Genüge. Das Nachdenken, insofern es darauf gerichtet ist, diesem Bedürfnisse Genüge zu leisten, ist das eigentlich philosophische, das spekulative Denken" (E, § 9). Wir kennen den Grundgedanken dieser noch ausstehenden Theorie schon; er ist namhaft gemacht in der (von uns so genannten) Affinitätsspekulation oder [anders ausgedrückt] in der Aufstellung solcher Gedanken, deren Kategorialität dargetan werden kann. Es ist dabei mit einer Vielheit von Kategorien zu rechnen; dies zeigte schon die Erstreckung von Denkfremdem zu Denkaffinem, das als einteilungsfähig erscheint. Konkreter: es ergibt sich eine Mehrfachheit von Gegenständen, die unter dieser Differenz einordbar sind, bis hin zu [den] dem Denken eigenen Gegenständen. Diese Vielheit von Kategorien wird nicht, wie bei Aristoteles, eingeteilt in eine Hauptkategorie - Substanz und mehrere Neben- oder Akzidenzkategorien. Vielmehr haben alle darin den gleichen Status - wir sprachen von Homogenität -, daß sie gegenständliche Einheiten oder konkrete Allgemeine sind. Zwischen ihnen besteht ein Zusammenhang, innerhalb dessen das Denken sich verweisen
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läßt in einer Teleologie. Hegel spricht von „immanentem Hinausgehen" (E, § 81), oder auch von einer „Bewegung des Begriffs" [PG, S. 31]. Es ergibt sich die Idee eines geordneten Katalogs von Denk- und Seinsbestimmungen, den wir als begründete Ontotogie ansprechen können. (,Metaphysik' sagen wir nicht mehr, könnte doch Metaphysik zusammenfallen mit der unvollkommenen , vormaligen' Metaphysik oder mit einer Metaphysik, die existenzsetzende Erkenntnisansprüche macht). Die Immanenz der Denkbestimmungen gestattet es Hegel, nicht nur von der „Bewährung der Notwendigkeit" zu sprechen, (d.h. von der Konsequenz des Aufstellens der Kategorien in ihrem Verhältnis zueinander, von [der] Teleologie der Ordnung oder Placierung der einzelnen Titel), sondern auch von „Freiheit": denn das Denken ist in seinen Inhalten ohnehin bei sich und dies erst recht unter Berücksichtigung seiner Teleologizität (E, § 12, S. 46). Hegel sieht in der Disposition der Kategorien in dieser Weise eine Rechtfertigung (vgl. E, § 10) und Befriedigung (E, § 11). Dieser Gedanke der Erhebung des Inhalts zur Notwendigkeit und Freiheit des Apriorischen ist von der bisher in den Mittelpunkt gerückten Konzeption der PG und der Vortheorie in E zu unterscheiden. Es kann jetzt nicht darum gehen, die Befreiung des Denkens aus seiner Abhängigkeit von und Angewiesenheit auf andere Intentionalitäten und seiner Bekanntschaft mit deren Gegenständen als Rechtfertigung [der Theorie] zu nehmen; denn dann wäre Fremdes Voraussetzung und Ausgangspunkt.49 Vielmehr eröffnet sich eine neue Theorieaufgabe - die Befriedigung des genannten Bedürfnisses vom spekulativen Standpunkt aus - als diejenige der eigentlichen Theorie der Logik.
Das Theoriesubjekt Es versteht sich, daß ein Teil der Aufgabe darin bestehen muß, für das Theoriesubjekt, das Denken, aufzukommen, welches bisher als Zielpunkt und Akteur der Befreiung von bloß Vorgefundenem vorkam. Ein Desiderat wäre also, daß das Theoriesubjekt (als nicht mehr epistemisch einem Objekt gegenüberstehendes Subjekt) selbst Teil des Bereichs wäre, in dem die Teleologie der Begriffsbewegung spielt. Dies ist denn auch Hegels Meinung. Hiermit wäre ein transzendentales, nunmehr aber ontologisch uminterpretiertes Desiderat erfüllt, nämlich das Theoriesubjekt zu rechtfertigen, welches selbst die Aufstellung der Ontologie gestattet oder vornimmt. 49
Vgl. E, § l, auch E, § 12, wo von einem „Entwickeln des Denkens aus ihm selbst" die Rede ist im Unterschied zu einem „Aufnehmen des Inhalts" (S. 46).
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Diese ontologisch-transzendentale Verfaßtheit der Hegeischen Theorie, sich darstellend in einer Genealogie des Theoriesubjekts durch seine eigenen Relate, wird uns im folgenden vielfach beschäftigen müssen.50
Die Methode Ein anderer Teil der Aufgabe (der bei geeigneter Theorieanlage die erstere Aufgabe mitumfaßt) besteht darin, die Notwendigkeit des Zusammenhangs der Denkbestimmungen argumentativ zu zeigen. Das Projekt einer begründeten Ontologie ist zwar in einem Vorbegriff, einer Vortheorie, schon vorgestellt oder gekennzeichnet (zu der ein Denken gehört, in welchem Denkfremdes oder -affines kategorial formuliert werden können, weiter eine Teleologie nach Denkfremdheit und -affinität und eine durch eben diese Teleologie ermöglichte Aufstellung des Theoriesubjekts). Aber dieses Projekt ist zunächst nur Schema, das sich einer Erstreckung vom Unmittelbaren zum total Reflektierten bedient, systematische Interpretation einer Begriffsordnung. Darüber hinaus ist die .Rekonstruktion'51 der - sonst nicht zum Gegenstand gemachten52 - Kategorienbestände verlangt. Die Bewegung des Begriffs, in der sich die Teleologie, die Tendenz des Denkens zur Wahrheit, ausdrückt, muß eine genaue Fassung gewinnen, damit man von ,Methode' sprechen kann. Dies wird die Dialektik sein.53 Sie hat die Schritte zu disponieren von prinzipiell kategorial über relativ kategorial zu total kategorial. Eine solche Ordnung, die sich genau dartun lassen muß, hat einmal den Aspekt einer Architektonik. Letztere ist wesentliches Ingrediens des Hegeischen Systems (vgl. E, §§14 f.) Was bisher im Schema nahegelegt wurde, daß nämlich die Placierung einer Bestimmung innerhalb der genannten Erstreckung einhergeht mit dem Inhalt der Bestimmung, ja daß die Placierung der betreffende Inhalt gemäß der Rekonstruktion ,ist', dies also muß streng gezeigt werden. Neben die Architektonik aber hat die Weiterverweisung, die lineare Abfolge zu treten, die Durchlaufung der Bestimmungen im Nacheinan50
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In diesem Zusammenhang ist auf die vielfältigen deutsch-idealistischen Bemühungen hinzuweisen, das Gewünschte darzutun (Fichte, Schelling), [ist] aber auch die frühe Weichenstellung Hegels in den Jenaer Schriften zu beachten. Die E spricht von „Nachbildung" (§ 12, S. 46). D.h. bei Kant und in der .vormaligen Metaphysik' - wobei es eigentlich die Rekonstruktion ist, welche nicht zum Gegenstand gemacht wurde. Anm. d. Hrsg. Hegel diskutiert sie unter „Näherer Begriff und Einteilung der Logik" (E, §§ 79 ff.). Das Nähere sei hier noch ausgespart.
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der; Lemmata oder Funde müssen vermieden werden; es darf keine Neuanfänge und Zäsuren geben. Auch hierfür muß die Dialektik Mittel bereitstellen, damit eine Ontologie als Kategorienlehre, wie Hegel sie fordert, methodisch möglich wird.
Der Bereich der Hegeischen Ontologie Ferner ist aufgegeben, den Bereich der von Hegel proponierten Ontologie zu bestimmen. Mit dieser Frage ist das klassische Problem einer Unterscheidung von metaphysica generalis und metaphysica specialis angesprochen (vgl. hierzu E, §§ 33-36). Hegel kritisiert beide Bereiche als die einer vormaligen Metaphysik; er sieht Mängel wie etwa das Fehlen eines Prinzips für die (in der generalis gemeinten) „abstrakten Bestimmungen des Wesens" oder die Aufnahme empirischer Inhalte (E, § 33). An der specialis rügt er ein Geltendmachen von Bestimmungen, die nicht wesentlich seien: in der „rationellen Psychologie" sind dies Bestimmungen der Zusammensetzung, der Zeit, der qualitativen Veränderung und des quantitativen Zu- oder Abnehmens (E, § 34);54 in der Kosmologie sogenannte „absolute Gegensätze" wie Zufälligkeit und Notwendigkeit und andere mehr (E, § 35); in der Theologie schließlich Prädikate für das, „was wir uns unter Gott vorstellen", die Absicht, Gottes Sein zu beweisen und endliche, wiewohl im Anspruch unendliche Bestimmungen des Verhältnisses Gottes zur endlichen Welt daß er „gerecht, gütig, mächtig, weise usf." sei [E, § 36]. Allerdings, wie das Verhältnis von generalis und specialis nach Hegel beschaffen sein müßte, erhellt aus dieser Kritik noch nicht. Die WdL umgreift die „vormalige Metaphysik" in der Weise, daß ihre Inhalte von den ersten beiden Teilen der Logik abgedeckt werden (der sogenannten .objektiven Logik'). Sie umgreift genauer sowohl ,generalisl die Ontologie, welche die Natur des ens erforschen sollte - als auch die 54
Es heißt, die „rationelle Psychologie" betreffe die „metaphysische Natur der Seele, nämlich des Geistes als eines Dinges". Und dann weiter: „Die Unsterblichkeit wurde in der Sphäre aufgesucht, wo Zusammensetzung, Zeit, qualitative Veränderung, quantitatives Zu- oder Abnehmen ihre Stelle haben" (E, S. 63). Dies ist wohl so zu verstehen, daß die zuletzt genannten Themen nicht unwesentlich seien, sondern vielmehr unzulänglich, die „Unsterblichkeit" der Seele zu begreifen. - Um solche Verstöße gegen die TheorieArchitektur geht es offenbar auch im folgenden: denn die Kategorien der „Kosmologie" - wie „Zufälligkeit und Notwendigkeit [...], oder die Kausalität überhaupt und Zweck, Wesen oder Substanz" usw. werden innerhalb der Logik abgehandelt (E, § 35); der Fehler liegt also darin, daß sie unter Einbeziehung endlicher Bestimmungen in die Theorie der „vormaligen Metaphysik" (E, § 27) eingeführt wurden. Anm. d. Hrsg.
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übrige Metaphysik, insofern als „diese mit den reinen Denkformen die besondern, zunächst aus der Vorstellung genommenen Substrate, die Seele, die Welt, Gott zu fassen suchte" (I, 46 f.). Es erhellt also so viel, daß die Einteilung nach generalis und specialis neu sein wird, da die Logik eine generalis darstellt und in eigener Weise - es heißt: „frei von [...] Substraten" (I, 47) - auch die übrige Metaphysik, also die specialis, behandelt. (Hinzuzunehmen ist, daß die WdL in ihrem 3. Buch eine ,subjektive Logik', eine Lehre vom Begriff, enthält: darunter fallen auch die Subjektivität und das Theoriesubjekt, so daß [weitere] Berührungspunkte zur specialis gegeben sind. Zu erwarten ist eine kategoriale Behandlung von Specialis-Gegenständen wie Seele, Kosmos, Gott.) Die Neuheit und Andersartigkeit der Einteilung erscheint noch dadurch akzentuiert, daß auf die Logik eine Realphilosophie (mit Naturphilosophie und Philosophie des Geistes) folgt, was die Nähe der ganzen Logik zu einer generalis unterstreicht. All dies muß dem Folgenden ebenso vorbehalten bleiben wie die — für eine Unterscheidung von generalis und specialis relevante Frage, inwieweit bei Hegel Existenzsetzung vorgenommen oder gerade vermieden wird, so daß einerseits ,Kategorienlehre' und andererseits .Metaphysik' (im existenzsetzenden Sinne) einander gegenüberstünden.
Einteilung der Logik Für die Logik (als Teil der Hegeischen Philosophie) stellt sich schließlich das Problem ihrer Einteilung. Die Erstreckung von Unmittelbarem zu total Reflektiertem, welche das Schema kennzeichnet und die in der ,Bewegung des Begriffs' linear durchlaufen werden müßte, läßt im Bild der Linie keinen Schluß darauf zu, wie der Kategorienbestand gegliedert werden soll - wenn einmal angenommen wird, es handele sich um eine Vielzahl von Bestimmungen und wenn zur Artikulation mehr beansprucht werden soll als graduelle Potentialunterschiede zwischen unmittelbar und reflektiert, oder denkfremd und denkaffin. Hegels architektonischer Artikulierungsvorschlag, welcher hier noch nicht verstanden werden kann, ist der, drei übergreifende Gesichtspunkte oder Superkategorien - Sein, Wesen, Begriff - anzusetzen, nach denen sich der gesamte Kategorienbestand der Logik ordnet und die also dessen Einteilung ausmachen. (Die obigen Ausführungen zur WdL als einer metaphysica generalis intendieren, die gesamte Hegeische Logik als Ontologie anzusehen, daß also ein homogenes Feld Gegenstand der Einteilung ist - trotz der Berührungspunkte, die gerade in der subjektiven Logik zur specialis gegeben sind.) Ein genaues Verständnis der Einteilung macht ein Verstand-
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nis der Dialektik erforderlich (eine bei Hegel ebenfalls vorhandene bildliche Plausibilisierung - etwa des Wesens als ,Erinnerung', als ,ein Innen eröffnend' - ist tunlich mit der dialektischen Deutung zu verbinden). Hegels Einteilung (E, § 83; I, 41-47) wird in späterem Zusammenhang entsprechend weiter zu erörtern sein. Ontologizität, Propositionalität, Nominalität Wir haben das Projekt der Hegeischen Logik noch ohne ihre dialektische Methode (wenn auch unter Einschluß von Gedanken einer Progression, eines Gebäudes, einer Einteilung usw.) behandelt. Es legt sich nahe, an dieser Stelle nochmals auf ihre Ontologizität zu reflektieren. Stellen wir das Problem beiseite, wie weit die subjektive Logik einen Sonderfall ausmacht - also die Erstreckung der Ontologie über die objektive Logik oder die Themen der ,vormaligen Metaphysik' hinaus (gerade die Einbeziehung von Themen der vormaligen Metaphysik als specialis, welche diese Themen aber nicht kategorial faßte) und schließlich die Rolle einer solchen subjektiven Logik für die Aufstellung eines Theoriesubjekts - stellen wir insgesamt die Frage nach der Ontologizität der subjektiven Logik vorerst beiseite, so steht zu einer ersten Besinnung das Problem an, wie sich Hegels Ontologie-Kategorienlehre zur Propositionalität verhält. Es zeigt sich, schon in Hegels Kritik der ,vormaligen Metaphysik', daß er statt Substrat (etwa für Substanz oder Gott) und Prädikat kategoriale Einheitskonzeptionen verlangt, in denen sich das Problem nicht stellt, ob das Prädikat zum Substrat paßt oder ob die durch das Prädikat gegebene Trennung von Prädikat und Substrat überwindbar ist. - Hegel bringt auch in der PG Ausführungen zum Thema Kategorie und Propositionalität unter dem Motto des spekulativen Satzes' (PG, S. 49-54). Das Problem läßt sich am epistemischen Fall der Kantischen Theorie aufzeigen. Kant stellt in seiner Analytik der Begriffe Kategorien auf, faßt sie aber gleichzeitig als Urteile. Nominale Ansprache eines Gegenstands und propositionale Einstellung zu ihm scheinen zusammenzufallen, sind aber andererseits verschieden, was denn auch deutlich wird in der Analytik der Grundsätze, wo synthetisch-apriorische Urteile in Rede stehen.55 Kategorien sollen Bedingungen der Möglichkeit für empirische Prädikation sein, andererseits sollen die Bedingungen propositional ausdrückbar sein. Dabei bedeutet das Junktim von Ermöglichung des Gegenstandes 55
Siehe R. Aschenberg, Sprachanalyse und Transzendentalphilosophie, Stuttgart 1982, S. 104-107 (mit Hinweis auf E. Lasks .metagrammatische' Urteilsauffassung) u. S. 191 f.
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und Ermöglichung empirischer Prädikation die Schwierigkeit, Synthesis des Mannigfaltigen und prädikative Synthesis in Beziehung zu bringen. Bei Hegel steht die .nominale' Deutung von [Urteils-JKategorien im Mittelpunkt, wie sich aus der Auffassung von Inhalt und Denken klar ergibt. (Die Parallele zu Husserl trägt auch hier: auch für Husserl ist Prädikation ein Abgeleitetes.) Hegels Auffassung ist aber nicht lediglich die Übernahme eines einfachsten epistemischen Modells der ,nominalen Vorstellung' (Husserl): er stellt diesen nominalen Inhalt ein in Überlegungen, nach denen Prädikation eine verstandesmäßige Trennung von Inhalten ist (so daß die Zugehörigkeit eines Prädikats zum Substrat nicht aus dem Substrat hervorgeht) und ein so gesichteter Gegenstand endlich (und dem Subjekt gegenüber) ist, während die Wahrheit in der Einheit von wahrem Gegenstand und Subjekt liegt. Hegel macht auf diese Weise also Gründe gegen die propositionale Auffassung des Kategorialen und in eins damit gegen Referenten oder Designate von Begriffen geltend. Seine Ontologie ist eine Ontologie ohne Substrate.56 (Innerhalb dieser Philosophie vom spekulativen Standpunkt aus zeigt sich das noch einmal an der kategorialen Teleologie, dergemäß gegen Ende kein noch nicht in den Bestimmungsprozeß eingegangenes epistemisches Designat mehr vorhanden ist.) Die Sachlage ist allerdings insofern verwickelter, als die Logik über einfache (seinslogische) Inhalte hinaus komplexere Verhältnisse des Zukommens von Bestimmungen rekonstruiert (bei Wesen und Begriff). Diese sind kategorial, und doch bilden sie - etwa im Fall des Urteils als Kategorie - Referent und Designat, Subjekt und Prädikat nach. Man hat darin also die kategoriale Einordnung von Propositionalität zu sehen. (Zu fragen wäre, ob Hegels Bestimmtheitstheorie nicht schon in der Seinslogik propositionale Strukturen verwendet - in der Form: ,das und das ist bestimmt, d.h., hat ein Oppositum', so sehr andererseits das Oppositum gerade nicht Prädikat, sondern ein Anderes ist.57) Läßt sich aber - unbeschadet ihrer Einordnung in die Kategorienlehre an späterer Stelle - Propositionalität aussparen als Mittel der Erkenntnis56
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Der Umstand, daß Hegels Logik ohne Substrate arbeitet, hat H.F. Fulda zu der Ansicht bestimmt, die Logik sei „unontologisch" (Vortrag in Tübingen am 2.7.84). Dies scheint nach der Hegeischen Inhaltstheorie, die Formen statt Substrate betrachtet, nicht überzeugend (vgl. I, 46 f. sowie I, 30 f., 42 f.). - Die Substratlosigkeit des Hegeischen Denkens hat, wie M. Wolff (in seinem Buch: Der Begriff des Widerspruchs, Meisenheim/Königstein 1981) ausführt, bedeutsame Konsequenzen für die Deutung des Widerspruchs, den Hegel mit seiner Dialektik in Anspruch nimmt. Wir kommen auf diesen Punkt zurück. H.-P. Falk fragt in seinem Buch: Das Wissen in Hegels Wissenschaft der Logik [Freiburg/ München 1983] nach dieser Propositionalität in der Seinslogik (vgl. S. 17-23). Hierzu später mehr.
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gewinnung in den Seinsbereichen, auf die referiert wird? Das Problem läßt sich auch so stellen: behauptet eine Ontologie als Kategorienlehre überhaupt etwas? Handelt es sich nicht doch (im Aristotelischen Sinn) um unverbundene Worte (von denen Aristoteles allerdings auch meinte, daß sie Gründe für Prädikation seien)? Behauptet wäre in diesem Fall dann doch die Kategorialität gewisser Begriffe, angefangen vom prinzipiellen bis hin zum absoluten Fall, wobei dieser letztere das Urteil - gleichsam als Unvollkommenes - noch einmal explizit aufhebt und überholt. Oder von der Affinitätsspekulation her gesehen, ist Wahrheit [ein] (gegebenenfalls relatives) Metaprädikat aller Kategorien. Hegels Philosophie erscheint uns so als Ontologie in Form einer Kategorienlehre.
Zweites Kapitel Die Grundlegung von Bestimmtheit: die qualitative Seinslogik Die (nach unserer Deutung) von Hegel beabsichtigte Theorie einer Ontologie als Kategorienlehre muß nun ,intern', ohne Bezugnahme auf von außen Vorgegebenes, aufgebaut werden. Oder: sie muß die Rekonstruktion der Kategorien (von denen gilt, daß sie exemplifiziert sind) mit begrifflichen Mitteln liefern.
1. Der Ausgangspunkt der Hegeischen Bestimmtheitstheorie: Sein und Nichts Es bedarf dazu eines Ausgangspunkts; eine Philosophie, die etwas begründen will, muß einen Standort haben, von dem aus sie begründet. Nun ist ein Standort als theorielogische Devise schon in der Versicherung nahegelegt, daß der Gegensatz des Bewußtseins überwunden sei (oder als überwunden gelten müsse) und daß somit Denkbestimmungen als Seinsbestimmungen aufgefaßt werden dürfen, kurz in der These von der prinzipiellen Kategorialität also. Ein solcher metatheoretischer Standort ist aber selbst kein geeigneter thematischer Ausgangspunkt, ist er doch in sich komplex, Vorangegangenes voraussetzend, während wir von einem Ausgangspunkt erwarten, daß er nicht hinterfragt (es sei denn, metatheoretisch gestützt) werden kann, keine Voraussetzungen enthält, voraussetzungslos ist. Der thematische Begriff, den Hegel als Ausgangspunkt wählt, ist das Sein. Für diesen thematischen Begriff gibt er metatheoretische Erwägungen, die seine Wahl stützen sollen.1 „Das reine Wissen als in diese Einheit zusammengegangen, hat alle Beziehung auf ein Anderes und auf Vermittlung aufgehoben; es ist das Unterschiedslose; dieses Unterschiedslose hört somit selbst auf, Wissen zu sein; es ist nur einfache Unmittelbarkeit vorhanden" (I, 54).2 Wir nehmen uns die Freiheit, nicht alle Erwiderungen Hegels auf mißverstehende Gegenmeinungen zu kommentieren. Wir erinnern an unser obiges Bedenken hinsichtlich des Ergebnisses der PG als metatheoretisch oder thematisch aufzufassendes [vgl. S. 22].
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Die Grundlegung von Bestimmtheit: die qualitative Seinslogik
Hegel ist sich bewußt, daß der thematische Begriff ,Sein' durch theorielogische oder metatheoretische Erwägungen angebahnt ist, und zwar durch die Gedanken der Unmittelbarkeit und der Einfachheit. Er sagt selbst: „Hier ist das Sein das Anfangende, als durch Vermittlung, und zwar durch sie, welche zugleich Aufheben ihrer selbst ist, entstanden dargestellt; mit der Voraussetzung des reinen Wissens als Resultats des endlichen Wissens, des Bewußtseins. Soll aber keine Voraussetzung gemacht, der Anfang selbst unmittelbar genommen werden, so bestimmt er sich nur dadurch, daß es der Anfang der Logik, des Denkens für sich, sein soll. Nur der Entschluß, den man auch für eine Willkür ansehen kann, nämlich daß man das Denken als solches betrachten wolle, ist vorhanden. So muß der Anfang absoluter oder, was hier gleichbedeutend ist, abstrakter Anfang sein; er darf so nichts voraussetzen, muß durch nichts vermittelt sein, noch einen Grund haben; [...]. Er muß daher schlechthin ein Unmittelbares sein oder vielmehr nur das Unmittelbare selbst. Wie er nicht gegen Anderes eine Bestimmung haben kann, so kann er auch keine in sich, keinen Inhalt enthalten, denn dergleichen wäre Unterscheidung und Beziehung von Verschiedenem aufeinander, somit eine Vermittlung. Der Anfang ist also das reine Sein" (ebd.). Die metatheoretische Reflexion hat also durch Elimination von für Begründung Ungeeignetem anscheinend zu einem eindeutigen Kandidaten für den thematischen Anfang geführt. Die Reflexion muß einen thematischen Anfang bestimmen, sich aber zurücknehmen, soll es sich um einen thematischen Begriff handeln.3 Sie muß den thematischen Begriff als nicht vermittelt hinstellen. Die Reflexion muß Nichtreflexion denken - bleibt aber wiederum auch maßgebend: wenn sie von ,Anfang', von »Anfang für eine Theorie' spricht, zeichnet sie ein von der Vermittlung her als unvermittelt Gesehenes aus, denkt damit aber dessen Beziehung auf ein durch den Anfang Angebahntes, Vermitteltes. Zur Wahrung der Voraussetzungslosigkeit ist der thematische Begriff am Anfang durch die Reflexion als nichtreflektiert ausgezeichnet, und die Verbindlichkeit der Metatheorie gilt für das Fortschreiten gleichermaßen. Dies Fortschreiten steht unter einem doppelten Aspekt: es handelt sich nämlich einmal um einen Fortschritt zu thematischen Bestimmungen vom Sein aus, und zum anderen um eine metatheoretische Normierung, dergemäß gefragt wird: wie anfänglich oder wie abschließend ist eine Bestimmung? Diese Doppelung in der Theorie der Logik entspricht der Doppelung in der PG mit 3
Hegel macht ein Gedankenexperiment mit der Bestimmung .Anfang' als Anfang (vgl. I, 58-60). Diese Bestimmung erweist sich als noch analysierbar und daher nicht empfehlenswert.
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ihrer Unterscheidung von „für es" (für das thematische Bewußtsein) und „für uns" (für den metatheoretischen Beobachter). In der Logik ist die Doppelung ebenso eine von thematischer Abfolge der Begriffe und metatheoretischer Begleitung und Leitung, allerdings ohne ein thematisches Bewußtsein. Der Anfang beim reinen Sein muß weiterführen, aber die Legitimation des Weiterschreitens, die Einsicht in dessen Notwendigkeit und die Disposition der Schritte wird Sache der Metatheorie sein, der Dialektik. Ja, die Abfolge wird die Metatheorie als Thema erreichen, teils schon an Stellen über den Widerspruch in der Wesenslogik, teils dann im Kapitel über die Methode am Schluß der Begriffslogik. Dieter Henrich hat sich in seinem Aufsatz „Anfang und Methode der Logik"4 mit dem Problem des Verhältnisses zwischen dem Sein als Anfang und der Reflexion befaßt. Auch er unterstreicht, daß Hegel in der Auszeichnung des Seins als Anfang seiner Logik die Reflexion fernhalten müsse, daß es besonders wichtig sei, „den Anfang vor [...] Reflexionen zu schützen", man dann aber gewissermaßen einen originären Grund brauche, mit dem Sein anzufangen (a.a.O., S. 87). Henrich meint, daß es sich dabei um eine Evidenz handeln müsse. Er schreibt: „Die Methode Hegels am Anfang der Logik ist also das Gegenteil einer Konstruktion. In ihm ist ganz und gar nur die eine Absicht leitend: Einen Zusammenhang von Gedanken evident zu machen, der sich jeder Konstruktion entzieht, obgleich er spekulativer Natur ist [...] Hegel hat stets das deutlichste Bewußtsein davon gehabt, daß eine Schwierigkeit darin gelegen ist, am Anfang der Logik nur die Evidenz eines reinen Gedankens beanspruchen zu können - eine Evidenz, die zudem nur der festzuhalten vermag, der den Zusammenhang des Systems im Ganzen übersieht" (a.a.O., S. 89 f.)5 Man kann allerdings fragen, ob die gemeinte Evidenz eine einfache und unmittelbare sein kann, so sehr verständlich ist, daß mit ihr das Positive, Eigenständige, Nicht-Reflektierte des thematischen Anfangsbegriffs zum Ausdruck kommen soll. Hegel seinerseits meint: „Aber es [dies reine Sein, dies Absolut-Unmittelbare] muß ebenso wesentlich nur in der Einseitigkeit, das Rein-Unmittelbare zu sein, genommen werden, eben weil es hier als der Anfang ist" (I, 57). Es befriedigt also wohl mehr, Sein im Blick darauf als proponierten Anfangsbegriff zu nehmen, daß eine Ontologie meint, ihr Thema mit ,Sein' angeben zu können (hierin liegt ein Moment von Evidenz), damit aber verbindet, daß es weitere Seinsthemen gibt, die in ihrem Zusammenhang mit Sein verstanden werden müs4 5
D. Henrich, Hegel im Kontext, Frankfurt a.M. 1988, S. 73-94. Hingewiesen sei auf Henrichs Kommentierung früherer Interpreten, die seiner Ansicht nach die Reflexion nicht eliminieren konnten (a.a.O., S. 75-84).
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sen. Wer den thematischen Begriff ,Sein', als zurecht am Anfang geltend gemacht, bestreiten will, muß in einem elenktischen Verfahren zur Angabe von Gründen aufgefordert werden, womit der Betreffende natürlich die Anfänglichkeit eines voraussetzungslosen Anfangs der Ontologie verfehlen würde. Er müßte bezüglich eines anfänglichen Begriffs der Ontologie Skeptiker sein. Gegen solch einen Kritiker läßt sich an dieser Stelle der Logik kein Argument führen. Der erste thematische Begriff erweist nun seine Tugend, indem er, wie Hegels Behandlung zeigt, über sich hinaus weiterführt, und zwar zum Nichts: „Sein, reines Sein, - ohne alle weitere Bestimmung. [...] Es ist nichts in ihm anzuschauen, [...]. Es ist ebensowenig etwas in ihm zu denken [...]. Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als Nichts" (I, 66 f.). - Hegel geht [aber] auch den umgekehrten Weg vom Nichts zum Sein: „Nichts, das reine Nichts; [...]. Insofern Anschauen oder Denken hier erwähnt werden kann, so gilt es als ein Unterschied, ob etwas oder nichts angeschaut oder gedacht wird. Nichts Anschauen oder Denken hat also eine Bedeutung; beide werden unterschieden, so ist (existiert) Nichts in unserem Anschauen oder Denken; oder vielmehr ist es das leere Anschauen und Denken selbst, und dasselbe leere Anschauen oder Denken als das reine Sein. - Nichts ist somit dieselbe Bestimmung oder vielmehr Bestimmungslosigkeit und damit überhaupt dasselbe, was das reine Sein ist" (I, 67). Es zeigt sich, daß die Setzung einer Identität von Sein und Nichts metatheoretisch motiviert wird (bei beiden liegt Sich-selbst-Gleichheit oder Unbezüglichkeit und Bestimmungslosigkeit vor). Zureichend ist die These, daß beim Sein ein Nichts an Bestimmtheit, ein Nullfall von Bestimmtheit, vorliegt, so daß sich die Identität mit Nichts (als Ununterschiedenheit beider) ergibt. (Die Hinsicht ,in puncto Bestimmtheit' hindert die Identität nicht, wenn der spekulative Standpunkt gilt, nach dem Begriff und Sein identisch gesetzt werden.) Vom Sein gilt also die Konversion in Nichts. Vom Nichts aus soll [dann] auch die umgekehrte Konversion in Sein dargetan werden können: epistemisch - ,wenn Anschauen oder Denken erwähnt werden können' - wird argumentiert, daß Nichts hierfür einen Unterschied mache; es hat gleichsam sein Bestehen darin. Die dennoch vorhandene bestimmtheitsmäßige Leere des Anschauens oder Denkens führt Hegel darauf, die Relation auf einen Referenten zu streichen (die epistemische Annahme also rückgängig zu machen), so daß nur leeres Bestehen - Sein - übrigbleibt. Das Argument, es mache einen Unterschied, ob Sein oder Nichts vorliege, ist allerdings bedenklich, weil vergleichend und somit diskursiv (was am Anfang nicht sein sollte). Und auch das Argument, Anschauen oder Denken und Referent fielen im Sein zusammen,
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ist nicht über jeden Zweifel erhaben, erscheint es doch prekär, aus einem metatheoretisch diagnostizierten Zusammenfall von Anschauen oder Denken und leerem Referenten den thematischen Begriff ,Sein' gewinnen zu wollen. Die Sachlage ist ähnlich, wenn auch nicht identisch mit der These vom absoluten Wissen, dessen Zusammenfall mit dem Referenten als Erweis seiner prinzipiellen Kategorialität gegolten hatte. Daß der Anfangsbegriff daraufhin ,Sein' heißen muß, war deshalb noch nicht gezeigt. - Das jetzige Argument soll dies leisten: Streichung der Relation auf einen Referenten ergibt ,Sein'. Diese Setzung der Identität von Sein und Nichts besagt keineswegs, daß beide nicht auch unterschieden wären: sie haben zweierlei Namen mit verschiedenen Bedeutungen. Hegel wendet sich entsprechend gegen ihre Austauschbarkeit im Anwendungsfall: „Sein und Nichtsein ist dasselbe; also ist es dasselbe, ob ich bin oder nicht bin, ob dieses Haus ist oder nicht ist, ob diese hundert Taler in meinem Vermögenszustand sind oder nicht. - Dieser Schluß oder" [diese] „Anwendung jenes Satzes verändert dessen Sinn vollkommen. Der Satz enthält die reinen Abstraktionen des Seins und Nichts; die Anwendung aber macht ein bestimmtes Sein und bestimmtes Nichts daraus" (I, 70).6 Es geht nicht um bestimmtes Seiendes und Nichtseiendes, sondern um denjenigen Begriff, der unter metatheoretischem Gesichtspunkt Nullfall von Bestimmtheit ist. Und dieser Begriff hat die Doppelung von Sein und Nichts. Dies läßt sich verständlich machen als doppeltes Propositum und Fazit: wenn wir Sein ansetzen, dann realisieren wir nicht-diskursiv, daß damit ein Nichts an Bestimmtheit vorliegt; wenn wir Nichts ansetzen, dann realisieren wir, daß damit ein Bestehen, ein Positum, ein Sein, vorliegt, woraus sich die Konvertibilität beider (oder wenn wir an unseren Bedenken festhalten, die Konvertibilität in einer Richtung) ergibt.7 Das 6 7
Das Beispiel bei Kant: KrV A, S. 599. A. Trendelenburg bemängelt (in seinen „Logischen Untersuchungen" [2 Bde., Leipzig 3 1870], daß der Anfang von Hegels Logik den Charakter eines unerlaubten Schlusses habe, und zwar wie folgt: Sein ist reine Unmittelbarkeit, Nichts ist reine Unmittelbarkeit, ,Sein = Nichts', wobei der Mittelbegriff, der den Schluß zum Schließen bringen soll, beide Male in Prädikatposition steht und nicht, wie beim Modus Barbara, einmal als Prädikat und einmal als Subjekt. Diese (nach Aristoteles: zweite) Schlußfigur ist nur mit negativer conclusio gültig (a.a.O., S. [105 ff.]). J. Schmidt (in: Hegels Wissenschaft der Logik [München 1977]) weist Trendelenburgs Deutung ab, weil Hegel ja selbst sagt, daß Sein die reine Unmittelbarkeit ,sei' und nicht mehr oder weniger als das. Wenn Sein die Unmittelbarkeit ,ist', so kann man natürlich nicht sagen, Unmittelbarkeit sei ein bloßes Prädikat. Es liegt somit kein Schluß-Schema vor (vgl. a.a.O., S. 73-76). Im übrigen macht Hegel für die Identität von Sein und Nichts nicht die Unmittelbarkeit geltend (vgl. I, 66 f.).
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Realisieren ist jeweils ein Umschlagen: nicht ist im Übergehen vom einen zum anderen ein Verhältnis von Sein und Nichts vorhanden (vgl. I, 90). Das von Hegel Gemeinte, die Konvertibilität von Sein und Nichts, hat nun strategische Bedeutung für die Theorie, und hierin liegt die angedeutete Tugend des ersten thematischen Begriffs. Diese Konvertibilität wird es Hegel möglich machen, für Bestimmtheit aufzukommen.8 - Das Projekt ist eine Hinführung zur Bestimmtheit, und Hegels Ausführungen zu Sein und Nichts sind eine Art und Weise, wie Bestimmtheit noch hinterfragt werden kann. D.h., er will deren Ursprung fassen, und gewisse metatheoretische Überlegungen für den weiteren Fortschritt leitend machen. - Der Ausgangspunkt für eine Theorie der Bestimmtheit von Begriffen, die Kategorien sind, darf sicherlich nicht schon Bestimmtes in Ansatz bringen. Die gemeinte Theorie hat vom Noch-nicht-Bestimmten auszugehen, sonst wäre das Vorhaben mißlungen, wäre eine petitio [principii], die Bestimmtes für Bestimmtes aufkommen ließe. Die Konvertibilität von Sein und Nichts kann nun der Anbahnung einer solchen Theorie dienen, insofern darin ein Denkmittel für Bestimmtheit (der im Nichts gelegene Ursprung von Negation) eröffnet ist. Es kann auf Grund dieser Konversion ein Zusammengehören von Sein und Bestimmtheit behauptet werden. - In der Absicht, die Denkmittel für seine Theorie zu geben, fängt Hegel mit Sein an, denn, abgesehen von dessen Rechtfertigung als erstem thematischen Begriff, gibt Sein den voraussetzungslosen Ursprung der Negation ab. Die Anfangsbegriffe - Sein und Nichts - sind aber ideologisch auf ein Ziel hin gerichtet: zunächst ein erstes Bestimmtes und schließlich eine ganze Bestimmtheitstheorie zu liefern. Zur Plausibilität von ,Sein' als Denkmittel wurden Hinweise schon im Zusammenhang mit der Erörterung dieses Begriffs als thematischem gegeben. Betont Henrich die Evidenz des Seins als eines Unmittelbaren, so tritt bestimmtheitstheoretisch die Reflexion auf Weiteres zur Ontologie zu Rechnende hinzu - und eine relative Unmittelbarkeit (das jeweilige Seinspotential einer Stufe). ,Sein' soll uns jeweils der kategorialen Relevanz des begrifflich Beanspruchten versichern. Zur Plausibilität der ,Negation' als Denkmittel (das vom Nichts aus erst antizipiert werden kann) vermag gerade zu dienen, daß Hegel Sein und Unmittelbarkeit einander zuordnet, so daß ,Bestimmtsein' das ,Negat von Unmittelbarkeit' bedeuten muß (als Betroffensein vom vermitHegel macht längere Ausführungen, die zeigen sollen was sich ergibt, wenn „das Sein und das Nichts voneinander isoliert" werden, „so daß hiermit das Übergehen negiert ist" (I, 80). Er behandelt insbesondere Parmenides, Jacobi und Platons „Parmenides" (vgl. I, 80-89).
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telnden Nicht-Sein). Dies ist zunächst noch nicht Opposition oder Limitation, d.h. Bestimmtsein durch ein Anderes oder einen anderen Begriff (in dem Sinne, daß ,a' Bestimmtheit nur im Ausschluß und Widerspruch gegen ,non-a' habe).9 Bei fortgeschrittener Bestimmtheit wird auch die Hegeische Bestimmtheitstheorie limitative Verhältnisse aufweisen, wobei allerdings das Negat eine Identitätsbindung enthält (metatheoretisch also demselben Kategorie-Typ angehört, wie etwa im Beispiel .Etwas' und .Anderes'). Die Einführung des Nichts als Ursprung des späteren Denkmittels,Negation' geht einher mit der Überlegung, daß es zunächst unsere Reflexion, unsere Freiheit sei, die die genannte Konvertibilität konstatiert und daß noch ein Hinweg bis zu „Einbildungen der Negation in das Sein" zurückzulegen ist, bis wir also mit bestimmtem Sein zu rechnen haben (1,147). In der Konvertibilität von Sein und Nichts erscheint der Zusammenhang von Denken und Sein noch am wenigsten methodisch, als nicht-diskursives Fazit unserer Reflexion - und nicht etwa als Übergehen von Bestimmung zu Bestimmung auf Grund von Oppositionsverhältnissen. Erwähnt sei schließlich das Bedenken: zumindest in diesem ersten Teil der Bestimmtheitstheorie seien keine Kriterien für ein geregeltes Fortschreiten zu sehen. Wir haben [in der Tat] nur das Hegeische Vorgehen als Unikat.10
2. Sein und Existentialsein Ein mögliches Mißverständnis ist, daß ,Sein' Existentialsein meine. Hegel selbst spricht diese Fehldeutung an, wenn er im obigen Zitat mit dem Kantischen Beispiel der hundert Taler, ,die in meinem Vermögenszustande sind oder nicht', das Sein oder Nichtsein von Etwas behandelt (vgl. I, 70-75). Hegel faßt dies als den Fall einer .Anwendung' des Seinsbegriffs auf Bestimmtes; es werde ein Substrat angesetzt und von diesem dann gefragt, ob ihm auch Sein zukomme. Es ist ohne weiteres deutlich, daß sich ein solches Verständnis unterscheidet vom Sein im Hegeischen Sinne, als nämlich frei von Bestimmtheit.11 9
Siehe H. Wagner, Philosophie und Reflexion, § 14, bes. S. 109. Das ist vielleicht so zu ergänzen: Die erwähnte Kritik öffnet sich nicht dem singulären Hegeischen Versuch, den spekulativen Standpunkt thematisch-metatheoretisch zu vermitteln, und verharrt vielmehr auf einer epistemologischen Position. Anm. d. Hrsg. " Kant, dessen Beispiel von den hundert Talern in Zusammenhang mit seiner Kritik des ontologischen Gottesbeweises steht, will Existentialsein als nicht reales, nicht sachhaltiges Prädikat von [den anderen] Prädikaten und Bestimmtheiten unterschieden wissen. 10
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Zu fragen bleibt allerdings, ob mit der Abweisung des Existentialseins als einer Anwendung von Sein auf Bestimmtes (auf bestimmt Gedachtes) die Möglichkeit des Existentialseins als Ausgangsposition der Philosophie schon abgetan ist (gleichsam alternativ zu Hegels bestimmtheitstheoretischem Seinsbegriff). Es könnte die Meinung bestehen, daß Existentialsein vorgängig sei und bestimmtes Sein erst aus sich entlasse. Eine Position dieses Typs ist die des späten Schelling, der aus einem Existentialgrund Gott und die Schöpfung entwickelt - wenn auch in einem nicht kriteriell geregelten Verfahren; eine andere ist die (von Augustinus bis Thomas und darüber hinaus vertretene) These vom Sein als Ursprung des Seienden.12 Ein solches Seinsverständnis liegt bei Hegel nicht vor (was E. Gilson denn auch zu einer schneidenden Kritik veranlaßt hat).13 Schon Schelling selbst hat die Hegeische Position einer Kritik unterzogen, die in ihrer milden Form darauf hinausläuft, eine zu billigende negative Philosophie (oder Logik), welche ,Möglichkeit' behandelt, zu unterscheiden von einer darüber hinaus zu fordernden positiven Philosophie, welche ,das Wirkliche' zum Thema hat, in ihrer schärferen Form jedoch darauf zielt, das Läppische der Hegeischen Bestimmtheitstheorie herauszustellen - sie erscheint als „Flachsspinnmaschine".14 (Auf Schellings Hegelkritik ist später noch zurückzukommen.)
3. Die Anbahnung von Bestimmtheit: Werden Wenn mit Sein und Nichts der Ausgangspunkt für eine Bestimmtheitstheorie von Begriffen gegeben sein soll, so sind Schritte zu proponieren, um einen ersten Fall von Bestimmtheit zu erreichen - den Hegel Dasein' nennt. Er disponiert dabei, von Sein und Nichts ausgehend, zu-
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Wenn die Ablehnung des ,Seinsprädikats' eine Gemeinsamkeit darstellt, so ist seine Stoßrichtung dennoch eine andere als die Hegels: es geht Kant darum, daß Existentialsein nicht aus dem Begriff einer Sache erschlossen werden könne, während Hegel mit Sein als Nullfall von Bestimmtheit die Kontinuität von Sein und bestimmtem Sein durchaus behauptet. Dies führt ihn dann auch zu einer Ablehnung von Kants Kritik des ontologischen Gottesbeweises, worauf später noch einzugehen ist. In neuerer Zeit hat E. Gilson diese These vom Sein als Akt nachdrücklich vertreten (in: Being and Some Philosophers [Toronto 21952]). Es heißt dort [unter Anführung eines Thomas-Zitats]: „To be is the act of the subsisting forms: Ipsum esse est actus formae subsistentis" (S. 175). D.h., man müsse sich von einem [existentialen] „esse" aus die weitere Komplikation einer Verknüpfung von Form und Materie denken, so daß ein ,ens' entstehe. Vgl. E. Gilson, a.a.O., S. 132-147. Anm. d. Hrsg. F.W.J. Schelling, Ausgewählte Werke, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1968, Bd. 1813-1830, S. 445.
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nächst eine Zwischenstufe: das Werden als Einheit von Sein und Nichts. — Hegel reflektiert durchaus darauf, daß das Nichts gewöhnlich dem Etwas entgegengesetzt wird, so daß Werden eine Bewegung von Nichts zu Etwas sein müßte (vgl. I, 67); dies verlangte aber bereits ein (gegenüber einem anderen Etwas) bestimmtes Seiendes und entsprechend ein bestimmtes Nichts (das Nichts des Etwas). Im jetzigen Stadium der Theorie ist aber solch ein Bestimmtes noch nicht anzusetzen. Werden erscheint daher als Einheit von Sein und Nichts. „Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein, noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts, und das Nichts in Sein - nicht übergeht - sondern übergegangen ist" (I, 67). »Übergehen* wird abgewiesen, weil sonst Sein auf Nichts (und umgekehrt Nichts auf Sein) bezogen gedacht würde; beide wären Reflexionsbestimmungen (vgl. I, 89 f.). Dies darf wegen der Unmittelbarkeit von Sein und Nichts nicht der Fall sein. „Aber ebensosehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern daß sie nicht dasselbe, daß sie absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar sind und unmittelbar ;edes in seinem Gegenteil verschwindet. Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen: das Werden; eine Bewegung, worin beide unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat" (1,67). Die Unterschiedenheit und Ununterschiedenheit von Sein und Nichts ist ein metatheoretisches Fazit schon der anfänglichen Betrachtung von Sein und Nichts (wenn auch [wie gesagt] gegen die wechselseitige Konvertibilität Bedenken bestehen mögen). Hier nun kommt hinzu, daß Hegel die beiden Ausgänge - vom Sein und vom Nichts - als symmetrische Fälle der Fazitziehungen oder des Übergegangenseins sieht, welche als Hinführungen zum jeweiligen Gegenteil identisch, aber auch unterschieden sind, da je nach Ausgangspunkt eine gegenläufige Richtung - zum Nichts, zum Sein - vorliegt. Vom neuen thematischen Begriff „Werden" sagt Hegel, es sei ein Drittes. „Dies Dritte ist ein Andres als sie [Sein und Nichts]" (I, 78). Die Proponierung des neuen Begriffs hängt offensichtlich daran, daß man das doppelte metatheoretische Realisieren, das Sich-verweisen-Lassen von Sein zu Nichts und von Nichts zu Sein, welches ja auch zu Beginn vorlag, als ein Zugleich gegenläufiger Richtungen faßt und für thematisch relevant hält, während es sich an der früheren Stelle nur um das wahlweise Anfangen beim Sein oder beim Nichts mit symmetrisch gegenläufigem Ertrag handelte. Es geht also nicht nur um diese Erträge, sondern um die (diskursive) ,unruhige£ Zusammenfassung zweier Fazitziehungen aus den symmetrischen Fällen von Übergegangensein, welche identisch und doch
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unterschieden sind. Die Einheit beider (als [ihre] Wahrheit angesprochen) ergibt sich daraus, daß ein Fazit allein unvollständig wäre angesichts der doppelten metatheoretischen Möglichkeit des Sich-Verweisen-Lassens, andererseits die Fazits keine weitere Alternative zulassen. Die Einheit beider trägt einen neuen Namen.15 Man sieht, ähnlich wie schon bei Sein und Nichts: das Denken (wenn auch nicht mehr das .Anschauen') scheint notwendig für die Aufstellung des Begriffs , Werden'. Dies nun ist ein von Hegel urgierter epistemischer Einschlag in die Ontologie: für uns ist eine Sachlage gegeben, und sie bewahrheitet sich im begrifflichen Novum. Mit unserem Übergehen geht das Sein über. (Die qualitative Seinslogik soll dabei diesen Charakter haben, daß die Bestimmungen nur mit Hilfe unseres diskursiven Denkens ,übergehen', während schon quantitative Bestimmungen an ihnen selbst die Anweisung zum ,Übergehen' enthalten.) Der Hegeische Schritt zum Werden ist nicht kriteriell beurteilbar (als Fall unter einer Regel). Aber es zeigen sich erste metatheoretische Vorformen von Dialektik. In der Figur des Werdens ist bereits ein Relationssachverhalt präfiguriert, das Verhältnis von Opposita, so sehr solche hier nur in der Konzeption von,Richtungen' liegen - von Fazitziehungen oder gegenläufigem Ubergegangensein. Hegel führt auch schon den Gedanken der ,Aufhebung' ein: „Das Werden ist das Bestehen des Seins so sehr als des Nichtseins; oder ihr Bestehen ist nur ihr Sein in Einem; gerade dies ihr Bestehen ist es, was ihren Unterschied ebensosehr aufhebt" (1,78).16 Das Besondere der Hegeischen Konzeption kann wie folgt beleuchtet werden. Hegel meint nicht, daß für die Aufstellung des Begriffs ,Werden' auf etwas rekurriert werden müßte, das wird oder im Werden ist, das also erst als Werden von etwas dargestellt werden könnte. Dann handelte es sich um eine Anwendung des Begriffs auf Seiendes (oder schon Bestimmtes); und das soll hier nicht vorliegen. Die Kategorie bezeichnet vielmehr etwas Unbekanntes, eine Übergänglichkeit oder Unruhe als solche, noch bevor Bestimmtes, Seiendes, erschienen ist, das durch sie qualifiziert wäre. Hegel denkt zwar durchaus auch an solches Seiende, welches die Unruhe des Werdens bat. Er meint, „daß es gar nichts gibt, das nicht ein 15
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Ein Bedenken wäre, ob die Setzung von Identität nicht nur unter einer .Hinsicht' gelingt („Verschwinden" - vgl. I, 67). Die metatheoretische Symmetrie würde dann nicht ausreichen für solch eine Setzung. Um diesen Einwand abzuwehren, wäre zu sagen, daß das .Verschwinden im Anderen' Sein und Nichts voll charakterisiert - so wie oben, gegen Trendelenburg, .Unmittelbarkeit' nicht Hinsicht, sondern erschöpfende metatheoretische Bestimmung des Seins war. Vgl. auch die Wendung von einem „Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat" (I, 67). - Zur Aufhebung siehe näher unten S. 58 f.
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Mittelzustand zwischen Sein und Nichts ist" (I, 91). (Die Wendung fällt in Zusammenhang mit einem Blick auf die Differentialrechnung, welche Größen behandele, „die in ihrem Verschwinden sind", will aber verallgemeinert verstanden sein - ebd.) Auch spricht Hegel von „vielfachen empirischen Gestalten", die das Dritte, das Werden, habe - Gestalten, die wir als Fälle von Anwendungen des Werdens als [einer] Statusbestimmung verstehen können (I, 79). Hegel sieht aber in dem, was Werden aufweist, [bereits] Weiterentwicklungen, „konkret gewordenes Werden" (I, 103). Schließlich bringt er Werden in einen Zusammenhang mit der Endlichkeit von schon bestimmtem Seienden (vgl. I, 116 f.). - Dies rührt an die Frage des Verhältnisses von Folgebegriffen zu ihren Antezedentien (hier: Werden): bleiben sie bestimmt vom Vorangegangenen, so daß etwa Folgebegriffe von ,Werden' [das] Werden aufweisen? Klarheit darüber vermag nur eine Deutung der ,Aufhebung' zu verschaffen, die aber an dieser Stelle noch nicht voll gegeben werden kann. Auf dem Weg der Hegeischen Theorie, Begriffsbestimmtheit darzutun, ist ein Weiterschreiten vom Werden aus aufgegeben. Werden ist kein abschließender Begriff, ja noch nicht einmal die Bestimmtheit eines Seienden, ist seine Bestimmtheit doch die des Übergangs. Der weitere Schritt ist - gegenüber der Einheit beider Richtungen oder Fazitziehungen, die als Unmittelbares vorangeht - nun den Unterschied zu pointieren. Hegel entwickelt hierzu den Begriff des Moments: Werden ist „diese bestimmte Einheit", und zwar als Einheit des Seins und des Nichts; aber „indem Sein und Nichts, jedes ungetrennt von seinem Anderen ist, ist es nicht. Sie [Sein und Nichts] sind also in dieser Einheit, aber als Verschwindende, nur als Aufgehobene. Sie sinken von ihrer zunächst vorgestellten Selbständigkeit zu Momenten herab, noch unterschiedenen, aber zugleich aufgehobenen. - Nach dieser ihrer Unterschiedenheit sie aufgefaßt, ist jedes in derselben als Einheit mit dem Anderen. Das Werden enthält also Sein und Nichts als zwei solche Einheiten, deren jede selbst Einheit des Seins und Nichts ist" (I, 92). Sie sind als Entstehen und Vergehen zu unterscheiden. „Beide sind dasselbe, Werden, und auch als diese so unterschiedenen Richtungen durchdringen und paralysieren sie sich gegenseitig" (I, 92 f.). Ein Problem scheint, daß Hegel hier denselben Unterschied von zwei Richtungen geltend macht, der schon am Anfang zur Aufstellung eines Dritten gegenüber Sein und Nichts benutzt wurde, so daß nicht zu sehen wäre, wieso ein neuer Schritt vorliegt. Das Vorgehen läßt sich jedoch verteidigen, wenn man bedenkt, daß nunmehr die beiden unterschiedenen Richtungen thematische Begriffe sind (Entstehen und Vergehen), während vorher die Rede war von zwei metatheoretischen Fazitziehungen
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zur Aufstellung des , Werdens' als der thematischen Einheit von Sein und Nichts. Dies Werden hat die Dignität eines neuen thematischen Begriffs, und dessen Sondierung (nach seinen Unterschieden oder Momenten) ergibt wiederum thematische Momentbegriffe. Deren Verhältnis wird so gesehen: indem sie sich „durchdringen und paralysieren", heißt es weiter: „Sie heben sich nicht gegenseitig, nicht das Eine äußerlich das Andere auf; sondern jedes hebt sich an sich selbst auf und ist an ihm selbst das Gegenteil seiner" (1,93). Sie haben in der Gegenläufigkeit ihr Bestehen als Unterschiede und ihre Einheit. - Es kann allerdings von den thematischen Begriffen .Entstehen' und ,Vergehen' nicht gelten, daß ,jedes sich an sich selbst aufhebt und an ihm selbst das Gegenteil seiner ist'. Entstehen hebt sich nicht an ihm selbst zu Vergehen auf und umgekehrt. Vielmehr kann nur in metatheoretischer Artikulation gelten, daß das Fazit des einen Gegenteil des Ausgangspunkts und damit auch Gegenteil vom Fazit des anderen ist: „Sein geht in Nichts über, aber Nichts ist eben sosehr das Gegenteil seiner selbst, Übergehen in Sein" (ebd.). Es zeigt sich damit die Denkfigur, welche bei späteren dialektischen Oppositionsverhältnissen und deren jeweiliger Lösung vorkommt. Hier sind es Sein und Nichts, die (als einem Dritten inhärierend) logisch miteinander in Beziehung gesetzt werden: was vorher ein freibleibendes Realisieren, ein metatheoretischer Übergang, ein Sich-von-einem-Ausgangspunkt-zu-einem-Fazit-Bewegen war, ist jetzt ein Widerspruch in der Sache /Werden'. Früher konnte die behauptete Ununterschiedenheit bei gleichzeitig behaupteter Unterschiedenheit nicht, als einer Einheit inhärierend, in Beziehung gesetzt werden (nur die Bestimmungslosigkeit vermittelte den Übergang). Jetzt ist Unvereinbarkeit erschienen. Es ist Hegel aufgegeben, nicht bei diesem Widerspruch stehen zu bleiben und also die Sachlage weiterzutreiben. Es heißt: „Sein und Nichts sind in ihm [dem Werden] nur als Verschwindende; aber das Werden als solches ist nur durch die Unterschiedenheit derselben. Ihr Verschwinden ist daher das Verschwinden des Werdens oder Verschwinden des Verschwindens selbst. Das Werden ist eine haltungslose Unruhe, die in ein ruhiges Resultat zusammensinkt" (ebd.). Hegel will also die Identität der Momente des Werdens als Verschwindende nutzen, um zu einer neu benannten Identität zu kommen, dem ,Dasein'. Beide Momente sind Verschwinden, einmal von Sein in Nichts und einmal von Nichts in Sein. Sie sind also Unterschiedene und Identische. Nun soll gelten, daß das Werden mit dem Verschwinden von Sein in Nichts und von Nichts in Sein auch „das Verschwinden von Sein und Nichts überhaupt" ist; es beruhe aber „zugleich auf dem Unterschied derselben. Es widerspricht sich also in sich selbst, weil es solches in sich vereint, das sich entgegengesetzt ist;
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eine solche Vereinigung aber zerstört sich. - Dies Resultat ist das Verschwundensein, aber nicht als Nichts; so wäre es nur ein Rückfall in die eine der schon aufgehobenen Bestimmungen, nicht Resultat des Nichts und des Seins. Es ist die zur ruhigen Einfachheit gewordene Einheit des Seins und Nichts" (ebd.). Die metatheoretische Sachlage soll besagen: die Gegenläufigkeit der Bewegung (ursprünglich entdeckt an einem Sich-Verweisen-Lassen des Denkens von Sein zu Nichts und von Nichts zu Sein) ist, wie sich gezeigt hat, ein Widerspruch - als gegenseitiger und je für sich bestehender Widerspruch der Momente. In einem Dritten (dem Werden) zusammengeschaut, erweisen sie sich als unvereinbar, können nicht zusammen bestehen. Die Wahrheit muß dann darin liegen, daß ein Neues proponiert wird, andernfalls läge ein Rückfall vor in aufgehobene Bestimmungen oder doch ein Nichtweiterkommen. Hegels Fazit: „Die ruhige Einfachheit aber ist Sein, jedoch ebenso, nicht mehr für sich, sondern als Bestimmung des Ganzen. - Das Werden, so [als] Übergehen in die Einheit des Seins und Nichts, welche als seiend ist oder die Gestalt der einseitigen unmittelbaren Einheit dieser Momente hat, ist das Dasein" (ebd.). Dieser Schritt kann nicht kriteriell gesichert werden, aber man kann vom Ergebnis her rückblickend sehen, daß es sich um eine Vorstufe der Darstellung von Bestimmtheit durch die bestimmte Negation handelt, und zwar um den Sonderfall einer Symmetrie von Entgegengesetzten (erst gegenläufigen Denkbewegungen, dann gegenteiligen Verschwindensbewegungen). Wir sahen, daß Hegel einen Widerspruch diagnostiziert und ihn in zweifacher Weise faßt: als gegenseitigen Widerspruch der beiden Momente Entstehen und Vergehen und als Widerspruch der einzelnen Momente je für sich. In ersterer Hinsicht müßte man wohl sagen, daß die Gegenteiligkeit von Verschwindensbewegungen noch nicht dasselbe ist wie das Verhältnis, in dem ein vom Sein her Pointiertes durch sein vom Nichts her pointiertes Oppositum zu einem Novum bestimmt wird. (Hegel sagt denn auch nur unscharf, daß das eine das andere ,durchdringe' und paralysiere', was wir als bildlichen Ausdruck für einen Widerspruch auffassen können.) Das je für sich Widersprüchlichsein der Momente andererseits läßt denken, daß schon der reguläre Fall der dialektischen Synthese durch Identität der Opponierten vorliegt. Von der Symmetrie gegenläufiger Bewegungen her ist die Zusammenlegung der beiden Momente in einem Novum nicht streng vollziehbar; zusammen mit dem Gedanken des Widerspruchs der Momente je für sich liegt aber doch die Antizipation dialektischer Bestimmtheitstheorie [vor], nämlich daß auf beiden Seiten jedes im Widerspruch zu sich das Andere ist und daß beide darin identisch
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sind. Hier, an unserer Stelle, ist das Eintreten des ,ruhigen Resultats', der Übergang der Bewegungen zur identischen Charakteristik der Relate und daher zu ,ruhiger' Einheit („Verschwinden des Verschwindens"), nicht nur thematisches Novum (,Dasein'), sondern auch metatheoretisches (ebd.). Der Hinweg zu dieser Sachlage über das Werden verdankt sich noch einer Lizenz, deren mögliche Kritik es aber mit der Sachlage aufnehmen muß, daß Hegel erst eine Genese von Bestimmtheit gibt.
4. Dasein Die Reflexion auf ein erstes Bestimmtes hat das Aufheben des Werdens zu einer „Einheit des Seins und Nichts" geführt, „welche als seiend ist oder die Gestalt der einseitigen unmittelbaren Einheit dieser Momente hat" - zum Dasein (I, 93). Dies wird definiert als „bestimmtes Sein" (I, 95), als das „einfache Einssein des Seins und Nichts", als „überhaupt Sein mit einem Nichtsein" (I, 96). Die metatheoretische Kennzeichnung des Daseins, welche eine Fortbestimniung, ein Weiterkommen, eröffnen soll, setzt an bei der vorliegenden Einheit als bestimmtem Sein. Ist Dasein „überhaupt Sein mit einem Nichtsein, so daß dies Nichtsein in einfache Einheit mit Sein aufgenommen ist", so führt Hegel als nächstes eine Differenzierung ein (ebd.). Das Resultat hat (wie wir uns ausdrücken wollen) ein Seinspotential17 und läßt sich auf das hin befragen, was ihm Bestimmtheit gibt: sein Nichtspotential nämlich, das als Oppositum entfaltet werden kann. Bestimmtheit wird zum Komplement des Seins. Spricht Hegel beim Dasein davon, daß es „in der einseitigen Bestimmung des Seins" sei, also vom Seinspotential her gesehen wird, so nutzt er diese Einseitigkeit zur Aufstellung eines neuen Begriffs: „Das Nichtsein so in das Sein aufgenommen, daß das konkrete Ganze in der Form des Seins, der Unmittelbarkeit ist, macht die Bestimmtheit [...] aus" (I, 96). Bestimmtheit erscheint als Fall, wo Dasein „in der Form des Seins" (wir sagen: gemäß seinem Seinspotential) genommen wird. Hierher paßt auch die Formulierung: „Bestimmtheit ist die Negation als affirmativ gesetzt" (I, 100). - Diesem affirmativen Potential gegenüber steht das andere: „Das Ganze ist gleichfalls in der Form, d.i. Bestimmtheit des Seins, [...] ein aufgehobenes, negativ-bestimmtes" (I, 96). Das „Ganze" wird in zweierlei Hinsichten gefaßt - Form des Seins als affirmativ, Bestimmtheit des Seins als negativ. Bestimmtheit tritt hier 17
Wir erinnern an Jonas Cohns Ausdruck „Prävalenz des Positiven" [vgl.: Theorie der Dialektik, Leipzig 1923, S. 318, 320].
Dasein
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metatheoretisch als negatives Potential auf, im Unterschied zum thematischen Begriff Bestimmtheit', dem bestimmten Sein (letzteres metatheoretisch: Dasein im Seinspotential). Man merkt Hegels Sprachnot, oder vielmehr logische Not. Wenn der thematische Begriff der Bestimmtheit gedeutet wird durch seine metatheoretische Charakteristik „in der Form des Seins", aber damit auch „in der Form d.i. Bestimmtheit des Seins", diese letztere als Bestimmtheit wiederum auf die negative Seite gehört, so liegt anscheinend eine Paradoxie vor. Es scheint, daß Seinspotential mit Nichtspotential einfach konfundiert wird; angesichts der gleichlautenden Bezeichnung ,Bestimmtheit' - für thematische Bestimmtheit und deren metatheoretisch motivierte Erklärung - scheint es dann [wiederum] möglich, überzuleiten zu negativer Bestimmtheit als neuem Thema.18 Der Übergang von „in der Form des Seins" zu „in der Form d.i. Bestimmtheit des Seins" ist aber doch zu billigen. So wie Sein nicht mehr reines Sein ist, gilt, daß alles, was im Seinspotential steht, nur ist, insofern es bestimmt ist. Die Doppeldeutigkeit von Bestimmtheit als thematische und als metatheoretisch erklärte Bestimmtheit besagt etwas genuin Dialektisches: das als Sein Gemeinte ist Sein nur als Bestimmtes. Diese Deutung macht es zwingend, die Bestimmtheit als Negatives, Bestimmunggebendes, aufzusuchen; oder: „das Nichts [...] wird sich gleichfalls an ihm [dem Dasein] hervortun, gegen jene [die einseitige Bestimmung des Seins]" (I, 96). Sonst könnte es eine bloß freibleibende Möglichkeit sein, nach dem Nichtspotential zu fragen. Hegels Gedanke enthält insofern das Prinzip für dialektische Fortbestimmung. Wir möchten von ,Bestimmtheitsdialektik' sprechen. Für diese ist es nötig, die Unterscheidung nach Seinspotential (Form des Seins) und Nichtspotential (Bestimmtheit des Seins) zu machen, das (relativ) Unmittelbare und Unbestimmte zunächst zu pointieren als unterschieden von Bestimmtheit. Dann aber ,erweist sich' - und dies ist Ziel der metatheoretischen Nötigung - das eine als das andere. Es wird realisiert, daß die ,Form des Seins' ,Form', [d.h.] Bestimmtheit des Seins' ist, ein Paar aufeinander reflektierender Bestimmungen. Das jetzt thematische Sein ist nur wahr erfaßt, wenn, metatheoretisch erzwungen, seine 18
Es ist zuzugestehen, daß wir uns auf einem so lapidaren Niveau befinden, daß die thematischen Bestimmungen vielfach Bestimmungen mit metatheoretischer Funktion sind (so wird im weiteren Verlauf .Negation' Thema). Die Analyse hat aber gezeigt, daß eine Konzeption wie [die von] Bestimmtheit in der Form des Seins, welche verwechselbar ist mit Bestimmtheit [als Negation] die Unterschiedenheit von thematisch und metatheoretisch bekundet.
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Die Grundlegung von Bestimmtheit: die qualitative Seinslogik
Bestimmtheit aufgesucht wird. Die nächste thematische Bestimmtheit (es ist die Qualität) kann erscheinen. Für Hegel artikuliert sich auf dem angegebenen Wege Bestimmtheit als thematisch-negative gegenüber einer Bestimmtheit als (metatheoretisch-thematisch verwechselbar) unmittelbare'. Als letztere aber, so meint er, ist das Betreffende „für uns in unserer Reflexion, noch nicht gesetzt an ihm selbst" (ebd.). Wird die Differenzierung, die unsere Reflexion macht, beiseite gestellt, so gibt es zunächst nur Dasein in eins mit Bestimmtheit oder unklar eins mit Bestimmtheit. „Um der Unmittelbarkeit willen, in der im Dasein Sein und Nichts eins sind, gehen sie nicht übereinander hinaus; so weit das Dasein seiend ist, so weit ist es Nichtsein, ist es bestimmt. Das Sein ist nicht das Allgemeine, die Bestimmtheit nicht das Besondere. Die Bestimmtheit hat sich noch nicht vom Sein abgelöst; zwar wird sie sich auch nicht mehr von ihm ablösen, denn das nunmehr zum Grunde liegende Wahre ist die Einheit des Nichtseins mit dem Sein; auf ihr als dem Grunde ergeben sich alle fernem Bestimmungen. Aber die Beziehung, in der hier die Bestimmtheit mit dem Sein steht, ist die unmittelbare Einheit beider, so daß noch keine Unterscheidung derselben gesetzt ist." (I, 97). Die Differenzierung kommt dann doch wieder in Gang, indem - unter dem Zwang der Fortbestimmung - die Bestimmtheit für sich zum Thema genommen wird: „Die Bestimmtheit so für sich isoliert, als seiende Bestimmtheit, ist die Qualität - ein ganz Einfaches, Unmittelbares" (I, 97 f.). Hieß es früher, die Bestimmtheit als solche sei gegeben mit dem „konkreten Ganzen in der Form des Seins" (I, 96), so wird die Potentialfrage jetzt iteriert, wird Bestimmtheit ihrerseits auf ihr Seinspotential hin befragt.19 Bestimmtheit als seiende Bestimmtheit (oder, vorsichtiger, mit dem Akzent, eine seiende zu sein) ist für Hegel [wie gesagt] „Qualität" (I, 97). Die jetzt gemeinte Bestimmtheit wird von der im früheren Sinne unterschieden: „Die Bestimmtheit überhaupt ist das Allgemeinere, das ebensosehr auch das Quantitative wie weiter Bestimmte[s] sein kann" (I, 98). Ist Qualität [aber] seiende Bestimmtheit, dann kann man, ja muß man fragen, was Bestimmtheit als nichtseiende (oder, vorsichtiger, mit dem entgegengesetzten Akzent) ist. So ergibt sich ein Gegenbegriff zur Qualität als positiv genommen: als positive heißt die Qualität Realität, als negative heißt sie Negation. Man versteht, daß Hegel für die Unterscheidun-
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Bestimmtheit ontologisch auf ihr Seinspotential zu befragen, bedeutet natürlich zugleich das Bestimmt-Unmittelbare (hier: Dasein) auf sein Bestimmtheits- oder Nichtspotential zu befragen. Anm. d. Hrsg.
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gen, welche Kant unter dem Titel,Qualität' macht - also für die Begriffe der 2. Kategoriengruppe - aufkommen möchte.20 Im Blick auf den Bestimmungsfortschritt der ganzen Abfolge Dasein, Bestimmtheit, Qualität, Realität und Negation bleiben gewisse Bedenken bestehen. Die Unterscheidung von vorqualitativer Bestimmtheit überhaupt und Qualität kann wohl nicht gut darin gelegen sein, daß beide durch die einseitige Bestimmung des Seins (durch [ihr] Seinspotential) ausgezeichnet sind;21 eine Differenzierung durch die Iteration der Frage nach dem Seinspotential anzubahnen, ohne daß dazwischen ein Oppositum zu einer Fortbestimmung geführt hätte, kann nicht angehen.22 Man versteht zwar die Schwierigkeit, in einer inexpliziten Sachlage eine Differenzierung einzuführen mit nur internen, abstrakten Unterscheidungen, ohne die »konkreten Seiten' von Anderen gegeneinander; [dennoch]: Bestimmtheit und Qualität sind nicht auf geeignete Weise unterschieden worden. Eine Heilung der Herleitung ist nicht abzusehen.23 Miterwogen wird Qualität im traditionellen Sinn von ^Eigenschaft'. Hierzu meint Hegel, Qualität sei „erst in der Rücksicht vornehmlich Eigenschaft, als sie in einer äußerlichen Beziehung sich als immanente Bestimmung zeigt" (I, 101). Die Eigenschaft scheint schon auf entwikkeltere, konkretere Verhältnisse zu verweisen, meint ein Sich-Erhalten „in der Beziehung auf andere" (wir lesen: andere Etwas), durch die sich das eine Etwas mit seinen eigenen Bestimmungen geltend macht, praktisch also schon ein Proprium hat: eine Struktur, die in die Sphäre des Wesens gehört - als Ding und Eigenschaft, Substanz und inhärierende Be20
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Vgl. die Bemerkung Hegels, daß Kant Qualität nur als Titel für die darunter fallenden Kategorien aufführe, während er - so ergänzen wir - Qualität als Thema hat (1,64). [Zu Kant: vgl. KrV §§ 10 ff., bes. B, S. 106.] Von dieser Bestimmtheit überhaupt spricht Hegel offenbar, wenn er die „Negation als solche" als „formlose Abstraktion" bezeichnet (I, 100). Anm. d. Hrsg. Um Hartmanns Kritik etwas auszuführen: Dasein und seine (seiende) Bestimmtheit .Qualität' müßten gemäß der Hegeischen Methode zunächst aufgehoben werden zu einem neuen Bestimmt-Unmittelbaren, welches dann wiederum auf sein (seiendes) Nichtspotential zu befragen wäre. Stattdessen befragt Hegel die Bestimmtheit .Qualität' auf deren Seins- bzw. Nichtspotential. Vgl. auch die folgende Anmerkung Hartmanns. Anm. d. Hrsg. Man kann Hegels Herleitung lesen als den Versuch, das Vorangehen der Substanz im Verhältnis zur Qualität (als Akzidenzkategorie) nicht in Anspruch zu nehmen und einen Begriff von bestimmtem Sein zugrundezulegen, der sich einerseits als konkretes Ganzes, andererseits als Qualität zeigt (nicht an einem Ganzen, sondern als solche). Qualität erscheint so als Iterierung der Potentialfrage: was ist das Sein des bestimmten Seins, welchen Vorschlag könnte man machen? Qualität als Dasein setzen? - Qualität als Negation des Daseins? Ersteres ist problematisch, wenn aus Dasein doch Etwas entwickelt werden soll [und zwar gerade durch die Qualität des Daseins]; letzteres ist problematisch, da dann Negation als Oppositum von Realität nicht entwickelbar scheint.
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Stimmung (ebd.). Die „mehr ruhenden Bestimmtheiten" wie „Figur, Gestalt" nenne man „nicht wohl Eigenschaften", auch nicht solche „Qualitäten, insofern sie als veränderlich, mit dem Sein nicht identisch vorgestellt werden" (ebd.). - Qualität in einem auf Substanz bezogenen, aristotelischen Sinne wird also in der [Seins-]Logik allenfalls erwähnungsweise als ,Qualität' behandelt. Der Hegeische Begriff von Qualität ist gleichsam ,verfrüht£ oder repristiniert, ein Begriff zur Thematisierung von Metatheoretischem, so daß er nicht dem Begriff in seinem traditionellen Verständnis gleichzusetzen ist. Hegels Interesse ist [wie gesagt] metatheoretisch bedingt: er will in einer Bestimmtheitstheorie Negation nunmehr etablieren als die geforderte Erklärung von Bestimmtheit, welche, hier noch „formlose Abstraktion", künftig an thematischer Bestimmtheit gewinnt. Hegel bezieht sich dabei auch auf Spinozas Satz: „Omnis determinatio est negatio" (l, 100).24 Bedenkt man, daß Bestimmtheit überhaupt noch über oder vor der Unterscheidung in Qualität, Quantität usw. im traditionellen Sinne steht, so ist zu fragen, worin denn das Qualitative der Bestimmungen bis hierher liegt. Deutlich ist, daß es sich um die einfachsten Bestimmungen des Seins und damit um die Prinzipiensphäre für alle Seinsbereiche handelt und daß qualitatives Sein gerade diese Einfachheit oder Prinzipialität meint.
5. Etwas Die Entfaltung von Akzenten oder Momenten des Daseins wird wieder für aufgehoben erklärt: „So sehr nun diese Unterschiede an dem Dasein vorhanden sind, so sehr sind sie auch nichtig und aufgehoben" (I, 102). Die Aufhebung bedient sich dabei der von Hegel wie folgt ausgemachten Identität: „Die Realität enthält selbst die Negation, ist Dasein, nicht unbestimmtes, abstraktes Sein. Ebenso ist die Negation Dasein, nicht das abstraktseinsollende Nichts, sondern hier gesetzt wie es an sich ist, als seiend, dem Dasein angehörig. So ist die Qualität überhaupt nicht vom Dasein getrennt, welches nur bestimmtes, qualitatives Sein ist. Dieses Aufheben der Unterscheidung ist mehr als ein bloßes Zurücknehmen und äußeres Wieder-Weglassen derselben" (ebd.). Vorhanden ist „das Dasein überhaupt, Unterschied an ihm, und das Aufheben dieses 24
Ein Satz, der eine Stütze hat in Spinozas 50. Brief vom 2. Juni 1674 [Spinoza, Briefwechsel, übers, von C. Gebhardt, Leipzig 1914]. Vgl. auch das Nachwort Bernhard Lakebrinks zur zweisprachigen Ausgabe von Spinozas „Ethik", Stuttgart 1977, S. 743, Anm.
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Unterschiedes; [...] die Einfachheit des Daseins vermittelt durch dieses Aufheben. Dies Aufgehobensein des Unterschieds ist die eigene Bestimmtheit des Daseins; so ist es Insichsein; das Dasein ist Daseiendes, Etwas" (ebd.). Hegel sagt von ihm: „Das Etwas ist die erste Negation der Negation" (ebd.). Mit dem letzteren Schritt ist etwas Entscheidendes vorbereitet: die Erreichung von Bestimmtem. Hegel reflektiert auf die Tragweite dieses Schrittes. Es scheint ja aus einem zum Seienden ontologisch-differenten Seinsbegriff etwas entwickelt, das nunmehr Eines in Beziehung auf ein Weiteres oder Anderes ist. Läßt sich dies aus dem inneren Unterschied des Daseins entwickeln? Hegel schreibt: „Diese Vermittlung mit sich, die Etwas an sich ist, hat, nur als Negation der Negation genommen, keine konkrete[n] Bestimmungen zu ihren Seiten; so fällt sie in die einfache Einheit zusammen, welche Sein ist" (I, 103). Dies soll nicht sein; Hegel fährt also, ohne unterstützenden Gedanken, fort: „Etwas ist und ist denn auch Daseiendes; es ist an sich ferner auch Werden, das aber nicht mehr nur Sein und Nichts zu seinen Momenten hat. Das eine derselben, das Sein, ist nun Dasein und weiter Daseiendes. Das zweite ist ebenso ein Daseiendes, aber als Negatives des Etwas bestimmt, - ein Anderes, Das Etwas als Werden ist ein Übergehen, dessen Momente selbst Etwas sind, und das darum Veränderung ist; - ein bereits konkret gewordenes Werden" (ebd.). Der Übergang von internen Momenten des Daseins zu deren Aufhebung in das Novum .Daseiendes gegenüber anderem Daseienden' - oder die Vermittlung der ontologischen Differenz - bietet Schwierigkeiten. Man muß wohl so rationalisieren: wenn sich im Dasein Momente oder Seiten haben artikulieren lassen (Realität und Negation), dann erscheint ein solches Dasein als Insichsein, als in sich Geschlossenes, das zugleich in sich Bestimmtes ist, worin Seinspotential und negatives Potential bekräftigt und als eine Einheit ausmachend gedacht sind. Die Argumentation ist nun folgende. (1) Fragt man: ,Was ist das Etwas, um [ein Etwas] zu sein, nicht?', so erhält es einen ,Außenhorizont', der negiert wird. (2) Sein ist als bestimmtes Sein aber seinerseits eine Bestimmtheit. (In das Dasein ist Bestimmtheit als negative einzubeziehen - alles hängt hier an der Haltbarkeit der Stelle I, 96 [siehe oben S. 51 f.].) (3) Dann gilt: negatives und konstitutives Verständnis des Außenhorizonts gehen zusammen; Etwas verdankt seine Bestimmtheit - was es ist - einem ändern Etwas. Man kann nicht nur nach dem Nichtspotential fragen; man ist genötigt es zu tun. Zwischen den Potentialen Etwas und Außenhorizont bewegen sich dann die Negation und die Negation der Negation als Momente eines gegebenenfalls regelmäßigen Bestimmtheitsfortschritts; die „erste Negation der Negation" dagegen, welche Hegel für die Beziehung zwischen nicht-
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konkreten Seiten oder internen Akzenten des Daseins, geltend gemacht hatte, ist gegenüber der künftigen noch eine ,unregelmäßige', und zwar in anderer Weise als beim Werden. (Von ,unregelmäßig' ist allerdings nur zu sprechen, wenn wir den verbleibenden Teil der qualitativen Seinslogik als einheitlichen Theoriebereich ansetzen, dessen Verfahren sich dann kriteriell als ,regelmäßig' von seinen Vorstufen unterscheiden läßt.25) 6. Etwas und ein Anderes Das Bestimmte, das Etwas oder Daseiende, war als erstes Bestimmtes in sich bestimmt, war Einheit von Realität und Negation. Hatte die „Vermittlung [des Etwas] mit sich [...] keine konkrete[n] Bestimmungen zu ihren Seiten" (I, 103), so ergeben sich diese, wenn die Frage nach der Bestimmtheit des Etwas erneut erhoben wird: Was ist das Nichtspotential des Etwas als im Seinspotential genommen? Es ist ein Anderes. Wenn das Bestimmtheitsargument (vgl. I, 96) anerkannt wird, so kann sich das [zunächst] metatheoretisch artikulierte Sein, welches jetzt thematisch als Etwas erscheint, nicht gegen Fortbestimmung wehren; ein Bestimmtes ist jetzt ein solches auf Grund seines Außenhorizonts der zugehörigen Bestimmtheitsstufe (hier eben eines anderen Etwas). Daraus entsteht, daß die Bestimmtheitstheorie in ihrer jeweiligen Differenzstufe entgegengesetzte Seiende betrachtet, die dem Begriff nach verschieden und identisch sind, somit eine duale Sachlage ergeben (Seiende, nach Seins- und Nichtspotential genommen). - Man kann der Meinung sein, das Oppositionsstadium sei verstandesmäßig aufgestellt, und erst der dritte Schritt spekulativ-dialektisch. Es scheint dies aber nicht durchgängig nötig (vgl. unten das ,Schlecht-Unendliche'). Festzuhalten bleibt, daß mit dem dualen Vorkommen von Seiendem nicht eigentliche 25
Ein Bedenken gegen die geäußerte Meinung, vom Etwas ab läge eine regelmäßige' Dialektik vor, die die Ausbildung von Kriterien ermöglicht, könnte sich ergeben aus Hegels Disposition nach den Teilen: ,Sein' (einschließlich .Werden'), .Differenz' (.Dasein', .Etwas', .Endliches') und letztlich .Schließung' (.affirmativ Unendliches', ,Fürsichsein'). Betrifft demnach die regelmäßige qualitativ-seinslogische Dialektik nicht bloß die Differenzstufe, während Schließung wieder etwas anderes wäre? - Andererseits ist die herangezogene Konzeption als regelmäßige typisch für Beziehungen zwischen Seiendem und Seiendem, die aus ihrer ursprünglichen Disparatheit erst in den Zusammenhang übergeführt [d.h. fortbestimmt] werden. (Die Überlegungen müssen gegebenenfalls noch einmal revidiert werden unter Hinzunahme des seinslogischen Bereichs der Quantität.) Die mokante Kennzeichnung der Dialektik durch Schelling als „Flachsspinnmaschine" ist übrigens ein Hinweis darauf, daß dieser eine ermüdende Regelmäßigkeit der Dialektik empfunden hat (ohne Beschränkung auf die Seinslogik).
Etwas und ein Anderes
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Pluralität gewonnen ist, wie sie in einer Realphilosophie Thema wäre. Auch das Individuum soll noch nicht erschlossen sein, fällt es doch in die Begriffslogik. Hegels Heranziehung eines ,Noch-Einenc, eines Zweiten zum Einen hat mitunter Ungläubigkeit hervorgerufen (so bei W. Becker).26 Die einfache Überlegung kann hier helfen, daß das Zweite dasjenige im Nichtpotential ausmacht, was im Seinspotential steht. Es liegt also eine Identitätsthese vor, nach der das zugehörige Bestimmunggebende ist - auf daß das bestimmte Sein sei, was es ist. Im Fall des Etwas ist dies [Bestimmungsgebende] das auf der anderen Seite Stehende, ein anderes Etwas.27 (Der Versuch, hier weiter einzudringen, wird noch gemacht werden.) Das in den geschilderten Schritten erreichte Ergebnis läßt sich metatheoretisch daraufhin betrachten, wie es hinsichtlich der Vorstufen zu stehen kommt, was auf Grund dieser Vorstufen dargetan oder, in Hegels Sprache, gesetzt' ist. Hegel hatte bei der Deutung der metatheoretischen Form oder Bestimmtheit des Seins gemeint: „Die noch nicht an ihm selbst gesetzte Bestimmtheit aber gehört unserer Reflexion [...] Daß das Ganze, die Einheit des Seins und des Nichts, in der einseitigen Bestimmtheit des Seins sei, ist eine äußerliche Reflexion; in der Negation aber, im Etwas und Ändern usf. wird sie dazu kommen, als gesetzte zu sein" (I, 97 f.). In unserem Zusammenhang ist nun, wie die Stelle sagt, die einseitige Bestimmtheit des Seins in der Negation, im Etwas und Anderem, gesetzt. Die Weiterentwicklung ist Dartuung einer Antizipation; es ist jetzt gesetzt oder dargetan, daß Etwas Sein in der Weise ist, daß dessen Bestimmtheit, ohne die es nicht Sein wäre, auf eine Negation verweist. - Im Seinspotential zu stehen, aber Bestimmtheit negativ in sich beschlossen zu haben: dies erscheint als die entscheidende Struktur des Seinslogischen. Als vorläufige allgemeine Charakteristik kann gelten: Gesetztsein der zur Bestimmung eines Inhalts dienenden metatheoretischen Sachlage liegt immer einen Schritt später vor, als consequens von etwas Impliziten, das unsere Reflexion schon weiß. - Oder: Gesetztsein liegt vor in der Explizitmachung eines vorher Unmittelbaren, auf Seins- und Nichtspotential zu Befragenden, hin zu einem neuen Fazit im Seinspotential. Die Konzeption wird zur Diagnose einander benachbarter Stadien der Dialektik stets die gleiche sein. Verkürzt, ohne Nennung des metatheoreti26
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Vgl. W. Becker, Hegels Begriff der Dialektik und das Prinzip des Idealismus, Stuttgart 1969, S. 59. Anm. d. Hrsg. Wie schon bemerkt, bejaht Hegel, daß es sich bei .Etwas' und .Anderes' um Momente handelt. Er schreibt, das Etwas als Werden sei ein Übergehen, „dessen Momente, selbst Etwas sind" (1,103). Diese Momente werden freilich .intern', wenn die neue Einheit auf der Seinsseite Thema ist.
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sehen Sachverhalts, hieße das: »Dasein als gesetzt' = ,Etwas', ,Etwas als gesetzt' = ,Endliches* usw. (Wir lassen die entsprechende Erstreckung von ,an sich' zu ,für sich' noch unkommentiert.) Zu den metatheoretischen Charakterisierungen ist schließlich die Konzeption der ^Außjebung1 hinzuzunehmen (I, 93 ff.). Hegel meint damit „aufbewahren, erhalten" und „ein Ende machen" (I, 94). Er sagt: „Das Aufbewahren selbst schließt schon das Negative in sich, daß etwas seiner Unmittelbarkeit und damit einem den äußerlichen Einwirkungen offenen Dasein entnommen wird, um es zu erhalten. - So ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht vernichtet ist" (ebd.). Bei Gelegenheit eines frühen Falles eingeführt, dem des Werdens, ist diese Konzeption doch eine, welche die frühen ,unregelmäßigen' und die kommenden, gegebenenfalls Regelmäßigen' Fälle gleichermaßen abdeckt. ..Aufheben' kennzeichnet das Verhältnis eines Fortbestimmungsschrittes zu seinen Antezedentien als das einer bedingten Kontinuität. Zur Konzeption von Aufhebung gehört auch der Begriff des Moments, von dem Hegel Gebrauch macht (vgl. I, 79, 92), bevor er ihn unter den Titeln das ,Aufgehobene' oder Jdelle' näher bestimmt (vgl. I, 93 ff.). Im Zusammenhang mit , Werden' spricht Hegel von Sein und Nichts als den Momenten einer Einheit, welche ein Drittes gegen diese sei [vgl. I, 79]. Die Momente haben [danach] ihr „Bestehen" in der Einheit, was ihren Unterschied aufhebt (I, 78), sie sind von der Einheit „untrennbar" (I, 79). ,Momente' sind also das in einer Einheit Enthaltene, aber nicht als deren Bestandteile, sondern als das, worauf bezogen das Dritte, die Einheit erst ist, was sie ist. Sein und Nichts sind Momente des Werdens (vgl. I, 79,95), sind als Entstehen und Vergehen erneut Momente des Werdens (I, 95) und, mit wiederum anderer Bestimmtheit, Momente des Daseins (ebd). Die [letzteren] beiden Stellen zeigen eine Komplikation: Momente sind einmal Antezedentien eines Novums, die in diese Einheit eingegangen sind (Sein und Nichts als Momente des Werdens), und dann auch entwickelte Unterschiede des Novums (Entstehen und Vergehen beim Werden), verstanden als Antezedentien eines neuen Novums (des Daseins). Das Dasein schließlich hat „wieder anders bestimmte Momente" (Etwas und ein Anderes) als entwickelte Unterschiede (ebd.). Die Hegelsche Verwendung von ,Momenten' steht also zwischen den Antezedentien eines Novums einerseits, und anderseits den consequentia als Antezedentien eines neuen Novums.28 Dabei leben im consequens die Momente des antecedens in veränderter (aufgehobener) Form wieder auf. 28
.Consequentia' als Bestimmtheitsmomeme des erstgenannten Novums. Anm. d. Hrsg.
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Sehen wir von dieser durch die lineare Abfolge gegebenen Komplikation ab - einem gleichsam rückwärts- und einem vorwärtsgewandten Momentbegriff -, so dient .Moment* zur Artikulation einer Einheit, die Drittes ist gegenüber den nach Seins- und Nichtspotential disponierten Unterschieden. - Es findet sich aber auch, explizit unter dem Motto des .Ideellen', der Gedanke einer Zweierrelation, wonach ein Eines nur in bezug auf sein im Nichtspotential Bestimmendes ist, was es ist. Dies ist zwar wieder Vorartikulation eines nächsten Schrittes, einer Dreierrelation mit aufhebendem Novum. Zunächst indes können wir ja beim Etwas innehalten. - Erst die weitere Entwicklung wird Anlaß haben, Etwas und sein Anderes als zwei Momente oder entwickelte Unterschiede zu fassen, die Antezedentien einer neuen Einheit sind.29 Zu fragen ist, ob das mit .Aufhebung' und .Moment' Gemeinte thematisch oder metatheoretisch zu lesen ist. .Thematisch' würde bedeuten, daß consequentia30 inhaltlich etwas [von den vorangegangenen] beibehalten haben (etwa wenn die Veränderung des Etwas im Begriff als „konkret gewordenes Werden" aufgefaßt wird (I, 103); .metatheoretisch' würde besagen, daß - auf welcher Bestimmtheitshöhe der zu vermittelnden Relate auch immer - das consequens aufgefaßt werden kann als Einigung von Seins- und Nichtspotential. Im letzteren Fall braucht im Novum kein thematischer Inhalt aufbewahrt zu werden. Daß eine Unterscheidung der beiden Verständnisweisen erforderlich ist, zeigt sich am deutlichsten bei gewissen Übergängen zwischen den Sphären Sein, Wesen, Begriff oder auch zwischen Subsphären wie Qualität und Quantität im Unterschied zu innersphärischen Fortbestimmungen. Die Frage wird an späterer Stelle weiter geklärt werden müssen; im Vorstehenden hat sich ein metatheoretisches Verständnis von Aufhebung ergeben, was angesichts der Abstraktheit der Fälle noch nicht als signifikant different von einem thematischen Verständnis erscheint. Wir sind gleichsam in der Prinzipiensphäre, wo sich ,metatheoretisch' und .thematisch' zwar unterscheiden lassen, aber gerade gezeigt werden soll, wie Thematisches metatheoretische Funktion erlangt oder Metatheoretisches Thema wird.
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Vgl. spätere Stellen zu .Moment': Momente, die „selbst Etwas sind" (I, 103); .Etwas und Anderes' als Momente des Daseins (1,104,106 f., 110,113); Schranke und Sollen als Momente (I, 119); die beiden Momente des Unendlichen (I, 138), Idealität beider (I, 141 f.). - Nicht zutreffend wäre die Auffassung, der spezielle Sinn von .Moment' sei .innerer (interner) Unterschied' gegenüber .äußerem', so daß etwa ,Sein-fur-Anderes' Moment wäre, .Anderes' aber nicht. D.h.: als nachfolgende Kategorien. Anm. d. Hrsg.
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7. Zur Deutung des Seins in der qualitativen Seinslogik (1) Wir halten hier mit der Kommentierung inne, um die Zäsur zu markieren, wo Bestimmtes erreicht ist. Der Bestimmungsfortschritt ist in diesem Bereich - von .Sein' ausgehend, über .Werden', ,Dasein', .Etwas* - jeweils einer, der die immanente Differenzierung nach Seins- und Nichtspotential aufweist und zwar auf nicht-kriteriell beurteilbare, vielmehr in jedem Fall eigentümlich geartete Weise. Beim Werden war es eine Symmetrie der Bewegungen von Sein zum (identischen) Nichts und umgekehrt; dann war es die Symmetrie des Verschwundenseins im Entgegengesetzten, die zum Dasein führte. Schließlich wurde ein interner Gegensatz von Realität und Negation aufgezeigt, der im Insichsein oder Etwas terminierte, das nun einen konkreten Außenhorizont hat. Von Dasein ab, in der Anbahnung des Etwas aus Realität und Negation, zeigte sich die Ausbildung eines Schwerpunkts beim Sein - bei der „einseitigen Bestimmtheit des Seins" - oder eine ,Prävalenz des Positiven' (I, 97). Waren zunächst Sein und Nichts sowie Entstehen und Vergehen31 angesichts der besagten Symmetrie32 gleichsam nur .lexikalisch' so geordnet, daß beim Sein angefangen wurde (wie wir es allerdings auch erwarten, wenn Ontologie getrieben werden soll, die sich wohl mit dem Sein zu beschäftigen hat), so ist vom Dasein ab das Seinspotential jetzt die ,Orthostellung' jeder Figur - „das Ganze, die Einheit des Seins und des Nichts" (ebd.). Sein als metatheoretisches Positum ist jetzt Ausgangspunkt für die Stellung der .Bestimmtheitsfrage': hat bestimmtes Sein „in der Form [...] des Seins" nicht Bestimmtheit als Negatives an ihm (I, 96)?
8. Denkmittel Die für den Bestimmungsfortschritt gewählten Denkmittel sind Sein und Negation. (In den ersten Stadien waren es Sein und Nichts. Der Unterschied liegt darin, daß fortschreitend eine Bezogenheit des Nichts auf das Sein, oder seine .Einbildung in das Sein', gedacht wird, womit Negation - eingeführt als Gegenstück zu Realität - als das passende Denkmittel erscheint). Ein thematischer Begriff steht im Zeichen (im Potential, in der Form) des Seins, des Unmittelbaren, gerät aber unter Besinnung dar31
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Bei Entstehen und Vergehen findet sich auch einmal die umgekehrte Reihenfolge der Behandlung: „Die eine [Richtung] ist Vergehen [...]. Dies Entstehen ist die andere, Richtung" (I, 93). Erwähnt sei nochmals unser Einwand hinsichtlich der Konversion von Nichts zu Sein.
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auf, was Bestimmtheit des Seins heißt, in eine Negationsbeziehung zu seinem Oppositum, das er nicht ist, durch das er aber bestimmt ist, so daß das Sein als Bestimmtes Inklusion des Oppositums verlangt und so zur Anrufung eines dergestalt motivierten Novums führt. Das Sich-weiterVerweisen-Lassen eröffnet im weiteren Verfolg eine Dialektik des Seins in gleichsam regelmäßiger, qualitativ-seinslogischer Form. Die Deutung der Weiterverweisung als einer Vermeidung des Widerspruchs (wie sie für die Dialektik allgemein angenommen werden kann) hätte hier ihr ursprüngliches Beispiel: es handelt sich um den Widerspruch von Ansichsein (Nichtinklusion) und Bestimmtheit (Inklusion des bestimmunggebenden Oppositums). (Die thematische Abhandlung des Widerspruchs erfolgt bei Hegel später, in der Wesenslogik; dessen Deutung wird aber metatheoretisch mitbedingt sein durch die ursprüngliche seinslogische Fassung.)
9. Kategorialität Die Denkmittel des Bestimmungsfortschritts, Sein und Negation, bedeuten nun - dies ist ein weiterer Punkt -, daß die so rekonstruierten Inhalte Kategorien sind. Es ist klar: unter der Ägide des spekulativen Standpunkts können Sein und Seiendes nicht als Fremdes auftreten (so daß zu fragen wäre, wie kann ein Begriff kategorial sein, d.h. vom Seienden zutreffen?). Die Kategorien ,begreifen' Seiendes (auf verschiedener Bestimmtheitshöhe). Das ,Sein' als der Ausgangspunkt und die jeweils erneute Unmittelbarkeit in der Rekonstruktion der Kategorien bedeutet, daß begrifflich dem Anspruch einer Bestimmtheit, Seinsbestimmtheit zu sein, Rechnung getragen ist.33 Kategorialität von Begriffen kann nur so nachgewiesen werden: daß eine Rekonstruktion vorgeführt wird mit 33
Daß das Sein die Rolle spielt, Kategorialität sicherzustellen, wird spätestens dann zu einer signifikanten Position, wenn man Hegels Dialektik mit einer abweichenden Deutung vergleicht, und zwar der durch Hans Wagner. Danach erscheint Dialektik als Weiterverweisung von diversen Anbegriffen zum Begriff einer Gattung und von deren Diversität zur nächst höheren Gattung, bis hin zu einer übergegensätzlichen, die ,das Absolute' heißt. In dieser Deutung ist Kategorialität nicht durch die Rekonstruktion mittels Sein und Negation sichergestellt. Wagner teilt entsprechend nicht Hegels spekulative Reduktion, sondern er denkt Kategorien als metagrammatische Prädikate von Urteilen. Die Kategorialität gewisser Begriffe ist dabei gestützt durch eine Bestimmtheitstheorie, die Entfaltung des Absoluten zum .absoluten Prädikat' und dessen Ingredienzien sowie durch die Einräumung einer Eigenprinzipiiertheit des Seienden als des Referenten unserer Bestimmungsbemühungen. Vgl. Hans Wagner, Philosophie und Reflexion, §§ 15 ff.
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Die Grundlegung von Bestimmtheit: die qualitative Seinslogik
schon immanent gemachtem, zum Begriff gewordenen Sein - und dazu der Negation als Denkmittel von Bestimmtheit.34 Als Frage bleibt natürlich, ob die Ansetzung eines Bestands von zu rekonstruierenden Kategorien zwingend, ob also die Disposition des Materials eindeutig durch die Rekonstruktion gedeckt ist. Das wirft die [weitere] Frage auf, ob die Antezedentien in progressiver Manier die jeweils nachfolgenden Kategorien bestimmen, oder ob nicht vielmehr ein bestimmter Bestand regressiv rekonstruiert wird, wobei Erwägungen sowohl hinsichtlich des Bestandes wie der weiteren Denkmittel wie der Architektonik es immerhin erlauben mögen, Bestand und Rekonstruktion wechselweise als stimmig aufzufassen. (Wer es dann anders will, möge einen Gegenvorschlag machen.) 10. Typisch Qualitativ-Seinslogisches Die hier in Teilen entwickelte Bestimmtheitsdialektik, welche zur Fortbestimmung durch ein zunächst nur negiertes, dann bestimmungsgebendes (anfangs internes, dann externes) Oppositum führt, enthält eine maßgebliche Deutung des qualitativen Seins. Sein ist solcher Art, daß es Bestimmtheit zwar nicht aus sich konstituiert, aber sich andererseits nicht gegen unsere Reflexion, die seine Form als Bestimmtheit denkt, ,wehren kann'. Es weist zunehmend die Bestimmtheiten auf, die wir ihm zudenken, wenn wir es denken, anfangend von der freibleibenden Möglichkeit und Beliebigkeit, es mit Nichts gleichzusetzen, über die immer noch freibleibende Möglichkeit, die beiden Richtungen des Werdens zu einem Begriff , Werden' zusammenzufassen, bis hin zur Implikation von Entgegengesetztem. Mit dem Auftreten des Etwas ist die Bestimmtheit des Seins eine von diesem (auf der jeweiligen Stufe) implizierte, nicht mehr nur eine von unserer Reflexion angesonnene; das Sein erweist sich mit fortschreitender Bestimmung zunehmend als an ihm selbst bestimmt, so sehr andererseits gilt, daß es als ,Sein' gegen die Fortbestimmung gleichgültig bleibt. 34
Dabei wird angesetzt, daß der Bestimmungsfortschritt nicht in dem weiteren, auf die Herausbildung der Differenz [oder Negationsbeziehung] folgenden Schritt schon terminiert; dieses wäre der Fall der Schließung, des Einbezogenseins des Oppositums, ohne daß unter Rückfrage nach der Bestimmtheit des neuen Begriffs auch ein neues Oppositum entstünde. Dieser Fall liegt über die Seinslogik hinaus. Die Disposition der zu behandelnden Begriffe wird vielmehr eine sein, die die Erstreckung durch mehrere Titel erforderlich macht oder gestattet, entsprechend dem in Anspruch genommenen Kategorienbestand.
