Harmonisierung des nationalen Verwaltungsvollzugs von EG-Umweltrecht [1 ed.] 9783428500062, 9783428100064

Gegenstand der Untersuchung sind die der Europäischen Gemeinschaft nach dem Vertrag von Amsterdam zustehenden Möglichkei

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German Pages 207 Year 2000

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Harmonisierung des nationalen Verwaltungsvollzugs von EG-Umweltrecht [1 ed.]
 9783428500062, 9783428100064

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DOROTHEE NITSCHKE

Harmonisierung des nationalen Verwaltungsvollzugs von EG-Umweltrecht

Schriften zum Umweltrecht Herausgegeben von Prof. Dr. M ich a e I Klo e p fe r, Berlin

Band 96

Harmonisierung des nationalen Verwaltungsvollzugs von EG-Umweltrecht

Von

Dorothee Nitschke

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Nitschke, Dorothee: Hannonisierung des nationalen Verwaltungs vollzugs von EG-Umweltrecht / von Dorothee Nitschke. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum Umweltrecht ; Bd. 96) Zug!.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10006-9

D6 Alle Rechte vorbehalten

© 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4247 ISBN 3-428-10006-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 €9

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 1998/99 von der Juristischen Fakultät der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur sind bis Dezember 1998 berücksichtigt worden. Zur Veröffentlichung wurde die Artikelnumerierung des Maastrichter Vertrages auf den am 1. 5. 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag umgestellt. Inhaltlich haben sich dadurch keine Veränderungen ergeben. Ein herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Hans D. Jarass, der das Interesse an den bearbeiteten Themengebieten Umwelt- und Europarecht geweckt hat und mir während meiner fünfjährigen Tätigkeit an seinem Institut die Gelegenheit gab, meine Kenntnisse zu vertiefen und in die Arbeit einfließen zu lassen. Insbesondere seine kritischen Anregungen, seine ständige Gesprächsbereitschaft sowie die schnelle Erstellung des Erstgutachtens haben mir sehr geholfen. Auch gilt mein Dank Herrn Professor Dr. Kade1bach, der zügig die Zweitbegutachtung der Dissertation vorgenommen hat. Von allen, die durch hilfreiche Gespräche oder in sonstiger Weise zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben, möchte ich besonders Herrn Sasha Beljin und Frau Ashölter hervorheben. Für die Veröffentlichung bin ich Herrn Professor Dr. Michael Kloepfer als Herausgeber dieser Schriftenreihe sowie dem Verlag Duncker & Humblot verbunden. In Dankbarkeit für alles, was sie für mich getan haben, widme ich die Arbeit meinen Eltern. Dortmund, im August 1999

Dorothee Nitschke

Inhaltsverzeichnis Erster Teil

Einleitung A. Problemstellung

13

B. Tenninologische Klarstellungen ....................................................

15

I. Angleichung, Harmonisierung und Vereinheitlichung nationalen Rechts........

15

11. Ausführung und Anwendung von EG-Recht ...................................

16

Gegenstand und Gang der Untersuchung ...........................................

17

c.

Zweiter Teil

Grundlagen des innerstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht A. Arten des Verwaltungsvollzugs von Gemeinschaftsrecht ............................

21

I. Direkter Vollzug...............................................................

21

11. Indirekter mittelbarer und unmittelbarer Vollzug ...............................

22

B. Rechtsnatur der staatlichen Vollzugsaufgabe ............................... . .......

22

I. Ausübung gemeinschaftseigener Hoheitsgewalt ................................

23

11. Wahrnehmung delegierter Befugnisse ..........................................

24

III. Staatseigene Angelegenheit ............................................ . .......

26

C. Die Verteilung der Verwaltungskompetenzen auf Bund und Länder. . . . . . . . . . . . . . . . .

27

I. Problemstellung ...............................................................

27

1. Mittelbarer Vollzug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

2. Unmittelbarer Vollzug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

a) Generelle Bundeszuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

b) Generelle Länderzuständigkeit ...........................................

29

c) Differenzierung nach der jeweils betroffenen Regelungsmaterie entsprechend Art. 83 ff. GG .....................................................

30

8

Inhaltsverzeichnis 11. Verwaltungskompetenzen des Bundes..........................................

31

1. Die Bundesverwaltung nach Art. 87 Abs. 1,3 GG analog....................

31

2. Der Einfluß des Bundes auf die Länderverwaltungen nach Art. 84, 85 GG analog.......................................................................

32

III. Verwaltungskompetenzen der Länder ..........................................

33

1. Die LänderverwaItung nach Art. 84 Abs. 1, 85 Abs. 1 GG analog.. . . . .. . .. . .

33

2. Die Länderverwaltung entsprechend dem Landesvollzug von Landesgesetzen

33

D. Anwendbares formelles Verwaltungsrecht ..........................................

35

I. Der Grundsatz von der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der

Mitgliedstaaten ................................................................

35

11. Einschränkungen des Primats von der grundsätzlichen Anwendbarkeit nationalen Rechts .....................................................................

37

1. Direkte Kollision des nationalen mit dem gemeinschaftsrechtlichen formellen Verwaltungsrecht ........................................................

38

2. Indirekte Kollision des nationalen formellen Verwaltungsrechts mit dem materiellen Gemeinschaftsrecht .............................................

39

a) Keine "praktische Unmöglichkeit" der Realisierung gemeinschaftlicher Vorgaben ................................................................

40

b) Diskriminierungsverbot ..................................................

44

III. Unmittelbare Anwendbarkeit allgemeiner Gemeinschaftsrechtsgrundsätze .....

45

1. Problemstellung .............................................................

45

2. Die "Milchkontor-Entscheidung" des Europäischen Gerichtshofs............

46

3. Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

IV. Allgemeine Rechtsgrundsätze als Mindeststandard .............................

52

Dritter Teil

Einwirkungsmöglichkeiten auf den innerstaatlichen VerwaItungsvollzug durch Vorschriften des EG-Rechts A. Bestandsaufnahme: Ausgewählte verfahrensrechtliche Regelungen des EG-Umweltrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

I. Die Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung ........................

54

1. Entstehungsgeschichte und Zwecksetzung ...................................

54

2. Strukturelle Auswirkungen der UVP-Richtlinie auf das deutsche UmweltverwaItungsverfahrensrecht .................................................

56

a) Die Behörden- und Öffentlichkeitsbeteiligung ........................ . . . .

56

Inhaltsverzeichnis

9

b) Die Projektträgerpflichten nach Art. 5 Abs. I UVP-Richtlinie und der Amtsennittlungsgrundsatz ...............................................

60

c) Die verfahrensrechtlichen Konsequenzen des integrativen Ansatzes der UVP-Richtlinie ..........................................................

62

3. Der Beitrag der UVP-Richtlinie zur Rechtsvereinheitlichung ................

66

a) Entwicklungsstand .......................................................

66

b) Unmittelbare Anwendbarkeit und objektive Wirkung der UVP-Richtlinie

67

c) Materiell-rechtlicher Gehalt von Verfahrensvorschriften ..................

70

d) Rechtsschutz bei Verletzung verfahrensrechtlicher Bestimmungen nach § 46 VwVfG ............................................ . . . .. . . . . . .. . . . . .

74

4. Vorschlag zur verbesserten Durchsetzung verfahrensrechtlicher Bestimmungen... ............................... ........................................

76

H. Die Richtlinie über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt .... . .

78

1. Entstehungsgeschichte und Zwecksetzung ...................................

78

2. Auswirkungen der Umweltinformationsrichtlinie auf den Grundsatz von der beschränkten Aktenöffentlichkeit ............ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

3. Rechtslage in den anderen Mitgliedstaaten ..................................

81

4. Gerichtliche Durchsetzbarkeit des Informationszugangsrechts ...............

82

III. Die Grundwasserrichtlinie .....................................................

84

1. Entstehungsgeschichte und Regelungsgegenstand ...........................

84

2. Umsetzungsdefizite des deutschen Verwaltungsverfahrensrechts .............

85

3. Auswirkungen auf die Rechtsvereinheitlichung ..............................

87

IV. Zusammenfassung .............................................................

89

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers zum Erlaß weiteren formellen europäischen Umwe1trechts ............................................................

90

I. Einführung ............................................ . .......................

90

1. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ..... . .......................

90

2. Implizite Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

3. Die finale und dynamische Ausrichtung der Befugnisnormen ................

93

4. Grenzen einer an Effektivitätsgesichtspunkten ausgerichteten Vertragsauslegung ......................................................................

95

11. Die Verwaltungsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

1. Die Aufgabenverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

a) Grundlagen..............................................................

96

10

Inhaltsverzeichnis b) Das "Tätigwerden" der Gemeinschaft nach Art. 175 Abs. 1 EGV .........

97

c) Einschränkung des Art. 175 Abs. 1 durch Art. 175 Abs. 4 EGV .... . . . . . .. 100 2. Erforderlichkeit gemeinschaftlichen Tätigwerdens ........................... 101 a) Die Ausstattung und Einrichtung nationaler Verwaltungsstellen .......... 101 b) Aufgabenwahrnehmung durch Private.................................... 104 III. Das Verwaltungsverfahren ..................................................... 105 l. Spezialermächtigung nach Art. 175 Abs. 1 EGV ............................. 106

a) Anwendungsvoraussetzungen ............................................ 106 b) Erforderlichkeit vollzugsverbessernder Gemeinschaftsregelungen ........ 107 2. Erlaß von Durchführungsvorschriften durch die Kommission nach Art. 211 EGV ........................................................................ 109 3. Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 Abs. 1 EGV ............................ 112 a) Anwendungsvoraussetzungen ............................................ 112 b) Verhältnis von Art. 94 und 95 Abs. 1 EGV ............................... 117 c) Subsidiarität des Art. 95 EGV ............................................ 117 4. Die Kompetenzergänzungsvorschrift des Art. 308 EGV ...................... 118 a) Anwendungsvoraussetzungen ............................................ 118 b) Verhältnis zu Art. 175,94,95 EGV ...................................... 118 c) Abgrenzung zur Vertragsänderung ....................................... 119 IV. Der Verwaitungsprozeß ........................................................ 122 l. Kompetenzgrundlagen ...................................................... 122

2. Erforderlichkeit gemeinschaftlichen Tätigwerdens ........................... 122 a) Verwaltungsgerichtlicher vorläufiger Rechtsschutz....................... 122 b) Klagebefugnis ........................................................... 125

Vierter Teil Einwirkungsmöglichkeiten auf den innerstaatlichen VerwaItungsvollzug durch Behörden der Gemeinschaft A. Einzelfallmaßnahmen der Kommission. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 130

I. Problemstellung ............................................................... 130

11. Kompetenzgrundlagen ......................................................... 131 l. Art. 175 Abs. 1 EGV ........................................................ 131

2. Art. 211, l. und 4. SpStr. EGV ............................................... 133 3. Art. 95 Abs. 1 EGV ......................................................... 134 a) Die Praxis der Gemeinschaftsorgane ..................................... 134 aa) Die sog. Novel-Food-Verordnung .................................... 134

Inhaltsverzeichnis

11

bb) Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Produktsicherheits-Richtlinie ...................................................... 135 b) Anwendungsvoraussetzungen ............................................ 136 c) Art. 95 Abs. 1 EGV i.V.m. implied powers ............................... 137 4. Art. 308 EGV ............................................................... 139 a) Grundsätzliche Zulässigkeit direkter Vollzugsbefugnisse ................. 139 b) Verhältnis zu Art. 175 Abs. 1 EGV ....................................... 140 B. Sonderfall: Die Übertragung von Verwaltungsaufgaben auf die Europäische Umweltagentur ........................................................................ 140 I. Entstehungsgeschichte ...................................................... . .. 140 11. Ziele und Aufgabenbereiche ................................................... 141 1. Datensammel- und -vennittlungsstelle ....................................... 141 2. Die künftige Übertragung von Inspektoratsfunktionen ....................... 143 a) Die Organisationskompetenz der Gemeinschaft .......................... 144 b) Die Ermächtigungsgrundlage für eine Kompetenzerweiterung ............ 146 aa) Im allgemeinen...................................................... 146 bb) Im besonderen betreffend die Ausstattung der Europäischen Umwe1tagentur mit Kontrollbefugnissen ..................................... 147 c) Vorschläge zur konkreten Ausgestaltung des Inspektorats ................ 149 aa) Die Entsendung sog. Umweltinspektoren vor Ort .................... 149 bb) Der "mittlere gemeineuropäische Nenner" ........................... 150 cc) Die Europäische Zentralbank als Vorbild............................ 151 Ill. Kompetenzausübungsschranken .............................. . ................ 155 1. Das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 2 EGV ............................. 155 2. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip des Art. 5 Abs. 3 EGV ..................... 157 3. Der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts........................... 160 a) Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im "Meroni-Fall" ... 160 b) Vollzugsmonopol der Kommission aus Art. 211, 4. SpStr. EGV? ......... 161 IV. Ausblick....................................................................... 163

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

Sachwortverzeichnis .................................................................. 201

Erster Teil

Einleitung A. Problemstellung Ein Blick zurück auf die vergangenen Jahre zeigt, daß die fortschreitende Europäisierung auch vor dem Umweltrecht keinen Halt macht. Nicht zuletzt Katastrophen wie Seveso, I Tschernobyl oder das sich stets vergrößernde Ozonloch haben deutlich werden lassen, wie wichtig eine staatenübergreifende Zusammenarbeit auf diesem Gebiet ist. 2 Mit der Pariser Gipfelkonferenz vom 19./20. 10. 1972, auf der die Erstellung eines umweltpolitischen Aktionsprogramms angeregt wurde,3 begann daher ein Prozeß, dessen Verlauf nicht absehbar ist. Eine "Dynamik der Zuständigkeitsexpansion" zugunsten der Europäischen Gemeinschaft sorgt für eine stetig wachsende Anzahl neuer Rechtsvorschriften. Bisher verabschiedete die Gemeinschaft allein über 200 Umweltnormen, die meisten von ihnen Richtlinien. 4 Mag das darin zum Ausdruck kommende Engagement der Europäischen Gemeinschaft5 für die Umwelt im Grundsatz auch begrüßenswert sein, so läßt sich ein hohes Umweltschutzniveau dadurch gleichwohl nur dann erreichen, wenn die erlassenen Rechtsakte auch angewandt werden. Art. 175 Abs. 4 EGV 6 weist diese Aufgabe primär I Aufgrund der Umweltkatastrophe in Seveso 1976 wurde die Richtlinie 82/501lEWG des Rates v. 24. 6. 1982 über die Gefahren schwerer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten (ABI L 230/1) erlassen. Sie unterlag bereits mehrfachen Änderungen, zu denen u. a. die Brandkatastrophe bei dem Base1er Chemieunternehmen Sandoz 1989 Veranlassung gab; vgl. Steinberg, AöR 120 (1995), 549/551, zur neuesten Änderung s. Rebentiseh, NVwZ 1997, 6 ff.; Sehendel, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 39 Rn. 107. 2 Vgl. Nettesheim, Jura 1994, 337; Kloepfer, Umweltrecht 1989,3 f. 3 S. Bull EG 10/1972,9/21; GrabitzlZaeker, NVwZ 1989,297. 4 S. KOM (96), 500 endg., 3; vgl. auch Krämer, EEC Treaty and Environmental Protection, 1990, 3ff. und Demmke, Die Verwaltung 27 (1994), 49/50, der sogar von ca. 450 Rechtsakten im Umweltbereich ausgeht. Allerdings besteht in den letzten Jahren eine Tendenz, die Rechtsetzungstätigkeit der EG zu vermindern und dafür der Qualität nach zu verbessern, s. das von der Kommission dem Europäischen Rat von Madrid 1995 vorgelegte Dokument "Für eine bessere Rechtsetzung", KOM (95), 513 endg. 5 Zur Verwendung der Terminologie EG bzw. EU s. HölseheidtlBaldus, DVBI. 1996, 1409 ff. 6 Vor Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags am 1. 5. 1999 Art. 130s Abs. 4 EGY.

14

1. Teil: Einleitung

den Mitgliedstaaten zu. Zum einen gewiß deshalb, weil der Europäischen Gemeinschaft das dafür erforderliche Personal fehlt, zum anderen aber auch, um dem Subsidiaritätsprinzip hinreichend Rechnung zu tragen. Ob die Mitgliedstaaten dieser Aufgabe gewachsen sind, erscheint derzeit mehr als fraglich. 1995 etwa meldeten sie die Durchführung von nur 91 % der Gemeinschaftsrichtlinien im Umweltbereich. Zeitgleich stellte die Kommission 265 Verstöße gegen das materielle EG-Umweltrecht fest. 7 Da es unwahrscheinlich erscheint, daß die Kommission von allen tatsächlich auftretenden Verstößen auch tatsächlich Kenntnis erlangt, ist nicht auszuschließen, daß die Anzahl an Verstößen in Wirklichkeit sogar noch viel größer ist. Das läßt befürchten, daß die gemeinschaftliche Umweltpolitik nicht immer die gewünschte Effektivität erzielt und es damit zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen kommt. Um dem entgegenzutreten und eine einheitliche und effektive Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen, stehen der Europäischen Gemeinschaft Einflußmöglichkeiten auf den mitgliedstaatlichen Vollzug zu. Sie beruhen insbesondere auf zwei Faktoren: Zum einen auf dem Erlaß verbindlicher UmweltrechtsakteS - beispielsweise der Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung oder der Umweltinformationsrichtlinie 9 - und zum anderen auf der Ausübung von Verwaltungstätigkeit. Die EuGH-Rechtsprechung lO ist daneben insofern von Bedeutung, als sie der Umwe1trechtsetzung auf Gemeinschaftsebene die nötigen Impulse gibt und ihr im Wege der Auslegung Kontur verleiht. Bereits 1993 belief sie sich auf 76 Urteile mit Umweltbezug. Dem gemeinschaftlichen Tätigwerden sind allerdings enge Grenzen gesetzt. So wies das Bundesverfassungsgericht erst jüngst erneut darauf hin, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber nur innerhalb der ihm durch die Gemeinschaftsverträge zugewiesenen Kompetenzen tätig werden darf. ll Welchen Umfang die administrativen Gemeinschaftsbefugnisse haben, bleibt dabei nach wie vor unklar. Denn die Gemeinschaftsverträge enthalten keine der genauen Abgrenzung von Verwaltungs7 S. KOM (96), 500 endg., 4, 95. Danach betreffen die meisten Probleme die Bereiche Natur, Umweltverträglichkeitsprüfung, Abfälle und Gewässer; s. dazu ferner Sach, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 44 Rn. 5, 17, 32f. S Vgl. Schröder; in: Schoch (Hg.), Das Verwaltungsrecht als Element der europäischen Integration, 1995,91; Everling, in: Behrens/Koch (Hg.), Umweltschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1991,29 ff.; Rengeling, Fragen zum allgemeinen Verwaltungsrecht in der EG, FS für Scupin, 1983,475 ff.; Kasten, DÖV 1985, 570ff. 9 S. dazu ausführlich unten 3. Teil A I, 11. 10 Zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf dem Gebiet des Umweltrechts Everling, in: Behrens/Koch (Hg.), Umweltschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1991, 29ff.; Neumann, UTR 36 (1996), 607ff.; Faßbender; UTR 21 (1993), 367ff.; Zuleeg, NJW 1993,31 ff.; Huber; in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 19 Rn. 26, 37 ff. 11 BVerfGE 89, 155/192.

B. Tenninologische Klarstellungen

15

kompetenzen dienende, in ihrer Trennschärfe mit den Art. 83 ff. GG 12 vergleichbaren Vorschriften. 13 Derart unscharfe Konturen schaffen gewiß die notwendige flexibilität für eine Anpassung an die sich ständig ändernden politischen und rechtlichen Neuerungsprozesse. 14 Schon aus Gründen der Rechtssicherheit bleibt eine klare Abgrenzung gleichwohl unabdingbarY Dabei stellt sich das im folgenden näher zu untersuchende Problem, so wenig wie möglich in die nationalen Verwaltungsstrukturen einzugreifen, andererseits aber auch eine effektive und einheitliche Durchführung des europäischen Umweltrechts sicherzustellen.

B. Terminologische Klarstellungen I. Angleichung, Harmonisierung und Vereinheitlichung nationalen Rechts Die bereits erwähnten Einflußmöglichkeiten der Gemeinschaftsgesetzgebung, -verwaltung und -rechtsprechung auf das nationale Verwaltungsrecht sind vielfältig. Im Vordergrund stehen die "Rechtsangleichung", "Hannonisierung" und "Vereinheitlichung" des nationalen Rechts. Über die Unterschiede im Inhalt und in der Tragweite dieser Begriffe war man sich lange Zeit uneins. 16 Mittlerweile besteht Konsens darüber, daß ihnen kein durchdachtes Differenzierungssystem zugrundeliegt und sie daher synonym zu verwenden sind. 17 Sie bezeichnen das bewußte und gemeinsame Verfahren mehrerer Staaten mit dem Ziel, Rechtsnormen gleichen oder identischen Inhalts in ihre Rechtsordnungen einzuführen oder sonst ihre Rechte im Verhältnis zueinander gleich zu gestalten. 18

12 Demgegenüber entspricht in angelsächsischen Bundesstaaten die Verteilung der Verwaltungsbefugnisse derjenigen der Gesetzgebungsbefugnisse, vgl. Hilf, in: Schwarze (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1982, 67/68; dazu insbes. Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaates in rechtsvergleichender Sicht, 1977, 224 ff. 13 Hilf, in: Schwarze (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1982,67/68. 14 So Hilf, in: Schwarze (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1982,67/69, 92. 15 Nach Ansicht Sommennanns, DVBI. 1996, 889/891, stecken die nationalen Verwaltungen angesichts der immer schwierigeren Abgrenzung innerstaatlich und europarechtlich geregelter Vollzugsaufgaben in einer Identitätskrise. 16 Zum Streitstand Schmeder; Die Rechtsangleichung als Integrationsrnitte1 der Europäischen Gemeinschaft, 1978, 5 ff. 17 S. Taschner; in: G/T/E (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Aufl. 1991, Art. 100 Rn. 1; ausführlich dazu Lochner; ZStaatsw 118 (1962), 35 ff. 18 Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. 11, 1972, 423; vgl. auch Kegel, KSE 11 (1971), 9/10; Schmeder; Die Rechtsangleichung als Integrationsmittel der Europäischen Gemeinschaft, 1978,8.

16

1. Teil: Einleitung

Ein gradueller Unterschied soll, so wird vertreten,19 allenfalls darin liegen, daB die Rechtsangleichung gegenüber der Vereinheitlichung weniger intensiv sei. Während die Rechtsangleichung die von ihr erfaBten Rechte nur verändere, ihre Identität aber unberührt lasse, führe die Rechtsvereinheitlichung zu ihrer Verdrängung. Ein sachlicher Grund für eine solche Differenzierung wird nicht genannt. Sie erscheint überdies geradezu überflüssig. Denn auch eine Rechtsvereinheitlichung in dem genannten Sinn erfolgt methodisch nur in Angleichungsschritten, weil sich eine Verdrängung nationalen Rechts nur langsam vollzieht und demnach regelmäßig am Ende eines Prozesses abgestufter Rechtsangleichung steht. 20 Eine Unterscheidung zwischen Rechtsangleichung und Rechtsvereinheitlichung ist daher abzulehnen. Die in Frage stehenden Begriffe werden hier dementsprechend synonym verwandt.

11. Ausführung und Anwendung von EG-Recht Nachfolgend wird einmal von der Ausführung oder auch Umsetzung,21 ein andemmal von der Anwendung bzw. Durchführung des europäischen Gemeinschaftsrechts die Rede sein. Der Begriff der Ausführung bezeichnet dabei den Erlaß mitgliedstaatlicher Rechtsnormen 22 aufgrund gemeinschaftlicher Verpflichtung. 23 Typisches Beispiel einer solchen Verpflichtung ist die Richtlinie, deren Ausführung durch normativen Transformationsakt des nationalen Gesetzgebers erfolgt. Daneben können sog. Rahmenverordnungen 24 oder auch Entscheidungen Grundlage für die Schaffung nationalen Rechts sein. 25 19 Vgl. Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, 144 f.; Taschner, Rechtsangleichung in der Bewährung?, GS für Constantinesco, 1983,7651766; SchweitzerlHummer, Europarecht, 5. Aufl. 1996, Rn. 1228; Scheuing, in: Hoffmann-Rieml Schrnidt-Aßmann (Hg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandeins, 1994, 289/299; s. auch Everling, Zur Funktion des Gerichtshofs, FS für Lukes, 1989, 359 f. 20 So auch Schmeder, Die Rechtsangleichung als Integrationsmittel der Europäischen Gemeinschaft, 1978, 8 f.; zum Stand der Rechtsangleichung in der EG allgemein Müller-Graf!, EuR 1989, 107 ff.; Everling, in: Capotorti u. a. (Hg.), Du droit international au droit de l'integration, 1987,227/237 ff.; Taschner, Rechtsangleichung in der Bewährung?, GS für Constantinesco, 1983,765 ff.; Twitchett, Harmonisation in the EEC, 1981; Schwartz, Zur Konzeption der Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, FS für Hallstein, 1966, 474ff.; v. d. Groeben, NJW 1970, 359ff.; Kötz, RabelsZ 50 (1986),1 ff. 21 Die Ausführung von Richtlinien wird i.d.R. als "Umsetzung" bezeichnet; vgl. Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994,51; Oppermann, Europarecht, 1991, Rn. 459ff. 22 Grds. auch Verwaltungsvorschriften, vgl. Zuleeg, KSE 9 (1969), 226. 23 V gl. KOM (96), 500 endg., 30. 24 S. etwa Art. 6 Abs. 1 der Öko-Audit-Verordnung, ABI 1993 L 168/4. 25 Vgl. Winter, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 107/116.

C. Gegenstand und Gang der Untersuchung

17

Demgegenüber ist unter "Anwendung", "Verwaltungsvollzug" oder "Durchführung" die Konkretisierung von Gemeinschaftsrecht bzw. nationalem Ausführungsrecht durch eine Verwaltungsinstanz im Einzelfall zu verstehen. 26 Ist von "Implementation" die Rede, wird der Begriff mit demjenigen der Ausführung bzw. Umsetzung von Gemeinschaftsrecht gleichgesetzt. 27

C. Gegenstand und Gang der Untersuchung Das hauptsächliche Interesse dieser Untersuchung gilt der Anwendung von EG-Umwe1trecht in dem beschriebenen Sinn. Die Problematik, die sich hier stellt, reicht von der Ausgestaltung der Gemeinschaftsrechtsetzung bis zur einzelfallbezogenen Vollzugspraxis auf kommunaler Ebene?S Denn, wie die europaweite empirische Forschungsstudie zur Anwendung von EG-Recht, auch MaastrichtStudie genannt,29 ergab, hängt die Wirksamkeit des EG-Rechts schon vom gemeinschaftsrechtlichen Entscheidungsverfahren auf Gesetzgebungsebene ab. Bereits die Vorbereitung von Rechtsakten auf supranationaler Ebene sei ausschlaggebend für den späteren Erfolg oder Mißerfolg bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht. 30 Würden etwa die Vollzugsprobleme des zu regelnden Gegenstandes schon in der Initiativ- und Formulierungsphase eines Gesetzgebungsaktes ausreichend antizipiert - beispielsweise durch die Einbeziehung der in der Praxis mit der Durchfüh26 Zu leeg, KSE 9 (1969), 47, 225; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972,9/23; Rengeling, EuR 1974,216/217. 27 So Fiedler, Der Städtetag 1990, 563/564; Schröer, Kommunaler Umweltschutz in Europa, 1992, 55; für eine weitere Auslegung wohl Demmke, Die Implementation von EGUmweltpolitik, 1994,21. 28 Demmke, Die Implementation von EG-Umweltpolitik, 1994, 19; Hauschild, in: Siedentopf (Hg.), Europäische Integration und nationalstaatliehe Verwaltung, 1991, 155/156f.; s. auch EpineylGerber, in: v. Danwitz u. a. (Hg.), Auf dem Wege zu einer Europäischen Staatlichkeit, 1993, 65 ff.; Sach, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 44 Rn. 94. 29 Dem Europäischen Institut für öffentliche Verwaltung in Maastricht oblag die Durchführung des von 1984-1986 andauernden Forschungsprojektes, SiedentopjlZiller (Hg.), L'Europe des adrninistrations?, Bd. I/II, 1988; in englischer Sprache: Making European polieies work, Bd. I/II, 1988; dazu auch Siedentopf! Hauschild, DÖV 1990,445 ff.; im Ergebnis ebenso die Florenz-Studie, die in 3 Bänden jeweils unter dem Titel "The 1992 Challenge at National Level" erschienen ist, in: SchwarzelGovaerelHelinlVan den Bossehe (Hg.), Reports and Conference Proceedings 1989, 1990; SchwarzelBeckerlPoliak (Hg.), Reports and Conference Proceedings 1990, 1991; dies. (Hg.), Reports and Conference Proceedings 1991/ 92, 1993; vgl. dazu auch SchwarzelBeckerlPoliak (Hg.), Die Implementation von Gemeinschaftsrecht, 1993. 30 Demmke, Die Implementation von EG-Umweltpolitik, 1994, 22; Siedentopf! Hauschild, DÖV 1990, 445/447; s. auch Huber, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 19 Rn. 95.

2 Nitschke

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1. Teil: Einleitung

rung des EG-Rechts befaßten Stellen in die Entscheidungsfindung 31 -, tauchten bei der späteren Anwendung des erlassenen EG-Rechtsaktes bei weitem weniger Probleme auf als in den Fällen, in denen das Gesetzgebungsverfahren ohne Blick auf die spätere Anwendungspraxis durchgeführt werde. 32 Dieser Befund scheint so beachtenswert wie unbestritten. Dennoch soll ihm im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nur beschränkt Rechnung getragen werden. Unerörtert bleiben weiterhin repressive Kontrollinstrumente zur ordnungsgemäßen Anwendung von EG-Recht, wie etwa die Staatshaftung der Mitgliedstaaten bei fehlerhafter Durchführung des Gemeinschaftsrechts. 33 Statt dessen steht die Analyse von Kompetenzkonflikten zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten bei der "praktischen Anwendung"34 europäischen Umweltrechts im Vordergrund. Die aufgeworfenen Fragen erfassen neben dem allgemeinen und besonderen Umweltrecht auch zentrale Probleme des allgemeinen Verwaltungsrechts. Die Auseinandersetzung mit grundlegenden Prinzipien des europäischen Rechtssystems wie auch verschiedenster nationaler Rechtssysteme fließt an geeigneter Stelle in die Betrachtungen mit ein. In einem ersten Schritt wendet sich die Arbeit den Grundlagen des innerstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht zu (2. Teil). Untersucht wird die Rechtsnatur der staatlichen Vollzugsaufgabe, um so Rückschlüsse auf die Zulässigkeit gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben für den nationalen Verwaltungsvollzug von EG-Recht ziehen zu können. Stellt sich heraus, daß nur gemeinschaftseigene Hoheitsgewalt ausgeübt wird, schließt das einen Konflikt zwischen den nationalen Rechtsordnungen und der gemeinschaftlichen Rechtsordnung nahezu aus. Handeln 31 Die Projektstudie erwähnt in diesem Zusammenhang den Fall der RL 791 112 1EWG, die eine Harmonisierung der Vorschriften zur Etikettierung von Lebensmitteln mit einem Verfallsdatum zum Inhalt hat. Die deutsche Bierindustrie erkannte zu spät, daß hier eine Regelung getroffen wurde, die auch sie betraf; dazu SiedentopJI Hauschild, DÖV 1990, 445/449; s. auch Sach, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umwe1trecht, 1998, Bd. I, § 44 Rn. 56 f. 32 Weitere Kriterien, anband derer Aussagen über die Erfolge und 1 oder Mißerfolge der Implementationsvorgänge getroffen werden können, s. bei Demmke, Die Imp1ementation von EG-Umweltpolitik, 1994, 22 f. 33 S. dazu ausführlich Jarass, NJW 1994, 881 ff.; Geiger; Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Staatshaftung, 1997; Wehlau, Die Rechtsprechung des Gerichtshofes der EG zur Staatshaftung, 1996; Böhm, JZ 1997, 53ff.; Bröhmer; JuS 1997, 177ff.; v. Danwitz, DVBI. 1997, 1 ff.; Lengauer; (Österr.) JZ 1997, 81 ff.; Krämer; in: Gündling/Weber (Hg.), Dicke Luft in Europa, 1988, 2011211 ff.; Bahlmann, DWiR 1992, 61 ff.; Eilmannsbergerl Erhart, ecolex 1992, 213 ff.; Ewert, RIW 1993, 881 ff.; Fischer; EuZW 1992, 41 ff.; Hailbronner; JZ 1992, 284ff.; Karl, RlW 1992, 440ff.; Pieper; NJW 1992, 2454ff.; SchlemmerSchulte I Ukrow, EuR 1992, 82ff.; Triantafyllou, DÖV 1992, 564ff.; BetlemlRood, Nederlands Juristenblad 1992, 250ff.; Brenninkmeijer; Nederlands Juristenb1ad 1992, 256ff.; BaronelPardolesilPonzanelli, Foro Italiano 1992/1V, 145ff.; Birkinshaw, Grievances, Remedies and the State, 1994; Smith, EurCompLRev 1992, 129ff.; Schockweiler; RTDeur. 28 (1992), 27 ff. 34 So die Bezeichnung in KOM (96), 500 endg., 30.

C. Gegenstand und Gang der Untersuchung

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die nationalen Stellen dagegen kraft eigener innerstaatlicher Gewalt, sind die sich aus einer Einflußnahme der Gemeinschaft ergebenden Eingriffe in die nationalen Verwaltungsstrukturen tiefgreifender und daher schwerer zu rechtfertigen. Daran angeschlossen bedarf die prinzipielle Verteilung der Kompetenzen zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts einer näheren Erörterung. Besondere Beachtung verdienen die in föderal organisierten Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland auftretenden Schwierigkeiten mit der Aufteilung der Verwaltungsbefugnisse zwischen Bund und Ländern. Daneben betrifft ein weiteres Problem die Frage nach dem beim Vollzug von EG-Recht anwendbaren Verwaltungsrecht. Dabei geht es insbesondere um den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht. Beachtung findet hier vor allem die indirekte Kollision des nationalen formellen Verwaltungsrechts mit dem materiellen Gemeinschaftsrecht. Besonderen Schwierigkeiten begegnet die Einflußnahme allgemeiner, vom Gerichtshof entwickelter Rechtsgrundsätze auf den innerstaatlichen Verwaltungsvollzug. Der folgende Teil der Arbeit beschäftigt sich mit dem Einfluß des Gemeinschaftsgesetzgebers auf den nationalen Verwaltungsvollzug von EG-Umweltrecht (3. Teil). In welchem Umfang der EG-Vertrag die Gemeinschaft zum Erlaß von Rechtsakten auf verwaltungsrechtlichem Gebiet ermächtigt, ist nach wie vor unklar. Die Schwierigkeiten, die sich hier stellen, betreffen unterschiedliche Ebenen. Entsprechend dem nationalen Verwaltungsrecht muß zwischen Verwaltungsorganisations-, Verfahrens- und -prozeßrecht als dem formellen Verwaltungsrecht einerseits und dem materiellen Verwaltungsrecht andererseits unterschieden werden. Eine Analyse der in Betracht kommenden Ermächtigungsnormen soll Aufschluß darüber geben, zu welchen administrativen Vorgaben die Europäische Gemeinschaft auf der jeweiligen Ebene des formellen Verwaltungsrechts befugt ist. Um dem praxisnah nachgehen zu können, werden vorab die von der Europäischen Gemeinschaft bereits getroffenen formellen verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und ihre Auswirkungen auf den nationalen Verwaltungsvollzug dargestellt. Im einzelnen geht es um die Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung, die Umweltinformationsrichtlinie und die Grundwasserrichtlinie. Im Anschluß daran soll auf den Einfluß, den die Gemeinschaftsverwaltung auf den nationalen Verwaltungsvollzug ausüben kann, eingegangen werden (4. Teil). Dabei sollen die rechtlichen Möglichkeiten von gemeinschaftlichen Einzelfallmaßnahmen durch die Kommission näher beleuchtet werden. Überlegungen zur Harmonisierung des nationalen Verwaltungsvollzugs durch verschärfte Anwendungskontrollen folgen. Diese können sowohl präventiv als auch repressiv ausgeübt werden. Repressiv durch Sanktionen, die, wie erwähnt, nicht angesprochen werden sollen. Präventiv insofern, als der Gemeinschaft bestimmte Aufsichts- bzw. Weisungsrechte zukommen, die nur mit Hilfe eines weitreichenden Informationssystems wahrgenommen werden können. In die richtige Richtung weist hier die Verordnung (EWG) Nr. 1210/90,35 die als Rechtsgrundlage für die Schaffung 35

2*

Verordnung des Rates vom 7.5. 1990 (ABI L 120/1).

1. Teil: Einleitung

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einer Europäischen Umweltagentur und des Europäischen Umweltinfonnationsund Umweltbeobachtungsnetzes dient. 36 Doch, gleich dem "Netz aus Vertretern der nationalen Behörden und der Kommission für den Bereich der praktischen Umsetzung der gemeinschaftlichen Maßnahmen",3? beschränken sich ihre Befugnisse derzeit auf die Sammlung von Infonnationen und Erfahrungen. 38 Das Recht, durch die Entsendung von Umweltinspektoren Kontrollen vor Ort vorzunehmen, steht ihnen bislang nicht ZU. 39 Gegenstand dieses Teils der Arbeit ist daher die Frage, ob mit einer Erweiterung der Handlungsbefugnisse der Europäischen Umweltagentur eine Änderung der Rechtslage herbeigeführt und damit ein Beitrag zur weiteren Rechtsharmonisierung geleistet werden kann.

Dazu Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 109 f. ABI 1993 C 138/80. 38 Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 109 f.; Steinberg, AöR 120 (1995), 549/592; Club of Bruxelles (Hg.), EC Environmental Policy 1A Challenge for the 1990s, 1990, I, 63 ff. 39 Nur in einigen Bereichen wie dem Wettbewerbsrecht, der Veterinärkontrolle, der Weinproduktion, der Zollunion und der Fischereipolitik besitzt die Kommission bereits Inspektionsbefugnisse, vgl. Art. 6 der VO 2048/89/EWG v. 19.06. 1989 mit Grundregeln über die Kontrollen im Weinsektor (ABI L 2021 32 ff.); VO 2241/87 IEWG v. 23. 07.1987 zur Festlegung bestimmter Maßnahmen zur Kontrolle der Fischereitätigkeit (ABI L 20711 ff.); VO 3251/87/EWG v. 19. 10. 1987 über eine autonome Zwischenregelung zur Kontrolle von Schiffen der Gemeinschaft im Regelungsbereich der Organisation für die Fischerei im Nordwestatlantik (NAFO) (ABI L 31411 ff.). Zur Existenz von Schiffsinspektoren, die von der Generaldirektion Fischerei zu den Fischereiverwaltungen der Mitgliedstaaten entsendet werden Bleckmann, Europarecht, 6. Auf!. 1997, Rn. 2346; s. auch Lindemann/Delfs, ZUR 1993, 256/259; Demmke, Die Implementation von EG-Umwe1tpolitik, 1994, 16. 36

37

Zweiter Teil

Grundlagen des innerstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht A. Arten des Verwaltungsvollzugs von Gemeinschaftsrecht I. Direkter Vollzug Werden die Gemeinschaftsorgane selbst verwaltend tätig, handelt es sich um gemeinschaftsunmittelbaren Vollzug von EG-Recht, der auch als direkter oder zentralisierter Vollzug bezeichnet wird.! Er kann sowohl im gemeinschaftsinternen 2 als auch -externen3 Bereich erfolgen, setzt aber eine ausdrückliche, im primären Gemeinschaftsrecht verankerte Regelung hinsichtlich des tätigwerdenden Organs und dessen Handlungsmöglichkeiten voraus. 4 Zu denken ist hier an den Haushaltsvollzug, das Kartell-, Monopol- und Beihilfenrecht (Art. 81 ff. EGy5 ), die gemeinschaftseigene Subventionsvergabe (Art. 34 Abs. 2 EGy 6 ) oder die Beseitigung von Diskriminierungen auf dem Yerkehrssektor (Art. 75 Abs. 4 EGy7 ). Im Umweltrecht besitzt dieser Yollzugstyp bislang keine herausragende Bedeutung. 8 Ob rechtliche Grundlagen für ihn bestehen, mit der Folge, daß künftig etwas anderes gelten könnte, wird noch zu erörtern sein. 9 1 Vgl. v. d. GroebenlMestmäcker, Ziele und Methoden, 1972, 141; Zuleeg, in: I.E.J.E. (Hg.), La Communaute et ses Etats Membres, 1973, 23/42; RengelinglMiddekelGellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, Rn. 957. 2 Nach lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 1 /9 als sog. Intendanturaufgaben bezeichnet; s. auch Rengeling, EuR 1993,331/332; ders., VVDStRL 53 (1994), 202/205. 3 Vgl. die Differenzierung bei Rengeling, EuR 1984, 331/333. 4 Beutler I Bieber I Pipkoml Streit, Die Europäische Union, 4. Aufl. 1993, 226; Schweitzer, Die Verwaltung 1984, 137/139. 5 Früher Art. 85 ff. EGY. 6 Früher Art. 40 Abs. 3 EGV. 7 Früher Art. 79 Abs. 4 EGV. 8 V gl. Klein, in: Starck (Hg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, 1992, 117/ 123 f.; s. auch Weber, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991, 55/72ff. 9 Dazu s. 4. Teil A.

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

11. Indirekter mittelbarer und unmittelbarer Vollzug Von nationalem oder auch indirektem Vollzug ist die Rede, wenn das Gemeinschaftsrecht durch nationale Verwaltungsinstanzen angewandt wird. 1O Das geschieht in mittelbarer oder unmittelbarer Form. 11 In mittelbarer Form dann, wenn die mitgliedstaatlichen Behörden nationales, auf Gemeinschaftsrecht bezogenes Ausführungsrecht vollziehen wie es etwa bei der Durchführung nationaler, zur Umsetzung von Richtlinien ergangener Vorschriften der Fall iSt. 12 In unmittelbarer Form dagegen dann, wenn die gemeinschaftsrechtliche Regelung keiner Transformation in nationales Recht bedarf und daher zur direkten Anwendung gelangt. 13 Typischer Fall hierfür ist der Vollzug EG-rechtlicher Verordnungen.

B. Rechtsnatur der staatlichen Vollzugsaufgabe Ob und wieweit sich die Gemeinschaftsorgane in den indirekten Verwaltungsvollzug einschalten und ihn so beeinflussen können, hängt entscheidend von der Rechtsnatur staatlicher Vollzugsaufgaben ab. 14 Sie bestimmt sich danach, in welcher Eigenschaft nationale Stellen den Vollzug von EG-Recht betreiben. Werden die Mitgliedstaaten etwa kraft Delegation von Wahmehmungszuständigkeiten tätig, kann die Gemeinschaft die ihr ursprünglich zustehenden Kompetenzen möglicherweise einfach wieder an sich ziehen. 15 Handelt es sich dagegen um verbliebene staatliche Zuständigkeiten, dürfte sich eine Mitwirkung von EG-Organen am nationalen Vollzug weitaus schwieriger gestalten. Das Problem der genauen Zuordnung staatlicher Exekutivakte stellt sich allerdings nur dann, wenn es um Vollzugsmaßnahmen auf der Grundlage unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts geht. Handeln die Verwaltungsbehörden in Form des mittelbaren Vollzugs, obliegt ihnen die Anwendung nationalen Rechts. Daß sie dabei kraft eigener Staatsgewalt tätig werden, steht außer Frage. 16 Folglich \0 S. zur französischen Terminologie Pescatore, EuR 1970, 307/311; Dehousse, in: I.E.J.E. (Hg.), La Communaute et ses Etats Membres, 1973, 117/158. 11 Vgl. Rengeling, KSE 27 (1977), 1Of., der darin zu Recht nicht nur eine Unterscheidung begrifflicher Art sieht; dazu s. auch Zuleeg, KSE 9 (1969),47 ff.; Streinz, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), HbdStR VII, 1992, § 182 Rn. 2; Gornig/Trüe, JZ 1993, 884. Zu den Formen der Mischverwaltung Stettner, in: Dauses (Hg.), Hdb des EG-Wirtschaftsrechts, 1997, B. III Rn. 2, 7f.; Everling, DVBI. 1983, 649/650; Scheuing, in: Hoffmann-RiemISchrnidt-Aßmann (Hg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, 289/295 f.; Pernice/Kadelbach, DVBI. 1996, 1100/1102; Huber, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 19 Rn. 105. 12 Vgl. Grabitz, NJW 1989, 1776ff. 13 Rengeling, EuR 1974,216/218 f. 14 AA Rengeling, EuR 1974,216/222. 15 Bünten, Staatsgewalt und Gemeinschaftshoheit, 1977,56.

B. Rechtsnatur der staatlichen Vollzugsaufgabe

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beschränkt sich die nachfolgende Untersuchung auf die administrative Durchführung direkt geltenden Gemeinschaftsrechts, sprich des Primärrechts und der auf seiner Grundlage ergangenen Verordnungen.

I. Ausübung gemeinschaftseigener Hoheitsgewalt Wie von der Theorie vom "dedoublement fonctionnel,,17 vertreten, könnten die nationalen Stellen beim indirekten unmittelbaren Vollzug von EG-Recht möglicherweise in Erfüllung ihrer Mitwirkungspflichten aus Art. 10 EGV 18 als Organe der Gemeinschaft tätig werden. Damit bliebe indes unbeachtet, daß der Unionsvertrag zwischen den Gemeinschaftsorganen des Art. 7 EGV 19 einerseits und den Mitgliedstaaten andererseits differenziert. 2o Selbst wenn nationale Stellen Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft wahrnehmen, läßt das somit nicht den Schluß zu, sie als eine Art EG-Behörden "in hierarchischer Unterordnung,,21 zu betrachten. 22 Unterstützt wird dieser Befund durch die Tatsache, daß die Mitgliedstaaten "Herren der Verträge,,23 sind und daher ihre Souveränität trotz aller Eigenständigkeit der Europäischen Gemeinschaft gewahrt bleibt. Folglich ist davon auszugehen, daß es sich auch weiterhin um zwei voneinander getrennte, nebeneinander stehende Rechtsordnungen handelt. 24 Eine pauschalierende Funktionsverdoppelung, wie sie die Theorie vom "d6doublement fonctionnel" vornimmt, ist daher abzulehnen. Vollziehen die nationalen Behörden EG-Recht unmittelbar, werden sie also nicht als Gemeinschaftsorgane tätig. 16 Everling, DVBI. 1983, 649/651; s. auch Schweitzer, Die Verwaltung 1984, 137/143; Grabitz, NJW 1989, 1776/1777; Stettner, in: Dauses (Hg.), Hdb des EU-Wirtschaftsrechts, 1997, B. III Rn. 11. 17 Dazu Wiebringhaus, Das Gesetz der funktionellen Verdoppelung, 1955; Ophüls, Die Geltungsnorrnen des Europäischen Gemeinschaftsrechts, FS für Riese, 1964, 1/19; Bünten, Staatsgewalt und Gemeinschaftshoheit, 1977, 38 ff.; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972,9/17 m.w.N; vgl. auch Pescatore, EuR 1970,307/316, der danach differenziert, ob die Durchführung gemeinschaftlicher Regelungen durch eine eigens dafür bestellte (dann als dezentralisiertes Gemeinschaftsorgan anzusehende) oder eine mit noch anderen Aufgaben betraute nationale Behörde erfolgt. 18 Früher Art. 5 EGY. 19 Früher Art. 4 EGY. 20 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 9/17. 21 S. Cartou, Communautes europeennes, 1981, 198 f., der den nationalen Verwaltungsvollzug von EG-Recht mit einer "subordination hierarchique" vergleicht. 22 Ähnlich Bünten, Staatsgewalt und Gemeinschaftshoheit, 1977, 39, der zwischen einer Erfüllung von Gemeinschaftsaufgaben und der Ausübung von Gemeinschaftsbefugnissen ebenfalls kein notwendiges Junktim erkennt; vgl. auch Aubin, Die Haftung, 1982, 101. 23 Dazu Everling, Sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft noch Herren der Verträge?, FS für Mosler, 1983, 173 ff.; Oppermann, Europarecht 1991, Rn. 188; Nicolaysen, Europarecht 1,1991, 72ff. 24 Vgl. Engel, Die Verwaltung 1992, 437/468.

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

11. Wahrnehmung delegierter Befugnisse Denkbar erscheint, daß die mitgliedstaatlichen Verwaltungsstellen auf der Grundlage einer Delegation von Gemeinschaftsbefugnissen als nationale Organe handeln. 25 Delegation bedeutet die Übertragung von Zuständigkeiten eines Organs auf ein anderes, meist nachgeordnetes. 26 Grundvoraussetzung dafür ist die Existenz einer dem delegierenden Subjekt zustehenden eigenen Kompetenz?7 Der Verwaltungsvollzug von EG-Recht müßte also in den originären Aufgabenbereich der Gemeinschaft fallen. Generell ist das nicht der Fall. Insbesondere ergibt sich eine Exekutivbefugnis der Europäischen Gemeinschaft nicht aus einer notwendigen Akzessorietät zu der ihr vertraglich eingeräumten Legislativgewalt. 28 Auch auf Verwaltungsebene muß auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zurückgegriffen werden. 29 Danach benötigt die Gemeinschaft für jeden Rechtsakt eine ausdrückliche oder zumindest durch Auslegung ermittelbare Rechtsgrundlage innerhalb der Verträge?O Administrative Durchführungsbefugnisse der Kommission oder des Rates müssen also vertraglich vorgesehen sein. Inwieweit vertragliche Vorschriften auf dem Gebiet des Umweltrechts existieren, soll Gegenstand späterer Untersuchungen sein. 31 Jedenfalls bedarf auch die Übertragung der eventuell vorhandenen gemeinschaftsrechtlichen Vollzugskompetenzen auf die Mitgliedstaaten einer vertraglichen Ermächtigung. 32 Als Ermächtigungs- bzw. Delegationsnorm kommt im vorliegenden Zusammenhang allenfalls Art. 175 Abs. 4 EGV in Betracht. Danach tra25 Im Gegensatz zu einem Tatigwerden der mitgliedstaatlichen Behörden als Gemeinschaftsorgane wären hierbei die Befugnisse der Europäischen Gemeinschaft tendenziell begrenzter, stehen ihr bei der Einwirkung auf eigene Organe doch grundsätzlich mehr Handlungsmöglichkeiten offen als bei der Einflußnahme auf fremde, mitgliedstaatliche Stellen. Ausführlich zur Delegation von Zuständigkeiten des Rates bzw. der Kommission Schindler, Delegation von Zuständigkeiten in der Europäischen Gemeinschaft, 1972. Dabei geht er lediglich am Rand auf das vertikale Verhältnis der Europäischen Union zu ihren Mitgliedstaaten ein, S. 29 ff. Zu der hier im einzelnen behandelten Problematik vgl. ebd., 32/Fn. 19. 26 S. Rengeling, KSE 27 (1977), 30; ders., EuR 1974,216/223; ausführlich zum Delegationsbegriff im EG-Recht Breulmann, Normung und Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1993, 177 ff. 27 Vgl. Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, 146. 28 Bünten, Staatsgewalt und Gemeinschaftshoheit, 1977, 161. 29 Vgl. zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ("Principe des competences d'attribution") die Schlußanträge des GA Lagrange, Sig. 1957,83/167; Oppermann, Europarecht 1991, Rn. 432 ff.; Nicolaysen, Europarecht I, 1991, 128 ff.; Ahlt, Europarecht, 2. Aufl. 1996, 40f.; BeutlerlBieberl PipkomlStreil, Die Europäische Union, 4. Aufl. 1993,82. 30 Oppermann, Europarecht, 1991, Rn. 432. 31 S. unten 3. Teil B, 4. Teil A. 32 Vgl. Schindler, Delegation von Zuständigkeiten in der Europäischen Gemeinschaft, 1972,48,51,54; Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, 146.