Typisch Qualitativ-Seinslogisches
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Der Gedanke Hegels ist also differenzierter als die bloße These, Sein garantiere Kategorialität, und diese lasse sich entwickeln; er denkt an Imputation von außen und zugleich zunehmende .Einbildung' in das Sein. Wenn nun Hegel wie geschildert vorgeht, wenn er also Sein und Nichts als bestimmtheitstheoretisch identisch auffaßt, Dasein durch Negation (eine Bestimmtheit im Nichtspotential), Etwas durch Anderes oder ein Anderes bestimmt sein läßt - meint er dann eine Aussage über Begriffe oder über Referenten? Im Stück zu Sein und Nichts scheint es sich um Begriffe zu handeln, wenn auch referentiell gemeint wird, daß Nichts einen Unterschied für Anschauen und Denken mache; irgendwie liegt also ein Wechselspiel von Begriff und Referent vor. Deutlicher ist das Problem bei Dasein und Bestimmtheit: ist das Nichtspotential des Daseins, welches für Bestimmtheit aufkommen soll, Prädikat eines Referenten oder Qualifizierung eines Begriffs? Die inhaltlichen Füllungen (Bestimmung, Bestimmtheit, Beschaffenheit) lassen denken, es handle sich um Referentielles (Bestände ,am' Dasein), aber wäre nicht auch eine prädikative35 Deutung möglich? Weiter: nehmen wir Daseiendes und ein (!) anderes [Daseiendes] oder Etwas und ein Anderes (vgl. I, 104). Hier ist offenkundig ein referentielles Verständnis leitend. Aber das Andere als Referent geht ein in die dialektische Einheit der Identität von Gegensätzlichen im Endlichen, ist also begrifflich vermittelt. Wie ist das zu verstehen? Ließe sich ,Etwas und ein Anderes' doch als Begriffsopposition verstehen (im Sinne von ,a und non-a')? Zu unterscheiden wären drei Fälle: der limitative Gegensatz, der einem Begriff ,ac Bestimmtheit geben soll durch die Ausschließung seines Gegenteils ,non-a'; die Idee, daß - wenn das Oppositum Bestimmtheit des ,a' sein soll - dieses Oppositum Prädikat des Begriffs ,a* ist; und schließlich, daß das Oppositum identisch sei mit dem Begriff ,a', damit aber ein begriffliches Novum stiftet.36 - Das Problem knüpft sich also an die Terme referentielles' oder begriffliches Verständnis des Gemeinten sowie an prädikatives oder identitäres Verständnis der Beziehung zwischen Ausgangsbegriff (oder Positum) und bestimmendem Oppositum. Es ist kaum anzunehmen, daß Hegel die mit dem Gesagten aufgeworfenen Probleme einfach verborgen geblieben sind. Bevor man also eine 35
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Vielleicht sollte es hier besser „begriffliche Deutung" heißen. Vgl. die folgende Anmerkung. Anm. d. Hrsg. Man kann anmerken, daß der Unterschied zwischen den beiden erstgenannten Deutungen nicht leicht auszumachen ist, das zweite vielmehr als Konsequenz des ersten erscheint. Anm. d. Hrsg.
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Die Grundlegung von Bestimmtheit: die qualitative Seinslogik
Unvereinbarkeit von Disparatem geltend macht - etwa daß zwischen entgegengesetzten Referenten keine begriffliche Vermittlung mit dem Ergebnis eines kategorialen Novums stattfinden kann, oder daß die prädikative Beziehung eines Begriffs auf einen Referenten nicht dasselbe ist wie die identitäre Beziehung zwischen Begriffen, von denen der eine die Bestimmtheit des anderen ausmachen soll -, bevor man also solches geltend macht, ist zu fragen, ob nicht die Vereinbarkeit des anscheinend Disparaten gerade Hegels Pointe ist. Machen wir den Versuch, dafür zu optieren. Dann müßte oder könnte Hegel gemeint haben, daß in der qualitativen Seinslogik eine referentielle Differenz (Sein und Nichts, Dasein und Bestimmtheit, Etwas und ein Anderes) zu einem begrifflich vermittelten neuen Referenten überzugehen gestatte. Die typisch qualitativ-seinslogische Disparatheit von Seinsund Nichtspotential - daß diese referentiell auseinandertreten als Sein und Nichts, Dasein und Bestimmtheit, Etwas und ein Anderes - wäre Erklärung des betreffenden Novums. Die Vermittlung von Referent und Begriff bedeutete - auf der Ebene des qualitativen Seins - genau dies: daß die bloße referentielle Dualität von Seinspositum und Bestimmendem sich im Begriff des jeweiligen Novums und seinem neuen Referenten niederschlägt. Gerade der in der gängigen Auffassung von Referent und Begriff gelegene Hiatus soll als überwindbar gedacht werden. - In bestimmteren Bereichen wird die bloße referentielle Dualität nicht zur Bestimmung reichen. In der qualitativen Seinslogik dagegen liegt solchermaßen Bestimmtes noch nicht vor. Vielmehr muß angesetzt werden, daß die referentielle Disparatheit von Seinspositum und Bestimmtheit als solche die begriffliche und referentielle Einheit allererst ermöglicht. Auf der Ebene des qualitativen Seins gäbe es keinen [Sinn], nur mit Begriffsverhältnissen von ,a' und ,non-a' zu operieren; was ,non-a' sein soll, wäre nicht dargetan. Umgekehrt ist die referentielle Differenz der qualitativen Seinslogik ihrerseits eine These über die Genesis des Begriffs (eines ersten, zweiten, dritten Novums usw.). Das für Bestimmtheit aufkommende Andere ist einfach ,Noch-Eines', mit dem angesichts der Gleichgültigkeit des Seins gerechnet werden muß - das sich nicht gegen Bestimmung wehren kann und deshalb qualitativ Bestimmungsfaktor wird. Nun wissen wir, Hegel philosophiert vom spekulativen Standpunkt aus, und man könnte meinen, durch diesen Standpunkt sei schon die Verwechselbarkeit von Sache und Begriff gestattet. Nur ist ja dennoch dafür aufzukommen, daß eine Dualität von Selbem - z.B. Etwas und Noch-einEtwas - ein begriffliches Verständnis als der gegeneinander Anderen ermöglicht. Das referentielle Verständnis, das der Gleichgültigkeit des Seins gegen ein ,Noch-Eines' entspricht, stiftet gleichsam das qualitativ Be-
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griffliche.37 In der qualitativen Seinslogik muß Hegel also trotz grundsätzlicher Einnahme des spekulativen Standpunkts diesen allererst entwickeln, und tut es, wenn unsere Interpretation zutrifft, auf die vorgeschlagene Weise: die qualitative Seinslogik wäre der Ort, wo etwas für diesen Seinsbereich Typisches - daß es Eines und Noch-Eines ,gibtc - die Stiftung von Bestimmtheit ermöglicht. Hinzuzunehmen ist die Anbahnung von Bestimmtheit durch eine am Sein ansetzende Genealogie, die dem ,Einen' und ,Noch-Einenc vorausliegt. In dieser Genealogie finden sich andere Oppositionsverhältnisse - das Unmittelbare von Sein und Nichts, das Bezügliche von Sein und Nichts im Werden und eine Immanenz von Bestimmtheit im Dasein - Stadien, die Seiendem vorausliegen, als jUnregelmäßige' Fälle der Gleichgültigkeit des Seins gegen die Aufnahme von Bestimmtheit (was eine nähere Aufklärung, wie oben versucht, nicht ausschließt). Die in der qualitativen Seinslogik entfaltete Bestimmtheitstheorie mit referentieller Dualität und begrifflicher Vermittlung erscheint, schon auf Grund ihrer Anfangsstellung und der Ursprünglichkeit ihrer Begriffsgenese, als prinzipiierend für die übrigen Bestimmungen der Logik (insofern dies ja entwickelte Sews-Bestimmungen sind). Künftige Stadien der Dialektik werden auf diese am qualitativen Sein ersehene Bestimmtheitstheorie aufbauen (wobei Fragen zu einer gegebenenfalls anderen Stellung von Referent und Begriff zu erwägen sind; die Sachlage kann von der Gleichgültigkeit des Seins differieren). Aber nur in der qualitativen Seinslogik, in der dialektischen Keimzelle gleichsam, konnte Hegel seine bestimmtheitstheoretische Pointe vorführen: die Genesis des Begriffs in der dialektischen Einigung von Sein und Bestimmtheit als Einigung von dualen Referenten und als einigenden Begriff. Der Begriff stellt das Sein [oder .Seinspotential·] unter die Bestimmtheitsfrage, wird so auf ,NochEines' geführt - das nun als Bestimmtheitsfaktor ,Anderes' gedeutet werden kann und zur Einheit von Identität und Entgegengesetztem in einem (den Widerspruch vermeidenden) Novum führt. Nur die qualitative Seinslogik erbringt diese Rechtfertigung des dialektischen Verfahrens diese ,einec Rechtfertigung neben einer abschließenden in der Begriffslogik. Das Sein gibt etwas vor, was der Begriff in sich aufnehmen muß; diese Vorgabe zeigt sich im referentiellen Verständnis, welches sich mit einem begrifflichen einigt. Die Prinzipialität des qualitativen Seins für spätere Schritte und deren Legitimität muß dann vom Resultat her erneut erwogen werden. 37
Dies ist es, wofür Hegel in Hartmanns Deutung noch aufzukommen hat. Anm. d. Hrsg.
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Die Grundlegung von Bestimmtheit: die qualitative Seinslogik
Die Rickertsche Auffassung 38 ist in der Frage, ob die Dialektik rein begrifflich (mit Negationsbeziehungen zwischen Begriffen) oder begrifflich und referentiell gedacht sei, nicht in einer überlegenen Position, denn die - im Unterschied zur (vermeintlich) bloßen Negation geltend gemachte - Andersheit bringt ja den Unterschied von Begriff und Referent wieder herein; nur wünschte man sich das Verhältnis beider noch begründet. Vielleicht läßt sich Rickert so interpretieren, daß er Ähnliches meint, wie wir Hegel unterstellen.
11. Eine Kritik an Hegels Denkmitteln Heinrich Rickert hat in seiner Schrift „Das Eins, die Einheit und die Eins" [Tübingen 21924] Grundlagen für eine Bestimmtheitstheorie gelegt, die einen Einwand gegen die Hegeische Bestimmtheitstheorie enthält. Rickert fragt, was zum „rein logischen Gegenstand" gehört (a.a.O., S. 10 f.). Er meint damit das „,leere', d.h. inhaltlich unbestimmte ,Etwas', das notwendig gedacht wird, wo man überhaupt etwas denkt" (S. 11), findet dann aber, daß an ihm Form und Inhalt zu unterscheiden seien, und folgert, daß dem logischen Gegenstand ein Alogisches zukommen müsse - noch nicht „ein inhaltlich Alogisches", „sondern nur der logische ,Ort' für das Alogische" (S. 12). Der logische Gegenstand enthält also eine „Mannigfaltigkeit von Elementen" (S. 14), die auch als „Momente" bezeichnet werden (S. 15). Das Moment der Form wird in der „Identität" des logischen Gegenstands erkannt (S. 17). Ihr, als „Minimum an Form", entspricht ein „Minimum an Inhalt", ein „,Was"' (ebd.). Damit soll angezeigt sein, daß „die Identität die Verschiedenheit" fordere oder die ,^ dersbeit" (S. 18). „Identität und Andersheit gehören notwendig zusammen" (S. 19). Dies ist für Rickert nun ein Einwand gegen die Negation [als Funktion von Bestimmtheit]: „Aber wir dürfen darum nicht glauben, daß die Andersheit nur Negation der Identität, d.h. bloße Nicht-Identität oder Privation der Identität sei" (ebd.). Weiter: „Die Negation macht aus dem Etwas lediglich das Nicht-Etwas oder das Nichts. Sie läßt den Gegenstand überhaupt sozusagen verschwinden, und ebenso kann durch Nicht-Identität niemals Andersheit oder Verschiedenheit entstehen [...]. Die Andersheit geht der Negation logisch voran" (S. 20). Negation könne uns, wo Alternativen vorliegen, auf das Andere hinweisen, es uns finden lassen. „Aber sie bringt für sich allein trotzdem das Denken nicht einen 38
Vgl. den folgenden Abschnitt. Anm. d. Hrsg.
Eine Kritik an Hegels Denkmitteln
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Schritt weiter. Der Schein, daß es sich anders verhalte, entsteht, wo man mit der Negation zugleich die positive Andersheit denkt. Vor diesem Schein ist besonders mit Rücksicht auf jede .dialektische' Philosophie zu warnen. Die Negation vermag das Andere vielleicht zu entdecken, aber nie zu erzeugen" (S. 21). Das Prinzip, welches Rickert durch seine Ausführungen fundiert wissen will, ist das der „Heterothesis", von dem er meint, es sei, „was Hegel mit Antithesis und mehr als bloß .formaler' Negation eigentlich meinte. Doch hat Hegel sich dann selber nicht ganz verstanden, denn das heterothetische Prinzip ist der Todfeind jedes ,Panlogismus* und jeder auf den Widerspruch gestützten Dialektik" (ebd.). Diese Deutung ist der eine Pol einer Kontroverse, deren anderer durch Richard Kroner vertreten ist.39 In der weiteren Entfaltung durch Werner Flach40 stellt sich die Rolle der Negation so dar, daß sie bei der Bestimmung des Gegenstandes durch Prädikation ihren Ort habe - unter Ansetzung eines nicht durch Negation darstellbaren logischen Gegenstandes; daß Negation also nicht grundlegend sei, aber zum „bestimmenden Denken" neben der Affirmation gehöre (a.a.O., S. 33). (Der naheliegende Gegenschluß ist natürlich, daß der logische Gegenstand oder das Denkprinzip, wozu Flach den Rikkertschen Ansatz weiter ausformuliert (vgl. S. 35), nicht im bestimmenden Denken figuriert, so sehr andererseits die Struktur dieses Prinzips es wird als Absolutes bezeichnet (S. 41) - bestimmt zu sein scheint.) Die der Negation zugeordnete Funktion kann ihrerseits in einer Theorie der Begriffsbestimmtheit nach dem „Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs" dargetan werden (S. 35).41 Heterogenität gehöre also in den Ursprung (in den Prinzipbegriff) des Denkens, und nicht Negativität. Hegel dagegen fasse den Ursprung als ,homogen', bringe schon in ihn die Negation ein (vgl. S. 77). - So weit die Rikkertsche, von Flach und Wagner weitergedachte Position in ihrer Stellungnahme gegen eine aus Sein und Nichts bzw. Negation entwickelte Bestimmtheit und damit gegen Hegels Dialektik. Wie ist sie zu beurteilen? Es fällt zunächst auf, daß während Rickert vom logischen Gegenstand, oder Etwas, ausgeht, Hegel einen solchen Ausgangspunkt noch hinterdenkt: zum ,Etwas', welches ein Seiendes ausmacht und daher implizit Identität enthält, liefert er eine Genealogie, die mit Sein und Nichts beginnt. Rickerts Position muß auf eine solche Herleitung verzichten und 39 40 41
Vgl. „Von Kant bis Hegel", Tübingen 21961. W. Flach, Negation und Andersheit, München/Basel 1959. Anm. d. Hrsg. Hierzu hat H. Wagner eine Lehre des limitativen und des dialektischen Widerspruchs entwickelt. Vgl. Philosophie und Reflexion, §§ 14 f.
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Die Grundlegung von Bestimmtheit: die qualitative Seinslogik
sie ersetzen durch die Inanspruchnahme eines identischen logischen Gegenstands, ohne den wir nichts dächten. (Wir haben die Unregelmäßigkeiten der Hegeischen Herleitung gesehen, ihr aber doch die Erfüllung eines Desiderats zuerkannt. Man wird auch nicht sagen können, daß wir mit .Sein' und ,Nichts' nichts dächten; wohl aber denken wir nicht einen Gegenstand, von dem die Analyse in Form und Inhalt, in Elemente oder Momente möglich ist.) Schwieriger zu beantworten scheint, ob Hegels Negation, die Relation auf Andersheit und eben nicht einfach Negation ist. Rickert sieht es so, daß sich Hegel - gleichsam durch schrittweise ,Einbildung der Negation' in das Sein - die Logizität von Alogischem (zu einem ,Panlogismus') erschleicht. Hegel nimmt tatsächlich Negation als das Denkmittel von Bestimmtheit in Anspruch, angebahnt durch Nichts als konvertibel mit Sein, ohne Andersheit zu bemühen - die Andersheit des Seins -, mit der sich ein Anfang nicht hätte machen lassen. Diese Negation ist eine andere denn die bei der Prädikation verwendete: in ihrer unbezüglichen Form als Nichts ermöglicht sie, Einheiten von Sein und Nichts zu benennen (Werden, Dasein) und so ein erstes Bestimmtes herzuleiten (Daseiendes, Etwas). Im weiteren Verfolg ist die Negation Beziehung zu einem Anderen, das als negiert dem Einen seinen Inhalt zuführt. In diesem .regelmäßigen' Teil der Seinslogik ist also Hegels Negation eine, die Andersheit darstellt, aber dem Erfordernis des zu vermeidenden Widerspruchs unterwirft und so (in Überschreitung der Figur .Eines und Anderes') hin zu einem Novum führt. Sie ist, wenn man will, ein künstliches Mittel, um Rationalität für eine Bestimmtheitstheorie herzustellen, d.h., um durch Vermeidung des Widerspruchs die Herleitung von Inhalten zu erzwingen, welche andernfalls nur irrational aufzugreifen wären. Dabei ist Hegel Rickert nahe, insofern bei ihm - angesichts der Alternativität der auf einer Stufe möglichen Bestimmungen (.Seinspotential' und .Nichtspotential') - die Negation das Andere .findet'. In der Ansetzung von Sein und Negation als den Mitteln für ein Denken kategorialer Bestimmtheit liegt ständig Dualität, Alternativität vor, so daß das Zu-Findende als durch Negation Konstituiertes erscheint. Die Frage bleibt, ob diese Hegeische Fassung der Negation vertretbar, aus einem akzeptablen Ansatz heraus gültig ist. Es legt sich hier nahe, an die Verwerfung des Substrats, des Referenten einer Bestimmung (und somit der Prädikation im Urteil), also an den spekulativen Standpunkt zu denken. Ist nur so Rationalität darstellbar, die in eins Bestimmtheit des Seins und des Denkens erbringt, eine Bestimmtheitstheorie, die das Angewiesensein auf ein Vorgefundenes meidet, so kann das Uneingeholte des Theorie-Gegenstands nicht in dessen Alogizität liegen - im Sinne des
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Andersseins eines Substrats - oder dort belassen werden. So gesehen ist die Hegeische Fassung der Negation motiviert durch den spekulativen Standpunkt und dasjenige, was durch ihn möglich werden soll. Dieser Standpunkt verlangt eine Darstellung des Inhalts - eines zunächst äußerst abstrakten, seinslogischen Inhalts, aus dem sich dann dessen konkretere consequentia und Prinzipiate entwickeln -, eine Darstellung also vorn Sein aus, nicht vom Gegenstand. Wird dies zugestanden, so ist es plausibel (wenn auch nicht kriteriell geregelt), daß der Weg genommen wird über die Konversion von Sein und Nichts zur Bestimmtheit von Sein durch Negation. Es sind komplizierte Fragen, die durch Flachs Deutung des Hegelschen Unternehmens als ganzem aufgeworfen werden. Schon hier aber ist die gegenüber Hegel recht andere Theoriebildung deutlich: mit dem Denken als Absolutem - als Heterogenität in Einheit mit ihm selbst -, das seinerseits in einer Gattungs- und Artdialektik angebahnt wird. Hegels Theorie demgegenüber prägt, daß sie bei einem Unbestimmten anfängt und zum Weiterschreiten einen eigenen Typ von Negation benötigt; mit ihm wird das Andere des Seins bestimmt und fortbestimmt - welches am ,Konversions-Beginn' noch nicht als solches erscheinen kann. Das Denken, oder dessen Vorbegriffe vom Typ der .Schließung', sind so erst Resultate. - Die Folgen beider Standpunkte für die Darstellung von Kategorialität werden noch zu weiterer Erörterung Anlaß geben. 12. Die Dialektik der Grenze; Endliches Auf der Ebene von Etwas und Anderem entspinnt sich nun ein Bestimmungsprozeß. Beide sind Etwas und beide Anderes, ganz nach der Orientierung vom jeweiligen Einen aus. Diese Orientierung spricht sich im ,Dies'-Sagen aus, demgemäß das nicht mit .dies' Bezeichnete jenes oder anderes ist.42 Ohne Orientierung von einem Blickpunkt her, vielmehr für sich genommen, wäre das Andere nicht als Anderes zu bestimmen; es wäre „nicht für sich so" (I, 105). Für beide, Etwas und Anderes, gilt, „ihr Sinn erscheint [...] vollendet auch ohne ihr Anderes" (,für sich'Bestimmung) (I, 109). Umgekehrt unterliegen beide, Etwas und Anderes, der Orientierung am jeweils anderen Daseienden, jedes ist also auch Anderes (relationale Bestimmung).
42
Man erkennt die ontologische, Epistemisches aber noch aufgreifende Fassung des Kapitels „Sinnliche Gewißheit" in der PG.
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Die Grundlegung von Bestimmtheit: die qualitative Seinslogik
Hegel will nun das Andere seiner eigenen Bestimmtheit nach denken über die äußerlich-epistemische Betrachtung hinaus, in der das Andere nur der Orientierung durch subjektive Designation (,Dies'-Sagen) verdankt wird, andererseits aber im Vergleich mit dem Etwas ebenso als Etwas erscheint. Wenn jedes Etwas Beziehung auf ein Anderes, und jedes Etwas daher auch selbst ein Anderes ist, so wäre damit ein Beziehungssachverhalt behauptet: Ankopplung an und Gleichgültigkeit gegen Anderes. - Das Zusammentreffen von relationaler und ,für-sich'-Bestimmung führt Hegel darauf, von der relationalen Bestimmung zu zeigen, daß sie auch ,für-sich'Bestimmung ist. Das „Andere für sich" (I, 106) ist „in Beziehung auf sich selbst" zu nehmen (I, 105). Es wäre dann nicht das „Andere von Etwas", sondern das „Andere an ihm selbst, d.i. das Andere seiner selbst" (ebd.).43 Das Andere an ihm selbst oder seiner selbst wäre das Anders-als-esselbst-Seiende, also das Sich-Verändernde, aber auch Sich-identisch-Bleibende - das Andere, welches in der Veränderung immer nur mit sich zusammenginge, ein mit sich identisches Etwas; sein Anderssein wäre Moment, „ein Unterschiedenes, ihm nicht als Etwas selbst Zukommendes" (I, 106). Damit hat Hegel den Beziehungssachverhalt mit dem Etwas verknüpft: das Anderssein ist im Etwas enthalten und auch von ihm getrennt, ist „Sein-für-Anderes"'; das Etwas, die Seinsseite der Figur, ist „Ansichsein", „Beziehung auf sich gegen seine Beziehung auf Anderes" (ebd.). Das Etwas hat jetzt zwei Momente, in denen sich der Beziehungssachverhalt ausdrückt, der in Etwas und Anderes nicht ausgedrückt war - enthalten doch Etwas und Anderes, wie Hegel sagt, „die Beziehungslosigkeit ihrer Bestimmtheit" (ebd.). Das Moment des Ansichseins steht für die Seinsseite - „Sein im Etwas ist Ansichsein" (l, 107) -, das Sein-für-Anderes für die Nichtsseite des Etwas - „es ist Nichtdasein, das auf das Ansichsein als auf sein in sich reflektiertes Sein hinweist, so wie umgekehrt das Ansichsein auf das Sein-für-Anderes hinweist" (ebd.). Da das Etwas beide Momente zu Bestimmungen hat, muß die Zugehörigkeit des Sein-für-Anderes zum Etwas und sein Verhältnis zu dessen Ansichsein geklärt werden. Hegel bestimmt diese Zugehörigkeit des Seins-für-Anderes zum Etwas so, daß das Etwas „eine Bestimmung oder Umstand an sich (hier fällt der Akzent auf an) oder an ihm" habe, wie entsprechend ein solcher Umstand „äußerlich an ihm [am Etwas], ein Sein-für-Anderes ist" (ebd.).
43
Erwogen wird ein Beispiel: die Natur, als „das Andere des Geistes", was natürlich doch eine Orientierung, nämlich die vom Geist her, enthält (I, 105).
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Die eigentümliche Zugehörigkeit des Seins-für-Anderes zum Etwas führt Hegel nun darauf, Ansichsein und Sein-für-Anderes identisch zu setzen: „Das Sein-für-Anderes ist in der Einheit des Etwas mit sich, identisch mit seinem Ansicb" (I, 109). Die Identität ergibt sich aus der dialektischen Struktur von Bestimmtheit (wie bei Realität, Negation und Etwas).44 Das Oppositum ist intern und somit .Moment' geworden (vgl. I, 107). Der ,Außenhorizont' bleibt vorerst Abgeblendet'; es handelt sich um eine ,Binnendialektik'. Damit hängt offenbar zusammen, daß für das um sein Sein-für-Anderes integrierte Etwas kein neuer kategorialer Titel eingeführt wird. Im weiteren Verlauf nun unterscheidet Hegel zwischen „Bestimmung" und „Bestimmtheit" (I, 110), also zwischen einem Ansichsein, welches das Sein-für-Anderes enthält, und einer „Bestimmtheit, die nur Sein-für-Anderes ist und außer der Bestimmung bleibt" - welche Bestimmtheit Hegel als „Beschaffenheit" bezeichnet: „Die Erfüllung des Ansichseins mit Bestimmtheit ist auch unterschieden von der Bestimmtheit, die nur Sein-für-Anderes ist und außer der Bestimmung bleibt. Denn im Felde des Qualitativen bleibt den Unterschieden in ihrem Aufgehobensein auch das unmittelbare, qualitative Sein gegeneinander. Das, was das Etwas an ihm hat, teilt sich so und ist nach dieser Seite äußerliches Dasein des Etwas, das auch sein Dasein ist, aber nicht seinem Ansichsein angehört" (I, 111). Es gibt also wieder beides, Ansichsein und Draußenbleibendes [,Außenhorizont']. (Zu fragen wäre, ob das neu auftauchende „unmittelbare qualitative Sein gegeneinander" sich nach der Bestimmtheitsdialektik ergibt: ist Beschaffenheit das, was die Bestimmtheit des erfüllten Ansichseins ausmacht, oder nur ein ,Beiherspielendes'?) Terminologisch ist jetzt Bestimmung' als Identität von Ansichsein und dem mit ihm vermittelten Sein-für-Anderes gefaßt - ,Beschaffenheit' als neu erstehendes Sein-für-Anderes, insofern dies nicht zum in sich vermittelten Ansichsein gehört. Oberbegriff für beides ist »Bestimmtheit': „Die einfache Mitte ist die Bestimmtheit als solche" (ebd.). Mit einer solchen ,Mitte' von zwei ,Extremen' ist eine begriffslogische Vermittlungsstruktur angesprochen (Vermittlung von je dreien als gegeneinander allgemein, besonders und einzeln), die hier aber explizit wohl kaum in Frage Hegel schreibt, daß „sich formell diese Identität schon in der Sphäre des Daseins" ergebe, und verweist weiter auf die Wesenslogik und ihre Betrachtung des „Verhältnisses der Innerlichkeit und Äußerlichkeit" sowie auf die „Betrachtung der Idee als der Einheit des Begriffs und der Wirklichkeit" in der ,subjektiven Logik' (1,107 f.). Dies meint, daß ,an sich' eine „abstrakte, damit selbst äußerliche Bestimmung" sei (I, 108). - Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf Hegels Auffassung des „Dings-an-sich" als „eine sehr einfache Abstraktion" (ebd.).
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Die Grundlegung von Bestimmtheit: die qualitative Seinslogik
kommt. - Das Ansichsein ist mit dem „Sein-für-Anderes behaftet; die Bestimmung ist damit als solche offen dem Verhältnis zu Anderem", wodurch sie „zur Beschaffenheit herabgesetzt ist" (I, 112). Umgekehrt wird die Beschaffenheit als „das Andere [...] seiner selbst" und damit als „Bestimmung" gedeutet, so daß ein wechselseitiger Übergang plausibel wird (ebd.). Beide hängen voneinander ab: Beschaffenheit „hängt [...] auch von der Bestimmung ab, und das fremde Bestimmen ist durch die eigene, immanente [Bestimmung] des Etwas zugleich bestimmt" (ebd.). Anders gesagt, gehört „die Beschaffenheit zu dem, was das Etwas an sich ist: mit seiner Beschaffenheit ändert sich Etwas" (ebd.). Diese jetzt in Anspruch genommene Veränderung des Etwas erscheint (nach der ersten „bloß nach seinem Sein-für-Anderes", d.h. „an sich seiende dem innern Begriffe angehörige Veränderung") als „die am Etwas gesetzte" (ebd.). Der kategoriale Titel lautet „entwickeltes Insichsein" (ebd.). Für Hegel ist hiermit folgendes dargetan: durch „das Übergehen der Bestimmung und Beschaffenheit ineinander [als] das Aufheben ihres Unterschiedes" ist „das Dasein oder Etwas überhaupt gesetzt"; weil es aber „aus jenem Unterschiede [von Bestimmung und Beschaffenheit] resultiert, der das qualitative Anderssein ebenso in sich befaßt", sind [tatsächlich] „Zwei Etwas" [gesetzt] (ebd.). Diese sind „nicht nur Andere gegeneinander überhaupt, so daß diese Negation noch abstrakt wäre und nur in die Vergleichung fiele, sondern sie [die Negation] ist nunmehr als den Etwas immanent. Sie sind als daseiend gleichgültig gegeneinander, aber diese ihre Affirmation ist nicht mehr unmittelbare, jedes bezieht sich auf sich selbst vermittelst des Aufhebens des Andersseins, welches in der Bestimmung in das Ansichsein reflektiert ist" (ebd.). - „Etwas verhält sich so aus sich selbst zum Ändern, weil das Anderssein als sein eigenes Moment in ihm gesetzt ist" (I, 113). Die Negation von Etwas und anderem ist nicht mehr äußerlich. Zu fragen wäre, ob die Entwicklung, welche zu dem internen Moment »Beschaffenheit' geführt hatte, dieses als ,anderes Dasein* deuten kann (um der Bestimmtheitsdialektik zu genügen); könnte man doch einwenden, daß Beschaffenheit eben nur eine dem Etwas zugehörige Bestimmtheit und nicht die Bestimmtheit des Etwas ist. Hegel nimmt aber das letzte ausdrücklich in Anspruch, etwa wenn er Beschaffenheit als ,Anderes seiner selbst' deutet (vgl. I, 112). Damit Beschaffenheit als das Andere ein zweites Etwas bildet (welches zur Bestimmung des ersten gehört), muß die Binnendialektik (von Ansichsein und Sein-für-Anderes) als auf einen Außenhorizont transzendierend gedacht werden. - Sicherlich, in dem Dictum, daß „im Felde des Qualitativen [...] den Unterschieden in ihrem Aufgehobensein auch das unmittelbare, qualitative Sein gegeneinander"
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bleibe, zeigt sich Hegels Bewußtsein der Frage (I, 111). Aber es bleibt doch eine Lizenz: das Inanspruchnehmen eines Negativen, Anderen, ist nicht Folge der Bestimmtheitsdialektik, sondern Wiederaufnahme einer früher behandelten Charakteristik. Der Außenhorizont ist erneut da, weil qualitatives Sein einen solchen bei sich hat. Der Absicht nach soll gezeigt sein, daß Seiendes, als seinslogisch Gesichtetes, jeweils von sich aus die Beziehung zu Anderem entwickelt unter Beibehaltung der Gleichgültigkeit ihm gegenüber. Damit wird eine neue kategoriale Ebene erreicht - die des Endlichen. Oder: es soll,gesetzt werden', daß sich Etwas aus sich selbst zum Ändern verhält - was eben darin zum Ausdruck kommt, daß Beschaffenheit ein zweites, anderes Etwas wird (I, 112). Die neue kategoriale Ebene bahnt sich an in einer sogenannten Dialektik der Grenze (vgl. 1,113 ff.). Hegel geht davon aus, daß das Etwas als „Insichsein" sich einerseits auf das Andere in Negation der Negation bezieht und darin sein Ansichsein hat - andererseits das Andere in einfacher Negation aufhebt, welches Aufheben „als einfache Negation an ihm" ist, „nämlich als seine Negation des ihm äußerlichen anderen Etwas" (1,113).45 Der Beziehungssachverhalt - Integration des Anderen (im Insichsein) und Abweisung des Anderen als Bestimmtheit - gestattet und verlangt eine Entfaltung. Die Grenze ist „Eine Bestimmtheit" des Etwas und des anderen Etwas, „welche sowohl mit dem Insichsein der Etwas identisch, als Negation der Negation, als auch, indem diese Negationen als andere Etwas gegeneinander sind, sie aus ihnen selbst zusammenschließt und ebenso voneinander, jedes das Andere negierend, abscheidet" (ebd.). Hegel verfolgt nun zunächst den Aspekt der einfachen Negation, welchen die Grenze beinhaltet: in ihr hebt sich (im Unterschied zum Sein-für-Anderes als „unbestimmte, affirmative Gemeinschaft von Etwas mit seinem Anderen") das „Nicbtsein-für-Anderes hervor", und bahnt einen Widerspruch an den von doppelter (reflektierter) Negation (oder Momenthaftigkeit des Etwas und Anderen) und qualitativer Unterschiedenheit also einfacher Negation zwischen unterschiedenen Etwas (ebd.). Die Grenze ist Begrenzung des Etwas, „Aufhören des Anderen an ihm", d.h. „Sein des Etwas"; das Etwas ist durch die Grenze, welche es gegen ein anderes Etwas hat (I, 114). Aber die Grenze ist auch „sein Nichtsein", ist also die Vermittlung, „wodurch Etwas und Anderes sowohl ist als nicht ist" (ebd.). 45
Die Unterscheidung von doppelter und einfacher Negation als Beziehungssachverhalte des Etwas, ist eine strengere Deutung von ,an sich' und ,an ihm'. Das Stück erscheint als drittes nach 1. .Bestimmung' und 2. .Beschaffenheit', ist also die bestätigte (oder gesetzte) Einheit beider.
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Die am Etwas orientierte Betrachtung weitet sich aus auf das Andere. Was nun „Etwas in seiner Grenze ist und nicht ist" fällt als „unmittelbarer qualitativer Unterschied" außer einander: „Etwas hat sein Dasein außer [d.h. unter Absehung von] (oder wie man es sich auch vorstellt, innerhalb] seiner Grenze; ebenso ist auch das Andre, weil es Etwas ist, außerhalb derselben" (ebd.). Die Trennung voneinander ist wechselseitig; die Grenze - „die Mitte zwischen beiden, in der sie aufhören" ist „das Andre von beiden", wobei wieder die einfache Negation als konvertibel in einen Außenhorizont gedacht wird (ebd.). - Hegel knüpft eine Illustration an: die Linie erscheint „als Linie nur außerhalb ihrer Grenze, des Punktes", entsprechend für Fläche und Körper (ebd.). Der Konflikt ergibt sich nun so, daß zwischen Etwas und Anderem über die gegenseitige Abweisung in einfacher Negation hinaus - eine affirmative Beziehung besteht. „Ferner aber ist das Etwas, wie es außer der Grenze ist, das unbegrenzte Etwas, nur das Dasein überhaupt. So ist es nicht von seinem Ändern unterschieden" (1,115). Es liegt also beides vor, Unterschiedenheit voneinander und Gemeinschaft im Dasein: „doppelte Identität beider" hinsichtlich Dasein und Grenze (ebd.). Die Bestimmungsstruktur besagt, daß „das Etwas, welches nur in seiner Grenze ist, ebensosehr sich von sich selbst trennt und über sich hinaus auf sein Nichtsein weist und dies als sein Sein ausspricht und so in dasselbe übergeht" (ebd.). Hegel nimmt das Beispiel von Punkt und Linie, Linie und Fläche, Fläche und Körper wieder auf. War oben „die Verschiedenheit des Etwas von seiner Grenze" im Blick (I, 114), war also der Punkt das Nichtsein der Linie, so daß sie nur außerhalb des Punktes ist (und entsprechend), so gilt nunmehr zum einen, „daß Etwas das, was es ist, nur in seiner Grenze ist", - so hört die Linie im Punkt nicht nur auf, sondern fängt in ihm auch an (und entsprechend); der Punkt ist Element der Linie, er ist als Grenze auch Prinzip - ebenso für Fläche und Körper (1,115). Zum anderen ist die gemeinte Bestimmung „die Unruhe des Etwas, in seiner Grenze, in der es immanent ist, der Widerspruch zu sein, der es über sich selbst hinausschickt" (ebd.). Im Beispiel also sind „Punkt, Linie, Fläche für sich, sich widersprechend, Anfänge [...], welche selbst sich von sich abstoßen", womit „der Punkt somit aus sich durch seinen Begriff in die Linie übergeht, sich an sich bewegt und sie entstehen macht, usf." (1,116). Kehren wir von der Beispielebene zum qualitativen Sein zurück, so gilt, daß das Etwas auf der Höhe der jetzigen Bestimmtheit durch die Grenze als Aufhören des Anderen Bestimmtheit hat und sich andererseits von sich abstößt, um zu sein. Damit ist „Etwas mit seiner immanenten Grenze gesetzt als der Widerspruch seiner selbst durch den es über sich hinausgewiesen und getrieben wird" (ebd.). Es ist das Endliche.
Zur Deutung des Seins in der qualitativen Seinslogik (2)
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Vor einer metatheoretischen Betrachtung der erreichten Bestimmungsstruktur sei Hegels Deutung der Endlichkeit noch etwas weiter charakterisiert. Im Vordergrund steht die Endlichkeit als eine Statusbestimmung von Dingen: der Widerspruch, sich auf Sein (als im Überschreiten der Grenze gelegen) anzuweisen und gleichzeitig in einer Begrenzung festgehalten zu sein (vgl I, 116 f.). Die Dinge haben nicht nur eine Bestimmtheit, sind nicht nur begrenzt (womit sie Dasein .außer' d.h. nicht jenseits, sondern innerhalb - ihrer Grenze haben); vielmehr macht „das Nichtsein ihre Natur, ihr Sein" aus (I, 117). Hegel beschreibt die Sachlage so, daß die endlichen Dinge „sind, aber ihre Beziehung auf sich selbst ist, daß sie als negativ sich auf sich selbst beziehen, eben in dieser Beziehung auf sich selbst sich über sich, über ihr Sein, hinauszuschikken. Sie sind, aber die Wahrheit dieses Seins ist ihr Ende" (ebd.). Das Sein des Endlichen ist einerseits das begrenzte Sein (nicht das unbestimmte Sein jenseits der Grenze); darin aber beziehen sich die endlichen Dinge auf sich selbst, stoßen sich von sich selbst ab und so „vergehen" sie - gerade also in der Anweisung auf Sein, verlieren sie sich selbst (ebd.). Hegel nutzt seine Deutung für Ausführungen über die Zuordnung von Endlichkeit und Verstand. Er versteht die Endlichkeit als „an sich fixierte Negation"; sie „steht daher seinem Affirmativen" [dem Unendlichen] „schroff gegenüber" (ebd.). Auch spricht er von einer „auf die Spitze getriebenen qualitativen Negation", von einer „qualitativen Einfachheit der Negation, die zum abstrakten Gegensätze des Nichts und Vergehens gegen das Sein zurückgegangen ist", von der „hartnäckigsten Kategorie des Verstandes" (ebd.). „Der Verstand verharrt in dieser Trauer der Endlichkeit, indem er das Nichtsein zur Bestimmung der Dinge, es zugleich unvergänglich und absolut macht. Ihre Vergänglichkeit könnte nur in ihrem Ändern, dem Affirmativen, vergehen" (1,117 f.). Insofern er aber „vielmehr das Verweigern [ist], sich zu seinem Affirmativen, dem Unendlichen" bringen zu lassen (I, 117), erscheint der Standpunkt, daß „das Endliche absolut sei", als unphilosophisch (I, 118). Die weitere Entwicklung bei Hegel zeigt denn auch, daß das Endliche vergeht (im Fortgang zu einer höheren Kategorie; es wird sich nicht selbst im Vergehen wandeln können). 13. Zur Deutung des Seins in der qualitativen Seinslogik (2) Einmal abgesehen von den Feinheiten bei der Entwicklung ,gesetzter' Bestimmungen stellt sich die Aufgabe, die ,Dialektik der Grenze' als näher bestimmte Seinscharakteristik zu verstehen. Das Besondere dieser
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Dialektik ist, daß im Verhältnis von Einem und Anderem das Andere nicht das Bestimmunggebende ist (als dieses ist es in das Ansichsein als entwickeltes Insichsein' eingegangen), sondern das Entschränkende (wenn auch in eins mit dem abgewiesenen Beschränkenden, welches nicht durch nochmalige Iteration in das Ansichsein des Etwas eingeholt wird). Der Akzent liegt dabei auf dem Widerspruch [zwischen] der in einfacher Negation abgewiesenen Beschränkung (oder Grenze) und der in doppelter Negation gegebenen Entschränkung. - Deshalb spricht Hegel von der „Entzweiung des Ansichseins und des Daseins", die das Endliche charakterisiere (I, 125). Von Interesse ist nun, ob die Entschränkung als Seinsgebendes aus der Struktur von Bestimmung-Beschaffenheit angebahnt ist und ob die Vermeidung erneuter Iteration eines Insichseins, die Abschließlichkeit der Entschränkung also, dargetan ist. Zur Anbahnung heißt es, wie bereits zitiert, daß das Etwas „mit seiner immanenten Grenze gesetzt als der Widerspruch seiner selbst" durch diesen Widerspruch „über sich hinausgewiesen und getrieben wird" (I, 116). Dies ist als Feststellung unserer Reflexion zu nehmen. Im nächsten Gang müßte das sich als aus dem Etwas folgend ergeben und führte auf die Selbstnegation des Begrenzten, das ,Sich-Abstoßen' (welches schon in der Illustration an Punkt, Linie, Fläche und Körper genannt ist). Wieso nun projektiert unsere Reflexion die Negation der Grenze als Zusammengehen im Dasein überhaupt, wenn doch die Endlichkeit „als an sich fixierte Negation", die „seinem Affirmativen schroff gegenüber" steht, zunächst das Dargetane ist (1,117)? Es leuchtet vielmehr ein, daß die Negation des Beschränkenden Integration und [in dieser Weise] (gegebenenfalls letztliche) Entschränkung beinhaltet. (Das Etwas, auf Entschränkung angelegt und andererseits begrenzt, ist der Widerspruch, durch den es weitergetrieben wird; dies muß ihm nur imputiert werden können.) Daß die Iteration von Integration und neu Beschränkendem in der Tat vermieden wird, hat seinen Grund offenbar in der Lapidarität der metatheoretischen Rekonstruktion, worin kein neuer Fall darstellbar ist; aus der Tradition sind keine Zwischenglieder mehr aufzugreifen, die (vor der Schließung) zu weiteren Schritten nötigen. Oder: [Endlichkeit als Kategorie beruht darauf], daß die Grenze metatheoretisch genommen wird und nicht als Beschaffenheit. Darin zeigt sich: die Gewinnung des Seins oder der Affirmativität [einer neuen Kategorie], die .Seinsdialektik', ist gegenläufig zur ,Bestimmtheitsdialektik'. Sie widerspricht dieser und ist doch nahegelegt als Lösung des Zusammenspiels von einfacher und doppelter Negation. Das Ineinander beider ist, typisch seinslogisch, ein Sowohl-als-auch. In späteren
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Zusammenhängen kann die Seinsdialektik als Dialektik der .Schließung' dominant werden.46
14. Übergang zur Schließung: Sollen und Schranke Auf der mit ,Endlichkeit' erreichten Ebene wird als inhaltliche Bestimmung die eines Verhältnisses von ,Sollen und Schranke' angegeben (vgl. I, 118). In dieser Figur liegt der Akzent wie bei der Dialektik der Grenze darauf, daß das Etwas sein Ansichsein im Überschreiten, in der Inklusion des Andersseins, findet. Gegenüber der vorigen Figur ist nun aber gemeint, daß unsere Reflexion eingeholt wird; die .Einbildung der Negation' in das Etwas ist vollzogen. Die Sachlage, wonach einerseits Ansichsein oder Insichsein gegeben ist (Inklusion des Andersseins, Bestimmung) und andererseits äußerlich bleibendes Anderssein (Am-Etwas-Sein des Andersseins, Beschaffenheit), wird weitergeführt. Die ,Grenze' war Einheit von Negation der Negation und einfacher Negation (vgl. 1,113). In ihrem Charakter als Negation der Negation, welcher jetzt betont wird, liegt für Hegel, daß das „dem Etwas immanente Anderssein als die Beziehung der beiden Seiten gesetzt" ist (1,119). Das soll sagen: die Negation der Negation ist Negation der noch übriggebliebenen ersten (der Abweisung des externen Andersseins) und damit auch Negation des Insichseins (als ein externes Anderssein sich noch gegenüber habend). Als Fazit hieße das: „die Einheit des Etwas mit sich, dem sowohl die Bestimmung als die Beschaffenheit angehört, [ist] seine gegen sich selbst gekehrte Beziehung, die seine immanente Grenze in ihm negierende Beziehung seiner ansichseienden Bestimmung darauf. Das mit sich identische Insichsein bezieht sich so auf sich selbst als sein eigenes Nichtsein, aber als Negation der Negation, als dasselbe negierend, das zugleich Dasein in ihm behält, denn es ist die Qualität seines Insichseins" (ebd.). Für Hegel ist hier eine Selbstnegation des begrenzten Etwas gegeben: „Die eigene Grenze des Etwas, so von ihm als ein Negatives, das zugleich wesentlich ist, gesetzt, ist nicht nur Grenze als solche, sondern Schranke" (ebd.). Das Ausgreifen über sie, hin zum neuen Ansichsein, im Unterschied zu dem beschränkten, heißt Sollen. Das Sollen, die Beziehung des 46
Die Seinsdialektik erscheint selbst später doppeldeutig: als Stiftung von Differenz [einerseits] - Sich-Abstoßen, um mit sich zusammenzufallen (so in der Quantität und den ersten Stücken der Naturphilosophie; vgl. die Beispiele von Punkt, Linie usw.) - und andererseits als Anbahnung von Schließung - Zusammenfallen mit sich als Anderem (Oppositum). Das letztere ist prototypisch für das Fürsichsein als qualitatives Prinzip; das erstere gehört dorthin, wo Differenz dominant ist.
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Etwas auf seine Schranke, ist bedingt durch die Grenze, welche als Negation auch „Bestimmtheit des Ansichseins der Bestimmung als solcher" ist, also Ausdruck für die Begrenztheit des Insichseins (I, 120). Oder: auch das Insichsein behält zugleich Dasein, auf welchem jetzt durch die Selbstnegation des Etwas der Akzent liegt. „Daß [d.h. damit] die Grenze, die am Etwas überhaupt ist, Schranke sei, muß es zugleich in sich selbst über sie hinausgehen, sich an ihm selbst auf sie als auf ein Nichtseiendes beziehen [...]. Und indem sie [die Grenze] in der Bestimmung selbst als Schranke ist, geht Etwas damit über sich selbst hinaus" (ebd.). Auch das Sollen ist mithin beides: vom Ansichsein gesteuerte Negation der Schranke und deren Innehaben als ansichseiende Bestimmung.47 Die Theorie des Etwas als Endlichen ist so, durch die Deutung einer auf die Schranke bezogenen Selbstnegation hinausgekommen über die Dialektik der Grenze mit ihrer bloßen Imputation des Andersseins. Eine Schwierigkeit könnte man dort erblicken, wo es heißt, „Etwas verhält sich so aus sich selbst zum Anderen, weil das Anderssein als sein eigenes Moment in ihm gesetzt ist" - indem andererseits nämlich das Andere einem Dasein, d.h. bestimmten Sein, erst eigentlich gegenübertritt durch die abweisende Negation seitens dieses Etwas (1,113). - Hier [d.h. im zuletzt genannten Fall der Dialektik der Grenze] ist dem Etwas zwar das äußerliche Gegenübertreten des Anderen ,eingebildet', aber die Sachlage entspricht [eben] dennoch nicht der jetzt vorliegenden, in welcher nämlich das Etwas sich zu sich als beschränktem verhält. Hier [d.h. bei Sollen und Schranke] ist die Negation ausdrücklicher dem Etwas ,eingebildet' oder: das in der Dialektik der Grenze immanente Andere ist nun gesetzt. Sollen und Schranke stehen für das, was in späterem Zusammenhang ,Reflexionsbestimmungen' sind. „Beide sind so Momente des Endlichen; somit beide selbst endlich, sowohl das Sollen als die Schranke" (I, 120). 47
Bedenken regen sich gegen sprachliche Wendungen hinsichtlich der Grenze, als ob sie selbst etwas vermittle, Beziehungen etabliere. Eine Lesart, die auf die Relate selbst zurückgeht, könnte diese Bedenken aber wohl durch Uniformulierung ausräumen. - Hingewiesen sei ferner auf eine dunkle Stelle: „Aber nur die Schranke ist als das Endliche gesetzt^ das Sollen ist nur an sich, somit für uns, beschränkt. Durch seine Beziehung auf die ihm selbst schon immanente Grenze ist es beschränkt, aber diese seine Beschränkung ist in das Ansichsein eingehüllt, denn nach seinem Dasein, d.i. nach seiner Bestimmtheit gegen die Schranke, ist es als das Ansichsein gesetzt" (I, 120). Dasein und Ansichsein bestehen so zusammen, daß wegen der Inklusion der Schranke das qualitative Oppositum nur Ansichsein ist - unter Fortbestehen der Schranke. Hegel spricht umgekehrt auch von „Entzweiung des Ansichseins und des Daseins" (I, 125). Aber dies ist nur „für uns" so, d.h. noch nicht gesetzt: womit demnach das Ansichsein die höhere Figur der Schließung verbirgt, welche sich zeigte, wenn das Dasein als qualitativ Beschränkendes und Beschränktes hinweggenommen wäre und als Zusammenfall des Endlichen mit der Totalität verstanden werden könnte.
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Oder: „Als Sollen ist somit Etwas über seine Schranke erhaben, umgekehrt aber hat es nur als Sollen seine Schranke. Beides ist untrennbar" (1,121).48 Die Figur von Sollen und Schranke gilt für Hegel als Anbahnung des Novums ,Unendlichkeit' - dies verstanden als Fazit eines gesteigerten Insichseins, als Überwindung eines nur in einfacher Negation negierten Angrenzenden. „Im Sollen beginnt das Hinausgehen über die Endlichkeit, die Unendlichkeit. Das Sollen ist dasjenige, was sich in weiterer Entwicklung, nach jener Unmöglichkeit [der Überwindung der Schranke?] als der Prozeß ins Unendliche darstellt" (ebd.). Das Unendliche wäre die Komplementierung des Endlichen, in der es [das Endliche] mit sich zusammengeht (vgl. I, 125 f.) - aber in einer irgendwie wahreren Form als bei der Komplementierung durch ein Anderes, das selbst Endliches ist. Auch das Angrenzen von Sollen und Schranke ist noch ein Verhältnis zweier Endlicher. Wir bewegen uns auf Schließung hin, aber der Übergang ist erst noch zu verstehen. Hegel denkt ihn, indem er - auf Grund der Figur von Sollen und Schranke - das Endliche als „Widerspruch seiner in sich" versteht, so daß es sich aufhebt und vergeht (I, 124). Darin ist es „zunächst nur ein anderes Endliches geworden, welches aber ebenso das Vergehen als Übergehen in ein anderes Endliches ist, und so fort [...] ins Unendliche"; oder es liegt, „näher dieses Resultat betrachtet", der Fall vor, daß „das Endliche in seinem Vergehen, dieser Negation seiner selbst, sein Ansichsein erreicht", daß es „darin mit sich selbst zusammengegangen" ist (I, 124 f.). Hegel rekurriert darauf, daß das Reflexionsverhältnis (Ausgreifen auf ein Komplement) zu beiden Seiten, der des Sollens und der der Schranke, vorliegt; beide sind „Entzweiung des Ansichseins und des Daseins" (I, 125). Die Identität jeder der beiden Seiten mit sich, „die Negation der Negation, ist affirmatives Sein, so das Andere des Endlichen" (ebd.). Als Deutung des Unendlichen ergibt sich eine qualitative Struktur von entgegengesetzten und identischen Relaten. Das Problem liegt nun im Verhältnis dieser metatheoretischen Struktur (die schon durch aufeinander reflektierte Endliche, Komplemente, Glieder einer vollständigen Disjunktion erfüllt wäre) zu dem thematisch neuen Titel: „das Unendliche" als 48
Wir erwähnen die Anmerkung Hegels zum Sollensbegriff (vgl. 1,121 ff.), in der auf „die Kantische und Fichtesche Philosophie" eingegangen wird, welche beide, so heißt es, „als den höchsten Punkt der Auflösung der Widersprüche der Vernunft das Sollen" angeben, „was aber vielmehr nur der Standpunkt des Beharrens in der Endlichkeit und damit im Widerspruche ist" (I, 124). Demgegenüber bedeutet für Hegel das Sollen eine unvollkommene Position, in der das Herausgehen über die Schranke nicht gelingt. [Genauer gesagt, ist das Sollen zwar „das Hinausgehen über die Schranke, aber ein selbst nur endliches Hinausgehen" (1,123).]
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„das Andere des Endlichen" (1,125). Ist das Novum des Unendlichen ein noch anderes thematisches Komplement [in der unendlichen Reihe endlicher Komplemente], oder ist das Unendliche die Struktur als Novum, als Anderes gegenüber dem Vorangegangenen?
15. Schließung: Unendliches und Pursich sein Der Übergang von Schranke und Sollen zum Unendlichen folgt, wie schon angedeutet, einer Dialektik des Seins (oder der Entschränkung), die, von beiden Seiten her, auf die Inklusion des Anderen verweist. Was Hegel daraus ableitet, ist der Übergang von einer Figur der Komplementarität des Ansich- und Andersseins zu einer von Endlichkeit und Unendlichkeit (wobei das Anderssein zum Unendlichen geworden ist). - An anderer Stelle wiederum charakterisiert Hegel so, als ob ein solches Komplementaritätsverhältnis gar nicht vorliege, denn: „das Unendliche [...] erscheint als vollendet auch ohne [...] Anderes" (I, 109). Auch wenn das Unendliche aber „schlechthin für absolut" gilt, so ist in ihm „auf die Beschränktheit [...] ausdrücklich Beziehung genommen und eine solche an ihm negiert". „Damit aber selbst ist das Unendliche nicht schon in der Tat der Beschränktheit und Endlichkeit entnommen" (I, 125). Die Entwicklung muß also diesem Konflikt von absolutem Begriff des Unendlichen und negativem Begriff des Unendlichen nachgehen. (Aus den langen Ausführungen zum Unendlichen - I, 125-140 (mit noch zwei Anmerkungen: I, 140 ff. bzw. 145 f.) - mögen nur die wesentlichsten Erläuterungen zum Unendlichen überhaupt (I, 126), zur Wechselbestimmung des Endlichen und Unendlichen (I, 127 ff.) und zur affirmierten Unendlichkeit (I, 132 ff.) kurz angesprochen werden. Der Begriff des Unendlichen überhaupt gilt Hegel als Zielbegriff des Endlichen. Das Unendliche steht nicht „als ein für sich Fertiges über dem Endlichen"; „das Endliche ist nur dies, selbst durch seine Natur dazu [zum Unendlichen] zu werden. Die Unendlichkeit ist seine affirmative Bestimmung, das was es wahrhaft an sich ist" (I, 126). „So ist das Endliche im Unendlichen verschwunden, und was ist, ist nur das Unendliche" (ebd.). - Aber das Unendliche ist zunächst noch ein Abgrenzendes des Endlichen, so muß die Anbahnung dieser Kategorie wohl interpretiert werden; es ist im wörtlichen Sinn Anderes, Negation des Endlichen. Die Komponente des Endlichen im Unendlichen führt zur Wechselbestimmung beider. Als Affirmatives hat das Unendliche die Struktur des Seins, und hat das Endliche als Anderes sich gegenüber, ist mit dem Gegensatz behaftet (vgl. I, 127). Diese Struktur nennt Hegel das „Schlecht-
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Unendliche, das Unendliche des Verstandes" (I, 128). In dieser Figur ist das Unendliche „selbst endliches Unendliches" (ebd.). Hegel meint damit „ein Umschlagen oder Übergehen" vom einen zum anderen (I, 129), einen „Prozeß" (1,130). Dieser „Progreß ins Unendliche" erscheint als duales Verhältnis von Endlichem und Unendlichem (ebd.). „Es wird über das Endliche hinausgegangen in das Unendliche. Dies Hinausgehen erscheint als ein äußerliches Tun. In diesem dem Endlichen jenseitigen Leeren, was entsteht? Was ist das Positive darin? Um der Untrennbarkeit des Unendlichen und Endlichen willen, (oder weil dies auf seiner Seite stehende Unendliche selbst beschränkt ist), entsteht die Grenze; das Unendliche ist verschwunden, sein Anderes, das Endliche, ist eingetreten. Aber dies Eintreten des Endlichen erscheint als ein dem Unendlichen äußerliches Geschehen, und die neue Grenze als ein solches, das nicht aus dem Unendlichen selbst entstehe, sondern ebenso vorgefunden werde. Es ist damit der Rückfall in die vorherige, vergebens aufgehobene Bestimmung vorhanden. Diese neue Grenze aber ist selbst nur ein solches, das aufzuheben oder über das hinaus zu gehen ist. Somit ist wieder das Leere, das Nichts entstanden, in welchem ebenso jene Bestimmtheit, eine neue Grenze angetroffen wird - und so fort ins Unendliche" (ebd.). Die Darstellung kommt ohne quantitative Bestimmungen aus, Endliches und Unendliches werden qualitativ-dual behandelt. Der Prozeß- oder Progreßgedanke erscheint als eine Lizenz, insofern die Opposition von Endlichem und Unendlichem verstandesmäßig artikuliert, aber logisch beurteilt wird verstandesmäßig als immer erneutes Anrennen gegen das Unendliche mit endlicher Approximation, logisch in dem Sinne, daß die gegenseitige Beschränkung so nicht behoben werden kann. Dialektisch-logisch muß das ,endliche Unendliche* als das Andere des Endlichen ohne Progreß überführbar sein in Affirmative Unendlichkeit' (vgl. I, 132). Diese letztere muß eine sein, in der das Unendliche nicht „Eines der beiden" ist ([verstandesmäßig] Unendliches oder Endliches) (I, 133). Der Übergang muß so gedacht werden, daß eine Bezogenheit beider aufeinander (als Endlicher) zur Identität gebracht wird mit ihrer Beziehung im Anderen [in der Negation] auf sich (vgl. 1,133 ff.). Zwei Betrachtungsweisen die Beziehung auf- und die Absonderung voneinander - „geben ein und dasselbe Resultat; das Unendliche und Endliche nach der Beziehung beider aufeinander, die ihnen äußerlich wäre, aber die ihnen wesentlich, ohne die keines ist, was es ist, enthält so sein Anderes in seiner eigenen Bestimmung, ebensosehr als jedes für sich genommen, an ihm selbst betrachtet, sein Anderes in ihm als sein eignes Moment liegen hat" (1,133). Dieser Kerngedanke der langen Ausführungen - anders formuliert als „dieselbe Negation der Negation" in beiden (1,135) - wird noch mit dem
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Progreß verglichen und als „Bewegung, zu sich durch seine Negation zurückzukehren" genommen (I, 136) - nicht als „Einheit", „abstrakte bewegungslose Sichselbstgleichheit", vielmehr ein weiterbestimmtes Werden (I, 138). Andererseits handelt es sich um Realität, bei der „die Negation, gegen welche sie das Affirmative ist, hier die Negation der Negation [ist]" (I, 139). Als neu daran erscheint, daß die Negation „so als Idealität bestimmt" wird; das Ideelle „ist das Endliche, wie es [als Negiertes] im wahrhaften Unendlichen ist" (ebd.).49 Die Figur gleitet dergestalt über in die nächste, das ,Fürsichsein', worin diese „Beziehung auf sich selbst", auf das „Sein" [Seinspotential] gedacht ist (I, 140). Der mit der Figur des Unendlichen als dem Anderen des Endlichen angebahnte Schritt zur wahrhaften Unendlichkeit (als weiterbestimmtes Werden) und zur Idealität findet also seinen gültigen Ausdruck im Fürsichsein - metatheoretisch und thematisch, nach dem Umweg über das Unendliche (I, 147 ff.). Dies beinhaltet die Schließung der Denkfigur des »bestimmten Seins', das unter der Rubrik ,Dasein' eine Unvollkommenheit hatte. „Das Dasein ist das aufgehobene, aber nur unmittelbar aufgehobene Sein. Es enthält so zunächst nur die erste, selbst unmittelbare Negation; das Sein ist zwar gleichfalls erhalten, und beide im Dasein in einfacher Einheit vereint, aber eben darum an sich einander noch ungleich, und ihre Einheit noch nicht gesetzt. Das Dasein ist darum die Sphäre der Differenz, des Dualismus, das Feld der Endlichkeit" (1,147). Konstitutiv für diese Differenz ist die erste Negation (zum Anderen hin), wenn auch doppelte Negation schon auftrat (indem das Ansichsein mit der Bestimmung das Sein-für-Anderes aufnahm). Aber: „Die Bestimmtheit ist Bestimmtheit als solche, ein relatives, nicht absolutes Bestimmtsein" (ebd.). Die Positionen des relativen Bestimmtseins, der Sphäre der Differenz („Qualität, Anderssein, Grenze, wie Realität, Ansichsein, Sollen usf."), sind „die unvollkommenen Einbildungen der Negation in das Sein" (ebd.). Das Fürsich nun ist „absolutes Bestimmtsein" (ebd.). In ihm ist die Negation „in die gesetzte Negation der Negation übergegangen", die Negation ist „einfache Beziehung auf sich, also an ihr selbst die Ausgleichung mit dem Sein" (ebd.). Von der Opposition des Einen und Anderen her gesehen, ist das Fürsichsein eine Figur, in der das Andere nicht mehr in einfacher Negation als Selbständiges besteht: „Das Andere ist ihm nur als ein Aufgehobenes, als sein Moment"; das Fürsichsein ist darin, „über sein Anderssein hinausgegangen zu sein, [...] als diese Negation die unendliche Rückkehr in sich" (1,148). - Hegel reflektiert, 49
Hingewiesen sei auf die Anmerkung über das Jdeelle' und dem Jdealismus' (1,145 f.).
Das Eins
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ob hier nicht auch der Sinn des umgangssprachlichen „Für sich"-Seins liege; er bejaht dies, „insofern als es das Anderssein, seine Beziehung und Gemeinschaft mit Anderem aufhebt, [...] davon abstrahiert hat" (ebd.). Daß das Fürsichsein Abstraktion ist, wird erst im Fortgang der Seinslogik deutlich: indem es nämlich nicht endgültige Schließung ist, sondern in die Beziehung von Fürsichsein zu Fürsichsein eingeht - entsprechend der Beziehung zwischen Etwas und Anderem. An der Darlegung Hegels wird deutlich, daß Fürsichsein als qualitative Struktur befreit ist vom thematisch Unendlichen, das als das Andere des Endlichen eingebracht worden war. Diese Dialektik des Unendlichen - die Aufstellung des .wahrhaft' so benannten - macht keinen Gebrauch von der thematischen Bedeutung des Unendlichen, sondern bedient sich nur wieder des Anderen und also der Identität der einander entgegengesetzten, aufeinander reflektierenden Seiten. Konnte dann nicht schon das vorangegangene Auftreten dieser Struktur das Fürsichsein ergeben? Man versteht, daß das Unendliche thematisch vorkommen sollte, aber ist dies gelungen, im Sinne von: zwingend eingeordnet? (Hegel benutzt im übrigen .unendlich' zur metatheoretischen Kennzeichnung der qualitativ seinslogischen Schließung, die im Fürsichsein vorliegt.) Fürsichsein ist als Rückkehr zu sich Vorbegriff für das Bewußtsein, welches seinen Gegenstand ideell macht und als sich zugehörig setzt. Fürsichsein als vollbracht und gesetzt wäre das Selbstbewußtsein, wo „jene Seite der Beziehung auf ein Anderes, einen äußeren Gegenstand" entfernt ist (ebd.). - Dieser Vorausblick auf konkretere Fälle von Fürsichsein zeigt den Theorieort dieser Kategorie: es ist die Struktur, in der das Andere „als ein Aufgehobenes, als sein Moment" vorkommt; damit ist aber die seinslogische Sachlage, daß das Andere etwas an ihm selbst ist, nicht schon beseitigt. Es besteht also Anlaß, dieser Nicht-Erschöpfung des Seins des Anderen noch nachzugehen. Bestimmungen, in denen solche Erschöpfung gedacht ist, werden konkretere, nicht-seinslogische Strukturen sein wie .Begriff oder ,Idee'. Auch auf die Prinzipfunktion und architektonische Rolle des Fürsichseins ist zurückzukommen. 16. Das Eins Hegel bestimmt das Fürsichsein näherhin auf das Sein des .Anderen' in ihm: „Das Sein in solcher Bestimmtheit, in der es Dasein ist, ist aber sogleich vom Fürsichsein selbst auch unterschieden, welches nur Fürsichsein, insofern seine Bestimmtheit jene unendliche ist" (I, 148 f.). Die Art, wie die Bestimmtheit, welche vorher „ein Anderes und S ein-für-Ander es"
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war, „in die unendliche Einheit des Fürsichseins zurückgebogen" ist, kennzeichnet Hegel als „S ein-für-Eine s" (I, 149). Dies ist Vorausdruck für eine neue Struktur: Eines-Sein des Fürsichseins und Etwas-für-einsolches-Eines-Sein auf Seiten des Anderen. Es liegt eine „Ununterschiedenheit zweier Seiten" vor, „die im Sein-für-Eines vorschweben können": „nur Ein Sein-für-Anderes, und weil es nur Ein Sein-für-Anderes ist, ist dieses auch nur Sein-für-Eines; es ist nur die Eine Idealität dessen, für welches oder in welchem eine Bestimmung als Moment und dessen, was Moment in ihm sein sollte" (ebd.). Die Sachlage entspricht dem Übergang vom Dasein (als dem Status des bestimmten Seins) zu Daseiendem oder Etwas, einem Übergang mit noch dem Dasein immanenten Mitteln (Realität und Negation). Hier wird ein Hinweg zum Eins-Sein, zum unum, versucht, der abstellt auf das Einessein des Bestimmtheits-Moments (weil sich dieses eben in der Immanenz des Fürsichseins befindet). Es sind noch keine konkreten Seiten vorhanden - wie Hegel auch an früherer Stelle bemerkte (vgl. I, 96). Hier heißt es: „So machen Fiir-eines-sein und das Fürsichsein keine wahrhaften Bestimmtheiten gegeneinander aus. Insofern der Unterschied auf einen Augenblick angenommen und hier von einem Fürsichseienden gesprochen wird, so ist es das Fürsichseiende, als Aufgehobensein des Andersseins, selbst, welches sich auf sich als auf das aufgehobene Andere bezieht, also für-Eines ist; es bezieht sich in seinem Ändern nur auf sich. Das Ideelle ist notwendig für-Eines, aber es nicht für ein Anderes; das Eine, für welches es ist, ist nur es selbst" (ebd.). Das Fürsichseiende wird also vorläufig gedacht analog dem Übergang (oder der Fortbestimmung) von Sein zu Seiendem; dies findet seinen Ausdruck in der Deutung des Fürsichseienden als 5Eins' [d.h. Immanenz des Anderen] (vgl. I, 153 f.). Die Wiederholung dieser Fortbestimmung reproduziert dann den Außenhorizont - ,Eins und Vieles', viele Eins - entsprechend dem Verhältnis von Etwas und Anderem.50 Die Dialektik des ,Eins', und damit die Entwicklung über Vielheit zur Quantität (vgl. I, 168 f.) - noch innerhalb der Qualität - sei hier vorerst unterbrochen, um zu unterstreichen, daß in dieser Anbahnung sich der (noch) seinslogische Charakter des Fürsichseins offenbart. Die Rede von .absolutem Bestimmtsein' könnte demgegenüber ja den Gedanken aufkommen lassen, wir hätten eine endgültige Schließung erreicht. Diese Meinung würde den Status des Fürsichseins übersehen - als Bestimmung von gewissem Sein, welches diese Struktur der Schließung hat. Hiervon 50
Erwähnt seien Ausblicke auf Ich, Geist, Gott (vgl. 1,149 f.) sowie noch einmal auf Idealität u.a. (I, 150 ff.).
Ansich, Fürsich und die Deutung der Qualität
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kann es vielerlei geben (Fürsichseiendes verschieden hoher Bestimmtheit, das neue Namen trägt). Und gegeneinander können Seiende von diesem Status in Differenz-, also in seinslogischen Verhältnissen stehen. - Die lineare Bestimmungs-Entwicklung läuft weiter, doch umgekehrt hindert dies nicht, daß die Abschließlichkeit des Fürsichseins, eben als Bestimmung eines Seins-Status, erreicht ist. Der Versuch, den Sinn dieser Schließung als qualitativer Bestimmung näher zu verstehen, führt die Betrachtung auf die Sphäre der Differenz und ihre dem Fürsichsein entgegengesetzte, ebenfalls qualitative Statusbestimmung, das Ansichsein, - sowie zugleich auf die Frage nach dem Sinn von qualitativem Sein oder Qualität überhaupt in Hegels Logik.
17. Ansich, Fürsich und die Deutung der Qualität Überschaut man die drei Kapitel der qualitativen Seinslogik (unter Absehung vorerst von den Stücken über ,Eins und Vieles' usw.) so enthalten sie eine Einteilung nach Sein, Dasein und Fürsichsein. - ..Sein' erscheint allerdings nicht als Kapitelüberschrift (vgl. 1,65). - Die einteilenden Titel geben Hinsichten an: Unbestimmtheit, relatives Bestimmtsein, absolutes Bestimmtsein (vgl. I, 147). Sie gelten von den durchlaufenen Bestimmungen, sind qualitative Hinsichten, Statusbestimmungen von qualitativem Sein. Der Meta-Sinn des ,an sich' liegt dabei in der Stellung, die das Ansichsein hat zwischen [einerseits] der Entnommenheit vom Sein-für Anderes, also der Nicht-Inklusion von solchem, das inkludiert gehört - und andererseits auch dem Schon-Bestimmtsein im Sinne einer Bestimmung, die Umstände, Beschaffenheit usw. nicht inkludiert. Der Ausdruck eignet sich also dafür, die Ausgangsstellung von Bestimmtem gegenüber [Weiter- oder] Vollbestimmtem auszudrücken.,Dasein',,daseiend' würde dies nicht liefern; ,Sein' wird zwar gebraucht für den Fall der Unmittelbarkeit und der Entschränkung, kann aber nicht zum Ausdruck für die relative Bestimmtheit dienen, entfällt daher ebenfalls als korrelativer Metaterminus zu ,für sich'. Mit letzterem ist die Fertigbestimmtheit ausgedrückt; die Angemessenheit dieses Ausdrucks wurde bereits betrachtet. Hegel gebraucht vielfach ,an sich' und ,für sich' zur metatheoretischen Glossierung einer Stufe - und zwar jeweils so, daß ein noch nicht als dasund-das Gesetztes ,an sich' das sei, was das Gesetzte ist, von welchem gilt, daß es auch ,für sich' dasjenige sei. Ja, und es gibt zudem ,an und für sich' als Glossierung - was hier noch nicht näher erläutert sei. Die Seinslogik erweist sich nun als der Bereich, worin die Seins- und Denkbestimmungen entwickelt werden, welche von jedwedem Sein oder
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Seiendem gelten (auch von solchem eines entwickelteren Status wie reflexivem Sein, Sein als Identität von Sein und Wesen oder [Sein und] Begriff); und als in dieser Weise prinzipiell sind sie qualitativ*. Es scheint leichter zu fallen, qualitatives Sein negativ zu bestimmen (als nicht-quantitativ, nicht-wesenhaft, nicht-begriffsmäßig). Soll es positiv gefaßt werden, so möchten wir sagen, daß es von allem gelte, wo wir .Sein' sagen. Während Kant Qualität als Titel einer Kategoriengruppe separierte und darunter (parallel zu ,bejahend', .verneinend' und .unendlich' der Urteilstafel) „Realität", „Negation" und „Limitation" verstand [vgl. KrV A, S. 70, 80] - man könnte auch sagen: Bestand, Nichtbestand und bedingter Bestand von etwas -, denkt Hegel Qualität bestimmtheitstheoretisch und näher so, daß ihr Übergreifen auf andere Kategorien verständlich wird. .Qualität' faßt Seinsstrukturen, die von allem .Seienden' gelten; Hegels Ausweis dafür ist, daß sich sämtliche ontologischen Kategorien als rekonstruierbar erweisen mit den Mitteln von Sein und Negation. Qualitative Strukturen sind somit nicht nur in allem aufzeigbar (im Sinne von .darinliegend'), sondern sie sind Prinzipien für konkreteres Sein und Seiendes - wird doch Nicht-Qualitatives aus ihnen entwickelt. Um das Qualitative also positiv zu bestimmen, muß die Anfänglichkeit und Ursprünglichkeit dieses kategorialen Bereichs dargetan werden, und vielleicht hat unsere Verfolgung der Hegeischen Argumentation davon überzeugt. Der Nachweis liegt in der Wahl der Denkmittel und in der Durchführung der Schritte hin zu konkreteren Bestimmungen, einmal im Qualitativen selbst, dann auch darüber hinaus.51 Neben der linearen Entwicklung aus Sein und Negation ist es die Architektonik der Weiterbestimmung, welche zum Ausweis für den Prinzipanspruch der qualitativen Bestimmungen wird. Dies gilt hinsichtlich der Großgliederung .Sein, Wesen, Begriff, die als Analogat zu .Sein, Differenz und Schließung' gelten kann,52 es gilt ebenso für die Durchlaufung einer Sphäre oder Subsphäre, wo .neue Unmittelbarkeit', ,an sich' und .für sich' spielen, so daß am Schluß ein oberstes architektonisches und letztes lineares Fürsichsein steht, die absolute Idee. Die Iteration: thema-
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Dem .Existentialismus' zugerechnete Philosophen [wie Kierkegaard, Heidegger, Sartre] charakterisieren konkrete Sachlagen [wie diejenige des Menschen in seiner Existenz] mittels qualitativer Prinzipbestimmungen [Sartre unter expliziter Verwendung der Termini ,an sich' und ,für sich']. Daraus ergeben sich Mängel [einer zu weitgehenden Abstraktion]. Siehe K. Hartmann, Gründzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik [in: ders., Die Philosophie J.-P. Sartes, Berlin 1983; vgl. etwa S. 120 ff.].. Allerdings ist bei der Heranziehung seinslogischer Differenz zur Deutung des Wesens und seiner Kategorien nur mit bloßer Analogie statt strenger Prinzipiierung zu rechnen.
Ansich, Fürsich und die Deutung der Qualität
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tisches Prinzipiat des Fürsichseins in ,an sich'-, dann ,für sich'- (oder auch in ,an und für sich'-)Position ist Hegels Denkmittel. Der Anspruch in dieser Deutung des qualitativen Seins macht auch verständlich, weshalb Hegel die klassischen Kategorien Quantität und Qualität umrangiert - im Verhältnis zu Kant aber auch zu Aristoteles53 -, so daß Qualität vorausgeht (vgl. I, 64 f.). (Bei Aristoteles ist eine Rationalisierung nicht erkennbar; bei Kant liegt wohl teils eine Übernahme vor, teils vielleicht auch eine Ordnung nach Anschauung als vorgängig, Vorkommen, Intensität und begriffliche Formung als nachfolgend.)54 Zusammengefaßt ist Hegels Pointe im Zusammenhang mit dem qualitativem Sein, daß die entsprechenden Bestimmungen als thematische entwickelt werden - in einer Genealogie ontologischer Bestimmungen -, aber insofern sie qualitative sind, metatheoretischen Charakter haben, eben weil wir mit qualitativen Kategorien jegliches Sein in abstracto schon bestimmen. Anders gesagt, hierin liegt die systematische Hermeneutik Hegels: in einer begründet-thematischen Aufstellung qualitativer Begriffe, welche die Theorie als Ontologie beherrschen. (Dies gesagt unter der Erwartung und Voraussetzung, daß alles regelmäßig weitergeht.)
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Freilich erfolgt die Rangierung bei Aristoteles nicht explizit. „Die erste [Anmerkung] ist: daß sich diese Tafel, welche vier Klassen von Verstandesbegriffen enthält, zuerst in zwei Abteilungen zerfallen lasse, deren ersterer auf Gegenstände der Anschauung (der reinen sowohl als empirischen), die zweite aber auf die Existenz dieser Gegenstände [...] gerichtet sind." „Die erste Klasse würde ich die der mathematischen, die zweite der dynamischen Kategorien nennen. Die erste Klasse hat, wie man sieht, keine Korrelate, die allein in der zweiten Klasse angetroffen werden" (KrVB,S. 110). Anm.d. Hrsg.
Drittes Kapitel Quantität und Maß Hegel folgt einem ontologischen Programm, wenn er die Quantität nach der Qualität zum Thema macht. Anders als in der Aristotelischen oder scholastischen Ontologie wird Quantität - wie ja auch Qualität nicht als Kategorie für Akzidentielles, Substantiellem Anhangendes vorgeführt (so wenig ein solcher Status bestritten wird, er ist nur ,später'1). Quantität erscheint vielmehr als (relativ) ,frühe' Gestalt des Seienden.2 In seiner Auffassung von ihr, im Umfang des darunter Befaßten ist Hegel an die (Kant miteinschließende) Tradition gebunden: er behandelt mathematische bzw. geometrische Gegenstände, gibt ontologische Deutungen von kontinuierlicher Größe und Zahl, von Rechenarten und mathematischen Gebilden wie Potenz und Differentialquotient. Damit wird ein kontroverses Feld beschritten. Zum einen, weil unter dem Motto ,Quantität' auf den Raum Bezug genommen wird (mit Blick auf die Kantische Lehre von Raum und Zeit als Totalanschauungen oder Matrices), während es sich in der Seinslogik nicht schon um eine regionalontologische Inanspruchnahme des Raums handeln kann.3 Zum anderen, weil die Darstellung von Mathematischem unter dem Motto ,Quantität' zwar offensichtlich der Tradition entspricht, der Tatsache aber nicht gerecht wird, daß nach heutigem Verständnis ganze Bereiche der Mathematik anders aufgebaut werden; für Algebra und Analysis benötigt man nur ganze Zahlen,4 welche 1 2 3
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D.h., die kategoriale Struktur Substanz-Akzidenz folgt nach der Theorie-Architektonik später, nämlich in der Wesenslogik. Anm. d. Hrsg. Kant kann als Vorbild für eine solche Eigenständigkeit der Quantität gelten, wenn er sie auch in der Abfolge der Kategorien anders plaziert. Die Einordnung der Geometrie in die Mathematik als „dimensionale Mengenlehre" (so A.N. Whitehead, Einführung in die Mathematik, Bern 21958, S. 140) ist Hegel noch nicht geläufig. Für ihn mußte sich das Problem des Verhältnisses von Geometrie und Mathematik stellen, deren Zugehörigkeit zur Logik oder zur Naturphilosophie hätte geklärt werden müssen. [Zur Terminologie: „die Bezeichnung .dimensional' ist deshalb eingeführt worden, weil die Einschränkungen, welche sie nur zu einem Teilgebiet der allgemeinen Mengenlehre machen, so beschaffen sind, daß einzig die genauen Beziehungen zwischen Geraden und Ebenen und der Ebenen zum ganzen Räume ausgedrückt werden" (Whitehead, ebd. - aus dem Englischen von B. Schenker.] Hinsichtlich der Analysis ist wohl gemeint, daß sich rationale, reelle, komplexe Zahlen aus den ganzen Zahlen konstruieren lassen (und diese wiederum aus den natürlichen). Anm. d. Hrsg.
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wiederum mengentheoretisch definiert werden können, ganz abgesehen von projektiver Geometrie oder Gruppentheorie, die [im wesentlichen] weder mit Quantität noch Zahlen operieren.5 Die Machart der Hegeischen Logik, ihr Programm, besagt, daß Quantität in einen Herleitungszusammenhang eingestellt sein muß; ihr Platz ist der auf Qualität folgende, und so ist sie ein aus Qualität Entwickeltes; von daher kann sie auch als auf Qualität bezogen aufgefaßt werden. Dies ist eine gegenüber der philosophischen Tradition neue Idee, vergleicht man das Vorhaben etwa mit Kant, bei dem (in der transzendentalen Deduktion') Urteilsformen zunächst nach ihrer Quantität aufgegriffen werden, was dann zur Quantität als erster Kategoriengruppe führt (siehe oben S. 87) [vgl. KrV B, S. 95,105]. Das Hegeische Verfahren leuchtet ein, wenn man bedenkt, daß das qualitative Sein die Sphäre der Prinzipien und Metabestimmungen der gesamten Ontologie ist. Innerhalb der Theorieanlage der Logik sind Qualität und Quantität Teilbereiche der Seinslogik; dem, was in der Aristotelischen und scholastischen Tradition akzidentielle Bestimmungen waren, wächst so die Deutung zu, Seinsgestalten zu sein, die noch nicht zu den Ebenen des Wesens oder des Begriffs gehören. Dies ist Hegels systemtheoretischer Ausdruck für die Unselbständigkeit beider. Oder genauer: wenn Qualitatives Abstrakt-Selbständiges ausmacht, so ist Quantitatives insofern unselbständig, als es im gegebenen Fall auf ,Sein* zurückbezogen wird, „am Sein" ist (I, 170), oder der Quantität „ein Sein als Bleibendes zugrunde liegt" (1,178). Qualität und Quantität werden, gleichsam um einer dreigliedrigen Architektonik der Seinslogik zu genügen, durch die Kategorie ,Maß' ergänzt. (Je nach Beurteilung der Ursprünglichkeit dieser Kategorie wäre für Qualität und Quantität als den eigentlich seinslogischen Kategorien die Irregularität einer zweigliedrigen Disposition festzustellen - entgegen der üblichen Hegeischen Architektonik.) Wir gehen im folgenden so vor, die für Quantität maßgebende Seinsdeutung zu pointieren, daran anschließend die Darstellung bzw. Herleitung mit Hegels Mitteln vorzuführen und auf Stringenz zu untersuchen.
Vgl. T. Pinkard, Hegels Philosophy of Mathematics, Philosophy and Phenomenological Research, Vol. XLI 1980/81, S. 459. Pinkard stützt sich auf B. Russell, The Principles of Mathematics, Cambridge 1903, S. 157 f. - Entsprechend seiner anderen Themenstellung versucht Pinkard herauszustellen, daß Hegel in gewisser Weise der Mathematik gerecht geworden ist, während wir die an der Quantität festgemachte ontologische Sichtweise Hegels im Auge behalten müssen.
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1. Die Konzeption der Quantität Eine Hinführung zu Hegels Deutung der Quantität - für die er auch „Größe" sagt (I, 177), während ,Größe' andererseits für ihn schon ,Quantum1 ist (vgl. I, 178,196) - läßt sich wie folgt geben: „Am Etwas ist seine Grenze als Qualität wesentlich seine Bestimmtheit. Wenn wir aber unter Grenze die quantitative Grenze verstehen, und z.B. ein Acker diese seine Grenze verändert, so bleibt er Acker vor wie nach" - dies ein Beispiel der extensiven Größe; oder: „Ein Rot, das intensiver oder schwächer ist, ist immer Rot" - als Beispiel der intensiven Größe (I, 178). „Die Bestimmung der Größe als Quantum, wie sie sich oben ergeben hat, daß ein Sein als Bleibendes zugrunde liegt, das gegen die Bestimmtheit, die es hat, gleichgültig ist, ergibt sich an jedem ändern Beispiel" (ebd.). Es gibt eine kategoriale Dimension derart, daß ihre Bestimmtheiten dem qualitativen Sein gleichgültig sind. In dieser Dimension gibt es bestimmungsgebende Gegensätze, die nicht qualitativer Art sind, weil Gleiches (im Sinne von Gleichartigem) aneinandergrenzt. Die zur Skizzierung der Konzeption von Quantität herangezogene Stelle ist allerdings mit Vorbehalt zu nehmen, weil sie schon das Quantum, also begrenzte Quantität, heranzieht, sich deshalb anschaulicher Evidenz bedienen kann, und weil sie die gesuchte Unterscheidung in einem Dreierverhältnis sichtet, und zwar von Quantität^ Quantität^ und Qualität. Gleichgültigkeit wäre eine gegenüber einem Etwas, dem Qualitativen. Gemeint ist aber auch Gleichgültigkeit in einem Zweierverhältnis, wonach Qtj (Quantität) sich ohne qualitativen Gegensatz in Qt2 hinein kontinuiert: Gleichgültigkeit von Größen inter se, die das typisch Quantitative für sich kennzeichnet, aber hier noch nicht näher zur Geltung kommt. Ausgehend von der Unterscheidung oder Unterteilung innerhalb eines qualitativ Gleichartigen - Hegel spricht von einer Grenze, „die keine ist" (I, 170, ähnlich: I, 177) - entwickelt sich eine Bestimmtheit neuer Art, die quantitative. Quantitatives kontinuiert sich in seinesgleichen, so sehr es auch eine (aber nicht qualitative) Grenze aufweist, wodurch für bestimmte Quantität aufgekommen werden kann. Die Rede von einer Grenze, die „am Sein, aber ihm gleichgültig ist", spricht das Verhältnis von Quantität und Qualität an; Quantität ist von der Qualität her entwickelt (I, 170). Eine Frage wird sein, ob sich Hegels Grundlegung für reine Idealia wie die Zahlen eignet, oder ob vielmehr die Idee von ,res numeratae' doch noch maßgebend ist. Oder wäre dies ein vorstellendes Verständnis der Beziehung von Quantität zu Qualität? Im Dreierverständnis von Gleichgültigkeit muß man sagen: das Etwas als
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qualitatives ist gleichgültig gegen quantitatives Sich-Kontinuieren; es liegt kein qualitativer Gegensatz vor, der inhaltlich relevant wäre (vgl. die Beispiele „Acker" und „Rot"). D.h., die Deutung des Quantitativen ist abhängig vom Qualitativen als Bezugspunkt: die Gleichgültigkeit ist eine des Qualitativen gegen den neuen bestimmungsgebenden Gegensatz, gegen Größe. Im Zweierverständnis hat das Quantitative selbst durch Kontinuität und Idealität einen eigenen Modus der Gegensätzlichkeit und damit der Bestimmtheit. Hier wäre der Ort für quantitative Idealia. Die skizzierte Lösung ist nicht einfach eine der Reduktion - daß der quantitative Gegensatz übrigbleibt, wenn von einem qualitativen abgesehen wird -, denn bei Qualität war der quantitative Gegensatz gar nicht mitthematisiert. Die neue Bestimmtheit ist allererst hergeleitet als aus dem Qualitativen hervorgehender Sonderfall und zugleich dessen Aufhebung, als Fall nämlich, in dem ein Etwas unterteilbar ist und somit Gleichartige als aneinandergrenzend aufgefaßt werden können. Das Novum wäre eine Art Äußerlichkeit in den Beziehungen der Relate. Das Wort ,Äußerlichkeit' war auch in Darlegungen zur Qualität vorgekommen als Beziehungstyp, bei dem ein Relat keinen Unterschied am anderen Relat stiftet, oder zumindest so betrachtet wurde. Die Hegeische Meinung ist wohl, daß die Quantität sich auf solche Beziehungen beschränkt, die hier positiv ausgedrückt, ,gleichgültige' heißen (aber auch dies Wort war schon bei Qualität vorgekommen). Als Qualitatives und Quantitatives übergreifend ist ,Äußerlichkeit' eine Metabestimmung, die für die Deutung des Quantitativen nicht zureichend ist. Die Äußerlichkeit im Quantitativen ist eine von qualitativ Gleichen. Allerdings kann vor Einführung der bestimmten Quantität (des Quantums) nicht ohne Rekurs auf Qualitatives gesagt werden, was an den einander Äußerlichen gleich ist. Das quantitativ Gleiche und Ungleiche erwächst erst aus dieser Überlegung. 2. Die qualitative Anbahnung der Quantität Unsere nächste Aufgabe muß, wie gesagt, sein, die Anbahnung und erste Entfaltung der quantitativen Seinsdeutung mit Hegels Denkmitteln zu untersuchen. Wir gehen hierfür zurück auf Stellen im Kontext des Fürsichseins. Zur Entwicklung der Quantität aus dem Fürsichsein als ,Eins' (als ,intern' zu Fürsichseiendem bestimmtes Fürsichsein) verfügt Hegel schon über ein Instrumentarium: das negative Moment (das in der Unterschiedslosigkeit der Momente des Fürsichseins implizit bleibt) muß um
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der Unmittelbarkeit willen jSein': das Eins selbst erscheint als in Realität umgeschlagene Idealität, und um der Unmittelbarkeit willen werden sich auch die in Unterschiedslosigkeit zusammengesunkenen Momente geltend machen (vgl. I, 154). Die Unterschiede sind als seiende gesetzt, das Negative wird ein von ihm, dem Eins, unterschiedenes Anderes sein (nach Maßgabe noch der qualitativen Seinslogik). Hegel rekapituliert zunächst das Eins als „gesetztes Insichsein", in dessen Selbstbestimmen und Insichzurückgekehrtsein alle Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit verschwunden ist: „Es ist nichts in ihm" (I, 155). Hegel verselbständigt diese Sachlage zu einem Nichts, das das Insichsein, welches schon durch eine Negationsentwicklung hindurchgegangen ist, qualifiziert: „Das Nichts als Leeres" ist zunächst erschlossen als interne Bestimmtheit, als „Qualität des Eins" (I, 155), und wird dann angesichts der Verschiedenheit vom Sein extern gesetzt, als „Leeres außer dem seienden Eins" (I, 156).6 Die gewonnene Sachlage führt weiter in der Weise eines Bestimmungsfortschritts schon bekannter Art: das Leere ist das Andere, als „unbestimmtes Dasein" also „anderes Dasein" (I, 158). „Das Fürsichsein des Eins" bezieht sich als „Idealität des Daseins" zwar nicht „auf ein Anderes, sondern nur auf sich" (ebd.). Aber: indem es „als Eins, als für sich Seiendes, als unmittelbar Vorhandenes fixiert ist, ist seine negative Beziehung auf sich zugleich Beziehung auf ein Seiendes [...], bleibt das, worauf es sich bezieht, als ein Dasein und ein Anderes bestimmt" (ebd.). Das Andere wiederum ist „als wesentlich Beziehung auf sich selbst [...] nicht die unbestimmte Negation, als Leeres, sondern ist gleichfalls Eins. Das Eins ist somit Werden zu vielen Eins" (ebd.). Die Beziehung des Eins zu den vielen Eins nennt Hegel „Repulsion" (ebd.). Er meint zunächst eine solche „dem Begriffe nach", eine „an sich seiende" Repulsion, welche nicht viele Eins als schon vorhanden voraussetzt, sondern erzeugt durch das „das eigene Außersichkommen des Eins" (ebd.). (Die andere wäre „relative Repulsion" (I, 167), welche sich schon auf das Vorhandensein von anderen Eins stützt, aber auf die ,Repulsion an sich' zurückführbar ist vgl. 1,158). Die hier vorliegende Denkfigur, ist uns als Sich-Abstoßen schon begegnet. An früherer Stelle stand sie für ein Negieren des Endlichen durch sich selbst, so daß es Ausgreifen auf Unendliches wurde. Hier tendiert die Figur (angesichts des Fürsichseins als Eins) zu etwas anderem: wenn das Eins negative Beziehung auf sich ist, so ist das Ergebnis der Negation Streuung, Aufbruch einer Differenz, viele Eins. Diese Negation ist kon-
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Erwähnt sei eine Anmerkung Hegels zum Atomen und Leeren bei Demokrit (1,156 f.).
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struiert als Implikat der Idealität des Fürsichseins: es bezieht sich auf sich, indem es Anderes negiert; es hat dies Andere als sich; es bezieht sich auf sich als Seiendes negativ, bezieht sich auf ein Anderes, ein anderes Dasein, welches das Negat der inhaltlichen Bestimmung ,Eins' ist. Das Sein des Fürsichseins ist eigenes Sein, und als [Negat in seiner] Nichtidealität Oppositum. - Es darf nicht verwirren, daß es das Leere ist, welches als Seiendes genommen wird. Es darf auch nicht verwirren, daß einerseits das Eins als Idealität in Realität umschlägt, Seiendes ist, und doch eine negative Beziehung zu Seiendem als Oppositum der Idealität unterhält. Unter der Bestimmtheitsfrage wird nach gehabter Idealität das in ihr Negierte zum Bestimmunggebenden, und zwar als Negat der Idealität. Dabei ist das eigene Sein als Negat Nichtidentität, Nicht-Eins-Sein, viele Eins. Die kategoriale Ebene des Fürsichseins oder Eins ist schon vorgegeben, so daß das Negat als auf der Ebene des Eins Bestimmtes ist, nämlich die nicht das Eins seienden vielen Eins.7 Die Figur des Sich-Abstoßens erweist sich auf dieser Stufe als Gegenstück zur Bestimmtheitsdeutung beim Dasein (wo Negation die Form des Seins ist): hier ist die Negation des Seins als von etwas der Idealität Fremdem Setzung des Seins als Anderen im Sinne eines Gleichen. Dies ist auch bestimmunggebend (Ausgangspunkt für die Reihe quantitativer Bestimmungen), aber vorerst nicht wie bei der früheren Seinsdialektik konvergent zum Sein des Endlichen, sondern zur Diversifikation führend, zum ,Außersichkommen c der Identität oder des Eins. Hegel spricht von „außer sich gekommener Unendlichkeit" (I, 159).8 Die weitere Entwicklung bietet kaum Schwierigkeiten:9 mit der „Reptilsion" dem Begriffe nach (I, 158) sind die Eins „vorausgesetzte gegeneinander [...], gesetzt als nicht gesetzt; ihr Gesetztsein ist aufgehoben, sie 7
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Hier ist zum besseren Verständnis vielleicht eine Erläuterung angebracht. Das Fürsichsem ist die „Idealität des Daseins", aber sie ist es, anders als schließlich beim Begriff, nicht in dessen Selbstnegation (I, 158). Es kann daher gefragt werden, was ein solches Fürsichsein, dessen Bestimmtheit sich ganz aus der unendlichen Negation herleitet, und dem folglich keine ,innere' Bestimmtheit mehr zukommt, was also ein solches Fürsichsein ist. Die Antwort lautet, das „Leere", eine Leerstelle, weniger und zugleich Vermittelteres als Etwas, ein Eins; danach kann auch das ihm durch die Bestimmtheitsfrage (d.h. Negation) Zukommende und insofern von ihm Erzeugte keinen anderen Seinsstatus haben. Anm. d. Hrsg. Diversifikation zu den „vielen Eins" (I, 158). Anders als bei den bisherigen Kategorien führt die Bestimmung des Eins auf Grund von dessen .innerer Leere' zu keinem thematisch neuem Negat. Das Eins ist als solches einfach abgegrenzt gegen die vielen. Der auch aus diesem Verhältnis ableitbare Widerspruch ist ein „unbefangen sich hervorbringender" (I, 160) als Ausdruck für die bloße .Seinsseitigkeit' des Negats, entsprechend der „absoluten Beziehungslosigkeit des Eins" (I, 159). Anm. d. Hrsg. Erwähnt sei noch eine Anmerkung zur Monadenlehre von Leibniz (I, 160).
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sind Seiende gegeneinander, als sich nur auf sich beziehende" (I, 159). „Die Vielheit erscheint somit nicht als ein Anderssein, sondern als eine dem Eins vollkommen äußere Bestimmung. Eins, indem es sich selbst repelliert, bleibt Beziehung auf sich wie das, das zunächst als repelliert genommen wird. Daß die Eins andere gegeneinander, in die Bestimmtheit der Vielheit zusammengefaßt sind, geht also die Eins nichts an [...]. Ihre Beziehung [...], wie sie hier gesetzt ist, ist als keine bestimmt; sie ist wieder das vorhingesetzte Leere. Es ist ihre, aber ihnen äußerliche Grenze, in der sie nicht füreinander sein sollen. Die Grenze ist das, worin die Begrenzten ebensosehr sind als nicht sind" (ebd.). Repulsion hat also den Doppelsinn, Sich-Abstoßen des Fürsichseins (oder Eins) von sich zu sein, und Sich-Ausschließen vom Sein als den Vielen. „Die Vielheit der Eins ist die Unendlichkeit, als unbefangen sich hervorbringender Widerspruch" (1,160).10 Es bedarf noch des Schrittes, nach dem Repellieren (als Ausschließen des Eins) die dadurch gestiftete Einheit in Betracht zu ziehen. „Die Eins sind nicht nur, sondern sie erhalten sich durch ihr gegenseitiges Ausschließen" (1,161).11 Sie haben ihr Ansichsein „gegen ihre Beziehung auf Anderes; dies Ansichsein ist, daß sie Eins sind. Aber dies sind Alle" (I, 162). Ebenso ist das gegenseitige Negieren „eine und dieselbe Bestimmung Aller, durch welche sie sich also vielmehr als identisch setzen [...]. Sie sind hiemit ihrem Sein und Setzen nach nur Eine affirmative Einheit" (ebd.). Es handelt sich also beim Repellieren [zugleich] um ein „Mit-sich -zusammengehen", um eine Reziprozität des Einsseins; jedes Eins hat einen nicht-gegensätzlichen Horizont (ebd.).12 - Hegel entwickelt entsprechend als Gegenstück 10
Das Sich-Abstoßen ist also nicht ohne Widerspruch: es erweitert das Eins zu vielen Eins, aber so sehr es Kontinuität eröffnet, dient es als Repulsion dem Abhalten dieser Eins vom Eins und voneinander, dient also der Diskretion. [Man möchte den Akzent allerdings genau umgekehrt setzen: Repulsion ist das Sich-Abstoßen des Eins, das Abhalten der vielen Eins von ihm; aber dennoch sind diese Vielen Negat des Eins und also in Kontinuität mit ihm.] 1 ' Der Begriff ,das Eins' dient der Darstellung von Pluralität vor der Aufteilung in diskrete und kontinuierliche Pluralität. Der letzteren liegt für Russell ein anschaulicher, naiver oder .philosophischer' - Begriff von Kontinuität zugrunde, den er im Blick auf das arithmetische Kontinuum nicht bejaht. [Zur Erläuterung: Russell moniert, daß dieser Begriff der Kontinuität oder des Kontinuums als die Attraktion in der Quantität keinen Bezug zur Ordnungsrelation enthalte - als für das mathematische (oder arithmetische) Kontinuum konstitutiv ist; vgl. Russell, Principles of Mathematics, S. 346.] 12 .Horizont' oder .Außenhorizont' als Hartmanns Terminus für das Bestimmungs-Negat. „Nicht-gegensätzlich" (Hartmann) ist dieser Horizont, weil das „Mit-sich-zusammengehen" der vielen Eins eine reziproke „Identität" ausdrückt, „in welche ihr Repellieren übergeht" als „das Aufheben ihrer Verschiedenheit und Äußerlichkeit, die sie [,..] gegeneinander als Ausschließende behaupten sollten" (I, 162 f.). Anm. d. Hrsg.
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zur Repulsion die Attraktion" (I, 163). Attraktion steht demnach für die Idealität des Eins, das „in-ein-Eines-setzen der vielen" (ebd.).13 Beide, Repulsion und Attraktion, werden einander gegenübergestellt und nach ihrer Beziehung betrachtet (vgl. I, 165 ff.).14 Die Repulsion erscheint unmittelbar gleichgültig gegen die Attraktion. Aber - wir können es abkürzen - Repulsion ist Beziehung, Verbindung, nicht nur „Abhalten und Fliehen" (I, 166). Beide, Attraktion und Repulsion, sind interdependent - untrennbar wiewohl verschieden.15 Sie bedeuten zusammen die Setzung von quantitativ Anderem und das gleichgültige Sich-Kontinuieren in solch Anderes. Die Gleichgültigkeit (als quantitative Bestimmung im Sinne einer Zweierbestimmung) ist dabei fundiert auf der kategorialen Ebene des Fürsichseins oder des Eins (was bei Qualität nicht vorlag). Oder: das Andere des Eins ist gleichartiges (einshaftes, quantitatives) Anderes. Damit erscheint der Herleitungszusammenhang der Quantität von der Qualität aus als gestützt, ja zwingend; das Quantitative ist das Konkretere, insofern es sich durch ein bestimmtes Oppositum auf der Ebene von Eins und nicht durch ein qualitatives ,non-ac bestimmt.16 Im Ergebnis ist das typisch Quantitative als ,Sein' eine Spannung, ein Werden, ein Prozeß, in dem Zerstreuung des Eins zu Vielen und Rücknahme in sich liegen - Entfaltung der äußerlichen Beziehungen und Mitsich-Zusammengehen (vgl. I, 169). „Das Eins ist zugleich als über sich hinausgegangen und als Einheit bestimmt, das Eins damit, die schlechthin bestimmte Grenze, als die Grenze, die keine ist, die am Sein, aber ihm gleichgültig ist, gesetzt" (I, 170).17 13
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Auch die Attraktion ist nicht ohne Widerspruch: sie sichert gleichsam die Verbindung zu den vielen Eins und faßt so das Kontinuum zusammen, steht aber darin für eine Rückkehr zur Idealität. [D.h. wohl, die Attraktion gewinnt das Eins aus dessen Zerstreuung zwar wieder, aber nur als das die vielen Eins „unbefangen", also unbezogen, setzende (1,160).] Erwähnt sei noch eine Anmerkung zu Platons .Parmenides' [vgl. 1,163 f.]. Hegel assoziiert die Interdependenz von Sollen und Schranke (vgl. I, 166). .Konkreter' im Sinne von .vermittelter'. Das Bestimmungs-Negat liegt immer auf demselben kategorialen Niveau wie das an sich Gegebene. - Man kann einwenden, daß Ausdrücke wie .Konkretion' oder .Vermittlung' den Qualitäten des .Eins' widersprächen, dessen absoluter Beziehungslosigkeit - oder der Seinsseitigkeit seines Anderen (vgl. I, 159). Doch ist zu bedenken, daß die genannte Bestimmung oder Negation des Eins zwar die seine ist, also keine von .äußerer Reflexion' herangetragene, daß es sich aber anderseits auf der Ebene der Seinslogik um keine Selbstreflexion des Eins handelt. Gerade daß aber die Beziehungslosigkeit des Eins sich in seinem Negat spiegelt, den von ihm repellierten (und dann auch attrahierten) vielen Eins, ist Ausdruck der erreichten Vermittlung. Anm. d. Hrsg. Vgl. Hegels Anmerkung zu Kants Deutung von Attraktion und Repulsion als Kräften (1,170 ff.).
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Quantität und Maß
Ein Vorschlag, das von Hegel Aufgestellte zu verstehen, ist der, die Hegeische Denkfigur von Eins und Vielen als Klasse und deren Elemente aufzufassen.18 Das Eins wäre die Klasse als eine, die Eins wären die Klasse als Viele, als Inbegriff ihrer Elemente. Der Klassenbegriff - Hegel verwendet für den Vielheitsaspekt des in der Attraktion Geeinten den Ausdruck „Menge" (1,164, 213) - der Klassenbegriff also wäre nötig, um Pluralität zu erfassen. Die Vielen, in Repulsion genommen, wären ein Haufen, für den die Hinsicht des Zusammengehörens als Elemente einer Klasse fehlte: sie wären nur „Materie" (I, 164) oder „Realität" (so Pinkard, a.a.O., S. 458), führte nicht die Repulsion auch die Identitätshinsicht19 herbei, die in der Attraktion zum Ausdruck kommt - nämlich Eins zu sein. Die Denkfigur von Eins und Vielen, durch Repulsion und Attraktion expliziert, lieferte so die Klasse und deren Elemente - letztere unter Hinsicht ihrer Zugehörigkeit zu der Klasse. Diese Hinsicht ist die für Quantität konstitutive, die Hinsicht des Eins. Wenn wir richtig sehen, entwickelt Pinkard seinen Gedanken dann weiter, hin zu mehreren verschiedenen Klassen, womit für quantitative Verschiedenheit aufgekommen wäre.20 Der Vorschlag scheint verlockend, doch Hegel will hier noch gar nicht für Klassen unterschiedlicher Größe aufkommen, sondern für Pluralität in Einheit. Sagt man, er wolle Pluralität als Klasse fassen, also als ,EinsKlasse', so erscheint die Konstitution von Pluralität ersetzt durch die Zulässigkeit einer Variable und der Elementrelation ,e'. Ob es ein Argument für die Variable gibt, ob mit der ,Eins-Klasse' eine Menge gegeben wäre, müßte offen bleiben.21 Das mit Pluralität ontologisch Affirmierte bliebe 18 19 20
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So Pinkard, a.a.O. [S. 457 f.]. Oder „Idealität" (Pinkard, ebd.). Anm. d. Hrsg. „The important point is that Hegel is claiming that classes (die Eins, the ones) are necessary for thinking about pluralities, for to say of any sets of units that they are distinct is to employ the notion of a class for doing so. I.e., to say that y, is to say that (3 ) ( € & -iy e ), where denotes a class. The concept of purely quantitative difference can thus be generated out of the discussion of classes" (Pinkard, a.a.O., S. 458). Zur Terminologie: die axiomatische Mengenlehre ist bekanntermaßen außerordentlich komplex und uneinheitlich. Aber schon G. Cantor unterschied zwischen „konsistenten Vielheiten" (oder Mengen) und „inkonsistenten", die nicht als „Einheiten" aufzufassen seien. Diese, später als eigentliche Klassen' bezeichnet und mit der ersten Gruppe zu den .Klassen* überhaupt zusammengefaßt, erlauben deshalb auch keine neue Mengenoder Klassenbildung mit ihnen als Elementen (vgl. etwa J. Schmidt, Mengenlehre, Mannheim 21974). - Vielleicht ist Hartmann hier so zu verstehen: die Konzeption des Hegeischen ,Eins' entspricht insofern genau der einer Klasse, als jedes aus der repellierenden und attrahierenden Vielheit und nicht deren unthematisierte Gesamtheit dies selbe Eins bildet. Zum einen ist aber der Unterschied zwischen Menge und Klasse mit Hegeischen Mitteln nicht beschreibbar. Zum anderen betont die Mengenlehre immer
Reine Quantität oder Quantität als begriffene
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hypothetisch, so wenig Zweifel daran beständen, daß die ,Eins-Klasse£ gefüllt ist.22 Pluralität wäre nicht verstanden, sondern nur zugelassen.23 Man könnte höchstens sagen, Hegel gebe eine Theorie für die Zulässigkeit [der Beschreibung] von Pluralität durch Variable und Elementrelation im Klassenbegriff, und vielleicht wollte Pinkard dies sagen.
3. Reine Quantität oder Quantität als begriffene Das Miteinander von Repulsion und Attraktion, Sich-Abstoßen und Rückkehr zu sich, ist ein Fall von - für die Seinsart des Quantitativen typischer - Gleichgültigkeit, und zwar [der Gleichgültigkeit] von Eins und Pluralität (was zur Klassendeutung Anlaß geben konnte) und [der] von gleichgeordneten Eins: das Fürsichseiende schließt sein Anderes nicht qualitativ aus, sondern setzt sich in seinem Anderen affirmativ fort oder „verhält sich identisch zu dem Ändern" (I, 179). Die Beziehung ist nicht mehr qualitativ (die Bestimmheit ist „nicht mehr unmittelbare Bestimmtheit des daseienden Etwas"), sondern „ist gesetzt, sich als repellierend von sich, die Beziehung auf sich als Bestimmtheit vielmehr in einem ändern Dasein (einem fürsichseienden) zu haben" (I, 177). In dem affirmativen, durch die kategoriale Ebene des Eins ermöglichten Sichfortsetzen, in der Kontinuität des Eins in das Andere als seinesgleichen tritt das Dasein wieder hervor (eben als Anderes);24 dessen Bestimmtheit ist gegeben durch die Beziehung, die es durch Repulsion unterhält, worin es sich auf sich bezieht und damit Bestimmtheit in einem [kontinuiert-]anderen Dasein hat. Eins und kontinuierlich Anderes sind gleichgültige, da zwischen Gleichen liegende Grenzen; „so ist die Bestimmtheit überhaupt außer sich, ein sich schlechthin Äußerliches und [dem] Etwas ebenso Äußerliches; solche Grenze, die Gleichgültigkeit
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die Beliebigkeit der in einer Menge oder Klasse zusammengefaßten Elemente, welche nur .wohlunterschieden', d.h. etwas Bestimmtes oder ein bestimmtes Etwas, sein müssen. Diese Beliebigkeit entspricht nicht dem mit ,Eins' erreichten Vermittlungsgrad. Anm. d. Hrsg. Obwohl man also davon ausgehen kann und muß, daß es Elemente gibt, welche die e Relation erfüllen. Anm. d. Hrsg. Der Unterschied beider Sehweisen ist gegeben, so sehr sowohl bei der Elementrelation der Klasse als auch bei Hegels Pluralitätskonzeption der Umfang der Menge offenbleibt. Ein Ausdruck für das letztere ist bei Hegel die .Gleichgültigkeit' des quantitativen Gegensatzes. D.h., es stellt sich in Hegels Theorie wieder die Frage nach der Bestimmtheit: hier der Bestimmtheit dieser Kontinuität. Anm. d. Hrsg.
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derselben an ihr selbst und des Etwas gegen sie, macht die quantitative Bestimmtheit desselben aus" (I, 177).25 Diese Bestimmtheit ist zunächst eine metatheoretische; noch nicht erreicht ist die Bestimmtheit der Quantität als Quantum. Oder: was Hegel erhält, ist die Substruktion für eine Seinsdeutung, für die Quantität als Seinsweise, als ein durch gegenläufige Beziehungen ausgezeichneter Beziehungssachverhalt (Repulsion für Diskretion, Attraktion für Kontinuität), charakterisiert als ein Außereinander, das auch Stetigkeit ist (vgl. I, 179 f.). Bezogen auf die Differenz von ,Seinc und ,Seiendem', gehört Quantität (wie Dasein) zu Sein, ist Seinsweise, noch nicht deren Seiendes, das Quantum. Anders ausgedrückt, Quantität als solche, noch nicht in ihre Momente auseinandergetretene und noch nicht begrenzte, Quantum gewordene, ist Prinzipausdruck. Mit größerer Konkretion sind das auch Raum und Zeit.26 Die Hegeische Theorie der Quantität bis hierher zeichnet sich dadurch aus, daß sie mit Repulsion und Attraktion ein Denkmittel zum Verständnis von Quantität hat, noch vor der zahlenmäßigen Fixierung von Extensität und Intensität. Sie stellt zunächst die „reine Quantität" auf und ,unterläuft' so arithmetische und geometrische Quantitätsauffassungen, die sie dann in äußerster Abstraktion erst entwickelt (I, 179 f.). Diskrete und stetige Größe sind dabei gleichermaßen abgedeckt.27 Das Eins ist, anders ausgedrückt, noch nicht so und so Großes, sondern nur Eins, quantitativ noch nicht bestimmter Einheitsanspruch; von einem solchen kann man sagen, es gehe unter der Bestimmtheitsfrage über sich hinaus, es setze vielerlei seinesgleichen (die noch nicht Quanta oder Strecken sind). Das Viele ist unmittelbar zu ihm, so wie das Kontinuum noch keine
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Zitiert wurde an dieser Stelle nach der Ausgabe in den ,Gesammelten Werken', welche in der Textergänzung von der Lasson-Ausgabe abweichen (Bd. 21, Hamburg 1989, S. 192). Anm. d. Hrsg. „Bestimmtere Beispiele der reinen Quantität, wenn man deren verlangt, hat man an Raum und Zeit" (I, 182, vgl. E, §§ 254, 258; der Prinzipausdruck für die Zeit ist vergleichbar der Heideggerschen Zeitlichkeit - anstelle einer Kantischen Totalanschauung), „auch der Materie überhaupt, Licht usf., selbst Ich; nur ist unter Quantität, wie schon bemerkt, nicht das Quantum zu verstehen" (ebd.). [Und natürlich sind dies alles keine Bestimmungen oder Strukturen der Logik.] Ähnlich übrigens wie zu Kants Qualitäts-Auffassung gerügt werden kann, daß Kant nur den „Titel" aufführe, ohne die Kategorie zu behandeln (I, 64; vgl. oben), so könnte auch gesagt werden, daß Kant Quantität zwar als Titel aufführt, dann aber nur exemplifiziere (in Raum und Zeit, vorgefundenen Urteilsformen bzw. in den Kategorien der ersten Gruppe) und nicht begrifflich bestimme. Dies tut Hegel. - Er benutzt den Doppelaspekt von Kontinuität und Diskretion zur Kritik der Kantischen 2. Antinomie (vgl. 1,183 ff.).
Kontinuierliche und diskrete Größe
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Dimensionalität hat.28 Die Dialektik von Einem und (gleichen) Anderen genügt für das Gemeinte. Hegel leistet also die Wiederherstellung einer einheitlichen Quantitätskategorie im begrifflichen Medium; er hegreift Quantität - allerdings um den Preis, daß wir uns ein solches Einheitliches vor dem Quantum nicht vorstellen können.
4. Kontinuierliche und diskrete Größe Die weitere Bestimmung entwickelt aus der reinen Quantität die beiden Momente: kontinuierliche (extensive wie intensive) und diskrete Größe (Zahl) - als Formen oder „Arten" (1,195) der Quantität (vgl. 1,193 ff.). Der zweifache Momentcharakter ist dabei angelegt in Repulsion einerseits und Attraktion andererseits (oder Realität und Idealität) des Eins.29 Hegel beginnt mit der Kontinuität. Sie erscheint als „unmittelbare" oder mindere Einheit der beiden Momente, so sehr diese das Ganze bleiben müssen: sie „ist nur die zusammenhängende, gediegene Einheit [...] des Diskreten" (I, 193 f.). Die diskrete Größe folgt nach, ist sie doch das „Aufgehobensein" der Unmittelbarkeit (I, 194).30 Sie hat „das Eins zum Prinzip", ist „Vielheit der Eins" und ist „wesentlich stetig; sie ist das Eins zugleich als Aufgehobenes, als Einheit, das Sichkontinuieren als solches in der Diskretion der Eins" (1,195). Nach der Entwicklung dieses Unterschiedes dient das Oppositionsverhältnis beider Arten zur Darstellung 28 29
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Vgl. Anm. 3. Anm. d. Hrsg. Russell hat diesen Doppelaspekt des Hegeischen Quantitätsbegriffs diskutiert, und Pinkard hat darin eine Bestätigung für seine Klassendeutung gefunden. Was Hegel mit seinem Quantitätsbegriff meine, sei eine „collection" [vgl. Cantors Defintion der Menge als .Zusammenfassung'], die den Gegensatz von Identität und Verschiedenheit aufweise; Kontinuität steht dann für die Ununterscheidbarkeit der Elemente, Diskretheit für deren Unterschiedenheit [Pinkard a.a.O., S. 459 f.]. An dieser Stelle sollte hinzugefügt werden, daß Hegel betont, Kontinuität und Diskretion seien „nicht in Attraktion und Repulsion wieder aufzulösen", was ein Rückfall auf die Bestimmtheitsstufe der .reinen Quantität' darstellte (I, 193). Die Kontinuität ist vielmehr „gesetzt" als „nicht mehr nur Moment, sondern ganze Quantität, kontinuierliche Größe" (I, 194). Dies kann wie folgt verstanden werden. - Fragt man, was die prinzipiell gewonnene Quantität denn nun bestimmt oder als ein Bestimmtes ist, so ergibt sich zunächst: eine Größe innerhalb des Kontinuums. Diese ist eine Größe durch die in ihm erfaßte „Menge von Eins", womit „jedoch nicht die Menge des Atomen und das Leere, die Repulsion überhaupt" sich wieder ergibt; die diskrete Größe ist so als „das Viele einer Einheit gesetzt" (ebd.). „Dabei sind die kontinuierliche und diskrete Größe noch keine Quanta" (1,195). Zu diesen gehört die Gleichheit des Bestimmten und (in der Bestimmung) Anderen, welche Gleichheit hier mit kontinuierlicher und diskreter Größe noch nicht gegeben ist, sondern erst in deren Aufhebung. Anm. d. Hrsg.
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Quantität und Maß
der Begrenzung von Quantität im Quantum. Hierfür geht Hegel von der diskreten Größe aus.31 Die diskrete Größe, „das Eins [...] als Aufgehobenes, als Einheit", ist „als Eine Größe gesetzt, und die Bestimmtheit derselben ist das Eins, das an diesem Gesetztsein und Dasein ausschließendes Eins, Grenze an der Einheit ist" (ebd.). Die diskrete Größe hat die kontinuierliche Größe zum externen Relat. Sie ist somit als Etwas gesehen, jenseits von dessen Grenze das Kontinuum beginnt. Auch vom Kontinuum her soll das einsichtig sein: die Grenze der diskreten Größe an der Kontinuität ist Grenze für beide, „beide gehen darein über, Quanta zu sein" (I, 196). Die Gedankenführung vermeidet es nicht ganz, die begriffliche Beziehung der diskreten und kontinuierlichen Größe von einer Veranschaulichung her zu verstehen: jenseits der diskreten Größe geht es anders weiter. (Die Mathematik hat im übrigen die Möglichkeit, mit dem arithmetischen Kontinuum den Gegensatz zu vermeiden.)32 Man kann noch in anderer Hinsicht Bedenken haben. Indem die diskrete Größe Eins zur Bestimmtheit hat (als Negat, das sie bestimmt, und als gesetztes Eins, als Einheit oder Eines), ist der Wert dieser Einheit, die eine Größe sein soll, noch nicht erschlossen; andere diskrete Größen sind auch Eins in einer Vielheit von Eins. Hegel scheint das zuzugeben, wenn er sagt, das „Quantum nur als solches" sei „begrenzt überhaupt" (I, 197).33 Es hängt danach an der Einführung der Zahl, ob Bestimmtheit über die metatheoretische des Quantums hinaus darstellbar ist. 5. Das Quantum als Zahl Das Oppositionsverhältnis von kontinuierlicher und diskreter Größe als Arten der Quantität (jede externes Relat der anderen) ist [wie zuletzt dargelegt] noch nicht ausreichend zur Darstellung der bestimmten Größe. Diese muß ,intern' - als Spiel von Einheit und Eins - gedeutet werden, nachdem nunmehr die Grenze aus dem genannten Oppositionsverhältnis 31
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Hegel wird, nachdem die Begrenzung der Quantität, das Quantum, eingeführt ist, mit der Zahl, also mit einer nicht-kontinuierlichen Größe, beginnen (vgl. I, 196) und extensives wie intensives Quantum nachfolgen lassen (I, 213). Es scheint, als ob man Hegels Gedankenführung auch ohne diesen Einschlag von Veranschaulichung verstehen könne: danach wäre das reelle Kontinuum gerade der vollkommene Ausdruck für die Einheit oder Aufhebung von kontinuierlicher und diskreter Größe im Quantum. Anm. d. Hrsg. D.h., das bestimmte Quantum ist eine Größe, aber nicht Eine. Schließlich gibt es unendlich viele Zahlen. Anm. d. Hrsg.
Das Quantum als Zahl
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in Anspruch genommen werden kann. Die Einheit steht für Kontinuität (das Moment, nach dem die Quantität gegen ihre Grenze gleichgültig ist), das Eins für [Diskretion als] das andere Moment, welches Grenze für die Einheit ist. Die für die Quantität gleichgültige Grenze ist für das Quantum nicht gleichgültig; sie bleibt als Eins (vgl. I, 196 f.).34 „Dies Eins ist also das Prinzip des Quantums, aber das Eins als der Quantität. Dadurch ist es erstlich kontinuierlich, es ist Einheit; zweitens ist es diskret, an sich seiende (wie in der kontinuierlichen) oder gesetzte (wie in der diskreten Größe) Vielheit der Eins, welche die Gleichheit miteinander, jene Kontinuität, dieselbe Einheit haben. Drittens ist dies Eins auch Negation der vielen Eins als einfache Grenze, ein Ausschließen seines Andersseins aus sich, eine Bestimmung seiner gegen andere Quanta. Das Eins ist insofern oc) sich auf sich beziehende, ß) umschließende, und ) anderes ausschließende Grenze" (1,197). Ist diese Bestimmung des Quantums noch gedacht als für kontinuierliche wie diskrete Größen gleichermaßen gültig,35 so soll das „Quantum in diesen Bestimmungen vollständig gesetzt", die "Zahl sein (ebd.). .Gesetzt' oder ausdrücklich wäre hier die Vielheit innerhalb einer Einheit. Die Zahl ist „das Quantum in vollkommener Bestimmtheit", weil eine bestimmte Vielheit vorliegt, die durch das Eins prinzipiiert ist, Einheit ist (ebd.). Sie hat Kontinuität, aber nicht die, „in der das Eins nur an sich, als Aufgehobenes ist"; vielmehr ist ihre Kontinuität die Einheit einer bestimmten Menge, einer Anzahl (ebd.; ähnlich I, 200). „Anzahl und Einheit machen die Momente der Zahl aus" (ebd.). Wenn die Anzahl als Moment bezeichnet wird, so soll dies besagen, daß sie „nicht als eine Menge von numerischen Eins die Bestimmtheit der Zahl" ausmacht; „diese Eins als gleichgültige, sich äußerliche, sind im Zurückgekehrtsein der Zahl in sich aufgehoben; die Äußerlichkeit, welche die Eins der Vielheit ausmachte, verschwindet in dem Eins als Beziehung der Zahl auf sich selbst" (I, 214). Oder anders formuliert: das Enthaltensein der Anzahl in der Einheit ist nicht so zu denken, daß nur das letzte Eins die bestimmte Zahl definierte. Am Beispiel von 100: unter den hundert Eins hat „keines einen Vorzug, da sie nur gleich sind; jedes ist ebenso das Hundertste" (I, 198). Wie in der Konzeption der qualitativen Grenze „durchdringt" die Grenze das Dasein (die Anzahl) der Zahl (ebd.).
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D.h., sie bleibt als Moment der Diskretion und Bestimmtheit dieses Quantums gegen andere Quanta - entsprechend der Weise des Eins. Anm. d. Hrsg. Allerdings sind kontinuierliche und diskrete Größe für Hegel offenbar noch keine Quanta (vgl. I, 195 u. Anm. 30). Anm. d. Hrsg.
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Quantität und Maß
Pinkard hat Hegels Bestimmung auf das Russellsche und von ihm in Hegel wiedererkannte Klassenkonzept bezogen (vgl. Pinkard, a.a.O., S. 459 ff.). Als Anzahl von quantitativen Einheiten einer Klasse ist die Zahl Anzahl von Einheiten, die ihrerseits Klassen sind, in einer anderen Einheit, welche wiederum für eine Klasse steht.36 So wäre Hegel der Definition von Zahlen als Klassen von Klassen nahegekommen.37 - Der Vorschlag wird nur mit Zurückhaltung gemacht. Und es ist auch schwerlich zu sehen, daß Hegel die Eins einer Zahl als Klasse aufgefaßt hat. Bezüge bei Hegels Zahl-Bestimmung bestehen wohl weniger zur Klasse (als einer bloßen Zulassung von Pluralität, wie oben angedeutet) als zur Menge.38 Die Zahl ist eine unter mehreren; sie hat einen Außenhorizont von anderen Zahlen. Dieser ist für Hegel durch [das Quantum als] die Bestimmung der Quantität eröffnet. Es muß einerseits metatheoretisch gelten, daß die Zahl gleichgültig ist gegen andere; aber die Gleichgültigkeit erscheint doch auch als [ihre] bestimmende Charakteristik: „Diese Gleichgültigkeit der Zahl gegen andere ist wesentliche Bestimmung derselben; sie macht ihr an sich Bestimmtsein, aber zugleich ihre eigene Äußerlichkeit aus. - Sie ist so ein numerisches Eins als das absolut Bestimmte, das zugleich die Form der einfachen Unmittelbarkeit hat und dem daher die Beziehung auf anderes völlig äußerlich ist" (I, 198). Die Zahl hat einen bestimmten ,Wert' nicht deshalb, weil sie andere Zahlen nicht ist, und
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Gemeint ist einfach die mengentheoretische Definition der .Originalzahlen' (natürlichen Zahlen) als Klassen gleich mächtiger Mengen (oder gleich mächtiger Klassen, wenn der Unterschied noch nicht gemacht werden soll). Anm. d. Hrsg. „This interpretation by Russell is important, for it gives added credence to our earlier interpretation of das Eins as the class as one and die Eins as the class as many. Continuity would then be the class as one, and discreteness would be the class as many. Hegel uses these notions to define the concept of number. The one (das Eins) is the .principle of the quantum' (WdL, p. 197), i.e., the model by which Hegel interpretes the notions involved in the quantitative units. Number is the amount of such units in a class .amount (Anzahl) and the unity (Einheit) constitute the moments of number' (ibid.). Number is therefore the .amount' of units (classes) in another unit (itself a .one', i.e., a class). Thus, Hegel was at least close (although it would be fatuous to say he achieved it) to defining numbers as classes of classes" (Pinkard, a.a.O., S. 459 f.). Der Unterschied zwischen einer in ihrem Umfang bestimmbaren Menge und der bloß durch ihre Elemente repräsentierten Klasse erscheint, wie gesagt, mit Hegeischen Bestimmungen nicht darstellbar (vgl. Anm. 20). Eine Vermittlung der Position besteht immerhin darin, die bestimmten Quanta oder Zahlen als Klassen von gleichmächtigen Mengen aufzufassen, womit die Hegeische Unterscheidung von Quantität und bestimmtem Quantum mengentheoretisch abgebildet wäre. Nichtsdestoweniger bleibt die Differenz zwischen einer ontologischen und einer mathematisch-axiomatischen Sichtweise. Anm. d. Hrsg.
Das Quantum als Zahl
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doch hat sie .Nachbarn'.39 Und sie hat im Unterschied von Einheit und Anzahl eine Beziehung auf Anderes in sich selbst. Hegel sieht hierin (aber wohl schon im Zusammentreffen von Gleichgültigkeit und absolutem Bestimmtsein) einen „Widerspruch der Zahl oder des Quantums", der sich entwickeln wird: eben den Widerspruch von absoluter Bestimmtheit und Äußerlichkeit (I, 199). Die schon beanspruchte Mannigfaltigkeit der Eins in einer Zahl, die größer als l ist,40 wird expliziter thematisiert, wenn Hegel die Erzeugung der Zahlen behandelt. Das Erzeugen ist das Numerieren, „ein Abzählen an den Fingern, an Punkten usf. Was Vier, Fünf usf. ist, kann nur gewiesen werden" (I, 201). Wann mit dem Numerieren abgebrochen werden soll, ist zufällig oder beliebig. (Hier macht sich ein Sinn von Gleichgültigkeit geltend.) Hegel faßt das Erzeugen von Zahlen zwar als Operation - näher als „Zusammenfassen oder [...] Trennen bereits zusammengefaßter" (I, 200) -, spricht aber nicht von einer konstitutiven Bildungsregel (1 + 1=2, 2 + 1 = 3 usw., d.h. die Iteration der Addition von 1), sondern bleibt an res numeratae (Finger, Punkten) orientiert. Er spricht von einem „äußerlichen Hervorbringen" der Zahlen, die doch Idealia sind (ebd.). Pinkard kritisiert, im Zusammenhang mit der Klassendeutung, daß Hegel bei Zahlen an die Anzahl der Eins oder der Einheiten gedacht habe, bis zu der man zählen könne, als ein psychologistischer Einschlag wie in Husserls „Philosophie der Arithmetik"41 (vgl. Pinkard, a.a.O., S. 460).42 Stattdessen wünscht er sich Zählregeln, so daß der Zahlbegriff auf dem Begriff der Reihenfolge (Anordnung) oder Reihe basierte (ebd.). Nur erwähnt sei, daß Pinkard ein Reformprogramm formuliert, mit dem man Hegel aufhelfen könne.43 39
40 41 42 43
Man kann Bedenken haben, daß die metatheoretische Bestimmung der Quantität als gleichgültige, welche [Bestimmung] einen Zusammenhang im Angrenzen ausdrückt, hier dafür genutzt wird, die Unabhängigkeit von einem anderen Quantum oder Nachbarn darzutun. Kann Hegel dartun, daß Eins eine Zahl ist? Oder ergibt sich das erst, wenn man die Zahlen als Reihe denkt oder mit ihnen rechnet? E. Husserl, Leipzig 1889; Neuherausgabe mit ergänzenden Texten: Gesammelte Werke Bd. 8, Den Haag 1970. Anm. d. Hrsg. „Number would be defined then via rules for counting, which would make the concept of number dependent on that of order or series" (Pinkard, a.a.O., S. 460). „As a proposal for a new Hegelian notion of number we may offer the following. He should begin with the notion of units (die Eins, the ones) as members of classes and the proceed to show how construction rules which involves these units can be given for numbers. Numbers (better: integers) should be the opening section of this part and not continuous and discrete magnitudes. One would thus define integers via rules of counting, e.g., 1, 11, 111, then define magnitude (i.e., .greater or less') by these counting rules. This would have the form: < y := x1, then y1 is assertible within the system [...]
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Quantität und Maß
6. Geometrie Bevor Hegel des weiteren die Rechnungsarten verfolgt, schickt er eine Betrachtung zu Raum- und Zahlgröße voraus, die ja unter .Quantum' gleichermaßen subsumiert werden können (vgl. I, 199 f.). Damit ist das Thema des Verhältnisses von Geometrie und Arithmetik aufgegriffen (noch vor einer Entfaltung des extensiven und intensiven Quantums). Die Zuordnung der Geometrie zur kontinuierlichen Raum- und der Arithmetik zur diskreten Zahlgröße bedeutet für Hegel keine Gleichrangigkeit beider, da sie entsprechend ihrem Gegenstand „nicht eine gleiche Weise und Vollkommenheit der Begrenzung oder des Bestimmtseins" haben (I, 199). Die Geometrie steht nach der Hegeischen Rangierung tiefer. Ihr Gegenstand, die Raumgröße, habe „nur die Begrenzung überhaupt"; für „ein schlechthin bestimmtes Quantum [...] hat sie die Zahl nötig. Die Geometrie als solche mißt die Raumfiguren nicht, ist nicht Meßkunst, sondern vergleicht sie nur" (ebd.). Zu denken ist an „Gleichheit der Seiten, Winkel", die „Gleichheit der Entfernung aller in ihm möglichen Punkte von einem Mittelpunkte" im Kreis (ebd.). „Diese auf Gleichheit oder Ungleichheit beruhenden Bestimmungen sind echt geometrisch. Aber sie reichen nicht aus"; für Figuren wie z.B. Dreieck, Viereck bedarf es der Zahl (ebd.). and then one could define quantity (i.e., that which is capable of relations of quantitative equality) at the end of the series, not at the beginning. This would not be circular, since quantitative equality could be defined using the categorially prior notion of magnitude; i.e., m * n := (m < n) or (n < m); and m = n := not-(m * n). This could all be in keeping with Hegel's program" (Pinkard, a.a.O., S. 460 f.). - Der Konflikt mit dessen tatsächlicher Position ist allerdings größer, als Pinkard zu meinen scheint. Der Ansatz, mit ganzen Zahlen beginnen zu wollen, ist zwar wegen der Pointierung einer Hegelschen .Philosophie der Mathematik' (Pinkard) verständlich und auch modern durchführbar. Es dürfte sich jedoch als unmöglich erweisen, eine am qualitativen Sein anknüpfende Deutung der Mathematik zu geben, die als Eröffnung nicht den [inneren] Gegensatz des Quantitativen benutzt [wie ihn Hegel entwickelt]: den Gegensatz also des affirmativen Sich-Kontinuierens, der Gleichgültigkeit [im Unterschied], Und dann wäre Quantität doch einer Theorie der ganzen Zahlen vorgeordnet. Die Quantität, welche demgegenüber Pinkard später erreicht, ist schon eine bestimmte Quantität die ein Verstehensdesiderat offen läßt, es sei denn, wir wären zufrieden, Abfolge an die Stelle von Pluralität und Menge treten zu lassen. Anders ausgedrückt: eine solche Definition von Quantität wäre reduktionistisch. - Der Ontologe ist nur befriedigt, wenn die prinzipiierende Quantität vorangeht und dann auf dem Wege über die bestimmte Quantität Weiteres (darunter die natürliche Zahl) erschlossen wird. Die moderne Rettung würde [folglich] das kategoriale Programm Hegels sprengen, auch etwa in der Ansetzung von Regeln; Pinkard meint dementgegen, den Begriff Regel oder Spielregel auch für die Aufstellung der Hegeischen Kategorienlehre in Anspruch nehmen zu können (a.a.O., S. 455; vgl. ders., The Logic of Hegel's Logic, in: Hegel, ed. by M. Inwood, Oxford 1985, S. 88).
Geometrie
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Hegel geht es in seiner Deutung der Geometrie wesentlich um den Unterschied von Zahl und Linie, wobei die letztere als Aufhebung der Punktualität (des für sich Bestimmtseins, des Eins), als Außersichsein gedacht wird. Soll die Linie Bestimmtheit erhalten, so bedarf es der Zahl, um die Menge der vielen Eins zu bestimmen (vgl. I, 199 f.). Hegel sieht das Charakteristische der Geometrie in der Unvollständigkeit der Bestimmtheit ihrer Gegenstände, welche wesentlich an der Linie orientiert sind. Insofern bringen diese Figuren ein Element mit, das über die „Geometrie als solche" schon hinausgeht (1,199). Hegel kritisiert „Kants Behauptung von der synthetischen Beschaffenheit der Grundsätze der reinen Geometrie" (I, 203). Er behauptet dagegen einen Begriff der geraden Linie ohne das synthetische Element der „kürzesten" [Verbindung], einen „Begriff des Geraden überhaupt", denn die gerade Linie „ist bereits ein [...] Angeschautes", Sinnliches (ebd.). Im Außersichkommen des Punktes liege „keine Art von Verschiedenheit der Bestimmung, keine Beziehung auf einen ändern Punkt oder Linie außerhalb ihrer", vielmehr die „schlechthin [...] einfache Richtung" (ebd.). Euklids Definition enthalte „nichts Anderes als diese Einfachheit" (ebd.). Allerdings soll die Eigenschaft des ,Kürzesten' noch akkommodiert werden: „Die Linie ist, als räumlich, Quantität überhaupt; das Einfachste, vom Quantum gesagt, ist das Wenigste, und dies, von einer Linie gesagt, ist das Kürzeste" (I, 204).44 Die Geometrie könnne diese Eigenschaft als ein Korollar zur Definition der geraden Linie aufnehmen oder als Grundsatz (Axiom) einführen. Um eine solche Bestimmung mit der Definition zu verknüpfen, müsse aber auf „nicht der Räumlichkeit unmittelbar angehörige, sondern abstraktere qualitative Bestimmungen" rekurriert werden wie „Einfachheit, Gleichheit der Richtung u. dergl." (ebd.).45 Die Stellen lassen denken, daß Hegel eine auf Qualität zurückprojizierte Rumpfgeometrie will,46 während die Geometrie selbst in der Realphilo44
45
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Die vorgeblich synthetische Bestimmung sei in der Tat „ganz nur analytisch" (I, 204). Vielleicht ist von Hegel hier eine gewissermaßen .natürliche' oder .kanonische' Bestimmung des einzelnen Quantums angesprochen. Auf Zahlen angewendet, meint das: .direkt' bis etwa 5 zu zählen, anstelle zum Beispiel von 5 = 8 - 6 + 3. Insofern ist dann die Linie die kürzeste Verbindung zweier Punkte. Anm. d. Hrsg. Hegel lobt den „plastischen Charakter" der antiken Wissenschaft, hier die Beschränkung der Geometrie auf „der Räumlichkeit unmittelbar angehörige" Bestimmungen (I, 204). Darin, daß Archimedes die Bestimmung [des Kürzesten] für die gerade Linie zum Grundsatz (Axiom) erhob, wie Euklid das Sich-Schneiden der Parallelen [im Unendlichen - statt also diese Bestimmungen in ihren Geometrien zu entwickeln], zeige sich ein Verständnis für das, was .abstrakter qualitativ' sei [im Sinne von .rcgionalontologisch'] (vgl. ebd.). Eine gewissermaßen absolute, das Parallenaxiom und alle metrischen Bestimmungen aussparende Geometrie, mit Rückbezug auf .Qualität', soweit diese in ihren Kategorien
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Quantität und Maß
sophie ihren Platz hätte. Diese Weiterführung geschieht in gewisser Weise auch in der Enzyklopädie, § 256 (ohne das dort freilich im räumlichen der Linie, als dem Anders- oder Außersichsein des Punktes, mehr gelegen wäre denn in der Logik auch). Es kann wohl nur eine sachhaltige Geometrie - phänomenologisch wie bei O. Becker47 oder axiomatisch - demgegenüber das Gewünschte dartun.
7. Arithmetik Hegels Kennzeichnung der Arithmetik enthält teils den Äußerungen zur Geometrie parallele Stellungnahmen, teils Ausführungen zu den Rechnungsarten. In der ersteren Hinsicht wendet er sich gegen Kants Behauptung von einem synthetischen Charakter der Arithmetik, exemplifiziert am Beispiel 7 + 5 = 12 (vgl. I, 201 f.). Hegel räumt ein, daß es sich hier um ein Synthesieren handele, „das aber gänzlich analytischer Natur ist, indem der Zusammenhang ein ganz gemachter, nichts darin ist, noch hineinkommt, was nicht ganz äußerlich vorliegt" (I, 202); es findet einfach ein Hinzunumerieren „an den Fingern oder sonst" statt (I, 201). Das Resultat werde „nachher, im Gedächtnisse, auswendig, behalten [...]; denn Innerliches ist nichts dabei" (ebd.), oder anders: das Numerieren ist „begrifflos", eine Zahl und ihre Beziehung zu anderen Zahlen ist keine Sache des Begriffs (I, 202). Hegel ist hier operationalistisch eingestellt; es wird [im Zählen] eine Identität hervorgebracht, „die schlechthin nur äußerlich, nur oberflächliche Synthese ist, eine Einheit von Eins, solchen, die vielmehr als an ihnen nicht identisch miteinander, sondern äußerliche, für sich getrennte, gesetzt sind" (I, 204). Dabei hätte Hegel doch - innerhalb der kategorialen Äußerlichkeit von Quantität - gerade zur gegenteiligen Behauptung gelangen können: daß eine neue Identität gesetzt sei.48 Er meint dagegen: „Die Zahl ist um ihres Prinzips, des Eins, willen ein äußerlich Zusammengefaßtes überhaupt, eine schlechthin analytische Figur, die keinen innern Zusammenhang enthält" (I, 200). Daher ist auch „alles Rechnen das Hervorbringen von Zahlen, ein Zählen oder bestimmter: Zusammenzählen"; der Unterschied „dieses äußerlichen Hervorbrin-
47
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bis zum Übergang in die Quantität logisch entwickelt ist. Vgl. auch Kap. 5, Anm. 189, 207. Anm. d. Hrsg. Vgl. O. Becker, Mathematische Existenz. Untersuchungen zur Logik und Ontologie mathematischer Phänomene, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. 8, Halle a.d.S. 1927. Anm. d. Hrsg. Vgl. Anm. 30. Anm. d. Hrsg.
Arithmetik
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gens" (der eingebrachten oder erhaltenen Zahlen) „muß selbst anderswoher und aus äußerlicher Bestimmung genommen werden" (ebd.). Es scheint, daß die kategoriale Bestimmung der Quantität alles als banalerweise Äußerliches und somit als leer aufzufassen nötigt, was in diesem Bereich an Schritten und Setzungen möglich ist: „So leer als der Ausdruck Synthesieren ist, ist die Bestimmung, daß es a priori geschehe" (I, 202). Es bleibt eine Unsicherheit, ob arithmetische Setzungen (und ihre Theoreme) analytisch bzw. a priori seien [oder nicht]. Die Frage, inwieweit das System arithmetischer Formeln theoriefähig sei, bleibt unbeantwortet - unter der kategorialen Devise einer Gleichgültigkeit von Quantität. Die Rechnungsarten, von denen Hegel die Addition angesprochen hatte und zu denen er nach dem Einschub über die Geometrie und ihr Verhältnis zur Arithmetik zurückkehrt, erscheinen als „Beziehungsweisen" der Zahlen; deren gleichgültige Bestimmtheit „muß von außen betätigt und in Beziehung gebracht werden" (I, 200). Was Hegel weiter ausführt, scheint nur einem Interesse an Vollständigkeit in der Behandlung des Gegenstandes zu genügen, distanziert er sich doch davon, es gehe hierbei um „eine immanente Entwicklung des Begriffs" (I, 207). Es handelt sich um einen äußerlichen Stoff, die Zahl; Momente der Fortbestimmung erscheinen daran selbst „auf äußerliche Weise", stellen den Gegenstand in seinem Verstande dar, enthalten aber „keine spekulative Anforderung" (ebd.). Entsprechend kann Hegel mit den Rechnungsarten oder -weisen kurz verfahren. Die Addition erscheint als Numerieren der (ihrerseits durch Numerieren entstanden gedachten) Zahlen (vgl. I, 201). Die Ermittlung der Summe durch Abzählen wäre also die ursprünglichste oder einfachste Form der Addition. - Die Subtraktion ist die zugehörige „negative Rechnungsart, [...] das ebenso ganz analytische Trennen in Zahlen, die wie im Addieren nur als Ungleiche überhaupt gegeneinander bestimmt sind" (I, 204). Man sieht, Hegel geht es um Grade von Äußerlichkeit der Zahlen gegeneinander; beim Addieren und Subtrahieren ist dieser Grad am größten. - Die Multiplikation erscheint als fortgesetzte Addition gleicher Zahlen.49 Hiermit tritt „an der Zahl der Unterschied von Einheit und Anzahl ein": die Anzahl ist der Multiplikator, die Einheit der Multiplikand. Aber: „es ist dabei gleichgültig, welche von den beiden Zahlen als Einheit und welche als Anzahl angegeben, ob viermal drei [...] oder umgekehrt dreimal vier gesagt wird" (I, 205). Multiplikator und Multiplikand sind austauschbar. - Die Division ist wiederum die zugehörige negative Rechnungsart. Analog werden auch hier die Bestimmungen Einheit und An49
Was einen geringeren Grad an Äußerlichkeit bedeutet. Anm. d. Hrsg.
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Quantität und Maß
zahl verwendet und sind wiederum vertauschbar. Der Divisor [d.h. der Teiler] ist die Einheit, der Quotient [d.h. das Ergebnis] die Anzahl, falls „man sehen wolle, wie oft (Anzahl) eine Zahl (Einheit) in einer gegebenen enthalten sei"; das Umgekehrte gilt, wenn man „eine Zahl in eine gegebene Anzahl gleicher Teile teilen und die Größe solchen Teils" finden soll (ebd.). Entsprechend seinem Interesse an der relativen Enge einer Verknüpfung der Elemente, meint Hegel, daß gegenüber der bisher gegebenen (möglichen) Ungleichheit von Einheit und Anzahl ein höherer Fall mit der Rechnungsart des Potenzierens erreicht sei, also bei einem Produkt aus gleichen Faktoren (mit dem Wurzelziehen als negativen Fall). Hegel nennt „das Erheben einer Zahl ins Quadrat [...] das vollkommene Bestimmtsein des Numerierens in sich selbst" (1,205), „das Schlechthin-Bestimmtsein in sich" (I, 206). Die Grundzahl verhält sich zu sich selbst.50 Höhere Potenzverhältnisse als das Quadrat gelten als „ Wiederholung des Quadrierens" (ebd.).51 Aber es trete bei ungeraden Exponenten wieder Ungleichheit auf: so bei 33 [obwohl Basis und Exponent übereinstimmen] = 32 · 3 = 9 · 3; noch mehr ungleich sei etwa 43, weil, abgesehen vom ungeraden Exponenten Grund- und Hochzahl verschieden sind. (Dies ist zwar etwa auch bei 32 im Potenzausdruck so, aber nicht im multiplikativen Ausdruck.) Hegel sieht also in der Quadratzahl den Fall vorliegen, bei dem aus dem unmittelbaren Kontinuieren herausgetreten wird, bei dem Quantität (genauer: Quantität als zum Quantum entwickelte) zu sich in ein Verhältnis tritt und so eine engere Einheitsstruktur exemplifiziert. Dies wird näher ausgeführt im Schlußteil zur Quantität als „Das quantitative Verhältnis" (I, 322 ff.).52 Hegels Behandlung der Rechnungsarten, welche die „Beziehungsweisen" der Zahlen ausmachen sollen, kennzeichnet eine Reduktion auf die Addition sowie die Unterscheidung von positiven und negativen Rechnungsarten. Es wird also das Moment der Erzeugung von Zahlen weiterverfolgt. Als nicht konstitutiv erscheinen dagegen Zahlengesetze (das as50
Gedacht ist wohl an die Möglichkeit, eine mehrmalige Addition über die Multiplikation bis zur Potenz .zusammenzuziehen': 3 + 3 + 3 = 3 - 3 = 32. „Es sind sonst keine Bestimmungen in dem Begriff der Zahl, die einen Unterschied darbieten könnten; noch kann ein weiteres Ausgleichen des Unterschieds, der in der Zahl liegt, stattfinden" (I, 205 f.). Anm. d. Hrsg.
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Hegel wird dort hinter das durch eine Potenz dargetane Verhältnis zurückgehen und es von unvollkommenen Verhältnissen (im Bruch, in der Multiplikation) anbahnen. Siehe unten S. 115 f.
Extensives und intensives Quantum
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soziative, kommutative und distributive Gesetz) oder die axiomatische Charakterisierung von Rechnungsarten. (Ein Hinweis auf das kommutative Gesetz findet sich lediglich in der Austauschbarkeit von Multiplikator und Multiplikand.) Regeln - abgesehen von der äußerlichen Erzeugung der Zahlen - bleiben der Hegeischen Betrachtungsweise fremd.
8. Extensives und intensives Quantum Die auf die Zahl folgende Behandlung des extensiven und des intensiven Quantums53 ist in ihrer Plazierung nach der Zahl nicht völlig klar.54 Die Idee scheint zu sein, daß während die Zahl das Quantum in vollkommener Bestimmtheit ist (vgl. I, 213, ähnlich I, 197), die Momente Anzahl und Einheit als auseinandertretend für sich thematisiert werden können.55 Indem mit der Anzahl begonnen wird, ist die extensive Größe „ein in sich Diskretes, ein Vieles", dessen Sein mit seiner Grenze zusammenfällt, sie in sich hat (I, 213). (Hegel formuliert negativ: „das nicht ein Sein hat, welches verschieden wäre von seiner Grenze und sie außer ihm hätte" - ebd.) „Die extensive Größe hat das Moment der Kontinuität an ihr selbst und in ihrer Grenze, indem ihr Vieles überhaupt Kontinuierliches ist; die Grenze als Negation erscheint insofern an dieser Gleichheit der Vielen als Begrenzung der Einheit" (1,213). Die kontinuierliche Größe dagegen „ist die sich fortsetzende Quantität ohne Rücksicht auf eine Grenze, und in53
54
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Erwähnt sei noch eine Anmerkung Hegels über die Verwendung von Zahlen als Symbole [„für den Ausdruck philosophischer Begriffe" - G. Lassen] (vgl. I, 207 ff.). Wie oben schon vermerkt, nannte Hegel an früherer Stelle die Kontinuität (als unmittelbare Quantität) zuerst (vgl. I, 193 f.), und dann erst die diskrete Größe (I, 194). Innerhalb des Quantums jedoch geht das diskrete Quantum, die Zahl, voran (I, 196 ff.), und das extensive und intensive Quantum folgen nach (1,213 ff.). Hegel hatte angekündigt, daß der Widerspruch der Zahl oder des Quantums sich entwickeln werde (I, 199). Das Einteilungsschema ist (vgl. I, 213): Quantität = Größe an sich kontinuierlich diskret (ohne Rücksicht auf Grenze) (Menge) Quantum als kontinuierlich: Quantum als diskret: extensiv oder intensiv Zahl [Man möchte eher vorschlagen: Quantität kontinuierlich diskret bestimmtes Quantum (Zahl) intensives Quantum extensives Quantum]
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Quantität und Maß
sofern sie mit einer solchen vorgestellt wird, ist diese eine Begrenzung überhaupt, ohne daß die Diskretion an ihr gesetzt sei" (ebd.). Bei einer kontinuierlichen Größe ist die Grenze Begrenzung, Setzung eines Abschnitts, nicht liegt eine Einheit von Anzahl und Einheiten vor. „Das Quantum nur als kontinuierliche Größe ist noch nicht wahrhaft für sich bestimmt, weil sie des Eins, worin das für sich Bestimmtsein liegt, und der Zahl entbehrt" (ebd.). Das extensive Quantum ist von der Zahl - die als „unmittelbar extensives Quantum" bezeichnet wird - dadurch unterschieden, daß „ausdrücklich die Bestimmtheit als Vielheit in dieser gesetzt ist" (I, 213 f.). Es fehlt ihm die Einheit der Zahl (die nicht nur „eine Menge von numerischen Eins" ist); es ist nicht in sich zurückgekehrt - ist also einerseits zwar Entfaltung des Vielen, andererseits aber weniger Einheit (I, 214). Um fortzuschreiten, erinnert Hegel daran, daß die Bestimmtheit, „wie groß etwas ist, durch die Zahl, [...] nicht des Unterschieds von etwas anderem Großem" bedarf (I, 214, vgl. I, 198). Das „Zurückgekehrtsein der Zahl" aus den äußerlichen Eins, die „Beziehung der Zahl auf sich selbst" leitet von der extensiven Größe zur intensiven über (I, 214). „Die Grenze des Quantums, das als Extensives seine daseiende Bestimmtheit als die sich selbst äußerliche Anzahl hatte, geht also in einfache Bestimmtheit über. In dieser einfachen Bestimmung der Grenze ist es intensive Größe"; die Bestimmtheit ist „der Grad" (ebd.). Die intensive Größe wird durch eine Zahl ausgedrückt; ihr entspricht aber keine Menge „oder Mehreres innerhalb seiner selbst" (ebd.). Die Zahl ist bloß Index eines Grades, „aufgehobene Anzahl, [...] einfache Bestimmtheit" (I, 215). Hegel reflektiert weiter über die intensive Größe. Wenn im Grad die Äußerlichkeit einer Menge (oder Mehrheit) aufgehoben sei, wenn dieser „dies äußerliche Anderssein nicht mehr in ihm" habe, so sei das Anderssein „außer ihm": ein Grad hat andere Grade neben sich (ebd.). Der Grad oder die ihm geltende Zahl „ist Beziehung auf sich als Beziehung durch sich selbst auf ein Äußerliches" (ebd.). - Die intensive Größe ist also zwar die Schließung der extensiven, aber der Einfachheit des Grades steht die Äußerlichkeit der Beziehung auf andere Grade gegenüber, welche nunmehr zur Bestimmtheit erfordert ist.56 Hegels Behandlung der extensiven und intensiven Größe als Bestimmungspaar (mit Rangierung der intensiven Größe als ,engerer' Einheitsstruktur) hat einen historischen Hintergrund - die Kantische Behandlung beider Größentypen: einmal aus erkenntnistheoretischer Sicht in den 56
Gegen den Ausdruck .Schließung' könnte man einwenden, daß extensives wie intensives Quantum beides Momente des in der Zahl Enthaltenen sind. Anm. d. Hrsg.
Extensives und intensives Quantum
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„Axiomen der Anschauung" und den „Antizipationen der Wahrnehmung", welche der äußeren Anschauung oder der Empfindung in innerer Anschauung zugeordnet sind [KrV B, S. 202 ff., 207 ff.]; ein andermal mit realphilosophischer ,Abzweckungc in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften", und zwar in den Abschnitten „Phoronomie" und „Dynamik" [Akad.-Ausgb. Bd. IV, S. 480 ff., 496 ff.].57 Hegel bemüht sich um eine rein begriffliche Fassung der beiden Größentypen. Bildet die Behandlung des ersteren in der Unterscheidung von kontinuierlicher Quantität und extensivem Quantum die Kantische Unterscheidung von Totalanschauung und Größe nach und genügt zugleich dem Anspruch, Quantität als Prinzip (mit diesen zwei ,Arten') und als Bestimmtes (Quantum) zu denken, so ist die Behandlung des zweiten Größentyps unter Absehung von der Kantischen Folie wenig überzeugend. Logisch-begrifflich handelt es sich um eine relative Größe (45° zu 360° etwa); das Intensive gehörte [demnach] zur Realphilosophie (psychische Empfindungsintensität, physische Kraft) und fiele nicht in die Logik; es bestünde allenfalls Grund, eine logische , Vorgestalt' hierfür anzusetzen. Hegel gelangt zur Identität von extensiver und intensiver Größe, die eine habe lediglich „die Anzahl [...] innerhalb ihrer, die andere [...] außer ihr" (I, 217). Die Identität liegt in der Äußerlichkeit dieser Anzahl.58 Es fällt zum einen auf, daß die angebliche Identität keinen neuen Namen hat, zum anderen, daß Vorgänger- und Nachfolgerstufe in einer Hinsicht identisch gesetzt werden - ein Verstoß gegen das Prinzip der linearen dialektischen Bewegung. Weiter: daß ein Quantum beides, extensiv und intensiv, sein kann, verweist für Hegel auf ein „Substrat", das beide Momente habe - das extensive als Moment der Anzahl und das intensive als Moment der Einheit (I, 217). Dies Substrat ist ein gleichgültiges „Etwas", eine qualitative Setzung (ebd.). Ein solches Substrat wird zwar gebraucht für den entwickelteren Fall des Maßes; hier ist aber nicht zu sehen, daß es eines Substrates bedarf. Entweder gehen extensives und intensives Quantum in eine Identität zusammen, und dann müßte das ein Novum sein, ein in sich neues, eines Substrats unbedürftiges Thema. Oder beide sind doch verschieden; dann wäre entweder das eine der Fall oder das andere, 57
58
„Ferner ist die Vorstellung einer philosophischen Naturwissenschaft hinzugekommen, welche das „Mehrere, das Extensive, z.B. in der Grundbestimmung der Materie, einen Raum zu erfüllen" (Phoronomie), „sowie in ändern Begriffen in ein Intensives verwandelte, in dem Sinne, daß das Intensive als das Dynamische die wahrhafte Bestimmung sei" (1,217 f.). Anm. d. Hrsg. Allerdings heißt es auch, die extensive Größe gehe umgekehrt „in die intensive Größe über, weil ihr Vieles an und für sich in die Einheit zusammenfällt" (I, 217). Anm. d. Hrsg.
112
Quantität und Maß
Extensität oder Intensität, und es bliebe unerfindlich, wieso sie koordiniert zueinander gesehen werden - ,an' einem Vermittelnden, einem Substrat. Dieser Substratgedanke der Tradition scheint nur angängig, um die Veränderung einer zuvor angesetzten Substanz darzustellen.59
9. Die quantitative Unendlichkeit Hegel geht schließlich von der erreichten Sachlage - enthaltend Substrat, extensives und intensives Quantum - über zur quantitativen Unendlichkeit. Er meint, ein Quantum sei „seiner Qualität nach in absoluter Kontinuität mit seiner Äußerlichkeit, mit seinem Anderssein"; also müsse es sich verändern (I, 221). (Dies ist eine metatheoretische Feststellung, keine objektive, denn ein gegebenes Quantum verändert sich nicht; nur die Bestimmtheitsfrage kann nötigen, über ein gegebenes Quantum hinauszugehen.) Man kann also das Angrenzende heranziehen und gelangt zum Unendlichen. Oder man kann die Repulsion des Eins von sich selbst geltend machen (Erzeugen seines Andersseins); es schickt sich über sich hinaus. Die quantitative Unendlichkeit (vgl. 1,222 ff., 236 ff.) ist nach der qualitativen modelliert, unterscheidet sich von dieser aber dadurch, daß auf der kategorialen Ebene der Quantität Übergehen in Anderes (,Sich-Kontinuieren' heißt es jetzt) schon zum Begriff gehört. Hegel kann daher meinen, das Fortgehen der quantitativen Veränderung ins Unendliche liege darin, „daß das Quantum als an ihm selbst sich widersprechend gestellt ist" (I, 59
Hegel geht in einer Anmerkung auf „Beispiele dieser Identität" der extensiven und intensiven Größe ein (I, V; vgl. I, 217 ff.). Wenn es auch „zunächst das wahrhaftere ist", die Äußerung einer Kraft als intensive Größe aufzufassen, so sei „darum die Kraft nicht weniger einseitig als das Intensive" [verstanden], „und die Äußerung, die Äußerlichkeit des Extensiven, ebenso untrennbar von der Kraft [...], so daß ein und derselbe Inhalt ebensosehr in beiden Formen, des Intensiven und Extensiven, vorhanden ist" (1,218). Kant hatte extensive und intensive Größe gegeneinander gestellt (vgl. Met. Anfangsgründe d. Naturwis., Akad.-Ausg., S. 495) und die Kraft mit dem Grad assoziiert (a.a.O., S. 519). - Weitere Beispiele sind die Masse: „als Gewicht ein extensiv Großes", „ein intensiv Großes, insofern sie einen gewissen Druck ausübt" (1,219). Oder die Wärme: „der Wärmegrad [...] ist eine einfache Empfindung, ein Subjektives", eine intensive Größe (ebd.). „Aber dieser Grad ist ebensosehr vorhanden als extensive Größe, als die Ausdehnung einer Flüssigkeit des Quecksilbers im Thermometer" (ebd.). - Erwähnt sei weiter eine Anmerkung, in der Hegel Kants Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises von der Unsterblichkeit der Seele bespricht (vgl. I, 220 f.; KrV B, S. 413 ff.). Er meint, die von Kant dargelegte Möglichkeit eines Schwindens der Seele in nichts durch Verminderung ihrer Realität als einer intensiven Größe - sei zwar für ein „Seelending1 als „ein nur unmittelbar Seiendes" angängig (I, 220). Da es sich bei der Seele aber tatsächlich um Geist handele, hätte Kant die Kategorie der Quantums überhaupt entfernen müssen.
Die quantitative Unendlichkeit
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222). Das Andere aber eines Quantums ist auch ein Quantum, durch das Sich-Kontinuieren das Andere „nicht nur eines Quantums, sondern des Quantums selbst, das Negative seiner als eines Begrenzten, somit seine Unbegrenztheit, Unendlichkeit" (ebd.). Bestimmtsein-Sollen und aufgehobenes Bestimmtsein, beides liegt gleichermaßen vor. D.h., im Begriff der quantitativen Unendlichkeit liegt ein Endliches als Begrenztes und Sich-über-sich-Hinausschickendes sowie ein Unendliches als dessen Nichtbegrenztsein, aber auch Zurückgekehrtsein in sich, Fürsichsein. Im Unterschied zum qualitativen Fall, wo das Endliche dem Unendlichen „absolut, d.h. abstrakt" gegenübersteht, bezieht sich das quantitative Endliche „an ihm seihst in sein Unendliches, an dem es" [d.h., damit es an ihm] „seine absolute Bestimmtheit habe" (I, 223). Im qualitativen Endlichen lag kategorial nicht schon, sich in sein Anderes zu kontinuieren, sich vom Unendlichen seine absolute Bestimmtheit zu versprechen. Die Beziehung von quantitativ Endlichem und Unendlichem besteht zunächst im quantitativ-unendlichen Progress (vgl. I, 223 ff.). Er ist entsprechend dem qualitativ unendlichen Progreß wie folgt modelliert: „Im Progresse des Quantitativen ist das, zu dem fortgegangen wird, zwar nicht ein abstrakt Anderes überhaupt, sondern ein als verschieden gesetztes Quantum; aber es bleibt auf gleiche Weise im Gegensatz gegen seine Negation. Der Progreß ist daher gleichfalls nicht ein Fortgehen und Weiterkommen, sondern ein Wiederholen von einem und eben demselben" (I, 225). Quantitativ sind noch die durch „Kontinuität des Quantums in sein Anderes" hervorgebrachten Bestimmungen des „unendlich Großen oder unendlich Kleinen" (I, 224). In beiden Fällen ist das Ziel des unendlichen Progresses nicht zu finden, „die absolute Bestimmtheit, die ein Fürsichsein wäre" (ebd.). Hegel wendet sich in einer Anmerkung (vgl. I, 225 ff.) dagegen, dem Progreß des Quantitativen ins Unendliche - wie Kant dies tut - „etwas Erhabenes" abzugewinnen; handelt es sich doch um die „Langeweile der Wiederholung, welche eine Grenze verschwinden und wieder auftreten und wieder verschwinden, so immer das eine um das andere und eins im anderen [...] entstehen und vergehen läßt" (I, 226 f.). Auch wendet er sich dagegen, allen Gegensatz nur als quantitativ zu nehmen. „Nur im qualitativen Gegensatz geht die gesetzte Unendlichkeit, das Fürsichsein, hervor" (I, 231). Die qualitative Seinssphäre ist prinzipiierend für das Quantitative, und die quantitave Bestimmung geht wiederum „in das Qualitative über" (ebd.).60 60
Erwähnt sei eine Anmerkung Hegels zur Ersten Kantischen Antinomie vom Anfang der Welt (vgl. I, 231 ff. [KrV B, S. 454 ff.]). Hegels Lösung ist, daß Thesis und Antithe-
114
Quantität und Maß
10. Das quantitative Verhältnis Nach dem quantitativen Progreß stellt sich die Frage einer affirmativen Unendlichkeit des Quantums. Gibt es aus dem Progreß einen Ruhepunkt, ein Fürsichsein der Quantität? Hegel meint, ja: das quantitative Verhältnis. - Im unendlichen Progreß ist der „Begriff des Quantums gesetzt" (I, 237). „So ist in ihm das Aufheben des Quantums, aber ebensosehr seines Jenseits, also die Negation des Quantums sowohl als die Negation dieser Negation vorhanden. Seine Wahrheit ist ihre Einheit, worin sie, aber als Momente, sind" (ebd.). Diese Einheit ist also das quantitative Verhältnis, „die Beziehung eines Quantums auf ein anderes Quantum, deren jedes nur gilt in dieser Beziehung auf sein Anderes" - zwei Quanta, „die jedoch aufgehoben, nur als Momente einer Einheit sind" (I, 239). Das Quantum ist nicht mehr unmittelbar; war es als solches die aufgehobene Qualität, so erscheint die Negation des Quantums in der Unendlichkeit als Wiederherstellung der Qualität. Wir können von quantitativer Schließung sprechen, die qualitative Metastruktur hat. (Dies Qualitative des Quantums ist aber verschieden vom qualitativen Substrat, dem gegen die Bestimmtheit als extensives und intensives Quantum gleichgültig gesetzten Etwas. Letzteres geht in die Entwicklung nicht ein.) Das quantitative Verhältnis als affirmativ Unendliches zu sehen, bereitet Schwierigkeiten, da in ihm keine thematische Unendlichkeit und keine unendlichen Seiten vorkommen (wobei das Besondere des Differentialquotienten noch ausgespart sei). Es ist nur metatheoretisch als qualitatives Fürsichsein ausgezeichnet, somit nicht thematische Aufhebung und Bewahrung des quantitativ Unendlichen.61 sis die einseitige Festlegung auf ein begrenztes Quantum [den Anfang] oder auf die Aufhebung der Begrenztheit beinhalten, während gerade das Zusammengehören beider zur Quantität gehöre. In seiner Behandlung des quantitativen Unendlichen (bei ihm als das .mathematische' bezeichnet) stützt sich Pinkard einerseits auf eine Deutung des qualitativ-affirmativen Unendlichen als das potentiell Unendliche [einer Bewegung] nach einer Regel (vgl. oben Kap. II, Abschn. 15 [S. 81 f.]); andererseits referiert er zustimmend Hegels Deutung des quantitativen Unendlichen als Verhältnis [Pinkard, a.a.O., S. 461 ff.]. Eine Schwierigkeit hierbei ist, daß so kein Begriff des mathematisch Unendlichen erreicht wird, wie ihn Cantor entwickelt hat, sondern nur ein ontologischer Begriff - wenn auch gelten kann, daß im Infinitesimalen sich ein Verhältnis, der Differentialquotient, als Wert eines Grenzprozesses ergibt (hiervon später; vgl. J. Bennett, Kant's Dialectic, Cambridge 1974, S. 129 ff.) [vgl. weiter: G. Cantor, Gesammelte Abhandlungen, Hildesheim 1962, S. 292 ff.]. Das Verhältnis als solches, etwa ein Bruch, ist nur metatheoretisch ein Unendliches, während sein Wert endlich ist (oder jedenfalls sein kann). Diese Problematik der metatheoretischen Bestimmung des quantitativen Unendlichen (und des Unendlichen allgemein) bei Hegel ist Pinkard wohl nicht deutlich geworden.
Das quantitative Verhältnis
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Hegels Diskussion dieser Kategorie (vgl. I, 322 ff.; ferner bereits I, 244 ff.), die wir hier vor die drei gewichtigen Anmerkungen zur Differential- und Integralrechnung sowie zu Kontinuum und Volumen rücken, geht drei Verhältnisarten durch: das direkte, das indirekte und das Potenzverhältnis, mit welch letzterem Hegel eine Rechnungsart von oben wieder aufnimmt.62 Die drei Verhältnisarten sind geordnet nach dem Grad der ,Enge', in welchem das Quantum „auf sich bezogen" ist (1,239). An den Anfang setzt Hegel den Bruch als das direkte Verhältnis, nach Anzahl und Einheit gedeutet: a : b = c [vgl. I, 324 ff.]. Hegel nennt das Ergebnis den Exponenten; damit ist eigentlich ein Index gemeint, der den Rückschluß auf die Größe links vom Gleichheitszeichen erlaubt oder nicht erlaubt. Im direkten Verhältnis liegt eine Gleichgültigkeit der Größenbestimmtheit vor; die Quanta, deren Verhältnis der Exponent ist, können beliebig groß sein: (x · a): (x · b) = c.63 Hegel geht zum [als das „umgekehrte" bezeichneten] indirekten Verhältnis über, dem Produkt a · b = c [vgl. I, 326 ff.]. Hier ist der Index fix zugeordnet, es liegt eine engere Beziehung vor. Wenn auch die Faktoren durch einen Koeffizienten abänderbar sind ((1/x) · a · x · b = c), ist das Quantum, welches der Exponent des Verhältnisses ist, fix.64 62 63
64
Es folgt noch eine Anmerkung (vgl. 1,333 ff.) zum Mißbrauch des Potenzverhältnisses, welches nämlich „in neuerer Zeit auf Begriffsbestimmungen angewendet worden ist" (1,333 f.). Es sei zunächst angemerkt, daß Hegel die Notierung B : A = C verwendet. - Was Hartmann mit der Formulierung meint, der Index erlaube einen Rückschluß auf die Größe des Quotienten „oder nicht", ist vielleicht das, was das direkte Verhältnis als die .loseste' der Bezogenheiten kennzeichnet: insofern nämlich der Exponent - zunächst „das vollständige Quantum" - tatsächlich „nur den Wert der Anzahl oder der Einheit" hat, je nach dem ob umgekehrt der Nenner für die Einheit oder die Anzahl steht (I, 325; vgl. die Ausführungen zu Division I, 205). Der Quotient ist „somit nicht als das gesetzt, was er sein soll, - das Bestimmende des Verhältnisses, oder als seine qualitative Einheit" (I, 325 f.). Die Austauschbarkeit der Bestimmungen Anzahl, Einheit und Index unter den drei Elementen des direkten Verhältnisses zeigt, daß deren Bezogenheit als „ihre Negation" noch nicht in ihnen gesetzt ist (I, 326). Anm. d. Hrsg. Es ist vielleicht eine Ergänzung angebracht. Neben der im Zusammenhang mit der Multiplikation bereits erwähnten Vertauschbarkeit der beiden als Einheit bzw. Anzahl genommenen Faktoren erscheinen beide Quanta hier deswegen enger verknüpft - weil die Veränderung des einen eine gegensinnige Veränderung des anderen erzwingt: „das eine wird um so vielmal kleiner, als das andere größer wird; jedes hat insofern seine Größe, als es die des ändern an ihm hat, als [die] dem anderen mangelt" (I, 328). Diese negative Bezogenheit der beiden Größen aufeinander „macht das Moment der Einheit aus wodurch sie im Verhältnisse sind", also die Bestimmtheit des Produkts c (ebd.). Der Mangel an Vermittlung liegt darin, daß es nicht die gewählte Einheit ist, welche die Größe der Anzahl bestimmt, sondern das Produkt (vgl. I, 331). Besteht auch dieser Rest von Äußerlichkeit nicht mehr, ist also das eine Quantum durch das andere restlos determiniert, so ist für Hegel der höchste Grad an Aufeinander-Bezogenheit im Verhältnis erreicht. Anm. d. Hrsg.
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Quantität und Maß
Schließlich folgt das Potenzverhältnis aa = b. Hier besagt der Index den Wert. Eigentlich ist die Vollkommenheit des Potenzverhältnisses für Hegel nur beim Quadrat erreicht (vgl. oben S. 108).65 - Die Quantität jedenfalls ist hiermit geschlossen, die Gleichgültigkeit des Quantums besteht nicht mehr, Fürsichsein im Quantitativen ist erreicht. Diese Rückkehr des Quantitativen zur Qualität findet ihren Ausdruck in einer Kategorie, die beides enthält: das Maß [s.u. Abschn. 12]. Nach unserer Auffassung allerdings ist die qualitative Bestimmung des Quantitativen eine metatheoretische, während Hegel [wie gesagt] vom Verhältnis aus fortfährt mit einer Bestimmung, in der Quantitatives und Qualitatives, als zusammen vorliegend, gleichermaßen thematisch genommen sind. Hier liegt ein Denkfehler vor. Oder man kann auch sagen: bei Maß wird die Metabetrachtung des Quantitativen umgedeutet durch das Qualitative als jenes thematisches Substrat, welches schon oben in dubioser Weise vorkam.
11. Exkurs zur Infinitesimalrechnung In Anknüpfung an das Thema des quantitativ Unendlichen geht Hegel in zwei längeren Anmerkungen auf das mathematisch Unendliche ein, wie es durch die Differential- und Integralrechnung in die Mathematik eingeführt worden ist.66 Die Überschriften der beiden Anmerkungen suggerieren eine Systematik - „Die Begriffsbestimmtheit des mathematischen Unendlichen" (I, 239) und „Der Zweck des Differentialkalküls aus seiner Anwendung abgeleitet" (I, 278) -, die in den Texten nicht streng eingehalten ist. Wir versuchen im folgenden eine Synopse der verstreuten, sich thematisch mitunter wiederholenden Ausführungen in einer plausiblen Abfolge der wichtigsten Probleme.
65
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Bereits beim umgekehrten Verhältnis besagte der Index den Wert. Im Falle des Potenzverhältnisses erscheint Hegel dieser Wert durch die Faktoren vermittelt - zugleich mit deren Bezogenheit aufeinander (vgl. Anm. 64). Anm. d. Hrsg. Die erste Anmerkung ist in der Fassung von 1831 an mehreren Stellen gegenüber der von 1812 verändert und erweitert; die zweite Anmerkung findet sich erst im Text von 1831. Eine dritte Anmerkung schließt sich an über „Noch andere mit der qualitativen Größenbestimmtheit zusammenhängende Formen" (vgl. I, 310 ff.).
Exkurs zur Infinitesimalrechnung
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Ontologische Betrachtung des Unendlichen in der Differentialrechnung Dem in der Differentialrechnung vorkommenden mathematischen Unendlichen liegt für Hegel „in der Tat der Begriff des wahrhaften Unendlichen" zugrunde (I, 240). Dies zeigt sich darin, daß ihre Ergebnisse genau sind, daß die Ableitung, ein [Grenz-]Übergang [von Ay/ ] zu dy/dx, keine bloße Näherung ist (vgl. I, 241). Hegel diagnostiziert aber einen „Hauptwiderspruch", nämlich daß „die Rechnung des Unendlichen [...] Verfahrungsweisen" erlaubt und erfordert, „welche die Mathematik bei Operationen mit endlichen Größen durchaus verwerfen muß"; umgekehrt „behandelt sie ihre unendlichen Größen wie endliche Quanta und will auf jene dieselben Verfahrungsweisen anwenden, welche bei diesen gelten" (I, 240). Nun zeige sich zwar Übereinstimmung mit den „durch die eigentlich mathematische, die geometrische und analytische Methode" gewonnenen Resultaten; aber „teils betrifft dies nicht alle Resultate" - die Resultate sind also neuartig -,67 „teils rechtfertigt der Erfolg die Manier des Wegs nicht für sich" (I, 241). Es mangelt demnach an der geeigneten Rechtfertigung des Verfahrens durch den Beweis. Das Verfahren enthält [schließlich, wie gesagt] „die Sonderbarkeit, daß der eingestandenen Ungenauigkeit unerachtet, ein Resultat herauskommt, das nicht nur ziemlich und so nahe, daß der Unterschied außer acht gelassen werden könnte, sondern vollkommen genau ist. In der Operation selbst aber, die dem Resultate vorhergeht, kann die Vorstellung nicht entbehrt werden, daß einiges nicht gleich Null, aber so unbeträchtlich sei, um außer acht gelassen werden zu können" (I, 241).68 Im Interesse einer ontologischen Deutung des mathematischen Unendlichen stellt Hegel zunächst dieses in den Mittelpunkt, und nicht den Näherungsprozeß. Er problematisiert die „gewöhnliche Bestimmung des mathematischen Unendlichen", wonach es „eine Größe sei, über welche es - wenn sie als das Unendlichgroße - keine größere oder - wenn sie als das Unendlichkleine bestimmt ist - kleinere mehr gebe, oder die in jenem
67
6S
Hegel meint, daß die Ergebnisse der Analysis denen der Geometrie und Arithmetik (zur Bezeichnung Analytisch' vgl. II, 445) zwar in keinem Falle widersprächen, aber nicht alle aus diesen mathematischen Fundamentalwissenschaften ableitbar seien. Anm. d. Hrsg. Die Frage ist, warum etwa für eine Funktion wie y = x° (bei einem .unendlichkleinen' Zuwachs dx) die Vernachlässigung der Glieder des Binoms (x + dx)n = xn + n x n ' dx + ... mit höheren Potenzen von dx eben nicht auf einen Näherungswert führt, wie zu erwarten, sondern auf den exakten Ausdruck für dy - nämlich n · x""1 · dx. Anm. d. Hrsg.
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Quantität und Maß
Falle größer oder in diesem Falle kleiner sei als jede beliebige Größe" (I, 242; angelehnt an Kant, KrV B, S. 458). Diese Definition drücke denselben Widerspruch aus, „der im unendlichen Progresse ist" (ebd.). Hegel zitiert Kant, für den, im Unterschied zu einem unendlichen Ganzen, keine Menge die größte sei, „weil noch immer eine oder mehrere Einheiten hinzugefügt werden können" (I, 243 aus KrV B, S. 458).69 Und er zieht den Schluß: wenn zum Begriff der Größe gehöre, „daß sie etwas sei, das vermehrt und vermindert werden könne", als eine überhaupt „gleichgültige Grenze", und wenn „das Unendlichgroße oder -kleine ein solches ist, das nicht mehr vermehrt oder vermindert werden könne"70 - daß dann das quantitative Unendliche „in der Tat kein Quantum als solches mehr" sei (I, 242). Nur pflegt [so Hegel] die Reflexion, daß das Quantum „aufgehoben ist [...] nicht gemacht zu werden"; die Schwierigkeit sei, das Quantum, „indem es unendlich ist, als ein Aufgehobenes [...] zu denken", es als etwas zu denken, „das nicht Quantum ist und dessen quantitative Bestimmtheit doch bleibt" (ebd.). Da „die Bestimmung des mathematischen Unendlichen [...], wie es in der höhern Analysis gebraucht wird, dem Begriff des wahrhaften Unendlichen entspricht", behandelt Hegel nun „die Zusammenstellung beider Bestimmungen [...] in ausführlicher Entwicklung" (I, 244). Er geht dabei zuerst noch einmal auf das wahrhafte Unendliche ein - gemeint ist das wahrhafte quantitativ Unendliche -, um das mathematische Unendliche in diesem Sinn zu deuten. Das „wahrhafte unendliche Quantum" bestimmt sich für Hegel nach Früherem „als an ihm selbst unendlich"; in ihm ist „das endliche Quantum oder das Quantum überhaupt, und sein Jenseits, das schlechte Unendliche, auf gleiche Weise aufgehoben. Das aufgehobene Quantum ist damit in die Einfachheit und in die Beziehung auf sich selbst zurückgegangen" (ebd.). Es enthält „erstens die Äußerlichkeit und zweitens die Negation derselben an ihm selbst"; es handelt sich nicht mehr um eine „Größebestimmtheit, die ein Dasein als Quantum 69
70
Bei Kant heißt es „hinzugefügt", statt „hinzugetan". Es versteht sich, daß Hegel Kants transzendentale Lösung der sukzessiven Synthesis kritisiert [vgl. KrV B, S. 460]. Für ihn ist diese Möglichkeit der Hinzufügung in dem dialektischen Begriff des unendlichen Progresses gefaßt [vgl. I, 243 u. 140]. Diese Bestimmung des Unendlichen erinnert an Cantors Bestimmung, nach der es falsch ist, daß ( K 0 + m) > N 0 ([hebräisch:] alephc,; vgl. J. Bennett, Kant's Dialectic, S. 129 [vgl. auch G. Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 294]). Gemeint ist bei Cantor allerdings das Unendliche nicht als Größe, was zu einer ontologischen Deutung führen könnte, sondern als Grenzwert von Reihen. [Cantor bezeichnet mit N 0 die Kardinalzahl (also Mengen-Mächtigkeit) der natürlichen Zahlen. Tatsächlich entspricht der „wahre (transzendentale) Begriff der Unendlichkeit" Kants diesem „mathematischen Begriff des Unendlichen" (KrV B, S. 460).]
Exkurs zur Infinitesimalrechnung
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hätte, sondern es ist einfach, und daher nur als Moment; es ist eine Größebestimmtheit in qualitativer Form; seine Unendlichkeit ist, als eine qualitative Bestimmtheit zu sein" (ebd.). Das Quantummoment ist „in wesentlicher Einheit mit seinem Ändern nur als bestimmt durch dieses sein Anderes, d.i. es hat nur Bedeutung in Beziehung auf ein im Verhältnis mit ihm Stehendes. Außer diesem Verhältnisse ist es Null" (ebd.). So, in das Verhältnis eingebunden, ist das Quantum „nicht ein für sich Gleichgültiges; es ist, in der Unendlichkeit als Fürsichsein, indem es zugleich eine quantitative Bestimmtheit ist, nur als ein Für-Eines" (ebd.). Ein so „abstrakt" exponierter Begriff des Unendlichen, der innerhalb des Quantitativen auf die Fürsichseinsstruktur gestützt ist, liegt für Hegel dem mathematischen Unendlichen zugrunde (ebd.). Um das zu zeigen, durchläuft er „die verschiedenen Stufen des Ausdrucks des Quantums als eines Verhältnismomentes [...], von der untersten an, wo es noch zugleich Quantum als solches ist, bis zu der höhern, wo es die Bedeutung und den Ausdruck eigentlicher unendlicher Größe erhält" (I, 244 f.). Die erste Stufe ist die „gebrochene Zahl", der gewöhnliche Bruch (I, 245). Am Beispiel 2/7 erscheinen 2 und 7, die „sonst gleichgültige Quanta" sind, als in einer qualitativen Beziehung stehend; sie sind „Momente, eines des ändern, und damit eines Dritten (des Quantums, das der Exponent heißt)" (ebd.). Sie „gelten [...] nur nach ihrer Bestimmtheit gegeneinander. Statt ihrer kann darum ebensogut 4 und 14, oder 6 und 21 usf. ins Unendliche gesetzt werden"; der Bruch kann erweitert werden und ändert dabei nicht seinen Wert (ebd.). Andererseits gilt: „die Darstellung, welche die Unendlichkeit an einem Zahlenbruche hat, ist aber darum noch unvollkommen, weil die beiden Seiten des Bruchs, 2 und 7, aus dem Verhältnis genommen werden können und gewöhnliche gleichgültige Quanta sind" (I, 245 f.). Auch die algebraische Notierung [a/b, vgl. I, 246 ff.] ändert hieran nichts Wesentliches.71 Das Einfache, anfänglich Qualitative, das der Bruch zeigt, wird nun konfrontiert mit der unendlichen Reihe eines Dezimalbruchs, wobei terminierende Dezimalbrüche nicht im Blick sind (vgl. I, 246 ff.).72 Die un71
72
Hegel geht hier relativ ausführlich auf Themen ein, die z.T. unter „Das quantitative Verhältnis" gehören (ein Stück, das auf die zwei Anmerkungen zur Differential- und Integralrechnung und die dritte zu „noch anderen mit der qualitativen Größenbestimmtheit zusammenhängenden Formen" erst folgt und das wir zum besseren Verständnis vorgezogen haben). Manches erscheint angesichts dieser Disposition bei Hegel doppelt. Ganz ausgespart bleibt diese Möglichkeit nicht. Es kommt für Hegel aber bei der Darstellung eines konkreten quantitativen Verhältnisses durch eine unendliche Reihe nicht darauf an, „daß es andere Brüche gibt als der hier zum Beispiel genommene 2/7, die, zu Dezimalbrüchen gemacht, nicht eine unendliche Reihe geben"; denn jeder „kann für
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endliche Reihe steht für die „schlechte Unendlichkeit des Progresses", der Bruch für die „wahrhafte" (I, 247). - „In der Tat ist als die gewöhnlich sogenannte Summe, das 2/7 oder 1/(1 - a) [als Grenzwert der Reihe l + a + a2 + ...] ein Verhältnis; und dieser sogenannte endliche Ausdruck ist der wahrhaft unendliche Ausdruck" des mathematisch Unendlichen (I, 248). Die unendliche Reihe ist dagegen „mit einem Jenseits behaftet" (I, 247), weil ihr immer etwas mangelt, weil sie „das unvollkommene Aggregat" ist (I, 249).73 Das „wahrhafte mathematische, qualitative Unendliche" gewinnt eine neue Beleuchtung bei Hegels Betrachtung der mathematischen Funktionen im eigentlichen Sinne - d.h. im Unterschied zu Brüchen in bloß algebraischer Schreibweise.74 (I, 251) In solchen Funktionen - wie z.B. y2/x = p „haben und y zwar den Sinn, bestimmte Quanta sein zu können; aber nicht und y, sondern nur und y2 haben einen bestimmten Quotienten. Dadurch sind diese Seiten des Verhältnisses und y erstens nicht nur keine bestimmten Quanta, sondern noch zweitens ihr Verhältnis ist nicht ein fixes Quantum [...], nicht ein fester Quotient, sondern er ist als Quantum schlechthin veränderlich" (I, 252 f.). Das Verhältnis von und y sei so ein „wesentlich qualitatives Verhältnis" (1,253). Hegel meint also, daß die „Funktion der geraden Linie" nicht in Rede stehe, weil die Beziehung „der veränderlichen Größen" und y hier nicht diejenige sei, „in welcher die Differential- und Integralrechnung sie betrachet" (I, 253, vgl. 280 und 283).75 Er kritisiert die Einbeziehung solcher „Funktionen des ersten Grades" [in den Differentialkalkül] als „Formalismus [...], der die an sich richtige Forderung der Verallgemeinerung einer Methode dadurch zu erfüllen meint, daß die spezifische Bestimmtheit, auf die sich das Bedürfnis gründet weggelassen wird [...], als ob es sich in diesem Felde nur um veränderliche Größen überhaupt handle" (ebd.). Die Differentialrechnung ist demnach für Funktionen mit Potenzausdrücken zu reservieren.
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ein Zahlensystem von anderer Einheit als eine solche ausgedrückt werden" (1,247). - So ist etwa 3/10 = 0,3 in dem Zahlensystem, das auf den Potenzen der Einheit 7 aufgebaut ist, = 0,2046... Anm. d. Hrsg. Vermerkt sei ein Exkurs über das sogenannte „metaphysische" Unendliche, das, wiewohl „das absolute genannt", tatsächlich das „schlechte Unendliche" sei (I, 249); sowie eine Einlassung zu Spinoza, dem attestiert wird, daß er „den Begriff der wahren Unendlichkeit gegen den der schlechten" aufgestellt „und durch Beispiele erläutert" habe (vgl. 1,250 f.). Also bei Betrachtung aller nicht-linearen· Funktionen. Anm. d. Hrsg. Man kann ergänzen, daß es zur Bestimmung der Steigung bei linearen Funktionen keines ,Grenzübergangs' bedarf, daß diese Bestimmung also direkt mit .arithmetischen oder geometrischen' Methoden möglich ist. Anm. d. Hrsg.
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Von einem normalen Potenzverhältnis unterscheidet sich der Differentialquotient dadurch, daß von und y unendlich kleine Differenzen gebildet werden, in denen die Bedeutung, Quanta zu sein, „gänzlich verloren" gehe: „dx, dy sind keine Quanta mehr [...], sondern haben allein in ihrer Beziehung eine Bedeutung, einen Sinn bloß als Momente" (I, 254). Sie sind „nicht nichts, nicht die bestimmungslose Null" (ebd.). Nur „außer ihrem Verhältnisse sind sie reine Nullen" (ebd.). Es bleibt indes auch dann ihre „Quantitätsbestimmtheit als Element von Quantis Prinzip" (ebd.). „In diesem Begriff des Unendlichen ist das Quantum wahrhaft zu einem qualitativen Dasein vollendet; es ist als wirklich unendlich gesetzt; es ist nicht nur als dieses oder jenes Quantum aufgehoben, sondern als Quantum überhaupt" (ebd.).76 Der Differentialquotient wird also durch das Fürsichsein gedacht; da aber die andere Seite [in diesem Quotient oder Verhältnis auch] quantitativ etwas sein soll, hat das Modell die Form des Fürsichseins als Sein(s)für-Eines. Der qualitative Charakter des Differentialquotienten entspricht seiner Stellung als die abschließende Gestalt des mathematisch Unendlichen, wie andererseits das quantitative Moment dieses Qualitativen für den bestimmten Wert des Differentialquotienten aufkommt. Die Differentialrechnung als Operation Es ist ersichtlich, daß Hegel seine ontologische Deutung des mathematischen Unendlichen aufstellt ohne Bezugnahme auf die mittels einer Operation vollzogene unendliche Näherung an den Differentialquotienten, bei der sich, wie er ja durchaus sieht, dennoch ein genauer Wert ergibt. Das Metaverständnis des Unendlichen ist ihm das Prius. In seiner Sicht ist es eine Unvollkommenheit, daß die Mathematik erst mittels einer Operation mit endlichen und unendlich kleiner werdenden Größen dorthin gelangen muß ^unendlich' in seiner „gewöhnlichen Bestimmung" -1, 242). Das Thema der unendlichen Annäherung und der ihr zugehörigen Operation wird zunächst in ontologischer Weise angesprochen als Verteidigung der Mathematik gegen Angriffe von unbelehrter philosophischer 76
Es darf angemerkt werden, daß man den Differential-Quotienten - bei Hegel „-Koeffizienten" - nach neuerer Schreibweise als dy/dx notiert, also mit y als der abhängigen Variablen und nicht wie bei Hegel (hier zumindest) als „dx/dy" (I, 254). Es sei noch ergänzt, daß Hegel gerade aufgrund des Moment-Charakters von dx und dy deren Interpretation als „sogenannte" (I, 254) unendlichkleine Differenzen für problematisch hält (vgl. I, 259). Anm. d. Hrsg.
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Seite (vgl. I, 254 f.). Von Hegel kritisierte Einwände gelten etwa dem „sogenannten Mittelzustande" der „verschwindenden Größen [...], die nicht mehr irgendein Quantum, aber auch nicht nichts, sondern noch eine Bestimmtheit gegen anderes sind" (1,255). Hegel verteidigt diese „Mitte und Einheit" mit seinem Begriff des Verschwindens oder „ebenso" Werdens (ebd.). Ebenfalls diskutiert er die - schon in Zusammenhang mit Kant angeklungene - Kritik, das, „was unendlich sei, [...] sei nicht vergleichbar als ein Größeres und Kleineres; es könne daher nicht ein Verhältnis von Unendlichen zu Unendlichen noch Ordnungen oder Dignitäten des Unendlichen geben, [...] welche Unterschiede der unendlichen Differenzen" (dx, dy) in der Differentialrechnung vorkommen (ebd.). Der Fehler liegt für Hegel hier in der Vorstellung, daß es sich [bei diesen unendlich kleinen Differenzen] um Quanta handele, „die als Quanta verglichen werden", und „daß Bestimmungen, die keine Quanta mehr sind, kein Verhältnis mehr zueinander haben" (ebd.). Es gelte aber umgekehrt, „was nur im Verhältnis ist", sei „kein Quantum"; das Quantum ist [für Hegel] demgegenüber „eine solche Bestimmung, die außer ihrem Verhältnis ein vollkommen gleichgültiges Dasein" hat (ebd.). „Jene unendlichen Größen sind daher nicht nur vergleichbar, sondern sind nur als Momente der Vergleichung, des Verhältnisses" (ebd.). Hegel geht dann über zu den Bestimmungen, „welche in der Mathematik über dies Unendliche gegeben worden sind", also zur Deutung der Differentialrechnung durch deren Begründer bzw. bedeutenden Theoretiker (vgl. 1,255 ff.). Wir referieren in aller Kürze. Die Newtonsche Deutung der „verschwindenden Größen" wird positiv aufgenommen: „Es sind Größen verstanden in ihrem Verschwinden, d.h. die nicht mehr Quanta sind; ferner nicht Verhältnisse bestimmter Teile, sondern die Grenzen des Verhältnisses. Es sollen also sowohl die Quanta für sich, die Seiten des Verhältnisses, als damit auch das Verhältnis, insofern es ein Quantum wäre, verschwinden; die Grenze des Größenverhältnisses ist, worin es ist und nicht ist, - dies heißt genauer, worin das Quantum verschwunden, und damit das Verhältnis nur als qualitatives Quantitäts-Verhältnis, und die Seiten desselben ebenso als qualitative Quantitäts-Momente erhalten sind" (1,256 f.). Hegel billigt auch (er bezieht sich dabei auf J. Carnot) eine Interpretation des Differentialquotienten, dergemäß „vermöge des Gesetzes der Stetigkeit die verschwindenden Größen noch das Verhältnis, aus dem sie herkommen, ehe sie verschwinden, behalten" - „insofern nicht die Stetigkeit des Quantums" [darunter] „verstanden wird, die es im unendlichen Progreß hat, sich in sein Verschwinden so zu kontinuieren, daß im Jenseits seiner wieder nur ein endliches Quantum, ein neues Glied der Reihe entsteht" (1,258). Hegel gewinnt ferner Newtons Topoi der „momentanen Inkremente oder De-
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kremente unter dem Namen von Momenten" etwas ab, insofern sie „nicht für Teilchen von bestimmter Größe genommen werden (,particulae finitae')", sondern [für] die „werdenden Prinzipien oder Anfänge endlicher Größen" - d.h. als das Quantum „in seinem Begriffe, oder was hier dasselbe ist, in seiner qualitativen Bestimmung", nicht als „das in die Gleichgültigkeit des Daseins und in die Äußerlichkeit Übergegangene" (1,258 f.). Er moniert: „Wenn aber diese in Ansehung der Inkremente oder Dekremente angeführten Bestimmungen des Unendlichen von der Philosophie des wahrhaften Begriffs anerkannt werden müssen, so ist auch sogleich zu bemerken, daß die Formen selbst von Inkrementen usf. innerhalb der Kategorie des unmittelbaren Quantums und des stetigen Fortgangs fallen; und vielmehr sind die Vorstellungen von Inkrement, Zuwachs, Zunahme des um dx [...] als das in den Methoden vorhandene Grundübel anzusehen" (1,259).77 „Gegen die angegebenen Bestimmungen steht die Vorstellung" (wie bei Leibniz und Wolff) „von unendlich kleinen Größen", die zu vernachlässigen seien, „weit zurück" (ebd.). Ebenso verfällt Eulers Versuch der Kritik „zu zeigen, daß zwei sogennante unendlich kleine Größen, welche nichts anders als Nullen sein sollen, doch ein Verhältnis zueinander haben" (1,26l).78 Im weiteren rügt Hegel „das Weglassen" oder Vernachläs77 78
Nämlich als „eine Subtraktion oder Addition, eine arithmetische, äußerliche Operation", angewandt auf ein eigentlich „qualitatives Verhältnis" (I, 261). Anm. d. Hrsg. Hegel referiert Lagrange, „daß, wenn man gleich sehr gut das Verhältnis zweier Größen vorstellen könne, solange sie endlich bleiben, so gebe dies dem Verstande keinen deutlichen und bestimmten Begriff, sobald seine Glieder zugleich Null werden" (I, 261). [Hartmann gibt im weiteren Verlauf der Anm. Erläuterungen des Herausgebers wieder. Da diese aber in zentralen Punkten irrig waren, werden sie hier durch eine korrigierte Fassung ersetzt. - Euler argumentiert, daß die Bestimmtheit (für Hegel: der Exponent) eines quantitativen Verhältnisses erhalten bleibe, auch bei dessen Grenzübergang in das (nach Hegels Diktion) .Qualitative'. So ist etwa für y = n · x: / = ( · )/ = n · / auch für -4 0 immer noch — n, da man ja (* 0!) kürzen kann; die modernere mathematische Bestimmung des Differentialquotienten beruht auf dieser Überlegung. Euler trübt sie nur durch die offenbar falsche Vereinfachung, daß n · / für —> 0 schon deshalb = n sei, weil sich n · 0 = 0 (nicht n : 0 = 0, wie bei Lasson) kürzen ließe z u ( n - 0 ) : 0 = 0 : 0 = > n = n : l = 0 : 0 . Auf gleiche Weise könnte man herleiten, daß 3 = 7 sei, da ja 3 · 0 = 7 · 0 sich entsprechend .kürzen' läßt (vgl. I, 261 f.).] Eine „merkwürdige Prozedur Newtons" (I, 264) nimmt Hegel als Beispiel für die Versuche, „den Begriff des Unendlichen ganz zu entbehren und ohne ihn das zu leisten, was an den Gebrauch desselben gebunden schien" (I, 263). [Gemeint ist Newtons Versuch, den Differentialquotienten eines Produkts zweier linearer Funktionen herzuleiten - er spricht von einem „durch beständige Bewegung wachsenden Rechteck AB" (I. Newtons, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, hrsg. und übertragen von J.P. Wolfers, Berlin 1872, S. 244). Hegel wählt die Bezeichnung xy (vgl. I, 264); im folgenden werden die beiden linearen Funktionen dagegen als ax bzw. bx notiert, also y = f(x)
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sigen „wesentlicher höherer Potenzen" beim „Gebrauche der Reihenform" zur Differentation von Bewegungsgleichungen - ein Verfahren Newtons, das Lagrange kritisiert habe (vgl. I, 265 f.)·79 Die Sachlage ist für Hegel wie folgt gekennzeichnet. Er sieht im Differentialquotienten das wahrhafte Unendliche als Verhältnis gegeben. Er sieht aber auch, daß dieses eine Grenzhestimmung ist, die sich als Steigung der Tangente an eine Kurve aus der Steigung von Sekanten ergibt. Hegel zitiert Leibniz' Begriff des „charakteristischen Dreiecks", kann also nicht umhin festzustellen, daß in der Ausgangsüberlegung Inkremente (der Abszisse und der Ordinate) angesetzt werden, die eine Sekante bestimmen, Inkremente, die jedoch, wenn man zur Tangente gelangen will, wieder beseitigt werden müssen (1,264; vgl. 293). Im Zusammenhang mit der Reihenform heißt es, solcher „Zuwachs" sei „nur ein äußeres Mittel für die Entwicklung" der Reihenform,80 und seine sogenannte Unendlichkeit ohne alle andere Bedeutung als die, sonst gar keine zu haben als die jenes Mittels" - „ein Zuviel [...], welches wieder wegzubringen die überflüssige Mühe macht" (I, 309). Die Sachlage erscheint demnach in der Hegeischen Sichtweise als widersprüchlich. Ohnehin sind für Hegel die Verfahren der Differentialrechnung nachrangig gegenüber den ursprünglich geometrischen Verfahren. Die [vergebliche] Bemühung der neueren Mathematik gehe darum, die
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= (ax) · (bx). - Newton ersetzt dy = f(x + dx) - f(x) = a(x + dx) · b(x + dx) - (ax) · (bx) durch die Differenz der Funktionswerte der um 0,5 · dx vermehrten bzw. verminderten Abszisse: a(x + 0,5 · dx) · b(x + 0,5 · dx) - a(x - 0,5 · dx) · b(x - 0,5 · dx) = 2abx · dx, wodurch „das Glied, welches die Hauptschwierigkeit ausmacht, das Produkt der beiden unendlichen Differenzen dxdy" = (a · dx) · (b · dx) „durch sich selbst" hinwegfällt (I, 265). Aber Hegel hat natürlich recht, wenn er darauf hinweist, daß dy ^ a(x + 0,5 · dx) · b(x + 0,5 · dx) - a(x - 0,5 · x) · b(x - 0,5 · dx) (vgl. ebd.) - auch wenn sich aus diesem Ansatz der gleiche Differentialquotient ergibt. (Nur bei einer einzelnen linearen Funktion stimmt auch diese Gleichung.) Daß es ihm bei der Umformung darum gegangen sei, dx · dy zu eliminieren, schreibt Newton nicht.] In dem von Hegel genannten Kapitel seiner .Theorie der analytischen Funktionen' kritisiert Lagrange also nicht den Gebrauch der Reihenform, die für seine eigene Theorie grundlegend ist, sondern deren Anwendung durch Newton, der das dritte Glied (und alle folgenden) der entwickelten Weg-Zeit-Funktion als vernachlässigbar klein wegließ, ohne dessen physikalische Bedeutung (als Bewegungs-Widerstand) zu beachten. Anm. d. Hrsg. Gemeint ist die Entwicklung der Differenz f(x + i) - f(x) nach den Potenzen von i. (Da der .Zuwachs' i mit Gauss' imaginärer Zahl (— V-l) verwechselt werden könnte, wird er im folgenden durch die Variable k ausgedrückt.) Als einfaches Beispiel folgt die Entwicklung für f(x) = x3: f(x + k) - f(x) = (x + k)3 - x3 = 3x2k + 3xk2 + k3 Bei ganz-rationalen Funktion -ten Grades ergibt sich so unmittelbar ein Polynom von k - ebenfalls -ten Grades. Bei den anderen Funktionen ist die Berechnung der einzelnen Glieder etwas komplizierter und führt auf eine unendliche Reihe. Anm. d. Hrsg.