B. Rechtsnatur der staatlichen Vollzugsaufgabe

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gen die Mitgliedstaaten unbeschadet bestimmter Maßnahmen gemeinschaftlicher Art Sorge für die Finanzierung und Durchführung der Umweltpolitik. Derselbe Befund ergibt sich aus Art. 10 EGV, demzufolge die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der sich aus dem EG-Vertrag oder aus Handlungen der Gemeinschaftsorgane ergebenden Verpflichtungen zu treffen haben. Um Art. 175 Abs. 4 EGV neben Art. 10 EGV einen eigenen rechtlichen Gehalt beizumessen, könnte die Vorschrift eine Kompetenzzuweisung an die Mitgliedstaaten beinhalten und damit konstitutive Wirkung entfalten. Folglich wäre die Vorschrift als Delegationsnonn und der Verwaltungsvollzug durch die Mitgliedstaaten als Delegationsaufgabe zu verstehen. Dafür spricht, daß Absatz 4 in dem die gemeinschaftlichen Umweltkompetenzen regelnden Art. 175 EGVenthalten ist. Demgegenüber legt der Wortlaut mit der Fonnulierung "unbeschadet bestimmter Maßnahmen gemeinschaftlicher Art" nahe, daß es sich lediglich um eine Beschreibung der vom Gemeinschaftsrecht vorgegebenen Aufgabenverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten handelt. Die Bestimmung wäre dann allein deklaratorischer und nicht konstitutiver Art?3 Zu berücksichtigen ist aber auch, daß in vielen anderen Politikbereichen eine derart ausdrückliche Vorgabe für die Verteilung der administrativen Befugnisse zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten nicht vorhanden ist. Daß die Bestimmung konstitutive Wirkung besitzt, liegt damit mindestens gleichennaßen nahe. 34 Ob sie allerdings als Delegationsnonn aufzufassen ist, erscheint schon deshalb zweifelhaft, weil sie lediglich eine Verteilung, nicht aber eine Übertragung von Aufgaben zum Gegenstand hat. Unterstützt wird dieser Befund dadurch, daß einer Rückübertragung der den Gemeinschaften zustehenden Kompetenzen auf die Mitgliedstaaten eine Wirkung zukäme, die dem gemeinschaftlichen Ziel eines "immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker,,35 grundsätzlich widerspräche. 36 Die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs im AETR-Urteie 7 bestätigen das. Dort heißt es, daß es der Idee der Gemeinschaftsgründung zuwiderlaufe, wenn die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft Hoheitsrechte zuwiesen, um sie ihr im selben Atemzug wieder zu entziehen. Dem EG-Vertrag liegt daher als grundlegendes Prinzip die Aufteilung der Kompetenzen zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten zugrunde. 38 Das schließt eine Rückübertragung von Gemein33 Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 130r Rn. 87. 34 Dazu ausführlich unten 3. Teil BIll c, 4. Teil A 11 1. 35 Abs. 1 der Präambel des EG-Vertrags. 36 S. Grabitz, AöR 111 (1986), 1/11; Däubler; DVBI. 1966,660/663; vgl. auch Bünten, Staatsgewalt und Gemeinschaftshoheit, 1977, 114. 37 EuGH, Sig. 1971,263/267; vgl. auch EuGH, Gutachten v. 26. 4.. 1977-1/76, RIW/ AWD 1977, 351/353. 38 V gl. Grabitz, AöR 111 (1986), 1/11; Aubin, Die Haftung, 1982, weist zu Recht darauf hin, daß aus demselben Grund auch die "Theorie vom dedoublement fonctionnel" abzulehnen ist.

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

schaftsbefugnissen auf die Mitgliedstaaten aus. Art. 175 Abs. 4 EGV ist also keine Delegationsnorm. Folglich nehmen die nationalen Behörden beim Vollzug europäischen Umweltrechts auch keine Delegationsaufgabe wahr.

111. Staatseigene Angelegenheit Was bleibt, ist die Charakterisierung der nationalen Vollzugsmaßnahmen als Wahrnehmung verbliebener eigener, innerstaatlicher Hoheitsgewalt. Dafür spricht die gerade angestellte Überlegung, daß eine Rückübertragung von Gemeinschaftsbefugnissen auf die Mitgliedstaaten nach der Idee der Gemeinschaftsgründung ausgeschlossen und somit allenfalls ein Verbleib der mitgliedstaatlichen Befugnisse bei den nationalen Behörden möglich ist. 39 Zudem scheinen auch die Mitgliedstaaten den nationalen Verwaltungsvollzug als Wahrnehmung eigener, innerstaatlicher Hoheitsgewalt anzusehen, wie etwa in Deutschland die Regelung des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG belegt. Nach dieser Vorschrift verzichtet die Bundesrepublik Deutschland auf die Ausschließlichkeit ihrer Staatsgewalt und öffnet sie gegenüber der selbständigen Gemeinschaftsrechtsordnung. 40 Solange und soweit das Gemeinschaftsrecht keine Regelung trifft, bleiben die nationalen Kompetenzen daher grundsätzlich unberührt. 41 Da der EG-Vertrag nichts anderes bestimmt, beruhen die nationalen Durchführungsmaßnahmen somit auf der ursprünglichen innerstaatlichen Hoheitsgewalt. 42 Die prinzipielle Vermutung zugunsten einer mitgliedstaatlichen Eigenzuständigkeit findet ihre Bestätigung darin, daß der Unionsvertrag sich im Einzelfall darauf beschränkt, den Mitgliedstaaten in den derweil noch nicht integrierten Bereichen nur Staatenverpflichtungen aufzuerlegen. 43 Zu denken ist etwa an Art. 10 EGV. Im übrigen weisen verschiedene Urteile des Europäischen Gerichtshofs, in denen von "Zusammenarbeit unter eigener Verantwortung" oder "selbständigem Handeln nationaler Organe,,44 die Rede ist, darauf hin, daß die Mitgliedstaaten als von der Gemeinschaft getrennte, kraft eigener Kompetenz handelnde Einheiten und somit nicht als Untergliederungen einer gesamteuropäischen Verwaltungsorganisation anzusehen sind. 45 Auch das Bundesverfassungsgericht äußerte schon 1974 die S. oben 2. Teil B 11. Vgl. Grabitz, AöR 111 (1986), 1112; Bleckmann, RIW / AWD 1978, 144/145. 41 S. Grabitz, AöR 111 (1986), 1112, der in diesem Zusammenhang das Beispiel der Richtlinie anführt; vgl. auch Huthmacher; Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, 146 f. 42 So auch Erichsen, VerwArch 66 (1975), 177 /179; Rengeling, in: ders. (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 29 Rn. 11; dazu s. auch Kovar; in: I.E.J.E. (Hg.), La Communaute et ses Etats Membres, 1973,201 /219f. 43 Vgl. Huthmacher; Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, 147. 44 EuGH, Slg. 1971,393/401 Rn. 10; Slg. 1971,823/837 Rn. 8. 45 So aber Hilf, in: Schwarze (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1982,67/ 89. 39

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C. Die Verteilung der Verwaltungskompetenzen auf Bund und Länder

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Ansicht, die bundesdeutschen Verwaltungsbehörden und Gerichte handelten beim Vollzug gemeinschaftsrechtlicher Verordnungen "in Ausübung deutscher Staatsgewalt".46 Ähnlich dem Gerichtshof läßt es dabei die materiell-rechtliche Bindung der vollziehenden Organe an übergeordnetes Recht unbeachtet. 47 Die Zuordnung der Tatigkeit zur nationalen oder gemeinschaftlichen Hoheitsgewalt entscheidet sich der Rechtsprechung zufolge also rein fonnal danach, welches Organ handelt. Sind es Gemeinschaftsorgane, werden sie kraft Gemeinschaftsgewalt tätig, sind es mitgliedstaatliehe Behörden, erfolgt ihr Handeln auf der Grundlage der jeweils eigenen Staatsgewalt. Vollziehen die nationalen Behörden europäisches Umweltrecht, handeln sie also kraft verbliebener innerstaatlicher Kompetenz.

C. Die Verteilung der Verwaltungskompetenzen auf Bund und Länder I. Problemstellung 1. Mittelbarer Vollzug

Als Akt der eigenen innerstaatlichen Hoheitsgewalt unterliegen die Durchführungsmaßnahmen der nationalen Verwaltungsbehörden der nationalen Zuständigkeitsverteilung. 48 Demnach bestimmt das Recht des jeweiligen Mitgliedstaates, welches Organ das Gemeinschaftsrecht innerstaatlich vollzieht. 49 Beim mittelbaren Vollzug von Gemeinschaftsrecht führen die innerstaatlichen Stellen deutsches Ausführungsrecht durch. 50 Handelt es sich dabei um die Durchführung von Ausführungsgesetzen des Bundes, finden die Art. 83 ff. GG direkt Anwendung. 51 Demgegenüber richtet sich der Verwaltungs vollzug von Ausführungsgesetzen der Länder nach den jeweiligen Landesverfassungen. 2. Unmittelbarer Vollzug

Welches Organ innerstaatlich für den Vollzug des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts zuständig ist, kann dem Grundgesetz nicht ausdrücklich entnomBVerfGE 37, 271/283. S. auch BVerfGE 45, 142/162, 167; vgl. dazu Riegel, BayVBI. 1978,289/291. 48 Vgl. v. Mangoldt/ Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. III, 2. Auf). 1974, Vorbem Art. 83 ff. Anm. 11 11; lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 9/26; Kössinger; Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1989,39. 49 Vgl. Grabitz, AöR 111 (1986), 1/13. 50 S. oben 2. Teil A 11. 51 Vgl. Ress, in: Burmeister (Hg.), Die verfassungsrechtliche Stellung der Verwaltung, 1991, 199/202; Scheuing, EuR 1985,229/249; Koenig, DVBI. 1997,581/ 584f. 46 47

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

men werden. 52 Die Art. 83 ff. GG bestimmen lediglich die Verteilung der Verwaltungskompetenzen beim Vollzug von Bundesrecht, nicht aber beim Vollzug von Normen des Gemeinschaftsrechts als einer eigenständigen (autonomen) Rechtsordnung. 53 Sie können daher keine direkte Anwendung finden. Gleichwohl bedeutet dies nicht, daß das Grundgesetz für den Vollzug des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts keine Regelung trifft. Vielmehr teilt es die staatlichen Kompetenzen vollständig zwischen Bund und Ländern auf. 54 Die Frage ist nur, welche Verfassungsnorm dafür heranzuziehen ist.

a) Generelle Bundeszuständigkeit Die Regelung des Art. 32 Abs. I GG könnte vorsehen, daß dem Bund eine generelle Befugnis zur Durchführung völkerrechtlicher und damit auch gemeinschaftsrechtlicher Rechtsakte zusteht. Dann müßte der Vollzug von EG-Rechtsakten zur "Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten" gehören, die gern. Art. 32 GG Sache des Bundes ist. Dafür spricht, daß der Bund nach außen für die ordnungsgemäße Erfüllung der eingegangenen Verpflichtungen einzustehen hat. 55 Das könnte ihm am ehesten dann möglich sein, wenn ihm eine entsprechende Vollzugskompetenz zusteht. 56 Betrachtet man jedoch den Wortlaut, der von "Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten" spricht, legt dieser die Beschränkung der Vorschrift auf das Außenverhältnis der Bundesrepublik zu anderen Staaten nahe. Demgegenüber ist die Anwendung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Behörden ein ausschließlich nach innen gerichteter Akt, der nur seinem Anlaß nach einen gemeinschaftsrechtlichen Bezug aufweist. Die Regelung der innerstaatlichen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern wird daher von der "Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten" nicht erfaßt. 57 Somit weist Art. 32 Abs. I GG dem Bund keine generelle Befugnis zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu. Etwas anderes könnte aus der ungeschriebenen Kompetenz des Bundes kraft Sachzusarnmenhangs fOlgen. 58 Danach ist der Bund berechtigt, seine Maßnahme 52 Der Vorschlag der Enquetekommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, in: Zur Sache 2/77, Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform (11), 1977,93, in einem Art. 90a GG eine ausdrückliche Regelung vorzunehmen, wurde nicht realisiert. 53 Koenig, DVBl. 1997, 581/ 585; Weber, Rechtsfragen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik, 1988,48; s. auch Petersen, DVBl. 1975,291/293. 54 Kössinger, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1989,40. 55 Vgl. Dreher, Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, 1970,97 f. 56 Skeptisch dazu Grabitz, AöR 111 (1986), 1/23. 57 Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hg.), GG, 4. Aufl. 1997, Art. 32 Rn. 5. 58 Statt dessen erscheint auch ein Rückgriff auf Annexkompetenzen des Bundes möglich. Die Gren;zen zur Zuständigkeit kraft Sachzusarnmenhangs sind hier fließend, vgl. Ipsen, Staatsrecht I, 7. Aufl. 1995, Rn. 558; zu einer generellen Bundeskompetenz kraft Natur

C. Die Verteilung der Verwaltungskompetenzen auf Bund und Länder

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auf eine ihm nicht ausdrücklich zugewiesene Materie zu erstrecken, wenn die ihm ausdrücklich zugewiesene Materie andernfalls nicht sinnvoll geregelt werden kann. 59 Als ausdrücklich zugewiesene Materie, deren sinnvolle Regelung gefährdet erscheint, kommt Art. 32 Abs. 1 GG in Betracht. Wie bereits dargelegt, könnte der Bund der ihm nach Art. 32 Abs. 1 GG auferlegten Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Durchführung des Gemeinschaftsrechts möglicherweise besser nachkommen, wenn ihm eine entsprechende Verwaltungskompetenz zustünde. Eine ungeschriebene Zuständigkeit kraft Sachzusarnmenhangs ergibt sich daraus allerdings nur dann, wenn die Kompetenzzuweisung zur Erfüllung seiner Verpflichtung unerläßlich wäre. Das ist jedoch schwerlich anzunehmen. Denn generell können auch Bundesbehörden den Vollzug von Gemeinschaftsrecht verweigern oder fehlerhaft ausführen. 6o Mit einer generellen Zuweisung der Durchführungskompetenz an den Bund wäre die Gefahr der Vertragsverletzung also nicht gebannt. Im übrigen steht dem Bund das Instrument des Bundeszwangs (Art. 37 GG) zur Verfügung. 61 Er kann so die Durchführung des EG-Rechts in den Ländern sicherstellen und damit seiner vertraglichen Verpflichtung aus Art. 32 Abs. 1 GG auf anderem Wege nachkommen. Mag eine generelle Durchführungskompetenz des Bundes auch von größerem Nutzen für die Harmonisierung des nationalen Verwaltungsvollzugs sein, ist sie daher gleichwohl nicht unerläßlich, um dem Bund die sinnvolle Wahrnehmung seiner Außenkompetenz nach Art. 32 Abs. 1 GG zu ermöglichen. 62 Eine generelle Befugnis des Bundes zur Anwendung des EG-Rechts kraft Sachzusammenhangs ist damit abzulehnen. Andere Vorschriften, die dem Bund eine generelle Durchführungskompetenz zuweisen könnten, sind nicht ersichtlich. 63

b) Generelle Länderzuständigkeit Für die Annahme einer generellen Länderzuständigkeit könnte Art. 30 GG sprechen. Die Vorschrift legt auf den ersten Blick nahe, daß bei einer fehlenden ausdrücklichen Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern eine "Vermutung" der Sache, s. Ress. in: Burrneister (Hg.), Die verfassungsrechtliche Stellung der Verwaltung, 1991,199/203f. 59 BVerfGE 3, 407/421. 60 V gl. Grabitz. AöR 111 (1986), 1 128. 61 S. auch Streinz. in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991,241 1260 f. 62 Vgl. dazu auch Kössinger; Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1989, 44, der zu Recht darauf hinweist, daß bei der Abschichtung der Kompetenzen von Bund und Ländern nicht lediglich danach gefragt werden könne, was "zweckmäßig" im Sinne einer möglichst reibungslosen, schnellen und einheitlichen Aufgabenerledigung sei. Denn dies würde - was nicht in der Absicht des Grundgesetzes liege - zu einer generellen Aufgabenübertragung aller Zweifelsfälle auf den Bund führen. 63 S. Kössinger, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1989,46, nach dem auch Art. 24 Abs. 1,73 Nr. 1,87 Abs. 1 S. I GG "nicht zum Erfolg führen".

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

für eine Durchführungskompetenz der Bundesländer besteht. 64 Das setzt allerdings voraus, daß andere Verfassungsnormen dem nicht entgegenstehen. Es gilt das Prinzip der Einheit der Verfassung. 65 Als verfassungsrechtliche Norm, die der extensiven Auslegung des Art. 30 GG im oben genannten Sinne entgegenstehen könnte, kommt Art. 24 Abs. 1 GG in Betracht. Zweck dieser Vorschrift ist es, zusammen mit der Präambel, die Bundesrepublik Deutschland als friedliches Glied in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft einzuordnen. 66 Würde eine Vergemeinschaftung bestimmter Bereiche dazu führen, daß der innerstaatliche Vollzug unmittelbar anwendbarer EGRechtsakte ipso factu in den Aufgabenbereich der Länder fiele, würde der Bund angesichts drohender Kompetenzverluste der Integration in die Europäische Staatengemeinschaft aller Voraussicht nach entsprechend zurückhaltend gegenüberstehen. Das widerspräche der Zielsetzung des Art. 24 Abs. 1 GG. Zudem würde mangels Verwaltungskompetenz des Bundes den Maßnahmen von Bundesbehörden, die derzeit bereits mit dem Vollzug von EG-Recht betraut sind,67 ihre verfassungsmäßige Grundlage entzogen. Das würde beim Bund zu Recht auf Widerstand stoßen. 68 Eine extensive Auslegung des Art. 30 GG mit der Folge einer generellen Durchführungskompetenz der Länder ist somit abzulehnen.

c) Differenzierung nach der jeweils betroffenen Regelungsmaterie entsprechend Art. 83ff. GG Es bleibt allenfalls eine analoge Anwendung der Art. 83 ff. GG. 69 Das heißt, es muß entsprechend dem Konzept der Art. 83 ff. GG danach differenziert werden, um welche Regelungsmaterie es sich bei der durchzuführenden EG-Verordnung jeweils handelt. 7o Dem entspricht die seit Jahrzehnten bestehende Staatspraxis. 71 64 Vgl. die Überlegungen bei Kössinger, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1989, 40 ff. 65 Kössinger, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1989,43. 66 BVerfGE 63, 343/370. 67 Dazu näher s. unten 2. Teil C 11. 68 Petersen, DVBI. 1975, 291/294, der insoweit auch Bedenken betreffend die Bundesstaatlichkeit i. S. d. Art. 20 Abs. 1 GG äußert. 69 Vgl. Fischer, Europarecht in der öffentlichen Verwaltung, 1994, 118; Weber, Rechtsfragen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts, 1988, 47f.; Streinz, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991,241/260; dazu ferner Scheuing, EuR 1985,229/249; Birke, Die deutschen Bundesländer in den Europäischen Gemeinschaften, '1973, 125; Vorwerk, Die Ausführung von Gemeinschaftsakten, 1977, 329; lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972,9/26; Everling, DVBI. 1983,649/653; für eine entsprechende Grundgesetzänderung zur Einführung differenzierter Regelungen des landeseigenen Vollzug von EG-Recht Koenig, DVBI. 1997,581/585. 70 S. dazu sogleich näher die Punkte 11. und III. 71 Dazu Lerche, in: Maunz 1 Dürig (Hg.), GG, Stand 1994, Art. 83 Rn. 51.

C. Die Verteilung der Verwaltungskompetenzen auf Bund und Länder

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In Zweifelsfällen wie dem vorliegenden und bei ständiger Übung gewinnt diese Auslegungsrelevanz. 72 Sie kann daher nicht als rechtlich unmaßgeblich angesehen, sondern muß in die Betrachtung mit einbezogen werden.

11. Verwaltungskompetenzen des Bundes 1. Die Bundesverwaltung nach Art. 87 Abs. 1, 3 GG analog Ist der Bund nach der innerstaatlichen Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten für die durch die Gemeinschaftsnorm geregelte Materie zuständig, steht einer analogen Anwendung der Art. 83 ff. GG auf den Vollzug des unmittelbar anwendbaren EG-Rechts nichts entgegen. 73 Danach besitzt der Bund in den Fällen des Art. 87 Abs. 1 GG eine ausschließliche Verwaltungskompetenz. Von besonderem Interesse für den Vollzug des Gemeinschaftsrechts ist hierbei die Bundesfinanzverwaltung. Diese verwaltet mangels eigenen Verwaltungsunterbaus der Gemeinschaft gern. Art. 108 Abs. 1 S. 1 GG die dem gemeinsamen Zolltarif i. S. d. Art. 26 f. EGV74 entsprechenden Außenzölle, aber auch alle sonstigen "Abgaben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft". Im Agrarbereich ist sie zuständig für die Gewährung von Produktionserstattungen und die Erhebung von Abschöpfungen. 75 Im übrigen kann der Bund durch einfaches Bundesgesetz gern. Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG selbständige Bundesoberbehörden und neue bundesunmittelbare Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts schaffen. Das gilt auch zur Erledigung von Aufgaben im Bereich des Gemeinschaftsrechtsvollzugs. Voraussetzung ist lediglich, daß es um eine Materie geht, die nach der innerstaatlichen Kompetenzverteilung der Gesetzgebung des Bundes unterliegt. 76 Ob ein dringendes Bedürfnis i. S. d. Art. 72 Abs. 2 GG besteht, ist dagegen unerheblich. 77 Der Bund darf lediglich nicht mißbräuchlich handeln. Ihm steht somit ein weitreichendes Instrumentarium zum Vollzug von EG-Recht zu. Davon hat er bereits vielfach Gebrauch gemacht. 78 Die Bundesanstalt für Arbeit etwa führt u. a. Maßnahmen zur Herstel72

Vgl. Kössinger, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1989, 41,

46f. S. nur Klösters, Kompetenzen der EG-Kommission, 1994,63. Früher Art. 18 ff. EGY. 75 S. zu weiteren Aufgaben ferner Scheuing, EuR 1985, 229/250; Kössinger, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1989,56. 76 Dazu näher unten 2. Teil C III 2. 77 BVerfGE 14, 197 /213f.; s. auch Pieroth, in: Jarass/Pieroth (Hg.), GG, 4. Aufl. 1997, Art. 87 Rn. 12. 78 Hierbei handelt es sich zwar nicht um Einrichtungen, die speziell für den Vollzug des Gemeinschaftsrechts geschaffen wurden. Sie widmen ihm teilweise aber einen erheblichen Aufgabenbereich. 73

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

lung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (Art. 39 ff. EGV79 ) durch und die Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung 80 als selbständige Bundesoberbehörde i. S. d. Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG Verwaltungsaufgaben im Rahmen der gemeinsamen Agrarmarktordnungen. Darüber hinaus stehen dem Bundeskartellamt gern. § 1 des deutschen Ausführungsgesetzes 81 zur Verordnung des Rates vom 9. 2. 196282 Kompetenzen zum Vollzug kartellrechtlicher Gemeinschaftsregelungen ZU. 83

2. Der Einfluß des Bundes auf die LänderverwaItungen nach Art. 84, 85 GG analog Fällt der Vollzug des betreffenden Gemeinschaftsrechtsakts entsprechend seiner Regelungsmaterie in den Aufgabenbereich der landeseigenen- oder der Bundesauftragsverwaltung, ist er also grundsätzlich Ländersache, so stehen dem Bund die in Art. 84 GG bzw. Art. 85 GG genannten Einflußmöglichkeiten auf die Länderverwaltungen zu. Der Bund kann danach mit Zustimmung des Bundesrates die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren regeln oder allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Weisungen und Maßnahmen der Bundesaufsicht zulässig. 84 Ob der Bund beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts von diesen Instrumentarien Gebrauch macht, wird sich u. a. aus praktischen Erwägungen danach richten, ob er schon in rein innerstaatlichen Angelegenheiten auf dem betreffenden Gebiet tätig geworden ist. Ist dies der Fall, wird er auch in Angelegenheiten mit gemeinschaftsrechtlichem Bezug entsprechende Vollzugsmaßnahmen ergreifen. Ist dies, wie etwa im Naturschutz- und Wasserrecht, nicht der Fall, wird er damit dagegen auch bei der Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen entsprechend zurückhaltend sein.

Früher Art. 48 ff. EGV. Gesetz v. 23. 6. 1976 über die Neuorganisation der Marktordnungsstellen, BGBI. I, 1608. 81 BGBI. I 1967,911. 82 Verordnung Nr. 17 des Rates vorn 9.2. 1962 (ABl204). 83 S. weitere Beispiele bei Weber, Rechtsfragen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts, 1988,48; Kössinger, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1989, 57f. 84 Dazu ausführlich Pieroth, in: Jarass/Pieroth (Hg.), GG, 4. Aufl. 1997, Art. 84 Rn. 2ff., Art. 85 Rn. 3 ff. 79

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C. Die Verteilung der Verwaltungskompetenzen auf Bund und Länder

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111. Verwaltungskompetenzen der Länder 1. Die Länderverwaltung nach Art. 84 Abs. 1, 85 Abs. 1 GG analog Seitdem sich die Aktivitäten der Gemeinschaft nicht mehr nur auf die Bereiche der Zölle und gemeinsamen Agrarmärkte beschränken, sondern zunehmend auf Gebiete ausgedehnt haben, deren Verwaltung gern. Art. 84 und Art. 85 GG grundsätzlich Ländersache ist, ergibt sich daraus für den Vollzug des Gemeinschaftsrechts ein entsprechender Schwerpunkt bei den Ländern. 85 Soweit es sich um Materien der Bundesgesetzgebung handelt und keine Aufgabenzuweisung an den Bund vorliegt, vollziehen sie das Gemeinschaftsrecht als eigene Angelegenheit (Art. 84 Abs. 1 GG analog) bzw. in den gesetzlich genannten Fällen86 im Auftrage des Bundes (Art. 85 Abs. I GG analog). In der Praxis sind sie insbesondere mit der Herstellung der innergemeinschaftlichen Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Niederlassungsfreiheit befaßt. 87 Aber auch im Bereich des Umweltrechts liegt der Schwerpunkt der Verwaltungstätigkeit bei ihnen.