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„Strenge der Beweise der Alten (- Ausdrücke von Lagrange -)" zu erreichen (I, 262). Bei den ,Alten' handelte es sich allerdings ,nur' um Beweise im Zusammenhang mit den Kegelschnitten, ohne methodische Verallgemeinerung auf Kurven jederlei Art. Dieser Gebietsgewinn der modernen mathematischen Bemühung ist [nach Hegel] in Rechnung zu stellen. Entwicklungsfunktionen: Binom und Reihe Hegel ist dennoch bestrebt, für den genauen Wert einer Ableitung aufzukommen. Es genügt ihm nicht, etwa in einer Reihe „durch das Hinzufügen weiterer Glieder die Größe so genau zu nehmen, als man nötig habe, und daß die weggelassenen relativ unbedeutend, überhaupt das Resultat nur eine Näherung sei" (I, 265). Diese ganze Schwierigkeit, so meint Hegel wäre beseitigt, wenn man nicht von Veränderung und Zuwachs redete, sondern „statt des Formalismus, die Bestimmung des Differentials nur m die ihm den Namen gebende Aufgabe, den Unterschied überhaupt einer Funktion von ihrer Veränderung, nachdem ihre veränderliche Größe einen Zuwachs erhalten, zu stellen, - die qualitative Bedeutung des Prinzips angegeben und die Operation hiervon abhängig gemacht wäre" (I, 267). Das „Differential" sei „vollkommen durch das erste Glied gefunden" (I, 268). Es gehe nur um das Verhältnis. Oder an späterer Stelle: „Die ganze Methode der Differentialrechnung ist in dem Satze, daß dx" = nx"'Jdx, oder [f(x + i) -fx]/i = P, d.i. gleich dem Koeffizienten des ersten Gliedes des nach den Potenzen von dx oder i entwickelten Binomiums + d, + i, absolviert.81 Man bedarf weiter nichts zu erlernen" (I, 278). Hegel spricht vom „qualitativen Sinn" (I, 267) des Verfahrens, und möchte die Differentialrechnung reinigen von der Idee „der unendlichen Annäherung und der weitern hier ebenso leeren Kategorien von kontinuierlicher Größe, und welche man sonst, wie Bestrehen, Werden, Gelegenheit einer Veränderung für nötig erachtet" hat (I, 271 f.). Nach der authentischen Deutung wäre [wie gesagt] „das Differential von xn durch das
Im Beispiel aus Anm. 80 ist P = 3x2. In der Tat ist ja dy/dx = lim [(f(x + k) - f(x))/k] für k -» 0 = lim [(3x2k + 3xk2 + k3)/k] = lim (3x2 + 3xk + k2) = 3x2 (und entsprechend für jede andere Reihe). Newton und Lagrange verwendeten jedoch nicht den Differentialquotienten und nicht explizit den Grenzwert. Hegel seinerseits lehnt den GrenzwertBegriff ab - wegen dessen Anleihen am „unendlichen Prozeß" und der Nivellierung des qualitativ neuen (und erneut qualitativen) Charakters des Differentialquotienten (vgl. etwa I, 258). Anm. d. Hrsg.
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erste Glied der Reihe, die durch die Entwicklung von (x + dx)n sich ergibt, gänzlich erschöpft" (I, 267). Hegel meint, im Binom sei die Summe, „welche die Wurzel sein soll", [(x + dx)], „auf ihre einfache Bestimmtheit, d.i. ihre wahrhafte Allgemeinheit zurückgeführt [...]; alle weitere Vermehrung der Glieder ist eine bloße Wiederholung derselben Bestimmung und daher etwas Leeres" - so [sei] etwa, „statt (a + b)n für die Potenzentwicklung zu nehmen, (a + h + c + d ...)n [...] nur eine Koketterie des Scheins der Allgemeinheit" (I, 285). Euler und der von Hegel hochgeschätzte Lagrange zielen „am bestimmtesten" auf „die sich ergebenden Potenzbestimmungen der veränderlichen Größen, die sogenannten Koeffizienten [...] des Zuwachses und der Potenzen desselben, nach denen die Reihe sich ordnet" - was einer Auffassung von dx als bloßer Entwicklungsvariable entspreche; „dagegen dx mit der falschen Vorstellung von einer quantitativen Differenz, und andere Zeichen, wie i, mit dem hier unnützen Schein von Allgemeinheit behaftet, immer das Aussehen und die Prätension von einem Quantum und dessen Potenzen haben; welche Prätension dann die Mühe herbeibringt, sie dessen ungeachtet wegzubringen und wegzulassen" (I, 287). Gerade Lagrange faßt zunächst ,den Zuwachs' nicht als unendlich kleine Größe (vgl. 1,268; ferner Liebrucks, [Sprache und Bewußtsein, Bd. 6, Teil l, Frankfurt a.M. 1974], S. 654 f. auch 604 f.), sondern schlicht als unbestimmte Größe „quantite quelconque indeterminee" (vgl. Liebrucks [a.a.O.], S. 654 f.). Lagranges „Funktionen-Kalkül" [gemeint ist: Differentations-Kalkül] beruhe auf dem Fundamentalsatz,82 „daß die Differenz, ohne daß sie Null werde, so klein angenommen werden könne, daß jedes Glied der Reibe die Summe allerfolgenden an Größe übertreffe" (1,268). Es ist nicht deutlich, daß Hegel den Gedanken der Reihe verstanden hat.83 Er ist in seiner Einstellung zu der mit ihr verbundenen Methode 82 83
Von Hegel so bezeichnet. Anm. d. Hrsg. Zweifel ergeben sich aus seiner Kritik an Lagrange: „Wenn x = fx, soll fx, wenn y in y + k übergeht, sich in fx + ph + qh2 + rh3 usf. verändern, hiermit ist k = ph + qh2 usf. und k/h = p + qh + rh2 usf. Wenn nun k und h verschwinden, so verschwindet das zweite Glied" [sowie alle folgenden auf der rechten Seite der zuletzt aufgeführten Gleichung] „außer p, welches p nun die Grenze des Verhältnisses der beiden Zuwächse sei. Man sieht, daß h als Quantum = 0 gesetzt wird, aber daß darum k/h nicht zugleich = 0/0 sein, sondern noch ein Verhältnis bleiben soll. Den Vorteil, die Inkonsequenz, die hierin liegt, abzulehnen, soll nun die Vorstellung der Grenze gewähren; p soll zugleich nicht das wirkliche Verhältnis das - 0/0 wäre, sondern nur der bestimmte Wert sein, dem sich das Verhältnis unendlich d.i. so nähern könne, daß der Unterschied kleiner als jeder gegebene werden könne" (I, 270). Hegels Einwand ist, daß bei Lagrange h = 0 gesetzt werde, womit auch k/h = 0 sei; „damit aber ist über dy/dx = 0/0 nicht hinausgekommen
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wesentlich davon bestimmt, daß hier das Verhältnis als Summe auftritt (in Analogie zum Dezimalbruch gegenüber dem gewöhnlichen Bruch; vgl. I, 248 ff., I, 268 f.). Jedenfalls geht es ihm um die qualitative Bestimmtheit der Glieder (oder nur des ersten Gliedes) einer solchen Entwicklungsfunktion, die sich aus der Potenzierung eines schlichten Binoms ergibt. Das „ Verhältnis der zugrunde liegenden Größe selbst, - deren Bestimmtheit, insofern sie ein Komplex d.i. hier eine Gleichung, ist, eine Potenz in sich schließt** - zu den Funktionen ihrer Potenzierung"^ interessiert Hegel - ja, „dies Verhältnis, ganz abstrahiert von dem vorhin genannten Interesse der Summe", stellt nach seiner Auffassung für die Differentialrechnung das einzige Problem dar, welches sich „aus der wirklichen Wissenschaft ergibt" (I, 285). Hegel hat also auf Grund der von ihm angesetzten Alternativität von Verhältnis (oder Koeffizient) und Summe das mathematische Verfahren, den Wert eines Differentialquotienten durch Reihenbildung zu bestimmen, nicht würdigen können; auch eine spätere Einlassung bietet dasselbe Bild (vgl. I, 308 f.). Hegel meint zwar, daß die Differential- (und Integral-) rechnung „mit der Reiheform [...] wohl das nähere Interesse gemeinschaftlich" habe, „die Entwicklungsfunktionen, welche bei den Reihen die Koeffizienten der Glieder heißen, zu bestimmen; aber indem das In-
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worden. Wenn dagegen dy/dx =p, d.i. als ein bestimmtes quantitatives Verhältnis angenommen wird, wie dies in der Tat der Fall ist, so kommt umgekehrt die Voraussetzung, welche h - 0 gesetzt hat, in Verlegenheit, eine Voraussetzung, durch welche allein k/h = p gefunden wird" (I, 271). Wird/? als bestimmter Wert [einfach] angesetzt, so fragt sich [für Hegel], was p sein solle. Die „trockne Antwort" (ebd.), daß es ein Koeffizient sei, befriedige nicht; p sei dann „weiter nichts als eine aus der Entwicklung eines Binomiums abgeleitete Funktion", und es werde nicht gezeigt, was „noch für eine Bedeutung und Wert, d.i. welchen Zusammenhang und Gebrauch für weiteres mathematisches Bedürfnis" es habe (I, 272). Diese Kritik orientiert sich am Verhältnis, welches im Differentialquotienten liegt, als der Lösung des Problems und nicht an der Reihe. Im folgenden gibt Hegel die qualitative Deutung des ersten Gliedes einer Entwicklungsfunktion als seine [ontologische] Interpretation der Näherung (vgl. I, 272 ff.). [Hegel gibt Lagranges Entwicklung korrekt wieder. - Wenn ein Irrtum konstatiert werden kann, so darin, daß Hegel den .Exponenten' des unbestimmten Verhältnisses 0/0 als notwendig = 0 setzt: „Gibt man aber zu, daß k/h = 0 ist, - und mit h = 0 wird in der Tat von selbst auch k = 0" usw. (I, 271). - Hiergegen gilt: 0/0 als Ergebnis eines Grenzprozesses kann ebenso gleich Null sein wie gleich jedem anderen Wert (also etwa 0/0 = 3, da auch 0 = 3 • 0 ist). (Im Zusammenhang seiner ontologischen Deutung des Differentialquotienten richtet sich Hegels Kritik grundsätzlich gegen das .Analytische' in Lagranges Vorgehensweise, was die Ableitung einer Funktion zum bloßen .Verfahren' herabsetzt - im Sinne moderner Bemühungen um eine autonom begründete Mathematik.)] D.h., insofern es sich nicht um eine lineare Funktion handelt. Anm. d. Hrsg. D.h. das Verhältnis von k zu P · k und Q · k2 usw. aus: f(x + k) - f(x) = P · k + Q · k 2 + ... (entsprechend für k = dx) - und damit letztlich: die Differentialquotienten (Ableitungen). Anm. d. Hrsg.
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teresse jenes Kalküls nur auf das Verhältnis der ursprünglichen Funktion zu dem nächsten Koeffizienten ihrer Entwicklung geht, will die Reihe in der nach Potenzen, die mit jenen Koeffizienten versehen sind, geordneten Menge von Gliedern eine Summe darstellen. Das Unendliche, das bei der unendlichen Reihe vorkommt, der unbestimmte Ausdruck der Negation des Quantums überhaupt, hat mit der affirmativen Bestimmung, welche im Unendlichen jenes Kalküls liegt, nichts gemein" (I, 308 f.). Da Lagrange selbst „die Form der Reihe vorzugsweise wieder aufgenommen" habe, sieht sich Hegel zu dessen Entlastung herausgefordert (I, 309). Lagranges Methode sei zwar durch die Mühe, das Zuviel wieder wegzubringen, „gleichfalls gedrückt"; dennoch sei sie es, „durch welche in dem, was die Anwendung genannt wird, die wahre Eigentümlichkeit sich heraushebt, indem ohne die Formen von dx, dy usf. in die Gegenstände hineinzuzwängen, direkt derjenige Teil nachgewiesen wird, dem an ihnen die Bestimmtheit der abgeleiteten (Entwicklungs-) Funktion zukommt und es sich damit zeigt, daß die Form der Reihe hier nicht das ist, um das es sich handelt" (ebd.).86 Hiermit ist Bezug genommen auf Lagranges Mechanik, in der „den Gliedern der Reihe [...] eine bestimmte Bedeutung gegeben wird", und zwar Geschwindigkeit, Beschleunigung und Widerstand. Die Glieder der Reihe seien daher „nicht nur als Teile einer Summe anzusehen, sondern als qualitative Momente eines Ganzen des Begriffs. Hierdurch erhält das Weglassen der übrigen Glieder, die der schlecht unendlichen Reihe angehören, eine gänzlich verschiedene Bedeutung von dem Weglassen aus dem Grund der relativen Kleinheit derselben" (I, 266). Der Grund ist vielmehr die Bedeutungslosigkeit der restlichen Reihe für eine Auffassung der Funktion im Sinne der Mechanik. Hegel zitiert Lagrange: „,Da nun die übrigen Glieder sich auf keine einfache bekannte Bewegung beziehen, so ist nicht nötig, sie besonders in Rücksicht zu nehmen und wir werden zeigen, daß man von ihnen in der Bestimmung der Bewegung [...] abstrahieren kann" (I, 266 f., Anm.).
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Zur Erläuterung: Da Lagrange in seiner analytischen Theorie das i (oder k oder dx) bloß als „Zuwachs" d.h. als ein bloß „äußeres Mittel für die Entwicklung" einer Funktion einführt (I, 309) - ergeben sich für ihn die eigentlichen Probleme darin, den ersten Koeffizienten dieser Entwicklung (vgl. Anm. 80 ff.) zu interpretieren: sei es allgemein als Tangentensteigung oder physikalisch (als Geschwindigkeit etc. im Falle von WegZeit-Funktionen). Hegels Hochschätzung von Lagrange beruht vor allen darauf, daß er dies letztere geleistet hat ,ohne die Vorstellung vom Unendlich-Kleinen, von verschwindenden Größen, von Grenzen und Fluxionen, ganz nach Art der algebraischen Analysis endlicher Größen' (wie man in Anlehnung an den Untertitel der Theorie des ... formulieren kann); siehe auch den folgenden Abschn. Der von Hartmann im folgenden hergestellte Bezug besteht jedoch nicht (vgl. Anm. 88). Anm. d. Hrsg.
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Die Rechtfertigung des Weglassens der übrigen Glieder (oder des Abbrechens der Reihe von iterierten Ableitungen) durch Verweis auf die Natur, oder auf die Anwendung, wird der Reihentheorie nicht gerecht. Wichtig [bei dieser physikalischen Interpretation] ist überhaupt nicht der Reihenausdruck einer Funktion, sondern die Aufstellung von Definitionen: wenn Bewegung als Weg-Zeit-Funktion s(t) gefaßt wird, dann steht die 1. Ableitung ds(t)/dt = v(t) für Geschwindigkeit; die 2. Ableitung dv(t)/dt = a(t) für Beschleunigung (hierbei wird a als Konstante der Schwerkraft interpretiert [vgl. I, 266 f.]87)· Die Entwicklung der Reihe nach dt ergibt die Weg-Zeit-Funktion der gleichmäßig beschleunigten Bewegung [mit Anfangsgeschwindigkeit v]: s(t) = v · t + 0,5 · a · t2. Das Beispiel ist aber nicht aussagekräftig in der Frage des Weglassens von Reihengliedern.88 Die Hegeische Kritik an der Reihenmethode muß als Verstrickung in eine ontologische Argumentation aufgefaßt werden, welche die Differentialrechnung verfehlt. Es besteht für die Mathematik kein Grund, eine Funktion nicht als Reihe und den Wert einer Ableitung nicht als Summe aufzufassen. 89 Auch ein .Zuviel' - ähnlich wie beim unendlichen Dezi87
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Was die folgende Weg-Zeit-Funktion auf eine des freien Falls einschränkt. (In Hegels Schreibweise, „s = at2" (I, 267), wäre a = 0,5 · g.) Anm. d. Hrsg. Das Vorstehende entspricht gerade Hegels Kritik an Lagranges Anwendung der Reihe auf diesen physikalischen Sachverhalt. Zur Ergänzung: Hegel kritisiert an Lagranges Interpretation der Weg-Zeit-Gleichung s(t) = v · t + 0,5 · a · t2 zum einen die Reduktion auf gleichförmige Geschwindigkeit und konstante Beschleunigung als 1. und 2. Ableitung. Für Hegel wären (etwa im Fall der Planentenbewegung) durchaus Weg-ZeitFunktionen denkbar, in deren Reihenentwicklung die Koeffizienten beliebiger weiterer Glieder (als gleichmäßige Veränderung der Beschleunigung, dann gleichmäßige Veränderung dieser Veränderung usw.) einen reellen Sinn hätten (vgl. I, 300 f. u. 267). Zum anderen moniert Hegel, daß entsprechend der analytischen Verbindung der beiden Bewegungsarten (gleichförmig konstant beschleunigt), d.h. ihrem bloßen .Nebeneinander' in der Summe, zugleich auch „ihre objektiven Verknüpfungen und Verhältnisse bestimmt sein" sollen (1,276, vgl. 267). Anm. d. Hrsg. Auch .Reihentheoretiker' behaupten nicht, der Differentialquotient ergebe sich als Summe (oder Grenzwert derselben). Lediglich der um k (oder dx) gewachsene Funktionswert f(x + k) ergibt sich als ein solcher Reihengrenzwert bei nicht ganz-rationalen Funktionen, Funktionen also, deren Entwicklung unendlich fortgesetzt werden kann (und muß). - Um dies noch zu ergänzen: Hegel ist sich durchaus im klaren darüber (vgl. etwa I, 266), daß die Koeffizienten der Reihen-Entwicklung die Differentialquotienten erster bzw. höherer Ordnung sind (dividiert durch ein mit dieser Ordnung gleichmäßig wachsendes Produkt) - daß also gilt: f(x + k) = f(x) + [f'(x)/l] · k + [f"(x)/(l • 2)] · k2 + [f"'(x)/(l · 2 · 3)] · k3 ... oder (f(x + dx) = f(x) + [f'(x)/l] · dx + [f"(x)/(l - 2)] · dx2 ... (ohne Ende bei nicht ganz-rationalen Funktionen). Dieser Zusammenhang wird aber seiner Auffassung nach durch die Reihenform eher verdunkelt: „Indem es sich nicht um eine Summe, sondern um ein Verhältnis handelt, so ist das Differential vollkommen durch das erste Glied gefunden" (I, 267 f.). Das meint vielleicht: indem es ge-
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malbruch ein ,Zuwenig' - ist im Gedanken der Annäherung an den Limes [für gegen] 0 (und d.h. an den Wert der Summe) nicht zutreffend. Der Grundmangel ist Hegels metatheoretische Deutung des Unendlichen als ein Verhältnis, die zugleich als thematische Auffassung des Differentialquotienten angeboten wird; sein Wert darf nicht als Summe (als etwas Nicht-Verhältnismäßiges) erscheinen. Wie auch die metatheoretische Deutung des Bruchs als eines „wahrhaften mathematischen Unendlichen" (I, 247 f.) dessen Wert ignorierte, so kann auch in dieser Deutung im Grunde gar nicht der Wert des Differentialquotienten Thema sein, obwohl es hieß, bei ihm als aufgehobenem Quantum bleibe „die Quantitätshestimmtbeit als Element von Quantis Prinzip" (I, 254).90
Verhältnis und Gleichung Hegels Ansichten zur Operation der Differentialrechnung, also zum Weg, auf dem die Ableitungen gefunden werden, sind zu ergänzen durch seine Überlegungen zum „reellen Sinn" der Ableitung im Verhältnis zur
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rade nicht um den Wert von f(x + dx) geht, sondern nur um das Verhältnis der Veränderungen gegeneinander (dy/dx), ist dieses prinzipiell oder qualitativ bereits durch das erste Glied ausgedrückt; „und wo es fernerer Glieder, der Differentiale höherer Ordnung bedarf, so liegt in ihrer Bestimmung nicht die Fortsetzung einer Reihe als Summe, sondern die Wiederholung eines und desselben Verhältnisses" (I,268). - Was Hegel darüber hinaus an der Reihenentwicklung stört, ist, daß die Schreibweise: dy = f'(x)dx + ... bei Vernachlässigung der höheren Potenzen von auf eine Nivellierung des qualitativen Unterschieds beider Zuwächse dx und dy hinausläuft. „Indem es nun damit geschehen ist, daß die Inkremente oder unendlichen Differenzen nur nach der Seite des Quantums, das in ihnen verschwindet und nur als Grenze desselben betrachtet worden sind", so „würde die unstatthafte Veränderung daraus folgen, daß es erlaubt sei [...] etwa Abszisse und Ordinate, oder auch Sinus, Kosinus [...] und was alles noch gleich zu setzen" (1,274). Anm. d. Hrsg. Es ergeben sich Bedenken sowohl gegen Liebrucks' Bejahung der Hegeischen Deutung des Unendlichen (a.a.O., S. 677) wie auch gegen Pinkards Deutung [a.a.O., S. 461 ff.]. Zwar steht die Cantorsche Deutung des Unendlichen Hegel nahe; ein Verhältnis mit beliebig klein gedachten Seiten kann aber eine Zahl zum Wert haben und ist so etwas anderes. Hegel möchte vor der Alternative des Unendlichen, das „nicht mehr irgendein Quantum" ist (I, 255), und dem Verhältnis sich für das letztere entscheiden als „wahrhaft zu einem qualitativen Dasein vollendet" und nicht mehr Quantum (I, 254); diese Alternative ist jedoch nicht die der Mathematik. [Es ist - so könnte man Hartmanns Kritik weiterführen - nicht zu sehen, wie sich einerseits Pinkards Auffassung des .wahrhaft Unendlichen' bei Hegel - als Erzeugungs-Gesetzmäßigkeit einer unendlichen (Bestimmungs-)Folge - unterscheidet (oder: anders als „transzendental" unterscheidet - vgl. Anm. 70) von dem durch Hegel kritisierten „Progreß ins Unendliche" (I, 243). Es ist deshalb auch nicht zu sehen, inwiefern Pinkard mit seiner Interpretation den Verhältnischarakter des .qualitativ' oder .wahrhaft Unendlichen' gerecht wird.]
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Ausgangsfunktion (1,276). - Zur Methode sagt er: „Es werden erstlich die Potenzenbestimmungen [...], welche die Gleichung enthält, auf ihre ersten Funktionen [ersten Ableitungen] herabgesetzt. Damit aber wird der Wert der Glieder der Gleichung verändert; es bleibt daher keine Gleichung mehr, sondern es ist nur ein Verhältnis entstanden zwischen der ersten Funktion der einen veränderlichen Größe zu der ersten Funktion der anderen; statt px = y2 hat man p : 2y oder statt 2ax — x2 = y2 hat man a - : y, was nachher als das Verhältnis dy/dx bezeichnet zu werden pflegte. Die Gleichung ist Gleichung der Kurve; dies Verhältnis, das ganz von derselben abhängig, aus derselben (oben nach einer bloßen Regel) abgeleitet ist, ist dagegen ein lineares, mit welchem gewisse Linien in Proportion sind;p : 2y oder a - : y sind selbst Verhältnisse aus geraden Linien der Kurve, den Koordinaten und den Parameters; aber damit weiß man noch nichts. Das Interesse ist, von ändern an der Kurve vorkommenden Linien zu wissen, daß ihnen jenes Verhältnis zukommt, die Gleichheit zweier Verhältnisse zu finden. - Es ist also zweitens die Frage, welches die geraden, durch die Natur der Kurve bestimmten Linien sind, welche in solchem Verhältnisse stehen?" (1,292; vgl. 1,290). Die Frage ist, ob das durch die Ableitung bestimmte Verhältnis die Steigung der Tangente an die Kurve ist, das Verhältnis von Ordinate und Subtangente. Ganz entsprechend meint Hegel, daß sich mit der Differenzierung immer nur ein Verhältnis ergebe „aus dem angegebenen einfachen Grunde, weil durch das Substituieren der Funktionen der Potenzierung an die Stelle der Potenzen selbst der Wert der beiden Glieder der Gleichung verändert wird, und es für sich selbst noch unbekannt ist, ob auch zwischen ihnen bei so veränderten Werten noch eine Gleichung stattfinde. Die Gleichung dy/dx = P drückt gar nichts weiter aus, als daß P ein Verhältnis ist, und es ist dem dy/dx sonst kein reeller Sinn zuzuschreiben. Von diesem Verhältnis = P ist es aber ebenso noch unbekannt, welchem ändern Verhältnisse es gleich sei; solche Gleichung, die Proportionalität, gibt demselben erst einen Wert und Bedeutung" (I, 297). Hegels Einwand ist festgemacht an dem Gedanken, daß eine Ableitung nur ein Verhältnis sei und keine Gleichung. Gleichung läge erst vor, wenn die Gleichheit des Koeffizienten P mit dem Verhältnis von Ordinate und Subtangente dargetan wäre. Die bloße Alterierung der Ausgangsfunktion zu depotenzierten Werten zeige das noch nicht. Die neue, lineare Gestalt der Ableitung erscheint als rechtfertigungsbedürftig in bezug auf die Ausgangsfunktion: gibt sie tatsächlich die [Steigung der] Tangente an? Daß die Ableitung keine Gleichung sei, ist ein Mißverständnis, da ja jede Ableitung aus der Koordinatengleichung y = f(x) entwickelt wird und dabei Gleichung bleibt. Hegel selbst spricht von der „ersten Funkti-
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on [Ableitung] der Kurvengleichung" als „Determination einer geraden Linie" (I,294).91 Entsprechend lassen sich die Formelausdrücke im Text „p : 2y" und „a - : y" [(a - x): y] (I, 292) - zu Gleichungen umformen. An Hegels Monitum ist jedoch so viel richtig, daß es sich bei der durch die Ableitung erhaltenen Funktion um das Steigungsmaß, d.h. die Tangentensteigung für jeden Wert von x, handelt. Hegel meint aber eben, daß das Ableiten seinen Sinn nur gewinne aus der Bestimmung der Tangentensteigung, während die Mathematik immer nur wieder zu einer anderen Funktion komme, daß man also in allgemeinen Ausdrücken vorgehe, keinen bestimmten Punkt und entsprechend keine bestimmte Tangente erhalte. (Dies wäre aber in einem Beispiel, bei Einsetzung von Werten, sofort der Fall.) Hegel negiert im Grunde den Funktionsbegriff. - Dies gilt schon für den schlichten Fall der 1. Ableitung einer quadratischen Funktion; das Unbehagen müßte sich steigern, wenn die Ableitungen selbst wieder nicht-lineare Funktionen sind.92 Ist aber die Rechtfertigungsbedürftigkeit der Differentialrechnung nicht im mangelnden Gleichungscharakter der Ableitung gelegen, so ist auch Hegels Bemühung entbehrlich, den Erhalt der Tangente elementargeometrisch zu begründen. Er unterstreicht bereits „die Alten" hätten „auf sinnreichem geometrischem Weg gefunden", daß dem in der Differentialrechnung gewonnenen Verhältnis dasjenige von Ordinate und Subtangente entspreche; was demgegenüber „die neuern Erfinder" der Differentialrechnung bloß „entdeckt haben, ist das empirische [!]93 Verfahren, die Gleichung der Kurve so zuzurichten, daß jenes erste Verhältnis geliefert wird, von dem bereits bekannt war, daß es einem Verhältnisse gleich ist, welches die Linie enthält, hier die Subtangente, um deren Be91
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Hegel referiert Lagranges Erweis der Gleichheit von Ableitung und Tangentensteigung (vgl. I, 294 f. und Anm 94). Es geht Hegel nicht darum, daß die Ableitung einer Funktion wieder eine Funktion ist, sondern um die „Anwendung" (I, 278) der Differentialrechnung: d.h. hier um den Nachweis, daß die nach einigen allgemeinen Verfahrensregeln bestimmbare Ableitung einer Funktion (der Differentialquotient oder „das Verhältnis") - daß diese also der Tangentensteigung der zugehörigen Funktion entspricht. Ein solcher Beweis erscheint um so notwendiger, je mehr man - wie Lagrange - „den echt wissenschaftlichen Weg eingeschlagen" hat, indem der „theoretische oder allgemeine Teil, nämlich das Finden der ersten Funktion [= Ableitung] aus der gegebenen Kurvengleichung" getrennt wurde von der „Findung derjenigen Linien an der Kurve, welche in jenem Verhältnisse stehen" (I, 293, vgl. Anm. 86). Anm. d. Hrsg. Zu Hartmanns Hervorhebung: Hegel denkt bei dieser Wortwahl vielleicht an die als Abschätzungen konzipierten Verfahren zur Berechnung des Differentialquotienten mittels Vernachlässigung höherer Potenzen von dx - vgl. Anm. 68). Solche Abschätzungen haben, wie es an anderer Stelle heißt, für Hegel etwas „Empirisches, d.i. von einem Quantum als solchem Abhängiges" (I, 295). Anm. d. Hrsg.
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Stimmung es zu tun ist. Teils ist nun jene Zurichtung der Gleichung methodisch gefaßt und gemacht worden, - die Differentation, - teils aber sind die imaginären Inkremente der Koordinaten und das imaginäre, hieraus und [aus] einem eben solchen Inkremente der Tangente gebildete charakteristische Dreieck erfunden worden, damit die Proportionalität [...] als ein Erwiesenes dargestellt werde" (I, 292 f.). Demgegenüber findet sich für Hegel bei Lagrange die Deutung der Tangente als „diejenige Linie [...], auf welche die größere Kleinheit schlechthin in Ansehung der Determination, auf welche es ankommt, falle" (I, 295).94 Auch wenn man von einer Rechtfertigungsbedürftigkeit der Differentialrechnung ausgeht, so erscheint der Rekurs auf die geometrische Beweisstrenge ,der Alten' als eine unbillige Forderung angesichts des über Kegelschnitte hinausreichenden Gegenstands dieser mathematischen Disziplin.95 Und da ja im übrigen die gewünschten Nachweise durchaus 94
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Hier ist vielleicht eine Erläuterung angebracht. Lagranges Ansatz ist die Bestimmung der Differenz zweier Funktionen f,(x) und f2(x), welche an der Stelle x0 einen gemeinsamen Funktionwert haben. Es gilt dann: f,(x0 + k) = ,( 0) + [f,'(x 0 )/l] · k + [f,"(Xo)/(l · 2)] · k2 + ... und f 2 (x c + k) = f 2 (x c ) + [f 2 '(x 0 )/l] · k + [f 2 "(x 0 )/(l · 2)] · k2 + ... Daraus ergibt sich, da f,(xc) = f2(x0): f,(x 0 + k) - f 2 (x a + k) = [(f,'(x 0 ) - f 2 '(x 0 ))/l] · k + [(f 2 "(x 0 ) - f 2 "(x 0 ))/(l · 2)] · k2 + ... Offenbar wird diese Differenz um so kleiner, in je mehr Ableitungen die beiden Funktionen übereinstimmen. Ist f 2 (x) speziell die Funktion einer Geraden - für welche die zweite und alle folgenden Ableitungen gleich Null sind -, so folgt aus f,'(x c ) = f 2 '(xo)> daß keine andere Gerade zu f,(x) geringere Differenzen ausbilden kann. „Hier kommt denn [...] das berüchtigte Inkrement herein" und jene von Hegel in anderem Zusammenhang kritisierte Abschätzung, nach der jedes Glied der Entwicklung die Summe der übrigen quantitatv übersteigt: insofern nämlich als, wenn [(f,'(x 0 ) - f 2 '(x 0 ))/l] · k * 0 (für eine Gerade also, die nicht Tangente ist), auch f,(x c + k) - f 2 (x0 + k) ^ 0 ist - unabhängig von der Summe der restlichen Glieder (I, 294, vgl. 268). Und dies ist der Nachweis, daß die Gerade mit f'(x 0 ) als Steigung diejenige Gerade ist auf welcher „die größere Kleinheit schlechthin [...] falle" (=das Minimum der f 2 (x0 + k)-f, (x0 + k)) - wie für die Tangente gefordert (I, 295, vgl. J.L. Lagrange, Theorie des functions analytiques, Paris 1813, Teil II, Kap. If.). Es sei noch hinzugefügt, daß diese Art der Abschätzung für Hegel „berechtigt und notwendig" oder „qualitativ durch die Natur der Formel gesetzt" ist, offenbar insofern sie keine Größen vernachlässigt und auf die Ungleichung i2 < i hinausläuft; wenn aber i „als ein Bruch vorzustellen ist" (also i < 1), „so ist i2 an und für sich kleiner als i" (I, 294 f. i wurde im vorangegangenen Absatz durch k bezeichnet, vgl. Anm. 80). Anm. d. Hrsg. Noch im Rahmen der Kegelschnitte bewegt sich die Tangentenmethode Descartes', der Hegel großes Lob zollt (vgl. 1,295 ff.). (Die Tangente wird dabei bestimmt als Grenzfall der Sekanten eines Kreises, bei der also die beiden Schnittpunkte in einem (Berührungs-) Punkt zusammenfallen [woraus sich dann die Gleichheit der so ermittelten Tangentensteigung mit dem Differentialquotienten der Kreisgleichung ergibt]. Hegel sieht darin ein klassisch-analytisches Verfahren zur Bestimmung einer (Kegelschnitt-)Tangente.)
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geliefert wurden, so entfällt deren am Thema ,Verhältnis und Gleichung' festgemachte Einforderung. Eine andere Frage wäre der Fall, daß nicht für alle Werte von x, für die f(x) definiert ist, auch die Ableitung bestimmt sein muß.96 Diese Einschränkung scheint Hegel nicht bewußt gewesen zu sein. Für ihn müßten alle Funktionen in ihrem Definitionsbereich differenzierbar sein.
Das Interesse der Differentialrechnung: die Anwendung Hegel betrachtet die Differentialrechnung nicht als analytisches Verfahren: sie sei „nicht für sich selbst erfunden und aufgestellt worden" und „ist nicht nur nicht für sich begründet als eine andere Weise analytischen Verfahrens, sondern die Gewaltsamkeit, Glieder, die sich aus Entwicklung einer Funktion ergeben, [...] geradezu wegzulassen, widerspricht vielmehr durchaus allen mathematischen Grundsätzen. Das Bedürfnis solcher Verfahrungsweise [...] weist sogleich darauf hin, daß anderswo der Ursprung und die Grundlage sich befinden müsse" (I, 279). Gemeint ist das Verfahren, höhere Ableitungen wegzulassen, weil eine außermathematische Gegebenheit keinen Anlaß oder kein Gegenstück zu ihnen bietet. Hegel spricht von „Kunststücken", in denen die Sache ihren Anfang genommen habe, wenn auch das Verfahren „später zum Bewußtsein und in abstrakte Formeln gebracht worden, welche nun auch zu Prinzipien zu erheben versucht wurde" (ebd.). Die Anwendung, das Bedürfnis oder der Zweck des Differentialkalküls scheinen für Hegel also wichtig zu sein (vgl. 1,278,286 f.). Er spricht verschiedentlich vom Interesse in der Differentialrechnung, vom „Interesse der Operation", womit er die Anwendung meint (I, 290; vgl. auch I, 269, 281, 288 f., 302 f.). Oder er bezeichnet die Mechanik als ein „anderes Hauptgebiet" der Differentialrechnung (I, 299). Allerdings heißt es dann weiter, daß die „Anwendung des Differentialkalküls auf die ele-
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Im übrigen aber ist er durch seine Betonung der Ableitung als Verhältnis gehindert, dieser einen „reellen Sinn" zuzuschreiben, nämlich als Steigungsmaß der Tangente (1,297). Anders gesagt, über das klassische Vorbild der Kegelschnitte hinaus bleibt es für Hegel suspekt, wie die Differentialrechnung für Kurven allgemein das Steigungsmaß in einem beliebigen Punkt und von daher auch Tangentengleichungen aufzustellen vermag. [Vgl. hierzu Anm. 92, 94. Auch kann man Hegel nicht unbedingt unterstellen, er verlange für die Analysis die „Beweisstrenge ,der Alten'" (vgl. oben S. 125 zu I, 263).] Beispiel: y - | x | (,x absolut'); das bedeutet = wenn x > 0 und = -x wenn < 0. [Diese Funktion ist stetig, aber undifferenzierbar für x - 0, wegen des .Knicks' an dieser Stelle, wo (für wachsendes x) negative Tangentensteigung unmittelbar in positive umschlagen. - Es ist nicht anzunehmen, daß solche Funktionen für Hegels Deutung tatsächlich ein erhebliches Problem darstellen.]
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mentarischen Gleichungen der Bewegung kein reelles Interesse" darstelle; „das formelle Interesse kommt von dem allgemeinen Mechanismus des Kalküls" (1,301).97 Das soll sagen, die Ergebnisse des Kalküls hätten keinen „reellen Sinn, d.i. dem eine Existenz entspräche" (1,276).98 So kritisiert Hegel etwa, daß bei Bewegungen (z.B. dem freien Fall) die Ansetzung von „unendlichkleinen Zeitteilen" mit gleichförmiger Bewegung und „endlichen Zeitteilen, d.h. in der Tat existierenden" mit ungleichförmiger Bewegung auf einen physikalischen Satz führe, der eine Summe von Nichtexistierendem zum Beweisgrund mache für die tatsächlich existierende ungleichförmige Bewegung (vgl. I, 299 f.). Hegel will stattdessen das Fallgesetz99 als nicht weiter rückführbares Ganzes, als „Gesetz der Schwere", beibehalten (I, 300).10° In ähnlichem Sinne wendet sich Hegel gegen die theoretische Entwicklung von Bewegungen, die es in der Natur nicht gibt. Die „einfachste Bewegung" nach der im freien Fall (notiert als s = at2) wäre s = et3; „aber die Natur zeige keine Bewegung dieser Art" (ebd.). Der Formalismus, immer weiter zu rechnen, würde die „physikalischen Existenzen" überschreiten (1,277).101 97
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Hegel wehrt sich mit dieser Bemerkung offenbar nur gegen die „formelle" Verallgemeinerung des Differentialkalküls auch auf gleichförmige (= „elementarische") Bewegungen. Deren Funktionsgleichung - gegenüber Hegels Schreibweise etwas modifiziert s(t) = c · t „bietet für die Differentation keinen Sinn dar; der Koeffizient c ist bereits vollkommen bestimmt und bekannt, und es kann" als auf eine lineare Funktion „keine weitere Potenzentwicklung stattfinden" (I, 299, vgl. oben S. 120). Anm. d. Hrsg. Hegel meint an der zuletzt zitierten Stelle nicht die gleichförmige Bewegung. Er spricht vielmehr von der Weg-Zeit-Funktion einer gleichmäßig beschleunigten Bewegung mit Anfangsgeschwindigkeit, deren Entwicklungskoeffizienten als sich überlagernde Momente einer zusammengesetzten Bewegung genommen würden - einer gleichförmigen und einer aus dem Start heraus konstant beschleunigten. Hegel kritisiert diese analytische Zergliederung der Wirklichkeit anhand des entsprechenden Funktionenkalküls (vgl. Anm. 88). Anm. d. Hrsg. D.h. die Weg-Zeit-Funktion des freien Falls. Anm. d. Hrsg. Hegel verwahrt sich mehrfach gegen Scheinbeweise von Naturgesetzen mit Hilfe der Differentialrechnung (vgl. I, 276 f., 300). Allerdings weist Hegel der Differentialrechnung auch eine Erschließungsfunktion zu, etwa bei der Frage, was in der funktionalen Entwicklung des Keplerschen Gesetzes der Planetenbewegung die erste [Ableitung, nämlich als Koeffizient einer dritten Potenz] und „von diesem Ausgangspunkte aus" die ferneren Ableitungen „bedeuten" sollen (I, 300 f.). Dies müßte „als eine interessante Aufgabe erscheinen, in welcher die Analysis im würdigsten Glänze sich zeigen würde" (I, 301). [Wenn Hegel an dieser Stelle von Entwicklungsgliedern der s(t)-Funktion spricht, denen keine reale Bewegung entspreche - so referiert er lediglich Lagranges diesbezügliche These, deren empirische Grundlage Hegel nicht bestreitet. Nur ist sie als bloßes Faktum eben weder bewiesen (vgl. I, 277) noch, wie für ihn das Beispiel „s3 = at2" zeigt, ausnahmslos. - Es muß allerdings hinzugefügt werden, daß Hegels Beispiel nicht die Weg-Zeit-Gleichung der Planetenbewegung (bzw. ein Glied von deren Entwicklung) darstellt, anders als in den vorangegangenen .Anwendungen', wo es sich um solche Gleichungen handelte. Hegel zitiert
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Dennoch: im Einklang mit physikalischer Existenz gibt es für Hegel legitime Anwendungen des Kalküls. Ja, Hegel eignet sich den Standpunkt des von ihm zitierten EW. Spehr zu, wonach die Anwendungen es gerade sind, „,welche den Gegenstand der eigentlichen Differentialrechnung ausmachen'" (I, 309 f., Anm.). Man habe dementgegen, „,rein arithmetische Untersuchungen [...] wohl gar, wie Lagrange, für die Sache seihst gehalten'" und die Differentialrechnung ,„nur als Anwendung'" der arithmetischen Untersuchungen (ebd.). Zu trennen seien aber vielmehr „,alle jene arithmetischen Entwicklungen und Operationen'" und ,„die Sache seihst'", der „,Gegenstand"' (ebd.). Hegel seinerseits meint, daß die Differentialrechnung zu einem „System der Potenzbehandlung" gehöre, innerhalb dessen es andere Potenzbehandlungen gebe; „aber welches unter den verschiedenen Verhältnissen, worin Potenzbestimmungen gesetzt werden können, dasjenige sei, das der eigentliche Gegenstand und das Interesse für die Differentialrechnung ist, dies ist aus dieser selbst, d.i. aus den sogenannten Anwendungen derselben zu entnehmen. Diese sind in der Tat die Sache selbst, das wirkliche Verfahren in der mathematischen Auflösung eines gewissen Kreises von Problemen; dies Verfahren ist früher gewesen als die Theorie oder der allgemeine Teil, und Anwendung ist dasselbe später genannt worden nur in Beziehung auf die nachher erschaffene Theorie" (I, 281). Die Mathematik vermag dabei allerdings nicht-empirische Verfahren zur Differenzierung von Kurven aufstellen. So teilt sich denn die Differentialrechnung für Hegel, der dies schon bei Lagrange zu erkennen glaubt, in den „theoretischen oder allgemeinen Teil" (I, 293) und den besonderen oder die Sache selbst; ob die Differenzierung von Kurven sinnvoll ist, richtet sich nach der Empirie oder, wohl richtiger, nach der regionalen Ontologie [des funktional miteinander Verbundenen]. Von dieser Ontologie hängt es ab, was eine Ableitung (und insbesondere eine höhere Ableitung) besagt. Was Hegel richtig sieht, ist die mögliche Anwendungsbezogenheit der Differentialrechnung. Seine Sicht der Zuordnung von Funktionen zu Naturgegebenheiten ist allerdings zu einfach; die Berechnung einer Sinusfunktion z.B. verlangt höhere Ableitungen, ohne daß eine Zuordnung zu Naturfaktoren ins Spiel käme. Aber dies hindert nicht, daß man Sinusvielmehr das 3. Keplersche Gesetz: s2 ist propotional zu t3, wobei s die große Halbachse der eliptischen Planetenbahn, t (meist als T bezeichnet) die Umlaufdauer bedeutet. Es handelt sich also um einen funktionalen Zusammenhang unter den Planetenbewegungen, nicht um den inneren Ablauf einer einzelnen. Da es sich bei letzterer um eine gekrümmte Bewegung handelt, wäre ihre funktionale Beschreibung durch eine Gleichung gar nicht möglich - sondern nur durch ein System von Gleichungen. Vgl. auch Anm. 88.]
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funktionen auf physikalische Probleme anwendet.102 Hegel fehlt somit der Gedanke, daß die Differentialrechnung autonom, aber physikalisch jinterpretierbar' ist; stattdessen soll sie durch ihren Anwendungsbereich beschränkt sein. Integralrechnung Hegels Ausführungen sind hier sehr viel summarischer als die zur Differentialrechnung. Originelles ist schon dort gesagt, so daß wir nur kurz darauf eingehen müssen. Es ist Hegel wichtig, auch für die Integralrechnung ein Verständnis, nach dem es sich bei ihr um eine Summationsmethode unter Rekurs auf unendlich kleine Größen handelt, kritisch abzuheben von einer einfacheren und richtigeren Methode, die er durch Lagrange begründet sieht. Die „gewöhnliche Methode" verwendet unendlichkleine Rechtecke, in die sie ein Trapez mit einem Bogenstück als vierte .Seite' einschachtelt (I, 303). Das Integral ist die Summe der unendlich vielen Trapeze. Entsprechend verwendet sie bei der ,Rektifikation' des Bogens rechtwinklige Dreiecke, deren Sekanten-Hypothenuse im Grenzprozeß zur Tangente wird und bei denen folglich nach dem Satz des Pythagoras „das Quadrat jenes Bogens gleich sei der Summe der Quadrate der beiden ändern Unendlichkleinen" [d.h. der Katheten], „deren Integration den Bogen als einen endlichen ergibt" (I, 304). Hegel kritisiert an dem Verfahren, daß es die Beziehung „der sogenannten ursprünglichen Funktion zu der abgeleiteten" voraussetzt (ebd.). „Man weiß", daß die Integration der Kurve die Fläche gibt oder daß die Integration der Tangente der Bogen ist; „daß nun aber diese Verhältnisse [...] eine Proportion bilden, dies zu erkennen und zu beweisen erspart sich die Methode, die das Unendlichkleine und die mechanische Operation mit demselben gebraucht" (ebd.). Die gewöhnliche Methode bewährt somit nur den Scharfsinn, „aus den anderwärts her bereits bekannten Resultaten herausgefunden zu haben, daß gewisse und welche Seiten eines
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Vielleicht meint Hegel aber doch etwas anderes. - Es ist nämlich eine Sache, daß man (um bei Hartmanns Beispiel zu bleiben) zur nähcrungsweisen Bestimmung einzelner Sinuswerte die Entwicklung dieser Funktion bis zu beliebigen Graden treiben kann und muß; eine andere - und für Hegel jedenfalls nicht unbedingt sinnvolle - Sache ist es den durch eine Funktion beschriebenen reellen Zusammenhang aus der Darstellung dieser Funktion als (evtl. nicht-abbrechendes) ganz-rationales Polynom begreifen zu wollen. Anm. d. Hrsg.
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mathematischen Gegenstandes in dem Verhältnis von ursprünglicher und von abgeleiteter Funktion stehen" (ebd.). Die Methode stützt sich also wiederum auf unendlich-kleine Abschnitte von Abszisse und Ordinate103 und bringt sie in eine Verbindung, „die in der Elementarmathematik festgestellt ist";104 oder die Methode multipliziert diese Abschnitte [dx, dy] zu Flächeninhalten und summiert die so gewonnenen „unendlich vielen", unendlichkleine „Elemente" zur Summe der gesuchten Größe (I, 305). Eine Deutung der Integralrechnung hingegen, die Hegels Zustimmung fände, muß, wie im Fall der Differentialrechnung, zwischen „theoretischer oder vielmehr formeller" Aufgabe (oder Operation) und Anwendung unterscheiden (I, 301). „Formell" ist die Integralrechnung die Umkehrung der Differentialrechnung: „es wird hier von einer Funktion ausgegangen, die als abgeleitete, als der Koeffizient des nächsten, aus der Entwicklung einer, aber noch unbekannten Gleichung entsprungenen Gliedes betrachtet wird, und aus ihr soll die ursprüngliche Potenzfunktion gefunden werden; die in der natürlichen Ordnung der Entwicklung als ursprünglich anzusehende wird hier abgeleitet, und die früher als abgeleitet betrachtete ist hier die gegebene oder überhaupt die anfangende" (I, 302). Für die erforderliche Operation gilt: „Wenn hiebei teils schon um die Funktion, von der auszugehen ist, anzusetzen, teils aber den Übergang von ihr zu der ursprünglichen zu bewerkstelligen, notwendig in vielen Fällen zu der Form der Reibe die Zuflucht genommen werden muß, so ist zunächst festzuhalten, daß diese Form als solche mit dem eigentümlichen Prinzip des Integrierens unmittelbar nichts zu tun hat" (ebd.). Die „Anwendung" „ist nun selbst die Aufgabe, nämlich die Bedeutung [...] zu kennen, welche die ursprüngliche Funktion von der gegebenen als ersten Funktion betrachteten eines besondern Gegenstandes hat" (ebd.).105 103
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Hegel unterläßt es nicht, das Arbeiten mit unendlich kleinen Größen - welches er auch bei Archimedes, Kepler, Valerius und Cavalieri gegeben sieht - erneut mit seiner Deutung [des Verhältnisses als] der qualitativen Größenbestimmtheit zu konfrontieren, die „als ein Nicht-Großes soll genommen werden" (vgl. I, 307). Etwa den Satz des Pythagoras zur Bestimmung der Bogenlänge. Anm. d. Hrsg. Die Stelle scheint grammatisch korrupt zu sein. Vielleicht sollte es heißen: „die Bedeutung [...] zu kennen, welche die ursprüngliche Funktion der gegebenen, [der] als erste Funktion [oder Ableitung] betrachteten, als ein besonderer Gegenstand hat". [Dieser Korrektur kann man nicht beipflichten: die erste Funktion, die als Ableitung betrachtete und deshalb zu integrierende, ist die formale Beschreibung eines bestimmten funktionellen Zusammenhangs. Nach der Art dieses „besondern Gegenstandes" richtet sich auch die Bedeutung des bestimmten Integrals (der „ursprünglichen Funktion") - zumal sich das Interesse der Integration nicht allein auf die Fläche zwischen Kurve und xAchse richtet, sondern etwa auf die Länge eines Kurvenstücks oder das Volumen eines Rotationskörpers usw., mit jeweils modifizierter „erster Funktion" (I, 307).]
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„Das Formelle dieser Operation" scheint nun zwar „bereits durch den Differentialkalkul geleistet zu sein" (I, 302). Allein die abgeleitete Funktion „ist nicht unmittelbar gegeben, noch ist es für sich schon gegeben, welcher Teil oder Bestimmung des mathematischen Gegenstandes als die abgeleitete Funktion angesehen werden soll, um durch Zurückführung derselben auf die ursprüngliche" die Bestimmung zu finden, „deren Größe das Problem verlangt" (I, 304 f.).106 Die Bedeutung [und Gleichung] der gegebenen Funktion, so scheint es, ergeben sich nicht einfach daraus, die Ableitung f'(x) der sogenannten ursprünglichen Funktion f(x) zu sein, sondern aus der[en] Bestimmung als Bogen, Fläche oder Körper. Beim Integrieren ist diese zu erreichende Bestimmung (Quadratur, Kubatur, Rektifikation) als Problem [oder Ziel] bekannt (dies war der ,gewöhnlichen Methode' übrigens gerade vorgehalten worden),107 und es ist zu zeigen, „daß solche Bestimmung durch eine ursprüngliche Funktion gefunden werde und welches das Moment des Gegenstandes sei, welches hiefür zur Ausgangs- (der abgeleiteten) Funktion angenommen werden müsse" (I, 303). Die Integralrechnung, so ist die Meinung Hegels, enthält bereits ein Reflexionsverhältnis von Integral- und Differentialrechnung. Diese Auffassung - die schon bei Leibniz gesehen werden kann - wird bei Lagrange als gegeben erachtet. Sein Verfahren „macht es sich eben zur Aufgabe, für sich zu beweisen^ daß zwischen besondern Bestimmungen eines mathematischen Ganzen, z.B. einer Kurve, ein Verhältnis von der ursprünglichen zu der abgeleiteten Funktion stattfinde" (I, 305 f.).108 Entgegen einem „Formalismus des Unendlichkleinen" in der gewöhnlichen Methode (I, 306) werde bei Lagrange aufgezeigt, „daß die Größe des Bogens die ursprüngliche Funktion ist zu einer abgeleiteten, von der das eigentümliche Glied selbst eine Funktion aus dem Verhältnisse einer abgeleiteten zu 106
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Es muß also gelesen werden: die gegebene Funktion „ist nicht unmittelbar [als abgeleitete] gegeben", womit die Integralrechnung ja nur Umkehrung einer in der Differentialrechnung vollzogenen Operation wäre. (Vgl. auch Anm. 105.) Anm. d. Hrsg. Es war der „gewöhnlichen Methode" (I, 303) vorgehalten worden, angesichts der gegebenen Problemstellung die zu integrierende Funktion „aus den anderwärts her bereits bekannten Resultaten herausgefunden zu haben" - d.h. offenbar aus auch elementargeometrisch lösbaren Aufgaben - und diese Lösung dann verallgemeinert zu haben: und zwar ohne wirkliche Begründung, denn den Beweis durch Anwendung geometrischer Operationen oder Sätze auf eigentlich nicht mehr als Quanta zu betrachtende unendlich-kleine Größen akzeptiert Hegel nicht (I, 304). Anm. d. Hrsg. Ein Reflexionsverhältnis im Sinne einer notwendigen oder prinzipiell (qualitativ) beweisbaren Beziehung - aber nicht so sehr zwischen Differential- und Integralrechnung, sondern zwischen der zu bestimmenden Größe (Fläche, Bogenlänge, Volumen) und der zu integrierenden Funktion. Anm. d. Hrsg.
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der ursprünglichen der Ordinate ist" (I, 307), oder „daß die Funktion der Ordinate die abgeleitete erste Funktion zu der Funktion der Area ist" (I, 306).109 Das Nähere gibt Hegel nicht;110 er hätte dazu auf das Reihenverfahren eingehen müssen, das er - als summativ - lieber beiseitestellt. Die Schwierigkeit, einen Reihentheoretiker auszuzeichnen für das, was er nur nach seinem Verfahren bewerkstelligen kann, nämlich „die eigentümliche Sache der Differentialrechnung für sich zum Vorschein zu bringen" (I, 309 f. Anm.) - und dies darf auch auf die Integralrechnung ausgedehnt werden bzw. den Zusammenhang beider Rechenarten -, zugleich aber die Form der Reihe abzulehnen: diese Schwierigkeit bleibt. Die Restitution [zu] der ursprünglichen Funktion ist Sache der formellen Seite des Kalküls; insofern es sich aber so .trifft', daß die Integration zur Fläche und zum Kubus führt, liegt für Hegel Anwendung vor, die den Sinn der auftretenden Potenzausdrücke begrenzt. Im Falle der Integralrechnung erscheint übrigens die Anwendung nicht als physikalisch bestimmt, wie vielfach in der Differentialrechnung, sondern als geometrisch. Integration und Kontinuum In einer dritten Anmerkung geht Hegel auf die qualitative Größenbestimmtheit ein, soweit sie „in weiterer, sozusagen schwächerer Form vorhanden" ist als bei der Differentialrechnung (1,310). Er meint die Dimensionsunterschiede von Punkt und Linie, Linie und Fläche sowie Fläche und Körper. Er berührt damit noch einmal Probleme der Integralrechnung, aber in einer nicht an deren Operation orientierten, allgemeineren Fassung (zu der auch ältere Vorformen der Integration bei Archimedes und Cavalieri gehören). Hegel macht zunächst die Unterscheidung zwischen einer „analytischen" (arithmetischen) Auffassung von Potenzen als Maßzahlen einerseits, die „nur formell und ganz homogen darin sind, daß sie Zahlengrö109
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Es scheint nicht überflüssig zu ergänzen, daß das erste die Formel der Bogenlänge = jl + (dy/dx)2 · dx, das zweite die der Fläche zwischen x-Achse und Kurve meint = Jf(x) · dx. Anm. d. Hrsg. Die Bestimmung der Fläche zwischen Funktion und x-Achse sowie die Länge eines Kurvenbogens sind die beiden Anwendungen der Integralrechnung, auf welche Hegel ausführlicher eingeht (neben der bloß erwähnten Volumenbestimmung von Rotationskörpern). Die Herleitung der betreffenden Formel erläutert er sowohl nach der von ihm abgelehnten Methode über .unendlich-kleine Zuwächse' (vgl. I, 303 f.) wie auch nach der Methode Lagranges (vgl. I, 306 f.), welcher für Hegel trotz der verwendeten Reihenentwicklung in der Herleitung prinzipiell oder qualitativ argumentiert. Anm. d. Hrsg.
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ßen bedeuten, die als solche jene qualitative Verschiedenheit gegeneinander nicht haben" - und andererseits „der Anwendung auf räumliche Gegenstände", d.h. Potenzen als geometrische Größen, die eine höhere räumliche Dimension bezeichnen (I, 310 f.). Hegel meint weiter, „daß die räumlichen, ihrer Natur nach in Form von kontinuierlichen Größen gegebenen Gegenstände" nach der analytischen Anwendung „in diskreter Weise gefaßt werden, die Fläche also als eine Menge von Linien, die Linie als eine Menge von Punkten usf." (I, 311). Diese wären „die Elemente, aus welchen die Funktion und Gleichung für das Konkrete, die kontinuierliche Größe, abgeleitet werden soll" (ebd.). Im Sinne eines „äußerlichen Zusammenfassens" wird die Linie als Summe von Punkten, die Fläche als Summe von Linien dargestellt (I, 312). Hegel kritisiert dieses analytische (oder arithmetische) Verfahren, weil es den Dimensionsunterschied (von Fläche und Linie etwa) verwischt und an die Stelle von Multiplikation Addition setzt, hierfür aber des Unendlich-Kleinen bedarf. Um das als Summe aufgefaßte Ergebnis mit der richtigen Einheit zu versehen, braucht es, wie Hegel bereits eingangs erwähnt, zudem „eine neue Annahme, welche die Grundlage in dieser Anwendung arithemtischer Verhältnisse auf geometrische Figurationen ausmacht, [...] nämlich daß das arithmetische Multiplizieren auch für die geometrische Bestimmung ein Übergang in eine höhere Dimension" sei (I, 312). Da aber die Arithmetik formell sei, könne sich, wenn sie auf die Geometrie angewandt wird, „der Schein eines Unterschiedes" ergeben derart, daß „eine Multiplikation der zweiten Dimensionsbestimmung" mit einer ebensolchen „ein Produkt von vier Dimensionen gäbe, das aber durch die geometrische Bestimmung auf drei herabgesetzt wird" (I, 313). - Richtig hieran ist, daß die Arithmetik von sich aus höherdimensionale Geometrien nicht verbieten würde.111 Hegel geht weiter auf die nicht-operationale Integration ein, also auf die Bestimmung von Flächen- bzw. Körperinhalten. So wird auch beim Trapez mit verschieden langen parallelen Seiten der Inhalt bestimmt gedacht als Summe von unendlich dünnen Flächen, „aber verwickelter" als beim Rechteck, „insofern sie nur durch eine" [arithmetische] „Reihe ausgedrückt werden kann"; „analytisch, d.h. arithmetisch [heißt] das Interesse, sie zu summieren; das geometrische Moment darin aber ist die Mul111
So wie die Analytische Geometrie Vektorräume in beliebiger Dimension betrachtet. Hier jedoch handelt es sich nur um den „Schein eines Unterschiedes" weil aus „dem Außersichkommen der Fläche" zum Raum nicht gefolgert werden darf, dessen Größenbestimmtheit ergebe sich aus der Multiplikation von Flächengrößen (I, 313). Eine solche Annahme beruhte auf Unkenntnis der ,Bestimmungsstücke' des Volumens; vgl. das Folgende. Anm. d. Hrsg.
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tiplikation, das Qualitative des Übergangs aus der Dimension der Linie in die Fläche" (1,315).112 Ein anderes Beispiel für die Integration durch Summation ist die Proportion der Flächeninhalte von Ellipse und Kreis, „wo nicht eine Multiplikation als solche zum Behufe des Resultats statthat" (ebd.). Die Flächeninhalte verhalten sich bei einem Kreis vom Durchmesser der Längsachse einer Ellipse „wie die große zur kleinen Achse" (ebd.).113 Längere Ausführungen widmet Hegel der Geometrie Cavalieris. Und zwar interessiert ihn, daß bei diesem die Flächeninhalte etwa von Parallelogrammen aus den Bestimmungsstücken von Grundlinie und Höhe berechnet werden durch Summation gleichlanger ,unteilbarer' (nicht notwendig unendlichkleiner) Linien (vgl. I, 316 ff.).114 Das Verfahren führt für Hegel auf die Frage, ob die Bestimmtheit einer Figur durch ihre „äußere Grenze" gegeben sei, was der „Kontinuität der Figur sozusagen 112
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Insofern nämlich die Länge der parallelen Linien (welche als unendlich dünne Flächen angesehen werden) längs der Höhe h von a nach b gleichmäßig ansteigt (oder fällt), ergibt sich deren Summe analog zum Wert einer solchen Reihe (als das Mittel von erstem und letztem Glied, multipliziert mit der Anzahl Reihenglieder); für den Flächeninhalt lautet das: A - h · (a + b)/2. Da also h nach dieser Herleitung für die Anzahl der Reihenglieder steht, ist es als Faktor „diskret für die arithmetische Bestimmung des ändern genommen" (I, 315). Anm. d. Hrsg. Denn jede „Ordinate der Ellipse verhält sich zu der entsprechenden des Kreises wie die kleine zur großen Achse" so (I, 315). Bezeichnet man also die große Halbachse der Ellipse mit a (= dem Radius des Kreises) und die kleine Halbachse mit b, so ergibt sich A E : AK = b : a oder AE = b/a · AK = b/a · · a2 = · a · b. Anm. d. Hrsg. Wenn Hegel schreibt, daß Cavalieris „Methode der Unteilbaren [...] ebenso gerechtfertigt ist und der Zuflucht zu dem Unendlichkleinen nicht bedarf", so räumt er andererseits ein, daß Cavalieri die „Indivisibilien" als unendlich-schmale Flächen verstanden habe (I, 316). Aber Cavalieris Methode bedarf „der Zuflucht zu dem Unendlichkleinen" nicht, „ebenso" wie die Bestimmung des Ellipseninhalts einer solchen Zuflucht nicht bedarf (I, 316, vgl. Anm. 113) - weil diese Methode die Parallelogrammfläche gerade nicht durch „Summation gleichlanger [...] Linien berechnet" (Hartmann). Vielmehr setzt Cavalieri das Flächeninhalts-Verhältnis zweier Figuren gleich dem LängenVerhältnis der Schnittstrecken einer beliebigen zur Grundlinie gezogenen Parallele (bei gleicher Höhe der Figuren und gleichem Längenverhältnis für sämtliche Parallelen oder „Indivisibilien"). Eben deshalb wird man (wie Hartmann im folgenden referiert) „hiebei darauf geführt, auf den Unterschied zu reflektieren [...] worein die Bestimmtheit einer Figur fällt, nämlich entweder [...] die Höhe der Figur" oder die „äußere Grenze" (I, 316 f.). Denn „die größere Seite könnte als eine Möglichkeit von mehrern Linien, als die senkrechte Seite des Rechtecks gibt, angesehen werden" (I, 319) - wohingegen Cavalieri „den richtigen Unterschied [macht], daß er nicht die Anzahl derselben, welche wir nicht kennen, - d.i. vielmehr die [...] eine zu Hilfe genommene leere Vorstellung ist, - sondern nur die Größe", d.h. die Längen der jeweiligen Schnitte parallel zur Grundlinie vergleicht (I, 317). Daraus ergibt sich wie beim Rechteck auch beim Parallelogramm der Flächeninhalt als das Produkt von Grundseite und Höhe. Analoges gilt für die Bestimmung von Körpern. Anm. d. Hrsg.
Exkurs zur Infinitesimalrechnung
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folgt", und für die Deckung von Figuren entscheidend wäre115 - oder ob ausgewählte Bestimmungsstücke wie die Höhe und die Grundlinie, verbunden mit einer Exhaustion durch ein Aggregat von Linien, die [Flächen-]Bestimmtheit der Figur erschöpfe (I, 317). Hegel bejaht das letztere, moniert aber [am Exhaustions-Verfahren], daß im Gedanken, das Kontinuierliche sei aus den Unteilbaren „zusammengesetzt" oder „bestehe" daraus, ein Rekurs auf die Anschauung genommen werde; „statt zu sagen, ,daß das Kontinuierliche nichts anderes ist als die Unteilbaren selbst,' würde es richtiger und damit auch sogleich für sich klar heißen, daß die Größebestimmtheit des Kontinuierlichen keine andere ist als die der Unteilbaren selbst" (I, 318). Hinsichtlich der Bestimmheit einer Figur durch Umriß und durch ausgewählte Bestimmungsstücke erinnert Hegel noch in einer Bemerkung, daß nach den „elementarischen Sätzen über die Dreiecke" nur je drei Bestimmungsstücke zur Feststellung der Kongruenz erforderlich seien;116 „die drei übrigen Stücke [sind] ein Überfluß, der Überfluß der sinnlichen Existenz, d.i. der Anschauung der Kontinuität. In solcher Form ausgesprochen, tritt hier die qualitative Bestimmtheit im Unterschiede von dem hervor, was in der Anschauung vorliegt, dem Ganzen als einem in sich kontinuierlichen; das Decken läßt diesen Unterschied nicht zum Bewußtsein kommen" (1,318 f.). Im Rückblick auf die drei Anmerkungen117 bezeichnet Hegel als deren Absicht, „die affirmativen Bestimmungen, die bei dem verschiedenen Gebrauch, der von dem Unendlichkleinen in der Mathematik gemacht wird, sozusagen im Hintergrund bleiben, aufzuweisen und sie aus der Nebulosität hervorzuheben, in welche sie durch jene bloß negativ gehaltene Kategorie gehüllt werden. Bei der unendlichen Reihe wie in der Archimedischen Kreismessung bedeutet das Unendliche nichts weiter, als daß das Gesetz der Fortbestimmung bekannt,118 aber der sogenannte
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Genauer gesagt, die Flächengleichheit von Figuren auf ihre Deckungsgleichheit beschränkte. Anm. d. Hrsg. Drei unabhängige Bestimmungsstücke, also nicht drei Winkel. Mit der im folgenden zitierten „Form" meint Hegel offenbar die Kongruenzsätze. Anm. d. Hrsg. Hingewiesen sei auf Hegels Stellungnahme zu einer Kontroverse zwischen I. Barrow und A. Tacquet hinsichtlich der Berechnung von Kegeloberflächen [nach dem Parallelschnitt-Verfahren Cavalieris] (I, 320 f.). Die Wendung, „daß das Gesetz der Fortbestimmung bekannt" sei, ist eine Stütze für Pinkards Deutung des Unendlichen bei Hegel, wenn er schreibt: „The actual infinite is not a .thing', not even an infinitesimally small number but is a representation of a sequence by a rule which shows what would happen if the sequence were followed out" (a.a.O., S. 464).
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Quantität und Maß
endliche Ausdruck, d.i. der arithmetische, nicht gegeben ist, die Zurückführung des Bogens auf die gerade Linie nicht bewerkstelligt werden kann; diese Inkommensurabilität ist die qualitative Verschiedenheit derselben" (ebd.). Ebenfalls inkommensurabel erscheinen Diskretes und Kontinuierliches - ein Umstand, welcher „das Unendliche herbeiführt in dem Sinne, daß das als diskret zu nehmende Kontinuierliche nun kein Quantum nach seiner kontinuierlichen Bestimmtheit mehr haben soll. Das Kontinuierliche, das arithmetisch als Produkt zu nehmen ist, ist damit diskret an ihm selbst gesetzt, nämlich in die Elemente, die seine Faktoren sind, zerlegt; [...] sie sind als ebendamit, daß sie diese Faktoren oder Elemente sind, von einer niedrigem Dimension, und insofern die Potenzenbestimmtheit eintritt, von einer niedrigem Potenz als die Größe, deren Elemente oder Faktoren sie sind" (I, 321 f.).119 „Arithmetisch erscheint dieser Unterschied als ein bloß quantitativer", während Hegel die geometrische Interpretation oder richtiger die Herbeiführung eines qualitativen Novums auszeichnet: „man kann kein Arges daran haben, die Größe einer Linie mit der Größe einer ändern Linie zu multiplizieren; aber die Multiplikation dieser selben Größen gibt zugleich die qualitative Veränderung des Übergangs von Linie in Fläche; insofern tritt eine negative Bestimmung ein", daß z.B. die Linie in der skalaren Multiplikation nicht die Fläche ergibt (I, 322).12° Die „Schwierigkeit" [diese Negation aufzufassen] wird „durch die Einsicht in ihre Eigentümlichkeit und in die einfache Natur der Sache gelöst, aber durch die Hilfe des Unendlichen, wodurch sie beseitigt werden soll, vielmehr nur in Verworrenheit gesetzt und ganz unaufgelöst erhalten" (ebd.). Die ontologische Reflexion hat, wie man sieht, das Affirmative des qualitativ Unendlichen zusammengebracht mit dem dimensionalen Novum (etwa [der Fläche] gegenüber einer linearen Größe), so daß die Inkommensurabilität von Bogen und Gerade, in einer Reihe zu liegen
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Gemeint ist hier wohl, daß bei der Bestimmung von Flächeninhalten nach der .Reihenmethode' der eine Faktor, die Höhe, zur bloßen ,Anzahl' der Reihenglieder reduziert wird - und somit „kein Quantum nach seiner kontinuierlichen Bestimmtheit" als Linie mehr hat (I, 321, vgl. Anm. 112). Insofern ist die sich ergebende Maßzahl des Flächeninhalts aber „von einer niedrigem Dimension" (I, 322) - so daß „in dieser Rücksicht [...] eine neue Annahme" hinsichtlich der Einheit nötig wird (I, 312). Anm. d. Hrsg. ,Skalare' Multiplikation als Multiplikation einer Zahl mit einer Größe - im Unterschied zur Multiplikation von Größen, welche auf andere (höhere) Dimensionen führt. Doch meint Hegel mit dem .Eintritt einer negativen Bestimmung' hier wohl kein Defizit, sondern das .Außersichkommen' der Linie zum qualitativen Novum der Fläche (vgl. Anm. 121). Anm. d. Hrsg.
Exkurs zur Infinitesimalrechnung
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scheint mit der Unterschiedenheit von Fläche und Linie.121 An beiden Fällen läßt sich das Qualitative des Novums aufzeigen. Aber deshalb kann es nicht gerechtfertigt sein, „die Hilfe des Unendlichen" abzuwerten, mit dem sich die Infinitesimalrechnung befaßt. Es handelt sich [in der vorliegenden Anmerkung] um eine - diesmal laxe - ontologische Glossierung. Sagt man, die Integralrechnung (oder ihre schwächere Form in den Exhaustionsmethoden) nivelliere oder reduziere das Novum der Fläche gegenüber der Linie, so kritisiert man etwas mathematisch Unabdingbares mittels einer ontologischen Reflexion, welche tatsächlich die Geltung des mathematischen Verfahrens nicht in Frage stellen kann. Die Ontologie der Quantität Hegels ontologische Perspektive führt von der Qualität her auf die traditionelle Kategorie der Quantität. Der ontologische Ansatz ermöglicht eine Deutung von Pluralität und Menge und auch von Diskretheit und Kontinuum, aber er steht in Spannung zum Selbstverständnis der Mathematik, besonders im entwickelten Fall einer mathematischen Theorie, die nicht auf Quantität als Prius aufgebaut ist. Die Hegeische Ontologie der Quantität (und jede Ontologie) kann nicht Sachtheorie der Mathematik sein. Sie bleibt, sofern ihre Prinzipbestimmung in der Mathematik theoretisch leitend ist, ontologische Diagnose von deren Gegenständen und Verfahren - der (natürlichen) Zahlen, der Rechenarten, Brüche, Potenzen und Binome, bis hin zum mathematisch Unendlichen, wie es in der Infinitesimalrechnung gegeben ist. Hegels ontologische Bestandsaufnahme wird bestimmt - dies ist der vorherrschende Eindruck - von der Plazierung der Quantität in einer Kategorienfolge und bedeutet so Relativierung mathematischer Erkenntnis. Die Stufung ist maßgebend für den Status der Erkenntnis; was in der Mathematik verhandelt wird, trifft kategorial nicht das Wahre, sondern nur das Quantitative, relativ Wahre. Diese Relativierung kann aber lediglich auf der Metaebene einer ontologischen Kategorienhierarchie sinnvoll sein, nicht auf der Sachebene der Mathematik; die ontologische Diagnose gleitet an dieser ab. - Es bleibt freilich, daß die Ontologie in der Prinzipi-
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An früherer Stelle bekräftigt Hegel den Gedanken des Novums der Fläche gegenüber der Linie usw. durch den Gedanken des .Außersichkommens': „das Übergehen der Linie in Fläche ist als Außer sichkommen derselben zu fassen, wie das Außersichkommen des Punktes die Linie, der Fläche ein ganzer Raum ist" (I, 313; vgl. 182 u. 203).
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Quantität und Maß
ierung von Pluralität und Menge unabweisbar ist (d.h. die Spannung zwischen der Unverzichtbarkeit von Ontologie und ihrer Irrelevanz für die Sachwissenschaft Mathematik bleibt). Der Verfolg der ontologischen Diagnose führt auf das mathematisch Unendliche und auf das [quantitative] Verhältnis als Themen der Mathematik, bei denen die Ontologie am ehesten »Höheres' ausmacht. Die Schlußstellung der Infinitesimalrechnung beruht nicht auf der Komplikation in der Entfernung von den Rechenarten, sondern auf der »Schließung' im Verhältnis gegenüber der Offenheit eines quantitativen ,immer weiter', [beruht also] auf der höheren Wahrheit einer solchen Struktur, abstrakt vorstellig im Fürsichsein und vorausweisend auf Wesen und Begriff. - Damit verbindet sich die Parteinahme für eine Selbstdeutung der Infinitesimalrechnung, welche nicht mit dem Unendlich-Kleinen arbeitet, sondern den genauen Wert des Verhältnisses im Grenzwert antizipiert. Diese Antizipation auf Grund des [Bildungs-]Gesetzes der Reihe ist bei Hegel eine ontologische: das antizipierte Verhältnis ist ein Höheres, während die Mathematiker Gründe dafür geben müssen, den Zielpunkt einer Reihe als wahren Wert auszugeben. Dabei kann Hegel der Meinung sein, seine ontologische Deutung stütze die mathematische Selbstdeutung: er zeichnet Lagrange aus, später hätte er Weierstraß ausgezeichnet. Die Ontologie bedient sich ihrer Diagnose als Plädoyer, das mit einer geläuterten Mathematik übereinzukommen scheint: sie rechtfertigt das, wozu sich diese neuerdings bequemt. Andererseits ist es nicht so, daß Hegels Ontologie nun die Infinitesimalrechnung sachtheoretisch angemessen leiten könnte: mathematisch kann es nicht angehen, Reihen- oder Summenausdrücke abzulehnen, welche zur Berechnung des (wie immer ontologisch ausgezeichneten) Verhältnisses dienen. Mathematisch ist ein Wert nicht weniger ,wert', wenn er als Summe ausgedrückt wird und nicht als Verhältnis. Hier zeigt sich erneut die Divergenz zwischen Hegels ontologischer Diagnose und deren Leitfunktion für die Mathematik. Hinzu kommt die Frage, ob Hegel die Infinitesimalrechnung als ein autonomes Rechenverfahren ansieht oder als ein in der Anwendung auf [Funktionssachverhalte der] Natur beschränktes. So wenig er verkennen kann, daß das Rechenverfahren selbst autonom ist - Hegel spricht dann pejorativ von ,Formalismus* -, so sehr bedingt seine ontologische Ausrichtung, daß die Infinitesimalrechnung (eben als »Formalismus') abgewertet erscheint, soweit sie nicht auf »Existenzen' der Natur bezogen bleibt. Die auf Quantität nachfolgende Kategorie, das »Maß', beinhaltet eine Vereinigung von Quantität und Qualität und somit eine Rechtfertigung der Bezogenheit des Quantitativen auf Sein (als Vorgestalt der Natur). Die
Das Maß
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These von der Anwendung als der Sache selbst hat also eine metatheoretische Begründung, die die Mathematik nichts angehen kann.122
12. Das Maß
Der zweite Teil der Seinslogik, die „Quantität", hatte Hegel zu deren Überschreitung geführt, und zwar hin zur Qualität: im Potenzverhältnis war das Quantum sich gleichsam selbst begegnet, hatte sich auf sich selbst bezogen. Die Denkbewegung vollzog eine „Rückkehr" in die Qualität; das Quantum hat, so scheint es, jetzt qualitative Bedeutung, ist das, „wodurch etwas das ist, was es ist" (I, 333). Der Übergang - um ihn noch einmal aufzugreifen - ist metatheoretisch vermittelt: die Figur des Auf-sich-Bezogenseins (die qualitative Figur des Fürsichseins) kommt für die Rückkehr des Quantums in Qualität auf, was Hegel aber nicht hindert, die von nun an postulierte Einheit Quantum-Qualität nach thematischen Unterschieden zu differenzieren (z.B. die Größe des Quantums und davon betroffene qualitative Inhalte). Die Konzeption ,Maß' besagt genau dies beides: selbst metatheoretisch (Fürsichseins-Status des Quantums) ist es auch Inbegriff von verschiedenen thematischen Gebilden. Systemtheoretisch bedeutet Hegels Schritt, noch innerhalb der Seinslogik, eine Vermittlung des in Qualität und Quantität aufgespaltenen Seins. Dabei erscheint die Tatsache, daß gegen Ende der Quantität von „Rückkehr" gesprochen wird, thematisch als ein ungewöhnlicher Befund, erwartet man doch ein Novum. Dies liegt ja auch vor - im Maß; daß das Novum Rückkehr ist, soll mehr besagen als Fürsichseins-Status der Quantität; vielmehr soll das Sein, welches im Ersten Abschnitt der Seinslogik nur in metatheoretischen Bestimmungen thematisch geworden war, nun in den durch die Quantität eröffneten Bestimmungen thematisiert werden. Erst hier beim Maß kommen solchermaßen thematisch gesichtete Seiende vor. Das Bedenken ist: wenn jetzt thematisch Quantitatives und thematisch Qualitatives als in Einheit erschlossen gelten - ein so und so großes Solches -, so verwechselt Hegel metatheoretisch Qualitatives (Fürsichsein von Quantität) mit thematischem Seienden oder Qualitativem, oder sieht je122
Dies gilt auch für die Auffassung, daß Rechnungen der Infinitesimalrechnung - die gleichsam , unten', vom quantitativ Schlechtunendlichen her das Verhältnis anbahnen - die .Erscheinung' des Wesens seien, eine These, die in Liebrucks Deutung hervortritt (a.a.O., 552, 562 f., 619).
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Quantität und Maß
denfalls im Erscheinen des ersteren die Lizenz für die Behandlung des letzteren gegeben. Deckt aber das Ende von Quantität (im Fürsichsein des Verhältnisses) diese Einheit von Quantität und thematisch gleichsam von außen herangetragener Qualität? Hegel benutzt öfter die Denkfigur, daß Rückkehr zu sich Unterschiedslosigkeit sei, Unmittelbarkeit und also Sein (so z.B. I, 154, 398); sie gilt jeweils einem Novum des Seins (Eins, Wesen). Hier aber wird mit dem Novum ,Maߣ eine überschrittene Station - die Qualität - erneut herbeigezogen. Das Vorgehen ist zumindest unregelmäßig. Thematisch Qualitatives, soweit man es mit metatheoretischen Figuren des qualitativen Seins assoziieren mag, ist ja schon durch den Übergang zur Quantität verlassen und könnte nach dialektischer Regel nicht wieder Thema werden. Hegel erwägt, ob seine Konzeption Vorgänger hat, angesichts der historischen Wichtigkeit, ja Heiligkeit dieser Kategorie, kann aber keine Präzedenz feststellen für die Ansetzung eines Dritten im Zusammenhang von Qualität und Quantität. (Kant etwa wird auf Modalität geführt und nicht auf Maß.) Nur beim Modus [Spinozas und anderer „Systeme des Pantheismus" (I, 337)] sieht Hegel ein solches vorgebildet. Dieses Dritte erscheint zwar wenig zum Vergleich mit dem Maß geeignet: es steht für „die abstrakte Äußerlichkeit, die Gleichgültigkeit gegen die qualitativen wie gegen die quantitativen Bestimmungen", was Hegel dann aber so wendet, daß „auch wieder in vielem zugestanden [werde], daß alles auf die Art und Weise ankomme" (I, 338). Der Versuch, den Modus als Vorläuferbegriff des Maßes aufzufassen, erbringt so gut wie nichts. Die Kategorie ,Maß' soll universell sein - „Alles, was da, ist, bat ein Maß" (I, 343, ähnlich 338). Die Rede ist auch vom „Etwas, insofern es ein Maß in sich ist" (I, 347). Im Unterschied zum bloßen Quantum ist das Quantum [„als unmittelbares Maß"] jetzt etwas, das gegen seine Größe nicht gleichgültig ist: „das Quantum hat als Maß aufgehört, Grenze zu sein, die keine ist; es ist nunmehr die Bestimmung der Sache" (I, 343). Der regionale Charakter der Konzeption ist jedoch unübersehbar: es ist die des Substrats, dergemäß ein Qualitatives durch Quantität bestimmt ist, eine Figur, die schon früher, bei der Quantität, als Lizenz eingeführt worden war (vgl. I, 217, oben S. 111 f.). Daß nunmehr dieses Substrat regional gefärbt und nicht mehr rein qualitativ ist, zeigt sich in der Rede von einer „Mathematik der Natur", zu welcher fortzugehen sei (I, 340).123 Das Problem ist also, daß beim 123
Schon in seiner Behandlung der Differentialrechnung hatte Hegel das Maß antizipiert. So war etwa davon die Rede, daß die „Glieder einer mathematischen Formel, in welche die analytische Behandlung die Größe eines Gegenstands, z.B. der Bewegung zerlegte,
Das Maß
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Maß Naturbestimmungen aufgegriffen werden müssen - jedenfalls „im allgemeinen" müßte die Entwicklung des Maßes „den Zusammenhang dieser Maßbestimmung mit den Qualitäten der natürlichen Dinge" anzeigen - was das Problem aufwirft, ob die Logik eine metaphysica generalis ist, einen ,Vor-Charakter' im Verhältnis zur Realphilosophie hat oder doch schon Anleihen bei der Realphilosophie macht (I, 340 f.). Hegel exemplifiziert [das Maß] denn auch durchaus unbefangen an Bestimmungen einer regionalen Ontologie der Natur und findet das eigentliche Gebiet im Mechanismus, wo das Qualitative, d.h. „das konkrete Körperliche nur die selbst abstrakte Materie" sei, und das Quantitative in den äußerlichen Bestimmungen von Raum, Zeit, Menge und Gewicht bestehe (I, 341).124 Er findet dann, daß „im Organischen" das Maß „gestört", „höhern Verhältnissen untergeordnet" sei, was wohl bedeuten soll, daß Organismen zwar gewisse Proportionen aufweisen, die absolute Größe aber weitgehend beliebig ist (ebd.). Erst recht im Geistigen werde das Maß „über dies Unbestimmte der Stärke oder Schwäche [...] hinaus" nicht erfaßt - in deutlichem Konflikt zu der ebendort eingeräumten Einsicht, daß [Staats-JVerfassungen größenspezifisch sind; Hegel vermißt „Gesetze von Maßen" und „eigentümliche Formen desselben" (I, 342).125 Zeigt sich in der regionalen Einschlägigkeit des Maßes schon eine Unvollkommenheit der Konzeption hinsichtlich ihrer Universalität, so wird diese Unvollkommenheit oder Vorläufigkeit prinzipiell deutlich, wenn man Maßbestimmungen mit wesentlichen' Bestimmungen konfrontiert: die Bestimmtheit, welche das Quantitative dem Qualitativen zukommen läßt, ist keine letztlich haltbare und feste, die Relation zwischen beiden behält eine Äußerlichkeit - wobei es zugleich heißt, daß das Maß „an sich oder im Begriffe das Wesen" sei (I, 339). Letzteres gibt guten Sinn, wenn gemeint ist, das Substrat sei, was es qualitativ ist, nur durch ein zugehöriges Anderes, das Quantum, und umgekehrt. Das Maß ist strukturell, metatheoretisch, schon Wesen, insofern ein Substratverhältnis dieses vorzuzeichnen vermag. Im eigentlichen Wesen wird die Äußerlichkeit von
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[...] dort eine gegenständliche Bedeutung" erhielten (I, 275); vgl. auch Stellen über die Anwendung" der Differentialrechnung (z.B. I, 309). Zu ergänzen ist hier, daß Hegel im Mechanismus die „Gleichgültigkeit des entwickelten Maßes" exemplifiziert sieht - nicht dieses selbst -, d.h. also die Gleichgültigkeit der Qualität gegen die gewählte Maß-Einheit und die dieser Einheit proportionale Quantität (I, 341). Anm. d. Hrsg. Hegel kritisiert hier offensichtlich den wissenschaftlichen Stand seiner Zeit; ansonsten ist ein Konflikt innerhalb des systeminternen Entwicklung des Maßes nicht zu sehen (vgl. Anm. 124). Anm. d. Hrsg.
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Quantität und Maß
Qualität und Quantität zueinander mit neuer Begrifflichkeit überwunden werden müssen.
Stationen des Maßes Die Linearität der Hegeischen Denkbewegung und -entwicklung nötigt nun zu einer Durchlaufung von Stadien des Maßes, bis das Wesen erreicht ist. Es handelt sich um eine - von Künstlichkeit nicht freie - Reihe von Potentialunterschieden des Verhältnisses von Qualität und Quantität im Maß, die zur Selbstaufhebung des Maßbegriffs und zum Wesen führen soll. Obwohl Hegel damit einen gegenüber Qualität und Quantität anscheinend gleichgewichtigen dritten Abschnitt zu füllen sucht, wird nur ein knapper Blick auf sein Vorgehen erforderlich sein, unbeschadet allen Verständnisses für Hegels Architektonik und die damit verbundene Platzhalterfunktion des Maßes. Der Abschnitt ist eingeteilt in „spezifische Quantität" (I, 342 ff.), „reales Maß" (I, 358 ff.) und „Werden des Wesens" (I, 387 ff.). Wir folgen der Disposition. Hegel betrachtet zunächst das spezifische Quantum - im Sinne: „Alles, was da ist, bat ein Maß" -, so daß etwas nicht wäre, was es ist, ohne das zugehörige Quantum oder Maß; eine Änderung der Größe „änderte seine Qualität" (I, 343, ähnlich 344). (Eine Änderung der Größe ist dabei wohl zu unterscheiden von der Konventionalität der Maßeinheit oder des Maßstabes - vgl. I, 343 f.).126 Als Beispiel nennt Hegel „die Größe der organischen Wesen, ihrer Gliedmaßen usf." (hier handelt es sich um das unmittelbare Maß von Exemplaren bestimmter Spezies), was Hegel aber in einem gewissen Konflikt zur Meinung von einer in der ontologischen Progression abnehmenden Relevanz des Maßes (vgl. I, 341 f.)127 — erweitert sehen möchte auf „jedes Existierende", das eine Größe habe, „um das zu sein, was es ist, und überhaupt um Dasein zu haben" (I, 344). 126
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Daß Hegel einen ,omologischen' Maßbegriff vertritt, wird hier völlig deutlich. Es gibt demgegenüber offensichtlich auch ein konventionelles Maß; fragt man freilich, worin dies begründet ist, so gerät man schnell in Schwierigkeiten. - Altere Maße sind anthropologisch fundiert (Fuß, Elle, Meile usw.), neuere haben einen Bruchteil des Erdquadranten zur Basis (Meter, Liter usw.); auch hier liegt also ein Naturmaß zugrunde. Man könnte sich dezisionistische Maße vorstellen, diese müßten aber, um ihrer Eindeutigkeit willen, in einem natürlichen Maß darstellbar sein (Cäsium-Atomschwingungen usw.). Hegels Priorität eines .ontologischen' Maßes ist also nicht einfach beiseitezustellen, obwohl von gegebenen Naturmaßen abgegangen werden kann (zugunsten anderer). Vgl. Anmerkungen 124 f. Anm. d. Hrsg.
Das Maß
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Streng genommen umfaßt dieses Dictum aber zwei Fälle: den Fall, daß Quantität zum Dasein gehört, und den, daß Quantität spezifisch ist, Kriterium für das Was einer Sache. Handelt es sich bei ersterem um eine ontologische Einsicht (die sich allerdings regional-ontologisch an qualitativ selbständigem und unselbständigem Seienden orientiert und nicht etwa am Qualitativen in metatheoretischer Prinzipialität), so ist letzteres eine auch empirische Frage, oder eine, die zumindest auf [biologische] Gesetzmäßigkeiten der uns bekannten Arten [von Lebewesen] verweist: ob z.B. Dinosaurier auch klein wie Mäuse sein könnten, ob wir sie dann noch Dinosaurier nennen würden usw. Auf Gattungen bezogen, zeigt etwa der Wirbeltiertyp eine erstaunliche Variationsbreite der möglichen Maße (so auch entsprechend in den einzelnen Strukturen und Organen). Die Idee eines spezifischen Maßes ist demnach eine regionalontologische Idee, die auf empirische Bestätigung oder auf die Unglaubwürdigkeit kontrafaktischer Ansetzungen angewiesen ist. Der Gedanke gehört in eine Realphilosophie und muß in der Logik mit Mühe als deren Vorgestalt gedeutet werden. Hegel thematisiert nun die - demgegenüber kontrafaktischen - Änderungen des Quantums einer Sache: qua quantums bestimmt, ist diese als größer oder kleiner möglich, so scheint es; qua spezifisch quantitativ oder maßbestimmt hingegen, ist eine Änderung beschränkt; es käme sonst zum Untergang der Sache. „Dies Untergehen erscheint einesteils als unerwartet, insofern an dem Quantum, ohne das Maß und die Qualität zu verändern, geändert werden kann" (I, 344). Hegel meint einen Spielraum des Quantums, bevor man sagen will, das Maß sei geändert und damit die Sache nicht mehr sie selbst; dies wird „zu einem ganz Begreiflichen gemacht, nämlich durch die Allmählichkeit" (ebd.). - Demgegenüber bleibt aber die qualitative Relevanz der quantitativen Veränderung bestehen, soweit sie das Maß betrifft. Ein Beispiel dafür ist etwa der Sorites: die Ansetzung der Quantität als gleichgültige Grenze und nicht als Moment des Maßes - hier: daß ein Haufen noch Haufen ist - führt auf die Paradoxie (vgl. I, 345).128 Hegel führt das Problem einer Abhängigkeit zwischen variabel denkbarem Quantum und Maß unter der Rubrik „spezifizierendes Maß" weiter (I, 346 ff.). Er läßt hierzu die beiden Seiten - Quantum und Maß auseinandertreten. Sie stehen sich etwa gegenüber im Messen eines Quan128
Zur Erläuterung: Einen Sandhaufen kann man Korn für Korn abtragen. Und da offenbar kein einzelnes wegenommenes Korn den Haufen zu einem Nicht-Haufen macht, ergibt sich die Paradoxie, daß der Haufen zugleich auch Nicht-Haufen ist. Der .Sorites' oder Haufenschluß wird dem aus der megarischen Schule stammenden Eubulides von Milet zugeschrieben (vgl. Diog. Laert. 2,108 f.). Anm. d. Hrsg.
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Quantität und Maß
turns nach einer Maßeinheit. Ist dieser Fall nur äußerlich, so erscheint das Maß auch als das „immanent Messende" (I, 347). Etwas, „insofern es ein Maß in sich ist", macht etwas äußerlich an es Kommendes für sich selbst passend, nimmt nur eine spezifische Menge auf; das Maß ist „Exponent" für das äußerliche Quantum (ebd.). Hegel spekuliert, daß hiermit das eigentlich Qualitative hereinkomme - ein Exponent verweist auf eine Potenzbestimmung und somit auf Fürsichsein (vgl. I, 348). Wenn „das äußerliche Quantum in arithmetischer Progression sich verändert, so bringt die spezifizierende Reaktion der qualitativen Natur des Maßes eine andere Reihe hervor" (ebd.). Von dieser heißt es, daß sie „nicht in einem durch einen Zahlenexponenten bestimmten, sondern einer Zahl inkommensurabeln Verhältnisse, nach einer Potenzenbestimmung" zu- und abnehme (ebd.). Was auch immer Hegel genau meint, es scheint sich um ein Modul zu handeln, das im Begriffe des Maßes liegen soll. Das angeführte Beispiel von der spezifischen Wärme in einem Körper auf Grund von äußeren Temperaturveränderungen stellt ein solches Verhältnis dar, in dem eine Konstante maßgebend ist (vgl. I, 348 f.).129 Es geht nicht mehr um das Problem eines Spielraums von Maß und Quantum, sondern um die Autarkie eines (regional ontologischen) Etwas, das ein Maß hat, sich zu Äußerem selektiv verhält: ein Inneres, das ein Äußeres steuert. Hegel deutet das Spezifizieren des Quantums durch das Maß eines Etwas als Aufheben der Äußerlichkeit des Quantitativen (vgl. I, 349) und somit als „Fürsichsein": dem spezifischen Quantum steht ein äußerliches gegenüber, beide sind aber aufeinander bezogen, „untrennbar gesetzt"; es besteht eine qualitative Einheit (I, 350). „Das Maß ist so das immanente quantitative Verhalten zweier Qualitäten zueinander" (ebd.). (Von Qualitäten ist die Rede nach der Figur des Fürsichseins: es soll eine Dialektik von Qualität und Quantität herrschen.) Im Maß ist das Quantum „als aufgehoben" (ebd.); „dies gibt die, so gefaßt, interessante Bestimmung der veränderlichen Größe in der höhern Mathematik; wobei nicht bei dem Formellen der Veränderlichkeit überhaupt stehen zu bleiben" ist (I, 351). Die Bestimmung der Funktion ist die qualitative Einheit des Maßes gegenüber den Quanta. Hegel deutet das Maß nun auch als intensive Größe gegenüber einer extensiven (vgl. I, 351 f.). Die extensive Größe steht für die Anzahl, die intensive für die Einheit: im „direkten Verhältnis" (d.h. im Bruch) als Di129
Von zentraler Bedeutung scheint, daß - im Beispiel - die spezifische Wärmekapazität eines Körpers eben keine Konstante darstellt, sondern sich mit der Temperatur des Mediums ändert, die „selbst Temperatur der Luft oder sonst spezifische Temperatur ist" (I, 349). Anm. d. Hrsg.
Das Maß
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vidend gegen den Divisor, oder im spezifizierenden Verhältnis als Potenz gegen die Wurzel (I, 352). Die extensive Größe erscheint als Funktion der intensiven Qualität; schreitet letztere von eins zu eins fort, so variiert die extensive in der spezifizierten Reihe (in Umkehrung der obigen Darstellung, nach welcher die extensive Größe arithmetisch fortschreitet). Die intensive Größe bestimmt ihre Abbildung im Extensiven. Allerdings sieht Hegel dies im direkten Verhältnis, etwa bei einer Formel wie s/t (für Geschwindigkeit), zur „abstrahierenden Reflexion" herabgesetzt, womit also eigentlich kein Maß vorliegt - anders als bei einer Formel wie s = at2, und erst recht s3 = at2, weil hier „beide Seiten in höhern Potenzbestimmungen [...] sich verhalten" (ebd.). Hegel scheint also mit dem Potenzausdruck eine nicht-lineare, nicht-graduelle, sondern ,strukturierte', nach einem Muster prozedierende Beziehung zwischen Relaten zu meinen, die dem Maß entspricht.130 Hier ist die ontologische Spekulation wohl zu weit getrieben. Hegel möchte, wie die folgende Anmerkung (I, 352 ff.) zeigt, daß sich, wo ein Maß vorliegen soll, die Größen (etwa bei der Bewegung die „im Verhältnis stehenden Qualitäten des Raumes und der Zeit") „als solche an sich, d.i. im Begriffe sich als untrennbar erweisen und ihr quantitatives Verhältnis das Fürsichsein des Maßes, nur Eine Maßbestimmung ist" - natürlich wiederum keine einzelne Maßbestimmung, sondern ein Maß für mögliche Maße (I, 353). Damit ist eine Funktionsformel ontologisch interpretiert, so als ob bei Potenzausdrücken auf beiden Seiten eine innige Einheit und spezifische Zusammengehörigkeit dargetan wäre. Dies wird im Blick auf Galilei, Kepler und Newton interpretiert im Sinne eines Beweises von naturphilosophischen Gesetzen (Hegel wiederholt hier schon im Zusammenhang mit der Differentialrechnung geäußerte Gedanken vgl. I, 299 f.). Die Legitimität der Verknüpfung der mathematischen Gestalt von Funktionen mit Naturbestimmungen ist aber nicht darzutun daß diese also wegen jener eine Vollkommenheit haben sollen. Man wird erinnert an Weizsäckers Lobpreis für die einfachen Verhältnisse in Platons .Timaios', nur daß Hegel Potenzen auszeichnet.131
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Die erste Formel nach dem Gesetz der gleichförmigen Bewegung, die zweite nach dem der konstant beschleunigten, die letzte nach dem dritten Keplerschen Gesetz (vgl. Anm. 101). Dieses hebt Hegel heraus - offenbar weil er die Nichtlinearität beider Variablen als Ausdruck für die wechselseitige Spezifikation der durch sie bezeichneten Größen nimmt - im Unterschied zu „dem Formellen der Veränderlichkeit überhaupt" im direkten Verhältnis (I, 351). Anm. d. Hrsg. Vgl. etwa „Platonische Naturwissenschaft im Laufe der Geschichte", in: C.F. von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen, München 1977, S. 319 ff. Anm. d. Hrsg.
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Quantität und Maß
Hegels Gedankenführung geht erneut auf das Fürsichsein im Maße ein: die Idee einer Einheit von qualitativem Maß und quantitativem Moment (vgl. I, 354 ff.). Das Maß ist, wie wir schon wissen, Exponent, Fürsichsein „an sich" (I, 356). Das Qualitative enthält ein „unmittelbares Moment" (ebd.). Hegel unterscheidet zwischen der „qualitativen Maßbestimmung" und dem „empirisch Erscheinenden eines Maßes" (I, 357). Im Beispiel des Fallgesetzes gilt: „Jenes empirische Quantum" [der Koeffizient a} wird „der Kraft der Schwere zugeschrieben, so daß diese Kraft selbst keine Beziehung auf die vorhandene Spezifikation (die Potenzbestimmheit), auf das Eigentümliche der Maßbestimmung haben soll" (ebd.). Hegel spricht von „realem Maß" (I, 358). Dieses „ist bestimmt zu einer Beziehung von Maßen, welche die Qualität unterschiedener selbständiger Etwas, - geläufiger: Dinge - ausmachen" (ebd.). Der einfachste Fall ist hier wiederum das direkte Verhältnis, wie es bei Harmonien [in der Musik] vorkommt (I, 358 f.). Hegel beginnt mit dem „Verhältnis selbständiger Maße" (I, 359); diese erscheinen als „an besondern Dingen bestehend und [...] äußerlich in Verbindung gesetzt" (I, 360). Als Beispiel gibt er „zwei Metalle von verschiedener spezifischer Schwere" an, die in Verbindung treten (I, 361).132 Dies erweitert sich zur „Reihe von Maßverhältnissen"·, „in nur Einem, von ihm und einem ändern Gebildeten" drückt sich die „spezifische Eigentümlichkeit" eines Etwas, „das Maß Verhältnis in sich ist", nicht aus (I, 362). Diese Reihen sind gegeneinander als different und affin bestimmt.133 Hegel geht nun dazu über, eine solche Beziehung zwischen Reihen selbständiger Maße als spezifische Interaktion zu deuten - mit kritischem Blick auf die Chemie seiner Zeit (vgl. 1,365 f. und die Anmerkung 368 f.): ein Etwas mit einer bestimmten Maßcharakteristik weist eine „Wahlverwandtschaft" zu einem anderen Etwas und dessen Maßcharakteristik auf (I, 365). Gemeint sind chemische Bindungen, die bestimmte Mengenver132
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Wobei das Volumen, auch dieses „Gemisches von chemisch eigentlich gleichgültig bleibenden Materien, nicht von gleicher Größe mit der Summe des Volumens derselben vor der Vermischung ist" (I, 378). Anm. d. Hrsg. Das bedarf vielleicht der Ergänzung. Die Differenz liegt darin, daß zwei Elemente (Stoffe, „Selbständige") zunächst einfach zwei verschiedene Verbindungsreihen bilden - allerdings mit den gleichen Reaktionspartnern (vgl. I, 363). Die Affinität besteht „in dem Verhältnisse, das die Verhältnisexponenten der Reihe zueinander haben" (ebd.). Und zwar ist dieses „nur so fürsichseiende, in der Tat bestimmte Einheit, als die Glieder der Reihe dasselbe als ein konstantes Verhältnis untereinander zu beiden haben" (ebd.). Man denke etwa an das Verhältnis der Anionen-Anteile in den Salzen eines Alkali- und eines Erdalkalimetalls oder an das Verhältnis der Basenanteile in den Neutralisierungsverbindungen einer ein- und einer zweiprotonigen Säuren (jeweils = 1:2). Anm. d. Hrsg.
Das Maß
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hältnisse der Bestandteile voraussetzen, auf daß eine .Neutralisation' oder Sättigung - z.B. zu einem Salz - entsteht.134 Hegel denkt aber auch an die Sphäre der Obertonreihen und Akkorde (vgl. I, 366). Kann bei der Wahlverwandtschaft scheinen, daß es sich nur um einen Affinitätspunkt zweier Reihen handelt,135 so denkt Hegel - vermittelt durch den Gedanken der Äußerlichkeit und des Sich-Abstoßens der quantitativen [Verhältnis-JBestimmung - auch an eine „Knotenlinie von Maßverhältnissen", bei der mehrere Reaktionspunkte unterschieden werden (I, 379 ff.).136 Als Beispiele gelten Hegel Punkte des Zahlenstrahls, die als Vielfaches oder als Potenz und Wurzel zu anderen Zahlen betrachtet werden können [vgl. I, 381],137 oder erneut musikalische Verhältnisse wie die Wiederkehr von Konsonanzen beim Weiterschreiten auf der Tonleiter [I, 381 f.], schließlich auch wieder chemische Bindungen, etwa Oxyde verschiedener Wertigkeit (I, 382). Hegel verknüpft diese Beispiele mit Gedanken zum qualitativen Sprung,138 im Gegensatz zur nur scheinbar besser verständlichen Allmählichkeit des Entstehens und Vergehens, die in Wirklichkeit nicht statthat - in der Natur und auch sonst nicht im Bereich des Moralischen und des Staates (vgl. I, 383 f.). Er kehrt damit zu früheren Äußerungen betreffs der Allmählichkeit (vgl. I, 344 f.) und Spezifik (I, 341 f.) des Maßes zurück - nunmehr aber mit der Tendenz, auch im Geistigen dem nach Maßgesichtspunkten eingeräumten qualitativen Sprung mehr Bedeutung einzuräumen.139 134
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Vgl. M.J. Petry [(Übers, u. Hrsg.), Hegel's Philosophy of Nature, London 1970, Bd. 2, Notes, S. 398 ff., bes. 428 ff.; sowie: ders., Hegels Naturphilosophie - die Notwendigkeit einer Neubewertung, Zeitschrift für Philosophische Forschung, Bd. 35, bes. S. 626 ff.]. Dies erscheint etwas ungenau, da mit .Wahlverwandtschaft' gar nicht das quantitative Verhältnis der Glieder zweier Reihen angesprochen ist, sondern die spezifische Affinität eines Stoffes aus der „Reihe von Maßverhältnissen" zu dem ihnen gemeinsamen Reaktionspartner - als der Reihen- „Einheit" - (I, 362 f.), welche sich in der prinzipiellen Fähigkeit dieses Stoffes zeigt, die anderen Reaktionspartner der Reihe aus ihren Verbindungen mit der .Einheit' zu verdrängen (vgl. I, 367, 370). Auf diese Eigenschaft hin kann man natürlich auch einen Teil der Reihe betrachten. Anm. d. Hrsg. Qualitative Veränderungen „an einem und demselben Substrate" (I, 380). D.h., bezogen auf die Chemie: im Unterschied zu den bisher betrachteten quantitativen Verhältnisreihen handelt es sich hier um verschiedene Mengenverhältnisse gleicher Reagenzien und deren qualitativ verschiedene Produkte. Anm. d. Hrsg. .Potenz' bzw. .Wurzel' - je nach dem, was man als Ausgangspunkt einer geometrischen Folge (a, a2, a3, ...) nimmt. Beim gleichbleibenden „arithmetischen Verhältnis" (im Unterschied zu den spezifischen: Vielfaches, Potenz) denkt Hegel offenbar an die konstante Differenz einer arithmetischen Folge (a, 2a, 3a, ...). Anm. d. Hrsg. Der genauere Ausdruck fällt nicht, wohl aber „Sprung" und „Übergang vom Qualitativen in das Quantitative und umgekehrt" (I, 383). Vgl. F. Engels, Dialektik der Natur, Marx-Engels-Werke, Bd. 20, [Berlin 1973], S. 348 ff. Vgl. Anm. 125. Anm. d. Hrsg.
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Quantität und Maß
Die Betrachtung des spezifischen Maßes endet mit dem „Maßlosen", und zwar insofern als das „ausschließende Maß" - dessen Spezifik „als ein festeres Zusammenhalten gegen andere Möglichkeiten der Verbindung" gedeutet war (I, 367) - „in seinem realisierten Fürsichsein selbst mit dem Momente quantitativen Daseins behaftet" bleibt, „darum des Auf- und Absteigens an der Skale des Quantums fähig, auf welcher die Verhältnisse sich ändern" (I, 384). Es handelt sich allerdings nicht um ein natürliches Immer-weiter, sondern um ein Sich-weiter-leiten-lassen nach den metatheoretischen Gesichtspunkten der Seinslogik. Danach terminierte die Folge von Etwas, Etwas und Anderem, schlechter Unendlichkeit zunächst im Fürsichsein. Dies gewinnt hier die Gestalt, daß einerseits quantitativ immer weiter ms ,Unendliche' fortgegangen werden kann, darin aber „sowohl die Negation der spezifischen Verhältnisse als die Negation des quantitativen Fortgangs selbst, das fürsichseiende Unendliche" liegt (I, 385). Im Unterschied zur qualitativen und quantitativen Unendlichkeit - die eine gedeutet als „unmittelbarer Übergang und Verschwinden des Diesseits in seinem Jenseits", die andere als „Kontinuität des Quantums", die durch es über sich hinausweist - soll hier gelten: „Aber diese Unendlichkeit der Spezifikation des Maßes setzt ebensowohl das Qualitative wie das Quantitative als sich ineinander aufhebend, und damit die erste, unmittelbare Einheit derselben, welche das Maß überhaupt ist, als in sich zurückgekehrt und damit selbst als gesetzt" (ebd.). Die Veränderung der Größenbestimmtheit, durch die das Qualitative in ein anderes Qualitatives übergeht, ist „als eine äußerliche und gleichgültige, und als ein Zusammengehen mit sich selbst gesetzt; das Quantitative hebt sich ohnehin als umschlagend in Qualitatives, das an und für sich Bestimmtsein auf. Diese so sich in ihrem Wechsel der Maße in sich selbst kontinuierende Einheit ist die wahrhaft bestehen bleibende, selbständige Materie, Sache" (ebd.). Das gemeinte Fürsichsein ist somit ein Endstadium des Unterschiedes von Substrat und quantitativer Bestimmung. „Die Maße und die damit gesetzten Selbständigkeiten" (in einer Knotenlinie) sind „zu Zuständen herabgesetzt. Die Veränderung ist nur Änderung eines Zustandes, und das Übergehende ist als darin dasselbe bleibend gesetzt" (1,386). Man kann Bedenken gegen diese Argumentation haben. Der Weg über das Maßlose zu einer neuen Einheit (Substrat mit verschiedenen Zuständen) ist ein mixtum compositum aus qualitativer und quantitativer Unendlichkeitsspekulation. Hegel meint zwar, die beiden Momente des Qualitativen und Quantitativen jeweils als „das Jenseits des anderen" deuten zu dürfen, und meint weiter, daß das Substrat sich in die quantitativen Unterschiede kontinuiere „als in eine gleichgültige Veränderung", während darin ebenso eine „Negation des Qualitativen" liege; irgendwie
Das Maß
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sollen Qualität und Quantität sich wechselseitig aufheben: das „quantitative Hinausweisen [...] geht unter in dem Hervortreten eines Verhältnismaßes, einer Qualität", und umgekehrt hebe sich „das qualitative Übergehen [...] eben darin auf, daß die neue Qualität selbst nur quantitatives Verhältnis ist", so daß von einem „Übergehen des Qualitativen und des Quantitativen ineinander [...] auf dem Boden ihrer Einheit" die Rede sein kann (ebd.). Es bereitet aber Schwierigkeiten, in geregelter Form über dies Novum einer Unendlichkeitsspekulation zu befinden: gerade wenn nämlich der Unterschied des Maßes gegenüber der Quantität darin liegt, daß die Quantität nunmehr eine bestimmte, durch das Qualitative festgelegte ist (vgl. I, 343), erscheint das ,Maßlose' als Pendant zur schlechten Unendlichkeit eigentlich sinnwidrig. Bei der qualitativen Unendlichkeitsspekulation ging es nur um Etwas und sein Jenseits; die Argumentation war also metatheoretisch. Bei der quantitativen Unendlichkeitsspekulation ging es um die Gleichgültigkeit von Etwas gegenüber äußerlichem SichKontinuieren - was thematisch als Zahlen- oder Streckenerzeugung gedeutet werden kann. Hier dagegen geht es z.B. um bestimmte Aggregatzustände usw. Die Denkfigur, welche gewonnen werden soll, ist ein Substrat mit Zuständen (als Vorform des Wesens), aber eine genaue Entsprechung zu den qualitativen und quantitativen Unendlichkeitsspekulationen liegt nicht vor. Und ein „unendlicher Progreß der Knotenreihe" ist im übrigen regional-ontologisch fraglich: eher gibt es Bereiche der Zuordnung von Maßen und quantitativen Progressen; unendlich erstreckbar sind solche Zuordnungen de facto nicht (I, 386).14° Für Hegel jedenfalls steuert das so Erreichte als „immanente spezifizierende Einheit eines fürsichseienden Maßes" eine „Ordnung" von Spezifikationen; Hegel meint aber, „das spezifizierende Prinzip" sei „noch nicht der freie Begriff, welcher allein seinen Unterschieden immanente Bestimmung gibt, sondern das Prinzip ist zunächst nur Substrat, eine Materie" (I, 387). Der Zwitterzustand des Maßes - ein Substrat und dessen „äußerliche quantitative Bestimmung", seine Qualität als ein „durch das Quantum bestimmter, äußerlicher Zustand" - treibt für Hegel auf eine dialektische Fortbestimmung und Ablösung des Maßes zu, auf ein „Herabsetzen desselben zu einem Momente" (ebd.). 140
Hier müßte es (nach „... regional-ontologisch fraglich:") wohl besser heißen: ,es gibt die Zuordnung von Bereichen des quantitativen Progresses zu Qualitäten (oder Spezifikationen) von Maßen; unendlich zahlreich sind solche Bereiche (und Spezifikationen) de facto nicht'. - Eine Lösung wäre es vielleicht, das Maßlose nicht so sehr in der Zahl der ,Knoten zu sehen als in der der Übergänge zwischen solchen Zuständen (und der Gleichgültigkeit gegen sie). Anm. d. Hrsg.
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Quantität und Maß
Das Werden des Wesens Hegel meint, in der dialektischen Rationalität liege die Lösung beschlossen, nach der das Substrat zuletzt nicht mehr ein gleichgültig Quantitatives an ihm habe - gerade das Ergebnis des Maßlosen scheint im Verhältnis von Substrat und Zustand dies Unbefriedigende aufzuzeigen sondern das Bestimmende des An-ihm-Seienden, d.h. Wesen ist. Bei einem qualitativ-quantitativen Oppositionsverhältnis könne demnach nicht stehen geblieben werden, ein Bestimmungsverhältnis gleichsam von innen müsse an die Stelle treten. Und dieses Bestimmungsverhältnis des Wesens kann nicht mehr eines von Qualität und Quantität sein, so sehr das Maß als Moment noch auftreten soll. Der Weg dorthin nun - angesichts der Aufgabe, einen linearen und thematisch konkreten Übergang vorzuführen - ist abenteuerlich (vgl. I, 387 ff.). Hegel spricht vom „Werden des Wesens"', eine eigene thematische Kategorie findet sich in diesem dritten Kapitel des Abschnitts ,Maß' nicht (ebd.). Der Grundgedanke ist, daß mit dem Substrat, welchem die qualitativen und quantitativen Bestimmungen gleichgültig sind, eine „Indifferenz", und zwar eine „absolute", erschienen sei (I, 388). Ein so verstandenes Substrat negiert die Unterschiede an ihm, seine Bestimmtheit ist zugleich „nur noch gesetzt als ein leeres Unterscheiden" (ebd.). Es soll eine „Einheit des Seins" bestehen, die die Äußerlichkeit (die Zustände) „innerhalb" ihrer selbst hat, nicht mehr „nur Substrat" ist (ebd.). Hegel meint nämlich zeigen zu können, wie die quantitativen Unterschiede für ein Substrat gleichgültig werden: er denkt diese äußerlichen Unterschiede (und damit deren qualitative Ausprägung) als Komplemente: was das eine nicht ist, ist das andere; sie stehen „im umgekehrten Verhältnisse", haben zusammen eine „feste Grenze" (I, 389). Freilich ist das Substrat als Indifferenz „dieses feste Maß, die ansichseiende abstrakte Grenze nur in Beziehung auf jene Unterschiede so, daß sie nicht an ihr selbst Quantum wäre und in irgendeiner Weise als Summe oder auch Exponent ändern [...] gegenüberträte" (ebd.). Somit erscheint die Einheit der beiden Qualitäten jetzt als doppelt: in den Quanta und im Substrat, ohne daß Hegel dies zunächst in eins setzt. - „Die Seiten aber, jede als das Ganze der Bestimmung, hiemit die Indifferenz selbst enthaltend, sind so gegeneinander zugleich als selbständig gesetzt" (I, 390). Es gilt, daß das Verhältnis beider Seiten noch nicht eines des Fürsichseins ist, daß noch Gleichgültigkeit besteht: die Indifferenz, „an sich das Ganze der Bestimmungen des Seins", und das „Dasein - als Totalität der gesetzten Realisation" in den Momenten (ebd.). Dies „so untrennbare Selbständige" hat seine Bestimmungen demnach als äußerliche - sie treten nur „grundlos"
Das Maß
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an seiner Totalität hervor (ebd.); Hegel pointiert nun aber, daß die quantitativen Momente „an sich die Indifferenz selbst" sind (I, 391). Quantitative Indifferenz ist Bezugspunkt der qualitativen Indifferenz; beide gehen in eins zusammen. „So ist jede Seite an ihr die Totalität der Indifferenz. Jede der beiden Qualitäten einzeln für sich genommen, bleibt gleichfalls dieselbe Summe, welche die Indifferenz ist" (ebd.). Hegel erläutert, durchaus irrig (unter Verwechslung von metatheoretischer Fürsichseins-Struktur und thematischer Maßbestimmtheit), daß es bei den Quanta auf Grund „ihrer qualitativen Beziehung [...] zu keinem quantitativen Unterschiede und zu keinem Mehr der einen Qualität kommen" könne (I, 392). Ein solches ,Mehr' wäre „nur eine haltungslose Bestimmung" (ebd.). „Jeder dieser sein sollenden Faktoren verschwindet ebenso, indem er über den ändern hinaus, als indem er ihm gleich sein soll"; und dies, so scheint es, ist nur so möglich, daß beide zusammen eine Einheit, ein Ganzes, bilden (ebd.).141 Die erreichte Ganzheit ist noch nicht das Wesen; sie gehört noch der „Sphäre des Seins" an, „womit sie sich zugleich in dem Gegensatze befindet, gegen dasselbe als nur das ansichseiende bestimmt, nicht als das fürsichseiende Absolute gedacht zu sein" (I, 397). Substrat und quantitative Bestimmtheit sind immer noch da. „Oder es ist die äußere Reflexion, welche dabei stehen bleibt, daß die Spezifischen an sich oder im Absoluten dasselbe und eins sind, daß ihr Unterschied nur ein gleichgültiger, kein Unterschied an sich ist" (ebd.). Die Reflexion müßte also vielmehr „die eigene Bestimmung der Unterschiede jener Einheit" sein, „sich aufzuheben, welche Einheit denn so sich erweist, die absolute Negativität, ihre Gleichgültigkeit gegen sich seihst, gegen ihre eigene Gleichgültigkeit, ebensosehr als gegen das Anderssein zu sein" (ebd.). Es soll sich um ein „Sich-Aufheben der Bestimmung der Indifferenz" handeln dadurch, daß die Einheit oder das Ganze Gleichgültigkeit gegen ihre eigene Gleichgültigkeit sei. Die Bestimmung 141
Vgl. das Beispiel der Zentripetal- und Zentrifugalkraft und die gesamte Anmerkung (I, 392 ff.). [Hegel argumentiert hier, daß angesichts einer gesetzten Selbständigkeit, d.h. Unabhängigkeit der beiden Faktoren, ihr gegenläufiges Zu- und wieder Abnehmen nicht erklärbar sei, welches .Kräftespiel' aber doch notwendig angenommen werden muß zur Erklärung des betreffenden Gesamtphänomens. Für Hegel sind beide Kräfte offenbar eher der Erklärung bedürftig, als daß sie zur Begründung der Planetenbewegung etwas beitrügen. Ihre Einführung erscheint überflüssig: „das Quantitative dieses Faktums [d.h. der Planetenbewegung] ist durch den unermüdlichen Fleiß des Beobachtens [d.h. durch Keplers Arbeiten] genau bestimmt und dasselbe weiter auf sein einfaches Gesetz und Formel zurückgeführt, somit alles geleistet, was wahrhaft an die Theorie zu fordern ist" (I, 393). - Hegels Kritik ist natürlich insoweit irrig, als die Differenz der beiden Kräftevektoren gerade den Beschleunigungsvektor in Bahnrichtung entspricht, insgesamt also Kräftegleichgewicht besteht.]
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Quantität und Maß
der Indifferenz habe sich als Widerspruch gezeigt; sie ist „an sich die Totalität, in der alle Bestimmungen des Seins aufgehoben und enthalten sind; so ist sie die Grundlage, aber ist nur erst in der einseitigen Bestimmung des Ansichseins, und damit sind die Unterschiede, die quantitative Differenz und das umgekehrte Verhältnis von Faktoren, als äußerlich an ihr" (ebd.). Der Widerspruch ist einer zwischen Unbestimmtheit qua indifferentem Substrat und Bestimmtsein, zwischen ansichseiender Bestimmtheit und gesetzter Bestimmtheit. So ist die Indifferenz, das Ganze, „die negative Totalität, deren Bestimmtheiten sich an ihnen selbst und damit diese ihre Grundeinseitigkeit, ihr Ansichsein, aufgehoben haben. Gesetzt hiemit als das, was die Indifferenz in der Tat ist, ist sie einfache und unendliche negative Beziehung auf sich, die Unverträglichkeit ihrer mit sich selbst, Abstoßen ihrer von sich selbst" (ebd.). „Das Bestimmen und Bestimmtwerden" ist damit nicht mehr „ein Übergehen, noch äußerliche Veränderung, noch ein Hervortreten der Bestimmungen an ihr, sondern ihr eigenes Beziehen auf sich, das die Negativität ihrer selbst, ihres Ansichseins ist" (I, 397 f.). Die Bestimmungen, welche nun durch das Abstoßen der Indifferenz von ihr selbst gedacht werden müssen („die Bestimmungen als solche abgestoßene") „gehören aber nun nicht sich selbst an, treten nicht in Selbständigkeit oder Äußerlichkeit hervor, sondern sind als Momente erstens der ansichseienden Einheit angehörig, nicht von ihr entlassen, sondern von ihr als dem Substrate getragen und nur von ihr erfüllt, - und zweitens als die Bestimmungen, die der fürsich seienden Einheit immanent, nur durch deren Abstoßen von sich sind. Sie sind statt Seiender wie in der ganzen Sphäre des Seins nunmehr schlechthin nur als Gesetzte, schlechthin mit der Bestimmung und Bedeutung, auf ihre Einheit, somit jede auf ihre andere und Negation bezogen zu sein, - bezeichnet mit dieser ihrer Relativität" (ebd.). Das Problem ist die begriffliche Genesis des Gesetztseins in der neuen Konfiguration (methodologisch war sie schon erschienen - vgl. I, 108 f.), die Deutung, daß die Negation des Bestimmten als eines Gleichgültigen Erzeugnis des eigenen Abstoßens ist - also die Aneignung des Bestimmten als eines Eigenen. Oder: daß das Substrat sich erweisen soll als sich bestimmend und somit als nicht mehr gleichgültig gegenüber seinen Bestimmungen, als mehr denn Substrat. - Diese Deutung ist offenbar metatheoretisch (das Ergebnis kann nicht aus der Sphäre der Planetenbewegungen stammen mit Zentripetal- und Zentrifugalkraft als deren gegenläufig wirksamen Faktoren); aber gerade metatheoretisch ist die mit Maß kohärente Proponierung einer Einheit von Sich-Abstoßen und Fürsichsein im Wesen eine Verstehensaufgabe.
Das Maß
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Ein Sich-Abstoßen gab es schon früher, beim Etwas, als ein Sich-übersich-Hinausschicken: so das Sich-Abstoßen des Punktes als Anfang der Linie usw. (vgl. I, 115 f.). Der Unterschied zu diesem Sich-Abstoßen ist das Immanentbleiben des Abgestoßenen in der neuen Struktur. Das Abgestoßene ist auch nicht Gleichgeartetes (zu einem Etwas noch ein Etwas und noch eines), sondern Ungleichartiges als zugehörig zum und gesetzt vom Zentrum. Gerade diese Ungleichartigkeit des Sich-Abstoßenden und des [im Abstoßen dennoch] Einbehaltenen kennzeichnet das mit den Denkmitteln der Seinslogik rekonstruierte oder doch angebahnte Novum, eine metatheoretisch-prinzipielle Sphärenbestimmung, das Wesen. Am Ende steht eine Struktur, die nicht mehr beschränkt gedacht ist auf Quantitatives in seinem Verhältnis zu Qualitativem (vgl. I, 350). Die Idee ist, daß mit der Einholung der Quantität in die Qualität das Sein aufgehoben ist zu einer Einheit, die Aufhebung des Seins als Voraussetzung seiner selbst. Hierzu ist es natürlich nötig, Sein nicht als Qualität zu nehmen, sondern - gemäß den Entwicklungen in Abschnitt ,Maß', die zur Einholung des Quantitativen ins Qualitative geführt hatten - Seiendes auf dieser Bestimmtheitsstufe als ein Oppositum zu verstehen, das kein Oppositum mehr sein soll. Hegel schreibt: „Damit ist das Sein überhaupt und das Sein oder die Unmittelbarkeit der unterschiedenen Bestimmtheiten ebensosehr als das Ansicbsein verschwunden, und die Einheit ist Sein, unmittelbare vorausgesetzte Totalität, so daß sie diese einfache Beziehung auf sich nur ist, vermittelt durch das Aufheben dieser Voraussetzung, und dies Vorausgesetztsein und unmittelbare Sein selbst nur ein Moment ihres Abstoßens ist, die ursprüngliche Selbständigkeit und Identität mit sich nur ist als das resultierende, unendliche Zusammengehen mit sich; — so ist das Sein zum Wesen bestimmt, das Sein, als durch Aufheben des Seins einfaches Sein mit sich" (I, 398). Fassen wir die Überlegungen zum Maß zusammen, so zeigten sich uns Bedenken in folgenden Punkten. Einmal schien eine Unregelmäßigkeit vorzuliegen, wenn die Fürsichseins-Position der Quantität dazu genutzt wird, die Einheit von Quantität und thematischer Qualität als dargetan zu nehmen. Dann stellte sich das mit der thematischen Qualität eingehandelte Problem der Regionalität dieses Abschnittes der Hegeischen Logik. Weiter bleibt fraglich, ob ein selektives Beispiel wie das ,umgekehrte Verhältnis' der Quanta an einem Substrat maßgeblich Glied einer Argumentationskette sein kann. Und schließlich war da das Problem, ob der ,Übergang in das Wesen' noch innerhalb der Seinslogik liegt. Gibt es einen Sprung zur neuen Sphäre oder gibt es Kontinuität? Im Zusammenhang der Unregelmäßigkeit zu Beginn [des Abschnitts] und bei Anbahnung der Wesenskonzeption zeigte sich, daß Hegel zwi-
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Quantität und Maß
sehen metatheoretischer und thematischer Argumentation hin und her wechselt. So ist offensichtlich, daß bei der Anbahnung der Wesenskonzeption die Lösung metatheoretiscb gesucht wird, derart daß vom unvollkommenen Fall der ,Indifferenz gegenüber Momenten' zur ,Indifferenz gegenüber der Indifferenz' übergegangen wird: der in Rücksicht auf Einheit jhöhere* Fall wird als eröffnet ausgegeben. Ganzheitsansinnen und Bestimmtheit gehen eine neue Einheit ein. - Man kann fragen: mußten dann die Stadien Qualität, Quantität und Maß durchlaufen werden, um dorthin, also zum Wesen, zu gelangen? Allerdings könnte man Hegel zugutehalten, daß schwerlich auszudenken ist, welche anderen Varianten von nicht-wesentlichen Bestimmungen noch hätten berücksichtigt werden müssen oder welche hätten fehlen können. Auch das Maß mag so akzeptiert werden, wiewohl seine begründete Einführung und der lineare Übergang ins Wesen fraglich bleiben. Die Nichtausdenkbarkeit einer Alternative zu dem der neuen Sphäre Vorausliegenden scheint immerhin Hegels These vom Maß als Vorgestalt des Wesens zu beglaubigen. Damit ist nicht die dialektische Rekonstruktion als ganze gerechtfertigt, vielleicht aber doch Hegels systematisch-hermeneutische Intention.
Viertes Kapitel Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik Die Wesenskonzeption [Erster Abschnitt. Das Wesen als Reflexion in ihm selbst] Mit dem Wesen eröffnet sich ein neuer Seinsbegriff und eine neue Sphäre der Logik. Gedacht ist an etwas, das nicht die Unmittelbarkeit des qualitativen und quantitativen Seins hat, sondern Sein bezogen sein läßt auf einen Schwerpunkt, zu dem es in einer Einheit gehört, von dem [her] es zu verstehen oder zu erklären sein soll. Eine solche Beziehung lag im seinslogischen Bereich nicht vor. Hier gab es nur Oppositions- und Implikationsverhältnisse - Differenz, Fürsichsein - und dies doppelt als qualitative und als quantitative Oppositions- und Implikationsverhältnisse. Dagegen ist im Wesen ein Seinstyp, eine Struktur gemeint, in der Sein eine Einheit bildet mit einem Bezugspunkt, der nicht seinerseits unmittelbares Sein, Anderes ist. Die Wesenskonzeption ist dann der Versuch, eine solche Einheit zu denken. Hegel faßt das Gemeinte auf als „Erinnerung", als Eröffnen einer Innendimension des Seins (II, 3). Sein wäre ein Außen [und] der Bezugspunkt, von dem her es zu denken ist, ein Innen - beides in Einheit. Hegel stellt dies dar einmal als eine Bewegung des Wissens - es bleibe „nicht beim Unmittelbaren und dessen Bestimmungen stehen", setze voraus, „daß hinter diesem Sein noch etwas anderes ist als das Sein selbst, daß dieser Hintergrund die Wahrheit des Seins ausmacht" -, andererseits als eine „Bewegung des Seins selbst" (ebd.). Es habe sich an diesem gezeigt, „daß es durch seine Natur sich erinnert und durch dies Insichgehen zum Wesen wird" (ebd.). Die letztere Komplikation - ob der Weg zum Wesen Sache des Denkens oder des Seins ist - löst sich natürlich so, daß das, was das Denken dem qualitativen und quantitativen Sein zugedacht hat, in diesem exemplifiziert ist; was die in der Sphäre des Seins maßgebliche äußere Reflexion dem Sein ,einbildet', ist dann auch so eingebildet. Hegel will diesen Prozeß als „Bewegung des Seins" auffassen. Diese Ansicht bekommt erst Relief in weiteren Äußerungen zur Reflexion und zum .Übergehen' (wir kommen darauf zurück).
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
Die systemanalytische Situierung des Wesens Der Satz: „Die Wahrheit des Seins ist das Wesen" (ebd.) pointiert die lineare Einordnung des Wesens als consequens aus dem Sein; der Gedanke: „Das Wesen steht zwischen Sein und Begriff und macht die Mitte derselben, und seine Bewegung den Übergang vom Sein in den Begriff aus", bestimmt die Stelle des Wesens in der Architektur der Logik (II, 5). Noch andere systematische Deutungen werden gegeben: das Wesen, zunächst unbestimmt als „vollkommene Rückkehr des Seins in sich", enthält Bestimmtheiten des Seins, als in ihm aufgehoben; „es enthält sie an sich, aber nicht wie sie an ihm gesetzt sind" (II, 4). Diese Latenz des Seins muß aufbrechen, das Wesen in seiner Einfachheit „muß zum Dasein übergehen; denn es ist An- und Fürsichsein" (ebd.). Es wäre also zu verfolgen, wie das Wesen die Bestimmungen „unterscheidet [...], welche es an sich enthält" (II, 4 f.). Eine Reihe von Wesensfällen wird demgemäß zu unterscheiden sein, die aber alle unter die Strukturdeutung fallen, daß Wesen „An- und Fürsichsein [ist], aber dasselbe in der Bestimmung des Ansichseins"; will sagen, daß Wesen und Sein noch nicht letztliche (begriffliche) Einheit sind und daß seinslogische Unterschiede beim Wesen mitspielen, dieses artikulieren (II, 5). Ein Vergleich mit der Quantität - „das Wesen ist im Ganzen das, was die Quantität in der Sphäre des Seins war" (ebd.) - ist nicht ohne Schwierigkeit. Die Analogie soll in der Gleichgültigkeit gegen die Grenze liegen: das Wesen ist ebenfalls nicht konfrontiert mit einer qualitativen Grenze, sondern wie die Quantität impliziert es die Grenze. Während das aber bei der Quantität in unmittelbarer Weise der Fall war - die Gleichgültigkeit gegen das Angrenzende hinderte nicht, daß letzteres ein gleichartiges Anderes war, eine äußerliche Bestimmtheit -, so soll beim Wesen die Gleichgültigkeit gegen die Grenze aufgehoben sein: „Am Wesen hingegen ist die Bestimmtheit nicht; sie ist nur durch das Wesen selbst gesetzt, nicht frei, sondern nur in der Beziehung auf seine Einheit" (ebd.). Die Grenze, das Bestimmende, ist dem Wesen immanent, ist gebunden - „nicht frei" - in der Einheit des Wesens (ebd.). Die Mühe, welche die geschilderte Analogie bereitet, ist größer als ihr Wert; Hegel will [für] das Sein als Thema der Seinslogik insgesamt ein In-die-Wahrheit-Kommen im Wesen erbringen; das Wesen weist die wahre Form der Gleichgültigkeit gegen die Grenze auf. Es zeigt sich aber, daß damit gerade Nicht-Gleichgültigkeit, Einbindung der Bestimmtheit in die neue Struktur, gemeint ist.1 1
Sagen wir so: Gesetztsein heißt Abhängigsein von einem Bezogenen. Dies kann innerhalb einer Wesensstruktur so sein, aber auch in der Seinslogik: immer dann, wenn eine
Leistungen der Wesenskonzeption
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Die gemeinte Konzeption ist eine Sphärenbestimmung oder eine Superkategorie, die in ihrer die Seinslogik überschreitenden Struktur und Relevanz nicht aus dem Abschlußstadium des Maßes - der Indifferenz des Substrats gegenüber den quantitativen Seinsbestimmungen2 - überzeugend gewonnen werden kann (wenn auch der vermittelnde Gedanke dieses Substrats eine strukturelle Nähe zum Wesen hat). Hegel meint selbst: „sie [die letzte Bestimmung des Seins] erreicht aber dieses [das Wesen] nicht" (I, 397). Die lineare Anbahnung muß also als nicht streng genommen werden; auch architektonisch, aus der Deutung als Mitte zwischen Sein und Begriff, ist wohl keine strenge Herleitung zu gewinnen.
Leistungen der Wesenskonzeption Hegels Wesenskonzeption ist eine Strukturabstraktion, welche eine Fülle von Fällen abdeckt, in denen die Zusammengehörigkeit von Ingredienzien oder Momenten in einer Einheit gedacht wird, und zwar so, daß das eine Moment - der für die Einheit aufkommende Bezugspunkt - von ihm her das andere Moment bestimmt, so wie andererseits auch dieses jenes bestimmt - jedoch unter vorgegebener Relevanz des Bezugspunkts. Die Wesenskonzeption hat damit Erklärungscharakter: Etwas ist so oder so, weil ein Dahinterstehendes macht, daß es so ist, wie sehr auch [umgekehrt] dies Etwas sein Dahinterstehendes bestimmt. - So soll [nach Hegels Deutung] die platonische Idee für das Sosein von Seienden (als Exemplaren) aufkommen. Oder es soll die aristotelische Substanz als Träger von Akzidenzen, wenn nicht unbedingt diese, so doch deren Nachrangigkeit und gleichzeitige Zugehörigkeit erklären: ohne Substanz, ohne Wesen, kein Akzidenz, so scheint es. Es zeigen sich eigentlich zwei Motivationen: Zugehörigkeit von Seinsmäßigem zu einem erklärenden Bezugspunkt und Vorrangigkeit des Ganzen von Bezugspunkt und Zugehörigem gegenüber einer seinslogischen
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Bestimmung - als in einer nachfolgenden Struktur aufgehoben - auf ihren proximativen Grund zurückgeführt ist. [Es ist nicht ganz klar, was Hartmann hier mit „proximativem Grund" meint - vermutlich aber das auf der entsprechenden Bestimmtheitsstufe ,anwesende', .benachbarte' Negat einer Kategorie, wobei die wechselseitige Bezogenheit als aufgehobener Widerspruch erst in der nachfolgenden Struktur gesetzt ist. Hinzugefügt sei noch, daß die Gleichgültigkeit gegen das Angrenzende gerade die Voraussetzung der die Quantität kennzeichnenden größeren Homogenität von Kategorie und Negat war. Sie stellt deshalb nicht unbedingt ein Argument dar gegen die von Hegel ausgemachte Affinität der Strukturen.] Welche als Faktoren im ,umgekehrten Verhältnis' gegeneinander variabel sind (vgl. I, 388 ff.). Anm. d. Hrsg.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
Bestandsaufnahme von Beliebigem, Qualitativem oder (in seiner Beliebigkeit schon auf Gleichartigkeit eingeschränktem) Quantitativem. Und es zeigt sich ein Drittes, nämlich daß auch bloße Zugehörigkeit von Einem und Anderem in Einheit, (d.h., wenn diese keinen Selbstand haben, also aufeinander bezogen sind, wie z.B. Positives und Negatives und sonstige .Reflexionsbestimmungen') hierhergehört: das Eine gehört dem Anderen an und umgekehrt, so sehr dennoch3 nicht bloße Wechselseitigkeit gemeint ist, sondern ein Schwerpunkt, ein Bezugspunkt, angesetzt ist. Deutlich ist also, daß Hegels Konzeption es gestattet, eine Fülle von Erklärungsschemata abzudecken, wie etwa Idee und Exemplar, Substanz als Selbstständiges im Verhältnis zu Sonstigem, aber auch Modelle von Kraft und Gegenkraft, Punkt und Kontrapunkt usw. Es wird z.B. zu erwarten sein, daß die Aristotelischen Bemühungen in Metaphysik Z, ob Substanz Materie, Form oder ein Synolon sei, hier ihre Subsumtion finden. Aber mehr als das: Hegel wird unter den Gesichtspunkten der Formalität (Reflexionsbestimmungen), der Differenz (Erscheinung) und der Schließung (Wirklicheit) die verschiedenen Erklärungsschemata entwickeln, in eine Abfolge und Rangierung bringen können. Es wird Stadien der relativen Gleichgültigkeit des Bezugspunkts, des relativen Schwergewichts beim Bezugspunkt oder beim Sein und der Dominanz der Einheit geben. Damit ist , Wesen', wie gesagt, Superkategorie für Kategorien wie Substanz und Akzidenz, Inhalt und Form, Inhärenz und Dependenz usw. Die Struktur der einzelnen Erklärungen wird selbst Thema, während bei Platon und Aristoteles das Seiende (als öv oder ) Thema blieb und die Struktur als oder irreduzibles Verhältnis von Mate4 rie und Form erscheint. Man kann Hegeische Einsichten in Aristoteles hineinlesen,5 aber die Thematisierung von ontologischen Begriffen als Erklärungskonzeption liegt bei Aristoteles noch nicht vor. Vielmehr ist es jeweils die Essenz, welche als Wesen fungiert; diese Essenz ist jedoch immer bestimmte, somit nicht Superkategorie - und der Zusammenhang zu dem von ihr Geformten ist nur unterstellt, der Essenz zugedacht, aber nicht strukturell verstanden. Sie [die Essenz] kann [also] auch allein, als Ideales, gemeint werden. Bei Kant ist eine Einsicht in die Relationalität der Kategorien der [bei ihm] 3. Gruppe vorhanden, wesentlich aber bestimmt durch die Konzep-
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5
D.h. bei den ,Wesensfiguren'. Anm. d. Hrsg. Materie und Form können beide auch gleichermaßen für sich sein: Form kann einwohnen, muß es aber nicht. Vgl. K. Brinkmann [Aristoteles* allgemeine und spezielle Metaphysik, Berlin 1979].
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tion eines dynamischen Verhältnisses.6 Dieses ist gewiß eine Wesensstruktur, doch deren Allgemeinheit kommt so nicht zur Sprache.
Die dialektische Konstitution des Wesens [Erstes Kapitel. Der Schein] Mag die Wesenskonzeption mit dem Gesagten als vorgestellt gelten können, so muß jetzt ihre dialektische Konstitution, Konstruktion oder Rekonstruktion, von Interesse sein. Wenn ein Inneres von Sein relevant ist für Sein und darin [ein] Sein neuen Typs ist, dann kann dies Innere nicht als gleichnamig mit Sein bezeichnet werden, hätte man doch damit eine seinslogische, [genauer:] qualitative Beziehung zwischen Innerem und Sein statuiert, wie sie die äußere Reflexion imputiert. Das Innere muß sich vom Sein, das am Wesen ist - Hegel spricht von „Resten des Seins" (II, 12) - dadurch unterscheiden, daß es Nichtseinspotential hat. Etwas anderes steht in Hegels Bestimmtheitstheorie nicht zur Verfügung. Nunmehr aber muß ein solches Nichtseinspotential dafür aufkommen, daß Sein zum Zugehörigen, nicht mehr die Hauptsache Ausmachendem, wird oder als solches sich darstellt. Dieses - dem neuen Ganzen nunmehr immanente - Nichtseinspotential nennt Hegel ,Negativität'. Nimmt man einen unmittelbaren, anfänglichen Fall an, so ist das Wesen „einfache Negativität", von der aus es die latente (Seins-)Bestimmtheit allererst setzt (II, 5). In entwickelten Fällen ist das Wesen Negativität in Einheit mit „Resten von Sein", welche beide verschieden akzentuiert werden können (nach Gleichberechtigung, Seinsübergewicht oder Übergewicht des Wesenszentrums, wie wir andeuteten). Führt diese Überlegung schon zur dialektischen Rationalisierung der Wesensfälle, so gibt Hegel in der Wissenschaft der Logik - wenn auch nicht in der Logik der Enzyklopädie - eine nähere (dialektische) Deutung der Wesensstruktur selbst unter dem Motto .Reflexion'. A. Das Wesentliche und das Unwesentliche Vorangestellt wird (ebenfalls nur in WdL, nicht in E) ein Einstieg in die Strukturdeutung des Wesens anhand der Unterscheidung von We6
Kritik der reinen Vernunft: „dynamisch: [...] auf das Dasein einer Erscheinung überhaupt" gehend - z.B. die Kategorien der Kausalität und Notwendigkeit (KrV B, S. 199). Anm. d. Hrsg.
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sentlichem und Unwesentlichem und [der Einführung] des Scheins - als eines sinnfälligen Beispiels für den Seinsrest, der auf ein Wesentliches bezogen wird. Bei der Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem meint Hegel, daß beide noch als Andere sich verhalten; das Wesen wäre vom Sein her betrachtet als aufgehobenes Sein, wäre nur in erster Negation, die die Bestimmtheit des Seins als eines Anderen stiftet, auf das Unwesentliche bezogen (II, 8). Wird aber realisiert, daß das Wesen „absolute Negativität" ist, so kann das Sein nicht mehr Anderes sein; es ist „Unwesen, [...] Schein" (II, 9).
B. Der Schein Schein ist „der ganze Rest, der noch von der Sphäre des Seins übriggeblieben ist" (ebd.). Hegel nimmt Gelegenheit, philosophiehistorische Parallelen (Skeptizismus, Kants Lehre von der Erscheinung) zu betrachten. Systematisch ist allein wichtig, daß mit dem Schein ein Beispiel vorliegt für einen Seinsrest, der auf das Wesen verweist. Vom Wesen her blickend, kann Hegel meinen, daß es sich um den „Schein des Wesens selbst" handelt (II, 11). (Die Konzeption eines ,Scheinens des Wesens' wird im weiteren Verlauf noch bedeutsam sein.) Man kann fragen, ob der Einstieg in die Wesensstruktur am Seinsrest ansetzen muß; in der Enzyklopädie findet sich ein solches Vorgehen nicht, und in der Wissenschaft der Logik ist dieser Einstieg relativiert, wenn Hegel meint, daß „vorhin die reflektierende Bewegung" von jener „Unmittelbarkeit, welche die Bestimmtheit des Scheins ausmacht, [...] anzufangen schien" (II, 15). Deshalb ist auch ein Ausgang vom Seinsmi zu vertreten (von der Unmittelbarkeit in diesem Sinne) oder, eher noch, ein Ausgang vom Wesen als neuer Unmittelbarkeit.
C. Die Reflexion Die dialektische Strukturdeutung des Wesens unter dem Motto ,Reflexion' - die nach ,A. Das Wesentliche und das Unwesentliche' sowie ,BDer Schein' - nun als ,C'. erscheint, ist nicht Fortbestimmung von A und B, sondern theoretische Vertiefung des mit ,Wesen' Gemeinten. „Das Wesen ist Reflexion" (II, 13). - Hegel erinnert an den Schein und meint, „für den in sich gegangenen [...] Schein" hätten „wir das Wort der fremden Sprache, die Reflexion" (ebd.); damit ist freilich wieder der Ausgang
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beim Schein bekräftigt, der eigentlich im Stück über die Reflexion nicht befolgt wird. Deutet man Wesen durch Negativität, dann muß das, was beim Sein Anderes war, bezogen gedacht werden auf Negativität: es muß Negat der Negativität sein - Hegel sagt: „Negation als Negation" (ebd.) -, wobei ähnlich wie beim Anderen, das Anderes seiner selbst ist, das Negat als Negat ist. In bezug hierauf ist die Negativität „Negation mit der Negation" - dem Negat (ebd.). (Hegel setzt oft die Charakterisierung - hier Negation - für das Charakterisierte, den Referenten - hier das Negat - in einer Art Synekdoche.) Liegt im Negat der Negativität (im Seinsrest) eine Unmittelbarkeit vor (qua Seinsrest), so qua Gleichheit mit sich auch in der Negativität. Sie ist unmittelbar, so wie metatheoretisch das absolute Wissen in der Phänomenologie des Geistes oder das Fürsichsein oder das quantitative Verhältnis in der Seinslogik Unmittelbare waren. Wir können, unter Bezugnahme auf D. Henrich, von Uj (seinsmäßiger Unmittelbarkeit) und U2 (wesensmäßiger Unmittelbarkeit) sprechen.7 Die Struktur des Wesens wird in den Termini von derart doppelt verstandener Unmittelbarkeit, Negativität, - Negation als Negation und Negation mit der Negation - dialektisch konstituiert. Die Wendung, das Werden des Wesens sei „daher die Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück" ist cum grano salis zu nehmen, da in ihr weder die Bezogenheit der Momente innerhalb eines Ganzen deutlich gemacht wird noch die Theorieabsicht, nach der es sich beim Wesen um einen Seinsbegriff handeln soll (II, 13). Hegel unterscheidet drei Arten von Reflexion, die Stadien - oder Akzentsetzungen - innerhalb einer einzigen Reflexions- oder Wesenstruktur darstellen: setzende Reflexion, äußere Reflexion und bestimmende Reflexion. 1. Die setzende Reflexion Die setzende Reflexion müßte eigentlich die Paradoxie besagen, daß das Wesen sein Sein (seinen Seinsrest, seine Peripherie) setzt, was heißen müßte, daß die Negativität - ein Nichts - sich Sein gibt. Damit wäre auch die Einheit des Wesens aufgelöst zugunsten eines Ursprungs, der (als Nichts doch undenkbar Ausgangspunkt einer Reflexion) ein Anderes setzt. Hegel sagt tatsächlich, daß „die setzende [Reflexion] vom Nichts" ausgehe (II, 20). Aber wiederum heißt es unter Vermeidung der Paradoxie an früherer D. Henrich, Hegel im Kontext, S. 115-117.
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Stelle: „weil es [das Wesen] Abstoßen seiner von sich oder Gleichgültigkeit gegen sich, negative Beziehung auf sich ist, setzt es sich somit sich selbst gegenüber und ist nur insofern unendliches Fürsichsein, als es die Einheit mit sich in diesem seinem Unterschiede von sich ist" (II, 5). Das Wesen setzt also sein Sein (oder sich als sich gegenüber), aber die Denkfigur ist die des Sich-Abstoßens (vgl. 1,158 f., 168 f.), wobei sich letzteres in der Immanenz des Wesens vollzieht. Damit kann das Setzen des Schön-Zugehörigen nur so gemeint sein, daß beim Wesen, gleichsam in Orthostellung, von ihm ausgegangen und sein Sein von ihm her (als von ihm bedingt) dargestellt werden muß. In der Negationsterminologie heißt das: es muß von der Negativität her verstanden werden, was das Wesen ist. Wenn die Negativität als ,Sein' konstruiert (oder bestimmt) wird, dann ,ist' sie „Negieren ihrer selbst" (II, 14). Sie ist „somit überhaupt so sehr aufgehobene Negativität, als sie Negativität ist" (ebd.). Wie beim seinslogischen Anderen, das das Andere seiner selbst ist und so auf das Eine verweist, haben wir jetzt im Einen, im Bezugspunkt oder Zentrum, diese Negativität seiner (oder ihrer) selbst, also aufgehobene Negativität, Sein als Seinsrest, als innerwesensmäßiges Oppositum. - Verwirrenderweise bahnt Hegel dies noch vom Schein an als „das Nichtige oder Wesenlose": „seine eigne Gleichheit mit sich" ist gerade „Wechsel des Negativen mit sich selbst [...] als die absolute Reflexion des Wesens" (ebd.). Die Reflexion ist zunächst als „mit sich selbst zusammengehende Negation [...] Gleichheit mit sich, die Unmittelbarkeit" (ebd.). Strukturell wird zunächst nicht die Negativität ihrer selbst (Sich-Abstoßen) betrachtet, sondern die Unmittelbarkeit als „Aufheben des Übergehens" in das Resultat einer Negativität ihrer selbst, der Setzung (ebd.). Zunächst [also] soll es sich um „Gleichheit mit sich" oder „Unmittelbarkeit" (= U2) handeln. Dann aber wird beachtet, daß die Negativität Negativität ihrer selbst ist, „Gleichheit des Negativen mit sich, somit die sich selbst negierende Gleichheit" (II, 14 f.); sie ist „die Unmittelbarkeit, die an sich das Negative, das Negative ihrer selbst ist, dies zu sein, was sie nicht ist", d.h. das Negat der Negativität (II, 15). Und dann, nachdem das Negat vorgezeigt worden ist, kann Negativität als „Rückkehr in sich" beschrieben werden, als „Rückkehr aus einem, somit sich selbst aufhebende Unmittelbarkeit" (= Uj, zu U2 zurückkehrend - ebd.). Die „sich selbst aufhebende Unmittelbarkeit" (= Uj) „ist das Gesetztsein, die Unmittelbarkeit rein nur als Bestimmtheit oder als sich reflektierend" - nämlich zur Unmittelbarkeit des Wesens (= U2 - ebd.). Von der Unmittelbarkeit (= U t ) soll nicht mehr angefangen werden können; vielmehr ist diese erst als „die Rückkehr oder als die Reflexion selbst. Die Reflexion ist also die Bewegung, die, indem sie die Rückkehr ist, erst darin das ist, das anfängt oder
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das zurückkehrt" (ebd.). Soll sagen: Die Reflexion geht über in, oder ist bezogen auf ihr Negat (Ergebnis des sich Abstoßens), aber ist dieses nicht, ist Aufheben des Übergehens. Die Unmittelbarkeit des Wesens (U2) ist Setzen ihres Negats (= U]) in der Form der Rückkehr. Die Rückkehr (oder die Rücknahme der Unmittelbarkeit des Oppositums) ist Anzeige des Gesetztseins, das durch das Sich-Abstoßen der Negativität von sich begründet wurde. Von Interesse ist das erneute .Aufscheinen' des Terminus ,Gesetztsein' - als ein seinslogisches Moment in der Wesenslogik. Die Unmittelbarkeit Uj ist Gesetztsein (oder richtiger, Gesetztes), wenn das Wesen oder die Reflexion Rückkehr aus der Unmittelbarkeit Uj ist, [d.h.] wenn die Unmittelbarkeit U2 (das Wesen) Aufhebung der Unmittelbarkeit U t ist (vgl. II, 15). Gesetztsein suggeriert setzende Reflexion, erscheint aber näher als solches, dem die Negativität die Unmittelbarkeit (= UJ bestreitet. In dem Gedanken einer Rückkehr oder Rücknahme liegt aber auch der Gedanke, daß gar kein Setzen vorliegt, sondern ein Voraussetzen: „Indem sie [die Reflexion] also die Unmittelbarkeit als ein Rückkehren, Zusammengehen des Negativen mit sich selbst ist, so ist sie ebenso Negation des Negativen als des Negativen. So ist sie Voraussetzen" (ebd.). Es heißt auch: „Die Reflexion also findet ein Unmittelbares vor, über das sie hinausgeht, und aus dem sie die Rückkehr ist" (II, 16). Dieser Akzent auf der Differenz von Wesen und Seinsrest ist aber gerade nicht das Gemeinte. Die Krise der Darstellung - daß die setzende Reflexion in ihrer Rückkehr aus etwas herkommt - ist deshalb Anlaß, zum nächsten Typ der Reflexion fortzuschreiten. Wie wir schon beim Schein sahen, ist die geschilderte Struktur - die „Beziehung des Negativen auf sich selbst [...] also seine Rückkehr in sich" (II, 15) - unter Verwechslung von U t und U2 auch zu lesen in dem Sinne, daß der Seinsrest, das Negative seiner selbst, sich verinnerlicht zum Zentrum, zur Negativität. Dann wäre die Stelle symmetrisch vom Zentrum und von der Peripherie her lesbar - ohne daß dadurch die setzende Reflexion in ihrem Verständnis gefördert wird.
2. Die äußere (oder voraussetzende) Reflexion Die äußere Reflexion erscheint als Anerkenntnis, daß das Sein, oder der Seinsrest innerhalb des Wesens vorausgesetzt wird. Die Reflexion wird in ihrer Differenzstufe betrachtet. Sie erscheint als Vermittlung (oder Mitte) zwischen Unmittelbarem vom Typ Uj und dem Wesen, oder der Unmittelbarkeit vom Typ U2 (vgl. II, 17).
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Die äußere Reflexion „näher betrachtet, so ist sie zweitens Setzen des Unmittelbaren" U j j „aber sie ist unmittelbar auch das Aufheben dieses ihres Setzens", weil sie das Gesetzte auch als Vorausgesetztes faßt; sie ist „Negieren dieses ihres Negierens" (II, 18). Und wiederum: „Sie ist aber unmittelbar damit ebenso Setzen, Aufheben des ihr negativen Unmittelbaren" - also wieder Gesetztsein herstellend; nur wenn die Reflexion bei ihm anfängt, ist es (ebd.). So soll (verkürzt dargestellt) die setzende und die vorausetzende Reflexion dasselbe sein. Dies Zusammenfallen trägt einen neuen Namen: bestimmende Reflexion.
Anmerkung Hegel nimmt an dieser Stelle Gelegenheit, Kants Begriffe einer reflektierenden und einer bestimmenden Urteilskraft zu diskutieren (vgl. II, 18 ff.). Kants Aufsuchen eines Allgemeinen bei gegebenem Besonderen (in der reflektierenden Urteilskraft) erscheint als ein Fall von „äußerer Reflexion" (II, 19). Hegel sieht darin aber auch den „Begriff der absoluten Reflexion", gilt doch das Allgemeine „als das Wesen jenes Unmittelbaren", Besonderen (ebd.).
3. Bestimmende Reflexion Die bestimmende Reflexion schließlich ist nur eine Sache des Akzents: in ihr soll Setzung und Voraussetzung - oder das Anfangen vom Unmittelbaren (= voraussetzende Reflexion) und das Anfangen vom Nichts (= setzende Reflexion) - verbunden sein (vgl. II, 20). Spekulation über die Natur des Gesetztseins ermöglicht diese Ineinssetzung. Die Überlegung ist, daß Setzen „seine Bestimmung nicht an die Stelle eines Ändern [setzt]; es hat keine Voraussetzung. Aber deswegen ist es nicht die vollendete, bestimmende Reflexion; die Bestimmung, die es setzt, ist daher nur ein Gesetztes" (ebd.). Davon wird unterschieden die äußere Reflexion, die [zuletzt] in Einheit mit der setzenden Reflexion „absolutes Voraussetzen" sei, „d.h. das Abstoßen der Reflexion von sich selbst oder Setzen der Bestimmtheit als ihrer selbst" (II, 21). Wenn das Gesetztsein gleichsam als Negat der setzenden Reflexion und als Bestimmtheit ihrer selbst zusammenkommen, dann, so scheint Hegel zu meinen, komme Gesetztsein als „fixiert" zustande, wird „Reflexionshestimmung" (ebd.). Der seinslogische Anteil am Wesen kann sich nicht im Gesetztsein erschöpfen; er muß Einheit von Setzung und Voraussetzung
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sein. Das Vorausgesetzte ist nicht einfach Sein, es ist Gesetztes; aber es wird als Sein gesetzt und ist so nicht nur Rückkehr in sich, sondern die Reflexion erreicht eine „Gleichheit mit sich selbst in ihrem Negiertsein" (ebd.). Es wird darauf abgehoben, daß die Reflexion im Gesetztsein ein Gegenüber hat, das seinerseits Negiertsein der Reflexion ist, so daß also auf beiden Seiten Reflexion steht. Dann ergibt sich eine „Sich-SelbstGleichheit der Reflexion" (ebd.). Das Ganze beider ist Reflexionsbestimmung. Sie ist „das Gesetztsein als Negation, Negation, die zu ihrem Grunde das Negiertsein hat, also sich in sich selbst nicht ungleich ist, somit wesentliche, nicht übergehende Bestimmtheit" - im Unterschied zur seinslogischen Qualität: „Weil das Sein, das die Qualität trägt, das der Negation ungleiche ist, so ist die Qualität in sich selbst ungleich, daher Übergehendes, im Ändern verschwindendes Moment" (ebd.). [Für die Reflexionsbestimmungen gilt dagegen:] „Die Sich-selhst-Gleichheit der Reflexion, welche das Negative nur als Negatives, als Aufgehobenes oder Gesetztes hat, ist es, welche demselben [d.h. dem Negativen] Bestehen gibt" (ebd.). Man kann fragen, ob das, was von der bestimmenden Reflexion gelten soll, nicht schon von der setzenden gilt. Fixiert sich das Gesetztsein erst jetzt? -Jedenfalls handelt es sich um eine artikuliertere Fassung der Reflexion, insofern hat Hegel recht. Die Reflexionsbestimmungen erscheinen Hegel als „freie [...] Wesenheiten" (II, 21 f.). Hegel spricht von „bestimmtem Schein" und „außer sich gekommener Reflexion" (II, 22). „Die Gleichheit des Wesens mit sich selbst ist in die Negation verloren, die das Herrschende ist" (ebd.). In den Reflexionsbestimmungen ist ein Zusammenkommen von Gesetztsein und Reflexion in sich gelegen: „ihr Gesetztsein [das der Reflexionsbestimmungen] ist [...] ihr Aufgehobensein; ihr Reflektiertsein in sich aber ist ihr Bestehen" (ebd.). Die Reflexionsbestimmtheit ist „die Beziehung auf ihr Anderssein an ihr seihst", die Zugehörigkeit von Einem und Anderem (ebd.).8 Als Differenzstufe zeigt sich das in der Formel, dem gleichgültig doppelten Vorkommen einer Variable (etwa A und A). Dem entspricht auch die Stellung dieser „sonst in die Form von Sätzen" gefaßten Reflexionsbestimmungen im 2. Kapitel der WdL II (23 ff.). Andererseits ist formales Wesen (oder sind mehrere formale Wesenheiten) kontra8
Hegel fährt fort: „Sie [die Reflexionsbestimmtheit] ist nicht als eine seiende, ruhende Bestimmtheit [...]" (II, 22). Hartmann notiert dazu: „Hier liegt der Gedanke vor, daß das Wesen etwas selbst tut (wie schon die Quantität zumindest offen war für ein SichKontinuieren in Anderes). Dies kann aber nicht heißen, daß das Wesen seine Entwicklung zu verschiedenen Gestalten selbst tätigt. Denkende Realisierung ist auch hier nötig. - Möglichkeit zur Kritik." Anm. d. Hrsg.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
punktisch vorrangig - in der Enzyklopädie stellen die Reflexionsbestimmungen selbst die primäre formale Stufe dar9 - wie im weiteren Verlauf der Logik überhaupt jeweils Formales die erste Stelle einer Entwicklung einnimmt. (Dies soll uns gleich noch beschäftigen.)
Die wesenslogische Deutung der sogenannten logischen Prinzipien oder „allgemeinen Denkgesetze" (H, 24). [Zweites Kapitel. Die Wesenheiten oder die Reflexionshestimmungen]10 Die strukturelle Deutung des Wesens durch die Reflexion hat zur Bekräftigung der Einheit des Wesens als bestimmt durch sein Zugehöriges geführt - Hegel nennt diese Einheit von Reflexion und Gesetztsein Reflexionsbestimmung. Der Gang der Entwicklung führte auf den Fall, wo „die Gleichheit des Wesens mit sich selbst [...] in die Negation verloren [ist], die das Herrschende ist" (II, 22). - In der Potentialdifferenz von Gesetztsein und Reflexion war die Betonung des einen oder anderen möglich. Hegel scheint andeuten zu wollen, daß mit der bestimmenden Reflexion ein Akzent auf das Andere des Wesens gegeben ist, und daß das Wesen erst zu sich zurückkehren muß (im ,Grund'). Aber was hat dieser Akzent (wenn wir ihn einmal akzeptieren) zu tun mit dem der Disposition nach Angebahnten, den „Wesenheiten" oder „Reflexionsbestimmungen" ? Sind sie Fälle von Dominanz der Negation (des dem Wesen gegenüber Anderen) oder des Gesetzseins? Ist das Formale des Wesens bezeichnet mit einem solchen Akzent? Eher scheint Hegel die neutrale Situation zu meinen, wo etwas einem anderen zugehört, ohne daß ein Schwerpunkt deklariert ist, was sich dann in formelhaften Ausdrücken wiedergeben läßt. Die Rechtfertigung dieser Formalität aber fehlt: ist sie doch etwas anderes als Dominanz der Negation oder des Gesetztseins. Wieso fungiert Formalität als „bestimmter Schein"?11 Offenbar wird sie als Negation gegenüber einem sachhaltigen Wesen, als Differenz zu Sachhaltigem (oder Realem) bestimmt, und Reflexionsbestimmungen [wären]
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Nach allgemeinen Ausführungen über das Wesen: §§ 115-122 - mit ,Grund' [an Stelle von .Widerspruch'] als dritter Unterabteilung. - Es liegen also im Blick auf die Enzyklopädie architektonische Verwicklungen vor. Von hier ab liegt das Manuskript nur mehr in handschriftlicher Fassung vor. Die Überschriften der WdL (vgl. das Vorwort des Herausgebers) wurden im folgenden (ohne Hegels Hervorhebungen) übernommen. Anm. d. Hrsg. Vgl. 3. Kapitel, B.: formeller Grund ist bestimmter Grund! [Genauer gesagt, dessen Anfangs- oder Ausgangsstufe.]
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daher die Differenzstufe (wie gesagt, anders als in E). Dies ist aber durch die Darstellung der bestimmenden Reflexion nicht belegt. Formalität einmal zugestanden, sortiert Hegel die Struktur des formalen Wesens nach .einfach', oder ,bestimmungslos' (= Identität), nach Unterschied und Widerspruch.
Formale Wesenskonzeption und Sätze [Anmerkung. Die Reflexionsbestimmungen in der Form von Sätzen] Hegel möchte die möglichen Fälle von Reflexionsbestimmung als ,Bestimmungen', als formale ontologische Strukturen verstehen, stellt sich aber der Tatsache, daß sie sonst „in die Form von Sätzen aufgenommen zu werden [pflegten], worin [...] ausgesagt wurde, daß sie von allem gelten" (II, 23). [Die von Hegel erwogene Frage], wieso dann nicht alle Kategorien in Allsätzen ausgesagt werden - „Alles ist, alles hat ein Dasein usf. oder alles hat eine Qualität, Quantität usw." - [wird beantwortet durch die Konsequenz], daß dann „ebensosehr die entgegengesetzten Sätze zum Vorschein" kommen, man müßte einen Satz gegen einen anderen beweisen (II, 24). Dieser Folgerung scheint man [im Fall der Reflexionsbestimmungen] entgehen zu können durch die Überlegung, daß es sich nicht um qualitative, sondern wesenslogische, und dazu noch „der Bestimmtheit gegen anderes [...] entnommene Bestimmungen" handele (ebd.). Als reine Formeln aber möchte Hegel die Reflexionsbestimmungen auch nicht belassen, gesteht er doch zu, daß sie „die Form des Satzes schon in sich" enthalten (ebd.). Hegel konstruiert [dabei] einen Unterschied zum Urteil - das Prädikat erscheint danach [im Urteil] als nichtjungiert, als copula mit Partizip, wodurch „die Bestimmung selbst und ihre Beziehung auf ein Subjekt" getrennt würden (II, 25), während im Satz „der Inhalt die Beziehung selbst ausmacht" (II, 24). Wie man auch hierüber denken mag,12 die Überlegung nützt nichts zur Klärung [der Frage] von Reflexionsbestimmung und Satzform, ist doch auch beim Satz die Referenz wieder da13 und im Fall des logischen Prinzips die Allverfassung: „Alles, oder ein A, was ebensoviel als alles und jedes Sein bedeutet" (II, 25). - Sätze sind, um die Bestimmung zu fassen, [offenbar] „etwas 12
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Hegel hat den spekulativen Satz, nicht ein solches Urteil, unter dem Gesichtspunkt der Darstellung des Dialektischen zum Thema gemacht. Vgl. PG [vor allem S. 51 ff.] sowie G. Wohlfart [Der spekulative Satz, Berlin 1981]. „Allein indem sie als allgemeine Denkgesetze ausgesprochen werden, so bedürfen sie noch eines Subjekts ihrer Beziehung" (II, 25). Anm. d. Hrsg.
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Überflüssiges", und die Allverfassung läßt Seinslogisches in einen Wesenssachverhalt wieder herein: „Sie erwecken damit das Sein wieder und sprechen die Reflexionsbestimmungen, die Identität usf. von dem Etwas als eine Qualität aus" (ebd.). Schließlich bemerkt Hegel, daß die Reflexionsbestimmungen mehrere und „bestimmte gegeneinander" sind (ebd.), was er schon bei der seinslogischen Deutung der entsprechenden Sätze bemerkt hatte; die Sätze erweisen sich also auch im zweiten Durchgang durch die Problematik als einander ausschließend.14 Das spricht dann für eine Betrachtung, die sie in dialektischer Abfolge aufeinander bezieht. Die Frage ist natürlich, ob Sätze, die aus Reflexionsbestimmungen gebildet werden können, tatsächlich „einander entgegengesetzt" sind, einander „widersprechen" (ebd.). Es könnte sein, daß Inhalte, wie sie durch eine [formale] Strukturbetrachtung nahegelegt werden - so Verschiedenheit, Entgegensetzung - eine andere Dignität haben als ontologische (eine eben logische Dignität). Logische Sätze, wären dann solche, die sich nicht widersprechen, während ontologische Sätze - so unterstellen wir - nicht von allem gelten (Wesenslogisches gilt nicht von Seinslogischem usw.). A. Die Identität Identität ist eine Wesensfigur, die die „Beziehung auf Anderes" ausstreicht, die „in die reine Sichselbstgleichheit verschwunden ist. Das Wesen ist also einfache Identität mit sich" - und die gemeinte Identität „ist [...] überhaupt dasselbe als das Wesen" (II, 26). Identität ist also formaler Ausdruck des Wesens in Orthostellung, als [Unmittelbarkeit] U2, die [aber dennoch] in bezug auf Uj U2 ist. Die gemeinte Identität ist nicht die abstrakte, „welche das Sein oder auch das Nichts ist" - als Abstraktion vom Anderen - und auch nicht durch ein „relatives Negieren entstanden" - als Abstraktion vom Unterschied -, die aber das „Unterschiedene nur von ihr [der Identität] abgetrennt, übrigens aber dasselbe außer ihr als seiend gelassen hätte" (ebd.).
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Mit dem .zweiten Durchgang' sind offenbar die im vorangegangenen Absatz wiedergebenen Überlegungen Hegels zu: „Alles ist, alles hat ein Dasein usf." gemeint. Anm. d. Hrsg.
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Anmerkung 1. Abstrakte Identität „Das Denken, das sich in der äußern Reflexion hält und von keinem anderen Denken weiß [...], kommt nicht dazu, die Identität, wie sie soeben gefaßt worden ist, oder das Wesen, was dasselbe ist, zu erkennen. Solches Denken hat immer nur die abstrakte Identität vor sich und außer und neben derselben den Unterschied" (ebd.). Hegel meint dagegen, daß der Unterschied - terminologisch noch nicht [eingebracht] - bei der Identität mitgebildet werden müsse. In dialektischer Formulierung: „So ist aber das Unterscheiden hier vorhanden als sich auf sich beziehende Negativität" (II, 27). Der vorhandene, „reflektierte Unterschied" ist der „reine, absolute Unterschied", wohl weil man über ihn nichts sagen kann, als daß er Unterschied an der Identität ist (ebd.). Von ihr her gesehen, handelt es sich um ein „innerliches Abstoßen", das als „Reflexion in sich [...] unmittelbar sich in sich zurücknehmendes Abstoßen" ist (ebd.). - Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis dieser Denkfigur zum Identitätssatz.
Anmerkung 2. Erstes ursprüngliches Denkgesetz, Satz der Identität Dieser Satz erscheint in der Fichteschen Notierung als A = A. Er wird zunächst als Tautologie gedeutet. Indem der Satz als inhaltsleer anerkannt wird, ist aber für Hegel schon eine Verschiedenheit der Identität von der Verschiedenheit unterstellt. Damit soll diese als zur Identität gehörig impliziert sein. - Das bedeutet nicht, daß wenn die Identität bestimmte Konzeption ist, sie selbst Verschiedenheit enthalte: Identität mag dergestalt einseitig sein, „abstrakte, unvollständige Wahrheit" (II, 28), aber nur wenn man die Dialektik schon akzeptiert, läge darin ein Mangel. Weiter meint Hegel, daß der illustrierende analytische Satz „ein Baum ist ein Baum" nur die „Versicherung [sei], daß wenn man die Erfahrung [mit dem Baum] machte, sich das Resultat des allgemeinen Anerkennens ergeben würde" (II, 29). Die konkrete Substitution der Variable mache den Satz zunächst zu einem synthetischen; „die Abstraktion [würde] den Satz der Identität wohl durch Analyse herausbringen können; aber in der Tat hätte sie die Erfahrung [...] verändert"; in der konkreten Erfahrung läge Einheit von Identität und Verschiedenheit vor (II, 30). Andererseits zeige die Enttäuschung, in der Antwort auf die Frage: „Was ist eine Pflanze?" (nämlich: „eine Pflanze ist - eine Pflanze") keine Information bekommen zu haben, daß „Nichts herausgekommen" sei (ebd.). „Solches identische Reden widerspricht sich also selbst" (ebd.). Später heißt es - gegen Fichtes Wissenschaftslehre gewandt -, der Satz sei als Ausdruck abstrakter Iden-
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tität „kein Denkgesetz" (II, 32). Die Form des Satzes zeige mehr als abstrakte Identität: „A ist, ist ein Beginnen, dem ein Verschiedenes vorschwebt, zu dem hinausgegangen werde; [...] A ist -A; die Verschiedenheit ist nur ein Verschwinden" (II, 31). Man sieht, der Identitätssatz ist nicht als formallogisches Theorem verstanden. Damit etwas A sei, sei es etwas Anderes nicht und dadurch es selbst. Daß etwas nur A sei, gilt als abstrakt; ja, die Verwendung der Variable in A = A scheint in Frage gestellt, weil ein konkreter Referent zugrundgelegen habe, von dem abstrahiert wurde, und der somit das zur Variable Verschiedene darstellt. Nun ist der Identitätssatz selbst als formallogischer - wenn auch nicht aus Hegeischen Gründen - fraglich; was besagt ein Satz wie: A ist identisch - wenn wir Identität als e-Relation auffassen?15 Aussagenlogisch interpretiert, hieße es p z> p.16 Der Satz ist aussagenlogisch uninteressant, aber trivialerweise wahr17 - und übrigens strikt nicht existenzsetzend, während Hegel - vielleicht von Fichte her, dessen Ansatz er aber ungenau nachbildet - an Existenzsetzung denkt: „A ist, ist ein Beginnen [...]".18 Anders ausgedrückt: Hegel schreibt den Identitätssatz in seiner Fichteschen Formulierung, meint ihn aber nicht. Und was er meint, betrifft die formale Logik nicht. Interessanter wird es, wenn Hegel den „Satz des Widerspruchs", als „andren Ausdruck des Satzes der Identität" auffaßt, der „negative Form" habe: „A kann nicht zugleich A und Nicht-A sein" (II, 31). Während er annimmt, daß [gemeinhin] der „Form der Negation, wodurch sich dieser Satz vom vorigen [dem Satz der Identität] unterscheidet, [...] keine Rechtfertigung gegeben" werde,19 beansprucht Hegel mit der Wesenslogik hier Auskunft geben zu können: nämlich daß „die Identität als die reine Bewegung der Reflexion die einfache Negativität" ist, und der Satz 15
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Gedacht ist hier wohl an Freges klassenlogische Definition der Gleichheitsrelation in: Grundgesetze der Arithmetik, Bd. I, Darmstadt 1962, § 20, S. 36. Nach der von Hartmann bevorzugten Notation gilt danach für zwei Klassen X, Y: X = = (w) [(w € X c w Y). (w e c w X)]. Vgl. W. und M. Kneale, The Development of Logic, Oxford 71978, S. 624. Anm. d. Hrsg. Der Satz ist als A = A weder prädikaten- noch aussagenlogisch korrekt gebildet. [Eine prädikatenlogische Formulierung des Identitätssatzes wäre etwa: (x) [A(x) c A(x)]]. Hartmann meint mit „uninteressant" vermutlich: wertlos als Axiom für logische Ableitungen. Anm. d. Hrsg. Vgl. Fichte, ,Wissenschaftslehre von 1794': „man setzt: wenn A sei, so sei A. Mithin ist davon, ob überhaupt A sei, oder nicht, gar nicht die Frage" Q.G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), Hamburg 1956, S. 13). Anm. d. Hrsg. Vgl. Fichtes separates Prinzip der Entgegensetzung [in: ,Wissenschaftslehre von 1794', S. 21 ff.].
Formale Wesenskonzeption und Sätze
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diese Negativität „entwickelter enthält" (II, 31). „Es ist ausgesprochen und ein Nicht-^4, das Rein-Andere des A, aber es zeigt sich nur, um zu verschwinden. Die Identität ist also in diesem Satze ausgedrückt - als Negation der Negation" (ebd.)· Wie der Identitätssatz gilt der Satz des Widerspruchs als synthetisch; auch er ist „kein Denkgesetz" - wieder gegen Fichte (II, 32). „Denn der letztere [der Satz des Widerspruchs] enthält in seinem Ausdrucke nicht nur die leere, einfache Gleichheit mit sich, sondern sogar die absolute Ungleichheit, den Widerspruch an sich" (ebd.). Demnach bedeutet er für Hegel offenbar den Fall, wo in einem Urteil im Unterschied zum Satz - „die Bestimmung selbst und ihre Beziehung auf ein Subjekt" getrennt ist - die Copula und das Nomen20 sind dem Subjekt gegenübergesetzt - und darin liegt die Abstraktion.21 Wiederum betrifft das alles ein analytisch-logisches Verständnis des Satzes nicht. Diesmal aber ist näher auf die Differenz Hegels zur formalen Logik einzugehen.22 Zum einen weil hier unbestritten - im Unterschied zum Identitätssatz - ein formallogisches Theorem vorliegt;23 aber auch weil der Satz bei Hegel negativer Ausdruck der Identität ist und also nicht zum Thema des Widerspruchs gezogen wird, das erst am Ende der Steigerungs-Kaskade von Identität über Unterschied [bis eben] zum Widerspruch erscheint.24 20 21
22
23
24
Bei Hegel: das Partizip. Anm. d. Hrsg. In E, § 115 heißt es vom Satz der Identität und dessen „negativer" Formulierung - dem Satz des Widerspruchs: „Dieser Satz, statt ein wahres Denkgesetz zu sein, ist nichts als das Gesetz des abstrakten Verstandes". Eine Notiz Hartmanns zur Literatur: „vgl. Aristoteles - noch ontologische Formulierung - dann Pfänder; W. Becker" bezieht sich wohl zunächst auf die erste explizite Formulierung des Satzes durch Aristoteles: Met. B, 2. 996b, 26-30 bzw. Met. , 3. 1005b, 19-23 - vgl. W. und M. Kneale, S. 46; dann auf die Kritik dieser und jeder ontologischen Version bei A. Pfänder: Logik, Tübingen M963, III. Abschnitt, II. Kap., S. 197 ff.; W. Becker thematisiert das Verhältnis von Hegels Wertung der logischen Prinzipien zu deren formallogischem Geltungsanspruch in: Hegels Begriff der Dialektik und das Prinzip des Idealismus, Stuttgart 1969, S. 10 f. Anm. d. Hrsg. Hartmann vermerkt die Frage nach einer prädikatenlogischen Formulierung des Satzes. Diese lautete etwa: (x) - [A(x). - A(x)]. Ein von Hartmann notierter Einwand gegen die aussagenlogische Fassung: - (p . - p), nämlich daß hier der zur Formulierung der Axiome nicht verwendete Konjunktionsjunktor gebraucht würde, erscheint unerheblich: das Axiomensystem ist auch mit Negation und Konjunktion formulierbar. Anm. d. Hrsg. Hartmann vermerkt weiter: „die beiden Sätze - der Satz der Identität und der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch - sind übrigens formallogisch nicht solche, die einander entgegengesetzt sind, wie Hegel in II, 25 unterstellt". - Bei Hegel heißt es: „Die mehrern Sätze, die als absolute Denkgesetze aufgestellt werden, sind daher, näher betrachtet, einander entgegengesetzt, sie widersprechen einander und heben sich gegenseitig auf" (II, 25). Dies ist wohl eher auf die von Hartmann so bezeichnete „SteigerungsKaskade" - Identität, Verschiedenheit, Widerspruch - gemünzt, da Hegel ja den Satz des Widerspruchs lediglich als negative Formulierung des Satzes der Identität einbringt.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
Der Satz des Widerspruchs wird bei Hegel, wie gesagt, akzeptiert wenn auch nur als Vordeutung (oder formallogische Abbildung) einer dialektischen Wesensstruktur: im Satz meldet sich ein Rein-Anderes der Identität, das sogleich wieder verschwindet. - Das entscheidende Thema, ob der Widerspruch bei Hegel gebilligt und nicht vielmehr seine Vermeidung gefordert wird, kann zwar erst dann zureichend erwogen werden, wenn der Widerspruch als Denkfigur erschienen ist, was mit dem an die Identität geknüpften Satz des Widerspruchs nicht gegeben ist. Dennoch, daß der Satz des Widerspruchs unter den genannten Einschränkungen akzeptiert wird, erlaubt schon hier einen Hinweis: Wie auch die Lehre vom spekulativen Satz und sonstige Ausführungen zur Korrektur des Verstandesdenkens zeigen, meint Hegel - was an späterer Stelle noch näher zu behandeln sein wird -, daß für dialektisch aufgefaßte Referenten ein Prädikat nicht angemessen ist, weshalb eine dialektische Entwicklung der Gleichheitsbeziehung (,ist', ,ist nicht') oder ein zweiter Satz hinzugedacht werden müsse, damit das Ganze wahr sei.25 Aber die prinzipielle Angängigkeit eines Prädikats für einen Referenten unterliegt der Betrachtung, ob Prädikation gleich Identitäts- oder e -Relation ist. Nur im ersten Fall kann Hegels Kritik gelten. Die Prädikation im Fall von metatheoretischen Urteilen über dialektische Strukturen muß akzeptiert werden, sagt sie doch jeweils etwas im Horizont von Sein und Nichts, d.h. innerhalb der Hegeischen Bestimmtheitstheorie: hier kann man nicht einfach eine Copula durch eine negierte Copula ersetzen, denn die Prädikation bestimmt, welches Potential im Feld von Sein und Nichts - oder im Feld von Wesen und Sein - vorliegt. Solche
25
In formallogischer, d.h. wahrheitsfunktionaler Sicht „widersprechen einander" Tautologien natürlich nie. Anm. d. Hrsg. Die von Hartmann hier in einer Notiz gewünschte Belegstelle wäre etwa: „Es muß hierüber sogleich im Anfange diese allgemeine Bemerkung gemacht werden, daß der Satz, in Form eines Urteils, nicht geschickt ist, spekulative Wahrheiten auszudrücken [...] Der Mangel wird, zum Behuf, die spekulative Wahrheit auszudrücken, zunächst so ergänzt, daß der entgegengesetzte Satz hinzugefügt wird [...] Allein so entsteht der weitere Mangel, daß diese Sätze unverbunden sind, somit den Inhalt nur in der Antinomie darstellen, während doch ihr Inhalt sich auf ein und dasselbe bezieht und die Bestimmungen, die in den zwei Sätzen ausgedrückt sind, schlechthin vereinigt sein sollen, - eine Vereinigung, welche dann nur als eine Unruhe zugleich Unverträglicher, als eine Bewegung ausgeprochen werden kann. Das gewöhnlichste Unrecht, welches spekulativem Gehalt angetan wird, ist, ihn einseitig zu machen, d.i. den einen der Sätze nur, in die er aufgelöst werden kann, heraus zu heben. Es kann dann nicht geleugnet werden, daß dieser Satz behauptet wird; so richtig die Angabe ist, sofaisch ist sie, denn wenn einmal Ein Satz aus dem Spekulativen genommen ist, so müßte wenigstens ebensosehr der andere gleichfalls beachtet und angegeben werden" (I, 76 f.). Anm. d. Hrsg.
Formale Wesenskonzeption und Sätze
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Prädikation muß als streng aufgefaßt werden, sonst werden die Ausführungen beliebig und sinnlos.26 Die Kritik an den logischen Prinzipien, soweit sie bisher exponiert worden sind, ist also zurückzuweisen, es sei denn, der Referent des Diskurses wird mit Prädikation im Sinne von Identifikation konfrontiert. Soweit Hegel diese Kritik im weiteren Verlauf der Dialektik als Denkmittel benutzt, stellt sich jeweils die Frage, ob sein Verfahren legitim ist.
B. Der Unterschied 1. Der absolute Unterschied Nicht von Sätzen (oder Prinzipien der formalen Logik), sondern von Wesensfiguren geleitet, schreitet Hegel fort zu einer solchen Reihe von Figuren, die den Unterschied betonen - welcher in der Identität nur als Verschwinden vorkam. Hegel geht gleichsam innerhalb der Reflexionsbestimmungen zur Differenzstufe über. Diese Progression scheint in seinem Belieben zu liegen - man kann sie aber als architektonisch und als durch die Stellung der Bestimmtheitsfrage motiviert verstehen: Wie bestimmt sich Identität? Wessentwegen ist sie bestimmt? Und schon wendet sich der Blick auf die Negativität. Es wäre ermüdend, den Hegeischen Darlegungen im einzelnen zu folgen. Von Interesse mag so viel sein: in der Abstraktion der formalen Reflexionsbestimmung ,Identität' ergibt sich das gemeinte Negative als absoluter oder einfacher Unterschied (d.h., Bestimmteres ist von ihm nicht zu sagen, nur qualitatives Anderssein liegt vor, nur ein Anderssein des Wesens, nur der Unterschied der Reflexion). Indem der Unterschied wie schon oben das qualitativ Andere - selbstreflexiv gedeutet wird, jetzt als Unterschied seiner von sich selbst, „Negativität seiner selbst" ist, ist er „nicht er selbst, sondern sein Anderes", die Identität; er ist „das Ganze und sein eigenes Moment, wie die Identität ebensosehr ihr Ganzes und ihr Moment ist" (II, 33). Beide sind „Momente" oder „Gesetztsein" (ebd.). Der Unterschied ist „an sich seihst bestimmter Unterschied"'', in Immanenz, könnte man sagen, ohne sich einem Anderen zu verdanken 26
Dies ist vielleicht mißverständlich, da ja Aussagen dadurch noch nicht „beliebig" werden, daß man das in einem Prädikat .anwesende' Negative in den Gedankengang miteinbezieht. - Vielleicht könnte man das von Hartmann Gemeinte aber etwas vorsichtiger so formulieren: daß eine Figur oder Kategorie nicht aus einem Prädikat als einer Hinsicht dialektisch ,weiterentwickelt' werden kann (vgl. Anm. 28). Anm. d. Hrsg.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
(ebd.).27 Mit dem wechselseitigen Moment- oder Gesetztsein wird in wesens- (anders als in seinslogischem) Zusammenhang eine neue Differenzstruktur thematisierbar.
2. Die Verschiedenheit Sie ist gekennzeichnet durch das „Anderssein als solches der Reflexion" ineins mit der Gleichgültigkeit des Unterschiedenen (II, 34). „Das Andere des Daseins hat das unmittelbare Sein zu seinem Grunde, in welchem das Negative besteht. In der Reflexion aber macht die Identität mit sich, die reflektierte Unmittelbarkeit, das Bestehen des Negativen und die Gleichgültigkeit desselben aus" (ebd.). Eine weitere Glossierung besagt, daß „in der Verschiedenheit als der Gleichgültigkeit des Unterschieds [...] die Reflexion äußerlich geworden" sei (ebd.). Hegel meint nun, daß nicht schlicht von zwei Opposita die Rede zu sein habe - Reflexion und Anderssein der Reflexion (oder Gesetztsein) -, sondern von „Reflexion an sich" und „äußerer Reflexion" - letztere „als Bestimmung, wogegen die an sich seiende Reflexion gleichgültig ist" (II, 35). Beide Reflexionen sollen die eine Reflexion der Identität sein: „Es ist die Identität, die sich so in sich reflektiert hat, daß sie eigentlich die Eine Reflexion der beiden Momente in sich ist; beide sind Reflexionen in sich" (ebd.). Für die Momente der äußeren Reflexion gilt weiter: „Diese äußerliche Identität nun ist die Gleichheit., und der äußerliche Unterschied die Ungleichheit" (ebd.). - Anders ausgedrückt: „die Identität oder Nichtidentität als Gleichheit und Ungleichheit ist die Rücksicht eines Dritten"; die äußere Reflexion vergleicht (II, 36). Durch „dieses herüber- und hinübergehende Beziehen der Gleichheit und Ungleichheit [...] werden sie nicht aufeinander, sondern jede für sich nur auf ein Drittes bezogen" (ebd.). Die „sich entfremdete Reflexion [...] trennt sie [...] Durch diese ihre Trennung voneinander aber heben sie sich nur auf. Gerade, was den Widerspruch und die Auflösung von ihnen abhalten soll, daß nämlich etwas einem ändern in einer Rücksicht gleich, in einer ändern aber ungleich sei, - dies Auseinanderhalten der Gleichheit und Ungleichheit ist ihre Zerstörung. Denn beide [...] sind Beziehungen aufeinander, das Eine zu sein, was das Andere nicht ist" (ebd.). Beide verschwinden „in ihre Gleichheit zusammen" (II, 37).
27
Die Figur der Identität mit einem Unterschied erinnert an das Dasein als Qualität, in der Realität und Negation unterschieden werden (vgl. I, 97 f.).
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Als letzter Schritt ist dieses Verschwinden beider in Gleichheit, „ihre negative Einheit", wieder zu sehen von der „an sich seienden Reflexion außer ihnen", von einem „Dritten" aus - oder [einem] „Ändern, als sie selbst sind" (ebd.). Beide sind Gesetzte dieser Reflexion und daher nicht das, was sie an ihnen selbst wären; der Reflexion gegenüber sind Gleiches und Ungleiches Negative, ist beides je „das Ungleiche seiner seihst" (ebd.); Gleichheit und Ungleichheit gehen „in die negative Einheit mit sich, in die Reflexion" zurück — eben weil „der bloß gesetzte Unterschied" ein Unterschied ist, „der keiner ist" (II, 38). Die nun vorhandene „Verschiedenheit, deren gleichgültige Seiten ebensosehr schlechthin nur Momente als Einer negativen Einheit sind, ist der Gegensatz" (ebd.). Die Herleitung erscheint künstlich aufgebläht, indem „dieses herüberund hinübergehende Beziehen der Gleichheit und Ungleichheit" aufgegriffen wird. Man sieht aber, daß Hegel der bestimmten Verschiedenheit gerecht werden möchte, die über unbestimmte Verschiedenheit hinausliegt (über „die numerische Vielheit", welche „nur die Einerleiheit" sei II, 39). Die Deutung der Unterschiede als Gleichheit (für Identität) und Ungleichheit (für äußerlichen Unterschied) überzeugt aber nicht, weil mit Gleichheit anscheinend eine Sichselbstgleichheit gemeint ist, oder doch eine Orientierung an einem Zentrum, demgegenüber das Andere das Ungleiche (bestimmt Unterschiedene) ist. Entweder besteht die Zentralperspektive der Identität gegenüber dem Unterschied, oder es besteht eine Drittperspektive, für die beide - Identität und Unterschied - Unterschiede sind. Hegel versucht mit seinem fragwürdigen Manöver vom einen zum anderen überzuleiten.28 Anmerkung. Satz der Verschiedenheit Der Satz der Verschiedenheit wäre ein metaphysischer Satz der besagt: „Alle Dinge sind verschieden, oder: Es gibt nicht zwei Dinge, die einander gleich sind" (II, 38). Ist die erste Fassung noch unspezifisch darin, ob er schon durch numerische Verschiedenheit (unbestimmte Verschiedenheit) erfüllt und daher trivial wäre, so entspricht die zweite der metaphysischen These: „Es gibt nicht zwei Dinge, die einander vollkommen gleich sind" - also der Umkehrung des Leibnizschen prinzipium identitatis in-
28
Hartmann notiert als „weitere Kritik": 1. „Hegel unterscheidet nicht klar zwischen Referent und Begriff (Gleiches, Gleichheit usw.). 2. Hegel bedient sich einer Hinsicht (gleich/ungleich), um die Figur weiterzuentwickeln". Anm. d. Hrsg.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
discernibilium (ebd.).29 Als solche muß der Satz, wie Hegel feststellt, bewiesen werden, was [wiederum nach Hegel] nicht geleistet wurde. Einen Beweis in seinem Sinne stellt er sich als dialektische Entwicklung vor die ja nicht metaphysisch ist - und gleich auch die Auflösung des Satzes bedeuten würde. Hegel argumentiert so, daß wenn zwei Dinge nicht vollkommen gleich sind, jedes gleich und ungleich sei, also daß „beide Momente [...] in Einem und demselben verschieden" seien (II, 40). Verschiedenheit wäre „in Entgegensetzung übergegangen" - entsprechend dem Gange der Reflexion (ebd.). Gerade dies aber - daß Gleichheit und Verschiedenheit hier als Prädikate eines jeden aufgefaßt werden - ist problematisch und entgegen der Leibnizschen Intention. Eine solche prädikative Deutung der Verschiedenheit zeigt sich auch noch in der einleitenden Erläuterung zum Satz der Verschiedenheit: „A ist ein Verschiedenes, also A ist auch nicht A [...]. Es soll zwar nicht ein Verschiedenes von sich, sondern nur von Anderem sein; aber diese Verschiedenheit ist seine eigene Bestimmung. Als mit sich identisches A ist es das Unbestimmte; aber als Bestimmtes ist es das Gegenteil hievon; es hat nicht mehr nur die Identität mit sich, sondern auch seine Negation, somit eine Verschiedenheit seiner selbst von sich an ihm" (II, 38). Die Deutung wirft Fragen auf, bezüglich der Verschiedenheit als einstelliges Prädikat oder bezüglich der Anwendung einer dialektischen Wesensfigur auf etwas als seinslogisch Angesprochenes, ist doch bei Verschiedenheit die Prädikation eine auf je zwei.30 Hegel könnte sagen, dies sei als äußere Reflexion genau, was er meine, wenn er unter Verschiedenheit Identität und Unterschied auseinandertreten läßt; dialektische Steigerung nötige aber, die äußere Reflexion in Reflexion an sich („in sich" II, 41) übergehen zu lassen. - Dann ist die seinslogische Zweiheit in wesenslogische Einheit übergegangen (= Gegensatz), und wir können die Denkfigur nicht ,anwenden': denn das müßten wir auf zwei Dinge, wo nur eines in der Figur gemeint ist.
29
30
Hartmann notiert am Rande die Frage nach einer positiven Formulierung des .Indiscernibilienprinzips'. Eine solche findet sich bei Leibniz etwa in der Vorrede zu den „Noveaux Essais sur l'entendement humain" (deutsche Ausgabe: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Leipzig 31915) - als das, „was ich allgemein von zwei Individuen bemerkt habe: daß nämlich ihr Unterschied stets mehr als ein bloß numenscher ist" (S. 16). Anm. d. Hrsg. D.h., die Verschiedenheit ist eine zweistellige Relation. Anm. d. Hrsg.
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3. Der Gegensatz Die Durchlaufung der Differenzstufe der Reflexion führt auf die „Einheit der Identität und der Verschiedenheit", die Momente des Gegensatzes sind „und in Einer Identität verschiedene; so sind sie entgegengesetzte" (II, 40). Die Figur unterscheidet sich von der vorigen durch einen höheren Grad an Einheit der Unterschiedenen bei vorliegender Gleichgültigkeit („reflektiertes Gesetztsein"; jedes Moment reflektiert auf das andere, „jedes" ist „an ihm selbst die Einheit der Gleichheit und Ungleichheit" - II, 41). „Jedes dieser Momente ist also in seiner Bestimmtheit das Ganze. Es ist das Ganze, insofern es auch sein anderes Moment enthält; aber dies sein anderes ist ein gleichgültig seiendes; so enthält jedes die Beziehung auf sein Nichtsein und ist nur die Reflexion in sich oder das Ganze" (ebd.). - Hätte sich das nicht schon von der Verschiedenheit sagen lassen? Der Unterschied ist: dort gab es nur metatheoretische Vermittlung (jedes ist Gleichheit mit sich); hier ist jedes Reflexion auf das andere und darin auf sich. Als der maßgebliche Fall ergibt sich das Positive und Negative. Beide sind Gesetztsein, also symmetrisch. - Das Positive hat aber bei aller Symmetrie zur Negation eine Auszeichnung: es ist „in die Gleichheit mit sich reflektiert"; das Negative hingegen „ist das Gesetztsein als in die Ungleichheit reflektiert" (II, 41 f.). - Symmetrisch sind beide wiederum hinsichtlich des in ihnen enthaltenen anderen Moments: das Positive ist „Gesetztsein, d.i. die Negation als Negation; [...] Beziehung auf das Andere" (II, 41); das Negative, das in die Ungleichheit Reflektierte, ist qua Gesetztsein „die Ungleichheit selbst; [...] somit die Identität der Ungleichheit mit sich selbst und absolute Beziehung auf sich" (II, 42). Symmetrie im Unterschied: Gleichheit mit sich hat die Ungleichheit und Ungleichheit hat Gleichheit an ihm. „Das Positive und das Negative sind so die selbständig gewordenen Seiten des Gegensatzes" (ebd.). Es wäre wiederum ermüdend, die Glossierung von Symmetrie und Unterschied in Einheit näher zu verfolgen. Nur so viel: jedes, das Positive und das Negative, „hat [...] seine Bestimmtheit nicht an einem Anderen, sondern an ihm seihst" (ebd.). Aber insofern „hier das Gesetztsein ein Sein, ein gleichgültiges Bestehen geworden" ist, so ist jedes auf das Andere auch bezogen; beider „Bestehen ist untrennbar Eine Reflexion" (ebd.). Beide sind „Entgegengesetzte überhaupt"; beide sind darin auch interdependent: „Jedes ist so überhaupt erstens, insofern das Andere ist" (ebd.). Dann aber wieder: „zweitens es ist, insofern das Andere nicht ist, [...] ist Reflexion in sich" (ebd.). Und „indem jene erste Reflexion die eigene Reflexion des Positiven und Negativen in sich selbst, jedes sein Gesetztsein an ihm selbst ist, so ist
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jedes gleichgültig [...] gegen sein eigenes Gesetztsein" - oder, wie es zuvor heißt, „gegen jene erste Identität, worin sie nur Momente sind" (II, 43). Sie sind „bloß verschiedene", sind verwechselbar (ebd.). „Aber das Positive und Negative ist drittens nicht nur ein Gesetztes, noch bloß ein Gleichgültiges, sondern ihr Gesetztsein oder die Beziehung auf das Andere in einer Einheit, die nicht sie seihst sind, ist in jedes zurückgenommen. Jedes ist an ihm selbst positiv und negativ" (ebd.). In anderer Formulierung: beide sind „selbständige für sich seiende Einheit mit sich" (ebd.). Zwar involviert das Positive „die Beziehung auf ein Anderssein, aber so, daß seine Natur dies ist, nicht ein Gesetztes zu sein"; ebenso das Negative, das „ein selbständiges Sein" ist (ebd.). Das Positive schließt „dies sein Nichtsein" von sich aus; ebenso ist das Negative etwas „das positiv auf sich selbst beruht" (II, 43 f.). Zusammenfassend: „jedes [ist] das Unmittelbare, Sein und Nichtsein" (II, 44). Diese relative Verselbständigung der Momente in der Einheit soll den Sinn von »Gegensatz' ausmachen. Anmerkung. Die entgegengesetzten Größen in der Arithmetik In diesen Ausführungen zum mathematisch „Positiven und Negativen (II, 44) behandelt Hegel zunächst Addition, Subtraktion und skalare Addition (II, 46 f.).31 Bei der Multiplikation versucht er der Tatsache, daß (-) ·(-) = + ergibt, eine Erklärung zu geben (II, 48). Es ist nicht zu sehen, daß Hegel etwas für die Arithmetik Einschlägiges zustandebringt. Anmerkung. Einheit des Positiven und Negativen32 In einer anderen Anmerkung diskutiert Hegel das Positive und das Negative, wie es der Vorstellung erscheint. Das Positive gilt dieser als ein „Objektives", das Negative als ein „Subjektives", als subjektive Abstraktion (II, 55). Licht und Finsternis sollen ein einschlägiger Fall sein, was Hegel damit konterkariert, daß Licht „in seiner unendlichen Expansion und der Kraft seiner aufschließenden und belebenden Wirksamkeit wesentlich die Natur absoluter Negativität" habe, während die Finsternis 31 32
Mit der letzteren meint Hartmann offenbar die Addition von Absolutwerten (oder Beträgen) algebraischer Zahlen. Anm. d. Hrsg. Hartmann überspringt hier also zunächst die Ausführungen zum Widerspruch (wohl wegen des Umfangs seiner eigenen Reflexionen dazu und weil diese Ausführungen zum Verständnis der vorgezogenen beiden Anmerkungen nicht erforderlich sind). Anm. d. Hrsg.
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„der sich nicht selbst in sich unterscheidende Schoß der Erzeugung, [...] das einfache mit sich Identische, das Positive" sei (ebd.). Und Hegel setzt hinzu, daß der Kontrast konstitutiv für das Wesen sei, versucht das noch an weiteren Beispielen zu verdeutlichen - Laster im Verhältnis zu Tugend, Irrtum im Verhältnis zu Wahrheit (vgl. II, 55 f.). „Es ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, diese Natur der betrachteten Reflexionsbestimmungen, daß ihre Wahrheit nur in ihrer Beziehung aufeinander und damit darin besteht, daß jede in ihrem Begriffe selbst die andere enthält, einzusehen und festzuhalten; ohne diese Erkenntnis läßt sich eigentlich kein Schritt in der Philosophie tun" (II, 56).
Anmerkung. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten lautet für Hegel: „Etwas ist entweder A oder Nicht-A, es gibt kein Drittes" (II, 56). - Und er meint nun, es sei in Wirklichkeit leicht, solch ein Drittes ausfindig zu machen, nämlich ein A, das weder + A noch - A sei - gleichsam als Substrat eines Bestimmungsfortschritts, „die Einheit der Reflexion, in welche als in den Grund die Entgegensetzung zurückgeht" (II, 57). Insofern handele es sich um einen wichtigen Satz, „der darin seine Notwendigkeit hat, daß die Identität in Verschiedenheit und diese in Entgegensetzung übergeht" (II, 56 f.).33 - Hegel ist sich aber auch der gewöhnlichen Deutung bewußt, wonach „einem Dinge [...] entweder dieses Prädikat selbst oder sein Nichtsein zukomme. Das Entgegengesetzte bedeutet hier bloß den Mangel oder vielmehr die Unbestimmtheit" (II, 57). So verstanden sei der Satz „so unbedeutend, daß es nicht der Mühe wert ist, ihn zu sagen" (ebd.). Hegel verkennt den Charakter des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten, indem er die Negation eines Prädikats als Unbestimmtheit und also als Rückschritt in der Bestimmtheitstheorie faßt. Wahrheitsfunktional ist der Gegensatz völlig bestimmt, wenn auch bei empirischer Prädikation im Negat eine Unbestimmtheit vorliegt. Der Satz fordert die Eindeutigkeit der Prädikation, indem er ein Drittes neben Position und Negat verbietet. Er verbietet damit auch Unendscheidbarkeit, die Hegel offenbar nicht als Problem erachtet.