2. Die Länderverwaltung entsprechend dem Landesvollzug von Landesgesetzen Des weiteren verfügt die Europäische Gemeinschaft zunehmend über Rechtsetzungskompetenzen auf Gebieten, die innerstaatlich ausschließlich durch Landesgesetze zu regeln gewesen wären. 88 So kann sie etwa Vorschriften über das Hochschulstudium erlassen 89 und die Dienstleistungsfreiheit auf den Gebieten von Rundfunk und Fernsehen90 regeln. Zu nennen sind ferner gemeinschaftsrechtliche Kompetenzen zum Erlaß von Vorschriften über den Umweltschutz, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder eingreifen. 91 Die Durchführung dieses Gemeinschaftsrechts fällt in den landeseigenen Vollzug,92 so daß der Bund keine direkten Einflußmöglichkeiten besitzt. Das führt mitunter dazu, daß sich der Bund, sollte ein Land bei seiner Aufgabenerfüllung gegen gemeinschaftsrechtliche BeVgl. Fischer, Europarecht in der öffentlichen Verwaltung, 1994, 118. Dazu näher s. Pieroth, in: larass/Pieroth (Hg.), GG, 4. Aufl. 1997, Art. 85 Rn. 1. 87 Kössinger, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1989,58. 88 Grabitz, AöR 111 (1986), 1/U. mit Beispielen. 89 S. dazu etwa die Richtlinie v. 16. 6. 1975 (ABI L 167/75) und die Richtlinie v. 25. 7. 1978 (ABI L 233/78). 90 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Fernsehen ohne Grenzen, Grünbuch über die Errichtung des Gemeinsamen Marktes für den Rundfunk, insbesondere Satellit und Kabel v. 14.6.1984, 105ff. 91 Dazu näher Grabitz, AöR 111 (1986), 1/3. 92 So Scheuing, EuR 1985, 229/249; Kössinger, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1989,54. 85

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3 Nitschke

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

stimmungen verstoßen, dem Vorwurf der Vertragsverletzung ausgesetzt sieht, obwohl er für den Verwaltungsvollzug nicht selbst zuständig ist. Hieraus kann aber nicht geschlossen werden, daß ihm die Einwirkungsmöglichkeiten auf die Länderverwaltungen analog Art. 83 ff. GG auch beim landeseigenen Vollzug zugebilligt werden sollten. 93 Eine optimale einheitliche und reibungslose Durchführung des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts ist - über das EG-rechtlich vorgegebene Mindestmaß hinaus - kein Zweck, welcher den Grundsätzen der Bundesstaatlichkeit überzuordnen wäre. 94 Ferner kommt es auch ohne direkte Einflußmöglichkeiten des Bundes auf die Länderverwaltungen zu keinem unhaltbarem Ergebnis. Vollzugsstörungen auf Landesebene können notfalls auch durch Bundeszwang (Art. 37 GG) abgemildert oder gar beseitigt werden. 95 Im übrigen sind die Länder aus Art. 24 Abs. 1 GG analog und dem Grundsatz der Bundestreue zum gemeinschaftskonformen Verwaltungsvollzug des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts verpflichtet. 96 Zudem könnte eine analoge Anwendung der Art. 83 ff. GG auf den Vollzug von Gemeinschaftsrecht, dessen Regelungsgegenstand innerstaatlich in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder fällt, zu einem Auseinanderfallen von Vollzugszuständigkeiten führen, je nachdem, ob die Gemeinschaftsnorm entsprechend ihrer Regelungsdichte noch eine mitgliedstaatliche Ausführung erfahren müßte oder ob sie unmittelbar vollzogen werden könnte. 97 Das kann schwerlich gewollt sein. Nicht auch zuletzt deshalb, weil dem Bund dann an einer möglichst detaillierten Gemeinschaftsregelung gelegen wäre, um seine Einflußmöglichkeiten auf die Länderverwaltungen gern. ·Art. 83 ff. GG analog zu erhalten, dies aber dem Sinn der Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten und zwischen Bund und Ländern widerspräche. 98 Festzuhalten ist, daß der unmittelbare Vollzug von EG-Recht auf Sachgebieten, die nach der innerstaatlichen Kompetenzverteilung der Gesetzgebungszuständigkeit der Landesgesetzgeber unterliegen, als Landesvollzug von Landesgesetzen ohne direkte Einflußmöglichkeiten des Bundes zu behandeln ist. Daß sich daraus 93 So wohl Klösters, Kompetenzen der EG-Konunission, 1994,63 f.; ohne Differenzierung von einer analogen Anwendbarkeit der Art. 83 ff. GG ausgehend Ress, in: Burrneister (Hg.), Die verfassungsrechtliche Stellung der Verwaltung, 1991, 199/202. 94 So auch Kössinger; Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1989, 54. 95 S. auch Koenig, DVBI. 1997, 581/ 585, der vorschlägt, für den Gemeinschaftsrechtsvollzug durch die Länder ein neues, auf Kooperation und Konsultation zwischen Bund und Ländern ausgerichtetes Fachaufsichtsinstrument zu entwickeln und in das Grundgesetz einzufügen. 96 Zur Pflicht der Länder gegenüber Bund und Gemeinschaft, das EG-Recht ordnungsgemäß anzuwenden, s. Koenig, DVBI. 1997,581 ff.; Streinz, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991,241/260; ders., Europarecht, 3. Aufl. 1996, Rn. 472; Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rn. 1240. 97 Vgl. Kössinger; Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1989, 54f. 98 S. Kössinger; Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1989,55.

O. Anwendbares fonnelles Verwaltungsrecht

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für die Hannonisierung des nationalen Verwaltungsvollzugs von EG-Umweltrecht gewisse Probleme ergeben, sei durchaus eingeräumt. Doch sind diese geringer als oft eingeschätzt. 99 Größere Schwierigkeiten als die Anwendung von EG-Recht in den sowohl ihren Rechtsordnungen als auch ihren wirtschaftlich-sozialen Gegebenheiten nach relativ homogenen Ländern dürfte die unterschiedliche Anwendung des Gemeinschaftsrecht durch die national äußerst verschieden geprägten Mitgliedstaaten bereiten. Dementsprechend beschränken sich die weiteren Erörterungen auf die zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten auftretenden Konflikte.

D. Anwendbares formelles Verwaltungsrecht I. Der Grundsatz von der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten Bei der unmittelbaren bzw. mittelbaren Durchführung von Gemeinschaftsrecht ziehen die nationalen Behörden, soweit es keine entsprechenden EG-rechtlichen Vorgaben gibt, nationales formelles Verwaltungsrecht heran. 1OO So heißt es etwa in einer Grundsatzentscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahre 1971: "Obliegt der Vollzug einer Gemeinschaftsverordnung den nationalen Behörden, so ist davon auszugehen, daß er grundsätzlich nach den Fonn- und Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts zu geschehen hat."wI

Gleiches gilt für das Verwaltungsorganisationsrecht. 102 Damit steht die Kompetenz zum Erlaß der Regeln des formellen Verwaltungsrechts, die für den indirekten Vollzug des EG-Rechts maßgeblich sind, im Regelfall den Mitgliedstaaten 99 So auch Grabitz, AöR 111 (1986), 1/ 28 f.; s. auch Weber, Rechtsfragen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts, 1988, 69, der darauf hinweist, daß sich der einheitliche Vollzug durch die Länder um so leichter sicherstellen ließe, je mehr sie im Vorfeld der EG-Beschlüsse hinreichend beteiligt und informiert würden. 100 S. Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 99; Wolffgang, DVBI. 1996, 277 /283; Grabitz, NJW 1989, 1776/1780; Scheuing, EuR 1985, 229/250; Rengeling, EuR 1984, 331 /352; ders., Fragen zum allgemeinen Verwaltungsrecht, FS für Scupin, 1983,475/480; Tetzel, RlW 1982,336/337; Streinz, Die Verwaltung 1990, 153/157, 168; Weber, Rechtsfragen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts, 1988, 55; Papier, in: Kloepfer u. a. (Hg.), Die Bedeutung der Europäischen Gemeinschaften für das deutsche Recht und die deutsche Gerichtsbarkeit, 1989, 51 /53 f. 101 EuGH, Slg. 1971,49/58 Rn. 4; vgl. auch EuGH, Sig. 1971,823/837 Rn. 8; 1980, 617/627 Rn. 4ff.; 1983,2633/2665 Rn. 17; 1993, I-2981/3005 Rn. 8; 1993, I-5683 Rn. 14 sowie aus neuerer Zeit EuGH, Sig. 1996, I-389; 1997, I-4449 Rn. 23. 102 EuGH, Sig. 1971, 1107/1116 Rn. 3/4; Kasten, OÖV 1985,570/573; Rengeling, Fragen zum allgemeinen Verwaltungsrecht, FS für Scupin, 1983,475/480.

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

ZU. 103 Welches formelle Verwaltungsrecht innerstaatlich zur Anwendung gelangt, ob Bundes- oder Landesrecht, bestimmt sich nach der jeweils .einschlägigen sachlichen Materie. 104 Für die Bundesrepublik Deutschland gilt hier folgendes: Handelt es sich um eine Materie, die unter den landeseigenen Vollzug fällt, regeln die Landesbehörden die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren, soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen (Art. 83 GG entsprechend).lo5 Handelt es sich dagegen um ein Sachgebiet, für das die Bundesauftragsverwaltung vorgeschrieben ist, gilt zwar generell das zum landeseigenen Vollzug Gesagte, der Bund kann das Verwaltungsverfahren hier aber auch ohne Zustimmung des Bundesrates regeln. 106 Letzteres betrifft ebenso die bundeseigene Verwaltung.

Aufgrund der den Mitgliedstaaten verbliebenen Organisationshoheit obliegt ihnen zudem die eigenständige Auswahl der zur administrativen Durchführung von Gemeinschaftsrecht berufenen Stellen, denen beim Vollzug gemeinschaftsrechtlicher Normen regelmäßig die alleinige Verantwortung zukommt. I07 Entsprechendes gilt für die nationalen Gerichte, die im Fall einer Verletzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben mit dem Rechtsschutz einzelner betraut sind. 108 Auch sie wenden das Gemeinschaftsrecht grundsätzlich im Rahmen und unter Heranziehung nationaler Bestimmungen alleinverantwortlich an. Der "Grundsatz von der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten"lo9 ist allerdings mit Schwierigkeiten verbunden. Recht divergierende, eigenen Traditionen verhaftete, legalistische wie pragmatische Verwaltungsstile in den Mitgliedstaaten führen zu einer unterschiedlichen Anwendung des materiellen Gemeinschaftsrechts. llo Das hat gerade im Rahmen des Vollzugs euro103 S. Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994,122. 104 Dazu ausführlich Tetzel, RIW 1982, 336ff.; vg1. auch BVerfGE 29, 198; EuGH, Slg. 1968, 679/693f.; 1976, 1989/1998 Rn. 5. 105 S. oben 2. Teil C. 106 Hömig, in: Seifert/Hömig (Hg.), GG, 5. Aufl. 1995, Art. 85 Rn. 2; Bull, AK, 2. Aufl. 1989, Art. 85 Rn. 10; Broß, in: v. Münch/Kunig (Hg.), GG, 3. Aufl. 1996, Art. 85 Rn. 8; Lerche, in: Maunz/Dürig (Hg.), GG, Stand 1994, Art. 85 Rn. 28; a.A. Pieroth, in: Jarassl Pieroth, GG, 4. Aufl. 1997, Art. 85 Rn. 3. 107 Vg1. Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994, 122. 108 EuGH, Slg. 1973, 1471/1483 Rn. 9; 1980,617/629 Rn. 10; 1995,1-4599/4615 Rn. 12. 109 Koch, EuZW 1995, 78; Weber, EuR 1986, 1/13; Rengeling, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Rechtsschutz, GS für Sasse, 1981, 197/198; ders., EuR 1984, 331/352; kritisch dazu Kakouris, CMLRev. 34 (1997), 1389/1394 f.; aus dem französischen Schrifttum s. Simon, Le systeme juridique communautaire, 1997, Rn. 81 ff.; Kovar, in: ders. (Hg.), Les recours des individus, 1978,245/248. 110 S. dazu Hauschild, in: Siedentopf (Hg.), Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, 1991, 155/166f.; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 1988, 95ff.,

D. Anwendbares fonnelles Verwaltungsrecht

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päischen Umweltrechts Folgen für das Funktionieren des gesamten Binnenmarktes. Wahrend etwa die französische Verwaltung besonderen Wert auf ihre administrative Leistungsfähigkeit legt, steht in Deutschland der Schutz subjektiver Rechte des einzelnen beherrschend im Vordergrund.'!! Das führt faktisch zu unterschiedlichen Rechtsschutzmöglichkeiten des von Immissionen betroffenen Bürgers, wodurch der heimischen Industrie im Einzelfall erhebliche Standort- und Wettbewerbsvorteile bzw. -nachteile gegenüber Industrien anderer Mitgliedstaaten erwachsen können. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen kommt das einer ungerechtfertigten Subventionierung der insoweit begünstigten Unternehmen gleichY2 Um dem entgegenzutreten, hat der Europäische Gerichtshof den Grundsatz der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie auf verschiedene Weise einzuschränken versucht. Welche Regeln er hierfür entwickelt hat, soll Gegenstand folgender Untersuchung sein.

11. Einschränkungen des Primats von der grundsätzlichen Anwendbarkeit nationalen Rechts Um zu vermeiden - so der Europäische Gerichtshof in einem Urteil aus dem Jahre 1983 113 -, daß die Wirtschaftsteilnehmer ungleich behandelt werden, gehen die nationalen Behörden bei der Durchführung der Gemeinschaftsrege1ungen zwar generell nach den formellen und materiellen Bestimmungen des nationalen Rechts vor, müssen ihre Maßnahmen jedoch gleichzeitig mit den Erfordernissen der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Einklang bringen. Wie das konkret auszusehen hat, bestimmt sich nach verschiedenen Gesichtspunkten.

524ff.; BeutlerlBieberlPipkomlStreil, Die Europäische Union, 4. Aufl. 1993, 224f.; BamardlGreaves, CMLRev. 31 (1994), 1055ff.; Epiney, Umweltrecht in der Europäischen Union, 1997; vgl. auch zum Umweltrecht in den USA Jarass, NuR 1993, 49ff.; ders., NuR 1993, 197 ff. 111 Schwarze, NVwZ 1996, 22/23; vgl. auch Ehlers, VerwArch 84 (1993), 139ff.; Classen, NJW 1995, 2457 ff.; zu den unterschiedlichen verwaltungsprozeßrechtlichen Bestimmungen s. ferner Rengeling I Middeke I Gellennann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, Rn. 986 m. w. N. 112 Vgl. Krämer; EuGRZ 1989, 353/359; Wahl/Appel, in: Kroeschell/Cordes (Hg.), Vom nationalen zum transnationalen Recht, 1995, 197/217, die im Falle der Nichteinhaltung beschlossener Umweltschutzregelungen durch die Mitgliedstaaten von einer Subventionierung der insoweit begünstigten Industrien sprechen. !l3 EuGH, Slg. 1983,2633/2665 Rn. 17; so auch schon in seinem Urteil v. 6. 6. 1972, EuGH, Slg. 1972, 307/319 Rn. 11.

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

1. Direkte Kollision des nationalen mit dem gemeinschaftsrechtlichen formellen Verwaltungsrecht

Zunächst kommt der "Grundsatz von der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten" nur insoweit zum Tragen, als "das Gemeinschaftsrecht [ ... ] keine gemeinsamen Vorschriften enthält".114 Es gilt der uneingeschränkte Anwendungsvorrang des EG-Rechts vor nationalem Recht. ll5 Im Gegensatz zum Geltungsvorrang, wie ihn die deutsche Rechtsordnung kennt, führt er im Kollisionsfall nicht zur Nichtigkeit der nachrangigen Norm, sondern lediglich zu ihrer Unanwendbarkeit im Einzelfall. 116 Kommt es zu Normwidersprüchen zwischen gemeinschaftsrechtlichen und nationalen Bestimmungen, die materiell ein und denselben Sachverhalt regeln, in ihren Rechtsfolgen aber Unterschiede aufweisen, handelt es sich dabei um einen Fall sog. direkter Kollision. 117 Ihn zu lösen, fällt in der Regel nicht weiter schwer. Gestützt auf den autonomen Charakter der Gemeinschaftsrechtsordnung wird das nationale Recht hier nur soweit und solange verdrängt, wie es im Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht steht. Im übrigen bleibt es, wie gesagt, weiterhin anwendbarYs Ansonsten ist die gemeinschaftsrechtliche Regelung heranzuziehen. Trifft also nationales formelles Verwaltungsrecht auf entgegenstehendes formelles Gemeinschaftsverwaltungsrecht, kommt nur letzteres zum Tragen. 114 EuGH, Slg. 1983,2633/2665 Rn. 17; s. auch EuGH, Slg. 1978,629/643 Rn. 13ff.; BVerfGE 85,191/204; BVerwGE 87, 1541158ff. 115 Vgl. zu den Voraussetzungen im einzelnen Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 3ff.; ders., DVBl. 1995,954/958; Everling, DVBl. 1983, 649/654; Grabitz, NJW 1989, 1776/1780; Ipsen, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), HdbStR VII, 1992, § 181 Rn. 58; Stettner, in: Dauses (Hg.), Hdb des EG-Wirtschaftsrechts, 1997, A. IV Rn. 30; Streinz, Europarecht, 3. Auf!. 1996, Rn. 200; Beutler / Bieber / Pipkom/ Streit, Die Europäische Union, 4. Auf!. 1993, 96 ff.; Schweitzer / Hummer, Europarecht, 5. Auf!. 1996, Rn. 849, 851 ff.; Zuleeg, VVDStRL 53 (1994), 154/161; ders., NVwZ 1987, 280/281; Schoch, DVBl. 1997,289/293; Schilling, Der Staat 33 (1994), 555ff.; Gersdorf, DVBl. 1994,674/677 m. w. N.; Schweitzer, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 26. 116 Vgl. v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 1 Rn. 41; das Bundesverfassungsgericht sieht diese Vorrangwirkung, im Gegensatz zum Europäischen Gerichtshof, nicht in der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts, sondern vielmehr in dem durch die Integrationserrnächtigung der Zustimmungsgesetze i. V. m. Art. 24 Abs. 1 GG erteilten Rechtsanwendungsbefehl begründet, s. BVerfGE 73, 339/375; 75, 223/244f.; 85,191/204; 89,1551188; EuGH, Slg. 1978,6291 644; 1989, 183911840. 117 Zum Begriff Komendera, Norrnenkonflikte zwischen EWG- und BRD-Recht - insbesondere indirekte Kollisionen, 1974; v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 1 Rn. 35; Burgi, DVBl. 1995, 7721774; zur Abgrenzung der direkten und indirekten Kollisionen ausführlich Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, 135 ff. 118 Vgl. das Beispiel bei Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EGRechts, 1994,3.

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2. Indirekte Kollision des nationalen formellen VerwaItungsrechts mit dem materiellen Gemeinschaftsrecht

Daneben hat der Europäische Gerichtshof den Vorrang des Gemeinschaftsrechts auf die Fälle erstreckt, in denen die Anwendung des nationalen Rechts die Wirksamkeit des EG-Rechts beeinträchtigt, ohne daß es zu einem Widerspruch zwischen den angeordneten Rechtsfolgen kommen muß. 1I9 Die tatsächliche Wirksamkeit einer Vorschrift des EG-Rechts wird maßgeblich auch von der Ausgestaltung des nationalen formellen Verwaltungsrechts und den Auswirkungen anderer materieller Normen des nationalen Rechts bestimmt. 120 So kann es etwa bei unterschiedlichem Kompetenz- und Sachbereich zu einer Verkürzung des Geltungsanspruchs EG-rechtlicher Bestimmungen kommen, etwa weil nationales Verwaltungsprozeßrecht die fragliche materielle Gemeinschaftsnorm praktisch leerlaufen läßt. Liegt in einem solchen Fall sog. indirekter Kollision 121 eine unangemessene Beeinträchtigung der Wirksamkeit der betreffenden EG-Norm vor, wird auch diese weitere nationale Norm (im Einzelfall) unwirksam. 122 Der Rechtsanwender sieht sich hier einer besonderen Vielzahl von Fragen ausgesetzt. Existieren gemeinschaftliche Vorgaben verwaltungsrechtlicher Art oder nationale, den Ge1tungsanspruch des EG-Rechts verkürzende Bestimmungen und wenn ja, welche? Lassen sich die bereits entwickelten, mit der aufgeworfenen Rangfrage eng verbundenen 123 klassischen Kollisionsregeln, gemeint sind insbesondere die lex-posterior- oder auch die lex-specialis-Regel,124 ohne weiteres auf den Verwaltungsvollzug übertragen oder bedarf es ihrer Modifikation?125 An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, daß bereits vieles davon - zumindest in Grundzügen - einer Lösung zugeführt werden konnte. 126 Gleichwohl gilt es stets neue Aspekte zu bewältigen. 127 Besondere Schwierigkeiten bereitet die indirekte Kollision nationaler Verfahrensnormen mit geschriebenem materiellen Gemeinschaftsrecht. Die für diese Fälle geltenden Regeln sind Gegenstand nachfolgender Untersuchung. S. etwa EuGH, Slg. 1982, 1449/1463. Jarass, DVBI. 1995,954/959. 121 S. Jarass, DVBI. 1995,954/959; Weber, EuR 1986,1/3 m. w. N. 122 Schlußantrag des GA Jacobs, EuGH, Slg. 1997,1-4085/4137 Tz. 172. 123 ..... aber dennoch voneinander zu trennenden", dazu Streinz, Die Verwaltung 1990, 153/156. 124 S. Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, 148 ff. 125 Vgl. Weber, EuR 1986, I, mit eben dieser berechtigten Fragestellung; dazu Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 1; Schweitzer, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 26 Rn. 11 ff. 126 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll hierauf allerdings nicht weiter eingegangen werden. Näheres dazu Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985 m. w. N. 127 S. Streinz, Die Verwaltung 1990, 153/157 m. w. N.; vgl. auch Koenig, DVBI. 1997, 581 ff., der auf die Probleme der Landesvollzugsbehörden mit dem Anwendungsvorrang aufmerksam macht. 119

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

a) Keine "praktische Unmöglichkeit" der Realisierung gemeinschaftlicher Vorgaben Das sog. Effizienzgebot stellt eine der gemeinschaftsrechtlichen Begrenzungen der Anwendbarkeit nationalen Verwaltungsvollzugsrechts dar. Staatliches Vollzugsrecht ist demnach dann unanwendbar, wenn es die Tragweite und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts in dem Maße beeinträchtigt, daß die Verwirklichung der gemeinschaftlichen Regelungsziele praktisch unmöglich wird. 128 Grundlage hierfür ist der in Art. 10 EGV verankerte Grundsatz der Gemeinschaftstreue, 129 der sich seinerseits aus dem Funktionssicherungsprinzip des Gemeinschaftsrechts herleiten läßt. 130 Gern. Art. 10 Abs. 2 EGV unterlassen die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen, welche die Ziele dieses Vertrages gefährden können. Darunter fällt primär das Ziel der EG-weit einheitlichen Geltung der Gemeinschaftsrechtsordnung. l3l Verhindern nationale Verfahrensregeln die Durchsetzbarkeit materiellen Gemeinschaftsrechts in dem jeweiligen Mitgliedstaat, kann dieses Ziel nicht erreicht werden. Art. 10 EGV ist verletzt, die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts "praktisch unmöglich". Die nationale Verfahrensnorm ist damit gemeinschaftsrechtswidrig und deshalb nicht anwendbar. Welche konkreten Anwendungsfälle unter die "praktische Unmöglichkeit" fallen, bleibt indes weitgehend ungewiß. Damit stellt sich die Frage, was unter dem Begriff der "praktischen Unmöglichkeit" überhaupt zu verstehen ist. 132 Ob die EuGH-Rechtsprechung dabei weiterhilft, muß auf den ersten Blick bezweifelt werden. So heißt es, der Gerichtshof habe aus dem Effizienzgebot "ein flexibles Instrument gemacht, mit dessen Hilfe er je nach Konstellation auch recht weitgehende Anforderungen gewinnt".133 An anderer Stelle wird darauf hingewiesen, 128 Der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, vgl. nur EuGH, Sig. 1980, 1887/l900 Rn. 12; 1983,2633/2666 Rn. 22; 1988, 1799/1816 Rn. 7; 1989,3551/3576 Rn. 16; 1990, 1-394113976 Rn. 24 ff.; 1993, 1-5475 Rn. 15; 1994, 1-5483/5509 Rn. 21; 1995, 1-4599 Rn. 12; 1995, 1-4705; 1996, 1-389, Rn. 71; aus jüngster Zeit s. EuGH, Sig. 1997,1-1591 Rn. 50; 1997,1-4449 Rn. 24; 1997,1-4263/4285 Rn. 41; 1997,1-4025 Rn. 27; 1997,1-715317186 Rn. 37; Urt. v. 15.9.1998, Rs C-260/96 (in arntl. Sig. noch n. v.). 129 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 5 Rn. 6ff.; Grabitz, NJW 1989, 1776/1782; die Rede ist auch von der Pflicht zur Gemeinschaftsloyalität Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994,6ff. 130 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 5 Rn. 7; vgl. auch Weber, EuR 1986, 1/14. m Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, 1966, 105. 132 Anders Rengeling, EuR 1984, 331/353, der davon ausgeht, daß der Begriff ohne weiteres einleuchtet und daher keiner weiteren Kommentierung bedarf. 133 Engel, Die Verwaltung 1992, 437/466; vgl. auch Rengeling / Middeke / GelIermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, Rn. 974; Götz, EuR 1986, 29/47; v. Danwitz, DVBI. 1998, 4211428; Nettesheim, Der Grundsatz der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, GS für Grabitz, 1995,447/461 ff., äußert in diesem Zusammenhang Bedenken dahingehend, daß der Europäische Gerichtshof seine bisherige Dogmatik zum Schutz

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daß der Gerichtshof den Maßstab der "praktischen Unmöglichkeit" bislang nur umrißartig habe klären können. 134 Eine konkrete Definition fehlt. Inhaltlich ging es bei den in Bezug genommenen Urteilen zumeist um die Wiedereinziehung zu Unrecht ge1eisteter 135 oder die Rückgewähr gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Zahlungen. 136 Als weitgehend gesichert gilt demnach lediglich, daß die Anwendung nationaler Ausschlußfristen, wie etwa innerstaatlicher Widerspruchs- und Klagefristen, aus Gründen der Rechtssicherheit generell zulässig bleibt. 137 Demgegenüber steht eine unangemessen kurze Frist oder gar der Ausschluß eines Rechtsweges dem Effizienzgebot entgegen. 138 Im übrigen dürfte die Entscheidung, ob eine nationale Norm die Gemeinschaftsregelung praktisch unwirksam werden läßt, von einer Abwägung der mitgliedstaatlichen Gestaltungsautonomie einerseits und des Gemeinschaftsinteresses an der Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen andererseits, also der in Konflikt stehenden Rechtspositionen und Interessen im Einzelfall abhängen. 139 Demnach ist die Anwendung nationaler Bestimmungen gemeinschaftsrechtlich untersagt, wenn "ein Vergleich des hypothetischen Zustands nach Anwendung der nationalen Norm mit jenem Zustand der Durchführung des Gemeinschaftsrechts unter Außerachtlassen der staatlichen Norm Wirksamkeitsunterschiede aufzeigt, die unter dem Gesichtspunkt der einheitlichen Tragweite des Gemeinschaftsrechts nicht mehr hinzunehmen sind." Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der gemeinschaftsrechtlich erstrebte Regelungserfolg weitgehend verdes Gemeinschaftsrechts vor Wirksamkeitsbeeinträchtigungen bereits ganz umgestoßen hat. Ob der Effektivitätsgrundsatz vom Europäischen Gerichtshof tatsächlich aufgegeben und durch eine gänzlich unberechenbare Einzelfallrechtsprechung abgelöst wird, muß allerdings höchst zweifelhaft erscheinen. 134 Nettesheim, Der Grundsatz der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, GS für Grabitz, 1995,447/459. 135 EuGH, Slg. 1983, 2633/2665 Rn. 19; 1982, 1449/1464 Rn. 8; aus neuester Zeit s. EuGH, Slg. 1997, 1-1591 Rn. 50; Urt. v. 16. 7. 1998, Rs C-298/96 (in amtl. Slg. noch

n. v.).