33
In der Enzyklopädie (§ 119) heißt es sogar: „dieser Satz des Gegensatzes widerspricht am ausdrücklichsten dem Satz der Identität, indem Etwas nach dem einen nur die Beziehung auf sich, nach dem ändern aber ein Entgegengesetztes, die Beziehung auf sein Anderes sein soll" (E, S. 128).
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Während er sich nämlich in der Logik nur ungenau äußert, enthält die Enzyklopädie in § 119 einen Hinweis auf „kontradiktorische Begriffe" z.B. Blau und Nichtblau, „so daß dies Andere nicht ein Affirmatives etwa Gelb wäre, sondern nur [als] das Abstrakt-Negative festgehalten werden soll" (E, S. 128). Insoweit an solche Entscheidbarkeit gedacht sei, erscheint der Satz als schlechthin unbefriedigend. „Die Leerheit des Gegensatzes von sogenannten kontradiktorischen Begriffen hat ihre volle Darstellung in dem sozusagen grandiosen Ausdruck eines allgemeinen Gesetzes, daß jedem Dinge von allen so entgegensetzten Prädikaten das eine zukomme und das andere nicht, so daß der Geist [...] entweder weiß oder nicht weiß, gelb oder nicht gelb usf. ins Unendliche [sei]" (E, S. 128 f.). Hier wären [für Hegel] Sinnregionen zu beachten.
C. Der Widerspruch Es handelt sich wiederum um eine Denkfigur; diese ist nicht Analogon des Satzes des Widerspruchs (der auf die Identität bezogen ist), sondern die letzte Steigerung der Identität - als Ausgangsfigur - über den Gegensatz hinaus. Die Widerspruchsfigur ergibt sich aus der Realisierung dessen, was im Gegensatz gelegen ist. Hegel deutet das Fazit so: „Indem die selbständige Reflexionsbestimmung [das Positive oder das Negative] in derselben Rücksicht, als sie die andere enthält und dadurch selbständig ist, die andere ausschließt, so schließt sie in ihrer Selbständigkeit ihre eigne Selbstständigkeit aus sich aus [...]. Sie ist so der Widerspruch" (II, 49). Es ist der „gesetzte Widerspruch", wohingegen der Unterschied „schon der Widerspruch an sich" sei, „denn er ist die Einheit von solchen, die nur sind, insofern sie nicht eins sind" (ebd.). Im gesetzten Widerspruch liegt darüberhinaus der Fall vor, wo das Positive und das Negative „als negative Einheiten selbst das Setzen ihrer [sind], und darin jedes das Aufheben seiner und das Setzen seines Gegenteils ist" (ebd.). Es folgt eine erneute Erläuterung des Positiven und des Negativen (vgl. II, 50). Sie erscheint entbehrlich, wirft höchstens die Frage auf, wozu Hegel den Widerspruch gleichsam noch aufgespart hat und nicht schon im Gegensatz liegend hat erkennen wollen. Neues kommt jedenfalls nicht hinzu. Gleich darauf thematisiert Hegel die Auflösung des Widerspruchs (vgl. II, 51 f.). - Das Fazit aus der „[gegenseitig] sich selbst ausschließenden Reflexion" ist nicht nur das „rastlose Verschwinden der Entgegengesetzten", nicht nur „die nächste Einheit, [...] die Null [...], sondern auch das Positive", die „zugleich setzende Reflexion" (II, 51). -
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„Das Positive und Negative machen das Gesetztsein der Selbständigkeit aus; die Negation ihrer durch sie selbst hebt das Gesetztsein der Selbständigkeit auf. Dies ist es, was in Wahrheit im Widerspruche zugrund geht" (ebd.). Es soll ein Fazit sein aus Selbständigkeit und Ausschließung gegeneinander. - Die Lösung ist metatheoretisch: es gilt das Gesetztsein auf beiden Seiten aufzuheben in ein Fürsichsein, das nicht mehr Gesetztsein ist. „Sie [die ausschließende Reflexion] ist ansichseiende Selbständigkeit und ist das Aufheben dieses Gesetztseins und durch dies Aufheben erst fürsichseiende und in der Tat selbständige Einheit" (ebd.). Nicht wird das Anderssein nur aufgehoben, wodurch dann wieder ein Gesetztsein hineinkäme. Gemeint ist ein „Zusammengehen mit sich selbst" (II, 52). Hegel spricht im Singular von der „aufhebenden Beziehung auf sich", aber er meint den wechselseitigen Fall: „Sie [die ausschließende Reflexion] hebt darin erstens das Negative auf, und zweitens setzt sie sich als Negatives, und dies ist erst dasjenige Negative, das sie aufhebt; im Aufheben des Negativen setzt und hebt sie zugleich es auf" (ebd.). - Will sagen: die ausschließende Reflexion auf beiden Seiten ist Negatives, das metatheoretisch ja auch das Andere (Aufgehobene) ist. Beide Seiten sind und sind dasselbe, Zusammengehen.34 Das Ganze ist zu vergleichen mit seinslogischen Synthesen: während dort das Sein der jeweiligen Figur nie in Frage stand, liegt hier ein Spiel von Seinsprätention und Gesetztsein vor - beide Seiten einer Wesensfigur prätendieren Sein, und beide sind als Gesetztsein im Sein aufgehoben. Ihre Zusammenlegung in ein ,Sein' als „ganzes selbständiges Wesen" ist das Neue (II, 53). Dieses Neue, das „einfache Wesen", ist für Hegel - im sprachlichen Spiel mit .Zugrundegehen' - „Grund" (II, 52). Das Wesen ist „wiederhergestellt", aber bezogen gedacht auf das, was es nunmehr ausschließt, den Gegensatz (ebd.).35 So ist es „als Grund ein Gesetztsein, ein gewordenes" (II, 53). Umgekehrt ist „der Gegensatz oder das Gesetztsein ein aufgehobenes, nur als Gesetztsein" (ebd.). Der Grund ist „ausschließende Reflexionseinheit" (II, 52), für die das, was vorher das Unmittelbare (U]) war der Gegensatz - nunmehr „die nur gesetzte, bestimmte Selbständigkeit des Wesens ist, und daß er nur das sich an ihm selbst Aufhebende, das 34 35
Eine vereinfachte Fassung findet sich in der Enzyklopädie, § 120. Es scheint nicht überflüssig zu ergänzen, daß es wohl die Selbständigkeit des Gegensatzes ist, worauf beim »Ausschließen' der Akzent liegt. So wie mit .Gegensatz' jeweils dessen Seiten gemeint sind, deren Prätention als selbständige gerade den Widerspruch ausmacht. Anm. d. Hrsg.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
Wesen aber das in seiner Bestimmtheit in sich reflektierte ist" (II, 53). Der Grund ist also seinerseits wieder relational: „Das Wesen schließt als Grund sich von sich selbst aus, es setzt sich; sein Gesetztsein - welches, das Ausgeschlossene ist - ist nur als Gesetztsein, als Identität des Negativen mit sich selbst. Dies Selbständige ist das Negative, gesetzt als Negatives; ein sich selbst Widersprechendes, das daher unmittelbar im Wesen als seinem Grunde bleibt" (ebd.). Das Gemeinte ist schwierig: die Stelle soll wohl sagen, daß das im Grund Überwundene als Gegenüber des Grundes bestehen bleibt, aber als gesetzt, während umgekehrt auch der Grund ein Gesetztes ist, nämlich sich setzt, indem er das Überwundene als Negatives setzt. Anders ausgedrückt: letzteres ist die Seinsseite des Wesens, worin dieses als Negativität sich setzt durch negierende Reflexion auf den Gegensatz, der wiederum - als Seinsseite - so in seinem Grunde bleibt. Hegel versteht das nun Gegebene, den Grund, als „vollendete Selbständigkeit" (gegenüber der genannten Prätention) und meint, daß das Positive und das Negative „so sehr aufgehoben als erhalten" seien (ebd.). „Der Grund ist das Wesen als die positive Identität mit sich, aber die sich zugleich als die Negativität auf sich bezieht, sich also bestimmt und zum ausgeschlossenen Gesetztsein macht; dies Gesetztsein aber ist das ganze selbständige Wesen, und das Wesen ist Grund als in dieser seiner Negation identisch mit sich selbst und positiv" (ebd.). Der Grund, das Positive, hat das Negative, das Gesetztsein, zu seiner Peripherie, ist darin selbst Moment oder Gesetztsein; und umgekehrt - als dessen Sein ist das Gesetztsein das ganze Wesen. Unzweifelhaft: dies immanente Stadium des Grundes, noch bevor der Grund aus sich Neues setzt, bereitet Verständnisschwierigkeiten. Hegel zieht das Vorangegangene als Selbständiges, Negatives heran, so sehr es zugrunde gegangen ist.36 Hegel braucht diese Peripherie für das neue Wesen. Strukturell ist durchaus klar, was er möchte.
Der Widerspruch als Problem der Hegeischen Dialektik [insbesondere: Anmerkung. Der Satz des Widerspruchs] Wir sind zunächst dem Hegeischen Gedankengang gefolgt. Ausgangspunkt war eine Denkfigur, eine Konstellation der Reflexion. Diese Denkfigur soll einen Widerspruch von Selbständigkeitsprätention und Ge36
Selbständig nurmehr als Negatives: „das Negative ist in ihm selbständiges Wesen, aber als Negatives" (II, 53). Anm. d. Hrsg.
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setztsein innerhalb des Wesens besagen. Damit stimmt überein, daß Hegel mit der Auflösung des Widerspruchs eine neue Kategorie, den Grund, erreicht; und es wurde deutlich, wie weit seine Denkweise entfernt ist von einer formallogischen Fassung des Widerspruchs - der Copula-Affirmation und -Negation. Dem entspricht auch, daß Hegel den Satz des Widerspruchs der Identität und dem ihr zugehörigen Satz zuordnet und nicht dem Widerspruch selbst. Dennoch hat sich die Kritik der Hegeischen Dialektik bei ihrer Behauptung, daß der formallogische Satz nicht respektiert werde, auf die Entwicklung dieser wesenslogischen Denkfigur gestützt. Dies ist ein offenkundiges Mißverständnis, wird der Satz des Widerspruchs doch bedingt gebilligt - bedingt, insofern er nicht zur Herleitung eines kategorialen Novums dient (durch Ernstnehmen des Negativen, das in ihm anklingt, „nur, um zu verschwinden" - II, 31). Daß es sich um ein Mißverständnis handelt wird noch einmal deutlich, wenn Hegel den von ihm gemeinten „Widerspruch in einen Satz" faßt (Anmerkung 3, II, 58-62). Es ist dies der Satz: „Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend, und zwar in dem Sinne, daß dieser Satz gegen die übrigen vielmehr die Wahrheit und das Wesen der Dinge ausdrücke" (II, 58).37 Es ist ein metaphysischer Satz - wie der der Verschiedenheit. Hegel meint hier aber nicht, daß ein Beweis erforderlich sei, sondern wehrt Bedenken ab: der Widerspruch als „eine absolute Bestimmung des Wesens muß sich in aller Erfahrung finden, in allem Wirklichen wie in jedem Begriffe [...] Die gemeine Erfahrung aber spricht es selbst aus, daß es wenigstens eine Menge widersprechender Dinge, widersprechender Einrichtungen usf. gebe, deren Widerspruch nicht bloß in einer äußerlichen Reflexion, sondern in ihnen selbst vorhanden ist" (II, 59). Der Widerspruch wird als „Prinzip aller Selbstbewegung" verstanden, womit gerade auch „die innere, die eigentliche Selbstbewegung, der Trieb" gemeint ist (ebd.). Bewegung, gleich welcher Art also, sei „der daseiende Widerspruch" (ebd.). Dieser realdialektischen Deutung fügt sich dann die Deutung dessen ein, was das Denken tut: „Das spekulative Denken besteht nur darin, daß das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält" (II, 59 f.).
37
Hartmann macht eine Randnotiz, die wie folgt auszuführen ist: Ein solcher Satz findet sich nicht in der von Hegel selbst redigierten Enzyklopädie-Ausgabe (31830), wohl aber - als 2. Zusatz zu § 119 - in der des „Vereins von Freunden des Verewigten". Er lautet: „Alles ist entgegengesetzt" (Jubiläumsausgabe Bd. 8, Stuttgart 41964, S. 280). Anm. d. Hrsg.
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Hier scheint der Anstoß für den Logiker gegeben. Aber abgesehen davon, daß formallogische Maßstäbe und Lesarten für Hegels Intention immer nur begrenzte Gültigkeit haben, ist die letztere Stelle tatsächlich dann irreführend, daß es heißt, das Denken halte den „Widerspruch und in ihm sich selbst" fest; die Korrektur folgt auch sogleich, denn Hegel fährt fort, daß das Denken sich aber nicht vom Widerspruch „beherrschen [...] läßt", und das heißt, zur Auflösung des Widerspruchs weiterschreitet (ebd.). Die Ausführungen zum „daseienden Widerspruch" bereiten jedoch selbst einer Hegel-immanenten Auffassung Probleme. Die Beanspruchung des Vorstellens, das „allenthalben den Widerspruch zu seinem Inhalte" habe, sei hier übergangen (II, 60). Die Suggestion jedoch, daß das spekulative Denken gerechtfertigt sein könnte eben durch den „daseienden Widerspruch", d.h. die realdialektische Interpretation dieses Denkens, kann nicht kommentarlos hingenommen werden. Hegel meint, daß Bewegung aller Art realdialektisch zu verstehen sei; dies führt auf das Problem der Anwendung dieser Wesensstruktur des Widerspruchs auf Seiendes oder der Prmzipnerung des Seienden durch diese Wesensstruktur. Die Antizipation von Bewegung und Trieb zeigt indes, daß sich spekulatives Denken immer schon in die Fassung des realdialektischen Prinzips einmischt. Spekulatives Denken ist offensichtlich nicht Deskription eines aufs Prinzip gebrachten Realen. Weiter: Hegel meint zwar, „daß es für sich noch sozusagen, kein Schaden, Mangel oder Fehler einer Sache ist, wenn an ihr ein Widerspruch aufgezeigt werden kann. Vielmehr jede Bestimmung, jedes Konkrete, jeder Begriff ist wesentlich eine Einheit unterschiedener und unterscheidbarer Momente, die durch den bestimmten, wesentlichen Unterschied in widersprechende übergehen [...]. Das Ding, das Subjekt, der Begriff ist nun eben diese negative Einheit selbst; es ist ein an sich selbst Widersprechendes, aber ebensosehr der aufgelöste Widerspruch" (II, 61 f.). - Doch ist diese dialektische Bestimmtheits-Genealogie nicht die Struktur der real-dialektischen Bewegung. Es heißt im Anschluß an die zitierte Stelle: „aber seine [des Widerspruchs] ganze Sphäre ist auch wieder eine bestimmte, verschiedene; so ist sie eine endliche, und dies heißt eine widersprechende. Von diesem höhern Widerspruche ist nicht sie [die betreffende Sphäre] selbst die Auflösung, sondern hat eine höhere Sphäre zu ihrer negativen Einheit, zu ihrem Grunde. Die endlichen Dinge in ihrer gleichgültigen Mannigfaltigkeit sind daher überhaupt dies, widersprechend an sich selbst, in sich gebrochen zu sein und in ihren Grund zurückzugehen" (II, 62). Man sieht, die real-dialektische Bewegung ist eine der ontischen Endlichkeit, und die Dinge gehen zugrunde, weil sie nicht in ihren Grund
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- d.h. in die nächst höhere Kategorie eingehen können; die realdialektische Auffassung der Bewegung ist also Lizenz, Nebengedanke, zur kategorialen Progression.38 Noch einmal: man sieht, daß die populär klingende These von der Realdialektik, vom festzuhaltenen Widerspruch, oder gar die Suggestion einer deskriptiven Deutung der Dialektik nicht ernst gemeint sein können. Man sieht ebenfalls, daß angesichts des kategorialen Programms die Stellen zum Widerspruch als Denkfigur keine Relevanz für die formale Logik haben, ihr aber auch nicht widersprechen. Eine noch anstehende Frage ist, ob Hegel seine Kategorienentwicklung nach dem Gesichtspunkt von kontradiktorischen Begriffen (im Stile von Blau-Nichtblau) vornimmt. Die Meinung wird in der Literatur vertreten etwa bei R. Kroner, kritisch bei W. Becker. Kroner meint, daß Hegel den konträren Gegensatz zu einem kontradiktorischen zuspitze.39 Hegel selbst 38
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Da Hartmanns Formulierung hier der Hegeischen zu widersprechen scheint - es heißt (II, 62) ja, daß die Dinge aufgrund der Unmöglichkeit in die nächst höhere Kategorie einzugehen „in ihren Grund zurückgehen" - sei die folgende Ergänzung erlaubt: Das Ding geht innerhalb seiner Sphäre, der Endlichkeit also, in diesen seinen Grund zurück; das Endliche als auflösender Grund des sich selbst widersprechenden Dings ist bloß „die Null [...] das Negative" (II, 51). Der Grund dieser Sphäre aber ist das Absolute. Anm. d. Hrsg. Die Formulierung, Kroner meine, „daß Hegel den konträren Gegensatz zu einem kontradiktorischen zuspitze", widerspricht Hegels Einschätzung, der kontradiktorische Gegensatz entspreche einer „Leerheit des Gegensatzes", welche die dialektische Entwicklung offenbar ausschließt (E, § 119). Einer Zuspitzung entspräche vielmehr die Interpretation des kontradiktorischen Gegensatzes als konträr - wie es wohl auch W. Becker sieht, wenn er schreibt: „In der dialektischen Logik sind die Gegensatzpaare von Kategorien durchgängig so gefaßt, daß mit Bezug auf die ihnen zugrundeliegenden Gegensatzurteile das Nichtzusprechen der Prädikatsbestimmtheit im negativen Urteil als identisch mit dem Zusprechen der als an sich negativ verstandenen Prädikatsbestimmtheit genommen wird. Die Verkehrung des aus dem kontradiktorischen Gegensatz herzuleitenden Nichtzusprechens einer Bestimmung in ein Zusprechen der negativen Bestimmung wird durch jene Beziehung auf den konträren Gegensatz ermöglicht" (W. Becker, Hegels Begriff der Dialektik, S. 58). - Kroners Interpretation geht dagegen tatsächlich den Weg vom konträren zum kontradiktorischen Gegensatz: „Logos und Natur haben als unterschiedene keinen Oberbergiff, unter denen sie subsumiert werden könnten, sie sind nicht Arten der .Gattung' Geist; wenn daher die .Merkmale' negiert werden, deren Inbegriff die Natur ausmacht, so bleibt nicht bloß die abstrakte .Gattung' Geist übrig, sondern es entsteht der Logos. Die Gegensätze verhalten sich zueinander wie A und non-A; non-A ist Alles, was nicht A ist, dies Alles aber ist nicht ein Unbestimmtes" (R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Tübingen 1924, Bd. 2, S. 350). Kroner führt ebenfalls das von Hartmann im folgenden wiedergegebene Zitat aus WdL II, 61 auf (a.a.O., S. 341) - dies ist wohl der Anlaß für die etwas mißverständliche Glossierung seiner Interpretation (statt von .Zuspitzung' könnte man eher von .Ausdehnung' sprechen). Das Ergebnis ist auf beiden Wegen die (bei Becker kritisch, bei Kroner apologetisch gesehene) Ineinssetzung von konträr und kontradiktorisch. Anm. d. Hrsg.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
sagt: „Die denkende Vernunft aber spitzt, sozusagen, den abgestumpften Unterschied des Verschiedenen, die bloße Mannigfaltigkeit der Vorstellung, zum wesentlichen Unterschiede, zum Gegensatze zu" (II, 61). Damit ist der kontradiktorische Gegensatz nicht explizit genannt. Aber auch wenn man die Stelle für den wesentlichen Gegensatz - der der Widerspruch ist - in Anspruch nehmen möchte, bleibt folgendes zu bedenken: Die Entwicklung der Wesensstruktur in ihren einzelnen Figuren ist eine, die keine sachhaltigen Begriffe (im Sinne von regionalen oder empirischen Inhalten) enthält. War die Seinslogik der Fall, wo qualitative Seinsbegriffe Thema waren, die als Prinzipbegriffe für Weiteres - Quantitatives, Wesenslogisches, Begriffslogisches - gedacht waren, so befinden wir uns am Anfang der Wesenslogik in einer gleichsam zweiten (oder sekundären) Prinzipiensphäre, deren formale Festlegungen - Reflexion, Gesetztsein, Rückgang in den Grund - wiederum nicht den Charakter haben von Blau und Nichtblau. Es gibt auch keinen sachhaltigen Gattungsbegriff für Reflexion und Gesetztsein, so daß mit Wagner von einer Gattungsprogression gesprochen werden könnte (der Grund als Gattung der Differenz von Reflexion und Gesetztsein).40 All dies ist in der Wesenslogik - und allgemein der Wissenschaft der Logik nicht anwendbar oder so nicht verständlich. Das Verfahren ist vielmehr zirkelhaft zu definieren als dasjenige bestimmtheitstheoretische Verfahren, welches die Herleitung von Kategorien aus Prinzip be griffen gestattet.41 Die bereits in der Seinslogik gegebene Sachlage, daß daseiende Referenten den Begriff vermitteln, in Wesensimmanenz zum Referenten,42 gilt auch in der Wesenslogik. Der Widerspruch und seine Auflösung zugunsten eines Novums - hier: Grund - ist nur nach den Begriffen gedacht, die sich im Bestimmtheitskalkül von Sein und Negation darstellen lassen. Wenn es so sein sollte, daß konträre Gegensätze in kontradiktorische .zugespitzt' werden dürfen, dann müßte das auf Grund der Prinzipsituation der Fall sein. Außerhalb einer solchen - für die Bestimmungen der WdL gegebenen - ist es nicht anzunehmen. Dialektik gilt nicht für empirische (nicht-kategoriale) Begriffe, denn nur die kategorialen Begriffe sind mit Sein und Nichts, mit der Begriffsgenesis von Seinsreferenten und Begriff darstellbar. Das Verfahren bestimmt seine eigene Gültigkeitssphä40 41
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H. Wagner, Philosophie und Reflexion. Anm. d. Hrsg. „Zirkelhaft" - einmal ganz allgemein, insofern die Hegeische Logik als .Selbstbestimmung des Begriffs' nur zirkelhaft sein kann; zum anderen, weil mit dem Widerspruch thematisch wird, was metatheoretisch das Movens der gesamten Entwicklung ist. Anm. d. Hrsg. Dasein vermittelt durch Daseiendes, Endlichkeit durch Endliches, Fürsichsein durch Fürsichseiendes usw. Anm. d. Hrsg.
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re. - Das heißt, die Dialektik ist nicht mit formallogischer Allgemeinheit prinzipiierend oder anwendbar. Es heißt umgekehrt, formallogische Einwände oder Eingemeindungen sind - zumindest in diesem Zusammenhang - abzuweisen. Dagegen ist einzuräumen, daß sich Hegel nicht über alle Umstände klar gewesen sein muß. Populäre Äußerungen zum , Vorstellen' und einem realdialektischen Verständnis der Spekulation lassen daran zweifeln. - Die spätere Behandlung von Themen wie Begriff, Urteil, Schluß in der WdL wird erneut Gelegenheit geben, das Problem Dialektik-Formallogik anzusprechen. Auch die Wesensbegriffe sind [für ihre Sphäre] Prinzipbegriffe; ihr Novum ist das ,Innen'. Daraus ergibt sich abschließend die Frage, ob es sich bei den Reflexionsbestimmungen um Erklärung von Sein durch ein ,Innen' handelt. Offensichtlich nicht. Hegel hat Zusammengehöriges [bis hierhin] nicht so verstanden, daß ein Innen ein Außen erklärt. Allenfalls wären Fälle von Zusammengehörigkeit einer strukturellen Deutung und insofern einer Erklärung - zugeführt: nicht A erklärt B, sondern eine Struktur erklärt A und B. Erst nachdem dies vorgeführt worden ist, findet Hegel zur eigentlichen Erklärung durch den Grund.
[Drittes Kapitel. Der Grund] Mit dem Grund ist die Kategorie erreicht, welche Erklärung ontologisch-allgemein namhaft macht. Erklärung ist nicht ein bloßes Reflexionsverhältnis - obwohl auch dies -, d.h. nicht eine bloße formale Interdependenz von Einem und Anderem, sondern etwas Anderes erscheint als von Einem aus gesetzt und somit als erklärt - in einem nicht-technischen oder äußerlichen Sinn. Die Rolle der Kategorie des Grundes, nicht mehr nur Reziprozität anzuzeigen, andererseits aber doch noch als Erklärungsunterpfand vor aller bestimmten Erklärung ontologisch-allgemein oder formal zu sein, macht verständlich, daß für ihre systematische Einordnung Optionen gegeben sind. In der Logik setzt Hegel hinter die Kapitel „Der Schein" und „Die Wesenheiten" ein Kapitel „Der Grund". ,Grund' erscheint nach dieser Einteilung nicht mehr als Reflexionsbestimmung, wiewohl Hegel zu Beginn des 3. Kapitels schreibt: „Der Grund ist daher [weil die selbständigen Reflexionsbestimmungen sich in ihm aufheben] selbst eine der Reflexionsbestimmungen des Wesens, aber die letzte, vielmehr nur die Bestimmung, daß sie aufgehobene Bestimmung ist" (II, 63). Trotz des einschränkenden Nachsatzes besteht eine Spannung zwischen dieser Deutung und der Disposition.
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In der Enzyklopädie gliedert Hegel anders: hier fehlt, wie wir schon bemerkten, ein Stück zum .Schein'; die Wesenslogik wird eröffnet mit den reinen ,Reflexionsbestimmungen', unter denen nach a) Identität und ß) Unterschied ,Der Grund' als ) erscheint. (Hier fehlen denn auch Ausführungen über die Entwicklung des Grundes, wie sie die Logik gibt; deren größere Ausführlichkeit mag die Verselbständigung des Kapitels ,Grund' motiviert haben, die zwei Optionen bleiben aber bedenkenswert.) Mit dem Grund ändert sich Hegels Betrachtung des Wesens in einer entscheidenden Weise. Was wir so sahen, daß nunmehr nicht bloße Reziprozität gemeint sei, sondern ein Eines ein Anderes erklärt, läßt sich mit Hegel auch so sehen, daß, wie schon referiert, als Grund das Wesen ,sich setzt', daß es von nun an gleichsam etwas tut (vgl. II, 53, 64). „Die Reflexion [in den »reinen Reflexionsbestimmungen'] ist die reine Vermittlung überhaupt, der Grund ist die reale Vermittlung" (II, 64). - Hierzu sei noch einmal kurz auf das dialektische Detail zu Beginn des Kapitels ,Der Grund' eingegangen, welches die Ausführungen am Ende des vorigen Abschnitts über den aufgelösten Widerspruch wieder aufnimmt. Hegels Gedanke ist - indem er die Entwicklung des Wesens als Reflexion noch einmal durchläuft -, daß die von ihm sogenannte reine Vermittlung, „die Bewegung des Nichts durch nichts zu sich selbst zurück", als „das Scheinen seiner in einem Ändern" nur „reine Beziehung ohne Bezogene" ist (ebd.). „Weil der Gegensatz in dieser Reflexion noch keine Selbständigkeit hat, so ist weder jenes Erste, das Scheinende, ein Positives, noch das Andere, in dem es scheint, ein Negatives. Beide sind Substrate eigentlich nur der Einbildungskraft" (ebd.). - „Die bestimmende Reflexion setzt zwar [in den Reflexionsbestimmungen] solche, die identisch mit sich, aber zugleich nur bestimmte Beziehungen sind" oder Verweisungen, wie wir statt ,Beziehungen' sagen könnten (ebd.). - „Der Grund dagegen ist die reale Vermittlung, weil er die Reflexion als aufgehobene Reflexion enthält; er ist das durch sein Nichtsein in sich zurückkehrende und sich setzende Wesen. Nach diesem Momente der aufgehobenen Reflexion erhält das Gesetzte die Bestimmung der Unmittelbarkeit, eines solchen, das außer der Beziehung oder seinem Scheine identisch mit sich ist" (ebd.). Hegel glaubt sich also berechtigt, wenn einmal das Wesen in den Grund zurückgegangen ist, bestätigtermaßen U2 geworden ist, diesem U2 ein neues, im emphatischen Sinn Unmittelbares Uj entgegenzusetzen. U2 ist dabei „ebensosehr seiendes [Wesen] als die Identität des Wesens mit sich als Grund" (ebd.). So gesehen ist dann die Beziehung des Grundes auf das in ihm Begründete eine „reale Vermittlung", die zu fassen ist als „Der reale Grund", welchem Hegel einen eigenen Abschnitt widmet (vgl. II, 82 ff.). - In ihm erst, meint er, „hat die
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Grundbeziehung aufgehört, eine formale zu sein" (II, 83). Man wird also wohl eine weitere und eine engere Fassung des Begriffs .real' konstatieren müssen. Es gibt demnach eine reale Vermittlung, die noch formal ist, und dann eine, die eigentlich real ist. Von der erschienenen Konzeption des Grundes aus wird Hegel einen Bestimmungsprozeß durchlaufen. Unterstellter Grund und erklärtes Begründetes werden disponiert nach Hinsichten wie .absolut', .bestimmt', .vollständig' und .bedingt-unbedingt' - insgesamt wieder nach Unmittelbarkeit, Differenz und Schließung; d.h. hier aber auch: weg vom Formalen, hin zum Realen und Totalen. Die Entwicklung exemplifiziert Hegel dabei zunehmend an Konkreterem im Sinne von Regionalontologischem (Form, Materie, Naturdinge u.a.) und nährt so die Suggestion (oder Illusion) eines ,Tuns' des Wesens, das zur Existenz heraustritt. Anmerkung. Satz des Grundes Ganz wie bei den anderen Reflexionsbestimmungen knüpft Hegel auch hier einen Satz an: „Alles hat seinen zureichenden Grund" (II, 65).43 Er sieht in dem (metaphysischen, nicht formallogischen) Satz die Forderung, nicht „bei dem unmittelbaren Dasein oder bei der Bestimmtheit überhaupt stehen zu bleiben, sondern davon zurückzugehen in seinen Grund" (ebd.). - Hegel meint, die Qualifikation .zureichend' sei „sehr überflüssig", insofern ja „das, für was der Grund nicht zureicht", keinen Grund hätte, anerkennt aber andererseits, daß Leibniz „das Zureichende des Grundes vornehmlich der Kausalität in ihrem strengen Sinne, als der mechanischen Wirkungsweise," entgegenstellte, d.h. dem unzureichenden Kausalgrund (ebd.). Die „Beziehung, das Ganze als wesentliche Einheit, liegt nur im Begriffe, im Zwecke" (II, 66). - Diesen ideologischen Grund reserviert Hegel aber für den Begriff in der .subjektiven Logik'. A. Der absolute Grund Die Kategorie des Grundes ist die Kategorie in der die Erklärungsfunktion des Wesens eigens thematisiert wird. Es stellt sich dabei aber rasch heraus, daß die Beziehung von Grund und Etwas mehrere Fragen
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Vgl. G.W. Leibniz, Monadologie (dt. Ausgabe: Hamburg 1956), § 32; Essais de Theodicee (dt. Ausgabe: Die Theodizee, Hamburg 21968), § 44, 196. Anm. d. Hrsg.
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aufwirft: tritt das dem Grund gegenüber Andere aus ihm heraus? Ist es bestimmend oder ist er bestimmend? Ist es inhaltsgleich mit dem Grund oder, insofern nicht, wie ist die Inhaltsverschiedenheit zu verstehen? Hegel ordnet das Terrain nach den Hinsichten absoluter Grund, bestimmter Grund, Bedingung. Sind die beiden letzten Rubriken zunächst hinreichend verständlich, so verlangt ,absoluter Grund' eine Erklärung. Gemeint ist ein Grund in Einfachheit (analog zum absoluten Unterschied als einfacher Unterschied) - ein Grund als solcher oder ein Grund als unbestimmt genommen, ein Grund der Struktur nach, ein .reiner* Grund - vgl. die „reine absolute Reflexion" (II, 14) oder die „reine Reflexion" (II, 67); in dem entsprechenden Abschnitt wird demnach das thematisiert, was sich über den Grund als solchen sagen läßt. Dies Thema erbringt in seiner Behandlung dann Kategorien als Subkategorien des Grundes, die zum klassischen Bestand ontologischer Erklärung gehören: so insbesondere Form und Materie. Näher ordnet Hegel den Abschnitt (absoluter Grund) nach ,Form und Wesen', ,Form und Materie' und .Form und Inhalt'.
a) Form und Wesen Der absolute Grund hat ein Dasein (Uj) „von dem angefangen wird" (wie beim Schein), aber dies „setzt wesentlich einen Grund voraus", es selbst ist „das Gesetzte und der Grund das Nichtgesetzte" (II, 66). Der Grund „ist das Wesen, das in seiner Negativität mit sich identisch ist" (ebd.). Die theoretische Situation gestattet es, das Gesetzte als vom Grund Gesetztes als Begründetes zu bezeichnen (ebd.). „Die Bestimmtheit des Wesens als Grund wird hiemit die gedoppelte, des Grundes und des Begründeten" (ebd.). Die Bestimmtheit des Grundes ist erstens eine metatheoretische, als „aufgehobene Reflexion" in sich zur Identität zurückgegangen zu sein, und ist zweitens die Bestimmtheit, welche der Grund dem Begründeten verdankt (II, 67). Das dialektische Detail übergehend, kann man sagen, das Begründete hat im Grunde seine Identität, und zwar einmal als mit sich identisch, als „Identität des Negativen mit sich" - das Begründete ist das Negative seiner selbst, also Rückkehr in den Grund; und zum anderen vom Grund her, der Identität als „Reflexion in sich" (ebd.). Beides ist dasselbe Reflexionsgeschehen: „der Grund ist das Wesen gesetzt, als das Nichtgesetzte gegen das Gesetztsein" (ebd.). Hegel unterscheidet weiter den gemeinten Struktursachverhalt mit den früher aufgetretenen Reflexionsbegriffen. Es handelt sich nicht ein-
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fach um den allgemeinsten Strukturgedanken des Wesens (= „reine Reflexion"), auch nicht um die „bestimmende Reflexion, deren Bestimmungen wesentliche Selbständigkeit haben", sondern um eine Einheit beider: „ihre Bestimmungen oder das Gesetzte hat Bestehen, und umgekehrt das Bestehen derselben ist ein Gesetztes" (ebd.). Das, was aber ein vom Grund Gesetztes ist, hat Bestimmtheit, und so sind die Bestimmungen des Grundes „somit von ihrer einfachen Identität unterschieden, und machen die Form aus gegen das Wesen" (ebd.). „Das Wesen hat eine Form und Bestimmungen derselben" (ebd.). Hegel betont damit, daß es sich hier um eine Struktur handelt, in der Bezogene (Grund und Begründetes) unterschieden werden - im Unterschied zum Wesen als solchem, dem die Struktur intern ist. Das Wesen als Grund ist „Substrat"; um des „Gesetztseins willen hat es wesentlich die Form an ihm" (II, 68). Die Formbestimmungen ihrerseits sind „Bestimmungen als an dem Wesen; es liegt ihnen zugrunde als das Unbestimmte, das in seiner Bestimmung", nämlich Grund zu sein, „gleichgültig gegen sie ist" (ebd.). Wenn die Bestimmtheit des Grundes sich aus seiner Form ergibt, so wird der Grund selbst unbestimmt, es eröffnet sich ein Raum der dialektischen Abwicklung, wonach der Grund [zunächst] nur Substrat, nur Grundlage ist, die Form also dominiert (was hinüberführt in den Struktursachverhalt ,Form und Materie'). Die Form verdankt dem „Wesen als einfache Grundlage" nur ihr „Bestehen" (ebd.). „Als die wesentliche sich auf sich selbst beziehende Negativität [...] ist sie das Setzende und Bestimmende; das einfache Wesen hingegen ist die unbestimmte und untätige Grundlage" (II, 69). Abgesehen von der Dominanz der Form, die Hegel kaum präpariert hat, liegt im Gesagten natürlich auch die Interdependenz von Form und Wesen. „Die Form ist die absolute Negativität selbst oder die negative absolute Identität mit sich, wodurch eben das Wesen nicht Sein, sondern Wesen ist. Diese Identität abstrakt genommen, ist das Wesen gegen die Form; so wie die Negativität abstrakt genommen als das Gesetztsein, die einzelne Formbestimmung ist. Die Bestimmung aber [...] ist in ihrer Wahrheit die totale, sich auf sich beziehende Negativität, die somit als diese Identität das einfache Wesen an ihr selbst ist. Die Form hat daher an ihrer eigenen Identität das Wesen wie das Wesen an seiner negativen Natur die absolute Form. Es kann also nicht gefragt werden, wie die Form zum Wesen hinzukomme, denn sie ist nur das Scheinen desselben in sich selbst, die eigene ihm inwohnende Reflexion" (ebd.). Die Form „ist die Identität mit sich", wie sie das „Wesen als das Bestehen der Bestimmung ist; sie ist der Widerspruch, in ihrem Gesetztsein [durch den Grund] aufgehoben zu sein" (ebd.).
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Das Wesen läßt sich von der Form her lesen; die Unterschiede, „der Form und des Wesens, sind [...] nur Momente der einfachen Formbeziehung selbst. Aber sie sind näher zu betrachten und festzuhalten" (II, 70). - Die Form ist soweit vom Wesen weg entwickelt gedacht, daß sie sich „auf ihre Identität als auf ein Anderes" bezieht, oder so gesehen werden kann (ebd.). Das Wesen ist damit „formlose Identität", die mit Materie bezeichnet wird. Die Form ist dem Wesen gegenübergesetzt und wird - gemäß einer Realisierung', die im Struktursachverhalt beschlossen liegt - selbst wesentlich. Man hätte sich zunächst ebensogut das Umgekehrte vorstellen können, nämlich daß Form die Materie zum Gesetztsein hat - zum Formierten. Damit wäre aber übersehen, daß Hegel noch nicht beim bestimmten Grund angelangt ist, sondern diesen erst herleiten will. Der Grund muß - nach der Hegeischen Bestimmtheitstheorie, dergemäß das Bestimmte auf der Negationsseite liegt - sich erst bestimmen durch ein Relat, und dies ist, als das Bestimmungsgebende im Verhältnis zum Grund, die Form. b) Form und Materie Mit dem Akzent auf diesem Bestimmtheitsmoment des Grundes ist die Form dominant geworden und steht - so ist das jetzt plausibel - der Materie gegenüber. Das Wesen als Materie beinhaltet - was im vorigen Stück erst angebahnt wurde - eine Strukturdeutung, nach welcher Form die Bestimmtheit ausmacht, so daß sie [die Materie] nur eine „unterschiedslose Identität", eine „Grundlage" oder ein „Substrat der Form" darstellt (ebd.). Materie ist so eine Abstraktion; alle „bestimmte Materie" muß analysiert werden in Form und Materie (ebd.). Die Form bleibt indes innerhalb der Wesensstruktur auf die Materie angewiesen; „die Form setzt die Materie voraus", so wahr sie eben „sich auf diese ihre Identität als auf ein Anderes bezieht" (ebd.). Umgekehrt setzt die Materie die Form voraus, denn sie „ist nicht das einfache Wesen", sondern „das Positive, [...] das nur ist als aufgehobene Negation" (II, 71). Eine andere Betrachtungsweise geht zunächst dahin, daß von der Form aus gesehen - welche sich gemäß der Identitätsspekulation aufhebt, indem sie in der Materie ihren Identitätspunkt hat, - „die Materie auch bestimmt [ist] als grundloses Bestehen" (ebd.). „Ebenso ist die Materie nicht bestimmt als der Grund der Form; sondern [...] als die abstrakte Identität der aufgehobenen Formbestimmung ist sie nicht die Identität als
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Grund, und die Form insofern gegen sie grundlos" (ebd.). Es besteht demnach scheinbar keine Interdependenz. Beide sind gleichgültig gegeneinander; aber mit Unterschied: die Materie „ist das Passive gegen die Form als Tätiges" (ebd.). Die Materie, „weil die Form nicht an ihr gesetzt, weil sie dieselbe nur an sich ist", enthält die Form „in sich verschlossen", ist empfänglich für sie (ebd.). „Die Materie muß daher formiert werden und die Form muß sich materialisieren" (ebd.). Insofern besteht doch Interdependenz. Der Schein „ihrer Gleichgültigkeit und Unterschiedenheit" wird aufgehoben; „die Vermittlung jeder der beiden" ist gegeben, „die Erinnerung ihrer Entäußerung" (II, 72). Der Struktursachverhalt ist also eine Differenzstufe des absoluten Grundes: „Zuerst setzen Form und Materie sich gegenseitig voraus" (ebd.). „Zweitens" ist die Form, „ohnehin der sich selbst aufhebende Widerspruch" „auch als solcher gesetzt, [...] zugleich selbständig und zugleich wesentlich auf ein Anderes bezogen" (ebd.). Die „Tätigkeit der Form" ist ein negatives Verhalten der Form gegen sich selbst und gegen die Materie; „sie geht also in der Vereinigung ebensosehr mit der Materie als einem Ändern, [...] als auch darin mit ihrer eigenen Identität zusammen" (72 f.). „Die Tätigkeit der Form" ist so zwiespältig - selbstreflexiv und materiebezogen (II, 73). Die Materie ist dann „derselbe Widerspruch an sich, welchen die Form enthält, und dieser Widerspruch ist wie seine Auflösung nur Einer. Die Materie ist aber in sich selbst widersprechend, weil sie als die unbestimmte Identität mit sich zugleich die absolute Negativität ist" - unbestimmt und Implikation dessen, wovon sie Rückkehr ist, also Voraussetzung der Form (ebd.). Die Eine Einheit beider ist - als Resultat - ebenso „das Tun der Form" wie „die Bewegung der Materie": „Einheit des Ansichseins und des Gesetztseins" (II, 74). „Das Tun der Form" ist „Negativität als gesetzte", während mit „Bewegung oder Werden" der Materie „die Negativität als ansichseiende Bestimmung" vorliegt (ebd.). Beide Wesensbestimmungen sind als gegeneinandergestellte „endlich" (ebd.). Die Form, das Tätige, „ist nicht Grund"; die Materie „ist ebensowenig Grund [...], sondern nur die Grundlage für die Form" (ebd.). Darin aber, so meint Hegel, liegt „keine Wahrheit": nur Materie als „absolute Einheit des Wesens und der Form" ist Grund; „ebenso die Form ist nur Grund des Bestehens ihrer Bestimmungen, insofern sie dieselbe eine Einheit ist" (ebd.). Diese neue oder „wiederhergestellte Einheit" (II, 75), „die formierte Materie oder die Bestehen habende Form" (II, 74). „Einheit der Form und der Materie als ihre Grundlage; aber als ihre bestimmte Grundlage, welche [...] gegen Form und Materie zugleich als gegen Aufgehobene und Unwesentliche gleichgültig ist. Sie ist der Inhalt" (II, 75).
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Man möchte die Sachlage vergleichen mit Aristoteles' Vorschlag eines Synolons,44 es scheint jedoch angemessen, diese Reflexion hintanzustellen, bis der absolute Grund exponiert ist.
c) Form und Inhalt Der Inhalt ist „erstlich" die Einheit von Form und Materie. Aber unter der Bestimmtheitsfrage - „indem diese Einheit zugleich bestimmte oder gesetzte Einheit ist" - steht der Inhalt „der Form gegenüber; [...] sie begreift sowohl die Form als solche, als auch die Materie" (II, 75).45 Der Inhalt „hat also eine Form und eine Materie, deren Grundlage er ausmacht und die ihm als bloßes Gesetztsein sind" (ebd.). „Der Inhalt ist zweitens das in Form und Materie Identische, so daß diese nur gleichgültige äußerliche Bestimmungen wären" (ebd.). Deren beider Gesetztsein ist im Inhalt „in seine Einheit oder seinen Grund zurückgegangen [...] Die Identität des Inhalts mit sich selbst ist daher das eine Mal jene gegen die Form gleichgültige Identität; das andere Mal aber ist sie die Identität des Grundes" (ebd.). Der Inhalt ist einerseits gegen die Form gleichgültig; der Inhalt ist aber „zugleich die negative Reflexion der Formbestimmungen in sich [...], ist daher auch die formelle Einheit oder die Grundheziehung als solche. Der Inhalt hat daher diese [die Grundbeziehung] zu seiner wesentlichen Form, und der Grund umgekehrt hat einen Inhalt" (II, 76). Metatheoretische Grundbeziehung und Inhalt sind zusammengekommen, was die Stelle markiert an der vom „bestimmten Grund" gesprochen werden kann (ebd.).46 Es ist schwierig, sich unter dem Inhalt als Einheit von Materie und Form, der wiederum die Form als Bestimmtheitsmoment gegenübertritt, etwas oder gar das Richtige zu denken. Die Form wäre wesentliches Moment des Inhalts - oder aber es handelt sich um eine ,unwesentliche
44
45 46
Synolon ( ): das Konkrete (eigentlich: das „All-zusammen"). Vgl. K. Brinkmann, Aristoteles' allgemeine und spezielle Metaphysik, vor allem Kapitel III, 4a: „Form und Materie", S. 97 ff. Anm. d. Hrsg. „Begreifen" hier wohl im Sinne von „Einbegreifen". Anm. d. Hrsg. Hartmann notiert, daß Hegel in der Enzyklopädie „ganz anders" gliedere. Dort folgt auf den „Grund", als letzte der Reflexionsbestimmungen, sogleich „Existenz" und „Ding" - beides noch unter der übergeordneten Bestimmung „Das Wesen als Grund der Existenz". Dabei wird unter Ding die Beziehung von „Materie und Form" abgehandelt (E, § 129). „Inhalt und Form" (§ 133) dagegen wird dem nächsten Abschnitt zugeordnet, der „Erscheinung", als der wesentlichen „sich in sich selbst aufhebenden" Existenz (S. 133). Anm. d. Hrsg.
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Form'. Beides ist gemeint: „Der Inhalt hat erstlich eine Form und eine Materie, die ihm angehören und wesentlich sind"; und: er steht „der Form gegenüber; diese macht das Gesetztsein aus und ist gegen ihn das Unwesentliche" (II, 75). Es ist ein dialektischer Gedanke, derentwegen die Form auch unwesentlich ist. - Was ist dann der Inhalt? Wir meinen eine Verdoppelung der Form im Begriffspaar Inhalt und Form; aber dann ist die dem Inhalt gegenüberstehende eben eine Form anderer Art als die, welche im Inhalt mit der Materie eine Einheit bildet. Die von der Architektonik geforderte Interpretation des Inhalts vermag schwerlich zu überzeugen. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß Hegel in den behandelten Stücken die Probleme von Aristoteles' Metaphysik, Buch Z behandelt. Bei Hegel erscheinen die dort benutzten Denkmittel - Materie und Form - als aufeinander reflektierende Konzeptionen, aber nicht in der Weise von Reflexionsbestimmungen, sondern so, daß sie als Grund eines Wesens geltend gemacht werden. Somit ist die Zusammengehörigkeit immer schon Prämisse, ist auch die Einheit trotz aller Differenz, die sich entwikkeln läßt, immer schon zugestanden. Andere Aristotelische Modelle - mit der Materie als Wesen (Z 3) oder mit der Form als Wesen (Z 4, vgl. auch Z 6, 7a) - bleiben demgegenüber unbefriedigend. Das Synolon schließlich (Z 11) - von Hegel hier nicht zitiert - entspricht einer dialektischen Behandlung und ist [für Materie und Form] abschließend, wie für die Strukturdeutung des Grundes, den absoluten Grund, die Einheit von Form und Inhalt im bestimmten Grund abschließend ist (mit den genannten Verständnisschwierigkeiten). Im Rückblick sei grundsätzlich angemerkt, daß die Deutung der Wesensstruktur durch Negation - Negativität beim Zentrum, Negation des Negativen beim Seinsrest - etwas Künstliches hat: Hegel benötigt und benutzt ein bildliches Wort, „Gesetztsein", von dem nicht deutlich wird, daß darin Rückkehr zum Zentrum beschlossen ist. Entsprechend zahlreich sind kaum überzeugende Stellen, welche das Gesetztsein als aufgehoben - als nur gesetzt und daher aufgehoben usw. - beschreiben. Hier liegt ein Spielraum für Willkür. Es sind nämlich letztlich architektonische Gesichtspunkte - der Wunsch, alle einschlägigen Begriffe einzubeziehen -, die dafür maßgebend sind, ob eine Reflexion auf der Seite des Gesetztseins mit dem Zentrum zusammenfällt, als Negation des Negativen und [das heißt] Negation seiner selbst, oder gerade als relativ Selbständiges, Nichtgesetztes, geltend gemacht wird. Die lineare Abfolge hat also wenig Überzeugungskraft.
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B. Der bestimmte Grund a) Der formelle Grund Der Grund mit einem „bestimmten Inhalt" ist Anlaß für eine Entwicklung (II, 76). Am Anfang steht ein Grund, in dem sich Inhalt als Grund und Inhalt als Begründetes nicht unterscheiden. Leuchtet dies als Unmittelbarkeitsfall des bestimmten Grundes vielleicht ohnehin ein, so gibt Hegel noch eine ausführliche dialektische Analyse, um diese Art von Grund als anfänglich nachzuweisen. Einerseits hebt danach das Gesetzte (Begründete) „sich selbst auf und geht in seinen Grund zurück", andererseits bezieht der Grund sich negativ „auf sich selbst und macht sich zum Gesetzten (II, 77). Damit ist die Verweisung wechselseitig, ist auf beiden Seiten Form, gehen beide Seiten ineinander über und „setzen sich damit gemeinschaftlich in Einer Identität als aufgehobene (ebd.). Ein „bestimmter" Inhalt wird nach zwei Seiten betrachtet, das eine Mal, insofern er als Grund, das andere Mal, insofern er als Begründetes gesetzt ist" (ebd.). Man will „dieselbe Bestimmung, die der Inhalt ist, doppelt sehen" (II, 78). Ist die Herleitung hinreichend spezifisch, um den formellen Grund zu ,ergründen'? Wechselseitige Reflexionsverhältnisse wirken ja in jeder Grund-Struktur. Entscheidend ist wohl, daß hier der Fall vorliegt, wo Form auf Inhalt als Grund oder wo Form auf Form bezogen ist und also strukturell eine Identität vorliegt. Der metatheoretische Sachverhalt hat noch eine thematische Differenz vor sich. Anmerkung. Formelle Erklärungsweise aus tautologischen Gründen Die Angabe eines formellen Grundes ist „ein bloßer Formalismus und leere Tautologie" (ebd.). Hegel unterstreicht die Zirkularität einer Begründung, welche etwa die Planetenbewegung auf die Gravitationskraft zurückführt, diese Ursache aber nur durch ihre Wirkung bestimmt. „Verborgene Qualität", ,qualitas occulta' ist die klassische Charakterisierung einer solchen Ursache (II, 79). Hegel gibt also Leibniz recht, wenn dieser gegen Newtons Mechanik einen solchen Einwand macht; nur müßte man der [„verborgenen Qualität" als Ursache] „eher das Gegenteil zum Vorwurf machen, daß sie eine zu bekannte Qualität sei; denn sie hat keinen ändern Inhalt, als die Erscheinung selbst" (ebd.). Hegel erweitert seine Kritik noch. Die entwickelten Modelle47 „dieHegel nennt „Molecules" (gemeint ist wohl die Erklärung kristilliner Strukturen), „die leeren Zwischenräume, die Fliehkraft" (Newtons Erklärung der .absoluten Bewegung') „der Äther" (Lichtausbreitung im Raum), „der vereinzelte [homogene] Lichtstrahl"
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nen als erste Gründe für anderes, werden als Wirklichkeiten ausgesprochen und zuversichtlich angewendet", während „sie vielmehr aus dem, was sie begründen sollen, geschlossene Bestimmungen, von einer unkritischen Reflexion abgeleitete Hypothesen und Erdichtungen sind" (II, 81 f.). Von Interesse ist dann natürlich, ,Prinzipunterstellungen' im begründeten Sinn von bloßen Hypothesen zu unterscheiden (den Ausdruck .Unterstellung' haben wir oben selbst gebraucht48). Es scheint, die ganze geordnete und letztbegründete Genealogie Hegelscher Prinzipien und Kategorien ist Absicherung gegen einen entsprechenden auf seine eigene Theorie gerichteten Einwand. b) Der reale Grund Gegenüber dem formellen ist der reale Grund einer, bei dem die beiden Seiten verschiedenen Inhalt haben. Damit wäre die Tautologie vermieden: „Man verlangt daher, wenn man nach einem Grund fragt, eigentlich für den Grund eine andere Inhaltsbestimmung, als diejenige ist, nach deren Grund man fragt" (II, 83). Die Anbahnung des realen Grundes ist eigentlich nur Erinnerung an eine strukturell gegebene Alternative: wenn die Bestimmtheit des Grundes „einesteils Bestimmtheit der Grundlage oder Inhaltsbestimmung, andernteils das Anderssein in der Grundbeziehung selbst, nämlich die Unterschiedenheit ihres Inhalts und der Form" ist, dann kann auch die Differenz von Inhalt und Form zur Sprache kommen, durch welche die Grundbeziehung bestimmt ist (II, 82). War die Unterscheidung von Grund und Begründetem beim formellen Grund äußerlich - es spielte keine Rolle, was als Grund und was als Begründetes aufgefaßt wurde -, so sind beide jetzt „in der Tat [...] einander nicht äußerlich" (ebd.). Sie sind zwar [dialektisch] wechselseitig Grund und Begründetes; weil sie aber zugleich „der Form angehören und ihre [deren] bestimmte Unterschiedenheit ausmachen, so ist jede [Seite] in ihrer Bestimmtheit die Identität des Ganzen mit sich. Jede hat somit einen gegen die andere verschiedenen Inhalt" (ebd.). Hegel legt also den Akzent darauf, daß Grund- und Begründetsein metatheoretisch beide der Form zugehören, womit sich verschiedene Inhalte ergeben. — Man beachte die Willkür im Vergleich zum formellen Grund, bei dem um(Dispersion des Lichts), „die elektrische und magnetische Materie und noch eine Menge dergleichen (II, 81). Anm. d. Hrsg. Bei der Erörterung von Konzeption bzw. Disposition des Grundes (vgl. S. 197). Anm. d. Hrsg.
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gekehrt argumentiert wurde. Jedenfalls ist die Grundbeziehung nun nicht mehr formal - oder formell (vgl. II, 83). Darin liegt aber auch ein Mangel: die unterschiedlichen Inhalte sind unmittelbare gegeneinander, sind einander äußerlich; die Verbindung beider, ihre Einheit, ist „nur ihre leere, an ihr selbst inhaltslose Beziehung, nicht ihre Vermittlung, - ein Eins oder Etwas als äußerliche Verknüpfung derselben" (ebd.). - Hegel diagnostiziert damit einen Konflikt: da ist einerseits die Inhaltsbestimmung, welche „das einfach Identische des Grundes und Begründeten ausmacht", der Grund kontinuiert sich im Gesetztsein - andererseits, als Ausweis der Unmittelbarkeit des Inhalts eine hinzukommende „unwesentliche Form, äußerliche Inhaltsbestimmungen, die als solche vom Grunde frei und eine unmittelbare Mannigfaltigkeit sind" (ebd.). Das Begründete enthält also ein Wesentliches und zugleich ist darin „ein gleichgültiger Inhalt [...] als die unwesentliche Seite" (II, 84). (Schon die Verschiedenheit des Begründeten hätte ausgereicht, um die geringere Einheit von Grund und Begründetem aufzuzeigen; die Inanspruchnahme des Unwesentlichen verlangt demgegenüber allerdings eine Anleihe beim konkreten Ding, bei einer konkreten Regionalontologie.) Als „Hauptsache" erscheint gerade „die Beziehung der Grundlage und der unwesentlichen Mannigfaltigkeit" (ebd.). Darin liegt aber keine Grundbeziehung: „als sich auf sich beziehender Inhalt ist beiden diese Form äußerlich [...], ist deswegen nicht Formbeziehung, sondern nur ein äußerliches Band" (ebd.). Und Hegel scheint nun aus dem Unwesentlichen auf die Äußerlichkeit auch der Grundbeziehung - so daß es sich nur um „Grundlage", „nicht Grund" handelt - schließen zu können (ebd.). Demnach gilt: „die beiden Beziehungen, der wesentliche Inhalt als die einfache unmittelbare Identität des Grundes und des Begründeten und dann das Etwas als die Beziehung des unterschiedenen Inhalts sind zwei verschiedene Grundlagen" (ebd.). Damit ist Äußerlichkeit auch in den Grund selbst eingegangen, er ist „sich selbst äußerlich geworden" (ebd.). „Der reale Grund ist daher Beziehung auf anderes, einerseits des Inhalts auf ändern Inhalt, andererseits der Grundbeziehung selbst (der Form) auf anderes, nämlich auf ein Unmittelbares, nicht durch sie Gesetztes" (ebd.).
Anmerkung. Formelle Erklärungsweise aus einem vom Begründeten verschiedenen Grund Hegels Beispiele sind klärend. Etwa „die der sinnlichen Materie inwohnende Schwere" eines Hauses: diese, als „das sowohl in dem Grunde als dem begründeten Hause schlechthin Identische", ist gleichgültig ge-
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gen die „Modifikation, wodurch sie49 eine Wohnung ausmacht"; die Schwere ist „daher wohl Grundlage, aber nicht Grund derselben", d.h. der „ändern Inhaltsbestimmungen des Zwecks" (II, 85).50 Analoges gilt für [die] „Natur" als „Grund der Welt" (ebd.) oder für „Gott als Grund der Natur": „Die Natur wird daher nicht aus Gott als dem Grunde erkannt" (II, 86). „Das Angeben von realen Gründen wird also um dieser Inhaltsverschiedenheit des Grundes oder eigentlich der Grundlage und dessen [willen], was mit ihm im Begründeten verbunden ist, ebensosehr ein Formalismus als der formale Grund selbst"; verschiedene Inhalte sind Grundlagen und deshalb gleichgültig gegen die Form der Grundbeziehung (ebd.). Weiter besteht, eine Beliebigkeit darin, „welche der mannigfachen Bestimmungen als die wesentliche genommen werden soll [...]. Die eine kann daher so sehr wie die andere als Grund bestimmt werden, nämlich als die wesentliche, in Vergleichung mit welcher alsdann die andere nur ein Gesetztes sei (ebd.). Deutlich wird das zunächst am Beispiel der Strafe; mögliche Gründe sind hier etwa Wiedervergeltung, Generalprävention, Spezialprävention: „Jede dieser verschiedenen Bestimmungen ist als Grund der Strafe betrachtet worden, weil jede eine wesentliche Bestimmung ist und dadurch die ändern als von ihr unterschieden gegen sie nur als Zufälliges bestimmt werden. Diejenige aber, die als Grund angenommen wird, ist noch nicht die ganze Strafe selbst; dieses Konkrete enthält auch jene ändern, die mit ihr darin nur verknüpft sind, ohne daß sie in ihr ihren Grund hätten" (ebd.). Ein anderes Beispiel ist das von der Stellung eines Beamten, die ihm aus verschiedenerlei Gründen zuteil geworden sein kann: „Amtsgeschicklichkeit", verwandtschaftliche oder sonstige Beziehungen, „ein besonderer Charakter", Gelegenheit zur Selbstdarstellung usw. (II, 87). „So kann überhaupt jedes Dasein mancherlei Gründe haben; jede seiner Inhaltsbestimmungen durchdringt als mit sich identisch das konkrete Ganze und läßt sich daher als wesentlich betrachten; den mancherlei Rücksichten [oder Hinsichten], d.h. Bestimmungen, die außer der Sache
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Hartmann bezieht (im Manuskript durch Klammerzusatz) dieses Pronomen auf „die Unterlage" des Hauses; gemeint ist aber wohl die „schwere Materie" (II, 85). Anm. d. Hrsg. Zum besseren Verständnis: Hegel wählt, als sehr .realen Grund', das Beispiel eines Gebäudefundaments. Weil dessen Ausmaße wesentlich bestimmend sind für das Gewicht des darüber Errichteten - und umgekehrt - ist diese „Schwere [...] das sowohl in dem Grunde als in dem begründeten Haus schlechthin Identische". Davon ganz unabhängig sind aber die spezifische Gestalt und Funktion des Bauwerks. Anm. d. Hrsg.
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selbst liegen, ist um der Zufälligkeit der Verknüpfungsweise Tür und Tor unendlich aufgetan" (ebd.). „Ob ein Grund diese oder jene Folge habe, ist deswegen ebenso zufällig" (ebd.). Ein treffendes Beispiel dafür sind die „moralischen Beweggründe": zwar handelt es sich um „wesentliche Bestimmungen der sittlichen Natur [...] Genauer ist dies so zu nehmen, daß es der moralischen Bestimmung, wenn sie Grund ist, nicht zufällig sei, eine Folge oder ein Begründetes zu haben" (ebd.). Aber zufällig ist es, „ob sie überhaupt zum Grund gemacht werde oder nicht. Allein da auch wieder der Inhalt, der ihre Folge ist, wenn sie zum Grund gemacht worden, die Natur der Äußerlichkeit hat, kann er unmittelbar durch eine andere Äußerlichkeit aufgehoben werden" (ebd.).51 - „Umgekehrt kann eine Handlung mancherlei Gründe haben; sie enthält als ein Konkretes mannigfaltige wesentliche Bestimmungen, deren jede deswegen als Grund angegeben werden kann. Das Aufsuchen und Angeben von Gründen, worin vornehmlich das Räsonnement besteht, ist darum ein endloses Herumtreiben, das keine letzte Bestimmung enthält; es kann von allem und jedem einer und mehrere gute Gründe angegeben werden sowie von seinem Entgegengesetzten, und es können eine Menge Gründe vorhanden sein, ohne daß aus ihnen etwas erfolgt. Was Sokrates und Plato Sophisterei nennen, ist nichts anderes als das Räsonnement aus Gründen; Plato setzt demselben die Betrachtung der Idee, d.h. der Sache an und für sich selbst oder in ihrem Begriffe entgegen" (II, 87 f.). Wie gesagt, wird mit diesen Beispielen allerdings ein konkretes Ding oder ein konkretes Positives vorausgesetzt, was Probleme bezüglich des ,generalisierenden' Charakters der Logik aufwirft. c) Der vollständige Grund Hier fehlen leider die Beispiele. Es müßte sich um das Gewünschte handeln in dem Sinne, daß nichts am [realen] Grund ausgelassen würde, um für das Begründete aufzukommen. Hegel denkt aber nicht an einen vollständigen Grund als Enumeration von Einzelgründen. Vielmehr
Vgl. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: „Alle Imperativen werden durch ein Sollen ausgedruckt, und zeigen dadurch das Verhältnis eines objektiven Gesetzes der Vernunft zu einem Willen an, der seiner subjektiven Beschaffenheit nach dadurch nicht notwendig bestimmt wird (eine Nötigung). Sie sagen, daß etwas zu tun oder zu unterlassen gut sein würde, allein sie sagen es einem Willen, der nicht immer darum etwas tut, weil ihm vorgestellt wird, daß es zu tun gut sei" (BA, S. 37 f.). Anm. d. Hrsg.
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meint er eine strukturelle Vollständigkeit, wie folgt: wenn der reale Grund Mängel der angegebenen Art hat, so ist er für Hegel „der Grund als aufgehobenener" (ebd.). „Die reale Grundbeziehung [...] macht somit vielmehr die Seite des Begründeten oder des Gesetztseins aus" (ebd.). Das Begründete ist jetzt der Grund, in den der „Grund zurückgegangen" ist; „er ist nun ein Begründetes, das einen ändern Grund hat" (ebd.). Dieser andere Grund ist „erstlich das mit dem realen Grunde als seinem Begründeten Identische [...]; beide Seiten haben nach dieser Bestimmung einen und denselben Inhalt" - wie beim formellen Grund, woraus sich die neue vollständige Grundbeziehung ergibt (ebd.). Der neue Grund ist „zweitens [...] als ihre Reflexion in sich die absolute Beziehung der zwei Inhaltsbestimmungen", Aufhebung ihrer „nur gesetzten äußerlichen Verknüpfung" (II, 88 f.). - Dies also wäre der vollständige Grund, in dem die Zusammengehörigkeit von zwei Inhaltsbestimmungen, als in einem Grund gelegen, begriffen wäre. Die neue Grundbeziehung hat denselben Inhalt wie die vorige, „nämlich die beiden Inhaltsbestimmungen, ist aber die unmittelbare Verknüpfung derselben" (II, 89). Im neuen Grund stehen die zwei Inhaltsbestimmungen „in der identischen Grundbeziehung der Form" (ebd.); es handelt sich folglich um eine Iteration des Grund-Gedankens. Gerade deshalb hat dieser selbe Inhalt „auch die Form an ihm selbst und ist so gedoppelter Inhalt, der sich als Grund und Begründetes verhält", was wiederum der .realen' Grundbeziehung entspricht (II, 90). Nicht ist deshalb ein Etwas Grund für ein anderes Etwas, sondern der neue Grund vermittelt den Zusammenhang. „Die eine der zwei Inhaltsbestimmungen der beiden Etwas ist daher bestimmt, als ihnen nicht bloß gemeinschaftlich nach äußerer Vergleichung, sondern ihr identisches Substrat und die Grundlage ihrer Beziehung zu sein" (ebd.). - Die von Hegel im folgenden versuchte Formalisierung ist wenig hilfreich; sie meint nicht die beiden sogenannten Etwas', sondern deren innere Struktur, die Inhaltsbestimmungen A und B, von denen die erstere „gegen die andere [...] die wesentliche und Grund derselben" ist (ebd.). Der gesetzte Grund-Konnex von A und B im zweiten Etwas ist einmal vermittelt durch die Identität des A im zweiten Etwas mit dem A im ersten Etwas: „Das andere Etwas aber enthält nur die eine [an sich A] als das, worin es mit dem ersten Etwas unmittelbar identisch ist, die andere aber als die in ihm gesetzte" (ebd.). Der Konnex ist zum anderen vermittelt durch die „ursprüngliche" Verknüpfung - „unmittelbar und an sich" - von A und B im ersten Etwas (vom ersten Etwas in das zweite vermittelt): „Im zweiten Etwas ist nicht nur diese zweite Bestimmung mittelbar; sondern auch daß seine unmittelbare [Bestimmung] Grund ist, ist vermittelt, nämlich durch die Ursprung-
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liehe Beziehung auf B im ersten Etwas. Diese Beziehung ist somit Grund des Grundes "(ebd.).52 Dies Ergebnis ist nicht schon Lösung - wir befinden uns [innerhalb des Kapitels , Grund'] noch auf der Differenzstufe des ,bestimmten Grundes'. Die „vollständige Vermittlung" des Grundes „ist die Wiederherstellung seiner Identität mit sich. Aber indem diese dadurch zugleich die Äußerlichkeit des realen Grundes erhalten hat", ist die Einheit von formalem [oder formellem] Grund und realem Grund wiederum nicht abschließend (ebd.). Sie wird als „ebensosehr sich setzender und als sich aufhebender Grund" bestimmt; die Grundbeziehung „vermittelt sich durch ihre Negation mit sich", will sagen, ist gleichzeitig Infragestellung der Grundbeziehung - metatheoretisch Identität rivalisierend mit thematischer Äußerlichkeit, ganz wie bisher (ebd.). Anders gefaßt, ist somit die „Grundbeziehung in ihrer Totalität", als vollständiger Grund, „wesentlich voraussetzende Reflexion; der formelle Grund [mit seiner Identität] setzt die unmittelbare Inhaltsbestimmung voraus, und diese als realer Grund [mit seiner äußerlichen Reflexion] setzt die Form voraus" (II, 91). Was zunächst als Lösung schien, erweist sich erneut als Desiderat. Hegel sieht es erfüllt durch die Bedingung, mit der ein Junktim besteht von Grund und Totalität dessen, was erfüllt sein muß, damit der Grund Grund sein kann. C. Die Bedingung Der Struktursachverhalt des vollständigen Grundes wird im Fortgang zum Bedingungsgedanken nur weiter interpretiert. „Der Grund ist das Unmittelbare, und das Begründete das Vermittelte" (ebd.). Auch der Grund bedarf aber eines Beitrags seitens des Unmittelbaren, damit er Grund sein kann oder einer Vermittlung zu sich als Grund. Dieser Beitrag des Unmittelbaren muß allerdings vom Grund selbst aus eingegeben werden. „Diese Vermittlung als Fortgehen vom Unmittelbaren zum Grunde ist nicht eine äußere Reflexion, sondern [...] das eigne Tun des Grundes, oder, was dasselbe ist, die Grundbeziehung ist als Reflexion in die Identität mit sich ebenso wesentlich sich entäußernde Reflexion. Das Unmittelbare, auf das der Grund sich als auf seine wesentli52
Hartmann vermerkt hier: „d.h. die Verknüpfung von A und B ist abhängig vom ersten Etwas, dem realen Grund". - Es scheint aber doch A der reale Grund zu sein und dessen „äußerliche" Beziehung auf das Begründete B „vollständig" vermittelt durch die unmittelbare Beziehung im ersten Etwas (II, 90). Anm. d. Hrsg.
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ehe Voraussetzung bezieht, ist die Bedingung; der reale Grund ist daher wesentlich bedingt" (II, 91 f.).
a) Das relativ Unbedingte Dies ist das erste Stadium der dialektischen Behandlung. Der Struktursachverhalt weist einen Konflikt aus zwischen einem „unmittelbaren, mannigfaltigen Dasein" und einer Bezogenheit dieses Daseins „auf ein anderes, auf etwas, das Grund ist, nicht dieses Daseins, sondern in anderer Rücksicht; denn das Dasein selbst ist unmittelbar und ohne Grund" (II, 92). Der Konflikt ist damit einer von Unmittelbarkeit und Gesetztsein dieses Daseins. Das Dasein ist also als Bedingung „Gesetztes", als unmittelbares ist ihm „dagegen [dies], Bedingung zu sein, gleichgültig" (ebd.). Aber gerade so, in dieser widersprüchlichen Rolle des Daseins, ist es „ Voraussetzung des Grundes" (ebd.). Das dialektische Detail, welches Hegel weiter beibringt, bereitet Probleme: die Bedingung ist Inhalt des Grundes; aber insofern „im vollständigen Grunde [die Grundbeziehung] zu einer gegen ihre Identität äußerlichen Beziehung" wird, „befreit sich" dieser Inhalt noch von der Form der Grundbeziehung und wird Unmittelbarkeit (ebd.). Dieser Inhalt, gegen die Form gleichgültig, ist „nur an sich" Inhalt der Grundbeziehung, „ein solches, das erst Inhalt werden soll, hiemit das Material für den Grund, [...] das Unbedingte für denselben" (ebd.). - Wohlgemerkt, die Bedingung des Grundes ist jetzt „das Unbedingte für denselben". Die Herleitung vermag kaum zu überzeugen.53 Als nächstes opponiert Hegel Bedingung und Grund. „Etwas ist nicht durch seine Bedingung; seine Bedingung ist nicht sein Grund" (ebd.). Der Bedingung steht „die Grnndbeziehung gegenüber. Etwas hat außer seiner Bedingung auch einen Grund" (II, 92 f.). Und der Grund ist in seiner Reflexionsstruktur „gleichfalls ein Unmittelbares und Unbedingtes" (II, 93). Damit hat die Grundbeziehung „einen eigentümlichen Inhalt gegen den Inhalt der Bedingung" - einen metatheoretischen nämlich, Reflexion zu 53
Mit der gebotenen Vorsicht - es wäre eine Lösung, wenn man an dieser Stelle liest: das vom Grund Bedingte ist jetzt „das Unbedingte für denselben". Letzteres wäre das B des vollständigen Grundes, sein .Realteil' oder Unmittelbares. („Das Unmittelbare, auf das der Grund sich als auf seine wesentliche Voraussetzung bezieht [...] Nach jener [Grund-JBeziehung ist es ein Gesetztes" - II, 91 f.). Vgl. auch die Überschriften zu a), b). - Es sei noch darauf aufmerksam gemacht, daß Hegel die Bestimmungsstufen Unmittelbarkeit und Differenz unter a) zusammenfaßt - offenbar um c) freizuhalten für den „Hervorgang der Sache in die Existenz" (II, 97 f.).
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sein (ebd.). Es stehen sich somit metatheoretische Form und „unmittelbares Material" gegenüber (ebd.). „Die beiden Seiten des Ganzen, Bedingung und Grund'1 sollen als „einerseits gleichgültige und unbedingte gegeneinander" schließlich auch vermittelt sein (ebd.). „Daß die Bedingung das Ansichsein für den Grund ist, macht [...] ihre Seite aus, nach welcher sie eine vermittelte ist. Ebenso die Grundbeziehung hat in ihrer Selbstständigkeit auch eine Voraussetzung, und ihr Ansichsein außer sich. - Somit ist jede der beiden Seiten der Widerspruch der gleichgültigen Unmittelbarkeit und der wesentlichen Vermittlung, beides in Einer Beziehung, - oder der Widerspruch des selbständigen Bestehens und der Bestimmung, nur Moment zu sein" (ebd.). Dieser Widerspruch ist es, welcher weiterführt.
b) Das absolute Unbedingte Beide, Grund und Bedingung, erscheinen am Anfang des nächsten Abschnitts als „relativ-Unbedingte" (II, 94). Der Schritt zum AbsolutUnbedingten - also zu einem Ganzen, einer Einheitsstruktur, in der Grund und Bedingung nicht „relativ-Unbedingte" und insofern nicht relativ aufeinander Bezogene sind - dieser Schritt greift weit aus. Es muß jetzt gezeigt werden, daß die Bedingung, als Dasein, die Unmittelbarkeit an sich selbst aufhebt; dies wird durch Rückgriff auf die Entwicklung des Seins gezeigt - als ein „Werden zum Wesen" (ebd.). Die Bedingung „ist das Sein nun auch als das gesetzt, was es wesentlich ist, nämlich als Moment, somit eines Ändern, und zugleich als das Ansichsein, gleichfalls eines Ändern [...] Oder vielmehr beides ist dasselbe. Das Dasein ist ein Unmittelbares, aber die Unmittelbarkeit ist wesentlich das Vermittelte, nämlich durch den sich selbst aufhebenden Grund" (ebd.). Ebenso der Grund „bezieht sich negativ auf sich selbst und setzt sich sein Ansichsein als ihm Anderes entgegen, und die Bedingung sowohl nach ihrem Momente des Ansichseins als des unmittelbaren Daseins ist das eigene Moment der Grundbeziehung [...] Dies ist daher ebenso das Ganze selbst" (II, 95). „Die beiden Seiten des Ganzen, Bedingung und Grund, sind also Eine wesentliche Einheit, sowohl als Inhalt, wie als Form. Sie gehen durch sich selbst ineinander über, oder indem sie Reflexionen sind, so setzen sie sich selbst als aufgehobene, beziehen sich auf diese ihre Negation und setzen sich gegenseitig voraus. Aber dies [Voraussetzen] ist zugleich nur Eine Reflexion beider" (ebd.). Diese „Eine Identität [...] ist das wahrhaft Unbedingte; die Sache an sich selbst" (II, 96). Damit ist die Bedingung als
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„das relativ Unbedingte" aufgehoben, nach welchem festgehaltenen' Seinsaspekt sie „daher selbst als ein Bedingtes zu betrachten und nach einer neuen Bedingung zu fragen [sei], womit der gewöhnliche Progreß ins Unendliche von Bedingung zu Bedingung eingeleitet ist" (ebd.). Anders gesagt, die Frage nach einer neuen Bedingung ergibt sich, insofern die Bedingung tatsächlich „irgendein endliches Dasein ist. Aber dies ist eine weitere Bestimmung der Bedingung, die nicht in ihrem Begriffe liegt" (ebd.). - Diese Betonung der rein logischen Bestimmung einer Bedingung kontrastiert mit dem von Hegel selbst hergestellten Bezug auf Konkretes, Regionalontologisches beim ,realen Grund' (vgl. II, 84). Das, was sich, wie wir meinen, als Weiterinterpretation des Struktursachverhalts jvollständiger Grund' ergeben hat, ist eine Einheit: „die unbedingte Sache - ein Ganzes, eine Totalität (vgl. II, 96). „Als Grund ist sie nun die negative Identität, die sich in jene beiden Momente abgestoßen hat", welche Hegel aus der Entwicklung des Grundes schon wiederholt bestimmt hat: „erstens in die Gestalt der aufgehobenen Grundbeziehung, einer unmittelbaren, einheitslosen, sich selbst äußerlichen Mannigfaltigkeit, welche sich auf den Grund als ein ihr Anderes bezieht und zugleich das Ansichsein desselben ausmacht; zweitens in die Gestalt einer innerlichen, einfachen Form, welche Grund ist, aber sich auf das mit sich identische Unmittelbare als auf ein Anderes bezieht und dasselbe als Bedingung, d.h. dies ihr Ansich als ihr eigenes Moment bestimmt. - Diese beiden Seiten setzen die Totalität so voraus, daß sie das Setzende derselben ist", d.h. die Unterschiedenen erscheinen vom Ergebnis her als Momente (ebd.). Umgekehrt „scheint" die Totalität von den Momenten „bedingt zu sein" (ebd.). „Aber indem diese beiden Seiten sich als das Identische gezeigt haben, so ist das Verhältnis von Bedingung und Grund verschwunden; sie sind zu einem Scheine herabgesetzt" (ebd.). Bedingung und Grund sind „das Tun der Sache [...], und ihr Verhalten zu ihnen ihr Zusammengehen mit sich seihst" (II, 97). c) Hervorgang der Sache in die Existenz Das Ergebnis wird noch einmal interpretiert. Hegel rekurriert dabei erneut, aber einläßlicher, auf das Verhältnis von Wesensinterpretation und Sein, d.h. den Status der Bedingungen - wie es jetzt öfter im Plural heißt: „Für die absolute uneingeschränkte Sache ist die Sphäre des Seins seihst die Bedingung" (ebd.). Die Grundbeziehung sondert das Unwesentliche davon aus: „Das Unwesentliche, welches die Sphäre des Seins an ihr hat, und was sie, insofern sie Bedingung ist, abstreift, ist die Be-
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stimmtheit der Unmittelbarkeit, in welche die Formeinheit [die Grundbeziehung] versenkt ist" (II, 97 f.). Hegel nimmt wieder Bezug auf den Gang der Logik, das Sein als das „Werden zum Wesen" (II, 98). „Die Wahrheit des Daseins ist daher, Bedingung zu sein", d.h. in eine Grundbeziehung eingeordnet zu werden (ebd.). Das wird dann erneut von der anderen Seite aus dargetan, der der Grundbeziehung, welche „die Form der absoluten Sache" ist (ebd.). Es wäre aber ermüdend, dies nun noch einmal - als Zusammenhang von Voraussetzen und Setzen - vorzuführen. Im Ergebnis findet sich „das Verschwinden des Scheins der Vermittlung. Das Gesetztwerden der Sache ist hiemit ein Hervortreten, das einfache sich Herausstellen in die Existenz, reine Bewegung der Sache zu sich selbst" (II, 99). „Wenn alle Bedingungen einer Sache vorhanden sind, so tritt sie in die Existenz" (ebd.). „Die ganze Sache muß in ihren Bedingungen da sein, oder es gehören alle Bedingungen zu ihrer Existenz, denn Alle machen die Reflexion aus; oder das Dasein, weil es Bedingung ist, ist durch die Form bestimmt, seine Bestimmungen sind daher Reflexionsbestimmungen und mit einer wesentlich die ändern gesetzt" (ebd.). Unter dieser Voraussetzung erweist sich die Sache als Erinnerung; das „Hervorgehen" der Sache ist strukturell zu verstehen: „Die Erinnerung der Bedingungen ist zunächst das Zugrundegehen des unmittelbaren Daseins und das Werden des Grundes. Aber damit ist der Grund ein gesetzter, d.h. er ist, so sehr er als Grund ist, so sehr als Grund aufgehoben und unmittelbares Sein" - alles verschiedene Weisen, das Zusammengehen der beiden Relate Grund und Unmittelbares auszudrücken (II, 99 f.). Grund und Bedingung verschwinden im Hervortreten der Sache in die Existenz. „Die Sache geht aus dem Grunde hervor [...]. Die Sache ist hiemit ebenso wie sie das Unbedingte ist, auch das Grundlose, und tritt aus dem Grunde nur, insofern er zugrunde gegangen und keiner ist [...], d.h. aus der eigenen wesentlichen Negativität oder reinen Form hervor" (II, 100). Wesen kehrt zum Sein zurück, „ist die Existenz" - aber mit einer Wesensinterpretation, aufgrund derer dann Oppositionsverhältnisse geltend gemacht werden können, die im qualitativen Sein noch nicht auftraten (ebd.). Es fällt auf, daß Hegel in seine Theorie von Grund und Bedingung Modalüberlegungen einführt, ohne sie so zu benennen. Denn Stellen wie die folgende berühren ja offenbar die Frage der megarischen Möglichkeitsauffassung:54 „Wenn also alle Bedingungen der Sache vorhanden 54
Gemeint ist die Interpretation der Begriffe .möglich' und »wirklich' durch die sogenannte megarische Schule sowie deren Kritik durch Aristoteles in der Metaphysik, Buch Theta, Kap. 3 u.4,1046b, 29 ff.: „Es gibt einige wie die Megariker, welche behaup-
Probleme der abstrakten Wesenslogik
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sind, so heben sie sich als unmittelbares Dasein und Voraussetzung, und ebensosehr hebt sich der Grund auf" (ebd.). (Hegel hatte allerdings den Übergang von der Bedingung, als dem Unmittelbaren, zur Allheit der Bedingungen nicht deutlich gemacht, sondern nur einfließen lassen.) Was hieße also die Theorie vom Grund modaltheoretisch betrachtet? Doch wohl dies, daß etwas erst [hinreichend und notwendig] Grund ist, wenn es nicht mehr Grund ist. Das Ausstehende, dessentwegen der Grund unvollkommen ist, entspräche dem Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit, so daß der Grund eine Möglichkeit bleibt, solange nicht die zureichenden (alle) Bedingungen gegeben sind. Dann aber rückt die Sache in die Existenz.55 Probleme der abstrakten Wesenslogik56 Das betrachtete Stück der Wesenslogik ist in seiner dialektischen Machart deutlich geworden: nach einer Grundlegung in der Reflexion und deren drei Potentialunterschieden - als setzende, voraussetzende und bestimmende Reflexion, gemäß der Abfolge von Unmittelbarkeit über Differenz zur Einheit - bietet das Betrachtete eine immer erneute Befolgung dieses Schemas. Dabei erscheinen nach der Grundlegung selbst die Reflexionsbestimmungen als wiederum gemäß den drei Potentialunterschieden gegliederter Teilbereich der Differenz,57 während der selbst entsprechend gegliederte ,Grund' den Teilbereich der Schließung darstellt - welcher dann seinerseits auf ein Nächstes (Existenz und Erscheinung) verweist. Die Einhaltung des Schemas bedingt vielerlei Künstlichkeiten, so daß die Argumentation innerhalb des dialektischen Details, progressiv gelesen,
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ten, ein Ding habe nur dann ein Vermögen, wenn es wirklich tätig sei, wenn jenes aber nicht wirklich tätig sei, habe es auch das Vermögen nicht [...]" (Aristoteles, Metaphysik, übersetzt von Hermann Bonitz, Hamburg 1980, S. 107 ff.) - was nach Auffassung von W. u. M. Kneale die modalen Prädikate .hinreichend' und .notwendig' überflüssig machte (vgl. a.a.O., S. 117). Anm. d. Hrsg. Hartmann vermerkt am Rande, daß die „Notwendigkeit noch nicht sichtbar" sei. Doch könnte man wohl jede einzelne Bedingung einer Sache - in ihrer verstandesmäßigen Abstraktion - als notwendig für deren Existenz bezeichnen, da es ja, wie im Text zitiert, heißt: „Die ganze Sache muß in ihren Bedingungen da sein, oder es gehören alle Bedingungen zu ihrer Existenz". - Auf die existenzsetzenden Anklänge der Hegeischen Formulierungen zum „Hervorgang der Sache" geht Hartmann gegen Ende des folgenden Abschnitts noch ein. Anm. d. Hrsg. Diese Ausführungen kennzeichnet Hartmann am Rande als „Brouillon" - also „Skizze". Anm. d. Hrsg. So sehr Spannungen zur Enzyklopädie bestehen: wie wir sahen, rivalisiert der Gesichtspunkt der Differenz mit dem der Formalität.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
oft nicht von der jeweiligen Lösung, der nächsten Bestimmung oder Kategorie als zwingendem Novum zu überzeugen vermag. Man liest vielmehr rückwärts, regressiv und wertet die Argumentation vom Resultat her. Das entspricht der schon früher aufgewiesenen Verquickung von metatheoretischen und thematischen Bestimmungen. Aber diesen Punkt einmal beiseite gelassen, stellt sich eine andere, durchaus grundsätzliche Frage. Es fällt nämlich auf, daß Hegel im betrachteten Stück (aber auch darüber hinaus) dem Status nach sehr Verschiedenes einer Denkbewegung unterordnet. Man ist versucht zu sagen, es handle sich teils um Seiendes im Sinne von Selbständigem, teils um Abstraktes im Sinne von Unselbständigem, und selbständiges Bestehen soll anscheinend gerade Resultat sein.58 - Diese Formulierung ist insofern mißverständlich, als ja auch ,Etwas' oder ,Wesen£ Abstrakta sind. Aber sie sind es in anderer Weise als eine Reflexionsbestimmung, in der nur Beziehungen thematisiert sind und die Relata bloß anhängenderweise. (Auch der Formelausdruck mit Variablen in einem Satz wird ja von Hegel zugelassen.) Kann also das Positive und Negative etwa in einer Denkbestimmung mit Grund und Begründetem stehen, worunter wir an Selbständiges, wenn auch in abstrakter Designation denken? - Es ist jetzt nicht einfach zu sagen, Hegel zeige gerade durch sein Weiterschreiten, daß er die abstrakte Ebene verlasse zugunsten konkreterer; denn die gemeinten Abstrakta erscheinen nach einer aufs Prinzipielle gerichteten qualitativen und nach einer auf Größen gerichteten quantitativen Seinslogik (so sehr bei der letzteren auch Formelgebilde in die Ontologie einbezogen wurden), und Selbständiges erscheint wiederum nach dem Durchgang durch Unselbständiges - z.B. realer Grund nach den Reflexionsbestimmungen: dies alles im Unterschied zur Zentralität der Substanz bei Aristoteles oder, anders, bei Husserl. Hegel relativiert also beim linearen Durchgang durch die Begriffsbestimmungen den Unterschied von Selbständigem und Unselbständigem, wenn auch eine Teleologie zu Selbständigem vorliegt. Ist nun der Eindruck, daß bei Hegel Andersartiges in eine Denkbewegung eingestellt werde, theorieimmanent vielleicht nur vage und nicht letztlich kriteriell formulierbar, so bleibt der einheitliche Topos des bisher Entwickelten doch mit Vorsicht zu wählen. Die Lösung liegt wohl in dem
58
Hartmann notiert am Rande: „Vgl. Husserl, Ideen I". Gemeint sind wohl die Ausführungen in Paragraph 15 des ersten Buchs der „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie" — etwa: „Ein unselbständiges Wesen heißt ein Abstraktum, ein absolut selbständiges Wesen ein Konkretum" (E. Husserl, „Ideen ...", Halle a.d.S. 1913, S. 29). Anm. d. Hrsg.
Probleme der abstrakten Wesenslogik
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- oben schon vielfach verwendeten - Begriff .Struktur' oder ,Struktursachverhalt', was beides auch Relation im schlichten Sinn mitumfaßt.59 Unter solcher Ägide wären tatsächlich Themen wie Etwas oder Fürsichsein, Größe und Idee, Identitätssatz und Grund in einer Denkbewegung aufreihbar, wobei architektonisch, d.h. qualitativ, geregelte Sphärengesichtspunkte hinzukämen für die Strukturimplikate des Wesens gegenüber der Unmittelbarkeit des Seins. So hatten wir Hegel bisher interpretiert. Dann erhebt sich allerdings die Frage nach dem Verhältnis des Topos .Struktur' oder ,Struktursachverhalt' zu dem der ,Kategorie' und dessen Bedeutung in der Philosophiegeschichte. Man möchte gern sagen, Ontologie stelle Kategorien auf (Hegel tut dies in eigenartiger Verbindung oder Verquickung von metatheoretischer und thematischer Sehweise), und weiter, Kategorien gelten einem Seins-Bestand, wobei dann allerdings die Kategorie oder Kategoriengruppe der Relation schon klassisch gewordene Schwierigkeiten bereitet: wird Relation kategorial anerkannt, ist demnach auch der als Satz formulierbare Struktursachverhalt,Identität' eine Kategorie?60 Hier hatte die alte Ontologie in der Transzendentalienlehre einen Ausweg gesucht. (Der Satz ,ens et unum convertuntur' sagt nicht dasselbe, was Hegel mit der Identität sagen will - es wird [mit dem Satz] jedenfalls vermieden, von Kategorie zu sprechen.)61 Beim Satz vom zu vermeidenden Widerspruch - um ein anderes Beispiel zu nehmen - ist bekannt, daß Aristoteles ihm eine ontologische Deutung gegeben hat - oder eine satzlogische mit einer ontologischen in eins gesetzt hat.62 Der Satz ist damit nicht Kategorie geworden, aber er gilt vom Seienden. Entspricht es dieser Sachlage, wenn man von einer Struktur (oder einem Struktursachverhalt) spricht, die als kategorial in Anspruch genommen werden könne? Dies scheint Hegels Meinung zu sein und nur so wäre auch die Einordnung von solch anscheinend Disparatem in eine Denkbewegung zu verteidigen. Die Reflexionsbestimmungen der Wesenslogik ließen sich dabei näher interpretieren als Bestimmungen, von denen erst die Wesenslogik einsieht 59
6C 61
62
„Im schlichten Sinne" meint wohl: Relation als zweistellige Beziehung - unter Absehung von formallogischen Abstraktionen oder Verallgemeinerungen. Anm. d. Hrsg. Zu dem in diesem Absatz enthaltenen Verweis auf die Philosphiegeschichte vgl. etwa G. Martin, Immanuel Kant, Berlin 41969 - insbes. die §§ l u. 15-17. Anm. d. Hrsg. Vgl. G. Martin: „Wie immer also eine Gliederung oder eine Einteilung getroffen werden möge, es sei in die Kategorien oder in anderer Weise, jedes Glied rechts und links der Einteilung ist seiend und ist eines, die Begriffe der Einheit und des Seins übersteigen also alle möglichen Gliederungen. Von hier aus wird die Einheit als ein trancendens bezeichnet" (a.a.O., S. 124). Anm. d. Hrsg. Vgl. Anm. 22. Anm. d. Hrsg.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
oder sagen kann, daß sie gelten oder zu gelten beanspruchen. Zwar gilt etwa die Identitätsstruktur insofern von allem Seienden, als jegliches Seiende Identität hat. Dies aber ist wiederum nur die Unmittelbarkeitsphase der sich dialektisch auseinander entwickelnden , Wesenheiten' (und der Widerspruch - nicht der Satz des Widerspruchs - dient als Überleitung zum Grund). Nur bei einer unmittelbaren Betrachtungsweise also gilt die Kategorie der Identität. Die wesenslogischen Strukturen oder Struktursachverhalte in dem hier angesprochenen Bereich der Formalität wären demnach insgesamt Kategorien 2. Grades, auf einer eigenen Ebene gelegene kategoriale Bestimmungen - im Unterschied zu den Transzendentalien; 2. Grades auch deshalb, weil sich qualitative und quantitative Seinsbestimmungen entwickeln ließen, ohne diese Kategorien in Anspruch zu nehmen (wie es umgekehrt die Seinslogik [nicht] gestattet relationale Bestimmungen zu formulieren). Die Behauptung, man benötige die Identitätsstruktur schon für die in der qualitativen Seinslogik verhandelten Themen (und dann sicherlich auch für die in der quantitativen Seinslogik verhandelten), wäre nur um den Preis zu akzeptieren, daß Beziehungen wie die Negation des Anderen durch das Eine als solche Identitätsstruktur gesehen werden - und nicht als ein Übergehen über das Andere zu einem Novum. Diese für Hegel doch so entscheidende Vorgehensweise in der Seinslogik müßte abgelehnt werden. Auch wenn man beherzigt, daß die Wesenslogik Grund der Seinslogik ist, und Mängel der Seinslogik auf die Korrektur in der Wesenslogik verweisen - Identität also im vermittelten Verständnis allem Seienden zukommt, weil es sich um eine Wahrheit des Seins handelt -, so bleibt die qualitative Auseinanderfolge durch ,Übergehen', ohne Inanspruchnahme der Identität, eine bedeutsame Entscheidung Hegels. Die Wesenslogik wird gleichsam proto-regional, Vorgestalt einer regionalen Ontologie. Hier ist ein Punkt erreicht, an dem man sich entscheiden muß. Besagt die Hegeische Anlage doch, daß im Seinsidiom Identität nicht ausgesagt werden kann. Ist dies hermeneutisch trivialerweise richtig, so sucht die nichtdialektische Ontologie eine Zusammenschau von Sein und Identität (einer Wesensstruktur also), ohne sich über das Sein hinaus zum Wesen mit deren allerlei anderen thematischen Bestimmungen wie Erscheinung, Substanz usw. weiterleiten lassen zu müssen ([sucht dies] etwa durch Einführung der Transzendentalien und einer Interpretation des Satzes vom Widerspruch wie bei Aristoteles im Buch der Metaphysik). Ein kategoriales Verständnis der wesenslogischen Reflexionsbestimmungen nötigt uns also - angesichts der dialektischen Methode - zu einem speziellen Verständnis dieser Kategorien 2. Grades. Und das verlangt nach weiterer Präzisierung. Hegel billigt nämlich, wie gesagt, die
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Identität als unmittelbare Position, sodann stellt sich aber die Frage, ob Unterschied, Verschiedenheit und Gegensatz gleichfalls von Allem geltende Bestimmungen sind. Zwar wird das in der Anmerkung zu Leibniz bejaht (vgl. II, 38 ff.), erscheint jedoch unmöglich angesichts des gegensätzlichen Inhalts dieser Bestimmungen - es sei denn, und das macht sie erneut zu Kategorien 2. Grades, hier handele es sich nurmehr um Strukturhinsichten. Solche sind auf ihrer Ebene erfüllt, indem entweder die unmittelbare Hinsicht zutrifft oder die differente oder die resultierende (hier: der Widerspruch und dann der Grund63). Man kann demnach sagen: manche Kategorien - die abstrakt-formalen der Wesenslogik, aber gegebenenfalls auch noch andere - sind nicht konstitutiv, sind 2. Grades, insofern sie Beurteilungskategorien sind (etwas nach Unmittelbarkeit, Differenz oder Widerspruch bzw. Schließung zu betrachten). Daher möchten wir zwei Ruhepunkte auszeichnen: Selbständiges [als Ausgangspunkt der Seinslogik] und Analyse von Selbständigem wie in der Identität [als Ausgangspunkt der Wesenslogik]. Oder: es gibt neben den regionalen Kategorien noch proto-regionale - d.h. unter Absehung von Raum und Zeit, bzw. Pluralität [des Seienden] regional aufgefaßte Kategorien. Das nicht bei Ruhepunkten Stehenbleiben-können - wird der Grund sein, weshalb Horstmann eine Deutung der Hegeischen Logik als Kategorienlehre ablehnt:64 keine Kategorie trifft auf alles zu - entweder sind die Kategorien zweiten Grades (Beurteilungskategorien) oder sie sind prinzipbzw. sphärenmäßig regional, gelten also nur vom Bestimmten, und auch dann entgleiten sie uns im Weiterschreiten.65 Dies letztere brauchte allerdings nicht zu hindern, daß es sich um Kategorien handelt: Hegel selbst behandelt z.B. das Endliche als Bestimmtes, durch die entsprechende Kategorie Festgelegtes: es geht zugrunde, statt weiterzuschreiten.66 63
64 65
66
Das heißt unter Absehung von der letzten Bestimmung ab .realer Grund'; allerdings operiert auch der formelle Grund bereits mit einem bestimmten Referenten. Vgl. Kapitel I, Anm. 12. Anm. d. Hrsg. Mit dem Widerspruch - der Anweisung auf Weiterschreiten - ist nämlich kein guter kategorialer Sinn für das Betreffende zu verbinden. Hegels populäre Versuche in der diesbezüglichen Anmerkung (II, 58-62) ändern dies nicht. Allerdings kann Endliches so verstanden werden [als zum Weiterschreiten nicht Befähigtes]. Vgl. I, 75, II, 62 - womit Hegel, so könnte man zu ergänzen versuchen, das Seiende doch nicht einzig auf das .wahrhaft Wirkliche' reduziert (wenngleich dies natürlich nur in der einen letzten Kategorie erreicht ist). - Da die Kontroverse um das in der Logik Entwickelte zentrale Bedeutung hat und im Manuskript wiederholt aufgegriffen wird, seien hier noch drei Stellen ergänzt. Zunächst zwei Zitate aus Horstmanns Arbeit. „Hegel nun nennt seine Theorie des Begriffs oder seine Theorie dessen, was ,in Wahrheit' ist, nicht Ontologie. Sie ist auch tatsächlich keine Ontologie im kategorialanalytischen Sinne", wie etwa bei Kant, „wohl aber Ontologie in dem anderen geläufigen Sinne, dem
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
Ein weiteres Problem stellt sich im Anschluß an Hegels Behandlung des Grundes. Es heißt dort ja: „Wenn alle Bedingungen einer Sache vorhanden sind, so tritt sie in die Existenz" (II, 99).67 Die Abstraktion der Reflexionsbestimmungen im 2. Kapitel der Wesenslogik geht auf dem Wege über den Grund (der auch schon zu konkreter Interpretation einlädt) in die Lösung. Formalität selbst ist als Unvollkommenheit, als bloßer Anfang verstanden, der sich emanzipiert, zur (relativen) Konkretion gelangt. - Ist also die Logik in ihrer Denkbewegung existenzsetzend? Tatsächlich handelt es sich bei der Hegeischen These nicht einfach um eine These vom Existentialsein der Sache, wenn alle Bedingungen vorhanden sind.68 Offensichtlich ist Existenz vielmehr eine zweideutige Bestimmung, die zwischen Existentialsein und proto-regionaler Kategorie steht. Zur Existenz gehören ja Seins- oder Wesensbestimmungen wie Ding und Erscheinung, also Selbständiges in der Progression - gemeint als gegenüber der Wirklichkeit vorläufig Selbständiges. Existenz wäre also ein neuer Seins- oder Seinsstatusbegriff, der kategorial artikuliert wird in Ding und Erscheinung. - Solches hat, so scheint Hegel zu meinen, den Seinsstatus der Existenz als proto-regionale Wesenscharakteristik, Vorgestalt realphilosophischer Verhältnisse. „Die Sache ist, eh' sie existiert"; sie ist schon „als Wesen oder als Unbedingtes"; und sie hat „Dasein oder ist bestimmt" (ebd.). Die vorliegende Äquivokation (vgl. genauer: II, 105) ist bei Hegel nicht aufgelöst, vielmehr spielt er mit ihr in der Weise, daß das Wesen sich scheinbar selbst Existenz gibt - eine innerlogische Analogie zum Sichfrei-Entlassen der Idee als Natur am Ende der Logik. Trotz dieser Suggestion geht dann aber alles kategorial weiter. (Vergleiche die Bemerkung zur modallogischen Deutung des Stückes über die Bedingung [S. 216].)