136 EuGH, Slg. 1976, 1989/1997 Rn. 4f.; 1976,2043/2053 Rn. 11/18; 1980,501/522 Rn. 23; 1980, 1205/1226 Rn. 25; 1980, 1863/1879 Rn. 9f.; 1988, 1799/1815 Rn. 6f.;

aus neuester Zeit s. EuGH, Urt. v. 15.9. 1998, in den verbundenen Rechtssachen C-279/96, C-280/96, C-281/96 (in amtl. Slg. noch n.v.). 137 EuGH, Slg. 1976,2043 Rn. 17; 1980, 1863/1879 Rn. 9f.; 1994,1-5483/5511 Rn. 29; aus jüngster Zeit s. EuGH 1997, 1-4025 Rn. 28; 1997, 1-4085/4158 Rn. 48; EuGH, Urt. v. 15.9. 1998, Rs C-260/96 Rn. 27; Urt. v. 15.9.1998, Rs C-231/96 Rn. 44 (in amtl. Slg. noch n. v.). 138 Vgl. Hilf, in: Schwarze (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1982, 67/ 81; Streinz, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991, 241/271 f., mit jeweils weiteren Beispielen. 139 So ausdrücklich EuGH, Slg. 1995, 4599/4622 Rn. 16ff.; dazu v. Danwitz, DVBI. 1998, 421/425; v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 1 Rn. 36; s. in diesem Zusammenhang auch den Hinweis von Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, 924/931 f., auf die gegenseitige Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit nach Art. 10 EGV (früher Art. 5 EGV).

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

eitelt und nicht bloß behindert wird. 14o Die hierbei erforderliche Abwägung ist zwar mit erheblichen Unsicherheiten verbunden. Gleichwohl kommt sie auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zunehmend zum Tragen. Dieser hat die Anforderungen an das nationale Recht dabei in jüngerer Zeit erheblich verschärft. 141 Wahrend sich in älteren Urteilen des Europäischen Gerichtshof142 noch überwiegend die negative Fonnulierung, die wirksame Durchführung des Gemeinschaftsrechts dürfe nicht praktisch unmöglich werden, findet, trifft man in jüngeren Urteilen 143 zunehmend auf die etwas schärfer fonnulierte Forderung, die Mitgliedstaaten hätten dafür Sorge zu tragen, daß das Gemeinschaftsrecht seine volle Wirksamkeit entfaltet bzw. das Gemeinschaftsinteresse voll berücksichtigt werde. Weiter erging erst kürzlich ein Urteil, in dem der Europäische Gerichtshof feststellte, daß eine nationale Zulassungsbeschränkung auf dem Gebiet der Dienstleistungsfreiheit die gemeinschaftliche Vorschrift des Art. 49 EGV I44 praktisch unwirksam werden ließe, es sei denn, es könne nachgewiesen werden, daß sie unerläßliche Voraussetzung für die Erreichung des mit ihr verfolgten Zieles sei. 145 In einem anderen Urteil 146 entschied der Gerichtshof, daß die nationalen Vorgaben zum Vertrauens schutz und zum Ennessen in § 48 Abs. 1,2 VwVfG sowie zur Jahresfrist in § 48 Abs. 4 VwVfG bei Verstößen gegen EG-Recht erheblich eingeschränkt werden. Des weiteren sei unter bestimmten Voraussetzungen die sofortige Vollziehung von Verwaltungsakten zur Durchführung von EG-Recht anzuordnen, wenn nur so eine möglichst effektive Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sichergestellt sei. 147 Alles in allem hat der Gerichtshof die Anforderungen an die nationalen Rechtsordnungen also erheblich verschärft. Er setzt dadurch bestimmte Maßstäbe, anhand derer der Begriff der "praktischen Unmöglichkeit" näher eingegrenzt werden kann. Doch bleibt eine Festlegung präziser Konturen letztlich gleichwohl eine Entscheidung des Einzelfalls. Hierfür ist nach weiteren sachgerechten Eingrenzungsmöglichkeiten zu suchen. 140 v. Bogdandy/Neuesheim, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 1 Rn. 36; der Gerichtshof spricht auch von "übermäßig erschwert", s. etwa EuGH, Sig. 1997,1-6783 Rn. 39; Urt. v. 15.9. 1998, Rs C-260/96 (in der amtl. Sig. noch n. v.); das Effektivitätsgebot ziele somit auf eine optimale "Bewährung" des Gemeinschaftsrechts ab und sei daher eine Art "Optimierungsgebot", so Schmidt-Aßmann, DVBl. 1993, 924/931. 141 Aus neuester Zeit s. nur EuGH, Sig. 1997,1-1591; zu dieser Tendenz in der Rechtsprechung des Gerichtshofs s. Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EGRechts, 1994, 8, 99; v. Danwitz, DVBl. 1998, 421/ 423 ff.; Rengeling, in: ders. (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 29 Rn. 42 m. w. N. 142 EuGH, Sig. 1976, 1989/1998; 1983,2633/2664. 143 EuGH, Sig. 1991,1-415/540; 1997,1-1591; dazu Rengeling, in: ders. (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 29 Rn. 15 f.; s. ferner EuGH Urt. v. 16.7.1998, Rs C-298 196, Rn. 20 (in der amtl. Sig. noch n.v.). 144 Früher Art. 59 EGV. 145 EuGH, Sig. 1997,1-3899 Rn. 31; 1990,1-3437 13456f. 146 EuGH, Sig. 1990, 1-3437/3456 f. 147 EuGH, Sig. 1990,1-2879/2905; 1991,1- 415/540ff.; s. dazu auch unten 3. Teil B IV 2 a.

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Die Forderung, eine gemeinschaftsrechtIiche Begrenzung nationalen Verwaltungsvollzugs habe "bereits bei einer dem Verhältnismäßigkeitsprinzip widersprechenden Erschwerung der Realisierung des Gemeinschaftsrechts Platz [zu] greifen",148 ist zu unbestimmt und vermag hierbei daher nicht weiterzuhelfen. Überzeugender erscheint dagegen der jüngst vertretene Ansatz,149 nach dem es für die Rechtfertigung der angegriffenen mitgliedstaatlichen Regelung weniger auf ihre empirischen Wirkungen als auf das Bestehen ihr entsprechender Regelungen im Gemeinschaftsrecht bzw. in anderen nationalen Rechtsordnungen ankomme. Sollte die angegriffene nationale Regelung indes einzigartig sein, bedürfe sie auch entsprechend gewichtigerer Rechtfertigungsgründe, die sich für ihre Wirksarnkeitsbeeinträchtigung des materiellen Gemeinschaftsrechts ins Feld führen ließen. Damit gelingt ein akzeptabler Ausgleich zwischen einem möglichst weitgehenden "effet utile" des Gemeinschaftsrechts einerseits und einem schonendem Umgang mit der grundsätzlichen Autonomie der Mitgliedstaaten im Verwaltungsvollzug andererseits. Mit diesem Ansatz läßt sich nunmehr - gleichsam einer zweiten Stufe - ein weiterer im Schrifttum vertretener Ansatz 150 verknüpfen. Dieser unterscheidet nach dem Zusammenhang, in dem die Gemeinschaft Einfluß auf die Verwaltungen der Mitgliedstaaten nimmt: Wenn die Mitgliedstaaten aufgerufen seien, ausdrückliche Spielräume des EG-Rechts auszufüllen, oder aber mit ihrem Straf- und Disziplinarrecht, also einer genuin mitgliedstaatlichen Materie, Gemeinschaftsrechtsverletzungen zu sanktionieren, könne die Gemeinschaft den Mitgliedstaaten größere Freiräume bei der Anwendung ihres autonomen allgemeinen Verwaltungsrechts lassen. Seien solche Spielräume nicht vorhanden, handele es sich also um eine bereits weitgehend vergemeinschaftete Materie, seien dagegen strengere Maßstäbe anzulegen. Dies sei etwa der Fall bei gemeinschaftsrechtswidrig ausgezahlten Beihilfen, wenn das nationale Verwaltungsrecht dem Adressaten die Subvention belassen möchte, oder aber, wenn die Mitgliedstaaten lediglich als Sachwalter des Gemeinschaftsinteresses einspringen. Nachdem also zunächst - dem ersten Ansatz folgend - festgestellt werden müßte, inwieweit die betreffende nationale Bestimmung dem Gemeinschaftsrecht bzw. anderen nationalen Bestimmungen gleicht, müßte anschließend entsprechend dem zweiten Ansatz der jeweilige Sachzusammenhang ermittelt werden, in dem die gemeinschaftliche Einflußnahme auf die mitglied staatlichen Verwaltungen gerade zum Tragen kommt. Würde sich demnach herausstellen, daß die betreffende nationale Verwaltungsnorm zwar keine 148 Rengeling I Middeke I GelIermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, Rn. 974. 149 Nettesheim, Der Grundsatz der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, GS für Grabitz, 1995, 447/460 mit Verweis auf EuGH, Slg. 1983, 3595/3612 Rn. 13 und EuGH, Slg. 1983,2633 ff. 150 Engel, Die Verwaltung 1992,437/ 466f.; s. auch Jarass, DVBl. 1995, 954/960, nach dem die Anforderungen an die praktische Wirksamkeit zu begrenzen seien, sofern die fragliche Regelung in entsprechenden innerstaatlichen Konflikten ebenfalls zum Tragen kommt.

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

Entsprechung im Gemeinschaftsrecht erfährt, zugleich aber auf einem bislang nichtintegrierten Rechtsgebiet zur Anwendung gelangt, müßte das den nach dem ersten Ansatz bestehenden erhöhten Rechtfertigungsdruck abmildern helfen. Damit sind zwei hinreichend bestimmbare Kriterien miteinander verknüpft, die künftig eine Prognose, ob im konkreten Anwendungsfall nationales Vollzugsrecht gegen das Effizienzgebot verstößt oder nicht, sicherer erscheinen lassen.

b) Diskriminierungsverbot Neben dem Effizienzgebot fordert der Gerichtshof, daß bei der ergänzenden Anwendung mitgliedstaatlichen Rechts auf Gemeinschaftsrechtsfälle keine Unterschiede im Vergleich zu Verfahren gemacht werden dürfen, in denen über gleichartige, aber rein mitgliedstaatliche Rechtsstreitigkeiten entschieden wird. lSl Er stellt damit ein "Diskriminierungsverbot besonderer Art"IS2 auf, nach dem die nationalen Behörden in Fällen mit Gemeinschaftsbezug dieselbe Sorgfalt anzuwenden haben wie in Fällen mit rein innerstaatlichem Bezug. lS3 Demnach darf die Durchsetzung von Ansprüchen der Europäischen Gemeinschaft gegenüber der Durchsetzung von Ansprüchen des betroffenen Mitgliedstaates nicht erschwert und die dem einzelnen auferlegten Verpflichtungen beim indirekten Vollzug des Gemeinschaftsrechts nicht weitergehend als bei rein nationalen Sachverhalten sein. 154 Ein sachgerechtes Differenzierungskriterium darf sich nicht aus dem Gemeinschaftsbezug des Falles allein, sondern muß sich immer aus der Sache selbst ergeben. lss Insgesamt darf das Diskriminierungsverbot nicht als striktes Gleichbehandlungsgebot verstanden,IS6 sondern sollte stattdessen - gleich dem deutschen Recht einer einzelfallorientierten Betrachtung unterzogen werden. lS7 Dementsprechend wird auch verlangt, daß höhere Anforderungen an die sachliche Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung zu stellen sind, wenn das betreffende innerstaatliche 151 EuGH, Slg. 1980, 1863/1879 Rn. 10; 1983, 2633/2666 Rn. 23; aus jüngster Zeit s. EuGH, Slg. 1996,1-6699/6735 Rn. 49; 1997,1-4449 Rn. 24; 1997,1-4085/4157 Rn. 46; Urt. v. 15.9. 1998, Rs C-260/96 (in arntl. Slg. noch n. v.); s. auch v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz 1Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 5 Rn. 45. 152 Rengeling, EuR 1984,331/353. 153 EuGH, Slg. 1980, 1863/1879 Rn. 8; 1982, 1449/1463 Rn. 6; 1983, 2633/2666 Rn. 23; 1986, 3477/3507 Rn. 9; 1988, 2647/2674 Rn. 29; 1990, 1-435/480 Rn. 13; 1997, 1-4475/4509 Rn. 50. 154 S. Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994, 144. 155 S. Streinz, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991,241/269 f. 156 So aber Weber, EuR 1986, 1/19. 157 So auch Rengeling / Middeke / GelIermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, Rn. 976; Engel, Die Verwaltung 1992, 437/466.

D. Anwendbares formelles Verwaltungsrecht

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Recht Fragen materiellen Charakters regelt. Abweichende Vorschriften rein verfahrensrechtlicher Natur bedürften demgegenüber nur "vernünftiger und nachvollziehbarer (Rechtfertigungs)Gründe".158 Es muß also zunächst geprüft werden, ob eine Diskriminierung zu Lasten des EG-Rechts vorliegt, und anschließend, ob es sich dabei um eine reine Verfahrensregelung oder um materielles Recht handelt. Wirkt sich die nationale Bestimmung zu Lasten des EG-Rechts aus und betrifft sie zudem eine Frage materieller Art, dürfte ein Rechtfertigungsgrund für eine Ungleichbehandlung nur schwer auszumachen sein. Handelt es sich dagegen um eine diskriminierende Vorschrift verfahrensrechtlicher Art, wird sich in der Regel ein Rechtfertigungsgrund für sie finden lassen. Besteht im Einzelfall gleichwohl kein sachlicher Differenzierungsgrund, ist die nationale Vorschrift wegen Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot gemeinschaftsrechtswidrig und damit unanwendbar.

III. Unmittelbare Anwendbarkeit allgemeiner Gemeinschaftsrechtsgrundsätze 1. Problemstellung

Angesichts der Lückenhaftigkeit des geschriebenen Gemeinschaftsrechts und seiner dadurch begrenzten Einflußmöglichkeit auf das nationale formelle Verwaltungsrecht stellt sich die Frage, ob und inwieweit auch den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaft als ungeschriebenen Regeln Vorrangwirkung vor nationalem Recht zukommt. Angesprochen sind hier vor allem die gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit, der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Verhältnismäßigkeit. 159 Bedenkt man, daß es sich bei den allgemeinen Rechtsgrundsätzen auf internationaler Ebene um anerkannte Rechtsprinzipien handelt, die allen oder doch den meisten nationalen Rechtsordnungen gemeinsam sind,160 erscheint dieses Problem zwar zunächst obsolet. Denn ob ein bestimmtes Prinzip deshalb zum Tragen kommt, weil es in der Gemeinschaftsordnung - wenn auch nur als ungeschriebenes Recht - verankert ist, oder ob sich seine Anwendung aus nationalem Recht ergibt, 158 Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, Rn. 976; Götz, EuR 1986, 29/49; Streinz, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991,241/274. 159 Zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts s. EuGH, Slg. 1990, 1-395 Rn. 33; 1997, 1-4475ff.; 1997, 1-7493ff.; 1998,1-973 Rn. 48ff.; 1998,1-1333 Rn. 37ff.; Lecheier, Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, 1971, 56 ff.; Rengeling, KSE 27 (1977), 9ff.; Götz, EuR 1986, 29/43; Weber, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991, 55/72ff.; Schwarze, DVBI. 1996, 8811 883 ff.; Szczekalla, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 11. 160 Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, § 17 Rn. 1; Schweitzer, Die Verwaltung 1984, 1371 146f.

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

dürfte letztlich zu keinem anderen Ergebnis führen. 161 Doch wird zu Recht darauf hingewiesen,162 daß auf Gemeinschaftsebene eine gewisse Modifikation der national überlieferten Prinzipien stattfindet, sie also nicht ohne weiteres in die gemeinschaftliche Ordnung Eingang finden, sondern vorab eine entsprechende Anpassung an europäische Bedürfnisse erfordern. In Anbetracht ihrer weitreichenden Bedeutung - das gemeinschaftsrechtliche Verfahrensrecht setzt sich überwiegend aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen zusammen 163 - bedarf die aufgeworfene Frage daher einer näheren Erörterung. Sie dürfte gerade auch im Umwe1trecht, das derzeit eine immer stärkere Vergemeinschaftung erfährt, von erheblicher Tragweite sein,l64 spielen doch Aspekte des Vertrauens schutzes und der Rechtssicherheit bei der potentiellen Betroffenheit hochrangiger Rechtsgüter wie Gesundheit und Leben eine enorm wichtige Rolle.

2. Die "Milchkontor-Entscheidung" des Europäischen Gerichtshofs

Der Europäische Gerichtshof weist in einer Entscheidung aus dem Jahre 1983 darauf hin, daß nationales Vollzugsrecht nur insoweit Anwendung findet als "das Gemeinschaftsrecht einschließlich der allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze hierfür keine gemeinsamen Vorschriften enthält".165 Der Wortlaut legt nahe, daß auch allgemeinen Gemeinschaftsrechtsgrundsätzen grundsätzlich Vorrangwirkung zukommt. Anderen Stellen des Urteils ist das allerdings nicht ohne weiteres zu entnehmen. Dort geht es um die Rückforderung rechtswidrig bewilligter Beihilfen gern. Art. 8 I der EWG-Verordnung Nr. 729/70 166 und die damit zusammenhängende Frage nach der Bedeutung der in den §§ 48 11 1-3, 6, 7, IV VwVfG normierten Vertrauensschutzregelungen. Dazu führt der Europäische Gerichtshof aus,

161 So noch Rengeling, KSE 27 (1977), 239 f.; anderer Auffassung dann in EuR 1984, 331/354. 162 Streinz, Die Verwaltung 1990, 153/173 ff.; ders., in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991, 241/276; vgl. auch Bleckmann, DÖV 1993, 837/846; Szczekalla, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 11 Rn. 25, § 12 Rn. 9 f. 163 Rengeling, VVDStRL 53 (1994), 202/213; vgl. ferner Rengeling, EuR 1984, 331 ff.; Everling, RabelsZ für ausländisches und internationales Privatrecht 50 (1986), 193 ff.; Zuleeg, VVDStRL 53 (1994),154/ 172f. 164 Zur Bedeutung der allgemeinen Rechtsgrundsätze speziell auf dem Gebiet des Umweltrechts s. Szczekalla, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umwe1trecht, 1998, Bd. I, § 11 Rn. 40 ff. 165 EuGH, Slg. 1983,2633/2665 Rn. 17. 166 EWG-VO Nr. 729/70 des Rates v. 21. 4. 1970 über die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik (ABI L 94/ 13).

D. Anwendbares fonnelles Verwaltungsrecht

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"daß die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit Bestandteil der Rechtsordnung der Gemeinschaft sind. Daher kann nicht als dieser Rechtsordnung widersprechend angesehen werden, wenn nationales Recht in einem Bereich wie der Rückforderung von zu Unrecht gezahlter Gemeinschaftsbeihilfen berechtigtes Vertrauen und Rechtssicherheit schützt."

Diese Aussage hat die unterschiedlichsten Interpretationen erfahren. Teilweise 167 wurde darin die Bestätigung der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten gesehen und daher jede Einwirkung allgemeiner Gemeinschaftsrechtsgrundsätze auf den nationalen Verwaltungsvollzug abgelehnt. Teilweise 168 wurde der Gerichtshof dahingehend verstanden, daß er staatliches Vollzugsrecht an den gemeinschaftlichen Rechtsgrundsätzen gemessen und mit diesen als übereinstimmend befunden hat. Ihnen komme daher - zwar eingeschränkt und nur unter bestimmten Voraussetzungen - grundsätzlich aber Vorrangwirkung gegenüber nationalem Recht zu. Für letztere Ansicht spricht die Wortwahl des Gerichtshofs, demzufolge ein Widerspruch zwischen beiden Rechtsordnungen nicht festgestellt werden könne. Es muß also eine Gegenüberstellung der gemeinschaftlichen und nationalen, geschriebenen und ungeschriebenen Regelungen stattgefunden haben. Von einer pauschalen Ablehnung jeder Einflußnahme europäischer Rechtsgrundsätze auf den innerstaatlichen Verwaltungsvollzug kann jedenfalls nicht ausgegangen werden. Anhaltspunkte, die eine solche Schlußfolgerung nahelegen, sind nicht ersichtlich. Diese Ansicht hat sich im Laufe der Zeit aufgrund einer nunmehr verfestigten EuGH-Judikatur l69 zu diesem Thema durchsetzen können. Bestätigung findet sie in der Tatsache, daß auch das Effizienzgebot und das Diskriminierungsverbot als Konkretisierungen der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit (Art. 10 EGV)170 anerkannte Schranken der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten sind. l7l Beide Prinzipien sind allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, deren Geltung auf der Ebene innerstaatlichen Verwaltungsvollzugs heute ebenfalls keinerlei Zweifeln mehr unter167 Hilf, in: Schwarze (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1982,67/81 f.; Rengeling, Fragen zum allgemeinen Verwaltungsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, FS für Scupin, 1983,475 I 487; ders., KSE 27 (1977), 239 f.; s. auch Weber, BayVBI. 1984,321 I 326. 168 Grabitz, NJW 1989,1776/1781; s. auch Winkler, DVBI. 1979,263/267; Bleckmann, DVBI. 1976, 483 1485; Streinz, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991, 241/275 m. w. N.; aus neuerer Zeit s. v. Borries, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 25 Rn. 40. 169 S. nur EuGH, Sig. 1990, 1-3437/3456f.; 1991,1-546915499; 1992,1-4431; 1996, 1-1759/1789 Rn. 33; 1996,1-2909/2919 Rn. 12; 1997,1-5543 Rn. 46; s. auch EuGH, Sig. 1997,1-7493 Rn. 8f.; EuGH, Urt. v. 16.7. 1998, Rs T-199/96 Rn. 58; s. auch EuGH 1986, 1651/ 1682 Rn. 18; 1987, 4097 I 4117 Rn. 14; dazu näher Streinz, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991,241 1278 f.; v. Danwitz, DVBI. 1998,421 1428. 170 Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 8; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 5 Rn. 6 ff., 45 f. 17l S. oben 2. Teil D 11 2 a, b.

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

liegt. l72 Gleiches gilt für die Grundrechte, die als allgemeine Rechtsgrundsätze Eingang in die Gemeinschaftsrechtsordnung gefunden haben und deren Einflußnahme auf das nationale Recht in Anbetracht der Solange-lI-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 173 mittlerweile als gesichert gilt. Weist der Europäische Gerichtshof somit einigen allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts eine grundsätzliche Einwirkungsmöglichkeit auf das nationale Vollzugsrecht zu, kann die Ablehnung einer solchen Wirkung hinsichtlich anderer Rechtsgrundsätze nicht überzeugen. 174 Der Einwand, daß eine "Verweisung auf das nationale Recht [ ... ] zu rechts sichereren Ergebnissen führt",175 mag zwar berechtigt erscheinen. Doch ist zu bedenken, daß sich im Zuge der stet& fortschreitenden europarechtlichen Integration ein bestimmtes Maß an Rechtsunsicherheit solange nicht vermeiden läßt wie kein harmonisiertes, gemeinschaftseigenes Verwaltungsrecht existiert. Ein Exempel hierfür statuiert die deutsche Judikatur, die vor Erlaß des Verwaltungsverfahrensgesetzes ebenfalls auf die Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze angewiesen war. 176 Auch der Einwand, daß eine Bejahung der Einwirkungsmöglichkeit allgemeiner, vom Europäischen Gerichtshof entwickelter Rechtsgrundsätze auf den nationalen Verwaltungsvollzug deren ursprünglicher Funktion als Lückenfüllung im Gemeinschaftsrecht zuwiderliefe, 177 vermag nicht zu überzeugen. Denn Sinn jeder Lückenfüllung kann es nur sein, das Gemeinschaftsrecht dort, wo es an Bestimmungen fehlt, zu ergänzen und insofern dieselben Rechtswirkungen zu erzeugen wie sie im Falle vorhandener Bestimmungen hätten erzielt werden können. Wird nun aber dem geschriebenen Gemeinschaftsverwaltungsrecht eine grundsätzliche Einflußnahme auf das nationale Vollzugsrecht zuerkannt, ergäbe es keinen Sinn, diese Wirkung nicht auch den ungeschriebenen, lückenfüllenden Bestimmungen zuzuschreiben. Bestätigung findet diese Ansicht, wie bereits dargelegt, darin, daß auch die rezipierten Grundrechte des Gemeinschaftsrechts nicht nur die Hoheitsgewalt der Gemeinschaft, sondern auch die der Mitgliedstaaten binden. 178 Im übrigen füllt der Europäische Gerichts172 So der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, s. EuGH, Slg. 1977, 1753/1769 Rn. 7; s. ferner die Rechtsprechungshinweise in den Fn. 128, 15l. 173 BVerfGE 73, 339ff.; vgl. auch EuGH, Urt. v. 13.7.1989 - Rs. 5/88 - Rn. 19; Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993, 191; Pernice, NJW 1990, 2409/2417f.; Szczekalla, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 12. 174 So auch Grabitz, NJW 1989, 1776/1782; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, Rn. 98l. 175 Hilf, in: Schwarze (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1982,67/83. 176 Szczekalla, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 11 Rn. 55; Grabitz, NJW 1989, 1776/1782; Rengeling /Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, Rn. 971; Everling, NVwZ 1987, 1/10 m. w. N.; kritisch äußert sich insofern Rengeling, VVDStRL 53 (1994), 202/234, der einen solchen Vergleich nur für das "EG-Eigenverwaltungsrecht" anstellen will, nicht dagegen für den Bereich des "Gemeinschaftsverwaltungsrechts". 177 Rengeling, VVDStRL 53 (1994), 202/227; dazu auch ders., DVBl. 1986,306/310.

D. Anwendbares fonnelles Verwaltungsrecht

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hof mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen auch Lücken des Sekundärrechts. 179 Das Sekundärrecht kann aber unzweifelhaft innerstaatlich verbindlich sein. Hier nach geschriebenen und ungeschriebenen Regeln zu differenzieren, scheint für den nationalen Rechtsanwender kaum möglich. 180 Jedenfalls wäre er vor ein zusätzliches Auslegungsproblem gestellt. Die einheitliche Durchführung des EG-Rechts würde dadurch nur noch schwerer als sie ohnehin schon ist. Demnach ist es grundsä.tzlich möglich, daß den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts Anwendungsvorrang vor nationalen Bestimmungen des formellen Verwaltungsrechts zukommt.

3. Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit

Ob einem ungeschriebenen gemeinschaftlichen Rechtsgrundsatz auch im Einzelfall Vorrang vor nationalem formellen Verwaltungsrecht zukomtnt, hängt u. a. von seiner unmittelbaren Anwendbarkeit ab. 181 Problematisch ist hier insbesondere die fehlende, jedenfalls hinter den Anforderungen des i.d.R. detailliert ausgeformten nationalen Rechts zurückbleibende Präzision der allgemeinen Rechtsgrundsätze. 182 Während etwa die §§ 48 ff. VwVfG einen detaillierten, vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber vorgenommenen Ausgleich der widerstreitenden Interessen von Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und materieller Gerechtigkeit enthalten, formt der Europäische Gerichtshof den entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz, wenn auch für den gerade zur Ent~cheidung anstehenden Einzelfall konkret, so doch aber für seine Anwendung im allgemeinen wesentlich unbestimmter und unpräziser aus. 183 Ungeschriebenem Gemeinschafts178 So Zuleeg, VVDStRL 53 (1994),154/170; Streinz, Die Verwaltung 1990, 1531174; Szczekalla, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 12 Rn. 5, 31, 62; a.A. Bleckmann, in: Dauses (Hg.), Hdb des EG-Wirtschaftsrechts, 1997, B. I Rn. 73 m. w. N. 179 S. nur GA Roemer; EuGH, Slg. 1960,295/331; GA Reischi, EuGH, Slg. 1978,2517 / 2535 Tz. 2. 180 Im Ergebnis ebenso Bleckmann, in: Dauses (Hg.), Hdb des EG-Wirtschaftsrechts, 1997, B. I Rn. 73. 181 Zu den übrigen Voraussetzungen des Anwendungsvorrangs allgemein Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 3ff.; vgl. auch Götz, EuR 1986, 29/45, der einem allgemeinen Rechtsgrundsatz immer darm unmittelbare Geltung zuspricht, wenn er derart mit einer unmittelbar geltenden Vorschrift des EG-Rechts verwoben ist, daß er in Verbindung mit dieser zur Anwendung gelangt. 182 Dazu Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, lOU.; Klein, in: Starck (Hg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, 1992, 117/137 m. w. N.; vgl. auch Rengeling, EuR 1984, 331/358f.; zu den übrigen Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994,72 ff. 183 S. dazu Hilf, in: Schwarze (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1982, 67/81 f.

4 Nitschke

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

recht dürfte im Wege eines "Erst-recht-Schlusses" aber nur unter denselben Voraussetzungen Vorrangwirkung zukommen wie geschriebenem Gemeinschaftsrecht. Das setzt vor allem voraus, daß es hinreichend bestimmt iSt. 184 Ist das nicht der Fall, kommt ihm keine Vorrangwirkung vor nationalem Recht zu. Die durch Rechtsfortbildung geschaffene Figur kann innerstaatlich nicht zum Tragen kommen. Zugleich muß dem Europäischen Gerichtshof aber auch zugestanden werden, den betreffenden Grundsatz von sich aus rechtsschöpferisch soweit zu konkretisieren, bis er die genannten Voraussetzungen erfüllt. 185 Denn es wäre widersprüchlich, ihm eine entsprechende Befugnis im Rahmen der erstmaligen Herausbildung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes einzuräumen, ihm dieselbe Befugnis aber zu einem späteren Zeitpunkt zu versagen. Im übrigen gab es auch in Deutschland bis Mitte der siebziger Jahre kein kodifiziertes, sondern nur ein richterrechtlich entwickeltes System des Allgemeinen Verwaltungsrechts, das allgemein anerkannt war. 186 Die Vorrangwirkung kommt also nicht generell allen allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu, sondern nur denen, die dem nationalen Recht entgegenstehen und hinreichend bestimmt sind. Dementsprechend akzeptierte der Gerichtshof187 im Fall der Rückforderung rechtswidrig gewährter Beihilfen den in den §§ 48 ff. VwVfG enthaltenen Grundsatz des Vertrauens schutzes, weil dieser auch Bestandteil des Gemeinschaftsrechts ist. Es existierte also kein im Widerspruch zum nationalen Recht stehender hinreichend bestimmter allgemeiner Gemeinschaftsrechtsgrundsatz. Dagegen könnte möglicherweise eingewendet werden, daß der Gerichtshof das Vertrauen des Beihilfeempfangers nur "ausnahmsweise" bei Vorliegen "besonderer Umstände" als schutzwürdig ansah, eine gewisse Beeinflussung des nationalen Rechts durch das Gemeinschaftsrecht also gleichwohl stattfand. Das stellt jedoch kein Argument gegen die vorgebrachte Ansicht dar, sondern betrifft die Frage der gemeinschaftskonformen Auslegung des nationalen Rechts, nicht die des Anwendungsvorrangs. Das bedeutet allerdings nicht, daß nationales Recht immer, aber auch nur dann unanwendbar ist, wenn eine ihm entgegenstehende, lückenfüllende geschriebene oder ungeschriebene hinreichend bestimmte Gemeinschaftsregelung existiert. Ein Beispiel dazu bietet § 48 Abs. 4 VwVfG. Der Europäische Gerichtshof entschied hinsichtlich dieser Vorschrift, daß der Ablauf der Frist des § 48 Abs. 4 VwVfG nicht von der Pflicht zur Rückforderung einer gemeinschaftswidri184 Zur "Hinreichenden Bestimmtheit" einer Gemeinschaftsregelung als Voraussetzung für ihre unmittelbare Anwendbarkeit und damit auch für ihre Vorrangwirkung s. Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994,4,76. 185 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. I, 1988, 65; a.A. Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994, 140; Huthmacher; Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, 103. 186 S. Literaturangaben in Fn. 176; vgl. ferner Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996, 186, und zu den anderen Mitgliedstaaten Everling, NVwZ 1987, 1/10. 187 EuGH, Sig. 1983,2633/2669; 1990,1-3437.

D. Anwendbares formelles Verwaltungsrecht

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gen nationalen Beihilfe entbinde. 188 Daher sei die Anwendung dieser Bestimmung ausgeschlossen, wenn der Vertrauensschutz des Begünstigten hinter dem gemeinschaftsrechtlichen Rückforderungsinteresse zurücktrete. Die Gegenauffassung, die den § 48 Abs. 4 VwVfG gleichwohl für anwendbar hält, solange er nicht durch eine allgemeingültige gemeinschaftsrechtliche oder gemeinschaftsrechtliche Fälle erfassende nationale Norm verdrängt werde,189 übersieht, daß der Anwendung des vollzugshemmenden innerstaatlichen Rechts - hier des § 48 Abs. 4 VwVfG - der "effet utile" des Gemeinschaftsrechts entgegensteht. 190 Eine gemeinschaftskonforme Auslegung des § 48 Abs. 4 VwVfG läßt der Wortlaut dieser Vorschrift kaum ZU. 191 Sie kann daher nur als gemeinschaftsrechtswidrig und daher unanwendbar angesehen werden. Allerdings ist ein solches Ergebnis nur solange unproblematisch, wie die Verwaltung auch ohne die unanwendbare Norm in der Sache entscheiden kann. Die mitgliedstaatliche Verwaltung muß die betreffende Norm dann schlicht außer Acht lassen und entscheiden. 192 Probleme bereitet dagegen der Fall, daß ohne die unanwendbare nationale Norm keine Entscheidung getroffen werden kann. Dann wäre zu überlegen, die nationale Bestimmung ausnahmsweise, wie von der oben dargelegten Auffassung vertreten, entgegen den "effet utile" doch anzuwenden und das Gebot der vollen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts insoweit einzuschränken, oder aber auch in solchen Fällen generell auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts zurückzugreifen. 193 Auf die Möglichkeit, allgemeinen Rechtsgrundsätzen eine über ihre unmittelbare Anwendbarkeit hinausgehende generelle Funktion zuzuschreiben, soll im folgenden näher eingegangen werden.

188 EuGH, Slg. 1990,1-3437/3458; 1997,1-1591/1616 Rn. 24f.; dazu s. auch Ehlers, DVBI. 1991,605/612; ders., in: Erichsen (Hg.), AllgVwR, 10. Auf!. 1995, § 3 Rn. 27; Klein, Der Staat 1994, 39/45f.; Schmidt-Räntsch, EuZW 1990,376/379; Stober; JZ 1992,10841 1088; Pache, NVwZ 1994, 318/326; Scholz, DÖV 1998,261 ff.; a. A. Fischer; DVBI. 1990, 1089/1095. 189 OVG Koblenz, Urt. v. 26. 11. 1991, JZ 1992, 1084/1087; ebenso VG Mainz, Urt. v. 7.6. 1990, EuZW 1990,389/391 f. 190 Laubinger; in: Ule/Laubinger (Hg.), Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Auf!. 1995, § 62 Rn. 39; a.A. Classen, JZ 1997,724/725, nach dem der "effet utile" keine unmittelbare Wirkung entfaltet und hier daher unbeachtlich ist. 191 So auch Laubinger; in: Ule/Laubinger (Hg.), Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Auf!. 1995, § 62 Rn. 39; Classen, JZ 1997,724/725; a. A. Stober; JZ 1992, 1084/1088; Triantafyllou, NVwZ 1992, 436/440 f. 192 Vgl. Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994, 146; Szczekalla, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 11 Rn. 38. 193 So Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994,146 m. w. N.

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2. Teil: Innerstaatlicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht

IV. Allgemeine Rechtsgrundsätze als Mindeststandard Nach einer im Schrifttum vordringenden Ansicht gelten die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts als Mindestmaßstab für die Ausgestaltung und Anwendung des nationalen Verwaltungsvollzugs. Danach wird ihnen als sog. Auslegungsdirektiven bzw. Maßstabsnormen ein den jeweiligen Gesetzgebungsakt ergänzender Charakter zugeschrieben. 194 Als sog. "Maßstabsnormen" komme ihnen die Aufgabe zu, nationales Vollzugsrecht an gemeinschaftsrechtlichen Erfordernissen auszurichten. Den staatlichen Behörden werde so bei der Ausübung des ihnen eingeräumten Ermessens ein geeignetes Mittel an die Hand gegeben, um eventuelle Handlungsspielräume wie auch unbestimmte Rechtsbegriffe im gemeinschaftsrechtlichen Sinne konkretisieren zu können. 195 Sollte dies im Einzelfall zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis führen, bliebe die betreffende Vollzugsnorm des nationalen Rechts eben unangewendet. 196 Der entsprechende allgemeine Rechtsgrundsatz weise dann ausnahmsweise eine verdrängende Wirkung auf. 197 Die sog. "Maßstabsnormen" werden demnach auch als eine Aufstellung von Mindestanforderungen an den nationalen Verwaltungsvollzug begriffen, denen die Funktion einer Ermessensgrenze oder auch Rechtmäßigkeitskontrolle zukommt. 198 Nationales Recht soll also selbst dort verdrängt und somit nicht zum Tragen kommen, wo der allgemeine Rechtsgrundsatz keine unmittelbare Wirkung entfaltet, dem nationalen Recht aber gleichwohl entgegensteht. Zur Begründung wird angeführt, daß dadurch dem Effizienzgebot des Gemeinschaftsrechts hinreichend Rechnung getragen und zugleich der Eingriff in die nationale Verwaltungsautonomie auf sein Minimum reduziert werde: Ersteres, weil den allgemeinen Rechtsgrund194 Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, Rn. 979f.; Götz, EuR 1986, 29/44; Szczekalla, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 11 Rn. 38,49; zur Bestimmung des Mindestmaßstabes s. Taschner; in: G / T / E (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Aufl. 1991, Art. 100 Rn. 15; vgl. auch Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rn. 572ff., 605, der aber mit dem Europäischen Gerichtshof zunächst auf die "modernste Lösung" abstellen will; ausführlich dazu Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 1988, 71 ff.; Behrens, RabelsZ für ausländisches und internationales Privatrecht 50 (1986), 19/23 ff.; s. auch Aubin, Die Haftung, 1982,71; Daig, Zur Rechtsvergleichung und Methodenlehre im Europäischen Gemeinschaftsrecht, FS für Zweigert, 1981,395/414; Schmidt-Aßmann, Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, FS für Lerche, 1993,513/518; Zuleeg, VVDStRL 53 (1994), 154/173; Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993, 224ff.; ders., in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 29 Rn. 44; Huthmacher; Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, 107 f. 195 Grabitz, NJW 1989, 1776/1782; Rengeling, VVDStRL 53 (1994), 202/226 f. 196 Streinz, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991,241/275. 197 Rengeling / Middeke / GelIermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, Rn. 982. 198 Streinz, Die Verwaltung 1990, 153/17 6; Aubin, Die Haftung, 1982, 66ff.; Burgi, DVBl. 1995, 772/779; Wolffgang, DVBl. 1996, 277 /282; vgl. auch Ehlers, in: Erichsen (Hg.), AllgVerwR, 10. Aufl. 1995, § 3 Rn. 51; Streinz, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), HdbStR VII, 1992, § 182 Rn. 28.

D. Anwendbares fonnelles Verwaltungsrecht

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sätzen eine grundsätzliche Einflußnahme auf nationales Recht zuerkannt werde und dadurch stark wettbewerbs verzerrende Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten vermieden würden und letzteres, weil eine Harmonisierung auf "niedrigster Stufe" stattfinde, eine Beeinflussung des nationalen Vollzugsrechts also auch nur dann erfolge, wenn es nicht einmal dem gemeinschaftlichen Mindeststandard entspreche. 199 Diese Ansicht läßt jedoch unberücksichtigt, daß die Pflicht zur Verwerfung nationalen Rechts eine Folge des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts ist, der Vorrang des Gemeinschaftsrechts aber stets die unmittelbare Anwendbarkeit des betreffenden Rechtsgrundsatzes voraussetzt. 2OO Die EG-rechtskonforme Auslegung allein reicht dafür nicht aus. Sie muß sich vielmehr im Rahmen der nationalen Auslegungsspielräume bewegen und kann daher zu keinem Vorrang des EG-Rechts führen. 201 Wäre dies dennoch der Fall, würden die vom Europäischen Gerichtshof entwickelten unterschiedlichen Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung einerseits und der EG-rechtskonformen Auslegung andererseits illusorisch. Insbesondere müßte die Beschränkung der EG-rechtskonformen Auslegung durch nationale Auslegungsspielräume aufgegeben werden. Denn die mitgliedstaatlichen Auslegungsregeln wären eventuell wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht unbeachtlich. 202 Das kann jedoch schwerlich gewollt sein. Zudem entstünden beträchtliche Rechtslücken, bliebe nationales Recht auch dann außer Anwendung, wenn der betreffende Gemeinschaftsrechtsgrundsatz keine subsumtionsfähigen Vorgaben enthält. Denn bislang gültiges nationales Recht wäre außer Kraft gesetzt und gemeinschaftskonformes neues Recht noch nicht vorhanden. Das widerspräche Rechtssicherheit und -klarheit in den Mitgliedstaaten; beides Prinzipien, die als Ausfluß allgemeiner Rechtsgrundsätze auch die Europäische Gemeinschaft binden?03 Insgesamt ist festzuhalten, daß den allgemeinen Gemeinschaftsrechtsgrundsätzen eine Maßstabsfunktion nur zukommen kann, wenn und soweit sie unmittelbare Wirkung entfalten. Ist das nicht der Fall, hängt ihre Einflußnahme auf den innerstaatlichen Verwaltungsvollzug von der EG-rechtskonformen Auslegung unter Berücksichtigung der nationalen Auslegungsrege1n ab. Das gilt selbst dann, wenn im Einzelfall ohne die gegen den "effet utile" verstoßende nationale Norm nicht in der Sache entschieden werden kann und zudem weder geschriebene noch ungeschriebene hinreichend konkrete Gemeinschaftsbestimmungen existieren, die die Regelungslücke schließen könnten. In solchen Fällen muß das Gebot der vollen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts eingeschränkt und muß die nationale Norm ausnahmsweise angewendet werden. 199 Vgl. Streinz, Die Verwaltung 1990, 153/176, der allerdings kritisch anmerkt, daß bei einem Verständnis der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Mindestanforderungen unter bestimmten Voraussetzungen das Gebot der Nichtdiskriminierung verletzt sein kann. 200 S. oben 2. Teil D III 3. 201 Vgl. zur ähnlichen Problematik in Bezug auf den Maßstabscharakter der Richtlinie Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 105. 202 Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 104. 203 S. Scherzberg, Jura 1993, 225/229 mit weiteren Argumenten.

Dritter Teil

Einwirkungsmöglichkeiten auf den innerstaatlichen Verwaltungsvollzug durch Vorschriften des EG-Rechts Will der Gemeinschaftsgesetzgeber Einfluß auf die nationalen Vollzugssysteme, also das Verwaltungsorganisations-, -verfahrens- und -prozeßrecht der Mitgliedstaaten, nehmen, so bedient er sich vornehmlich der Handlungsform der Richtlinie. I Die Effektivität seines Vorgehens hängt hierbei zum einen davon ab, wie die entsprechende Richtlinie in die Verfahrensordnungen der Mitgliedstaaten integriert wird und zum anderen, wie sie sich im Mißachtensfall gerichtlich durchsetzen läßt. Bevor dem Problem nachgegangen wird, ob der Europäischen Gemeinschaft überhaupt Rechtsangleichungskompetenzen auf dem betreffenden Gebiet zustehen, soll daher vorab untersucht werden, wie effektiv sich bislang die von ihr bereits ausgeübten Befugnisse auf den einheitlichen Vollzug des Gemeinschaftsrechts ausgewirkt haben.

A. Bestandsaufnahme: Ausgewählte verfahrensrechtliche Regelungen des EG-Umweltrechts I. Die Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung 1. Entstehungsgeschichte und Zwecksetzung

Als vielfach diskutierter Gemeinschaftsregelung 2 kommt der Richtlinie über die Umweltverträglicbkeitsprüfung (UVP-RL),3 bei deren Erlaß sich die Gemeinschaft I Vgl. oben 1. Teil A; s. auch die Beispiele bei Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994, 134 f. 2 S. etwa Jarass, Umweltverträglichkeitsprüfung bei Industrievorhaben, 1987; ders., KritV 1991, 7 ff.; ders., NuR 1991, 201 ff.; Schink, NVwZ 1995, 953 ff.; Schmidt-Preuß, DVBI. 1995, 485ff.; Steinberg, AöR 120 (1995), 5491551ff.; ders., DÖV 1996, 221ff.; Pemicel Kadelbach, DVBI. 1996, 1100/1107; Spoerr, NJW 1996, 85 ff.; Mayen, NVwZ 1996, 319ff.; Feldmann, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 34; aus dem umfangreichen Schrifttum geht hervor, daß die geführte Diskussion äußerst kontrovers verläuft und ihr zudem recht unterschiedliche definitorische und konzeptionelle Verständnisse der Umweltverträglichkeitsprüfung zugrundeliegen. 3 RL 85/337 IEWG des Rates v. 27. 6. 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABI L 175/40); geändert durch die RL 971

A. Ausgewählte Regelungen des EG-Umwe1trechts

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auf ihre Kompetenzen aus Art. 94, 308 EGV4 gestützt hat, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. 5 Nach jahrelangen Vorarbeiten wurde sie am 27.6. 1985 verabschiedet und erst 1990 mit erheblicher Verzögerung durch das Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG)6 in die deutsche Rechtsordnung umgesetzt. 7 Eine entsprechende Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des UVPGesetzes beschloß die Bundesregierung erst am 20. 9. 1994 - sechs Jahre nach Ablauf der Umsetzungsfrist. 8 Am 30. 9. 1995 trat sie endlich in Kraft. 9 Gleichwohl wird die Auffassung vertreten, die Verwaltung habe immer noch "Neuland"lo zu betreten, wobei die Verwaltungsvorschrift den Behörden "mit Ausnahme der Verweisung auf das Umweltfachrecht wenig Hilfestellung" biete. 11 Nur sehr vereinzelt werden ihr positive Auswirkungen, etwa auf die Verfahrensschritte des Scoping, zugeschrieben. Grundsätzlich bliebe es jedoch bei dem bereits durch das UVPGesetz erreichten Entwicklungsstand. Inhaltlich ändere sich nichts. 12 Entstehungsgeschichtlich an der englischen Planning Perrnission,13 dem USamerikanischen National Environmental Policy Act l4 und der französischen Etude d'impact l5 orientiert, sieht die Präambel der Richtlinie einen verbesserten Umwelt11 lEG (ABI 1997 L 73/5), die bis zum 14. 03. 1999 in das nationale Recht umzusetzen ist; näher dazu Feldmann, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 34 Rn. 123 ff. 4 Früher Art. 100 bzw. 235 EGY. 5 Vgl. Wahl, DVBI. 1988,86/87, der die Umsetzung der UVP-Richtlinie für die erste und maßgebliche, wenn auch wohl erfolglose Bewährungsprobe zur Vereinheitlichung des Verwaltungsverfa1rrensrechts hält. 6 BGBI. I 1990, 205; zur Entstehungsgeschichte des UVPG Erbguth/Schink, UVPG, 2. Auf!. 1996, Einl Rn. la ff. 7 In das Bundes-Immissionsschutzgesetz wurde die Umweltverträglichkeitsprüfung sogar erst mit der Novellierung der 9. BImSchV im Ja1rre 1992 eingeführt; zur Umsetzung der UVP-Richtlinie in Deutschland s. näher Feldmann, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 34 Rn. 13 ff.; auch Griechenland und Portugal setzten die Richtlinie erst 1990 um, Luxemburg sogar erst 1995. 8 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Ausführung des Gesetzes über die Umwe1tverträglichkeitsprüfung (UVPVwV), BR-Drs. 904/94; abgedruckt bei Hoppe, UVPG, Kommentar, 1995,563 ff.; dazu Feldmann, in: Renge1ing (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 34 Rn. 65 m. w. N. 9 GMBI v. 29. 9.1995, GMB11995, 669ff. 10 Schmidt-Preuß, DVBI. 1995,485. 11 Mayen, NVwZ 1996,319/326. 12 Spoerr; NJW 1996, 85/88. l3 S. dazu Hughes, Environmental Law, 2. Auf!. 1992, 121 ff. 14 Abgedr. in NEPA Deskbook, Environmental Law Institute, 1989, 28 ff.; dazu auch Cupei, Umweltverträglichkeitsprüfung, 1986, 36; Delogu, Beiträge zur Umweltgestaltung, HeftA34, 1974, 11. 15 Loi No 76-629 v. 10.7. 1976, relative la protection de la nature; abgedr. in: Code Permanent Environnement et Nuissances, Editions legislatives et administratives, 1736 A ff; Cupei, Umweltverträglichkeitsprüfung, 1986, 359f.; dazu auch Morand-Deviller; Le droit de

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

schutz, einen Gewinn an Lebensqualität und die Hannonisierung des Zulassungsrechts der Mitgliedstaaten vor. Zu diesem Zweck soll die Genehmigung für bestimmte Projekte, "bei denen mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, [ ... ] erst nach vorheriger Beurteilung der möglichen erheblichen Umweltauswirkungen dieser Projekte" zu erteilen sein. 16 Dementsprechend wird die Umweltverträglichkeitsprüfung auch als "ein rechtlich geordnetes, mehrphasiges Verfahren zur frühzeitigen Ennittlung aller unmittelbaren und mittelbaren Umweltauswirkungen eines Projekts auf bestimmte Umweltfaktoren und ihre Wechselwirkungen zum Zwecke der Entscheidungsvorbereitung"17 bezeichnet. Einige Aspekte der insoweit vorgesehenen konkreten Verfahrensausgestaltung werden nachfolgend herausgegriffen und in ihren Auswirkungen auf das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht näher beleuchtet. Der Befund wird ergeben, ob die Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung tatsächlich zu so tiefgreifenden Änderungen in der Struktur des deutschen Verwaltungsverfahrensrechts geführt hat, wie es seinerzeit den Vorstellungen von der neuen Umweltrichtlinie entsprach. 18

2. Strukturelle Auswirkungen der UVP-Richtlinie auf das deutsche Umweltverwaltungsverfahrensrecht a) Die Behärden- und Öffentlichkeitsbeteiligung Art. 6 UVP-RL regelt die von der zuständigen Behörde einzuleitende und durchzuführende Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung. 19 Damit trifft die Vorschrift auf eine differenzierte deutsche Verwaltungsstruktur über Jedermanns- und Betroffenenbeteiligungen. Während es nach den Jedermann-Einwendungen, wie sie etwa § 10 Abs. 3, 2. HS BImSchG i. V. m. § 12 Abs. 1 der 9. BImSchV vorsieht, ausreicht, daß ein öffentliches Interesse angesprochen und so der Behörde die Richtung für ein weiteres Tätigwerden gewiesen wird,2o ist bei den Betroffenen-Einwendunl'environnement, 1993, 9ff.; BothelGündling, in: Umweltbundesamt (Hg.), Neuere Tendenzen des Umweltrechts im internationalen Vergleich, 1990, 136ff. 16 Präambel der UVP-RL, ABll985 L 175/40. 17 WeberlHellmann, NJW 1990, 1625 m. w. N. 18 Schmidt-Aßmann, Die Umsetzung der EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung, FS für Doehring, 1989, 889/890 f., der von einem "erkennbaren tiefgreifenden Wandel" hinsichtlich des "raumrelevanten Verwaltungsrecht[s]" spricht; Wahl, DVBl. 1988, 86, der allerdings Bedenken dahingehend äußert, daß das "Transplantat" der UVP-Richtlinie möglicherweise "durch die Relativierung und Minimierung im Verwaltungsvollzug" abgestoßen werde; aus jüngster Zeit Hennecke, WiVerw 1995, 80/84 f., der jedoch sein zunächst positiv ausfallendes Urteil später (S. 97) wieder revidiert. 19 Als Vorbild gilt insoweit der amerikanische Environmental Impact Statement, der durch eine veränderte Gewichtung der Beteiligtenstellungen bei der Entscheidungsfindung zu einer wesentlich stärkeren Berücksichtigung der Umweltbelange beitrug. 20 OVG NW, UPR 1989, 390.