67 68
zufolge Ontologie gerade die Theorie dessen ist, was ,in Wahrheit' oder .wirklich' ist" (Horstmann, a.a.O., S. 47). „Von hier aus ist es nun kein weiter Weg mehr zu der Einsicht, daß es für Hegel nur ein einziges wirkliches Objekt oder nur einen einzigen Gegenstand in Wahrheit geben kann. Wenn nämlich die einzigen Kandidaten für den Titel .Gegenstand und Wahrheit' oder .wirklicher Gegenstand' die (Hegeischen) Begriffe sind und es sich zeigt, daß es nur einen (Hegeischen) Begriff gibt, dann kann es auch nur einen Gegenstand in Wahrheit oder ein wirkliches Objekt geben" (a.a.O., S. 103). Dazu bemerkt Hartmann in seiner Rezension von Horstmanns Buch: „Was wären aber dann im Verständnis des Autors all die verschiedenen Bestimmungen, die .der' Begriff durchläuft?" (Archiv f. Gesch. d. Philos., 69, II, S. 224). Anm. d. Hrsg. Nicht in E, § 122; dafür heißt es in § 147 sogar: „Wenn alle Bedingungen vorhanden sind, muß die Sache wirklich werden". .Existemialsein' im Sinne einer nicht rein kategorial erfaßbaren oder zu bestimmenden. Realität - und .Existenzsetzung' als Selbstcreation des Grundes zu solchem Sein. Anm. d. Hrsg.
Zweiter Abschnitt. Die Erscheinung
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Zweiter Abschnitt. Die Erscheinung Erstes Kapitel. Die Existenz Die Wesenslogik hat eine neue Einheit erreicht, die Sache als aufgehobener Grund, als Existenz, oder „die Existenz als Existierendes" (II, 105). Hegel erwägt im Gegensatz zum Satz des Grundes der alles als „ein Gesetztes, ein Vermitteltes" hinstellt, einen Satz der Existenz: „Alles, was ist, existiert" (II, 102). - Ist dieser Satz auch falsch,69 so drückt er doch aus, daß die „Wahrheit des Seins [...] nicht ein erstes Unmittelbares, sondern das in die Unmittelbarkeit hervorgegangene Wesen" ist (ebd.). Wird der Satz des Grundes auf Existenz bezogen - also: „was existiert, hat einen Grund und ist bedingt" -, so muß „auch ebenso" der entgegengesetzte Satz gelten: „es hat keinen Grund und ist unbedingt"'; Existenz ist Aufhebung des Grundes und der Vermittlung (ebd.). Weitere Ausführungen Hegels zu den Beweisen „von der Existenz Gottes" können hier fortbleiben (ebd.). Sie legen sich nahe unter dem Gesichtspunkt, daß beim wohlverstandenen ontologischen Beweis der Grund (als Ausgangspunkt für den Beweis) im Erwiesenen verschwindet: „der Grund hebt sich selbst auf, somit verschwindet auch der Schein des Verhältnisses, das Gott gegeben wurde, ein in einem Ändern Begründetes zu sein" (II, 104). Der Fortgang wird nun eben darin bestehen, daß die Wesensstruktur des neuen Unmittelbaren sich zur Geltung bringt, Grund und Begründetes einander wieder reflektieren - auf dem neuen Bestimmungs-Niveau von ,Ding', ,Erscheinung* und ,wesentlichem Verhältnis'. Die kategoriale Botschaft liegt darin, daß gesteigerte oder entwickeltere Wesensfälle verschieden adäquate Sinn-Ansprachen des Seins sind. Die Hegel-interne Suggestion ist darüber hinaus die schon oben berührte, daß das „Wesen als Reflexion in ihm selbst" (II, 7) sich Existenz gebe - und weiter dann Wirklichkeit. [Wir meinen:] Dies darf nicht als ein kosmogonischer Prozeß gelesen werden, handelt es sich doch um die Aufstellung von Kategorien. Es bleibt dann allerdings das ebenfalls schon erörterte Problem, wie Bestimmungen von unselbständig oder Nichtbestehendem in eine Reihe kommen mit solchen von selbständig Bestehendem. Hegel sagt jetzt: „Das Wesen muß erscheinen", wiederum in dem Doppelsinn: muß sich Existenz geben, und muß als Existierendes einen Seinsvordergrund haben (II, 101). Der „Schein [der Reflexionsbestimmungen] Nämlich als einseitiger Ausdruck eines spekulativen Gehalts. Vgl. Anm. 25. Anm. d. Hrsg.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
vervollständigt sich zur Erscheinung" (ebd.). - In seinen einleitenden Gedanken zum zweiten Abschnitt der Wesenslogik, überschrieben „Die Erscheinung"., betont Hegel, daß „die Formbestimmungen" des Wesens an der Existenz „ein Element des selbständigen Bestehens" haben, also die von uns genannte Progression von Reflexionsbestimmungen zur Existenz, ohne sie zu problematisieren (ebd.). Ein selbständiges Bestehen der Formbestimmungen ist offensichtlich das Höhere. Hegel eröffnet den Abschnitt mit weiter ausgreifenden Überlegungen dazu, wie sich das Wesen auf der jetzt angebahnten Ebene zum Sein verhält: „Das Sein ist die absolute Abstraktion"; von dieser Abstraktion heißt es weiter - aus der Perspektive vom Wesen her: „es ist Sein und sonst nichts als Sein nur als diese absolute Negativität. Um derselben willen ist Sein nur als sich aufhebendes Sein" (= Uj), „und ist Wesen" (ebd.). Umgekehrt ist Wesen „als die einfache Gleichheit mit sich" (= U2) „ebenfalls Sein" (ebd.). Das Fazit aus der Seinslogik ist: „Das Sein ist Wesen"; das Fazit aus dem l. Abschnitt der Wesenslogik ist: „Das Wesen ist Sein" (ebd.); soll sagen: Wesen, eben als Existenz (U2), ist zu einer neuen Art des Seins geworden. Die Darstellung Hegels hat etwas Ermüdendes, gewinnt man doch den Eindruck, daß die Strukturen - welche in der theoretischen Durchdringung der Wesenskonzeption mit wieviel Wiederholungen auch immer doch grundlegend und so von hohem Interesse waren - nunmehr einfach iteriert werden zur Erzeugung von neuen kategorialen Titeln. Zwar ist es zweifellos wichtig, daß Kategorien wie Ding oder Existenz Wesensbegriffe sind,70 daß ein an Kant angelehntes Substanz- oder Kausalverständnis ebenso vom Wesen her zu denken ist wie auch ein Aristotelisches Verständnis der Substanz - beides also der Hegeischen Superkategorie , Wesen* zugehört; aber es sind eben diese großen Perspektiven, und nicht das immer iterierte dialektische Detail, was Aufmerksamkeit verdient. Es wird deshalb tunlich sein, den Text stärker als bisher selektiv zu behandeln. Stattdessen muß ein anderer Aspekt in den Vordergrund treten: die Zuordnung von Stadien der Wesenslogik zum Empirismus und zu Kant. Das logische Stadium der Existenz, worin ein unmittelbares Existierendes auf seine Wesensstruktur hin artikuliert wird, eignet sich zur metatheoretischen Darstellung und Problematisierung eines empirischen Gegenstandsbegriffs, wie er bei Locke, aber auch eines solchen, wie er bei Kant vorkommt. Hegels Vorhaben ist hierbei höchst komplex, einmal insofern als eine erkenntnistheoretisch bestimmte Auffassung vom Gegen70
Dies kann etwa erhellend sein für die Frage nach dem Ding-an-sich.
Zweiter Abschnitt. Die Erscheinung
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stand jetzt in eine Ontologie eingebracht wird,71 zum anderen, was die Ordnung der Progression angeht: diese bringt nach einem 1. Kapitel über „Existenz" oder „Ding", wo Lockes Position einzubringen wäre, ein 2. Kapitel „Die Erscheinung", das auf Kants Ansatz zugeschnitten sein könnte - während tatsächlich gerade die Ding-an-sich-Problematik dem 1. Kapitel angehört und die Deutung der Erscheinung sich weit von der Kants entfernt. Hinzukommt, daß - nach der Schließung' im 3. Kapitel „Das wesentliche Verhältnis" - der dritte Abschnitt unter dem Titel „Die Wirklichkeit" vor allem Kantische Themen erneut behandelt, nunmehr affirmativ und ontologisch, so daß die Stücke über .Existenz', .Erscheinung' und .wesentliches Verhältnis' als Vorgestalt dieser Ausführungen zu .Substanz', .Kausalität' und .Wechselwirkung' anzusehen sind: letztere als Topoi, welche Hegel sich reserviert, während Kants Zugang [zur Wirklichkeit] auf den Begriff der Kraft reduziert wird, in Anlehnung wohl an die .metaphysischen Anfangsgründe'. Gewissermaßen wäre die Unvollkommenheit des Empirismus und der Kantischen Transzendentalphilosophie markiert durch ihre Lokalisierung auf der Differenzstufe, dem zweiten Abschnitt, und die Überlegenheit, das Wahrere der Hegelschen Ontologie wiederum (soweit sie Naturdinge betrifft) wäre markiert durch ihre Lokalisierung im abschließenden Teil der Wesenslogik. Man kann fragen, ob all dies - insbesondere also die philosophiehistorischen Zusammenhänge - in eine Ontologie gehören (wie wir die Hegeische Logik ja auffassen). Manche Ausführungen erinnern in ihrem thematischen Detail eher an Theoriekritiken. Dann aber geht es wieder um Kategorien, die Motti der empirischen und insbesondere der Kantischen Philosophie waren, und so fügen sich die Ausführungen Hegels durchaus auch in sein Programm ein: gefragt wird, was es demgemäß besagt, wenn man vorn ,Ding-an-sich' spricht, oder von .Erscheinung', von .Kraft', .Substanz' und .Kausalität'? — Freilich bleibt eine Verwirrung angesichts der geschilderten Komplexität, insbesondere hinsichtlich der Einordnung von Kants transzendentaler Position in die Rubriken wesenslogischer Abfolge; und zumindest bleibt anfangs auch die Frage nach einer Verquickung von philosophiehistorischer und systematischer Argumentation.
71
Dieses Problem löst Hegel mit dem Denkmittel der .äußerlichen Reflexion' (vgl. II, 107) - eine erkenntnistheoretische Variante hatte er selbst in der PG vorgeführt. [Gemeint ist wohl vor allem der Abschnitt A. II „Die Wahrnehmung, das Ding und die Täuschung" sowie A. III „Kraft und Verstand, Erscheinung und übersinnliche Welt" (PG.S. 89 ff. bzw. 102 ff.).]
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
Ding an sieb und Ding [A. Das Ding und seine Eigenschaften] Hegel setzt das „existierende Etwas" mit dem Ding gleich: im Unterschied zum „seienden Etwas" ist es „wesentlich eine solche Unmittelbarkeit, die durch die Reflexion der Vermittlung in sich selbst entstanden ist" (II, 105 f.). Dies Etwas, das als „das Ding und das Existierende [...] unmittelbar eins und dasselbe" ist, kann „von seiner Existenz unterschieden" werden (ebd.). Die Bestimmung der Existenz „zum Dinge und die Unterscheidung beider [ist] nicht ein Übergang, sondern eigentlich eine Analyse, und die Existenz als solche enthält diese Unterscheidung selbst in dem Momente ihrer Vermittlung, - den Unterschied von Ding-an-sich und von äußerlicher Existenz" (ebd.). Nun kann wohl die Kategorie ,Ding' nicht durch Analyse des Begriffs ,Existenz' gefunden werden; wohl aber ist die folgende Untersuchung eine Analyse - eine Aufweisung nämlich der Wesensstruktur im Ding. Danach erweist sich Existenz, d.h. „äußerliche Existenz", als Unmittelbares vom Typ Uj sei, während U2 das „Ding-an-sich" ist.
a) Ding an sich und Existenz Wenn das Ding an sich das „wesentliche Unmittelbare" ist, ihm aber „die Vermittlung ebenso wesentlich" ist, dann besteht Raum für eine dialektische Entwicklung. Die beiden Seiten können als auseinanderfallend gedacht werden: „Die eine Seite" als „die Vermittlung des Dinges,72 ist seine nicht reflektierte Unmittelbarkeit, als so sein Sein überhaupt, das, weil es zugleich als Vermittlung bestimmt ist, ein sich selbst anderes, in sich mannigfaltiges und äußerliches Dasein ist" (II, 106). Es ist „in Beziehung auf die aufgehobene Vermittlung und wesentliche Unmittelbarkeit [...] Dasein als Unwesentliches, als Gesetztsein" (ebd.). - Für die andere Seite gilt: „Das Ding an sich, als das einfache Reflektiertsein der Existenz in sich, ist nicht der Grund des unwesentlichen Daseins; es ist die unbewegte, unbestimmte Einheit" (II, 106 f.). Als „aufgehobene Vermittlung" - Ergebnis des Grundes73 - ist das Ding-an-sich „nur die Grundlage" des „unwesentlichen Daseins" (II, 107). Die Bestimmung seiner „Mannigfaltigkeit" ist Sache der
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73
Offenbar wiederum zu lesen als ,das Vermittelte des Dinges' oder ,das durch Reflexion Bezogene'. Anm. d. Hrsg. Hier aber nach seiner „ersten oder unmittelbaren Existenz" betrachtet (II, 106) - oder nicht als „Negation mit der Negation" (II, 13). Anm. d. Hrsg.
Zweiter Abschnitt. Die Erscheinung
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äußerlichen Reflexion: „Das Ding-an-sich hat Farbe erst an das Auge gebracht, Geruch an die Nase usf." (ebd.). Hegels Bestreben muß es sein, diese Disparatheit vom Ding-an-sich und äußerlichem Dasein zu überwinden, ihre Zusammengehörigkeit darzutun - er spricht davon, daß „beide in der Existenz enthalten", ja daß „beide selbst Existenzen" seien (II, 106). Das Andere des Dings-an-sich „bezieht sich darauf als auf seine absolute Voraussetzung' hat kein „eigenes selbständiges Bestehen, sondern ist erst als Schein gegen dieses" (II, 107). Es ist „der haltlose Gegenstoß seiner in sich selbst", weil es „erst als Beziehung auf das Ding-an-sich" ist, „zugleich aber [...] als das Abstoßen von diesem", will sagen, hervorgehend gedacht aus der Negation des Dings-an-sich als des wesentlichen Unmittelbaren (ebd.). Die äußerliche - nunmehr als wesenslos bestimmte - Reflexion kommt dem Ding-ansich ontologisch nicht zu; sie geht darin zugrunde - oder, gleich ontologisch, die wesenlose Existenz hat ihre Reflexion im Ding-an-sich, mit dem Ergebnis, daß letzteres „identisch mit der äußerlichen Existenz" ist (II, 108). Es wird dem Ding-an-sich „Reflexion in sich selbst" zuerkannt; dieses ist demnach „sich von sich abstoßendes Ding-an-sich, das sich also zu sich als zu einem Ändern verhält. Somit sind nun mehrere Dinge-ansich vorhanden" (ebd.).74 Die äußerliche Reflexion75 „ist nunmehr ein Verhalten der Dinge-ansich zueinander, ihre gegenseitige Vermittlung als anderer" - und zunächst nichts weiteres (ebd.). „Dieser ihr Unterschied fällt nur in ihre Beziehung; sie schicken gleichsam nur von ihrer Oberfläche Bestimmungen in die Beziehung, gegen welche sie als absolut in sich reflektierte gleichgültig bleiben" (ebd.). Hegel verknüpft als „unwesentliche Existenz des Dings" (II, 106) den Inhalt, welchen die äußerliche Reflexion den Dingen-an-sich zudenkt, mit deren gegenseitiger Bestimmung. Was aber letzteres angeht, so sind „die beiden Dinge-an-sich, da sie hiemit nicht die Verschiedenheit an ihnen selbst haben, sondern jedes nur an dem ändern, [...] keine unterschiedene^]" (II, 109). - „Die beiden Dinge-an sich [...] fallen in der Tat in eins zusammen, es ist nur Ein Ding-an-sich, das in der äußerlichen Reflexion sich zu sich selbst verhält, und es ist dessen eigene Beziehung auf sich als auf ein anderes, was dessen Bestimmtheit aus74
75
Hinzugefügt sei, daß die zugestandene Vorhandenheit von „mehreren Dingen-an-sich" nach Hartmanns Lesart keine Behauptung existentialer Pluralität ist (welche in die Logik nicht gehört). Die Außenbestimmtheit des Dinges-an-sich wird auf der hier angebahnten nächsten Vermittlungsstufe lediglich verlegt (oder .ontologisiert') - von den gewissermaßen transzendentalen „Rücksichten, welche ein Anderes nimmt" (II, 107) zu einem Widerschein „aus dem Ändern" (II, 108). Anm. d. Hrsg. Diese .äußerliche' Reflexion wird im folgenden zu einer .wesentlichen'. Anm. d. Hrsg.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
macht" (ebd.). Wir sind nach dem Umweg über die mehreren Dinge-ansich offenbar wieder beim einen Ding angelangt sind und bei dem in äußerlicher Reflexion ihm Zugehörigen - nur daß Hegel meint, dies Zugehörige sei jetzt nicht mehr einfach Schein, sondern „Eigenschaft" (ebd.). Die geschilderte Bewegung vom Ding-an-sich zum Ding mit Eigenschaft (oder Eigenschaften) ist prekär auf Grund der äußerlichen Reflexion, die hineingenommen, wieder herausgenommen, dann aber doch verbindlich wird für den Nicht-Ansich-Status dessen, wovon die Rede ist. b) Die Eigenschaft Die neue Plattform ist also das Ding-an-sich mit Eigenschaft (oder Eigenschaften). „Die Eigenschaft des Dings [ist] die Negativität der Reflexion, wodurch die Existenz überhaupt ein Existierendes, und, als einfache Identität mit sich, Ding-an-sich ist" (ebd.) Im Unterschied zur Qualität in der Seinslogik - als „die unmittelbare Bestimmtheit des Etwas, das Negative selbst, wodurch das Sein Etwas ist" - bedeutet die Negativität der Reflexion „wesentlich selbst Vermittlung und Beziehung, nicht auf ein Anderes überhaupt [...], sondern Beziehung auf sich als auf ein Anderes oder Vermittlung, die unmittelbar ebensosehr Identität mit sich ist" (ebd.). Im Unterschied also zur Qualität - als „nicht reflektierte Bestimmtheit" - ist die Bestimmtheit des Dings-an-sich „Beschaffenheit, die als solche selbst Bestimmung ist und als Verhalten zu Anderem nicht in das Anderssein übergeht und der Veränderung entnommen ist" (II, 109 f.). D.h., die Eigenschaft bleibt Wesensinhalt des Dings-an-sich. Hegel setzt die Eigenschaft plural und sieht sie als die „bestimmten Beziehungen" eines Dings „auf anderes" (II, 110). Das Ding aber „erhält sich in der Beziehung auf anderes;" es ist also wieder „nur eine Oberfläche, mit der die Existenz sich dem Werden des Seins und der Veränderung preisgibt; die Eigenschaft verliert sich darin nicht": „eigentümliche" Bestimmung und Relation auf andere Dinge - beides liegt zusammen vor (ebd.). „Das Ding wird durch seine Eigenschaften Ursache" - wenn auch noch in einer Vorgestalt: „Jedoch ist hier das Ding nur erst das ruhige Ding von vielen Eigenschaften, noch nicht als wirkliche Ursache bestimmt; es ist nur erst die ansichseiende, noch nicht selbst die setzende Reflexion seiner Bestimmungen" (ebd.). Die Eigenschaften des Dings sind nicht nur durch die äußerliche Reflexion zugedachte Bestimmungen, und so ist das Ding „nicht eine jenseits seiner äußerlichen Existenz befindliche bestimmungslose Grundlage, sondern ist in seinen Eigenschaften als Grund vorhanden" (ebd.). Dies aber ist nicht so zu nehmen, daß das Ding „überhaupt als Grund seiner Eigenschaften bestimmt sei" (II,
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111). Vielmehr gilt,76 daß „die Eigenschaft selbst als solche [...] der Grund" ist (ebd.). - „Das Ding-an-sich existiert also wesentlich, und daß es existiert, heißt umgekehrt: die Existenz ist als äußerliche Unmittelbarkeit zugleich Ansichsein" (ebd.). Anmerkung. Das Ding-an-sich des transzendentalen Idealismus Hegel bringt das so bestimmte Ding-an-sich in Beziehung zu einem Kantisch verstandenen, bei dem „alle Bestimmtheit der Dinge sowohl der Form als dem Inhalte nach in das Bewußtsein verlegt ist" (II, 111). Dem steht sein Standpunkt entgegen, wonach „Ich [...] jene mannigfaltigen und notwendigen Bestimmungen von mir abtrenne und sie als ein für mich Äußerliches, nur den Dingen Zukommendes erkenne" (II, 111 f.). In dieser ontologischen Aufarbeitung von Kants erkenntnistheoretischem Standpunkt tritt an die Stelle des Bewußtseins die äußerliche Reflexion. Das von ihr Bestimmte wird „zur eigenen Bestimmung jenes ersten Dinges-ansich" - doch sichert der Charakter des Äußerlichen die Vorläufigkeit des Stadiums, auf dem wir uns befinden (II, 112). Hegel wird weiterschreiten im Unterschied zu „jener Philosophie", welche „an dem abstrakten Dingean-sich als einer letzten Bestimmung festhält" (ebd.). c) Die Wechselwirkung der Dinge Hegel geht dabei den Weg, wieder auf „mehrere Dinge" zu verweisen, die „durch ein Ding, das Eigenschaften hat", gegeben seien (ebd.). „Diese mehrern verschiedenen Dinge stehen in wesentlicher Wechselwirkung durch ihre Eigenschaften" (II, 113). Dinge-an-sich sind nicht mehr die „Extreme", vermittelt durch die Eigenschaft als „Mitte der Dinge-ansich", welch letztere als Extreme „gleichgültig gegen diese ihre Beziehung bleiben sollten" (ebd.). Die Eigenschaft ist „das Seihständige seihst", und das Ding hingegen nicht mehr das (wenn auch abstrakte) Wesentliche, sondern „zu einer gleichgültigen äußerlichen Form der Eigenschaft bestimmt" (II, 114). Eigenschaften, so verselbständigt, heißen bei Hegel „Materien, und das Ding besteht aus ihnen" (ebd.).
76
Als Ausdruck des erreichten Vermittlungszusammenhangs. Anm. d. Hrsg.
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B. Das Bestehen des Dings ans Materien Wir haben also die Differenzstufe erreicht, in der das Ding zerrieben, seiner Auflösung entgegengeführt wird. Dies wäre die ontologische Entsprechung der Lockeschen im erkenntnistheoretischen Zusammenhang entwikkelten Skepsis hinsichtlich der Substanz - als einem „I know not what" gegenüber den Ideen (d.h. Sinnesdaten), welche wir allein vor uns haben.77 Hegel ist der Meinung, daß mit der Rede von Materien (die er exemplifiziert mit Stoffen, wie sie Gegenstand der Naturwissenschaft, insbesondere der Chemie sind) das negative Moment des Dings „sich erstens erbalten" habe, „denn die Eigenschaft ist nur insofern mit sich kontinuierlich und selbständige Materie geworden, als sich der Unterschied der Dinge aufgehoben hat; die Kontinuität der Eigenschaft in das Anderssein enthält selbst das Moment des Negativen, und ihre Selbständigkeit ist zugleich diese negative Einheit das wiederhergestellte Etwas der Dingheit; die negative Selbständigkeit gegen die positive des Stoffes" (II, 115).78 Hegel fährt fort: „Zweitens ist hiedurch das Ding aus seiner Unbestimmtheit zur vollkommenen Bestimmtheit gediehen [...]; es ist an sich bestimmt oder dieses Ding" - eine Wendung, die nur schwer zu rechtfertigen ist (ebd.). „Aber drittens", so heißt es dann auch gleich weiter, „das 77
78
Vgl. den Essay, insbesondere das 23. Kapitel - „Über unsere komplexen Ideen von Substanzen" - wo es etwa zum Schluß des 3. Paragraphen heißt, „daß die Substanz immer als etwas Besonderes neben der Ausdehnung, der Gestalt, der Festigkeit, der Bewegung, dem Denken oder den anderen wahrnehmbaren Ideen gedacht wird, obwohl wir nicht wissen, was sie ist. Wenn wir demnach von irgendeiner besonderen Art körperlicher Substanzen [...] reden oder daran denken, so ist zwar unsere Idee von jeder einzelnen von ihnen nur eine Zusammenfassung oder Verbindung der verschiedenen einfachen Ideen von sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten, die wir [...] vorzufinden gewöhnt sind. Weil wir es uns aber nicht vorstellen können, wie sie selbständig oder eine in der anderen sollten bestehen können, so nehmen wir an, daß sie in einem gemeinsamen Gegenstand existieren und von ihm getragen werden. Diese Stütze bezeichnen wir mit dem Namen Substanz, obgleich wir offenbar keine klare oder deutliche Idee von dem Ding haben, das wir uns als Träger denken" (John Locke, An Essay concerning Human Understanding, Oxford 1975; zitiert nach der deutschen Übertragung durch C. Winckler, Hamburg 31976). Anm. d. Hrsg. Der Akzent verschiebt sich also vom Unterschied der Dinge in den Eigenschaften zu deren Kontinuität in der materiellen Grundlage. Wie bei jedem Abschnitt oder Unterabschnitt der Wesenslogik verlagert sich damit das Gewicht über die .Differenz' zur .Schließung' hin auf die .Seinsseite' (oder richtiger: Seite des Scheins), welche das ursprünglich dominante Formmoment mit einbegreift oder .aufhebt'. - Ergänzt sei noch, daß sich Hegel hier (wie schon zuvor und im folgenden vermehrt) auch mit den diversen .Äthern' auseinandersetzt. Er selbst spricht dabei von .Stoffen', die das, was er als .äußere Reflexion' am Ding bezeichnet, auf materielle Weise zu erklären suchten: „Lichtstoff, Färbestoff, Riechstoff, sauren, bittern usf. Stoff [...], die elektrische, magnetische Materie" (II, 114). Anm. d. Hrsg.
Zweiter Abschnitt. Die Erscheinung
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Ding als dieses ist [...] zwar vollkommene Bestimmtheit, aber es ist dies die Bestimmtheit im Elemente der Unwesentlichkeit. [...] Das Diese macht also so die vollkommene Bestimmtheit des Dinges aus, daß sie zugleich eine äußerliche ist" (II, 116). Dem entspricht die Selbständigkeit der Materien, aus denen dieses Ding besteht.79 Das Ding ist „eine bloße Sammlung" von Materien, „das Auch derselben" als deren bloß quantitativer und nicht von einem Grund her bestimmter Zusammenhang, so könnte man sagen (II, 117); „und der Unterschied eines Dinges von ändern beruht darauf, ob mehrere der besondern Materien und in welcher Menge sie sich in ihm befinden" (II, 116). C. Die Auflösung des Dings Das Ding ist „in seiner absoluten Bestimmtheit, wodurch es dieses ist, das schlechthin auflösbare". Es ist das ^Auch" der Materien, aber wiederum „nicht nur [...] die Beziehung derselben als gegeneinander gleichgültiger, - sondern ebensosehr ihre negative Beziehung; um ihrer Bestimmtheit [willen] sind die Materien selbst diese ihre negative Reflexion, welche die Punktualität des Dinges ist" (II, 118). In Hegels anachronistischer Ausdrucksweise: „die Materien sind daher wesentlich^oro's, so daß die eine besteht in den Poren oder in dem Nichtbestehen der ändern; aber diese ändern sind selbst porös; in ihren Poren oder ihrem Nichtbestehen besteht auch die erste und alle die übrigen [...] Das Ding ist daher die sich widersprechende Vermittlung des selbständigen Bestehens mit sich durch sein Gegenteil, nämlich durch seine Negation, oder einer selbständigen Materie durch das Bestehen und Nichtbestehen einer ändern" (II, 118 f.). - Hegels Fazit: „die Existenz hat in diesem Dinge ihre Vollständigkeit erreicht, nämlich in Einem an sich seiendes Sein oder seihständiges Bestehen, und unwesentliche Existenz zu sein; die Wahrheit der Existenz ist daher, ihr Ansichsein in der Unwesentlichkeit oder ihr Bestehen in einem Ändern und zwar dem absolut Ändern, oder zu ihrer Grundlage ihre Nichtigkeit zu haben. Sie ist daher Erscheinung" (II, 119). Anmerkung. Die Porosität der Materien Hegel geht hier genauer ein auf das mit dieser Bestimmung angesprochene „selbständige Bestehen der Materien ineinander als in Einem", wobei „jedes ununterbrochen durch das andere mit sich kontinuierlich bleibt 79
Es handelt sich also um die ontologische Nachkonstruktion des .Dieses' in der Phänomenologie des Geistes. [Wohl ein Versehen Hartmanns; vgl. Anm. 71.]
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
und sich in seiner Druchdringung mit den ändern gleichgültig gegen sie erhält. -[...] Dies ist widersprechend; aber das Ding ist nichts anderes als dieser Widerspruch selbst; darum ist es Erscheinung" (II, 121). Interessant sind Ausführungen zu den „Seelenkräften oder Seelenvermögen'\ die in der Vorstellung „gleich indifferent gegeneinander angenommen [werden] als jene Materien. Aber der Geist ist nicht jener Widerspruch, welcher das Ding ist, das sich auflöst und in Erscheinung übergeht" - das Verständnis einer Einheit solcher Vermögen ist vielmehr Teil der Begriffslogik, wo sie sich „nur als besondere Momente im Subjekte" erweisen werden (II 121 f.).
Ding-an-sich und Ding [eine erste Wertung] Was ist von Hegels Betrachtung des Dings und Dings-an-sich zu halten? Es muß dabei einerseits die Architektur der Theorie berücksichtigt werden, welche bereits eine Auseinandersetzung mit den Positionen Kants (und Lockes) darstellt - und worüber oben (im einleitenden Abschnitt zur ,Erscheinung') bereits geschrieben wurde. Ein Urteil muß demnach im Grunde vertagt werden, bis ,Erscheinung' und wesentliches Verhältnis' behandelt sind - womit sich dann zugleich das Problem dieser Theorieanlage stellt, nach der Hegel den Gegenstand der äußerlichen Reflexion kategorial gewissermaßen mehrfach einordnet. Aber schon hier läßt sich zu Hegels Progression Folgendes festhalten. Es versteht sich, daß das Ding, wenn es der Wesensstruktur unterliegt, als antinomisch erscheint: immer kann man Grund und Äußerlichkeit unterscheiden und verschieden betonen; was übrig bleibt, ist die Abfolge nach architektonischen Gesichtspunkten wie Unmittelbarkeit, Differenz und Schließung. Es wird insgesamt nur gesagt, daß die Kategorie ,Ding', definiert gedacht durch ein Stadium der Wesenslogik, keine Kategorie ist, welche Bestand hat. Man muß letztlich zur Kategorie der Wirklichkeit übergehen. - Als ein solcher Nachweis, daß wir das Ding nicht völlig verstehen, kann die Hegeische Darstellung hingehen, wenn sich zeigen läßt, daß in anderen Kategorien die Schwierigkeiten besser zu bewältigen sind. Doch ist das Fortschreiten durch die unterstellte Wesenskonzeption bestimmt,80 der Gang von Unmittelbarkeit (Ding-an-sich) zu Differenz (Materie) also rein kategorial.
80
Und nicht durch die vorangegangenen theorielogischen oder -kritschen Überlegungen. Anm. d. Hrsg.
Zweiter Abschnitt. Die Erscheinung
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Zweites Kapitel. Die Erscheinung Die neue Kategorie beinhaltet eine Akzentverschiebung innerhalb der Konzeption von Existenz: das Ansichsein liegt jetzt auf der Stufe der unwesentlichen Existenz.81 In die Kategorie .Erscheinung' ist gesetzt, daß die Existenz „diese reflektierte Unmittelbarkeit" ist, „insofern sie" [die Existenz] „an ihr selbst absolute Negativität ist" (II, 122). Wir befinden uns auf dem Höhepunkt der Differenzstufe des Wesens. Das Wesen ist „nunmehr realer Schein, indem die Momente des Scheins Existenz haben. [...] Dagegen ist die unmittelbare Selbständigkeit, die der Existenz zukommt, ihrerseits zum Momente herabgesetzt. Die Erscheinung ist daher Einheit des Scheins und der Existenz" (II, 123). Das gibt Raum für eine dialektische Entwicklung, die wieder dem Wesen als Reflexion gegenüber dem Wesen als Uj Geltung verschafft. Das hier als Schein und Existenz Entwickelte schien auch vom Ding schon gesagt werden zu können. Hegel meint jedoch, das Ding sei zwar „Beginn der reflektierten Existenz", aber „eine Unmittelbarkeit, die noch nicht gesetzt ist als wesentliche oder reflektierte" (II, 132). Letzteres ist offenbar erst mit der Kategorie ,Erscheinung* gegeben.82
A. Das Gesetz der Erscheinung Die nähere Bestimmung der Erscheinung (bis hin zu ihrer begrifflichen Destruktion [oder Aufhebung]) bewegt sich in dem Zusammenhang von [einerseits] Selbständigkeit der unter ,Erscheinung' gemeinten Existenz und [andererseits] deren Bezogenheit auf einen Grund. Hegel verwendet eine ähnliche Formel wie bei der ersten Charakterisierung des Wesens - „Rückkehr des Nichts durch Nichts zu sich selbst zurück" (II, 124, vgl. II, 13). „Die Selbständigkeit des Existierenden ist daher nur der wesentliche Schein. Der Zusammenhang des sich gegenseitig begründen-
81
82
Die Erscheinung ist „Einheit des Scheins und der Existenz" (II, 123); „unwesentlich" ist die Existenz in der Abstraktion von ihrer Erscheinung. Es müßte demnach heißen: das Ansichsein, die Erscheinung, bedeutet jetzt „die höhere Wahrheit" gegen „die unmittelbare Existenz" (II, 123). Anm. d. Hrsg. So sehr man sieht, daß Hegel alle einschlägigen Begriffe einbeziehen will so ist doch seine Einteilung nach Ding und Erscheinung irgendwie unstimmig. Soll man sagen, unter dem Motto Erscheinung kämen keine Dinge mehr vor? Doch. [So heißt es gleich anschließend an die im Text zitierte Stelle: „Die Dinge erst, als Dinge einer ändern, übersinnlichen Welt sind gesetzt [...] als wahrhafte Existenzen" (II, 132).]
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
den Existierenden besteht darum in dieser gegenseitigen Negation, daß das Bestehen des einen nicht das Bestehen des ändern, sondern dessen Gesetztsein ist, welche Beziehung des Gesetztseins allein ihr Bestehen ausmacht" (II, 124 f.). Der Grund ist „ein Erstes [...], das nur ein Vorausgesetztes ist" (II, 125). Hegel unterstreicht erneut die wechselseitige Bezogenheit in der Erscheinung des Existierenden: „es ist nicht Gesetztsein gegen einen wesentlichen Grund, oder ist nicht der Schein an einem Selbständigen, sondern ist Gesetztsein, das sich auf ein Gesetztsein bezieht" (ebd.). Der „wesentliche Inhalt der Erscheinung" hat dann „zwei Seiten [...], erstens in der Form des Gesetztseins oder der äußerlichen Unmittelbarkeit, zweitens das Gesetztsein als mit sich Identisches [...]. Nach der ersten Seite ist er als ein Dasein, aber als ein zufälliges, unwesentliches, das nach seiner Unmittelbarkeit dem Übergehen, Entstehen und Vergehen unterworfen ist. Nach der ändern Seite ist er die einfache, jenem Wechsel entnommene Inhaltsbestimmung, das Bleibende desselben" (ebd.). Der Inhalt als bleibender ist „bestimmter, in sich verschiedender Inhalt" (ebd.). Somit stehen sich gegenüber „seiende vielfache Verschiedenheit, die sich in unwesentlicher Mannigfaltigkeit herumwirft", und „ihr reflektierter Inhalt", in dem die „Mannigfaltigkeit auf den einfachen Unterschied reduziert" ist (ebd.). Gemeint ist mit diesem reflektierten Inhalt das „Gesetz der Erscheinung" (II, 126). Was dessen „vollständige Bestimmtheit" als „das Wesentliche der Erscheinung" ausmacht, charaktersiert es zugleich als das dem „Wechsel entnommene [...] Bleibende" - nämlich die wechselseitige Bezogenheit seiner (bei Hegel immer: zwei) Variablen: „eines und sein Anderes. In der Erscheinung hat jedes dieser beiden sein Bestehen so in dem Ändern, daß es zugleich nur in dessen Nichtbestehen ist. Dieser Widerspruch hebt sich auf, und die Reflexion desselben in sich ist die Identität ihres beiderseitigen Bestehens, daß das Gesetztsein des Einen auch das Gesetztsein des Ändern ist. Sie machen Ein Bestehen aus, zugleich als verschiedener, gegeneinander gleichgültiger Inhalt" (II, 125 f.). Die Aufstellung der Bestimmung .Gesetz' ist auf ihre Plausibilität zu befragen. Man versteht, daß der Grund jetzt bestimmten Inhalt haben soll; aber offenbar handelt es sich hier, wie im Fall der Endlichkeit, um eine Verquickung metatheoretischer und thematischer Momente: die Gegenüberstellung von der „seienden vielfachen Verschiedenheit, die sich in unwesentlicher Mannigfaltigkeit herumwirft" mit dem „Bleibenden" führt nur unter Einbeziehung regional-ontologischer Gesichtspunkte darauf, daß das Gesetz der ruhende Pol sei gegen solche Ver-
Zweiter Abschnitt. Die Erscheinung
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schiedenheit - ein Fund, der ebensogut erfüllt wäre durch ein Substrat.83 Die Erscheinung wechselt - etwas besteht, indem ein Anderes nicht besteht. Darin enthalten ist jedoch „auch das Bleiben oder das Gesetz; denn jedes der beiden existiert in jenem Aufheben des Ändern, und ihr Gesetztsein als ihre Negativität ist zugleich das identische, positive Gesetztsein beider" (II, 126). Wesenslogisch ist zu unterscheiden zwischen einfacher oder unreflektierter Unmittelbarkeit und Reflexion auf das Gesetz (was beim Ding noch zur Auflösung führte84). In der Erscheinung besteht eine „Identität des Erscheinenden als Gesetztseins mit sich in seinen ändern Gesetztsein" (ebd.).85 Und „diese reflektierte Unmittelbarkeit [ist] selbst bestimmt als das Gesetztsein gegen die seiende Unmittelbarkeit der Existenz" (ebd.). - Hegel weist auf den Sinn des deutschen Wortes „Gesetz" hin, welches „diese Bestimmung gleichfalls" enthält (ebd.). Die „beiden Seiten des Unterschiedes, die das Gesetz enthält", sind als verschiedene „einfache, sich auf sich beziehende Inhaltsbestimmungen. Aber ebensosehr ist keine für sich unmittelbar, sondern jede ist wesentlich Gesetztsein oder ist nur, insofern die andere ist" (II, 126 f.). Insofern es sich um ein Reflexionsverhältnis handelt, muß aber noch eine Identität vorliegen von Erscheinung und ihrer Reflexion. Diese aber ist gewährleistet, insofern „die Reflexion der Erscheinung, wodurch dieser Unterschied ist", zugleich „auch die wesentliche Identität der Erscheinung selbst und ihrer Reflexion" ist, „also ein Inhalt, der sich aus der Erscheinung in das Gesetz kontinuiert" (II, 127).86 Damit ist der Inhalt des Gesetzes Grundlage - nicht im strengen Sinn Grund —, weil die Erscheinung über denselben Inhalt hinaus den „unwesentlichen Inhalt ihres unmittelbaren Seins" enthält (ebd.). Dem Inhalt 83
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Wie etwa das „Ding-an-sich" des „transzendentalen Idealismus" (II, 111). Anm. d. Hrsg. Die Reflexion auf .seine Eigenschaften' führte beim ,Ding' zu dessen Auflösung. Anm. d. Hrsg. Bei „Identität des Erscheinenden als Gesetztsein" liegt die Betonung immer auf „als Gesetztsein". Denn die Größen des Gesetzes sind als unterschiedene Momente des Erscheinenden .identisch' nur in ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander. Anm. d. Hrsg. Man beachte, daß hier von drei Vermittlungen die Rede ist. 1. Die „negative" Vermittlung (II, 126) der „im unruhigen Wechsel" (II, 128) aufeinander bezogenen Inhalte des Erscheinenden. 2. Die Vermittlung des so Erscheinenden durch seine Negation in das „Gesetz der Erscheinung" (II, 124). 3. Die „positive" Vermittlung der „Inhaltsbestimmungen" oder Größen des Erscheinenden im Gesetz - .positiv', insofern die eine nicht Komplement oder Negat der anderen ist (II, 128 f.). Gerade als dieser „ruhige Inhalt" aber bringt das Gesetz die „objektive Notwendigkeit" des wechselseitigen Bezugs noch nicht zum Ausdruck - vergleiche das Folgende (II, 128 f.). Anm. d. Hrsg.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
der Erscheinung - wo sich Inhalt und Inhalt in ihrem Bestehen verdrängen - steht der wesentliche Inhalt mit seiner Identitätsbindung des wechselseitig Gesetzten gegenüber. - Das Gesetz ist in der Erscheinung gegenwärtig, ist „das ruhige Abbild der existierenden oder erscheinenden Welt" (ebd.). Hegel realisiert, daß beide vielmehr „Eine Totalität" sind (ebd.). „Das Gesetz ist also die wesentliche Erscheinung; es ist die Reflexion derselben in sich in ihrem Gesetztsein, der identische Inhalt seiner und der unwesentlichen Existenz" (II, 128). Daraus aber entwickelt sich nun die Differenz: die Beziehung zwischen Gesetz und Erscheinung ist „nur erst die unmittelbare, einfache Identität und das Gesetz ist gleichgültig gegen seine Existenz; die Erscheinung hat noch einen ändern Inhalt gegen den Inhalt des Gesetzes. Jener ist zwar der unwesentliche und das Zurückgehen in diesen; aber für das Gesetz ist er ein Erstes, das nicht durch dieses gesetzt ist; er ist daher als Inhalt äußerlich mit dem Gesetz verbunden" (ebd.). Somit erweist sich die Erscheinung gegen das Gesetz als „die Totalität, denn sie enthält das Gesetz, aber auch noch mehr, nämlich das Moment der sich selbst bewegenden Form" (ebd.). - Dieser Mangel sei auch „am Gesetze so vorhanden, daß [...] die Identität seiner Seiten miteinander nur erst eine unmittelbare und damit innere?7 oder noch nicht notwendige ist" (ebd.). Beispiel ist das Fallgesetz, wo „die Raumgröße und die Zeitgröße" in der Formel nicht so verbunden sind, daß „die eine an ihr selbst ihre andere enthielte" ( , 129).88 Die Verbindung der Größen „wird aus der Erfahrung erkannt", nicht als notwendig eingesehen (ebd.). „Das Gesetz ist daher wohl die wesentliche Form, aber noch nicht die in ihre Seiten als Inhalt reflektierte, reale Form" (ebd.).
B. Die erscheinende und die an sich seiende Welt Nun werden Gesetz und Erscheinung opponiert, und zwar unter Totalitätsperspektive: die Erscheinung gilt als „erscheinende Welt" und das Gesetz als „Reich von Gesetzen" (ebd.). Ihr Reflexions-Verhältnis ist für den „nichtigen Inhalt" des „mannigfaltigen Daseins" einerseits „Auflösung", zugleich aber für das Erscheinende ein Zusammengehen „mit sich selbst" (II, 129 f.). Der Inhalt „hängt in sich zusammen [...] Er ist in ein 87 88
.Innern' heißt bei Hegel immer: .unbezogen', .unreflektiert'. Anm. d. Hrsg. D.h., es ergibt sich nicht notwendig, sondern bloß aus der Abstraktion empirischer Beobachtung, daß die durchfallenen Strecken gerade dem Quadrat der dazu benötigten Zeit proportional sind. Anm. d. Hrsg.
Zweiter Abschnitt. Die Erscheinung
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Anderes reflektiert; dies Andere ist selbst eine Existenz der Erscheinung; die erscheinenden Dinge haben ihre Gründe und Bedingungen an ändern erscheinenden Dingen" (II, 130). „In der Tat aber ist das Gesetz auch das Andere der Erscheinung als solcher und ihre negative Reflexion als in ihr Anderes" (ebd.). Dem entspricht, daß das Gesetz - darin identisch mit der Erscheinung - nun in sich reflektiert ist (d.h. die eine Seite seines Inhalts auf die andere). Man sieht, daß Hegel keinen Anstoß nimmt Strukturanalogien zu behaupten, gleichgültig ob sie Selbständiges oder Unselbständiges betreffen. Hier stehen sich in einer Figur Selbständiges (Erscheinung) und Unselbständiges (Gesetz) gegenüber.89- „Die Reflexion-in-sich der Erscheinung, das Gesetz", ist nicht nur die „identische Grundlage" [der Erscheinung], „sondern sie hat an ihm ihren Gegensatz, und es ist ihre negative Einheit". „Dadurch hat sich nun die Bestimmung des Gesetzes an ihm selbst verändert" (ebd.). Der „negativen Reflexion" von Erscheinungsinhalten entspricht im Gesetz die wechselseitige Bezogenheit „seiner Seiten" (ebd.). Damit ist jede „nicht nur das Gesetztsein ihrer, sondern auch der ändern, oder jede ist selbst diese negative Einheit" (II, 131). Und „so ist die Identität des Gesetzes nunmehr auch eine gesetzte und reale" - ,real£ im selben Sinne wie beim Grund, hier aber in der Abstraktion des Gesetzes (ebd.). Für letzteres bedeutet dies nicht, wie man vielleicht meint, eine Vollkommenheit, sondern einen Mangel; das Gesetz hat „das mangelnde Moment" erhalten, „das vorhin noch der Erscheinung angehörte" - insofern es „nun auch das Moment der Unwesentlichkeit [...] enthält", wenn auch „als die reflektierte, an sich seiende Unwesentlichkeit, d.h. als die -wesentliche Negativität" (ebd.).90 Damit aber ist das, „was vorher Gesetz war, [...] nicht mehr nur Eine Seite des Ganzen, dessen andere die Erscheinung als solches war, sondern ist selbst das Ganze" (ebd.). „Das Gesetz ist als unmittelbarer Inhalt, bestimmt überhaupt, unterschieden von ändern Gesetzen, und es gibt deren eine unbestimmbare Menge. Aber indem es die wesentliche Negativität nun an ihm selbst hat, enthält es nicht mehr eine solche nur gleichgültige, zufällige Inhaltbestimmung; sondern sein Inhalt ist alle Bestimmtheit überhaupt in wesentlicher, sich zur Totalität machender Beziehung. So ist die in sich reflektierte Erscheinung
89
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Das Gesetz - „die Grundlage, nicht der Grund" von Erscheinung (II, 130) - als unselbständig zu bezeichnen, kann man damit rechtfertigen, daß es „aus der Erfahrung erkannt" wird (II, 129). Anm. d. Hrsg. Oder „das Reich der Gesetze" enthält als totale Reflexion von der existierenden Welt „auch das Moment ihrer wesenlosen Mannigfaltigkeit" (II, 131). Hartmann notiert hierzu: „ein nicht sinnvoller Gedanke, der den Untergang von Gesetztsein durch die Gesetze macht". Anm. d. Hrsg.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
nun eine Welt, die sich als an und für sich seiende über der erscheinenden Welt au/tut" (ebd.)·91 Hegel spricht von dieser „an und für sich seienden Welt" als einer „übersinnlichen" (II, 132). „Die Dinge erst, als Dinge einer ändern, übersinnlichen Welt" - d.h. als in der sinnlichen auf die übersinnliche Welt Bezogene - sind gesetzt „als wahrhafte Existenzen und [...] als das Wahre gegen das Seiende" (ebd.). Dinge sind reflektierte Existenzen, das war schon vorher gemeint, nur noch nicht gesetzt. - Und man kann wieder fragen, ob der Bezug auf Gesetze zwingend ist, oder ob nicht der Bezug auf ein erstes Substrat genügt, wie wir schon erwogen hatten. Hegel thematisiert erneut den Gegensatz - hier der beiden Welten. „Nämlich in der Identität beider Welten, und indem die eine der Form nach bestimmt ist als die wesentliche und die andere als dieselbe, aber als gesetzte und unwesentliche, hat sich zwar die Grundbeziehung wiederhergestellt", aber zugleich als „das Negative" der erscheinenden Welt, als „entgegengesetzte Welt", d.h., der Inhalt ist wieder auch nicht-identisch (II, 133). - Dies wird eben damit in Verbindung gebracht, daß das Gesetz an ihm selbst Seiten hat, wobei „jede der beiden Seiten des Gesetzes [...] in der negativen Einheit an ihr selbst ihr anderer Inhalt" ist, so daß die beiden Seiten an der anderen „ihr Anderes" hat, beide Seiten also in einem Reflexionsverhältnis „entgegengesetzte" sind (ebd.). „Indem das Reich der Gesetze nun dies negative Moment und den Gegensatz an ihm hat und sich somit, als die Totalität, von sich selbst in eine an und für sich seiende und eine erscheinende Welt" abstößt, herrscht zwischen beiden Welten „die wesentliche Beziehung der Entgegensetzung" (II, 133 f.). Dieses Stück Herleitung erscheint schlicht fehlerhaft: es befremdet ein Sich-Abstoßen auf Grund der gesetzesinternen Relation zwischen Seiten oder Variablen. Das Gesetz mag, wesenslogisch gesehen, Negativität sein und im Hegeischen Negationskalkül auf eine Peripherie verweisen, aber diese Tugend hat es nicht auf Grund einer gesetzesinternen Relation von Variablen.92 91
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Hartmann notiert im Zusammenhang mit Hegels Rede vom Gesetz als der „Einen Seite des Ganzen" (II, 131): „bei einem ganzen ,Reich der Gesetze' kann man wohl nicht von den .beiden Seiten' sprechen". Es scheint aber doch, das Reich der Gesetze stelle die „an und für sich seiende Welt" so dar, daß jedes einzelne die sich „zur Totalität machenden Beziehung" repräsentiert (II, 131). Anm. d. Hrsg. Hartmann notiert hier: „Die Enzyklopädie vermeidet das. Anm. hierzu". Da dies nicht mehr ausgeführt wurde, sei eine Ergänzung versucht. - Nachdem der „Grund" - als letzte der „reinen Reflexionsbestimmungen" (wie erwähnt unter Auslassung des Widerspruchs) — ohne weitere Zwischenschritte zur „Existenz" übergegangen ist, ordnet die Enzyklopädie das Verhältnis „Form und Materie" dem „Ding" zu, das von „Inhalt und Form" der „Erscheinung" (vgl. E, §§ 115-133). Letzteres akzentuiert die Diffe-
Zweiter Abschnitt. Die Erscheinung
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C. Auflösung der Erscheinung Hegel hat, was er offenbar anstrebte: eine Entgegensetzung von Welten, die wieder aufgelöst werden muß. Die an und für sich seiende Welt hat „an ihr selbst" alle Bestimmtheit der erscheinenden und ist zugleich deren entgegengesetzte Seite, „verkehrte" Welt, wie Hegel sich selbst aus der Phänomenologie zitiert (II, 134). Beide Welten werden wie gleichartige Gegenstände behandelt und „verhalten sich also so zueinander, daß, was in der erscheinenden Welt positiv, in der an und für sich seienden Welt negativ, umgekehrt was in jener negativ, in dieser positiv ist" (ebd.). Ganz konkret: „Der Nordpol in der erscheinenden Welt ist an und für sich der Südpol und umgekehrt; die positive Elektrizität ist an sich negative usf. Was im erscheinenden Dasein böse, Unglück usf. ist, ist an und für sich gut und ein Glück" (ebd.). Hier liegt wieder ein Fehler vor. Die metatheoretische [wesenslogische] Charakterisierung der einen Welt gegen die andere hat nichts zu tun mit thematischen [regionalontologischen] Entgegensetzungen wie Nordpol/Südpol. Es ist ermüdend, auf derlei hinweisen zu müssen. Auch ist es natürlich grotesk, einen Inbegriff von Gesetzen mit der Welt zu konfrontieren, von der sie gelten sollen - so als seien es gleichartige Relata. Die Strukturabstraktion ist hier zu weit gegangen. Hegel schreitet fort zur Ineinssetzung der einander Entgegengesetzten. Die beiden Welten beziehen sich in der jeweils anderen „auf sich selbst" (II, 135). Beide sind „die selbständigen Ganzen der Existenz [...]. Was also vorhanden ist, ist diese Totalität, welche sich von sich selbst in zwei Totalitäten abstößt" (ebd.). Jede hat „ihre Selbständigkeit in dieser Einheit beider" (ebd.). Damit soll „das Gesetz realisiert [sein]; seine innere Identität [das Identitätsverhältnis der beiden Gesetzes-Größen] ist zugleich daseiende"; - wir betrachteten schon diesen prekären Übergang von gesetzesinternen Verhältnissen auf ein Sich-Abstoßen, Sich-Realisieren (II, 136). Und „umgekehrt ist der Inhalt des Gesetzes in die Idealität
renzstufe, insofern der Inhalt „ebensowohl die Form in ihm selbst hat, als sie ihm ein Äußerliches ist (E, § 133). Ohne nähere Ausführung ist die Form somit „das Gesetz der Erscheinung" (ebd.). Die Schließung zum „ Verhältnis" erfolgt auf Grund der wechselseitigen Bezogenheit von Form und Inhalt „als die Äußerlichkeit [...] und deren identische Beziehung" (E, § 134). - Es darf weiter angemerkt werden: wie immer man die Ausführung zu den beiden Welten bewertet, als thematisch schwer oder gar nicht nachvollziehbar, offensichtlich ist, daß Hegel eine .Inhalt und Form' thematisch adäquate Vermittlungsstruktur einzuführen sucht; und daß im Gesetz, nach dessen entwickeltem Verständnis, die Größen nicht bloß in der „gesetzesinternen Relation von Variablen" (Hartmann) zueinander stehen, sondern jede „die Totalität des Inhalts der erscheinenden Welt und der Grund aller ihrer Mannigfaltigkeit" ist (II, 133). Anm. d. Hrsg.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
erhoben"; das Gesetz hat an ihm selbst die Beziehungsstrukturen, welche es zum Reflexionsinhalt der erscheinenden Welt qualifizieren (ebd.). „So ist das Gesetz wesentliches Verhältnis" - eine mißverständliche Formulierung, weil man denken kann, es handle sich [nur] um das wechselseitige Verhältnis der Variablen eines Gesetzes (ebd.). Gemeint ist aber auch das Verhältnis von „an und für sich seiender Welt" und „unwesentlicher Welt" (ebd.). „Welt drückt überhaupt die formlose Totalität der Mannigfaltigkeit aus; diese Welt, sowohl als wesentliche wie als erscheinende ist zugrunde gegangen, indem die Mannigfaltigkeit aufgehört hat, eine bloß verschiedene zu sein; so ist sie noch Totalität oder Universum, aber als wesentliches Verhältnis" - die Vollendung der „Formeinheit" von zunächst gegeneinander gleichgültig-selbständigen Inhalten (ebd.). Hegel wird das wesentliche Verhältnis abhandeln, ohne eigentlich die zwei Welten in deren Entgegensetzung wieder aufzugreifen. Ihre Einführung erscheint somit als Umweg, unnötig und skurril. Aber die Phänomenologie hatte diese These nun einmal.
Drittes Kapitel. Das wesentliche Verhältnis Es handelt sich bei den Wesensbestimmungen immer um Unterschiede in der Bindung von Sein und Reflexion - oder auf dieser Stufe von Existenz und Wesen. Bei Gesetz und Erscheinung sind beide „erstlich Selbständige", aber nur bedingt, insofern „jede wesentlich das Moment der ändern an ihr hat"; jede Seite hat „ihre Selbständigkeit in dieser Einheit beider" (II, 135). Auch beim wesentlichen Verhältnis hat der Inhalt „unmittelbare Selbstständigkeit und zwar die seiende Unmittelbarkeit und die reflektierte Unmittelbarkeit" (II, 136 f.). D.h. aber „das Verhältnis hat Seiten" - und zwar weil es zugleich „Reflexion in anderes ist; so hat es den Unterschied seiner selbst an ihm, und die Seiten sind selbständiges Bestehen, indem sie in ihrer gleichgültigen Verschiedenheit gegeneinander in sich selbst gebrochen sind, so daß das Bestehen einer jeden ebensosehr nur seine Bedeutung in der Beziehung auf die andere oder in ihrer negativen Einheit hat" - also doch wieder in einer Wesensbeziehung (II, 137). Aus der Wechselseitigkeit oder Reziprozität dieser Beziehung ergibt sich eine Analogie zum Positiven und Negativen; aber diese Reflexionsbestimmungen „haben keine andere Bestimmung als diese ihre negative Einheit" (ebd.). Hier beim wesentlichen Verhältnis ist das der Fall: „Die Seite des wesentlichen Verhältnisses ist eine Totalität, die aber als wesentlich ein Entgegengesetztes, ein Jenseits seiner hat" (ebd.). Das Verhältnis ist „die Einheit seiner selbst und seines Ändern, also Ganzes" (ebd.).
Zweiter Abschnitt. Die Erscheinung
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Es bereitet Mühe, den Fall des wesentlichen Verhältnisses' vom Fall ,Gesetz und Erscheinung' in wesenslogischer Analyse zu unterscheiden. Er liegt wohl tatsächlich nur darin, daß das Gesetz Unterstellung war [wesenslogische Grundlage = U2], die um der dialektischen Entwicklung willen zu einer übersinnlichen Welt gesteigert wurde - während jetzt, in neuer kategorialer Deutung, die Charakterisierung der beiden Seiten deren Selbständigkeit unterstreicht. In letzterer liegt dann auch der Unterschied zu den Reflexionsbestimmungen (des Positiven und Negativen), denen das selbständige Bestehen fehlt. Die Identität des wesentlichen Verhältnisses ist zunächst unvollkommen, „die Totalität, welches jedes Relative an ihm selbst ist, ist erst ein Inneres" (ebd.). Was „die Form des Verhältnisses ausmacht", die auf das Ganze gerichtete Perspektive, so handelt es sich vorerst nur um eine „Beziehung", außerhalb derer die „Selbständigkeit [der Seiten] fällt" (II, 138). Substanz erst ist „die reflektierte Einheit jener Identität [der beiden Totalitäten] und der selbständigen Existenzen" (ebd.). Zunächst also benennt Hegel ohne weitere Erläuterung das Verhältnis als unmittelbares.
A. Das Verhältnis des Ganzen und der Teile „Weil nun das wesentliche Verhältnis nur erst das erste, unmittelbare ist, so ist die negative Einheit und die positive Selbständigkeit durch das Auch verbunden; beide Seiten sind zwar als Momente gesetzt, aber ebensosehr als existierende Selbständigkeiten" (II, 139). Hegels Ausführungen sind mitbestimmt durch die vorangangene Entgegensetzung von .wesentlicher' und erscheinender' Welt (oder Mannigfaltigkeit). Dies ist nicht zwingend für eine Untersuchung von ,Ganzem und Teilen'.93 Hegel wendet den neuen Struktursachverhalt hin und her. „Das Ganze [ist] die Einheit beider Seiten [seiner selbst und der Teile], die Grundlage [...], und die unmittelbare Existenz ist als Gesetztsein. - Umgekehrt ist auf der ändern Seite, nämlich der Seite der Teile, die unmittelbare, in sich mannigfaltige Existenz die selbständige Grundlage; die reflektierte Einheit dagegen, das Ganze ist nur äußerliche Beziehung" (ebd.). Die Auseinanderentwicklung (unter Ziffer 2, der hier keine 3. folgt!) stellt darauf ab, dies Verhältnis enthalte „somit die Selbständigkeit der Seiten und ebensosehr ihr Aufgehobensein, und beides schlechthin in 93
Oder umgekehrt könnte man einwenden: „das Verhältnis des Ganzen und der Teile" ergibt sich nicht zwingend als Ausgangsbestimmung des „wesentlichen Verhältnisses". Anm. d. Hrsg.
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Einer Beziehung [...]; und jedes [Ganzes wie Teile] ist in seiner Selbständigkeit schlechthin das Relative [das Moment] eines Ändern. Dies Verhältnis ist daher der unmittelbare Widerspruch an ihm selbst und hebt sich auf" (ebd.). Auf eine kurze Formel gebracht: „Das Ganze besteht daher ans den Teilen"; und „ohne Ganzes gibt es keine Teile" (II, 140). Ganzes und Teile sind interdependent, und auch koextensiv. Interdependent insofern beide sich gegen- oder wechselseitig bedingen - anders als bei der „Beziehung des Bedingten und der Bedingung", welche vielmehr als „hier realisiert" erscheint (ebd.). „Die Bedingung als solche ist nur das Unmittelbare und nur an sich vorausgesetzt. Das Ganze [...] ist die Bedingung zwar der Teile, aber es enthält zugleich unmittelbar selbst, daß es auch nur ist, insofern es die Teile zur Voraussetzung hat", womit „beide Seiten des Verhältnisses gesetzt sind als sich gegenseitig bedingend", unmittelbar und vermittelt (ebd.). „Das ganze Verhältnis ist durch diese Gegenseitigkeit die Rückkehr des Bedingens in sich selbst, das nicht Relative, das Unbedingte" (ebd.). - Koextensiv sind Ganzes und Teile, insofern „das Ganze den Teilen und die Teile dem Ganzen gleich [sind]. Es ist nichts im Ganzen, was nicht in den Teilen, und nichts in den Teilen, was nicht im Ganzen ist" (II, 141). Es liegt eine Einheit vor, „worin das Mannigfaltige sich aufeinander bezieht" und dem Ganzen, durch das es Teil ist, Bestimmtheit gibt (ebd.). Hegel trennt nun noch einmal die Seiten. „Die Teile aber machen das bestimmte Moment oder das Anderssein der Einheit aus, und sind das verschiedene Mannigfaltige. Das Ganze ist ihnen nicht gleich als diesem selbständigen Verschiedenen, sondern als ihnen zusammen" (ebd.). Damit wird der Bezug trivial. „Das Ganze ist also in den Teilen nur sich selbst gleich, und die Gleichheit desselben und der Teile drückt nur die Tautologie aus, daß das Ganze als Ganzes nicht den Teilen, sondern dem Ganzen gleich ist" (ebd.). - Eine entsprechende Konstruktion wird für die Teile aufgeboten: sie sind dem Ganzen gleich aber nur Teil für Teil; „d.h. sie sind ihm als geteiltem Ganzen, d.i. als den Teilen gleich. Es ist hiemit dieselbe Tautologie vorhanden", also wieder trivial, Gleichheit nur mit sich selbst (ebd.). Ein Auseinanderfallen von Ganzem und Teilen ist vorgeführt; „jede dieser Seiten bezieht sich nur auf sich. Aber so auseinander gehalten zerstören sie sich selbst" (ebd.). Ein abstraktes Ganzes, „das gleichgültig ist gegen die Teile" (ebd.), steht ebenso im Widerspruch zu seiner Reflexionsidentität wie solche Teile, die „gleichgültig gegen die Einheit des Ganzen" sind (II, 142). Die „Beziehung-auf-sich jeder der beiden Seiten ist ihre Selbständigkeit; aber diese ihre Selbständigkeit, die jede für sich hat, ist vielmehr die Negation ihrer selbst. Jede hat daher ihre Selbstän-
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digkeit nicht an ihr selbst, sondern an der ändern" als „ihr vorausgesetztes Unmittelbares" (ebd.). „Die Wahrheit des Verhältnisses besteht also in der Vermittlung" (ebd.); ohne sie ist das Verhältnis, wie schon gesagt, „der unmittelbare Widerspruch" (II, 139). Seinem Wesen nach aber ist es „die negative Einheit, in welcher ebensowohl die reflektierte als die seiende Unmittelbarkeit aufgehoben sind. Das Verhältnis ist der Widerspruch, der in seinen Grund zurückgeht, in die Einheit" (II, 142). - „So ist das Verhältnis des Ganzen und der Teile in das Verhältnis der Kraft und ihrer Äußerung übergegangen" (ebd.).
Anmerkung. Unendliche Teilbarkeit Noch beim Ganzen und Teil verbleibend, gibt Hegel eine Neudeutung der 2. Kantischen Antinomie [KrV A, S. 434 ff.], welche er zuvor im Stück über Quantität betrachtet hatte (1,183 ff.). Das qualitative Eins, das der Quantität gegenübergesetzt worden war, erscheint jetzt als Teil, dem das Ganze gegenübergesetzt ist. Die Antinomie94 liegt dann darin, daß das Existierende zwar Ganzes ist, und die Teile sein Bestehen ausmachen, aber den einzelnen Teil die Einheit des Ganzen nichts angeht; der Teil ist somit selbst Ganzes. Dann kann wieder nach dessen Zusammensetzung gefragt werden, „und so fort ins Unendliche" (II, 143). „Die Antinomie dieses Schlusses ganz nahe zusammengerückt, ist eigentlich diese: Weil das Ganze nicht das Selbständige ist, ist der Teil das Selbständige; aber weil er nur ohne das Ganze selbständig ist, so ist er selbständig, nicht als Teil, sondern vielmehr als Ganzes". (II, 144). Und das Resümee: „Die Unendlichkeit des Progresses, der entsteht, ist die Unfähigkeit, die beiden Gedanken zusammen zu bringen, welche die Vermittlung enthält, daß nämlich jede der beiden Bestimmungen durch ihre Selbständigkeit und Trennung von der ändern in Unselbständigkeit und in die andre übergeht" (ebd.). Diese Analyse der 2. Kantischen Antinomie ist wohl die befriedigendere.
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Hier heißt es nur „der unendlichen Teilbarkeit der Materie" (II, 143); in der ersten Anmerkung zu dieser Antinomie ist ganz allgemein die Rede von unendlicher Teilbarkeit „des Raumes, der Zeit, der Materie usf." (I, 183). Anm. d. Hrsg.
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B. Das Verhältnis der Kraft und ihrer Äußerung Die neue Inhaltsbestimmung überrascht (wenn nicht Bekanntschaft mit ihr von der Phänomenologie her einen solchen Eindruck verhindert). - Wieso Kraft? Die Antwort kann nur lauten: unter ,Kraft' stellt sich Hegel etwas vor, das eine engere Beziehung von Unmittelbarkeit und negativer Einheit (oder Reflexion) aufweist. Ob auch noch anderes derart wäre, wird nicht erwogen; die strukturelle Bestimmung scheint eindeutig zu sein. - Nur einmal mehr erwähnt sei der Umstand, daß Hegel unbekümmert Abstraktes (im Sinne von Unselbständigem) wie ,Ganzes und Teil' in eine Reihe stellt mit,Kraft' 95 und dann wieder übergeht zu Abstraktem wie ,Innerem und Äußerem'. Es geht ihm nur um Struktursachverhalte. Auch ist zu bemerken, daß Hegel hier eine regionalontologische Kategorie in die Logik einstellt. Kraft einmal zugestanden, so soll in ihr das wesentliche Verhältnis durch eine engere Bezogenheit bestimmt sein. Damit fällt von ihr her ein erhellender Blick auf die vorige Stufe, „das Ganze und die Teile", wonach dieses „das gedankenlose Verhältnis" sei, „auf welches die Vorstellung zunächst verfällt; [...] objektiv ist es das tote, mechanische Aggregat, das zwar Formbestimmungen hat, wodurch die Mannigfaltigkeit seiner selbständigen Materie in einer Einheit bezogen wird, welche aber derselben äußerlich ist" (ebd.). Ganzes und Teile erscheinen als Bearbeitungsgesichtspunkte, keines macht sich selbst zur Einheit von beidem. Bei der Kraft soll dies der Fall sein: „die Bewegung der Kraft ist nicht so sehr ein Übergehen, als daß sie sich selbst über setzt und in dieser durch sie selbst gesetzten Veränderung bleibt, was sie ist" (II, 145). „Die Kraft" als reflektierte Einheit „geht in ihre Äußerung über" darauf beruht ihre Stellung in der Abfolge der Struktursachverhalte (H, 144). Die Kraft bezieht sich so auf sich. Aber schließlich ist sie doch auch vermittelt durch „ihr Anderes und hat dasselbe zur Bedingung; ihre negative Beziehung auf sich, die Erstes ist und die Bewegung ihres Übergehens aus sich anfängt, hat ebensosehr eine Voraussetzung, von der sie sollizitiert wird,96 und ein Anderes, von dem sie anfängt" (II, 145).
95
96
Als Bestimmung des Seienden im Sinne von Selbständigem - vgl. oben S. 216 ff., 236. Anm. d. Hrsg. Von: sollicitare (lat.) - stark bewegen; hier im Sinne von .anstoßen', .anregen'. Anm. d. Hrsg.
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a) Das Bedingtsein der Kraft Man sieht, die Sachlage ist komplex. Die Kraft tritt nicht allein auf, sondern sie hat - als „Moment der seienden Unmittelbarkeit" als „ein existierendes Etwas" - wesentlich das Ding zu seiner Voraussetzung, was hier noch nicht auf Gegenseitigkeit beruht: „Nicht daß sie die Form dieses Dings und das Ding durch sie bestimmt wäre; sondern das Ding ist als Unmittelbares gleichgültig gegen sie. - Es liegt in ihm nach dieser Bestimmung kein Grund, eine Kraft zu haben" (ebd.). Kraft erscheint als ein Äußerliches wie die Materie eines Dings: „So wird die Kraft auch als Materie bezeichnet und statt magnetischer, elektrischer usf. Kraft eine magnetische, elektrische usf. Materie angenommen" (ebd.) Natürlich steht dies im Widerspruch zur Reflexionsidentiät der Bestimmung. „Aber die Kraft enthält die unmittelbare Existenz als Moment [...]. Sie ist ferner nicht die Negation als Bestimmheit, sondern negative, sich in sich reflektierende Einheit" (II, 145 f.). „Die Kraft ist so der sich von sich selbst abstoßende Widerspruch; sie ist tätig" (II, 146). Oder anders: die Kraft „als die Bestimmung der reflektierten Einheit des Ganzen ist gesetzt als zur existierenden äußerlichen Mannigfaltigkeit aus sich selbst zu werden" (ebd.). Als Tätigkeit, aber „nur erst ansicbseiende und unmittelbare Tätigkeit" bleibt die Kraft auf ihr Negat97 „als eine ihr äußerliche Unmittelbarkeit wesentlich bezogen und hat dieselbe zur Voraussetzung und Bedingung" (II, 146). Dieses Negat ist nicht ein Ding, sondern weil „die selbständige Unmittelbarkeit hier sich zugleich als sich auf sich selbst beziehende negative Einheit bestimmt hat, so ist es selbst Kraft. [...] Die Kraft ist auf diese Weise Verhältnis, in welchem jede Seite dasselbe ist als die andere" (ebd.). Und überleitend zur Differenzstufe heißt es von den „im Verhältnisse" stehenden Kräften noch: „Sie sind ferner zunächst nur verschiedene überhaupt; die Einheit ihres Verhältnisses ist nur erst die innere an sich seiende Einheit" (II, 146 f.).
b) Die Sollizitation der Kraft Hegel rekapituliert: „Die Kraft ist bedingt, weil das Moment der unmittelbaren Existenz, das sie enthält, nur als ein Gesetztes, - aber, weil es zugleich Unmittelbares ist, ein Vorausgesetzes ist" (II, 147). Was die Kraft voraussetzt, ist eine „andre Kraft", auf welche sie bezogen ist „als auf das 97
Von Hegel, wie üblich, als „Negation" bezeichnet. Anm. d. Hrsg.
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ihr Andere, aber ebensosehr als auf ein an sich Nichtiges und mit ihr Identisches" (ebd.). Die Kraft ist „ein Anstoß für die andere Kraft, gegen den sie tätig ist. Ihr Verhalten [das der anderen Kraft] ist nicht die Passivität des Bestimmtwerdens, so daß dadurch etwas anderes in sie käme; sondern der Anstoß sollizitiert sie nur. Sie ist an ihr selbst die Negativität ihrer [...]. Ihr Tun besteht also darin, dies aufzuheben, daß jener Anstoß ein Äußerliches sei; sie macht es zu einem bloßen Anstoß und setzt es als das eigene Abstoßen ihrer selbst von sich, als ihre eigene Äußerung" (ebd.). Dasselbe geschieht ,gegenüber', also wechselseitig. Es ist wohl nicht nötig, die reflexionslogische Deutung der Kraft weiter vorzuführen. „Der Begriff der Kraft ist [...] die Identität der setzenden und [der] voraussetzenden Reflexion oder der reflektierten und der unmittelbaren Einheit, und jede dieser Bestimmungen schlechthin nur Moment, in Einheit, und somit als vermittelt durch die andere" (II, 148). Kraft und Gegenkraft bedingen einander gegenseitig, sind gegenseitig aktiv und passiv, Äußerung und Reaktion. Die geschilderte Auffassung ist schon in der Phänomenologie enthalten, ist also bestätigte und auch in der Enzyklopädie wiederholte Lehrmeinung Hegels (PG, S. 105 ff.; E, §§ 136 f.). Sie bereitet aber dem modernen Leser Schwierigkeiten. Ein Beispiel aus der Logik selbst wäre Zentrifugal- und Zentripetalkraft (aber gerade deren Einführung in die Theorie der Planetenbewegung hielt Hegel für unglücklich). Wo gäbe es also Kräfte dieser Art? Denkt Hegel an Kants Anfangsgründe?98 c) Die Unendlichkeit der Kraft „Die Kraft ist endlich", d.h. nur ein Moment derselben und noch nicht deren Begriff, „insofern ihre Momente noch die Form der Unmittelbarkeit haben; ihre voraussetzende und ihre sich auf sich beziehende Reflexion sind in dieser Bestimmung unterschieden [...]. Die Kraft ist so der 98
Es scheint offensichtlich, daß Hegel dem von Kant entwickelten .metaphysischen Anfangsgrund' von Kraft und Gegenkraft hier eine ontologische Fundierung zu geben versucht (vgl. I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Akademie-Ausgabe, Berlin 1903, S. 497 ff.) - trotz aller Einwände gegen Kants Ausführungen. (Hegel kritisiert, daß die beiden Kräfte auf analytische Weise eingeführt würden; sie setzten die Materie voraus, statt sie zu erklären (I, 170 ff.). Die Kräfte würden als selbständig und wesensverschieden prätendiert; zugleich werde aber ihre (mögliche) quantitative Verschiedenheit gegeneinander behauptet (wie im Falle der Zentripetalund Zentrifugalkraft, vgl. Kap. III, Anm. 141); im Falle der Attraktiv- und Repulsivkraft diene diese Behauptung dazu, „die verschiedene Dichtigkeit der Körper zu begreifen" (I, 395). - Es sei hinzugefügt, daß der letztere Einwand Hegels (wiederum) ungerechtfertigt ist: verschiedene Stoffdichten entsprechen verschiedenen Kräftepaaren; gegeneinander aber sind Attraktiv- und Repulsivkraft einer Materie gleich groß.) Anm. d. Hrsg.
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Form nach bedingt und dem Inhalte nach gleichfalls beschränkt; denn eine Bestimmtheit der Form nach enthält auch eine Beschränkung des Inhalts" (II, 149 f.). Es ist Hegel ein Leichtes, diese „Äußerlichkeit aufzuheben" und zu dem überzugehen, was sich seiner Auffassung nach tatsächlich schon „ergeben hat": eine Einheitsfigur der zwei Kräfte (II, 150). „Der Anstoß" einer jeden, „wodurch sie zur Tätigkeit sollizitiert wird, ist ihr eigenes Sollizitieren; [...] oder die Kraft äußert dies, daß ihre Äußerlichkeit identisch ist mit ihrer Innerlichkeit" (ebd.). Damit wäre das Stichwort gegeben für die nächste und im Zusammenhang mit ,Erscheinung' letzte kategoriale Ansprache.
C. Verhältnis des Äußern und Innern Wieder beginnt Hegel mit einer erhellenden Besinnung auf das Vorangegangene: „Das Verhältnis des Ganzen und der Teile ist das unmittelbare; die reflektierte und die seiende Unmittelbarkeit haben daher in ihm jede eine eigene Selbständigkeit; aber indem sie im wesentlichen Verhältnisse stehen, so ist ihre Selbständigkeit nur ihre negative Einheit. Dies ist nun in der Äußerung der Kraft gesetzt" (ebd.). - Das Verhältnis ist somit, trotz seiner zwei Seiten oder Bestimmungen, ein einzelner Wesenssachverhalt: „teils ist die Unmittelbarkeit, von der angefangen und ins Anderssein übergegangen wurde, selbst nur als gesetzte, teils ist dadurch jede der Bestimmungen in ihrer Unmittelbarkeit schon die Einheit mit ihrer ändern und das Übergehen dadurch schlechthin ebensosehr die sich setzende Rückkehr in sich" (ebd.). Mit der für die einzelnen Bestimmungsstufen des wesentlichen Verhältnisses charakteristischen Unabgesetztheit heißt es sodann gleich weiter: „Das Innere ist als die Form der reflektierten Unmittelbarkeit oder des Wesens gegen das Äußere als die Form des Seins bestimmt, aber beide sind nur Eine Identität" (ebd.). - Welcher Gedankenfortschritt liegt hier vor? Man meint einem derartigen Stuktursachverhalt tatsächlich schon früher begegnet zu sein: wenn auch eine Struktur wie ,Form und Inhalt' (vgl. II, 75 f.), als unter den Reflexionsbestimmungen vorkommend, noch formal und nicht real ist," weswegen mit dem wesentlichen Verhältnis' etwas anderes, weiteres gemeint sein muß, so bereitet es doch Schwierigkeiten, dies weitere zu erkennen. Es ist in dem Zusammenhang auch interessant, daß Hegel in der Enzyklopädie anstelle des Stücks über ,das Gesetz der Er99
Hartmann notiert „vgl· ,Der reale Grund'" (II, 82 ff.) - offenbar als Beispiel einer konkreteren Vorwegnahme dieses Struktursachverhalts. Anm. d. Hrsg.
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scheinung', bzw. ,die erscheinende und die an sich seiende Welt' ein viel abstrakteres über Jnhalt und Form' einfügt - ein Titel, welcher in der Logik als ,Form und Inhalt' zum ,Grund'-Kapitel gehört.100 Inhalt und Form sind also in der Enzyklopädie als schon ,reale' selbständige Momente der Erscheinung gedacht. Was wäre dann das Neue beim Jnneren und Äußeren'? Auch hier ist ja von Form und Inhalt die Rede - und nur davon. Hegel meint wohl erst beim Äußeren und Inneren die Identität beider Seiten als Drittes behaupten zu können, als „die gediegene Einheit beider als inhaltsvolle Grundlage, oder die absolute Sache, an der die beiden Bestimmungen gleichgültige, äußerliche Momente sind. Insofern ist sie Inhalt und die Totalität, welche das Innere ist, das ebensosehr äußerlich wird" (II, 151). Das Äußere und das Innere sind nicht nur dem Inhalt nach gleich, „sondern beide sind nur Eine Sache" (ebd.). Aber aus dem Inhalt oder der Sache als „einfacher Identität" ergibt sich die Verschiedenheit zu „ihren Formbestimmungen"·, diese sind der Sache „äußerlich", und sie ist „insofern selbst ein Inneres, das von ihrer Äußerlichkeit verschieden ist. Diese Äußerlichkeit aber besteht darin, daß die beiden Bestimmungen selbst, nämlich das Innere und Äußere, sie ausmachen" (ebd.). Beide Seiten, Inneres und Äußeres, „sind auf diese Weise die verschiedenen Formbestimmungen, welche nicht an ihnen selbst, sondern an einem Ändern eine identische Grundlage haben, Reflexionsbestimmungen, die für sich sind, das Innere als die Form der Reflexion-in-sich, der Wesentlichkeit, das Äußere aber als die Form der in anderes reflektierten Unmittelbarkeit oder der Unwesentlichkeit" (ebd.). Als Formbestimmungen sind Inneres und Äußeres „erstlich nur die einfache Form", aber dann wieder „zweitens [...] zugleich als entgegengesetzte bestimmt", so daß „ihre Einheit die reine abstrakte Vermittlung [ist], in welcher die eine unmittelbar die andere und darum die andere ist, weil sie die eine ist. So ist das Innere unmittelbar nur das Äußere, und es ist darum die Bestimmtheit der Äußerlichkeit, weil es das Innre ist; umgekehrt das Äußere ist nur ein Inneres, weil es nur ein Äußeres ist" (ebd.). - Man versteht nicht; zumindest verlangt dies nach Interpretation. Ziehen wir die Enzyklopädie heran. Dort heißt es: „Indem sie [die Formbestimmungen „Inneres und Äußeres", die sich „zwar schlechthin entgegengesetzt"} aber als Momente der Einen Form wesentlich identisch sind, so ist das, was nur erst in der einen Abstraktion gesetzt ist, unmittelbar auch nur in der anderen" (E, § 140, S. 138 f.). Die Formeinheit der in ihr Entgegengesetzten scheint zu ermöglichen, daß das eine Formmoment zugleich das andere ist, wobei es keine Rolle spielt, bei welchem an100
Vgl. Anm. 92. Anm. d. Hrsg.
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gefangen wird. Gemeint ist anscheinend ein ,In-der-Einheit-der-Formunmittelbar-das-Entgegengesetzte-Sein'. Nehmen wir das hin oder nicht, für das Verständnis ist ein Weiteres von Bedeutung. Die Formbestimmungen sind alternativ zueinander und identisch, aber sie sind nur „die Seite der Bestimmtheit. [...] So ist Etwas, das nur erst ein Inneres ist, eben darum nur ein Äußeres. Oder umgekehrt, etwas, das nur ein Äußeres ist, ist eben darum nur ein Inneres, Oder indem das Innere als Wesen, das Äußere aber als Sein bestimmt ist, so ist eine Sache, insofern sie nur in ihrem Wesen ist, eben darum nur ein unmittelbares Sein; oder eine Sache, welche nur ist, ist eben darum nur erst noch in ihrem Wesen" (II, 152). - Hier liegt offenbar eine Verwechslung vor, insofern der Formkonflikt auf das Wesen selbst angewandt wird101 (die Gleichnamigkeit von Wesen als Inhalt, als Inneres und von Form als Inneres gegenüber dem Äußeren, besteht ja, legt also diese Verwechslung nahe). Aber damit wäre Wesen nicht mehr das Dritte gegenüber seinen Formbestimmungen.102 Dies ist also wohl ein Denkfehler, so ungern man es konstatiert, da Hegel das Wesen durch den ihm immanenten Potentialunterschied konstituiert sieht, als innerlich, damit aber äußerlich - und umgekehrt (vgl. II, 152 ff. sowie E, § 140 und den „Zusatz"103). Hegel scheint gemeint zu haben, daß in dieser abstrakten Vermittlung der Formmomente das Wesen liege,104 darin also, „daß jede dieser beiden Bestimmungen nicht nur die andere voraussetzt und in sie als in ihre Wahrheit übergeht, sondern daß sie, insofern sie diese Wahrheit der ändern ist, als Bestimmtheit gesetzt bleibt und auf die Totalität beider hinweist" (II, 152). Hegel will mit der Strukturierung des Wesens nach Formmomenten eine Unvollkommenheit der erreichten Position aufzeigen. Die Beziehung dieser Momente aufeinander bedeutet dergestalt „die bestimmte [Beziehung] der absoluten Form, daß jedes unmittelbar sein Gegenteil ist, 101
102
103 104
Man kann einwenden, daß es ja nicht heißt: „indem Wesen als das Innere ...", sondern lediglich: „indem das Innere als Wesen ... bestimmt ist" (besser: Wesensmoment - und entsprechend ,das Äußere als Seinsmoment'). Anm. d. Hrsg. Man kann wiederum einwenden, daß eine Struktur, nach der sich die ,Einigungsstufe' des wesentlichen Verhältnisses nicht immer erneut als ,Drittes' gegenüber seinen Bestimmungsmomenten erweist, ja doch das Ziel der Hegeischen Logik ist. Eine solche Struktur scheint mit dem .Inneren und Äußeren' einerseits erreicht; andererseits haftet dieser, wie im folgenden dargestellt wird, noch die Unvollkommenheit an, daß es sich bloß um „die unmittelbare Umkehrung des einen in das andre" handelt, und die „negative Einheit, die sie zusammenknüpft, [...] der einfache inhaltslose Punkt" ist (II, 152). Anm. d. Hrsg. Sämtliche Werke (Jubiläumsausgabe), Stuttgart 41964, Bd. 8, S. 314 ff. Anm. d. Hrsg. Besser wohl: terminiere (vgl. Anm. 102). Anm. d. Hrsg.
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und ihre gemeinschaftliche Beziehung auf ihr Drittes oder vielmehr auf ihre Einheit vorhanden [ist]" (ebd.)· Der Mangel liegt darin, daß diese Vermittlung der Formbestimmungen abstrakt bleibt: sie „entbehrt" der „sie beide enthaltenden identischen Grundlage" (ebd.). - Die Bestimmung von Etwas nach Innerem und Äußerem ist ,am' Wesen, ohne das Wesen zu sein. Dieser Unterschied muß also noch aufgehoben werden zugunsten ihrer Vermittlung in Einem. Die Formbestimmungen des Inneren und Äußeren sind zwar nicht ohne eine solche Grundlage, aber ihre Einigung mit dieser ist nicht dargetan; es handelt sich noch um ein Verhältnis von Grundlage und Gleichgültigkeit. Die Formbestimmungen reflektieren sich nicht in das Dritte, sind nicht das Dritte. Letzteres soll erst mit der Substanz gegeben sein. Es wird sich dann die Frage stellen, ob diese Lösung tatsächlich nicht schon früher hätte erfolgen können. - Eine Analyse des Wesens nach Form und Wesen kann schließlich nur auf den Mangel führen, daß die Formbestimmung das Mißverhältnis von Wesen und Form an ihm selbst widerspiegelt.105
Anmerkung. Unmittelbare Identität des Innern und Äußern Diese - zwischen Ziffer 2 und 3 eingeschobenen Ausführungen - gehen auf sehr Grundsätzliches ein. Der Struktursachverhalt von ,Innerem und Äußerem' wird mit dem Begriff verglichen und bemerkt, daß die Totalität des Ganzen, wie sie im Begriff - als „das Allgemeine" - vorliegt, hier „noch nicht vorhanden" sei (II, 153). Form ist noch nicht geeint mit Sache, sie kommt nur als „unvermittelte Identität [...] an der Sache vor, wie diese in ihrem Anfange ist" (ebd.). Andere Fälle solch „unmittelbarer Identität" werden in Erinnerung gebracht (ebd.). „So ist das reine Sein unmittelbar das Nichts. Überhaupt ist alles Reale in seinem Anfange eine solche nur unmittelbare Identität; denn in seinem Anfange hat es die Momente noch nicht entgegengesetzt und entwickelt" (ebd.). Entsprechend ist beim wesentlichen Verhältnis in seiner unmittelbaren Gestalt - als das des Ganzen und der Teile - die Identität der beiden Seiten „an ihnen selbst noch nicht; sie ist erst innerlich, und deswegen fallen sie auseinander, haben ein unmittelbares, äußerliches Bestehen" (II, 154 f.). - Grundsätzlich anmutende Formulierungen, wie daß „die Sphäre 105
Gemeint ist hier offenbar jenes Mißverhältnis, daß das Wesen in seinen jeweiligen Ausprägungen selbst zum Wesensmoment seiner Form und damit selbst zur Formbestimmung wird (vgl. Anm. 101). Anm. d. Hrsg.
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des Seins überhaupt nur erst das schlechthin noch Innre, und deswegen [...] die Sphäre der seienden Unmittelbarkeit oder der Äußerlichkeit" sei, sind offenbar aus dem abstrakten Vermittlungszusammenhang von Innerem und Äußerem zu verstehen (ebd.)· Das Wesen wird demnach zunächst „auch für eine ganz äußerliche, systemlose Gemeinschaftlichkeit genommen; man sagt, das Schulwesen, Zeitungswesen, und versteht darunter ein Gemeinschaftliches, das durch äußeres Zusammennehmen von existierenden Gegenständen, insofern sie ohne alle wesentliche Verbindung, ohne Organisation [sind], gemacht ist" (ebd.). Es folgen weitere und nach unserem Verständnis dunkle Beispiele - dafür, daß das Wesen „ein Passives, dem Anderssein Preisgegebenes" ist (ebd.). Hegel will abschließend eine Vermittlung von Grundlage und Formbestimmungen, d.h. auch von Formbestimmungen über sie und dadurch beider untereinander. Das Detail ist dabei durch die Wiederholung ermüdend: wenn man Inhalt und Form unterscheidet, verselbständigt sich die Form in den Bestimmungen ,Inneres' und ,Äußeres', insofern sie „sich selbst zu einer ihrer Seiten, als Äußerlichkeit, zu der anderen aber als in sich reflektierte Unmittelbarkeit, oder zum Inneren macht" (II, 155). Genau deren ineinander umschlagende abstrakte Gleichsetzung findet ihren Grund in einer neuen Wesensbestimmung: „Dieses Übergehen beider ineinander ist ihre unmittelbare Identität als Grundlage; aber es ist auch ihre vermittelte Identität; nämlich jedes ist eben durch sein Anderes, was es an sich ist, die Totalität des Verhältnisses" (ebd.). „Was Etwas ist, das ist es daher ganz in seiner Äußerlichkeit" (ebd.). Die Einheit, die Identität „schlechthin" von Inhalt und Form ist „nichts an und für sich als dies, sich zu äußern. Es ist das Offenbaren seines Wesens, so daß dies Wesen eben nur darin besteht, das sich Offenbarende zu sein" (ebd.). Das wesentliche Verhältnis hat sich für Hegel „in dieser Identität der Erscheinung mit dem Innern oder dem Wesen zur Wirklichkeit bestimmt" (ebd.). Die Pointe ist natürlich - das sei vorweggenommen - die ontologische Interpretation von Kantischen Kategorien (was die Orientierung an ihm belegt), und zwar im Sinne der Vollkommenheit ihres Vermittlungszusammenhangs. Daran (und nicht mehr an Erscheinung) hat Hegel Substanz, Kausalität und Wechselwirkung gebunden - auf den verfolgten Wegen der Erscheinung als Wesensbestimmung - und er ordnet sie entsprechend.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
Dritter Abschnitt. Die Wirklichkeit Damit, daß im Verhältnis von Innerem und Äußerem sich der Dualismus von Form und Inhalt aufgehoben hat, tritt Hegel ein in die neue Systemsphäre der Wirklichkeit. Daß die Wesenslogik in dieser Kategorie kulminiert, ist die Affirmation der Ontologie gegenüber einer an Erscheinung festgemachten erkenntnistheoretischen Position. Die Ontologie hat wahrere Ansprachen des Seins zur Verfügung. - Ob Hegel unter der Überschrift , Wirklichkeit' immer , Wirkliches' abhandelt, oder nicht vielmehr von Begriffen oder auch vom Begriff spricht, wird noch zu fragen sein. Wirklichkeit erscheint ihm jedenfalls als Fall der „Einheit des Wesens und der Existenz", d.h. als die auf der jetzigen Höhe der Bestimmung gelegene Einheit von Reflexion und Sein (II, 156). Nach dieser wesenslogischen Deutung ist,Erscheinung' das weniger Wahre oder noch Defiziente. Existenz, „indem sie sich bestimmt und formiert, ist [...] die Erscheinung"; die Vollendung der „Formbeziehung" aber im „Verhältnis des Innern und Äußern" ist zugleich Aufhebung dieser Beziehung - so, „daß der Inhalt beider nur Eine identische Grundlage und ebensosehr nur Eine Identität der Form ist" (ebd.). Wirklichkeit ,erscheint* daher nicht mehr, sie offenbart, sie manifestiert sich. Diese Deutung der Wirklichkeit ist, was immer wir vom dialektischen Detail ihrer Herleitung halten, zweifellos eine bedeutende Seinsauslegung. Sie ist nicht einfach Bekräftigung der alten Substanzontologie, ersetzt sie doch Motive der Vorstellung (die im übrigen nach Hegelscher Sicht zu ihr geführt haben mögen) durch eine Logik des Wesens. Setzung wird das erste Mal und zwar nach der Superkategorie , Wesen* verstanden. Bei der Vier-Ursachenlehre des Aristoteles, oder seiner Prinzpienrückfrage - die der Essenz Vorrang gibt, sich aber dann das Problem der Materie und des Synolons einhandelt106 - kann man schwerlich sagen, daß dies gelungen sei. Hegel vermag es hingegen, die kantisch-rationale Fassung von Substanz, Kausalität und Wechselwirkung, als diese Bestimmungen ihrerseits nicht letztlich ^erstehend', in die Wesenslogik einzuordnen. Anders gewendet kann man sagen, daß bei Hegel ,Selbstand' begriffen wird - wenn auch zu fragen bleibt, ob Wendungen wie ,Sich-Äußern', ,Sich-Offenbaren', ,Sich-Manifestieren' nicht aktivistische Inhalte einbringen, die über eine reine Strukturdeutung hinausgehen und An-
106
Vgl. K. Brinkmann, Aristoteles' allgemeine und spezielle Metaphysik. Anm. d. Hrsg.
Dritter Abschnitt. Die Wirklichkeit
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sichtssache, metaphysisch, zeitgebunden sein mögen. Wir werden später noch Überlegungen hierzu anstellen müssen. Die innerhalb der Scheinssphäre , Wirklichkeit' behandelten Themen oder Kategorien überraschen und legen eine Vorverständigung nahe. Die Titelkategorie tritt erst im 2. Kapitel als Thema auf - in der Gliederung zu Beginn des Abschnitts als „eigentliche Wirklichkeit" gekennzeichnet (II, 157). Hegel faßt darunter eine Abhandlung der Modalkategorien. Das 1. Kapitel gilt dem Absoluten, und erst das 3. Kapitel faßt unter dem Titel ,absolutes Verhältnis* das Wirkliche nach Kantischen Gesichtspunkten. Die Abfolge (etwa auch im Blick auf Kant: die vierte Kategoriengruppe vor der dritten) und die Disparatheit der Themen erscheinen problematisch. Hegel hat in der Enzyklopädie denn auch anders gegliedert: er beginnt nach einem einleitenden Paragraphen (§ 142) mit den Modalkategorien (§§ 143-149), ohne sie eigens mit einer Überschrift zu versehen, und knüpft Unterabschnitte an: a) Substantialitäts-Verhältnis (§§ 150152), b) Kausalitäts-Verhältnis (§§ 153 f.) und c) Wechselwirkung (§§ 155-159). Diese Sphäre ist so nicht dreigliedrig wie in der Logik - sie ist im Grunde eingliedrig mit Unterteilungen, die dem absoluten Verhältnis gelten; das Absolute selbst ist weggefallen. Dies führt natürlich zur Frage, weshalb es in der Wesens-Logik diesen dritten Abschnitt eröffnet.
Erstes Kapitel. Das Absolute Was hat Hegel zur Behandlung des Absoluten im gegenwärtigen Zusammenhang bewogen? Es ließe sich ja einwenden, daß wir darunter etwas Abschließendes, Letztes oder Letztliches verstehen, in metaphysischem Postulat meist noch als etwas Existierendes. - Dagegen kommt bei Hegel das Absolute in dialektisierenden Wendungen zwar vielfach vor, aber die thematischen Titel, welche mit ihm zu tun haben, sind alle konkreter: ,absolutes Verhältnis', ,absolute Idee', ,absoluter Geist'.107 Wie ist dann der überraschende einfache Titel. ,Das Absolute' im Stück ,Wirklichkeit' zu verstehen? Hegel meint, daß sich nach dem Verhältnis von Innerem und Äußerem als Fazit zunächst etwas Leeres ergibt. Zwar ist die „Einheit des Innern und Äußern [...] absolute Wirklichkeit"; diese „aber ist zunächst das Absolute als solches, - insofern sie als Einheit gesetzt ist, in der sich die 107
Im Zusammenhang mit der .absoluten Idee', in begriffslogischem Kontext also, spricht Hegel etwa vom Absoluten als dem ansichseienden Allgemeinen, das „für sich das Allgemeine, d.i. ebensosehr Einzelnes und Subjekt ist" (II, 490).
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Form aufgehoben und zu dem leeren oder äußern Unterschiede eines Äußern und Innern gemacht hat" (II, 156). Und weiter: „Die einfache gediegene Identität des Absoluten ist unbestimmt, oder in ihr hat sich vielmehr alle Bestimmtheit des Wesens und der Existenz oder des Seins überhaupt sowohl als der Reflexion aufgelöst" (II, 157). Das Absolute - das Absolute als solches - ist also bloße Strukturkonzeption, von der metatheoretisch gilt, daß sie in sich geschlossene Identität von Inhalt und Form ist. Man kann deshalb über diese Konzeption auch nur metatheoretisch etwas sagen. Das Absolute als solches wäre nicht dem Sein (und damit der Veränderlichkeit) ausgeliefert - denn dazu müßte solches Sein noch eine Eigenständigkeit haben - während gerade dies in der Struktur aufgehoben ist.108 Es gibt also durchaus einen Sinn, das Absolute als solches im gegenwärtigen Zusammenhang zu behandeln. Damit wird auch dem sonst bei Hegel beobachteten Verfahren entsprochen, eine neue Unmittelbarkeit als unbestimmt aufzufassen oder eine Wesenssphäre mit Formalem anzufangen, welches sich dann indiziert. Das Absolute als solches wäre die formale Kategorie des Wirklichen. Man müßte demnach sagen, alles Wirkliche ist Absolutes, besitzt dessen metatheoretische Struktur. Allerdings müht sich Hegel im weiteren Verlauf des Textes dann doch, das metatheoretisch Konzipierte mit dem thematisch Absoluten zu verbinden - also das nach der Hegeischen Logik nur in äußerer Reflexion Bestimmbare mit dem durch Zugehöriges Bestimmten (so etwa mit Blick auf das spinozistische Absolute im Eingehen auf Allheit und Modus). - Schon einführend heißt es, daß das Absolute selbst „nur als die Negation aller Prädikate und als das Leere", aber „indem es ebensosehr als die Position aller Prädikate ausgesprochen werden muß [...], als der formellste Widerspruch" erscheine (ebd.). Bereits hier wird also das Absolute differenziert nach Fehlen oder Vorhandensein thematischer Prädikate. Ist diese Verknüpfung von metatheoretisch und thematisch Absolutem statthaft? - Die Frage erscheint vorschnell, denn Hegel schränkt ein: „Insofern jenes Negieren und dieses Setzen [von Prädikaten] der äußern Reflexion angehört, so ist es eine formelle, unsystematische Dialektik, die mit leichter Mühe mancherlei Bestimmungen hieher und dorther aufgreift und mit ebenso leichter Mühe einerseits ihre Endlichkeit und bloße Relativität aufzeigt, als andererseits, indem es [das Absolute] ihr als die Totalität vorschwebt, auch
108
Hegel spricht von der Wirklichkeit als „Einheit des Wesens und der Existenz", in welcher „das gestaltlose Wesen und die haltlose Erscheinung oder das bestimmungslose Bestehen und die bestandlose Mannigfaltigkeit ihre Wahrheit" haben (II, 156).
Dritter Abschnitt. Die Wirklichkeit
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das Inwohnen aller Bestimmungen von ihm ausspricht, - ohne diese Positionen und jene Negationen zu einer wahrhaften Einheit erheben zu können" (ebd.). Dies führt wieder auf die gegebene Zugangsproblematik: wenn das Absolute in sich geschlossen ist, so scheint man es begründetermaßen nicht prädizieren zu können; was man sagte, wäre in äußerer Reflexion gesagt. Oder es läßt sich eben nur metatheoretisch darüber sprechen. Hegel stellt die anstehende Bestimmungsaufgabe unter das Motto der „Auslegung" - zunächst im Sinne eines genitivus objectivus.