A. Ausgewählte Regelungen des EG-Umweltrechts

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gen im Hinblick auf die Präklusion von Ansprüchen zu verlangen, daß das Rechtsgut, dessen Beeinträchtigung befürchtet wird, bezeichnet und die Art der Beeinträchtigung dargelegt wird. 21 Um diesbezüglich auftretende Friktionen zwischen der nationalen und der europäischen Rechtsordnung aus dem Weg zu räumen und eine entsprechend gemeinschaftskonforme Umsetzung zu gewährleisten, erließ der deutsche Gesetzgeber das bereits erwähnte UVP-Gesetz. 22 Seine Aufgabe besteht darin, die Regelungsinhalte der Richtlinie in das deutsche Recht zu integrieren. Da die Behörden- und Öffentlichkeitsbeteiligung bereits zuvor regelmäßiger Bestandteil eines geordneten und transparenten Plangenehmigungsverfahrens war, bedurfte es diesbezüglich allerdings keiner gravierenden Änderungen des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts.z3 Das gilt um so mehr, als die UVP-Richtlinie, wie sich aus der Formulierung "insbesondere [können die Mitgliedstaaten folgendes tun]" in Art. 6 Abs. 3 entnehmen läßt, den Mitgliedstaaten einen breiten Gestaltungsspielraum für die Festlegung aller Einzelheiten der Unterrichtung und Anhörung einräumt. 24 Vor allem die in Art. 7 der UVP-Richtlinie vorgesehene grenzüberschreitende Behördenbeteiligung 25 bringt insofern keine bedeutsamen strukturellen Veränderungen, als sie bereits einer jahrelangen Verwaltungspraxis entspricht. 26 Probleme könnten sich allenfalls daraus ergeben, daß die deutsche Rechtsordnung nur ausnahmsweise, nämlich im Naturschutz- und Landesplanungsrecht und bei den "Jedermanns-Einwendungen", Ansätze einer egoistischen Verbandsbeteiligung zugunsten der Mitglieder enthält. 27 So fallt etwa ein Verband, der die Interessen seiner Mitglieder geltend macht, nicht unter den von § 9 UVPG i. V. m. § 73 Abs. 4 VwVfG erfaßten Personenkreis, "dessen Belange durch das Vorhaben berührt werden" können. 28 Sollte die UVP-Richtlinie demgegenüber unter dem Begriff der "Öffentlichkeit" auch die indirekte Bürgerbeteiligung in Form von Interessenverbänden verstehen, müßten die nationalen Rechtsordnungen, insbesondere die deutsche,29 entsprechend angepaßt werden. 21 Vallendar, in: Feldhaus (Hg.), BImSchutz-Recht, Stand 1998, § 12/9. BImSchV Anm. 3; Czajka, in: Feldhaus (Hg.), BImSchutz-Recht, Stand 1998, § 10 BImSchG Rn. 57; Jarass, BImSchG, 3. Auf!. 1995, § 10 Rn. 54. 22 Die §§ 4-9 UVPG regeln die Beteiligung von Antragsteller, Behörden und der Öffentlichkeit. Ausführlich dazu Kollmer, NVwZ 1994, 1057 ff. 23 So auch Weber, UPR 1988, 206/211; Steinberg, AöR 120 (1995), 549/553 f. m. w. N. 24 So auch Cupei, Umweltverträglichkeitsprüfung, 1986, 161. 25 Nunmehr in § 7 UVPG geregelt. 26 Beispiele bei Weber, UPR 1988, 206/212 m. w. N.; zur Zusammenarbeit in der Region Saar 1Lor 1Lux 1Trier 1Westpfalz und zur "Deutsch-französisch-schweizerischen Regierungskommission für nachbarschaft1iche Fragen" s. Hennecke, WiVerw 1995,80/91 ff.; vgl. auch Cupei, Umweltverträglichkeitsprüfung, 1986,285. 27 Dazu Jarass, NuR 1997, 426ff.; ders., Drittschutz im Umwe1trecht, FS für Lukes, 1989,57/59; Kopp, VwVfG, 6. Auf!. 1996, Vorbem § 9 Rn. 34; § 13 Rn. 45; § 73 Rn. 25. 28 Bank, in: Stelkens 1Bonk 1Sachs (Hg.), VwVfG, 4. Auf!. 1993, § 73 Rn. 38. 29 In Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden ist eine Verfahrensbeteiligung der Verbände im Rallmen ihrer Aufgabenerfüllung seit jeher selbstverständlich, vgl. Hughes,

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

Für eine derart weite Interpretation spricht der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 UVPRL, der den Begriff der Öffentlichkeit verwendet, ohne dabei eine Eingrenzung auf natürliche und juristische Personen, also potentiell in eigenen Interessen Betroffene vorzunehmen. Unterstützt wird dieser Befund dadurch, daß sich die "Betroffenheit" der Öffentlichkeit i. S. d. Art. 6 Abs. 2, 2. SpStr. nach europäischem Verständnis nicht allein auf rechtlich geschützte Belange zu beziehen braucht, sondern bloß faktische Interessen mitumfaßt. 30 Daß einem Verband im deutschen Recht grundsätzlich keine Klagebefugnis zukommt,31 schließt daher die Möglichkeit seiner Betroffenheit aus gemeinschaftlicher Sicht nicht aus. Im Umkehrschluß bedeutet das, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber durch die Verwendung des Begriffes der "Betroffenheit" nicht zwangsläufig eine Einengung des Anwendungsbereiches auf natürliche und juristische Personen zum Ausdruck bringen wollte. Es braucht also kein eigenes Interesse, sondern es können auch Interessen der Allgemeinheit oder dritter Personen, wie der Verbandsmitglieder, beeinträchtigt sein, um von "Betroffenheit" in diesem Sinne sprechen zu können. Hinzu kommt, daß im 6. Erwägungsgrund der Richtlinie von "betroffenen" Behörden die Rede ist. Das legt die Annahme nahe, daß sich dieses Merkmal auch auf einen bestimmten Aufgabenbereich beziehen kann?2 Dann ist es aber nur konsequent, auch Verbände, die sich den Umweltschutz zur Aufgabe gemacht haben, als potentiell betroffen anzusehen. Daß die Aufgabenwahrnehmung in dem einen Fall auf staatlicher Zuweisung, in dem anderen auf privater Vereinbarung beruht, steht dem nicht entgegen. 33 In dieselbe Richtung weist die Zwecksetzung der Öffentlichkeits beteiligung im Rahmen der Umweltverträglichkeitsprüfung. Dazu heißt es in der Begründung des Richtlinienvorschlages, 34 die Öffentlichkeit sei "in der Lage, einen unerläßlichen zusätzlichen Beitrag zur Beurteilung der Auswirkungen zu geben". Die Öffentlichkeitsbeteiligung verfolgt somit neben der Akzeptanzsteigerung gegenüber der staatlichen Entscheidungsfindung auch den Zweck, die Informationsbasis der Entscheidungsträger zu verbessern. 35 Da insbesondere Verbände über ein breites ökologisches Wissen verfügen, wäre es demnach geradezu sinnwidrig, sie von der Öffentlichkeitsbeteiligung auszuschließen. Betrachtet man die Systematik des Art. 6 der UVP-Richtlinie, sprechen die in Absatz 3, 2.-4. SpStr. aufgeführten Beispiele einer möglichen VerfahrensausgestalEnvironmental Law, 2. Aufl. 1992,234 ff.; v. Moltke /Visser, Die Rolle der Umweltschutzverbände im politischen Entscheidungsprozeß der Niederlande, 1982, 85 f.; Winter, NuR 1989, 197/201. 30 S. dazu Rengeling/Middeke/Gel/ennann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, Rn. 1092; Bleckmann, DÖV 1993, 837/842 f. 31 Schmitt Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, 14. Aufl. 1997, Rn. 170; zur Verbandsklage im europäischen Vergleich s. Bizer, NVwZ 1990, 1053 f. 32 So Winter, NuR 1989,197/201. 33 So aber Weber/Hel/mann, NJW 1990, 1625/1630. 34 Abgedr. in Cupei, Umweltverträglichkeitsprüfung, 1986, 163. 35 Vgl. Bunge, in: Storm/Bunge (Hg.), HdUVP, I. Bd., Stand 1996, § 9 Rn. 47.

A. Ausgewählte Regelungen des EG-Umweltrechts

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tung auf den ersten Blick für die Beschränkung der Öffentlichkeits beteiligung auf natürliche und juristische Personen?6 Denn Anschläge und Veröffentlichungen in Lokalzeitungen richten sich in der Regel vorwiegend an sie. Zu bedenken ist aber auch, daß ein Verband immer in Form von gewählten Vertretern auftritt, die Informationsbeschaffung also an sich gleich derer natürlicher Personen ist. 37 Die genannten Bestimmungen legen eine Beschränkung der Öffentlichkeitsbeteiligung auf natürliche und juristische Personen daher zwar nahe, erzwingen sie aber nicht. Ernsthafte Bedenken an einer EG-rechtlichen Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Verfahrensbeteiligung von Verbänden könnten sich allerdings daraus ergeben, daß Absatz 3, 1. SpStr. den Mitgliedstaaten ausdrücklich einen Umsetzungsspielraum bei der Bestimmung des "betroffenen Personenkreises" einräumt. 38 Der Gemeinschaftsgesetzgeber könnte es damit den Mitgliedstaaten überlassen haben, eine Verbandsbeteiligung vorzusehen oder nicht. Absatz 3, 1. SpStr. kann sich seinem Wortlaut nach - hier ist, wie gesagt, von "Personenkreis" die Rede - jedoch nur auf die Mitglieder eines Verbandes als natürliche Personen beziehen. Darüber, in welcher Form sie ihre Rechte letztlich in das Verwaltungs verfahren einbringen können, ob durch Verbände, Bürgerinitiativen oder auch als Individuum, trifft die Vorschrift keine Aussage. Vielmehr muß dafür auf das bereits weiter oben gewonnene Ergebnis zur Auslegung des Begriffes der Öffentlichkeit i. S. d. Art. 6 Abs. 2 zurückgegriffen werden?9 Demnach widerspräche es dem Sinn und Zweck der Regelung, wenn Verbände von der Verfahrensbeteiligung weitestgehend ausgeschlossen werden könnten. Das bestätigt Absatz 3 Satz I, der eine Bestimmung des betroffenen Personenkreises durch einen Mitgliedstaat "nach Maßgabe der besonderen Merkmale der betreffenden Projekte oder Standorte", nicht aber nach Maßgabe der Form, in der die Person ihr Recht durchzusetzen versucht, vorsieht. Jedenfalls ergeben sich aus der Systematik des Art. 6 UVP-RL keine Anhaltspunkte, die eindeutig für eine den Mitgliedstaaten überlassene freie Wahl der Einführung einer egoistischen Verbandsbeteiligung zugunsten der Verbandsmitglieder spricht. Sie legt im Gegenteil nahe, daß es letztlich dem in seinen Rechten verletzten Individuum überlassen bleiben muß, in welcher Form er sich am Verfahren beteiligen will. Die Geltendmachung seiner Rechte über einen Verband stellt hierbei eine von vielen Möglichkeiten für ihn dar. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß sich aus der Auslegung des Art. 6 der UVPRichtlinie ein weites Begriffsverständnis des Merkmals "Öffentlichkeit" ergibt und somit nach EG-Recht auch Verbände durchweg in das Verwaltungs verfahren mit einzubeziehen sind. Die deutsche Rechtsordnung ist dem - abgesehen von den Möglichkeiten der Jedermanns-Beteiligung und im Naturschutz- und LandesSo Cupei, Umweltverträglichkeitspriifung, 1986, 162. Anders für die Verbandsbeteiligung im Planfeststellungsverfahren Jarass, NuR 1997, 426/428. 38 Daher die Verbandsbeteiligung ablehnend Weber / Hellmann, NJW 1990, 1625/1630. 39 S. oben 3. Teil A I 2 a. 36 37

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

planungsrecht - bisher nicht in allen Bereichen ausreichend nachgekommen, was neben rein wirtschaftlichen Interessen gewiß auch auf die unliebsame Notwendigkeit einer Strukturveränderung des deutschen Verwaltungsverfahrensrechts in diesem Punkt zurückzuführen ist. 4o b) Die Projektträgerpflichten nach Art. 5 Abs. 1 UVP-RL und der Amtsermittlungsgrundsatz Art. 5 der UVP-RL weist dem Projektträger die Aufgabe zu, die in Anhang III konkretisierten Angaben zur Umweltverträglichkeit seines Vorhabens beizubringen. Damit schreibt Art. 5 UVP-RL eine im wesentlichen externe Informationsbeschaffung vor. Demgegenüber geht das deutsche Zulassungsverfahren von einer behördlichen Aufklärungspflicht i. S. d. § 24 VwVfG aus. 41 Die Beibringungspflicht des Projektträgers nach EG-Recht könnte daher zu einem "tiefgreifenden verfahrensrechtlichen Einschnitt im geltenden Umwelt[ verwaltungsverfahrens ]recht,,42 führen. 43 Zwar besteht für den Projektträger auch im deutschen Recht grundsätzlich die Pflicht, seinem Antrag die erforderlichen Unterlagen beizufügen. Doch beschränkt sich diese Pflicht auf die in seiner Sphäre begründeten Angaben und das lediglich zu entscheidungserheblichen Tatsachen. 44 Dagegen trägt der Projektträger nach der UVP-Richtlinie bzw. § 6 UVPG eine zusätzliche Verantwortung für Angaben mit erheblich projektfernerem Bezug. 45 Er übernimmt damit eine Ermittlungsverantwortung, die über die übliche AntragsteIlung weit hinausgeht. 46 Unter dem Gesichtspunkt des Verursacher- und des Kooperationsprinzips47 ist dieser Ansatz durchaus begrüßenswert. Doch bleibt zu bedenken, daß eventuell 40 Nach Winter, NuR 1989,197/201 müßte die "ängstliche Unterscheidung" von Rechten, rechtlich geschützten Belangen und bloß faktischen Interessen - soll das nationale Verfahrensrecht den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben genügen - aufgegeben werden. 41 Dagegen stehen die französische, kanadische und amerikanische Rechtsordnung dem Amtsermittlungsgrundsatz zurückhaltender gegenüber, s. Bunge, Die Umweltverträglichkeitsprüfung im Verwaltungsverfahren, 1986,21. 42 So Weber, UPR 1988, 206/209. 43 Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen weist in seiner Stellungnahme v. 9. 12. 1987 darauf hin, daß "das Modell der Richtlinie nicht der im deutschen Umweltverfahrensrecht - auch im Antragsverfahren - durch den Amtsermittlungsgrundsatz geprägten Aufgabenveneilung zwischen Antragsteller und zuständiger Behörde" entspricht, DVBI. 1988, 21/25. 44 S. Wahl, in: Kroeschell (Hg.), Recht und Verfahren, 1993, 155/169 m. w. N. 45 Dazu ausführlich Schmidt-Aßmann, Die Umsetzung der EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung, FS für Doehring, 1989, 889/893 ff. 46 Hoffmann-Riem, AöR 119 (1994), 590/610; vgl. auch Bleicher, Standortauswahlverfahren, 1996, 29; Schneider, Nachvollziehende Amtsermittlting bei der Umweltverträglichkeitsprüfung, 1991, 133 ff. 47 Vgl. Erbguth/Schink, UVPG, 2. Aufl. 1996, § 5 Rn. 2; Cupei, Umweltverträglichkeitsprüfung, 1986, 156 f.

A. Ausgewählte Regelungen des EG-Umweltrechts

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"eigeninteressengeprägte Angaben des Projektträgers,,48 den Umweltschutz gefährden könnten. Mit einer strikten Beibehaltung des Amtsermittlungsgrundsatzes wäre diese Gefahr gebannt. Allerdings - und das ist gleichennaßen zu berücksichtigen - betrifft die Beibringungspflicht des Projektträgers nur die erste Phase der Umweltverträglichkeitsprüfung, die Amtsermittlung der Behörde kommt in späteren Phasen gleichwohl zum Tragen. So bestimmt § 11 S. 2 UVPG, daß die Behörde im weiteren Verfahren eigene Ermittlungen führen darf. Auch die Hinzuziehung anderer Behörden, Sachverständiger und Dritter bleibt ihr überlassen, § 5 S. 2 UVPG. Im übrigen muß sie die vom Projektträger eingereichten Unterlagen keineswegs akzeptieren. Sie kann die Angaben auf ihre Vollständigkeit, Übersichtlichkeit und Übereinstimmung mit den Vorgaben prüfen. 49 Endlich kommt die Behörde ihrer Berücksichtigungspflicht gern. Art. 8 der UVP-Richtlinie nur nach, wenn sie auch eine eigene sachliche Prüfung anstellt. 50 Wird die behördliche Sachverhaltsermittlung damit auch auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, so bleibt der Amtsermittlungsgrundsatz i. S. d. § 24 VwVfG dennoch gewahrt. 51 Die Bedeutung der §§ 5, 6 UVPG, nach denen der Projektträger zur Beibringung der erforderlichen Angaben verpflichtet ist, kann sich daneben nur auf die Konkretisierung der Mitwirkungspflicht eines Beteiligten nach § 26 Abs. 2 VwVfG beschränken. 52 Daher ist es zwar berechtigt, von einem "Wandel in der Rollenverteilung,,53 zu sprechen, zu einer erheblichen strukturellen Veränderung des deutschen Verwaltungsverfahrensrecht, kommt es entgegen ersten Vennutungen aber nicht.

48 Schmidt-Aßmann, Die Umsetzung der EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung, FS für Doehring, 1989, 889/ 897. 49 Die Begründung zum Richtlinienvorschlag der Kommission an den Rat, abgedr. bei Cupei, Umweltverträglichkeitsprüfung, 1986, 300/310; vgl. auch Schmidt-Aßmann, Die Umsetzung der EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung, FS für Doehring, 1989,889/898; ders./Ladenburger; in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umwe1trecht, 1998, Bd. I, § 18 Rn. 32. 50 Schmidt-Aßmann, Die Umsetzung der EG-Richtlinie über die Umwe1tverträglichkeitsprüfung, FS für Doehring, 1989, 889/898, der im übrigen zu Recht darauf hinweist, daß eine el"st später einsetzende Amtsennittlungspflicht insofern positiv zu bewerten ist, als sie der Behörde zunächst die notwendige Distanz zum Sachverhalt verordnet. 51 So auch Hoppe/Beckmann, Planfeststellung und Plangenehrnigung im Abfallrecht, 1990, 103; Weber/Hellmann, NJW 1990, 1625/ 1629f.; Schmidt-Aßmann, Die Umsetzung der EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung, FS für Doehring, 1989, 889/ 897. 52 Vgl. Weber/Hellmann, NJW 1990, 1625/1630; a. A. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, 1996, 268. 53 Schwarze, in: ders. (Hg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996, 123/171; s. auch Schmidt-Aßmann/Ladenburger; in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 18 Rn. 25.

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

c) Die verfahrensrechtlichen Konsequenzen des integrativen Ansatzes der UVP-Richtlinie

Von allen Verfahrens abschnitten der Umweltverträglichkeitsprüfung ist derjenige über die Bewertung und Berücksichtigung der eingeholten Angaben im Rahmen des Genehmigungsverfahrens nach § 12 UVPG der rechtlich umstrittenste. 54 Unter Bewertung ist die Auslegung und Anwendung der umweltbezogenen Tatbestandsmerkmale der Fachzulassungsnormen zu verstehen. 55 Gern. § 12 UVPG berücksichtigt die zuständige Behörde diese Bewertung bei der Entscheidung über die Zulässigkeit des Vorhabens "im Hinblick auf eine wirksame Umweltvorsorge im Sinne der §§ 1,2 Abs. 1 Satz 2 und 4 UVPG nach Maßgabe der geltenden Gesetze." Da das Merkmal des "Berücksichtigens" dabei nicht nur die bloße Kenntnisnahme, sondern vielmehr die inhaltliche Auseinandersetzung mit den betroffenen Belangen und deren Einfluß auf den Abschlußbescheid umfaßt,56 muß das fachgesetzlich durchgeführte Zulassungsverfahren einen Anhaltspunkt für eine Abwägung der mittels Umweltverträglichkeitsprüfung erzielten Ergebnisse bieten. 57 Sieht das deutsche Zulassungsrecht eine gebundene Kontrollerlaubnis 58 vor - ein Beispiel ist die Zulassungsentscheidung für Abfallbeseitigungsanlagen gern. § 31 Abs. 1 KrW- / AbfG i. V. m. §§ 4 ff. BImSchG - ergeben sich diesbezüglich jedoch erhebliche Schwierigkeiten. Während im Rahmen einer planerischen Entscheidung die Ergebnisse einer Umweltverträglichkeitsprüfung ohne weiteres in die Abwägungsentscheidung einfließen können, 59 ist dies bei der Kontrollerlaubnis als einer gebundenen Entscheidung60 grundsätzlich nicht möglich. Denn der Vorhaben träger hat einen Anspruch auf Zulassung der Anlage, wenn die Genehmigungsvoraussetzungen der betreffenden Vorschrift vorliegen. So ist gern. § 6 BImSchG "die Ge54 Vgl. dazu nur Schmidt-Preuß, DVBI. 1995, 485/487f.; Steinberg, DVBI. 1990, 1369ff.; ders., NVwZ 1995, 209/215ff.; ders., NuR 1983, 169/171ff.; Breuer; Entwicklungen des europäischen Umweltrechts, 1993, 51 ff.; Koch, in: Behrens/Koch (Hg.), Umweltschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1991, 75/92f.; Scheuing, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann (Hg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandeins, 1994, 289/346 f. 55 Vgl. Jarass, BImSchG, 3. Aufl. 1995, § 10 Rn. 92; Schmidt-Preuß, DVBI. 1995, 485/ 485 f.; Feldmann, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 34 Rn. 46. 56 BT-Drs. 11/3919, 27; vgl. auch Hoppe/Beckmann, Umweltrecht, 1989, § 8 Rn. 88; Schmidt-Preuß, DVBI. 1995, 485/487f.; Schmidt-Aßmann, Die Umsetzung der EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung, FS für Doehring, 1989, 889/898. 57 Jarass, NuR 1991, 201/206. 58 Zur Kontrollerlaubnis s. Kloepfer; Umweltrecht, 1989, § 4 Rn. 45; Hoppe/Beckmann, Umweltrecht, 1989, § 8 Rn. 25. 59 Vgl. Hoppe / Beckmann, Planfeststellung und Plangenehmigung im Abfallrecht, 1990, 105; Just, Ermittlung und Einstellung von Belangen bei der planerischen Abwägung, 1996, 87/Fn. 10; a.A. Hennecke, WiVerw 1995,80/97, der eine derartige Form der "Berücksichtigung" auch im planerischen Abwägungsverfahren für schwer integrierbar hält. 60 Jarass, BlmSchG, 3. Aufl. 1995, § 6 Rn. 19; Beckmann, DVBI. 1994,236/240; Schink, DVBI. 1994,245/253; Kutscheidt, NVwZ 1994, 209/213.