A. Die Auslegung des Absoluten „Das Absolute ist nicht nur das Sein, noch auch das Wesen. Jene [Auslegung] ist die erste unreflektierte Unmittelbarkeit, diese die reflektierte" (ebd.). Als „das Innere" ist das Wesen „die Totalität, welche wesentlich die Bestimmung hat, auf das Sein bezogen und unmittelbar Sein zu sein", als „das Äußere" bleibt das Sein „auf die Reflexion bezogen, unmittelbar ebenso verhältnislose Identität mit dem Wesen"; und als Resümee dieser Akzentuierungen ergibt sich: „das Absolute selbst ist die absolute Einheit beider"; es ist „Grund des wesentlichen Verhältnisses [...], das als Verhältnis nur noch nicht in diese seine Identität zurückgegangen und dessen Grund noch nicht gesetzt ist" (II, 158). „Die Identität des Absoluten" schließlich, wie in wechselnden Formulierungen schon wiederholt vermittelt und verdeutlicht wurde, ist „dadurch die absolute, daß jeder seiner Teile selbst das Ganze oder jede Bestimmtheit die Totalität ist" - die absolute Form in jedem ihrer Momente und der abstrakte Inhalt in seiner aufeinander bezogenen Mannigfaltigkeit (ebd.). Die Bestimmtheit des Absoluten ist „ein schlechthin durchsichtiger Schein, ein in seinem Gesetztsein verschwundener Unterschied" (ebd.). „Wesen, Existenz, an sich seiende Welt, Ganzes, Teile, Kraft" - reflektierte Bestimmungen, die „dem Vorstellen als an und für sich geltendes Sein" erscheinen - sind im Absoluten als ihrem Grund „untergegangen" (ebd.). „Weil nun im Absoluten die Form nur die einfache Identität mit sich ist, so bestimmt sich das Absolute nicht", wodurch ja wieder eine Formbestimmung hinzukäme (ebd.). „In ihm selbst ist kein Werden, denn es ist nicht das Sein; noch ist es das sich reflektierende Bestimmen" (II, 159). Ja, als Unmittelbarkeit des Wirklichen ist es nicht einmal „ein sich Äußern, denn es ist als Identität des Inneren und Äußeren" (ebd.). Die äußerliche Reflexion „besteht daher zunächst nur darin, ihr Tun im Absoluten aufzuheben", besteht also im Zurücknehmen von Bestim-
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mungen, welche dem Absoluten nicht angemessen sind; „sie ist daher zwar das Aufnehmen derselben, aber zugleich ihr Untergehen [...]. - In ihrer wahrhaften Darstellung ist diese Auslegung das bisherige Ganze der logischen Bewegung der Sphäre des Seins und des Wesens", als die genealogische Deutung des Absoluten (ebd.). „Diese Auslegung hat aber selbst zugleich eine positive Seite" (ebd.). Sie liegt darin, daß nicht so sehr die Unangemessenheit der Bestimmungen (als äußerliche) betont wird, sondern der Umstand, daß die Bestimmungen das Absolute „zu ihrem Abgrunde, aber auch zu ihrem Grunde haben, oder daß das, was ihnen, dem Schein, ein Bestehen gibt, das Absolute selbst ist. Der Schein ist nicht das Nichts [...]; oder er ist Schein, insofern das Absolute in ihm scheint. Diese positive Auslegung hält so noch das Endliche vor seinem Verschwinden auf und betrachtet es als einen Ausdruck und Abbild des Absoluten" (ebd.). Das Endliche wird durchsichtig auf das Absolute hin, es ist „Medium, das von dem, was durch es scheint, absorbiert wird" (II, 160). - Das Absolute wird Bezugs- und Orientierungspunkt für die äußeren Bestimmungen, als für seine Vorgestalten. Allerdings beginnt eine Auslegung, die bei solchen Bestimmungen anfängt, damit eben nicht beim Absoluten, sondern bei einem Nichtigen. „Eine solche Bestimmung hat nicht im Absoluten ihren Anfang, sondern nur ihr Ende"; und „in der Tat aber ist das Auslegen des Absoluten sein eigenes Tun, [...] das bei sich anfängt, wie es bei sich ankommt" (ebd.). Demgegenüber kommt die äußere Reflexion im Sinne der negativen Auslegung für Hegel nur zu einem Absoluten als „Identischen [...] gegen die Entgegensetzung und Mannigfaltigkeit"; oder zu einem Absoluten als „das Negative der Reflexion und des Bestimmens überhaupt" (ebd.). Und so setzt Hegel dem „Absolut-Absoluten" (ebd.), „dessen Form seinem Inhalte gleich ist", das nur „relative Absolute" gegenüber, „eine Verknüpfung, welche nichts anderes bedeutet als das Absolute in einer Formbestimmung" (II, 161). Hegel verläßt damit die äußere Reflexion, die unvollkommen ist und das Absolute als Unvollkommenes auslegt, als „das Absolute in einer Bestimmtheit" oder als „Attribut" (II, 160). - Scheint dies, wie gesagt, zunächst das Ergebnis der kontrafaktischen Reflexion zu sein, welche nicht realisiert, daß im Absoluten der Unterschied von Form und Inhalt schon zur Ruhe gebracht ist, so vindiziert Hegel die entwickelte Bestimmtheit nun aber dem Absoluten selbst. „Das Absolute ist nicht nur Attribut, weil es Gegenstand einer äußern Reflexion und somit ein durch sie Bestimmtes ist. - Oder die Reflexion ist nicht nur ihm äußerlich [...]. Es ist also selbst die absolute Form, welche es in sich scheinen macht und es zum Attribut bestimmt" (ebd.).
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Die anfängliche Position zur „Auslegung des Absoluten", welche einer Zugangsschwierigkeit begegnen wollte, insofern das Absolute fertig und insofern der Bestimmungsprozeß an ein Ende gekommen zu sein scheint, wird hier im Grunde zurückgenommen, weil jetzt ja doch ein solcher Prozeß angeknüpft wird. Hegel hatte zunächst nur keinen Grund, über das Absolute hinauszugehen - es sei denn im erneuten Auftreten einer Formbestimmung, wie sie nun sogar in deren Leugnung aufgesucht wird. Auf Grund dieser offenbar bejahten Paradoxie schreitet er wieder weiter (mit der Absicht einer Rekonstruktion jener Spekulationen über das Absolute bei Spinoza und deren Korrektur bei Leibniz).
B. Das absolute Attribut Das Attribut ist das Absolute in einer Formbestimmung. Anders als beim wesentlichen Verhältnis, wo sich zwei Seiten als entgegengesetzte Totalitäten gleichsam unmittelbar gegenüberstanden, soll hier gelten, daß „diese unterschiedenen Unmittelbarkeiten zum Scheine herabgesetzt" sind (II, 161). „Die Totalität, welche das Attribut ist, ist gesetzt als sein wahres und einziges Bestehen"; soll sagen, es ist, worauf es perspektivisch verweist, also das Absolute (ebd.). Demgegenüber ist es für sich selbst als „die Bestimmung aber, in der es ist, [...] das unwesentliche [Bestehen]" (ebd.). Trotz dieser Strukturierung melden sich Bedenken, wenn Hegel hier wieder hinter die erreichte Identität und Geschlossenheit des Absoluten zurückfällt - wohl um die klassische Konzeption des Absoluten zu rekonstruieren. Diese Bedenken verstärken sich, wenn es einerseits heißt: „Das Absolute ist darum Attribut, weil es als einfache absolute Identität in der Bestimmung der Identität ist", andererseits aber: „an die Bestimmung überhaupt [dieser absoluten Identität] können nun andere Bestimmungen angeknüpft werden", z.B. auch „mehrere Attribute" - offenbar über die hinaus, welche Spinoza vorgesehen hatte (ebd.). Hegels Absicht scheint es, solche Lizenzen abzuschwächen, insofern „alle Bestimmungen" - die Attribute also - „gesetzt [sind] als aufgehobene" (ebd.). Das Attribut ist „bloßer Schein"; auch der „positive Schein, den die Auslegung sich durch das Attribut gibt, [...] hebt dies selbst auf, daß es Attribut sei; sie versenkt dasselbe und ihr unterscheidendes Tun in das einfache Absolute" (II, 161 f.). Die Rückkehr zum Absoluten erscheint, wie schon gesagt, als Mangel, als Erreichung nur der „bestimmten, abstrakten Identität" (II, 162). Die Reflexion ist „nicht aus ihrer Äußerlichkeit heraus- und zum wahrhaften Absoluten gekommen" (ebd.). Nach der Idee, daß das Äußerliche das Innerliche sei, soll weiter gelten,
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
daß die Reflexion als nur „innre Form" des Absoluten dessen Attribut faßt;109 „die innre Bestimmung durchdringt das Absolute nicht; seine Äußerung ist, als ein bloß Gesetztes am Absoluten zu verschwinden" (ebd.). Auch so gesehen ist die Bestimmung nichtig. Gerade diesen Mangel des Attributs erhebt Hegel zum Rang der neuen Bestimmtheit: die Form ist gesetzt [als] „ein an sich selbst Nichtiges, ein äußerlicher Schein, oder bloße Art und Weise zu sein" (ebd.).
C. Der Modus des Absoluten Das Problem der ,Auslegung des Absoluten' führt also auf eine neue Formbestimmung, den Modus. Das Attribut erscheint einerseits dem Absoluten zugeordnet, „ist erstlich das Absolute als in der einfachen Identität mit sich" (ebd.). Andererseits ist es „das Negative als Negatives, die dem Absoluten äußerliche Reflexion" und ergibt sich tatsächlich so als „Mitte" zwischen zwei Extremen, dessen eines der Modus ist: „das Außersichsein des Absoluten, der Verlust seiner in die Veränderlichkeit und Zufälligkeit des Seins, sein Übergegangensein ins Entgegengesetzte ohne Rückkehr in sich; die totalitätslose Mannigfaltigkeit der Form und Inhaltsbestimmungen" (ebd.). Der Modus ist „die Äußerlichkeit des Absoluten", aber „die als Äußerlichkeit gesetzte Äußerlichkeit, eine bloße Art und Weise, somit der Schein als Schein oder die Reflexion der Form in sich", ein „Scheinen, das als Scheinen gesetzt ist" (II, 162 f.). Als Auslegung des Absoluten (nach genetivus objectivus und subjectivus) soll dies dessen „reflektierende Bewegung selbst [sein], als welche das Absolute nur wahrhaft die absolute Identität ist" (II, 163). Der Schein ist eingeholt. Die Modi sind nicht als „außer dem Absoluten vorgefundende" bloß Anfang für die auslegende Reflexion, welche sie „in die indifferente Identität nur zurückführt", sondern sind solches, auf das die Reflexion kommmt, wenn sie vom Absoluten als Anfang ausgeht (ebd.). Das Absolute erscheint durch diese reflektierende Bewegung bestimmt, eben „weil es das unbewegte, noch unreflektierte Absolute ist [...]; nur durch sie ist es bestimmt als das erste Identische" (ebd.). „Die wahrhafte Bedeutung des Modus ist daher, daß er die reflektierende eigene Bewegung des Absoluten ist, ein Bestimmen, aber nicht, wodurch es ein Anderes würde, sondern nur dessen, was es schon ist, die durchsichtige Äußerung, welche das Zeigen seiner selbst ist,
109
Oder eben: nicht faßt. Anm. d. Hrsg.
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eine Bewegung aus sich heraus" (ebd.)· Das Absolute manifestiert sich als „die absolute Form, welche als die Entzweiung ihrer schlechthin identisch mit sich ist, das Negative als Negatives", „ebensosehr gleichgültig gegen ihre Unterschiede oder absoluter Inhalt"; und dieser ist so „diese Auslegung selbst" (II, 164). Hegels Ausführungen zur Rekonstruktion der klassischen Inhalte von Absolutem, Attribut und Modus sind nicht überzeugend. Daß die Nichtigkeit des Attributs gegenüber dem Absoluten die Modus-Kategorie ergibt, erscheint willkürlich. Auch entsteht so eine Dreierentwicklung Absolutes, Attribut, Modus -, die der bisherigen dialektischen Schrittfolge - Unmittelbarkeit, Differenz, Totalität - nicht entspricht. Erst in der Begriffslogik wird solches üblich als sich dann aus der Sachlage ergebend (so zumindest die Behauptung). Im Modus soll das Absolute zu sich zurückgebracht sein, was so zur Wirklichkeit überleitet, aber die Abfolge ist unregelmäßig. Bedenklich ist auch das [vorgebliche] Übergehen von der äußerlich reflektierenden Bewegung zur reflektierenden Bewegung des Absoluten selbst. Eine „Vorausandeutung des Ganges" von Seiten der Reflexion zeigte sich schon früher (vgl. I, 96 f.). Hier aber handelt es sich nicht nur um Antizipation, sondern das Vorantreiben der Begriffsbewegung durch äußere Reflexion. Anmerkung. Spinozistische und Leibnizsche Philosophie Die Ausführungen dieser Anmerkung unterstreichen zunächst den Mangel im „Begriff der spinozistischen Stthstanz", insofern letzterer nach Hegels Auffassung nur Definitionen liefert und die Attribute bloß empirisch aufnimmt (vgl. II, 164 f.). Schließlich sei „die spinozistische Auslegung des Absoluten [...] wohl vollständig, als sie von dem Absoluten anfängt, hierauf das Attribut folgen läßt und mit dem Modus endigt; aber diese drei werden nur nacheinander ohne innere Folge der Entwicklung aufgezählt, und das Dritte ist nicht die Negation als Negation, nicht sich negativ auf sich beziehende Negation, wodurch sie an ihr seihst die Rückkehr in die erste Identität und diese, wahrhafte Identität wäre" (II, 166). Daher fehle ihr „die Notwendigkeit des Fortgangs [...]; oder es mangelt sowohl das Werden der Identität als ihre Bestimmungen" (II, 166 f.). Die „Leibnizsche Monade" erscheint demgegenüber als Ergänzung Spinozas hinsichtlich der Reflexion in sich (II, 167). „Aber es zeigen sich in diesen Bestimmungen nur die gewöhnlichen Vorstellungen, die ohne
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philosophische Entwicklung gelassen und nicht zu spekulativen Begriffen erhoben sind" (II, 168). Somit erscheinen die endlichen Monaden wiederum nur als Setzungen einer „räsonnierenden, dogmatischen Reflexion" und ihr Verhältnis zum Absoluten „nicht aus diesem Wesen selbst oder nicht auf absolute Weise" entsprungen (II, 169). Anstelle solcher rückwärts gewandten Reflexionen ist vielleicht eher die Parallele zu einem modernen Denker von Interesse, zu Hans Wagner nämlich, der seinerseits das Absolute und „das absolute Prädikat" thematisiert.110 Und zwar stellt dies eine der Hegeischen Auffassung verwandte Position dar, insofern das Absolute (allerdings als übergegensätzliche Gattung gedacht) hier ebenfalls unbestimmbare Einheit und bestimmbare Entfaltung ist und dadurch eine Selbstbeziehung zu sich unterhält. Das absolute Prädikat wird gedacht als ein Gefüge „von sich wechselseitig bestimmenden, zusammen unendlichen Bestimmungsmomenten".111 Die Rekonstruktion von Attribut und Modus wird vermieden.112 Wagners Gedanken sind bezogen auf ein Absolutes als Systemspitze, als Begriff des Denkens, von dem aus ,herunterphilosophiert' wird zu Bestimmungen. Nicht gemeint ist also die Einstellung eines engsten Verhältnisses von Wesen und Sein - oder Reflexion und Unmittelbarkeit - in eine höhere Bewegung, welche zu Substanz führt. Die Stellung und der Begriff des Absoluten sind demnach anders. Und so lag die Parallele zwar nahe - hinsichtlich der Formbestimmung des Absoluten - ist aber letztlich nicht zur Rechtfertigung Hegels geeignet. Hegel selbst war offenbar wohlberaten, das Absolute bei seiner Neubearbeitung des Stoffes (in der Enzyklopädie) zu streichen.
Modalität ["Zweites Kapitel. Die Wirklichkeit] Das Absolute soll eine höhere Einheit oder Identität des Wesens erbracht haben: seine Auslegung die über das Attribut zum Modus führte, soll als Selbstauslegung des Absoluten gelten: in seiner Reflexion bestimmt es sich als „absolute Identität"; die Reflexion als „in sich zurückkehrende Bewegung" ist „das Bestimmen des Absoluten oder die Modalität desselben" (II, 169). Der Modus demnach ist eingeholt: gegenüber dem Absoluten, als „erste Identität oder [...] bloß an sieb seiende Einheit" ist der Mo110 111 112
Hans Wagner, Philosophie und Reflexion, München 31980, §§ 15 u. 16. Hans Wagner, a.a.O., S. 10. Wobei aber offenbar das „absolute Prädikat" Wagners dem Hegeischen Attribut entspricht. Anm. d. Hrsg.
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dus „die eigne Manifestation desselben, so daß diese Äußerung seine Reflexion-in-sich und damit sein An-und-für-sich-sein ist" (ebd.). Ein Rückblick auf die Genesis der jetzigen Situation soll den neuen Höhepunkt verdeutlichen (vgl. II, 169 f.). Die Existenz geht noch „in Erscheinung über, indem sie die Reflexion, welche sie enthält, entwickelt [...]; so wird sie wesentliches Verhältnis, und ihre letzte Reflexion" ist die Einheit, „in welcher Existenz oder Unmittelbarkeit und das Ansichsein, der Grund oder das Reflektierte schlechthin Momente sind" (II, 170). Diese Einheit ist „die Wirklichkeit", und das Wirkliche manifestiert sich, d.h., „es wird durch seine Äußerlichkeit nicht in die Sphäre der Veränderung gezogen, noch ist es Scheinen seiner in einem Ändern" (ebd.). Weshalb aber - abgesehen vom Anklang von ,Modalität' im ,Modus' — soll nunmehr der Ort erreicht sein, wo Wirklichkeit als Modalbestimmung neben anderen Modalbestimmungen behandelt werden kann? Eine (oder die) Antwort lautet offenbar, daß Wirklichkeit in derartigen [Wesens-]Betrachtungen ein Modalbegriff ist. Eine Lizenz wäre aber die Interpretation dieser Wesensfigur , Wirklichkeit' als andere Modalbestimmungen enthaltend oder ausmachend. Genau das ist Hegels Verfahren. Möglichkeit soll in der Wirklichkeit - oder im Begriff der Wirklichkeit - enthalten, Notwendigkeit (und auch Zufälligkeit) aus ihr zu entwickeln sein. Dieses Verfahren bedeutet offensichtlich ein Abgehen von der referentiellen Deutung solcher Wesensfiguren, geht es jetzt doch um begriffliche Unterscheidungen. Die Regionalität wird verletzt, oder das referentiell zu Verstehende wird in der neuen Unmittelbarkeit vorerst aufgehoben bzw. unterbrochen.113 Hegel meint, wie gesagt, daß die Modalbestimmungen sich als Positions- bzw. Relationssachverhalte innerhalb einer Wesensfigur deuten lassen. „Die Wirklichkeit als selbst unmittelbare Formeinheit des Innern und Äußern ist damit in der Bestimmung der Unmittelbarkeit gegen die Bestimmung der Reflexion in sich; oder sie ist eine Wirklichkeit gegen eine Möglichkeit. Die Beziehung beider aufeinander ist das Dritte, das Wirkliche bestimmt ebensosehr als in sich reflektiertes Sein, und dieses zugleich als unmittelbar existierendes. Dieses Dritte ist die Notwendigkeit" (ebd.). Auch die Zufälligkeit, soll sich aus dem beiderseitigen Gesetztsein der Wesensfigur [von Wirklichem und Möglichem] deuten lassen (vgl. ebd.). Dies Modell wird nun mit einer weiteren Gliederung verknüpft: Hegel unterscheidet formelle' Modalbestimmungen, ,reale' und ,absolute' 113
Hartmann notiert am Rande: „nur für die formelle Modalität [II, 171 ff.] und auch da nur bedingt". Offenbar ist Hegels Vermischung von Begriff und Referent gemeint (von .Wirklichkeit' und .Wirklichem', .Möglichkeit' und .Möglichem' usw.). Anm. d. Hrsg.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
(vgl. ebd.). - Dabei ist eigenartigerweise die formelle Betrachtung assoziiert mit der Zufälligkeit (allerdings kommt Zufälligkeit in allen drei Durchgängen vor). - Was bedeutet das alles? Eine Unterscheidung von ,formell', ,real' und ,absolut' ist vorgeprägt in der Unterscheidung von »formell', ,real' und ,vollständig' beim ,Grund' (vgl. II, 76 ff., 82 ff., 88 ff.). Man vergleiche für ,formell' auch der Sache nach Ähnliches bei „Form und Wesen" (II, 66 ff.), dann - für ,real' bzw. ,absolut' - „Das relativ Unbedingte" (II, 91 ff.) bzw. „Das absolute Unbedingte" (II, 94 ff.). Die ,Schein'-Sphäre „Erscheinung" als ganze (II, 122 ff.) fällt unter „realer Schein" (II, 123), dem „Das wesentliche Verhältnis" gegenübersteht (II, 136 ff.), wenn auch das Stück über „Existenz" (II, 102 ff.) schwerlich als .formell' zu bezeichnen ist - Existenz ist „an sich [...] reale Reflexion' (II, 169). Als formell hinwiederum berührt die Behandlung „des Ganzen und der Teile" (II, 138 ff.) - im Unterschied zum Realverständnis des Verhältnisses „der Kraft und ihrer Äußerung" (II, 144 ff.). Und auch „Das Absolute" (II, 157 ff.) nimmt gegenüber der „Wirklichkeit" (II, 169 ff.) offenbar die Position des Formellen ein, so scheint es. Nicht im Widerspruch dazu heißt es: „Die Wirklichkeit ist formell, insofern sie als erste Wirklichkeit nur unmittelbare, unreflektierte Wirklichkeit, somit nur in dieser Formbestimmung, aber nicht als Totalität der Form ist. Sie ist so weiter nichts als ein Sein oder Existenz überhaupt" (II, 171). ,Formeir hat offensichtlich keinen strengen oder eindeutigen Sinn. Eine Denkfigur ist vielmehr dann ,formell', wenn sie der Form nach vorliegt, ohne daß Inhalte eine Rolle spielen oder wenn diese äußerlich bleiben - wie bei dem „in seiner reinen Form [...] vorhandenen", als „bloßer Formalismus und leere Tautologie" bezeichneten „formellen Grund" (II, 78). Wird auf Inhalt oder Inhalte Bedacht genommen, sind diese relevant und „nicht äußerlich", so enthält die Denkfigur eine Realbeziehung - so beim „realen Grund" usw. (II, 82). .Formell' bezeichnet also einen Strukturgedanken, eine Formbestimmung, bevor Opposita ernst genommen und für ein kategoriales Weiterschreiten genützt werden. Formelles ist so nicht nur Leerform, sondern auch antecedens-Kategorie; entsprechend ist Reales consequens-Kategorie, und Vollständiges oder Absolutes nach der Realstufe - die abschließende Kategorie, „Totalität der Form" (II, 171). Somit gewinnt .formell' den Sinn von „bloß an sich seiende Einheit" (II, 169), oder: daß die Momente „nicht die Gestalt der Selbständigkeit haben" (II, 175). Dieser Sinn wird sich in der Modaltheorie wieder neu nuancieren.
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A. Zufälligkeit oder formelle Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit Wie bereits zitiert, ist diese Wirklichkeit „nichts als Sein oder Existenz überhaupt" (II, 171). Weil sie aber wesenslogisch zu verstehen ist, „Formeinheit des Ansichseins oder der Innerlichkeit und der Äußerlichkeit ist, so enthält sie unmittelbar das Ansichsein oder die Möglichkeit" (ebd.). Dies soll die Formel rechtfertigen: „Was wirklich ist, ist möglich" (ebd.). Entsprechend hatte Hegel beim ,Ding' gemeint: „Wenn das Ding von seiner Existenz" (seiner Peripherie) „unterschieden wird, so ist es das Mögliche, das Ding der Vorstellung oder das Gedankending, welches als solches nicht zugleich existieren soll" (II, 106). Hegel erwägt die Stellung der Möglichkeit als „die in sich reflektierte Wirklichkeit" (II, 171). Das „erste Reflektiertsein" ist zwar „ebenfalls das Formelle" (Inneres) „und hiemit überhaupt nur die Bestimmung der Identität mit sich oder des Ansichseins überhaupt" (ebd.). Gemessen aber an der „Totalität der Form" hat Möglichkeit als Moment für sich („herabgesetzt [...] zu einem Momente") „zweitens die negative Bedeutung, daß die Möglichkeit ein Mangelhaftes" ist, das auf die Wirklichkeit verweist (ebd.). Nach der ersten Hinsicht ist Möglichkeit, so Hegel, die „bloße Formbestimmung der Identität mit sich oder die Form der Wesentlichkeit"; sie ist so der „verhältnislose, unbestimmte Behälter für alles überhaupt" (ebd.). In solcher Abstraktion von allen wesentlichen Bezügen - „im Sinne dieser formellen Möglichkeit ist alles möglich, was sich nicht widerspricht" (ebd.). Hegel will hier also den Leibnizschen Begriff von Möglichkeit erschlossen haben -und verknüpft ihn mit dem Identitätssatz. „A ist möglich, heißt soviel als A ist A. Insofern man sich nicht auf die Entwicklung des Inhalts einläßt", bleibt dieser „ein mit sich Identisches und daher ein Mögliches. Es ist aber damit ebenso nichts gesagt als mit dem formellen identischen Satze" (II, 172). „Das Mögliche enthält jedoch mehr als der bloß identische Satz" (ebd.). In dieser zweiten Hinsicht, nach der Möglichkeit ein Mangel ist, meint Hegel: „jedes Mannigfaltige ist in sich und gegen anderes bestimmt und hat die Negation an ihm; [...] die gleichgültige Verschiedenheit [geht] in die Entgegensetzung über; die Entgegensetzung aber ist der Widerspruch. Daher ist alles ebensosehr ein Widersprechendes und daher Unmögliches" (II, 171). Das Mögliche hat „die zweite Bestimmung nur ein Mögliches zu sein, und das Sollen der Totalität der Form. Die Möglichkeit ohne dieses Sollen ist die Wesentlichkeit als solche; aber die absolute Form enthält dies, daß das Wesen selbst nur Moment [ist] und ohne Sein
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seine Wahrheit nicht hat [...] Die Möglichkeit ist daher an ihr selbst auch der Widerspruch, oder sie ist die Unmöglichkeit" (II, 172). Dies wird weiter interpretiert: wenn Ansichsein auch Nicht-Ansichsein ist, so soll aufgehobenes Ansichsein auch für „Anderssein" stehen; „in dem möglichen A ist auch das mögliche Nicht-A enthalten, und diese Beziehung selbst ist es, welche beide als mögliche bestimmt" (ebd.). Da die Möglichkeit aber in dieser wechselweisen Einräumung des Gegenteils „an ihr selbst auch der Widerspruch" ist (ebd.), d.h. „ihrer Bestimmung nach das Reflektierte, und wie sich gezeigt hat, das sich aufhebende Reflektierte ist, so ist sie somit auch das Unmittelbare, und damit wird sie Wirklichkeit" (II, 173). Die Argumentation erscheint suspekt. Hegel entwickelt aus einer wesenslogischen Deutung der Denkfigur Wirkliches-Mögliches das Fürsichnehmen der Möglichkeit: diese ist dann nicht an Wirklichkeit gebunden, kann Beliebiges sein oder gerade auch nicht sein. Wenn Möglichkeit wesenslogisch gefaßt wird, dann ist klar, daß ihr Fürsichnehmen den Konflikt mit der Wesensfigur heraufbeschört, so daß sie auf Grund ihres Widerspruchs übergeht in - oder verweist auf - Wirklichkeit. Anders ausgedrückt: Hegel setzt also die „positive Identität" von Wirklichkeit und Möglichkeit gegen deren Opposition, nach der Möglichkeit „als nur ein Mögliches" ist (ebd.). Dies zeigen die weiteren Ausführungen zur „formellen Wirklichkeit" (ebd.). Während die reflektierte Wirklichkeit114 gesetzt ist „als Einheit ihrer selbst und der Möglichkeit", hat „diejenige, welche zuerst vorkam, nämlich die formelle" sich bestimmt, „nur Möglichkeit zu sein" - und zwar weil „die formelle Wirklichkeit nur unmittelbare erste ist, [...] nur Moment, nur aufgehobene Wirklichkeit oder nur Möglichkeit" (ebd.). Und so wie diese formelle Wirklichkeit, „welche nur Sein oder Existenz überhaupt ist", hier als Möglichkeit bestimmt wird, gilt umgekehrt: „Alles Mögliche hat daher überhaupt ein Sein oder eine Existenz", also mindere Wirklichkeit115 (ebd.). - „Diese Einheit der Möglichkeit und Wirklichkeit ist die Zufälligkeit" (ebd.). Es handelt sich, anders gesagt, um „ein Wirkliches das zugleich nur als möglich bestimmt, dessen Anderes oder Gegenteil ebensosehr ist" (ebd.). Die Argumentation erscheint wiederum suspekt. Ein Wirkliches, das nur möglich ist, kann deshalb nicht als ein solches gelten, das anders sein 114
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D.h.: die Wirklichkeit als notwendige, wie im Anschluß an die neuerlichen Ausführungen zur ,formellen Wirklichkeit oder Zufälligkeit' noch weiter entwickelt wird. Anm. d. Hrsg. D.h.: ohne bestimmtere inhaltliche Beziehung auf die Möglichkeit. Anm. d. Hrsg.
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kann - es sei denn in dem Sinne, daß es, wesenslogisch gedacht, ,Möglichkeit hat'.116 Wenn nun das Zufällige ein Wirkliches ist, das anders sein kann, - also in Identitätsbeziehung mit einem Möglichen steht, das es ist, oder einer Möglichkeit, die es hat, - dann ergibt sich daraus ein Widerspruch. Solch Zufälliges nämlich ist unmittelbar, „nicht Gesetztsein, noch vermittelt, sondern unmittelbare Wirklichkeit; es hat keinen Grund"; andererseits ist es „das Wirkliche als ein nur Mögliches oder als ein Gesetztsein; [...] oder es hat einen Grund" (II, 174). Zufälliges ist also mit Grund und ohne Grund. - Hegel treibt das noch weiter:117 die Wirklichkeit „in ihrer unmittelbaren Einheit mit der Möglichkeit [...] und bestimmt als Grundloses" ist gerade „nur ein Gesetztes oder nur Mögliches" - von der Möglichkeit aber getrennt „als reflektiert und bestimmt gegen die Möglichkeit", ist die Wirklichkeit gerade „unmittelbar auch nur ein Mögliches"; Entsprechendes parallel für die Möglichkeit (ebd.). - Hegel konstatiert so eine „absolute Unruhe des Werdens", bei welcher jede der beiden Bestimmungen „in die entgegengesetzte umschlägt" (ebd.). Ist dies das Wesen der Zufälligkeit, so gehen darin Möglichkeit und Wirklichkeit doch „ebenso schlechthin mit sich selbst zusammen, und diese Identität derselben, einer in der ändern, ist die Notwendigkeit" (ebd.). „Das Notwendige ist ein Wirkliches; so ist es als Unmittelbares, Grundloses; es hat aber ebensosehr seine Wirklichkeit durch ein Anderes oder in seinem Grunde, aber ist zugleich das Gesetztsein dieses Grundes und die Reflexion desselben in sich; die Möglichkeit des Notwendigen ist eine aufgehobene" (II, 174 f.). Notwendigkeit ist also der Fall, wo Wirklichkeit auf einen Grund, seine Möglichkeit, bezogen ist - wo es „Grund oder Ansichsein" und „Begründetes" gibt - und wo die Grundbeziehung „schlechthin aufgehoben und als Sein gesetzt ist" (II, 175). „Das Notwendige ist" und ist zugleich „an sich", nämlich als „Reflexion-in-sich" (ebd.). Wirklichkeit ist „in ihrem Unterschiedenen, der Möglichkeit, identisch mit sich selbst. Als diese Identität ist sie Notwendigkeit" (ebd.). Möglichkeit und Wirklichkeit sind in Notwendigkeit zusammengeschlossen - auf Grund des Widerspruchs der Zufälligkeit, der diesen 116 117
Dies ist offenbar gemeint: ein als Reales augenscheinlich Mögliches, das anderes Reales in sich beschließt. Anm. d. Hrsg. Nämlich für die Momente des Zufälligen, welche strukturell so wie .Inneres und Äußeres' unmittelbar aufeinander verweisen. Als „Einheit der beiden Momente" Wirklichkeit und Möglichkeit ist die Zufälligkeit „Totalität der Form, aber die sich noch äußerliche Totalität" (II, 179). Oder das Wirkliche, zunächst „die einfache, selbst unmittelbare Einheit des Innern und Äußern", ist in seiner Bestimmung „als unwesentliches Äußeres" der Möglichkeit (als des Inneren) „ein Zufälliges" (E, § 144). Anm. d. Hrsg.
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Übergang machte. Aber was besagt dies? - Gibt es Notwendiges als einen Referenten, der notwendig ist? Oder ist Notwendigkeit als Modalbegriff das Fazit aus den vorangegangenen Begriffen der gleichen Art? Zwar ist die Antwort hier wieder nicht zweifelhaft: da die Untersuchung formellen Modalbegriffen gilt, kann kein anderes Reales Relevanz für Möglichkeit haben, so daß nur wesensimmanente Relationen erwogen werden. Umso mehr muß man aber fragen, was das Notwendige als Seiendes ist. Denn [wie gesagt]: „Das Notwendige ist, und dies Seiende ist seihst das Notwendige" (ebd.). Man möchte letzteres als Bekräftigung des megarischen Modalarguments lesen: was nur möglich ist, ist unmöglich; was möglich ist, ist auch wirklich; was wirklich ist, kann unmöglich anders sein (im Sinne einer Möglichkeit, die nicht wirklich ist) und ist deshalb notwendig. Aber Hegels Argumentation ist sehr anders. Statt zu sagen: nur das wirklich Gewordene war möglich, das wirklich Gewordene war das einzige Mögliche, also ist es notwendig -, geht er den Weg, eine Wesensfigur einzuführen, welche entsprechend interpretierbar ist. Dies Verfahren macht einen Zusammenhang von lAoas\be griffen deutbar: daß die Termini sich wechselseitig bedingen, ist in der Wesenskonzeption beschlossen und durch sie erklärt. Allerdings bedeutet dieses Verfahren die Vorwegnahme einer Tendenz zur Notwendigkeit. (Modalbegriffe werden sonst in Form von Gegensätzen oder Implikationen eingeführt (Aristoteles),118 welche zum Teil der Definition dienen - sei es als inhaltliche Explikation bei N. Hartmann oder in mehr terminologischer Form bei O. Becker.)119 Neben der genannten Tendenz spielt jedoch auch die Zufälligkeit eine besondere Rolle: als vierte vorkommende Modalbestimmung ist sie eigentlich real-modal, kommt aber zugleich schon als formelle Bestimmung vor. Ja, mehr noch, Zufälligkeit ist Hinsicht für die formelle (!) Modalbetrachtung: es heißt „Zufälligkeit oder formelle Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit" (II, 171). Anscheinend ist Zufälligkeit - als Fall der Grundbezogenheit und Grundlosigkeit, von Möglichkeitsbezogenheit des Wirklichen und Nicht-so-Bezogenheit — eine prinzipielle, allgemein modaltheoretische Bestimmung und nicht erst eine real-modale, nachfolgend zu den theoretischen Bestimmungen.
118 119
Vgl. G. Seel, Die Aristotelische Modaltheorie, Berlin 1982, S. 147 f. Vgl. G. Seel, a.a.O., S. 20 bzw. S. 34 f.
Dritter Abschnitt. Die Wirklichkeit
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B. Relative Notwendigkeit oder reale Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit In der formellen Notwendigkeit liegt eine Einheit von modalen Bestimmungen, welche ihrerseits formell sind „und somit nicht die Gestalt der Selbständigkeit haben" (II, 175). Hegel möchte zu solchen Formbestimmungen Inhalt hinzugewinnen, die Modalanalyse verlangt also Referenten des Bestimmtheitstyps , Wirklichkeit*. Dies wird so bewerkstelligt, daß die Wirklichkeit, welche Notwendigkeit ist, als „Einheit" bestimmt wird, die als zunächst „gleichgültig gegen den Unterschied der Formbestimmungen, nämlich ihrer selbst und der Möglichkeit, - einen Inhalt hat" (ebd.). Mit diesem prekären Übergang - Gleichgültigkeit gegen formelle Modalbestimmungen leitet über zu den Sachen - versetzt sich Hegel in die „reale Wirklichkeit" (ebd.). Diese „als solche ist zunächst das Ding von vielen Eigenschaften", nunmehr aber nicht auf dessen Auflösung in Erscheinung hin verfolgt (ebd.). Vielmehr ist die reale Wirklichkeit „zugleich Ansichsein und Reflexion-in-sich, sie erhält sich in der Mannigfaltigkeit der bloßen Existenz; ihre Äußerlichkeit ist innerliches Verhalten nur zu sich selbst. Was wirklich ist, kann wirken; seine Wirklichkeit gibt etwas kund durch das, was es hervorbringt. Sein Verhalten zu anderem ist die Manifestation seiner, weder ein Übergehen - so bezieht das seiende Etwas sich auf anderes, - noch ein Erscheinen - so ist das Ding nur im Verhältnis zu ändern, ist ein Selbständiges, das aber seine Reflexion-in-sich, seine bestimmte Wesentlichkeit in einem ändern Selbständigen hat" (II, 176). Möglichkeit wird als Ansichsein der realen Wirklichkeit zugesprochen; beide sind unmittelbar in eins, und der Unmittelbarkeit wegen auch unterschieden: diese Möglichkeit ist die „reale Möglichkeit" (ebd.). Nicht mehr ist - wie im formellen Fall - gemeint, daß nur „Etwas sich in sich nicht widerspreche"; die reale Möglichkeit einer Sache liegt in ihren „Bestimmungen, Umständen, Bedingungen" (ebd.). Als reale Möglichkeit hat sie die Bestimmung der unmittelbaren Existenz an ihr selbst, „nicht mehr aber darum, weil die Möglichkeit als solche, als formelles Moment, unmittelbar ihr Gegenteil, eine nicht reflektierte Wirklichkeit ist; sondern weil sie reale Möglichkeit ist, hat sie sogleich diese Bestimmung an ihr selbst" (ebd.). Sie ist „die daseiende Mannigfaltigkeit von Umständen", welche sich auf eine Sache beziehen (ebd.). - Die Mannigfaltigkeit des Dasein ist also zunächst sowohl Möglichkeit wie Wirklichkeit; beide erscheinen als Formbestimmungen am selben Inhalt. Die Unterscheidung von Wirklichkeit „als formeller oder unmittelbarer" und Möglichkeit „als des abstrakten Ansichseins" führt bei einer rea-
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
len Wirklichkeit, die reale Möglichkeit ist, nun zur Aussage: diese Wirklichkeit sei „nicht ihre eigene Möglichkeit, sondern das Ansichsein eines ändern Wirklichen" (II, 177). Soll sie nicht „nur Möglichkeit" bleiben, so muß sie aufgehoben, in Anderem wirklich werden - derart könnte man, in Anlehnung an den Text, dies weiter ausgestalten (ebd.)· Reale Möglichkeit ist für Hegel das „Ganze von Bedingungen [...], eine nicht in sich reflektierte, zerstreute Wirklichkeit", welche bestimmt ist, das Ansichsein eines anderen Wirklichen zu sein „und in sich zurückgehen zu sollen" (ebd.).120 Hegel entwickelt aus dieser Konzeption einen Widerspruch. Das real Mögliche widerspricht sich „nach seiner einfachen Inhaltsbestimmung" nicht; „auch nach seinen entwickelten und unterschiedenen Umständen [...] muß es als das mit sich Identische sich nicht widersprechen" (ebd.). Andererseits ist dies dann doch der Fall, weil das real Mögliche „in sich mannigfaltig und mit anderem in mannigfaltigem Zusammenhange ist, die Verschiedenheit aber an sich selbst in Entgegensetzung übergeht", und es somit ein Widersprechendes ist (ebd.). - Hegel meint, dies sei „nicht ein Widerspruch der Vergleichung,121 sondern die mannigfaltige Existenz ist an sich selbst dies, sich aufzuheben und zugrunde zu gehen, und hat darin wesentlich die Bestimmung, nur ein Mögliches zu sein, an ihr selbst" (ebd.). Hiernach scheint es, daß Wirklichkeit als Möglichkeit für andere Wirklichkeit gelinge und scheitere.122 Hegel geht es aber123 um ein Quidproquo von Wirklichkeit und Möglichkeit. Er erinnert in diesem Zusammenhang an ein Datum aus dem Kapitel über den Grund: „Wenn alle Bedingungen einer Sache vollständig vorhanden sind, so tritt sie in die Wirklichkeit" (ebd.; vgl. II, 99: „Wenn alle Bedingungen einer Sache vorhanden sind, so tritt sie in die Existenz"). Während aber die Bedingungen „die Form, nämlich den Grund oder die für sich seiende Reflexion außer ihnen" haben, ist die Wirklichkeit gesetzt als reale Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit (ebd.). Wenn keine voraussetzende Reflexion124 mehr maßgebend ist, sind Wirklichkeit und Möglichkeit an ihnen selbst eines. „Die reale Möglich120
121 122
123 124
Gemeint ist vielleicht einfach: indem das Mögliche als nur Mögliches oder bloßes ,Moment der absoluten Form' genommen wird, erweist sich diese Trennung vom Wirklichen gerade darin, daß es nunmehr Möglichkeit eines Anderen ist. Anm. d. Hrsg. D.h. wohl: der äußeren Reflexion. Anm. d. Hrsg. Letzteres ist nicht einsichtig. Darauf, daß reale Wirklichkeit „an sich selbst" die Bestimmung hat „nur ein Mögliches zu sein" (II, 177), beruht es, daß Wirklichkeit als Möglichkeit für andere Wirklichkeit gelingt - und darauf der Widerspruch. Anm. d. Hrsg. Das „aber" meint wohl: mit der Aufhebung des Widerspruchs. Anm. d. Hrsg. D.h.: äußere, nach Wesens- und Seinsmoment differenzierende Reflexion. Anm. d. Hrsg.
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keit hat nicht mehr ein solches Anderes sich gegenüber, denn sie ist real, insofern sie selbst auch die Wirklichkeit ist. Indem sich also die unmittelbare Existenz derselben, der Kreis der Bedingungen, aufhebt, so macht sie sich zum Ansichsein, welches sie selbst schon ist, nämlich als das Ansichsein eines Ändern. Und indem umgekehrt dadurch zugleich ihr Moment des Ansichseins sich aufhebt, wird sie zur Wirklichkeit, also zu dem Momente, das sie gleichfalls selbst schon ist. - Was verschwindet, ist damit dies, daß die Wirklichkeit bestimmt war als die Möglichkeit oder das Ansichsein eines Ändern, und umgekehrt die Möglichkeit als eine Wirklichkeit, die nicht diejenige ist, deren Möglichkeit sie ist" (II, 178). Es handelt sich - systematice, kategorialiter, metatheoretisch - nicht um „ein Ühergehen, sondern ein Zusammengehen mit sich seihst" - eine Vorgestalt des Zusammengehens bei der nachfolgenden Kausalität (ebd.). Eine solche Identität in der Negation welche im Aufheben der realen Möglichkeit „der Gegenstoß dieses Aufhebens in sich selbst ist", ein solches Zusammengehen bezeichnet Hegel als „reale Notwendigkeit" (ebd.). Ihren Ausdruck findet sie in dem Satz: „Was notwendig ist, kann nicht anders sein" - im Unterschied zu dem, „was überhaupt möglich ist; denn die Möglichkeit ist das Ansichsein, das nur Gesetztsein und daher wesentlich Anderssein ist" (ebd.). Nun aber handelt es sich nicht mehr um die formelle Möglichkeit, nach der „darum, weil etwas möglich war, auch - nicht es seihst sondern - sein Anderes möglich" war; sondern es handelt sich um reale Notwendigkeit und reale Möglichkeit - und letztere, „weil sie das andere Moment, die Wirklichkeit an ihr hat, ist schon selbst die Notwendigkeit" (ebd.). Unter den Bedingungen und Umständen, die eine reale Möglichkeit ausmachen, „kann nicht etwas anderes erfolgen. Reale Möglichkeit und die Notwendigkeit sind daher nur scheinbar unterschieden" - eine Identität, „die nicht erst wird, sondern schon vorausgesetzt ist und zugrunde liegt" ( , 179).125 Andererseits, so meint Hegel, sei diese Notwendigkeit „zugleich relativ. - Sie hat nämlich eine Voraussetzung, von der sie anfängt, sie hat an dem Zufälligen ihren Ausgangspunkt. Das reale Wirkliche als solches ist näm125
Zum besseren Verständnis sei ergänzt: Hegel rekapituliert die Entwicklung der .realen Notwendigkeit' und betrachtet hier die Ausgangsidentität ihrer Formmomente; im Unterschied zur .formellen Notwendigkeit' als einem .inhaltslosen Punkt' ist diese eine „inhaltsvolle Beziehung; denn der Inhalt ist jene ansichseiende Identität, die gegen die Formunterschiede gleichgültig ist" (II, 179). Und deshalb also ist die reale Möglichkeit, anders als die formelle, nicht mehr ein „Übergehen in schlechthin anderes" (II, 178). Daß sie aber auf der Differenzstufe, also als bestimmt-reale (oder real-bestimmte), sehr wohl ein Übergehen in .relativ anderes' und die Notwendigkeit deshalb auch nur „relativ" ist, wurde entwickelt und wird im folgenden wiederholt. Anm. d. Hrsg.
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Grundlegung von Erklärung: die Wesenslogik
lieh das bestimmte Wirkliche und hat zunächst seine Bestimmtheit als unmittelbares Sein" (ebd.). Und die reale Notwendigkeit „fängt somit von jener noch nicht in sich reflektierten Einheit des Möglichen und Wirklichen an; - dieses Voraussetzen und die in sich zurückkehrende Bewegung ist noch getrennt; - oder die Notwendigkeit hat sich noch nicht aus sich selbst zur Zufälligkeit bestimmt" (ebd.). - Es findet sich in diesem Zusammenhang wieder jene eigentümliche Deutung von Zufälligkeit: die Einheit der Möglichkeit und der Wirklichkeit sei wegen des Seinsmoments „unmittelbar oder positiv"; insofern aber die Möglichkeit der Existenz „gesetzt ist, ist sie bestimmt als nur Möglichkeit, als unmittelbares Umschlagen der Wirklichkeit in ihr Gegenteil, - oder als Zufälligkeit" (ebd).126 Die reale Notwendigkeit sei ihrem Inhalt nach „irgendeine beschränkte Wirklichkeit, die um dieser Beschränktheit willen in anderer Rücksicht auch nur ein Zufälliges ist" (II, 179 f.). Oder: die „reale Notwendigkeit an sich" sei „auch Zufälligkeit. - Dies erscheint zunächst so, daß das real Notwendige der Form nach zwar ein Notwendiges, aber dem Inhalte nach ein Beschränktes sei und durch ihn seine Zufälligkeit habe. Allein auch in der Form der realen Notwendigkeit ist die Zufälligkeit enthalten; denn wie sich gezeigt, ist die reale Möglichkeit nur an sich das Notwendige, gesetzt aber ist sie als das Anderssein der Wirklichkeit und Möglichkeit gegeneinander. Die reale Notwendigkeit enthält daher die Zufälligkeit; sie ist die Rückkehr in sich aus jenem unruhigen Anderssein der Wirklichkeit und Möglichkeit gegeneinander, aber nicht aus sich selbst zu sich" (II, 180). Der Übergang zum absoluten Einheitsfall von Notwendigkeit und Zufälligkeit bietet sich an. C. Absolute Notwendigkeit „Die reale Notwendigkeit ist bestimmte Notwendigkeit" (ebd.). Diese Bestimmtheit „besteht darin, daß sie ihre Negation, die Zufälligkeit, an ihr hat" (ebd.). - „In ihrer ersten Einfachheit" aber ist sie Wirklichkeit; „die bestimmte Notwendigkeit ist daher unmittelbar wirkliche Notwendigkeit": eine Wirklichkeit, „die selbst als solche notwendig ist, indem sie nämlich die Notwendigkeit als ihr Ansichsein enthält, ist absolute Wirklichkeit; — Wirklichkeit, die nicht mehr anders sein kann, denn ihr Ansichsein ist nicht die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit selbst" (ebd.). Zugleich aber „ist diese Wirklichkeit, - weil sie gesetzt ist, absolut, d.h. seihst die Einheit ihrer und der Möglichkeit zu sein, - nur eine leere Be126
Vgl. Anm. 117. Anm. d. Hrsg.
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Stimmung, oder sie ist Zufälligkeit. - Dies Leere ihrer Bestimmung macht sie zu einer bloßen Möglichkeit, zu einem, das ebensosehr auch anders sein und als Mögliches bestimmt werden kann" (ebd.). Die Voraussetzung, welche die reale Notwendigkeit noch hatte, wird „eigenes Setzen" der absoluten Notwendigkeit (II, 181). Daraus ergibt sich „das Aufgehobensein der Wirklichkeit in der Möglichkeit und umgekehrt" - und zwar zugleich als „dies einfache Umschlagen des einen dieser Momente in das andere" (ebd.), die „absolute Unruhe", welche Zufälligkeit ist (II, 174), wie auch als „ihre einfache positive Einheit", d.h. Notwendigkeit (II, 181). - Zufälligkeit, die am Anfang Motto war und bei der realen Notwendigkeit noch als Faktor vorkam, ist zwar jetzt wiederum vorhanden, aber gleichsam resorbiert. Entsprechend macht sie der Unterscheidung nach ,relativer' und ,absoluter Notwendigkeit' Platz eine nur scheinbare Unebenheit. „So hat die Form in ihrer Realisierung alle ihre Unterschiede durchdrungen und sich durchsichtig gemacht" (ebd.). Für Hegel ist damit der „Unterschied von dem Inhalte und der Form selbst [...] verschwunden" (II, 182). Verschwunden ist „die Formbestimmung des Ansichseins gegen das Gesetztsein", an der sich die Modalstruktur der Notwendigkeit „äußerlich verlief" - als zwar „reflektierte Identität beider Bestimmungen", aber dennoch „gegen sie gleichgültig", was sich in der „Beschränktheit des Inhalts" spiegelte (ebd.). - Die absolute Notwendigkeit ist demgegenüber „die Wahrheit, in welche Wirklichkeit und Möglichkeit überhaupt, sowie die formelle und reale Notwendigkeit zurückgeht" (ebd.). - „Das schlechthin Notwendige ist nur, weil es ist"; und „es ist also,127 weil es ist". „Die absolute Notwendigkeit ist so die Reflexion oder Form des Absoluten; Einheit des Seins und Wesens, einfache Unmittelbarkeit, welche absolute Negativität ist" (ebd.). Einerseits ist die absolute Notwendigkeit „daher blind" - insofern die in der Bestimmung als Wirklichkeit und Möglichkeit Unterschiedenen „freie Wirklichkeiten" sind, „deren keins im Ändern scheint" (II, 183). Man sieht diesem Sein keine Beziehung zu Anderem an; „die Berührung dieser Wirklichkeiten durcheinander erscheint daher als eine leere Äußerlichkeit" oder als „Zufälligkeit" (ebd.). - „Denn das Sein ist gesetzt als absolut notwendig, als die Vermittlung mit sich, welche absolute Negation der Vermittlung durch anderes ist" (ebd.). Weil aber diese freien Wirklichkeiten „nur rein in sich gegründet, für sich gestaltet sind, sich nur sich selbst manifestieren" und ihr Wesen „das 127
D.h.: in seiner bestimmten Ausprägung. Anm. d. Hrsg.
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Lichtscheue" ist - eben deshalb wird ihr Wesen „an ihnen [den Wirklichkeiten] hervorbrechen und offenbaren, was es ist und was sie sind". Das Negative nämlich „bricht an ihnen hervor, weil das Sein durch dies sein Wesen der Widerspruch mit sich selbst ist, - und zwar gegen dies Sein in der Form des Seins, also als die Negation jener Wirklichkeiten, welche absolut verschieden ist von ihrem Sein, als ihr Nichts, als ein ebenso freies Anderssein gegen sie, als ihr Sein es ist" (ebd.)· Nach den poetischen Formulierungen Hegels scheint sich das Sein im Wesen zu verlieren.128 „Diese Manifestation dessen, was die Bestimmtheit in Wahrheit ist, negative Beziehung auf sich selbst, ist blinder Untergang im Anderssein [...] oder Übergeben des Seins in Nichts" (II, 184). Aber es ist ja das Sein „umgekehrt ebensosehr Wesen [...]; und das Übergehen des Wirklichen in Mögliches, des Seins in Nichts ein Zusammengehen mit sich selbst" (ebd.). Von dieser Seite betrachtet, ist die Einheit von Sein und Wesen, „diese Identität des Seins in seiner Negation mit sich selbst [...] nun Substanz" (ebd.). In ihrer Negation „als in der Zufälligkeit" ist sie im „Verhältnis zu sich selbst. Das blinde Übergehen der Notwendigkeit", d.h. das sich-auf-Anderes-Anweisen, ist „die eigene Auslegung des Absoluten" (ebd.). - Das Absolute hat jetzt Stoff, sich zu bestimmen, könnte man sagen, wobei nicht stören darf, daß das Absolute einfach ein Fall von Absolutheitsstruktur, eben Substanz, und nicht ,das Ganze von Substanzen' ist.
Anmerkungen zur Modalität 1. Beziehungen zu Aristoteles.129 Ähnlich ist, daß Wirkliches modal betrachtet wird, als Wirkliches einer [inhärierenden] Möglichkeit, - eine energeia, die dynamis ist -, bzw. als Wirklichkeit einer Notwendigkeit [bei Aristoteles] im privilegierten Fall des unbewegten Bewegers. Diese Auffassung wird allerdings auf formelle Verhältnisse erstreckt, die sich für Hegel nicht in Formeln einer Modallogik erschöpfen, was andererseits bei Aristoteles der Fall ist: eine Differenz, ähnlich der im Falle von Identität, Gegensatz und Widerspruch.
128
129
Wohl nicht eigentlich „im Wesen", sondern im Nichts - als nur auf sich bezogene Wirklichkeiten, deren ganzes Wesen sich in ihrem konkreten Sein erschöpft. Anm. d. Hrsg. Vgl. zum Folgenden: Aristoteles, Metaphysik Bücher Theta und Lambda bzw., zur Aristotelischen Modallogik im eigentlichen Sinne, „Peri Hermeneias" (oder: „De interpretatione"), Kap. 12 u. 13. Anm. d. Hrsg.
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Auch anders ist bei Hegel, daß der Begriff der Privation (als Gegenteil der dynamis) nicht vorkommt. Daß Möglichkeit Negation der Wirklichkeit ist, stellt zwar eine scheinbare Ähnlichkeit dar; aber dies ist eine wesenslogische Strukturgeneralität, die nicht den Ausdruck ,Privation' deckt. Unähnlich ist, daß bei der realen Möglichkeit eine Möglichkeit von anderem Wirklichen gemeint ist, während Aristoteles sowohl dies meint als auch die Entwicklung am Selben (was für Hegel zur Begriffslogik gehört). Unähnlich ist schließlich, daß bei Hegel in Modalverhältnissen [überhaupt] nur die Wesensfigur aufgesucht wird; es geht nicht um auch zeitlich bedingte Realprinzipien, also um dynamis-energeia-Beziehungen, sondern um metatheoretische Differenzen und Identitäten von Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit. 2. So erstaunlich es sein mag, die realen und abstrakten Modalbestimmungen sind nicht existentiale Prädikate im Sinne von: ,das und das ist notwendig', oder ,ist möglicherweise'. Vielmehr sind sie kategorial differente Bestimmungen von Wesensfiguren, Bestimmungen also von solchem, das in der Einigung mit Anderem eine Vollendung oder (angesichts der nachfolgenden Ausführungen über Sustanz und Kausalität) eine gewisse Vollendung aufweist: so wie eben die Hegeischen Modalbestimmungen erst auf einer bestimmten kategorialen Stufe - nach Existenz zum Zuge kommen. Sie sind so zutiefst zweideutig als Bestimmungen eigenen und kategorialen Typs. Dabei geht es, wie bereits erwähnt und anders als es bei Findlay erscheint, Hegel nicht darum, gewisse Modalsätze zu reproduzieren und auch um kein erkenntnistheoretisches Verständnis von Modalität wie bei Kant. Es bleibt bei der logisch-ontologischen Interpretation nach formell und real.130 3. Die Modalbetrachtung ist gebunden an ein kategoriales Niveau der Wirklichkeit. Dies scheint nicht überzeugend: Modalität ist universell (ganz abgesehen von den noch folgenden Überschneidungen mit der Kausalität). Ein Gewinn der Hegeischen Verfahrensweisen mag sein, daß [danach] Möglichkeit ohne Rekurs auf Wirklichkeit nicht verständlich ist. Andererseits [stellt sich so das] Problem der Drezer-Einteilung ja Vierereinteilung (Zufälligkeit) nach formell, real und absolut. - Vor allem aber läuft die Ausführung eben darauf hinaus, daß Referenten (zunächst die Sub130
Vgl. J.N. Findlay, Hegel, A Re-Examination, London 1958, S. 211; bzw. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 74 ff. Anm. d. Hrsg.
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stanzen) Modalbestimmungen zugesprochen bekommen. Und damit ist die Modaltheorie hinfällig, weil (ganz wie man kategorial vor der Wirklichkeit liegende Referenten nicht modal soll diskutieren können) in Urteilen zu artikulierende Sachverhalte, die Substanzen betreffen, nur so modal zu charakterisieren sind, daß metatheoretische Einheitsverhältnisse der Substanz und der Kausalität als Resultate der modaltheoretischen Wesensanalyse erscheinen. Ob Sachverhalte [etwa] möglich sind (oder nicht möglich usw.), kann darüber hinaus nicht entschieden werden.131 Die Vermischung von metatheoretischer und thematischer Behandlung führt zu diesem Ergebnis. Anders gesagt: Modalverhältnisse sind, metatheoretisch gefaßt, antizipierte Kausalverhältnisse. Dies ist aber nicht zwingend für Modalverhältnisse. Oder: die wesenslogische Deutung der modalen Bestimmung ist nicht eigentlich Modaltheorie, sondern metatheoretische Reflexion, die nicht konstitutiv ist für die Sachtheorie.132
Die Substanz [Drittes Kapitel. Das absolute Verhältnis] Rückblickend auf die Herleitung über die Modalität erscheint die Substanz als Steigerungsfall, als Notwendigkeit. Das soll sagen: wird etwas als Substanz angesprochen, so will man sagen, es liege ein „absolutes Verhältnis" vor, ein Fall von Einheit, ein Selbstand, von dem gilt: daß das Unterscheiden von Wirklichkeit und Schein „nur der Schein des Auslegens" ist, daß es sich vielmehr um „Ein Bestehen" handelt oder daß der Schein „das Absolute selbst ist" (II, 184); daß das Sein des Absoluten „nur sein Scheinen", seine „Manifestation die sich selbst gleiche absolute Wirklichkeit" ist; daß die Seiten „keine Attribute" sind (als nur „von der 131
132
Die Formel, ,was wirklich ist, ist möglich', mag wesenslogisch interpretierbar sein: vom Wirklichen ausgehend wird auf das Mögliche (als Inneres) geschlossen. Aber über das Mögliche als solches kann so nicht geredet werden, denn es wäre abgesehen von seiner Bindung an das Wirkliche gemeint. Hinsichtlich der Kennzeichnung ihrer Gegenstände nach ,möglich', ,notwendig' usw. Hinzuzufügen wäre vielleicht, daß es wohl weniger die durch das kategoriale Niveau gegebene Begrenzung ihrer Gültigkeit ist, was den Modalbestimmungen sachtheoretische Konstitutivität nimmt (vgl. die diesbezüglichen Auseinandersetzungen Hartmanns mit R.-P. Horstmann), sondern ihre, von Hartmann so gesehene, metatheoretische Fassung als „antizipierte Kausalverhältnisse". Diese gewissermaßen rein-architektonische Einbringung schmälert die Relevanz für Real-Thematisches. (Andererseits soll die Hegeische Logik nach Hartmanns Auffassung eine bloße ,Organon'-Funktion auch nicht haben; und mit diesem Vorbehalt wäre - ebenso wie bei den Reflexionsbestimmungen - eine universelle Interpretation der modallogischen Bestimmung in die Hegeische Entwicklung bedingt einzubringen.) Anm. d. Hrsg.
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äußern Reflexion" aufgenommene Momente); daß das Absolute, vielmehr mit absoluter Notwendigkeit „sich selbst bestimmend" ist (II, 185). Seine Seiten sind „Totalitäten, weil sie als Schein sind",133 d.h. als „sie selbst und ihr Entgegengesetztes" oder als „das Ganze"; - und umgekehrt sind sie Schein, „weil sie Totalitäten sind" (ebd.). Substanz ist also die Vollendung des Wesens, denn in ihr ist (anders als bei ,Grund' und ,Erscheinung' o.a.) ein Nicht-mehr-auseinander-fallenkönnen von Momenten gedacht, ein Nicht-mehr-unterschieden-werdensollen. Und statt daß der Substanz dies „von der äußern Reflexion" nur zugedacht wird, legt sie „als absolute Form oder als Notwendigkeit sich selbst aus" (II, 184). Die Wesenslogik erreicht in der Substanz ihren Höhepunkt. Es hatte sich schon früher gezeigt, daß Hegel mit dem wesenslogischen Konzept das, was Aristoteles mit,Substanz' sagen wollte, als Struktur deuten, also die Zusammengehörigkeit von eidos und Sache thematisieren konnte. Zwar führt er noch Stufen ein - in die sich Aristotelische und Kantische Deutungen der Substanz einordnen -, reserviert die Schlußstufe aber wieder der Substanz als Vollendung der Wesenskonzeption: höchster Wirklichkeits-, höchster objektiv-ontologischer Begriff. Auch als ein solcher bietet die Substanz zunächst Anlaß, nach dem Außenhorizont zu fragen. Die Substanz durchläuft also [wie gesagt] Stadien: ein Binnenverhältnis („Substanz und [...] Akzidenzen"}, sie selbst als „Fürsichsein gegen ein Anderes" [im „Verhältnis der Kausalität"} und eine Ausgleichung beider134 in der „Wechselwirkung" (II, 185). Dies ist dann der spezifische Höhepunkt des ,Höhepunkts Substanz', mit dem „das absolute Verhältnis nach den Bestimmungen, welche es enthält, auch gesetzt" ist (ebd.). A. Das Verhältnis der Substantialität Für die Substanz im Binnenverhältnis spricht Hegel, gemäß einer schon im Zusammenhang mit der absoluten Notwendigkeit gefallenen Wendung von einem „Sein, das ist, weil es ist" (ebd.). Dessen „Scheinen ist das sich auf sich beziehende Scheinen, so ist es; dies Sein ist die Substanz als solche" (II, 186). „Umgekehrt" ist „dieses Sein nur das mit sich identische Gesetztsein", „scheinende Totalität, die Akzidentalität" (ebd.).
133 134
Anders ausgedrückt: weil ihr „Sein nur sein Scheinen ist" (II, 185). Anm. d. Hrsg. Eine Ausgleichung der Substanz gegen das Andere. Anm. d. Hrsg.
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Hegel fordert also, daß eine Substanz mit Notwendigkeit ein Akzidenz oder Akzidenzen habe - was Aristoteles offenbar nicht bedachte. Ist damit aber nicht andererseits die Zufälligkeit oder Nichtnotwendigkeit des ,Anderen' wieder eingeführt, so sehr gilt - und immer schon galt -, daß solches ein Gesetztes des Wesens sei? Wo ist der Denkfortschritt? Hegel meditiert über die Sachlage; er hat dabei mehrere Denkmittel zur Verfügung. - Die Beziehung Substanz-Akzidenz ist [wie schon gesagt] so deutbar, daß die Akzidentalität „scheinende Totalität" ist, eine von der Substanz als Möglichkeit unterschiedene Wirklichkeit, wobei zugleich immer gilt, daß dies Scheinen „die Identität als der Form" ist, also „die Einheit der Möglichkeit und Wirklichkeit" (ebd.). Seinslogisch betrachtet, handelt es sich um ein „Werden, die Zufälligkeit als die Sphäre des Entstehens und Vergehens; denn nach der Bestimmung der Unmittelbarkeit ist die Beziehung der Möglichkeit und Wirklichkeit unmittelbares Umschlagen derselben als Seiender ineinander, eines jeden als in sein ihm nur Anderes" - so als ob ein Akzidenz statt der Substanz als Möglichkeit für ein anderes Akzidenz anzusehen wäre (ebd.). Und allgemeinwesenslogisch handelt es sich um einen Inhalt, dessen Unmittelbarkeit „reflektierte Gleichgültigkeit gegen die Form" ist, der sich aber in seiner Bestimmtheit „begeistet [...] zur Entgegensetzung" und in den Grund zurückgeht; so ist das Ansichsein „in seinem Übergehen, das ebensosehr Reflexion-in-sich ist, das notwendige Wirkliche" (ebd.). „Diese Bewegung der Akzidentalität ist die Aktuosität der Substanz als ruhiges Hervorgehen ihrer selbst. Sie ist nicht tätig gegen Etwas, sondern nur gegen sich als einfaches widerstandsloses Element" (ebd.). Dies heißt ebensowohl, das Vorausgesetzte wird aufgehoben, ist „verschwindender Schein", wie auch: „das Anfangen von sich selbst ist erst das Setzen dieses Selbsts, von dem das Anfangen ist", wie in der bestimmenden Reflexion (ebd.). Die Substanz ist „die Totalität des Ganzen und begreift die Akzidentalität in sich"; umgekehrt ist diese „die ganze Substanz selbst" (ebd.). Der Unterschied beider Aspekte („einfache Identität des 5W«s"135 und „Wechsel der Akzidenzen"} „ist eine Form ihres [der Substanz] Scheins" - nämlich „die formlose Substanz des Vorstellens", das am Absoluten „an als solcher unbestimmten Identität festhält, die keine Wahrheit hat, nur die Bestimmtheit der unmittelbaren Wirklichkeit oder ebenso des Ansichseins oder der Möglichkeit ist", so daß die Bestimmtheit Sache der Akzidentalität wäre (II, 187). 135
D.h.: des Seienden, besser: Scheinenden. Anm. d. Hrsg.
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Die Substanz erscheint im Blick auf den „Wechsel der Akzidenzen" als „absolute Macht" (ebd.). - »Die Substanz manifestiert sich durch die Wirklichkeit mit ihrem Inhalte, in die sie das Mögliche übersetzt, als schaffende, durch die Möglichkeit, in die sie das Wirkliche zurückführt, als zerstörende Macht" (ebd.). Akzidenzen andererseits „- und es sind mehrere, indem die Mehrheit eine der Bestimmungen des Seins ist, - haben keine Macht übereinander" (ebd.). Die Substanz ist es, die das Akzidenz als Vergehendes und als Entstehendes setzt. Bei solcher „unmittelbaren Identität und Gegenwart der Substanz in den Akzidenzen [...] ist noch kein realer Unterschied vorhanden", die „Extreme haben kein eigentümliches Bestehen" (II, 188). - Insofern die Substanz nämlich „als das mit sich identische An- und Fürsichsein von ihr selbst als Totalität der Akzidenzen unterschieden wird" und das Vermittelnde ist zwischen ihr selbst als Macht und den Akzidenzen, die „Mitte", so ist sie hier zunächst dies Verhältnis nur „als unmittelbar verschwindend, sie bezieht sich auf sich nicht als Negatives", sondern nur „als die unmittelbare Einheit" (ebd.). „Der Schein oder die Akzidentalität ist an sich wohl Substanz durch die Macht, aber er ist nicht so gesetzt als dieser mit sich identische Schein; so hat die Substanz nur die Akzidentalität zu ihrer Gestalt oder Gesetztsein, nicht sich selbst, ist nicht Substanz als Substanz" (ebd.). Die Substanz „offenbart" sich, anders gesagt, nur als „formelle Macht" (ebd.). Die Substanz muß erst in ein Verhältnis zu einer anderen Substanz treten, damit ein höheres Verhältnis vorliegt. Hegel vollzieht den Übergang dazu so, daß die Akzidentalität, „an sich" ja bereits Substanz, „eben darum auch gesetzt" wird „als solche" (ebd.). Damit wäre eine Dualität von Substanzen gegeben. Dieser Übergang zu einem Verhältnis, das Hegel als Kausalitäts-Verhältnis deutet, ist wesenslogisch begründet (wobei allerdings eine Erschleichung vorliegt: man sehe doch in der Gesamtheit der Akzidenzen eine Substanz). Der Übergang gestattet aber (mit den ganz anderen Argumenten) die Erfassung der zweiten Kategorie der 3. Kantischen Kategoriengruppe. B. Das Kausalitätsverhältnis Die Machart der Hegeischen Betrachtung folgt einem inzwischen wohlvertrauten Schema.
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a) Die formelle Kausalität Substanz ist Macht, sich von sich selbst zu unterscheiden und Substanz (sich selbst) zum Gesetztsein zu haben (vgl. II, 189). In dieser Hinsicht ist sie Ursache und das, was sie »setzt als Gesetztsein, - die Wirkung. - Diese ist also erstlich dasselbe, was die Akzidentialität des Substantialitätsverhältnisses ist, nämlich die Substanz als Gesetztsein; aber zweitens [...] das Gesetztsein als mit sich identisch" (II, 189 f.). Damit ist die Substanz „nicht mehr bloß das An-sich ihrer Akzidenz, sondern ist auch gesetzt als dies Ansichsein. Die Substanz hat daher erst als Ursache Wirklichkeit. Aber diese Wirklichkeit [...] ist die Wirkung" (II, 190). - Diese wiederum „enthält daher überhaupt nichts, was nicht die Ursache enthält. Umgekehrt enthält die Ursache nichts, was nicht in ihrer Wirkung ist" (II, 190 f.). Darum muß ohne Hinzuziehung von inhaltlichen Unterschieden, wenn das Verhältnis nur formell gesehen wird, diese Form, wodurch sich Ursache und Wirkung unterscheiden, als „aufgehoben" gelten - in einer Identität beider oder einer „Unmittelharkeit, welche gegen das Verhältnis von Ursache und Wirkung gleichgültig ist und es äußerlich an ihr hat" (II, 191).
b) Das bestimmte Kausalitätsverhältnis Wird Inhalt hinzugezogen - bedenklich angebahnt durch den Gedanken der Unmittelbarkeit als „gegen die Formunterschiede gleichgültige Einheit" -, so ist dies „nunmehr das Kausalitätsverhältnis in seiner Realität und Endlichkeit. [...] Als endliche Kausalität [...] hat es einen gegebenen Inhalt und verläuft sich als ein äußerlicher Unterschied an diesem Identischen, das in seinen Bestimmungen eine und dieselbe Substanz ist" (ebd.). „Durch diese Identität des Inhalts ist diese Kausalität ein analytischer Satz", ein tautologisches Verhältnis von Ursache und Wirkung (II, 192).136 - Erwogen wird eine Verschleierung dieser Tautologie durch mehrere Mittelglieder137 sowie die Anwendung der Kausalitätsstruktur
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Eines von mehreren Beispielen ist der Stoßvorgang, bei dem der Impuls als eigentliche Ursache erhalten bleibt, wenn auch in anderer Verteilung. „Die Ursache", z.B. ein stoßender Körper, „hat wohl noch einen ändern Inhalt [...] Allein dieser weitere Inhalt ist ein zufälliges Beiwesen, das die Ursache nichts angeht" (II, 192). Anm. d. Hrsg. Gemeint ist der Fall, daß die „entfernte Ursache einer Wirkung angegeben wird" (II, 193). Tatsächlich handelt es sich für Hegel bei der .entfernten Ursache' überhaupt nicht um eine solche, sondern nur um „ein einzelnes Moment, das zu den Umständen der Möglichkeit" gehört (ebd.). Anm. d. Hrsg.
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auf das Lebendige, wo die Spezifik fehlt,138 und auf uneigentliche Ursache-Wirkungs-Verhältnisse in der Geschichte.139 Hegel verfolgt weiter die „Bestimmtheit des Kausalitätsverhältnisses" (II, 194). Dessen „Formbestimmung ist auch „Inhaltsbestimmung", bleibt dem Substrat freilich „äußerlich": dieses ist „irgendein Ding, das mannigfaltige Bestimmungen seines Daseins hat, unter anderem auch diese, daß es in irgendeiner Rücksicht Ursache oder auch Wirkung ist" (II, 194 f.). Die Kausalität ist nur ein „Gesetztsein" (II, 195). „Aber dieses Ding ist nicht nur Substrat, sondern auch Substanz", und das Wirken der Substanz „befreit sich von dieser äußern Bestimmung, und seine Rückkehr in sich ist die Erhaltung seiner unmittelbaren Existenz und das Aufheben seiner gesetzten, und damit seiner Kausalität überhaupt" (ebd.). So ist für das Wasser der Wolken die Entfernung von der Erde „eine seiner ursprünglichen Identität mit sich, der Schwere, fremde Bestimmung; seine Ursachlichkeit besteht darin, dieselbe zu entfernen"; es will wieder fallen, um „jene Identität wieder herzustellen, damit aber auch seine Kausalität aufzuheben" (II, 196). Das gelingt jedoch nicht letztlich. Von daher meint Hegel den „unendlichen Regreß von Ursachen zu Ursachen" deuten zu können: als „Ursprünglichkeit, welche ebensosehr an ihr selbst Gesetztsein oder Wirkung ist" (II, 196). In einer Rücksicht ist etwas Ursache, in anderer Wirkung (vgl. II, 197). Ebenso wird der „unendliche Progreß von Wirkung zu Wirkung" gedacht (ebd.). - Gemeint ist, daß die Ursache in ihrer Wirkung nicht zu sich zurückkehrt oder die Wirkung nicht zu sich in der Ursache. Kausalität wird sich äußerlich.140 Dieser Normalfall der Kausalkette befriedigt Hegel nicht. Um das gewünschte Reflexionsverhältnis von Substanz zu Substanz herzustellen, erinnert Hegel an das formelle Kausalitätsverhältnis, in dem in der Wir138
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Das heißt wohl, das Lebendige ist kein Inhalt für die Kausalitätsstruktur. Vgl.: „Hier zeigt sich das, was als Ursache genannt wird, freilich von anderem Inhalte als die Wirkung, darum aber, weil das, was auf das Lebendige wirkt, von diesem selbständig bestimmt, verändert und verwandelt wird, weil das Lebendige die Ursache nicht zu ihrer Wirkung kommen läßt, d.h., sie als Ursache aufhebt" (II, 193). Anm. d. Hrsg. Die Unangemessenheit des Kausalitätsverhältnis zeigt sich für Hegel hier in dem Versuch, „aus kleinen Ursachen große Wirkungen entstehen zu lassen" (II, 194). Diese .kleine Ursache' ist tatsächlich „nicht Ursache" der .großen Wirkung', welche auch keine Wirkung mehr ist (ebd.). Wie im Fall des Lebendigen hebt „die Umkehrung [...], die der Geist mit dem Äußerlichen vornimmt [...], selbst das Verhältnis der Kausalität auf" (ebd.). Anm. d. Hrsg. Oder: bleibt dem Substrat als „Identität" oder „Formeinheit" von Ursache und Wirkung äußerlich, welche Einheit sich denn auch in der (unendlichen) Folge von Ursachen bzw. Wirkungen nicht wiederherstellt (II, 197). Anm. d. Hrsg.
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kung die Ursache erlischt, womit „an sich die Einheit von Ursache und Wirkung" geworden sei, während im bestimmten Kausalitätsverhältnis zwar Ursache Wirkung wird, aber eine von ihr Verschiedene (II, 198).141 Nun soll beides zusammengedacht werden. Dazu muß man gleichsam die begriffliche Deutung von der Idee der Kette loslösen. Die Kausalität wird dann gefaßt als Bedingungsverhältnis: „Die Kausalität setzt also sich selbst voraus oder bedingt sich" (ebd.). Statt der Einheit im Substrat steht jetzt Bedingung eine ursächliche Substanz gegen die andere, gegenwirkende Substanz.
c) Wirkung und Gegenwirkung Beide Substanzen können in Potentialunterschieden gedacht werden: als passive und als aktive (vgl. II, 199). Hegel bereitet es keine Schwierigkeit, die Wechselseitigkeit dieser Substanzen in Hinsicht auf Gesetztsein und Unmitelbarkeit zu behaupten. Beide sind durch die [jeweils andere] gesetzt. Wirkung und Gegenwirkung sind symmetrisch, der Potentialunterschied verschwindet. Jede Substanz bezieht sich in der anderen - oder die Ursache bezieht sich in der Wirkung „auf sich selbst" (II, 202). Damit ist das „in der endlichen Kausalität in den schlecht-unendlichen Progreß auslaufende Wirken umgebogen [...] zu einem in sich zurückkehrenden, einem unendlichen Wechselwirken" (ebd.).
C. Die Wechselwirkung Mit ihr ist „das absolute Verhältnis [...] auch gesetzt" (II, 185). Der Unterschied zu „Wirkung und Gegenwirkung" soll darin liegen, daß bei dieser ein Mechanismus endlicher, einander äußerlicher Substanzen gemeint ist, der nun aufgehoben sei (vgl. II, 202). Es sind nun „keine Substrate mehr, welche miteinander in Beziehung stehen, sondern Substanzen" (II, 202 f.). D.h., die zuletzt „noch übrige vorausgesetzte Unmittelbarkeit" ist aufgehoben (II, 203). Die Reflexion von Ursache und Wirkung ist von der Relation zur kategorialen Seinsbestimmung, „die Kausalität zu ihrem absoluten Begriffe zurückgekehrt" (ebd.).
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Es geht eigentlich um das Verhältnis der Ursachen (oder Wirkungen) zueinander - oder darum, daß „die Ursache, welche die Wirkung hat, und die Ursache, die sie ist" verschieden sind - entsprechend für die Wirkungen (II, 198). Anm. d. Hrsg.
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Hegel denkt das als neues, höheres Stadium. Lag zunächst „reale Notwendigkeit, absolute Identität mit sich" vor, „so daß der Unterschied der Notwendigkeit und die in ihr sich aufeinander beziehenden Bestimmungen, Substanzen, freie Wirklichkeiten, gegeneinander, sind", so soll ein solcher Gegensatz nunmehr zusammengeführt sein (ebd.). Notwendigkeit und Freiheit kommen zusammen: „Die Notwendigkeit ist auf diese Weise die innre Identität, die Kausalität ist die Manifestation derselben, worin ihr Schein des substantiellen Andersseins sich aufgehoben hat und die Notwendigkeit zur Freiheit erhoben ist" - die Negation, welche die Ursache zur Wirkung macht, ist ein „positives Zusammengehen mit sich selbst" (ebd.). Man kann dies so lesen, daß mit,Notwendigkeit' der Innenaspekt von der jeweiligen Substanz aus gedacht ist, mit ,freien Wirklichkeiten' die andere als nicht von der Ursache-Substanz gesetzte Substanz. Dies beides, Zentralperspektive und Koordination, soll zusammenkommen als Notwendigkeit und Freiheit, welch letztere ja keine Modalbestimmung ist im Unterschied zu der hier einschlägigen Zufälligkeit. Die „Zufälligkeit" aber werde „zur Freiheit, indem die Seiten der Notwendigkeit, welche die Gestalt für sich freier, nicht ineinander scheinender Wirklichkeiten haben, nunmehr gesetzt sind als Identität" (II, 204). Hegel will diese Denkfigur noch in anderer Weise als Novum auszeichnen: das Ergebnis, die absolute Substanz, „unterscheidet sich" in zwei Totalitäten: in das der passiven Substanz und das Analogen der ursächlichen aktiven Substanz: Erstere verstanden als Totalität, welche „Ursprüngliches ist als die Reflexion aus der Bestimmtheit in sich, als einfaches Ganzes, das sein Gesetztsein in sich selbst enthält und als identisch dann mit sich gesetzt ist, das Allgemeine", letztere Totalität verstanden als „Reflexion ebenso aus der Bestimmtheit in sich zur negativen Bestimmtheit, welche so als die mit sich identische Bestimmtheit ebenfalls das Ganze, aber als die mit sich identische Negativität gesetzt ist: das Einzelne" (II, 204 f.). Die vorhin passive Substanz wird gedeutet als das Ursprüngliche, Allgemeine, welches „nur identisch mit sich ist, indem es die Bestimmtheit als aufgehoben in sich enthält, also das Negative als Negatives ist" (II, 205). Das Gesetztsein in sich erhält es zugesprochen von der aktiven, der vorhin ursächlichen Substanz, die gedeutet wird als Einzelnes, als negative Bestimmtheit, Negativität. D.h., die Zentralsubstanz [das Wesensmoment] ist das Einzelne, die Referenzsustanz [das Seinsmoment] ist - wenig überzeugend - das Allgemeine. Als sich bestimmend, müßte dies zur Zentralsubstanz gemacht werden; so aber ist es Bestimmtheit als aufgehobene. Hegel stellt auch die Identität der beiden Fälle fest - dieselbe Negativität auf beiden Seiten, dasselbe Negative als Negatives: so soll ein einheit-
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liches Novum, der Begriff, dargetan sein. Dabei erscheint diese Identität beider als ein noch Weiteres, Drittes: „Diese ihre einfache Identität ist die Besonderheit, welche vom Einzelnen das Moment der Bestimmtheit, vom Allgemeinen das Moment der Reflexion-in-sich in unmittelbarer Einheit enthält" (ebd.). In der Tat kann die Identität natürlich nicht die Besonderheit ,sein', höchstens kann man im Besonderen etwas sehen, was an beidem teilhat (darauf wird zurückzukommen sein). Hegel jedenfalls will ein Dreier-Schema - drei Totalitäten (Allgemeines, Besonderes, Einzelnes) erhalten haben, das dann die Begriffslogik charakterisieren wird, und damit den „Begriff, das Reich der Subjektivität oder der Freiheit" (ebd.). [Schlußreflexionen zum 4. Kapitel] 1. So mancherlei ist zum letzten Kapitel der Wesenslogik zu bemerken. Da ist einmal die Auszeichnung der Substanz als höchste objektiv-logische Kategorie. Sie ist plausibel, solange man nicht Fragen stellt, die in die regionale Ontologie der Natur gehören, wie etwa: ist nur Dynamisches Substanz? Was ist dann mit Flüssigem? usw.142 Wenn nur logisch, d.h. metaphysica-generalis-artig gesichert wird, daß mit Substanz eine höchste Einigung von Wesen und Unmittelbarkeit gemeint ist, kann man zustimmen. Es ist auch - entgegen der .Darstellung als Kritik*-Vertreter - nicht zu sehen, daß die Bestimmung aufgegeben wird, kritisiert wird zugunsten des Begriffs; dieser gehört in die subjektiv-logische Domäne, welche ihrerseits nicht Kritik der objektiven Logik ist. - Davon später mehr.143 2. Weiter ist da die Deutung der Kausalität von der Substanz her. Es ist offensichtlich so, daß Kausalität nur in den Blick tritt als der unvollkommene Fall der Reflexion von Substanz auf sich selbst - der Fall der Kausalkette vorwärts und rückwärts. Aber auch da gestattet es die ontologische Betrachtungsart bloß, die andere Substanz, in welcher jeweils die Wirkung oder Ursache liegen soll, als Anderes zu bestimmen; Bestimmungen wie , Veränderung' oder ,Beeinflussung' habe nur das ontologische Analogen des Gesetztseins (in der passiven Substanz) oder der Rückbeziehung des Gesetztseins auf die Ausgangssubstanz (in der aktiven).
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„Dynamisches" wohl im Sinne der physikalischen Dynamik. Hartmann spricht hier offenbar Probleme an, die sich aus den naturphilosophischen Ausführungen Hegels vor allem zu „Materie und Bewegung" ergeben (E, §§ 262-268). Dort heißt es etwa: „Die Schwere macht die Substantialität der Materie aus, diese selbst ist das Streben nach dem [...] außer ihr fallenden Mittelpunkt" (E, S. 215). Anm. d. Hrsg. Siehe unten, Anm. 146. Anm. d. Hrsg.
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Hegel assoziiert zwar - unter ,bestimmter Kausalität4 - verschiedene Inhalte, aber sie sind nur auf Gesetztsein und Reflexion hin betrachtet. Eine philosophische Kausaltheorie kann man das nicht nennen, auch wenn Voraussetzungsverhältnisse, wie Hegel sie im Auge hat, bestehen. Ihm geht es letztlich nur um die Interpretation der Kausalität als eine Rückkehr zu sich, auf einen Substanzbegriff, der über eine Substanz-Substanz-Relation in sich geschlossen ist. Dabei besteht noch der weitere Unterschied zu Kant,144 daß dieser bei einem System der Wechselwirkung landet, während Hegel darunter eine höher bestimmte Substanz versteht. 3. Da ist weiter der Übergang zum Begriff. Einmal ist es, wie schon öfter, schwierig, in einem Ergebnis (hier: der Wechselwirkung) ein anderes Novum (den Begriff) zu sehen. Aber davon abgesehen, ist die Auffindung der Begriffscharakteristika (Allgemeines, Einzelnes, Besonderes) prekär: die Auslegung der passiven Substanz als Reflexion-in-sich und daher Allgemeines ist nicht plausibel, und auch die Auslegung der ursächlichen Substanz als Einzelnes ist es nicht. Metareflexionen, deren Beliebigkeit oder Willkür nicht auszuschließen ist, dienen dazu, den Übergang zum Novum herzuleiten. Ähnliches gilt für die Einführung der Freiheit im Kontext der Wechselwirkung, als in eine Substanz projiziert. Sicher, es besteht im Falle des Gedankenexperiments oder der Denkfigur einer absoluten Substanz kein ,Gegen' mehr, das als Beschränkung und Nötigung zu werten wäre (im Unterschied zur Notwendigkeit der ursächlichen Substanz). Aber Hegel beharrt: „Die Notwendigkeit wird nicht dadurch zur Freiheit, daß sie verschwindet" und tatsächlich sollen umgekehrt Substanzen, die ,nicht ineinander scheinen', also als ,für sich frei', gegeneinander zufällig sind, das Moment der Freiheit einbringen, wenn sie als in die absolute Substanz eingegangen gedacht werden (II, 204). Unabhängigkeit als einbezogen: was wäre das?145 144
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Wenn Hartmann hier von einem „weiteren Unterschied" zu Kant spricht, so ist noch eine nicht ausgeführte Randbemerkung erwähnenswert: „Unterschied zu Kant: nicht Akzidenz - Kausalität (weil Substanz unveränderlich und beharrlich ist)". Dies meint wohl die epistemologisch (oder synthetisch a priorisch) begründete Setzung einer Substanz und darauffolgend einer Kausalität in den ersten beiden „Analogien der Erfahrung" (KrV, A 176 ff.), während Hartmann sich nun auf die dritte Analogie bezieht (KrV, A211f.).Anm.d. Hrsg. Einbezogen in das absolut Identische. Auf die Frage, was das wäre, könnte man erwidern: für Hegel offenbar .Freiheit'. - Wie Hartmann an anderer Stelle notiert, hat diese strukturelle Wandlung von Zufälligkeit zur Freiheit in der Notwendigkeit bedeutende Konsequenzen für Hegels Geschichtsphilosophie, nämlich als jene ,List der Vernunft',
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4. Zum Status der objektiven Logik. Hegel ist einerseits bei einer Vollendung angekommen - der wechselseitigen Durchdringung von Substanzen der Wechselwirkung (dem kritischen Höhepunkt der 3. Kantischen Kategoriengruppe). Andererseits interpretiert er dies als Novum des Begriffs. Was hat man zu halten von dieser Wahrheit der objektiven Logik in ihrem Resultat? Es legt sich nahe, bei Hegel selbst Auskunft zu holen: er meint, die objektive Logik sei „die wahrhafte Kritik" jener Metaphysik, welche sich den Vorwurf zugezogen habe, die Form „ohne Kritik gebraucht zu haben", also mit Einbeziehung von aus der Vorstellung entnommenen Substraten, „den Subjekten der Vorstellung" (1,47). Die objektive Logik dagegen ist - wenn sie die Formen „frei von jenen Substraten" betrachtet - „eine Kritik, die sie nicht nach der abstrakten Form der Apriorität gegen das Aposteriorische, sondern sie selbst in ihrem besondern Inhalte betrachtet" (ebd.). Betrifft diese Kritik die Verquickung der Formen mit den Substraten, oder auch die Formen selbst und das Vernünftige an ihnen? Der Gebrauch von Formen durch jene Metaphysik scheint unkritisch, sobald die Frage aufgeworfen wird, ob solche Formen Bestimmungen des Dings-an-sich sein können und vernünftig sind (werden sie doch bei Kant auf Erscheinungen restringiert oder sind sonst - wie die Lehre von den Prädikaten Gottes lehrt - unzureichend). - Ist nun Hegels kritische Metaphysik, welche ein vernünftiges Begreifen des Seins zum Ziel hat, ebenfalls eine Kritik auch der Formen jener Metaphysik als solcher? Tatsächlich scheint dies damit gegeben zu sein, daß die dialektische Methode von einem Anfang und den folgenden Stufen sich immer weiterverweisen läßt, so daß Antezedentien als defizient erscheinen in puncto Vernünftigkeit. Die Hegeische Logik wäre in ihrem objektiven Teil eine Kritik der metaphysischen (oder ontologischen) Begriffe. Eine solche Auffassung ist zum zentralen Auslegungsmotiv der Hegelschen Logik bei M. Theunissen geworden.146 Er deutet die objektive Logik als ,kritische Darstellung' des metaphysischen Begriffsbestandes. Die Durchlaufung der Bestimmungen stellt diese einerseits nacheinander
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nach der scheinbar zufällig handelnde .heroische Individuen' dennoch Institutionen vernünftiger menschlicher Gemeinschaft initiieren. Anm. d. Hrsg. M. Theunissen, Sein und Schein, Frankfurt a.M. 1980 sowie ders., H.F. Fulda, R.-P. Horstmann, Kritische Darstellung der Metaphysik, Frankfurt a.M. 1980. Zur Kritik dieser Position vgl. auch Vittorio Hösle, Hegels System, Hamburg 1987 [insbesondere S. 269 ff.] sowie die Rezension des Verfassers zu W. Nikolaus, Begriff und absolute Methode. Zur Methodologie in Hegels Denken, Bonn 1985 in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Bd. 14, 2 (1989). [In dieser Sammelrezension findet sich auch eine kurze Kritik Hartmanns zu den beiden erstgenannten Arbeiten: ebd., S. 47.]
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dar; indem die Durchlaufung aber das Erreichte immer wieder überschreitet, kritisiert sie es zugleich. - Nach Theunissen steht also die objektive Logik an ihrem Ende als kritisiert da, und es bleibt die subjektive, welche Theunissen als eine Philosophie der Intersubjektivität, des Subjekt-Subjekt-Verhältnisses interpretieren will (wobei gewisse Schwierigkeiten dahingehend auftreten, ob dies schon für die Logik oder erst für die Philosophie des Geistes gilt). Nach Theunissens Position jedenfalls hätte die objektive Logik nur den Wert einer Kritik und darüber hinaus der Hinführung zur Begriffslogik als einer Intersubjektivitätsposition. Ist dem zuzustimmen? Der Gegenentwurf hierzu wäre eine Auffassung der Hegeischen Dialektik als Modell für die begriffliche Erzeugung von Kategorien. Jede Bestimmung hätte demnach Kategorialität, stellte aber - bis zur Vollendung in der subjektiven Logik oder der absoluten Idee - nicht das Vernünftige als solches dar. Der Unterschied zu Theunissen bestände darin, daß zwar beide Positionen in der Darstellung eine Erzeugung oder Aufstellung von Kategorien erblicken, daß aber die Weiterverweisung (oder die Vorläufigkeit der Antezedentien) im einen Fall als Kritik an diesen, im anderen aber eher als Suche nach weiteren Kategorien gelten würde (bis hin zur Schließung, zur Aufstellung der Kategorie der Vernünftigkeit selbst).147 Die letztere Auffassung implizierte, daß es Endliches »gibt*, und daß insofern die betreffenden Kategorien aufgestellt gehören. Nicht dürfte man sie als zu kritisierende metaphysische Bestimmungen ablehnen. Die Hegelsche Verschiebung der kategorialen Themen bis hin zur absoluten Idee hätte ihren Sinn in der begrifflichen Erzeugung oder Aufstellung von Kategorien und in der Räson des ganzen Unternehmens, beim Nachweis der Kategorialität des Aufgestellten in der absoluten Idee zu enden. Wir entscheiden uns für die letztere Deutung, schon weil nicht zu sehen ist, daß Hegel metaphysische (ontologische) Kategorien der Tradition - besonders die strategischen wie Sein (im Sinne von Unmittelbarkeit), Wesen und Substanz jemals abgelehnt hätte. Sie durchziehen die gesamte thematische Deutung der realphilosophischen Bereiche, etwa des objektiven Geistes. Man kann zwar sagen, daß der Staat substantiell sei, könne nicht gelten,148 eben weil der Staat nur objektiv und nicht absoluter Geist sei, aber 147
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Allerdings bringt Hegel auch Bestimmungen, die in keinem Fall Bestand haben können: Erscheinung etwa. Die objektive Logik ist also nicht völlig homogen. - Es soll auch durchaus nicht übersehen werden, daß Hegel mit manchem ontologisch nicht fertig wurde - wie z.B. mit der Mathematik oder der formalen Logik. Vgl. etwa: „Der Staat ist die selbstbewußte sittliche Substanz" (E, § 535). Anm. d. Hrsg.
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das ist für ein thematisches Verständnis von so etwas wie Staat uninteressant. Der Staat wird als das, was er ist (endlich, objektiv, Prinzipiat des Begriffs usw.), zurecht mit metaphysischen (ontologischen) Kategorien gedeutet. Die ontologischen Formen oder Kategorien haben ihre Plätze in einer an der Schließung durch die Idee orientierten Systemprogression, sie sind aber als thematische Begriffe [in dieser Begrenzung] objektiv und gültig für Hegel. So ist die Wahrheit der Substanz zwar das Subjekt - aber der Begriff ist nicht die thematische Kategorie für Substantielles. Als quasi regional ist die Substanz nicht der wahre Begriff vom Subjekt, aber sie bleibt der akzeptierte Begriff zur Deutung des vollendeten Wesens als dem höchsten Fall von Interpretation durch den Schein, als Schwerpunkt etwa eines Subjekts, wie der Staat es ist.149 Wir neigen also zu einer Ablehnung des Theunissenschen Vorschlags, wobei wir noch bemerken wollen, daß bei ihm letztlich auch die Kritik der Metaphysik als historischer mit umgriffen ist, Metaphysik als etwas Vergangenes, während wir dies in einem systematischen Kontext nicht für zwingend halten. Hegel wollte Kritik der Metaphysik, im Sinne einer Reinigung, nicht ihrer Erledigung. - Was natürlich Hegel wieder historisch plaziert, wenn denn die neuere Zeit zur Erledigung der Metaphysik fortgeschritten sein sollte.
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Dabei kann es sein, daß die Tendenz des kategorialen Fortschritts für das SubstanzSubjekt-Verhältnis noch Perspektiven eröffnet, wie sie Hösle erörtert - ein Subjekt-, Subjekt-Verhältnis als Abschluß gegenüber einem Subjekt-Objekt-Verhältnis, das in nicht-pluraler Schließung mit der Idee endet.
Fünftes Kapitel [Vollendete Erklärung: Die ,subjektive' Logik] Einleitendes zur subjektiven Logik Wir wissen aus der Verfolgung der Hegeischen Behandlung der Substanz, daß sie zum Begriff führt. Wie immer man diesen Übergang beurteilt - wir hatten Bedenken angemeldet, wie bei so manchen Übergängen, besonders bei den Sphärenübergängen -, das, was es nunmehr zunächst zu verstehen gilt, ist, daß es überhaupt einen Teil der Logik geben muß, der sich mit dem Begriff befaßt und „subjektive Logik" heißt. Wenn die vorangehende objektive Logik „die genetische Exposition des Begriffes" ausmacht, der Begriff also in der Kontinuität mit der objektiven Logik entwickelt wird, so läßt das denken, daß der Begriff ein ontologicum ist (II, 213). Der Begriff muß wahre Kategorie sein, der Gegenstand, der die Wahrheit selbst ist (vgl. [II, 211]). Ganz so, wie die Substanz schon die Wahrheit war, in der Weise, daß sie erst an sich das ist, was der Begriff als „Manifestiertes" ist (II, 214). Diesem Verständnis entspricht es dann auch, wie sich später zeigt, daß unter .subjektiver Logik* allerlei .begriffen' wird, was auch objektiv-logisch, [also] wie immer anders oder nicht letztlich als Begriff, zu verstehen ist (so z.B. die Objektivität) - darunter solches, was objektiv logisch nur sehr abstrakt (prinzipiell) gedeutet werden kann (wie das Ich und das Selbstbewußtsein, für welches das Fürsichsein Prinzip ist). - Aber wie der Text zeigt, behandelt Hegel auch den Begriff im logischen Sinne (als Allgemeinbegriff), weiter dann Urteil und Schluß, um - nach einem Differenzstadium, [eben] der Objektivität, - bei der Idee anzukommen, deren Einordnung in .logisch' oder .ontologisch' wir im Augenblick noch zurückstellen wollen. Die subjektive Logik umspannt also Ontologisches und Logisches, oder kategoriale Referenten und .Referierer' (wenn wir diesen Ausdruck gebrauchen dürfen). Kann man diesen Umstand vorweg glossieren, ja beurteilen? Dabei ist es klar, daß jeder Referent (sei es der objektiven, sei es der subjektiven Logik) in der Kategorie begrifflich gefaßt ist (sonst wäre Denken über sie unmöglich), und doch eben ein Unterschied besteht, ob man den Begriff oder den Referenten meint: dies die Dualität dessen, was in Begriff oder Kategorie zusammengedacht ist. - Nach Hegelschem Ver-
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ständnis der Kategorie soll nicht [anders] zwischen Begriff vom Referenten und Referenten unterschieden werden, jedenfalls nicht iterierend vom ,Begriff einer Kategorie als Einheit von Begriff und Referent gesprochen werden.1 Ontologisch wäre zu erwarten, daß der Begriff noch höhere kategoriale EinheitsVerhältnisse umfaßt, als es die objektive Logik vorführen konnte. Wir marschieren einfach weiter auf der Skala von Einheitsverhältnissen. Subjektiv oder logisch dagegen wäre zu erwarten, daß er das in Kategorien Begriffene umfaßt, Hegel also mit dem Begriff das subjektive Problem unseres Zugangs zu begriffenen Referenten thematisierte. Ein Ausweg aus der anscheinenden Disparatheit von ontologisch und logisch läge darin, daß einmal ,der' Begriff (gerade als subjektiver, von allen Inhalten geltender) eine höhere Einheitsgestalt denn die objektiv-logischen wäre, und zum anderen, daß er sich zu ihm affinen Referenten ausgestaltet (Objektivität), bei denen ein enges Identitäts- und DifferenzVerhältnis zwischen logischem (subjektivem) und ontologischem (objektivem) Begriff statthat. Diese Deutung würde die Aufnahme des Stücks über Objektivität und die Synthese in der Idee verständlich machen: die Distanz zwischen logischem Begriff und begriffskonformem Referenten wird selbst Thema und führt auf eine Abfolge. - Wenn dies so ist, dann muß der subjektive Begriff/orra