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nehmigung [ ... ] zu erteilen, wenn 1. sichergestellt ist, daß die sich aus § 5 und einer auf Grund des § 7 erlassenen Rechtsverordnung ergebenden Pflichten erfüllt werden, und 2. andere öffentlich-rechtliche Vorschriften [ ... ] nicht entgegenstehen". Für eine Abwägung, so scheint es jedenfalls, läßt die Vorschrift keinen Raum. Wie aber noch zu zeigen sein wird, braucht der Unterschied zu einer Abwägungsentscheidung im Ergebnis gar nicht so groß sein. 61 Von maßgeblicher Bedeutung ist nämlich der Umstand, daß eine Vorgabe als bindend formuliert sein kann, die Bestimmtheit ihrer Tatbestandsvoraussetzungen aber eventuell so gering ausfällt, daß der zuständigen Behörde bei ihrer Anwendung ein weiter, einer Abwägung vergleichbarer Spielraum verbleibt. Hier mag man formal von einer bindenden Entscheidung sprechen. In der Sache nähert sich die Bindung der Behörde aber der Situation an, wie sie bei einer Abwägungsentscheidung vorliegt. Ähnliche Überlegungen ergeben sich hinsichtlich der Forderung, dem jeweiligen Projektträger die Erstellung eines "Altemativenvergleichs" abzuverlangen. 62 Konsequenz eines solchen Vergleiches ist, daß die anderweitig vom Projektträger geprüften Lösungsmöglichkeiten unter allen erkennbaren Aspekten "raumordnerischer, ressourcenökonomischer, ökologischer und technologischer Art,,63 zu bewerten und im anschließenden Genehmigungsverfahren entsprechend zu berücksichtigen sind. Um dem nachzukommen, bedarf es einer umfassenden Abwägung, die nun aber, wie soeben festgestellt, im Rahmen einer gebundenen Anlagengenehmigung außer im Fall weit formulierter Tatbestandsvoraussetzungen grundsätzlich nicht stattfindet. 64 Insbesondere die §§ 5 und 6 BImSchG sind daher dem Vorwurf ausgesetzt, die europarechtlichen Anforderungen der UVP-Richtlinie an eine ganzheitliche und medienübergreifende Sichtweise zu verfehlen. 65 Schon im Jahre 1988 wies der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen darauf hin, daß eine optimale Umsetzung der UVP-Richtlinie "wohl nur mit einer wirklichen Tatbestandserweiterung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und nicht dadurch zu erreichen [sei], daß man die Umweltverträglichkeitsprüfung als bloßen Annex zum Genehmigungsverfahren regelt".66 Seither kam es zu einer Novellierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes 67 und der 9. BImSchV. 68 Ob sich damit Wesentliches geändert hat, die S. in dieser Hinsicht zu §§ 5, 6 BImSchG sogleich. Dazu ausführlich Bleicher; Standortauswahlverfahren, 1996, 22 ff.; vgl. auch Jarass, NuR 1991,2011206 (Fn. 67); Schink, DVBI. 1995,73/80 m. w. N.; zu den diesbezüglichen Refonnvorschlägen s. Krings / Schweitzer; UTR 36 (1996), 559/572. 63 Breuer; Entwicklungen des europäischen Umweltrechts, 1993,58. 64 Vgl. Breuer; Entwicklungen des europäischen Umweitrechts, 1993, 58, der darauf hinweist, daß sich ein "ganzheitlicher und integrierter Aufgabenhorizont [wie ihn der Altemativenvergleich vorsieht] [ ... ] nicht in die Enge rechtsbegrifflicher Genehmigungsvoraussetzungen sowie einer juristischen Subsumtion einspannen" läßt. 65 Vgl. Breuer; Entwicklungen des europäischen Umweitrechts, 1993,57. 66 So der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, DVBI. 1988, 21 /24. 67 3. BImSchG-Novelie von 1990, vgl. dazu Seltner; NVwZ 1991,305 ff. 61

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

UVP-Richtlinie also endlich gemeinschaftskonfonn umgesetzt wurde, bleibt umstritten. 69 Als hauptsächliches Problem wird das Konzept der gebundenen Kontrollerlaubnis angesehen?O Auf dem Hintergrund des herausgestellten Befundes kommt es aber maßgeblich auf die Tatbestandsvoraussetzungen einer Vorschrift an und nicht darauf, ob sie fonnal als gebundene Kontrollerlaubnis bezeichnet wird. Das ist bei Vorschriften, die derart weite Tatbestandsvoraussetzungen enthalten wie die §§ 5 und 6 BImSehG, von nicht unentscheidender Bedeutung. In § 5 BImSchG beispielsweise ist die Rede von "schädlichen Umwelteinwirkungen". Zwar bestimmt § 3 Abs. 1 BImSehG, was darunter zu verstehen ist. Dort heißt es: "Schädliche Umwelteinwirkungen [ ... ] sind Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen." Gleichwohl bleibt unklar, welche Immissionen damit konkret gemeint sind und welche Nachteile und Belästigungen als erheblich eingestuft werden können. Hier ist noch genügend Raum für eine weitreichende Bewertung. 71 Daß die Genehmigung nach § 6 i. V. m. § 5 BImSchG fonnal als gebundene Kontrollerlaubnis angesehen wird, steht der ordnungsgemäßen Umsetzung der UVP-Richtlinie also nicht entgegen. Eine generelle Abschaffung des Instituts der gebundenen Kontrollerlaubnis ist daher abzulehnen. Dafür spricht außerdem die mit der gebundenen Anlagengenehmigung verbundene jahrzehntelange Rechtstradition. 72 Zudem hat sich das Konzept im deutschen Immissionsschutzrecht dadurch bewährt, daß es einen verschärften Umweltschutz strikt und einheitlich durchzusetzen vennag?3 Folgt man also der Ansicht, die in den §§ 5 und 6 BImSchG derzeit keine europarechtskonfonne Umsetzung der UVP-Richtlinie erblickt, so muß nach alternativen Lösungsansätzen gesucht werden, die die gebundene Kontrollerlaubnis möglichst unberührt lassen. An Versuchen dieser Art mangelt es nicht. 74 Als Beispiel dient etwa der Vorschlag, "der VO v. 20. 3. 1992 (BGBl. I, 536); Neubekanntmachung v. 29. 5.1992 (BGBl. 1,1001). Betreffend das Berücksichtigungsgebot dagegen VGH Bad.-Württ., UPR 1994, 1891 191; Erbguth/Schink, UVPG, 2. Aufl. 1996, § 12 Rn. 34a ff, 101 f.; Dohle, NVwZ 1989, 697/703ff.; dafür Gallas, UPR 1991, 214/218; Steinberg, DVBl. 1990, 13691 1370ff.; s. auch Soell/Dirnberger, NVwZ 1990, 705/708ff.; Bohne, ZAU 1990, 3411345ff.; Mayen, NVwZ 1996, 319/326; Schmidt-Preuß, DVBl. 1995,485/491,493; ausführlich zu dieser Diskussion s. Jarass, Umwe1tverträglichkeitsprüfung bei Industrievorhaben, 1987, 87 ff. Was die Bewertung von Wechse1wirkungen angeht, so ist das Fachrecht unzweifelhaft offen genug. Die 9. BImSchV verlangt die Bewertung von Wechselwirkungen sogar ausdrücklich, vgl. dazu Mayen, NVwZ 1996, 319/324 m. w. N. 70 Vgl. dazu die vom Arbeitskreis für Umweltrecht (ARKUR) am 1. 3. 1991 veranstaltete Expertenanhörung, abgedr. in: ARKUR (Hg.), Gebundene Genehmigung oder Quasi-Planfeststellung?, 1991, passim; Breuer, Entwicklungen des europäischen Umweltrechts, 1993, 61; Schmidt-Aßmann, Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, FS für Lerche, 1993,513/523; Pernice/Kadelbach, DVBl. 1996, 1100/1107 m. w. N. 71 Jarass, BImSchG, 3. Aufl. 1995, § 5 Rn. 103. 72 S. Jarass, Umweltverträglichkeitsprüfung bei Industrievorhaben, 1987,91. 73 So Breuer, Entwicklungen des europäischen Umweltrechts, 1993,61 m. w. N. 68 69

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gebundenen Anlagengenehmigung eine planerische Entscheidungsstufe [vorzuschalten] und dort eine Umweltverträglichkeitsprüfung nach Maßgabe administrativer Abwägung und Gestaltung" vorzuschreiben. 75 Die Rede ist hier auch von Standortvorsorgeplanungen für bestimmte Arten umweltrelevanter Groß vorhaben, projektbezogener Standortvorentscheidungen oder Raumordnungsverfahren. 76 Ein weiterer Vorschlag besteht darin, den medienübergreifenden Ansatz der UVPRichtlinie, wie dargelegt, im Wege der Auslegung und Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe der fachrechtlichen Zulassungsnormen in die Entscheidung mit einfließen zu lassen. 77 Bestimmte Öffnungsklause1n, wie etwa das Tatbestandsmerkmal "schädliche Umwe1teinwirkungen" in § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSehG, werden hierfür als besonders geeignet angesehen. 78 Ohne auf alle Einzelheiten näher eingehen zu wollen, ist jedenfalls festzustellen, daß die Regelung des Art. 8 UVP-RL bzw. des § 12 UVPG bisher zu keiner bedeutenden strukturellen Veränderung im deutschen Anlagenrecht geführt hat. 79 Von einer gebundenen Kontrollerlaubnis konnte und wollte sich der deutsche Gesetzgeber bislang nicht trennen. Er beschränkte sich vielmehr darauf, geringfügige verfahrensrechtliche Ergänzungen vorzunehmen, um so generell sicherzustellen, daß eine Umweltverträglichkeitsprüfung in den jeweiligen Zulassungsverfahren überhaupt durchgeführt wird. Dagegen blieben die tatbestandlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen weithin unverändert,80 was seine Bestätigung darin findet, daß § 12 UVPG die geltenden Gesetze als maßgeblich bezeichnetY Von Bedeutung ist allenfalls die 3. BlmSchG-Novelle von 1990 und die damit einhergehende Erweiterung des Schutzzweckes des Bundes-Immissionsschutzgesetzes um die Medien Boden und Wasser (§§ 1, 3 Abs. 2 BImSehG). Es ist nicht abzustreiten, daß das 74 Vgl. Jarass, Umweltverträglichkeitsprüfung bei Industrievorhaben, 1987, 95; Wahl, DVBl. 1988, 86/88; Winter, NuR 1989, 197/203; Schmidt-Preuß, DVBl. 1995,485/488 f.; s. auch Jahns-Böhm, Umweltschutz durch europäisches Gemeinschaftsrecht, 1994, 108. 75 Breuer, Verwaltungsrechtliche Prinzipien und Instrumente des Umweltschutzes, 1989, 37. 76 Dazu Wahl, DÖV 1981, 597/600ff.; Hoppe/Püchel, DVBl. 1988, 1/10; Breuer, Entwicklungen des europäischen Umweltrechts, 1993,61 f. m. w. N., der zudem vorschlägt, den Genehmigungsvoraussetzungen des deutschen Rechts, wie den §§ 5 und 6 BImSehG, ein umfassendes, medienübergreifendes und integrales, aber flexibles Postulat der Umweltverträglichkeit beizufügen. 77 Bohne, ZAU 1990, 341/345f.; Peters, UPR 1994, 281/283; Feldmann, UPR 1991, 127/130f.; Weber, UPR 1988, 206/213; Bunge, in: Storm/Bunge (Hg.), HdUVP, 1. Bd., Stand 1996, § 2 Rn. 49. 78 Vgl. Schmidt-Preuß, DVBl. 1995, 485/489; s. auch Wahl, DVBl. 1988, 86/88. 79 Dazu, ob mit Einführung der Umweltverträglichkeitsprüfung in der femstraßenrechtlichen Planfeststellung strukturelle Veränderungen eingetreten sind, s. BayVGH, NuR 1994, 244ff.; BayVGH, DVBl. 1994, 1198/1200ff.; vgl. auch Steinberg, DÖV 1996, 221/226ff.; Klößner, Straßenplanung und Umweltverträglichkeitsprüfung, 1992, 230 ff. 80 So auch Schmidt-Preuß, DVBl. 1995,485/489. 81 Ob dies als gemeinschaftskonform angesehen werden kann, betrifft eine andere Frage, die hier offenbleiben muß.

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deutsche materielle Recht im Hinblick auf eine wirksame Umweltvorsorge dadurch in gewisser Weise angereichert wurde. Nach wie vor gelten jedoch die in ihm bereits enthaltenen Kriterien als für die UmweltverträglichkeitsplÜfung entscheidender Maßstab. 82 Damit löst "sich die UmweltverträglichkeitsplÜfung in den Sachstrukturen der jeweiligen fachgesetzlichen Materien,,83 auf und büßt ihre integrative, medienübergreifende Wirkung ein. Das deutsche Verwaltungsverfahren 84 bleibt zwangsläufig unbeeinflußt.

3. Der Beitrag der UVP-Richtlinie zur Rechtsvereinheitlichung a) Entwicklungsstand

Die Umsetzungsschwierigkeiten hinsichtlich der UVP-Richtlinie und damit einhergehend die Beeinträchtigung des von der Gemeinschaft verfolgten Harmonisierungsziels spiegeln sich in der tatsächlichen Situation wieder. Aus einem Bericht85 der EU-Kommission über die Durchführung der Richtlinie 85/337/EWG geht hervor, daß die Regelung wegen ihrer recht unterschiedlichen Umsetzung in den einzelnen Mitgliedstaaten bisher zu keiner Rechtsvereinheitlichung auf diesem Gebiet führen konnte. 86 Die zahlreichen Vertragsverletzungsverfahren 87 wegen unzulänglicher Umsetzung der UVP-Richtlinie in einigen Mitgliedstaaten bestätigen diesen Befund. Auf der administrativen Ebene sieht es nicht anders aus. Während in den Niederlanden bis 1990 etwa 40 UmweltverträglichkeitsplÜfungen jährlich durchgeführt wurden,88 betrug die Zahl der Environmental Assessments in Groß82 Vgl. Gallas, in: Landmann/Rohmer (Hg.), UmweltR III, Stand 1997, Vorbem UVPG Rn. 53; Hansmann, NVwZ 1995,320/322. 83 Hennecke, WiVerw 1995,80/97. 84 S. die Erfahrungen der Länder mit den §§ 11, 12 UVPG dargestellt in Feldmann, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 34 Rn. 103; anders die niederländische Regelung, die keine gebundene Anlagengenehmigung, dafür aber ein einheitliches Verfahren für halbwegs alle Genehmigungen kennt, dazu Backes, UPR 1988, 216ff. m. w. N.; zum neuen Umweltschutzgesetz der Niederländer s. van Buuren, UTR 17 (1992),207/223 f.; zur Rechtslage in Frankreich ausführlich Coenen/ ]örissen, Umweltverträglichkeitsprüfung in der Europäischen Gemeinschaft, 1989, 83 ff.; Cupei, Umweltverträglichkeitsprüfung, 1986, 213. 85 KOM (93), 28 v. 2. 4. 1993; s. auch KOM (96), 600 endg.; die Begr. der Kommission zum Änderungsvorschlag betreffend die UVP-RL, BR-Drs. 449/94, 1; skeptisch auch Breuer, UTR 17 (1992),155/204. . 86 Dazu Cupei, Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen, 1994, 27 ff. (Untersuchung zu Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden); zur bundeseinheitlichen Durchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung s. Feldmann, in: Rengeling (Hg.), fldb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 34 Rn. 96f. 87 S. nur EuGH, Sig. 1996, 1-2323; dazu ferner Feldmann, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 34 Rn. 84 ff. 88 Was um so mehr erstaunt, bedenkt man, daß gerade die Niederlande die beste Regelung getroffen zu haben scheint, s. Literaturangaben in Fn. 84.

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britannien 367 und die der französischen Etudes d'impact sogar 5.000-6.000: 89 Ein Indiz dafür, daß die Anwendung der Vorschriften über die Umwe1tverträglichkeitsprüfung unterschiedlich intensiv erfolgt. Daß der Bedarf an Umweltverträglichkeitsprüfungen derart stark variiert, erscheint jedenfalls relativ unwahrscheinlich. Auch die Tatsache, daß ein Mitgliedstaat nicht nur in den EG-rechtlich vorgesehenen Fällen eine Umweltverträglichkeitsprüfung vornehmen kann, dürfte nicht allein verantwortlich sein für die starken Abweichungen. Das mit der Richtlinie verfolgte Ziel, gemeinschaftsweit einheitliche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, muß damit als verfehlt angesehen werden. 9o

b) Unmittelbare Anwendbarkeit und objektive Wirkung der UVP-Richtlinie

Ob mit der UVP-Richtlinie gleichwohl eine rechtsvereinheitlichende Wirkung erreicht werden kann, hängt maßgeblich von ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit ab, denn der Rechtsanwender und der Bürger können ohne das Vorliegen dieser Eigenschaft nicht tätig werden. Mit seiner Entscheidung im Fall "Großkrotzenburg,,91 hat der Europäische Gerichtshof die rechtsvereinheitlichende Wirkung des von ihm entwickelten Instruments der "unmittelbaren Wirkung,,92 von Richtlinien jüngst erneut unter Beweis gestellt. In dem Urteil geht es um die verspätete Umsetzung der UVP-Richtlinie93 in der Bundesrepublik Deutschland, die nicht wie erforderlich bis zum 3. 7. 1988, sondern erst zum 1. 8. 199094 erfolgte. Zwischenzeitlich genehmigte das Regierungspräsidium Darmstadt dem privaten Projektbetreiber Preussen Elektra AG mit Bescheid vom 31. 8. 1989 die Errichtung eines neuen Kraftwerkblocks im Wärmekraftwerk Großkrotzenburg. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung gern. Art. 2, 3 und 8 RL 85/337 wurde nicht durchgeführt. Statt dessen wurde die Umweltverträglichkeit des Projekts anhand der seinerzeit geltenden Bestimmungen des Bundes-Immissionsschutzgesetzes geprüft. Das entsprach der Übergangsregelung des § 22 Abs. 1 UVPG, nach der für diejenigen Vorhaben, die vor Inkrafttreten des UVP-Gesetzes eingeleitet wurden, selbst dann keine,Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen war, wenn die Genehmigung nach Ablauf der Umsetzungsfrist vom 3.7. 1988 beantragt worden war. Cupei, Venneidung von Wettbewerbsverzerrungen, 1994,30,51,77. So auch Schink, DVBl. 1995,73/75, der die einzelnen Gründe für dieses Defizit näher beleuchtet. 91 EuGH, Slg. 1995,1-2189/2211 ff. 92 Aus der umfangreichen Literatur hierzu s. nur Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994,71 ff.; ders., DVBl. 1995, 954/955 ff.; ders., NJW 1991, 2665ff.; ders., NJW 1990, 2420ff.; Albin, NuR 1997, 29ff.; Epiney, DVBl. 1996,409ff. m.w.N. 93 RL 85/337/ EWG (ABI L 175/40). 94 Gesetz v. 12.2. 1990, in Kraft getreten am 1. 8. 1990 (BGBl. I, 205). 89

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Ohne daß sich ein Privater hierauf berufen hätte, stellte der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EGV 95 die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Regelung fest. 96 Zur Begründung heißt es, die Art. 2, 3 und 8 der UVP-Richtlinie seien von der nationalen Verwaltung von Amts wegen anzuwenden gewesen. 97 Für die Anerkennung einer von Amts wegen zu beachtenden Richtlinienwirkung sprechen zunächst die auch im übrigen für eine Direktwirkung angeführten Erwägungen des "effet utile" und der Bestrafung treuwidrigen Handeins des betreffenden Mitgliedstaates. 98 Denn Art. 10 EGV verpflichtet nicht nur den Gesetzgeber, sondern auch die Verwaltungen der Mitgliedstaaten, dem EG-Recht zur Durchsetzung zu verhelfen. 99 Dem kommt die Verwaltung aber nur dann nach, wenn sie alle Richtlinien zur vorgegebenen Zeit zur Anwendung bringt.· Ausnahmen gelten für den Fall, daß die Richtlinie nicht hinreichend bestimmt oder inhaltlich bedingt ist. 100 Hier kann nur der nationale Gesetzgeber tätig werden. Lehnte man eine Rechtspflicht der Verwaltung zur Beachtung der unmittelbaren Richtlinienwirkung von Amts wegen ab, wäre im übrigen ein Verwaltungsakt bei Verstoß gegen eine Richtlinie zunächst rechtmäßig, sobald sich ein einzelner auf sie beruft aber rechtswidrig. Das kann schwerlich gewollt sein. 101 Die Beachtung der Richtlinien von Amts wegen ist also anzuerkennen. Gegenüber früheren Urteilen des Europäischen Gerichtshofs ergibt sich damit allerdings nichts Neues. Das gilt zumindest für die Fälle, in denen die betreffende Regelung einen Dritten, sei es eine Privatperson oder eine staatliche Stelle, gegenüber dem Staat direkt begünstigt. 102 Denn schon in der Rechtssache "Costanzo,,103, bei der es um einen solchen Fall ging, stellte der Gerichtshof fest, daß alle Träger der öffentlichen Verwaltung verpflichtet seien, unmittelbar geltende Richtlinienbestimmungen anzuwenden. Mittelbare Belastungen Dritter blieben unberücksichFrüher Art. 177 EGY. EuGH, Slg. 1994,1-3717/3754 Rn. 20. 97 GA Gulmann, EuGH, Slg. 1994,1-3717/3735 Tz. 53ff.; dazu Pechstein, EWS 1996, 2611262; Calliess, NVwZ 1996, 339/341; s. ferner Klein, Objektive Wirkungen von Richtlinien, FS für Everling, Bd. I, 1995,641 ff.; [yen, NuR 1996, 105, nach dem es sich um eine "dritte Form der innerstaatlichen Wirkung nicht umgesetzter Richtlinien" handelt; Epiney, DVBI.1996,409/41O. 98 Vgl. Albin, NuR 1997, 29/32. 99 EuGH, Slg. 1989, 1839/1870 Rn. 30f. 100 Dazu ausführlich Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994,74ff. 101 Jarass, NJW 1991,2665/2669. 102 EuGH, Slg. 1989, 3233/3279 Rn. 33; vgl. auch Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994,81; Gellermann, Beeinflussung des bundesdeutschen Rechts durch Richtlinien der EG, 1994, 190. 103 EuGH, Slg. 1989, 1839/1870 Rn. 30f.; näher dazu Fischer; EuZW 1991,557 /558f.; vgl. auch EuGH, Slg. 1991,1-3757/3789 Rn. 15f. 95

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tigt. Dem ist zuzustimmen, weil die unmittelbare Richtlinienwirkung ansonsten in den meisten Fällen nicht zum Tragen käme. Spätestens nach dem Großkrotzenburg-Urteil des Gerichtshofs wird man nunmehr aber auch davon ausgehen müssen - und darin liegt die eigentliche Neuerung -, daß zudem belastende Richtlinien mit drittbegünstigender Wirkung wie die UVP-Richtlinie generell unmittelbar anwendbar sind. 104 Insbesondere im Umweltrecht erhöht sich dadurch die Zahl der direkt anwendbaren Richtlinienbestimmungen nicht unerheblich. Dem "effet utile" des Gemeinschaftsrechts ist so umfassend gedient. Zudem wird die Abgrenzung zwischen begünstigenden Richtlinien mit drittbelastender Wirkung und belastenden Richtlinien mit drittbegünstigender Wirkung entbehrlich und die mit der Abgrenzung regelmäßig verbundenen Unsicherheiten werden vermieden. Darüber hinaus hat sich der Europäische Gerichtshof spätestens im Großkrotzenburg-Urteil eindeutig dahingehend entschieden, ein subjektives Recht als Voraussetzung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien für entbehrlich zu halten. 105 Denn er betont dort, daß die Frage nach einer behördlichen Anwendungspflicht "mit der - in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannten - Möglichkeit für den einzelnen, sich gegenüber dem Staat unmittelbar auf unbedingte sowie hinreichend klare und genaue Vorschriften einer nicht umgesetzten Richtlinie zu berufen, nichts zu tun" habe. 106 Weiterhin umstritten bleibt jedoch, ob die Vorschriften der UVP-Richtlinie den für ihre unmittelbare Wirkung hinreichenden Grad an Unbedingtheit und Bestimmtheit aufweisen. l07 So folgert etwa das Verwaltungsgericht München schon daraus, daß "verschiedenste Varianten und im Schrifttum mannigfaltige Meinungen" zur unmittelbaren Wirkung der UVP-Richtlinie vorhanden sind, daß die Richtlinie unbestimmt sei. 108 Ausschlaggebend kann aber nur sein, ob es allein aufgrund der Richtlinie möglich ist, eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen oder nicht. Dagegen könnte sprechen, daß die Richtlinie gemäß ihrem Art. 4 Abs. 2 für die in Anhang 11 genannten Projekte nur dann eine Umweltverträglich104 Schon früher dafür Jarass, NJW 1991,2665/2668; Fischer, NVwZ 1992,635/638; Winter, NuR 1991, 453 f.; ders., in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umwe1trechts, 1996, 107/117 f.; Pernice, NVwZ 1990, 414/425 f.; zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien ohne "Doppelwirkung", d. h. mit nur belastender "umgekehrt vertikaler" Wirkung s. Streinz, Europarecht, 3. Auf!. 1996, Rn. 400; vgl. auch EuGH, Slg. 1996, 1-4705/4728 Rn. 34; 1987,3982/3985 Rn. 9. 105 Pechstein, EWS 1996,261 ff.; ErbguthlStollmann, DVBI. 1997,453/455; Albin, NuR 1997,29/32; Epiney, DVBI. 1996,409/412; dies., ZUR 1996, 229ff.; Iven, NuR 1996,105; Freytag/Iven, NuR 1995, 109/116; Koenig, DVBI. 1997, 5811582; Ruffert, ZUR 1996, 235/238; skeptisch dagegen Calliess, NVwZ 1996,339/ 340f. 106 EuGH, Slg. 1995,1-2189/2220 Rn. 26. 107 Dazu s. Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996, 272 ff. 108 VG München, NuR 1989, 320.

3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

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keitsprüfung fordert, wenn "ihre Merkmale nach. Auffassung der Mitgliedstaaten dies erfordern." Die Richtlinie legt also nicht für alle Fälle verbindlich fest, wann eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen ist, sondern stellt dies in das Ermessen der Mitgliedstaaten. 109 Gleiches gilt hinsichtlich der Einordnung der Umweltverträglichkeitsprüfung in bestehende Genehmigungs- und Planfeststellungsverfahren. Die genaue Feinabstimmung wird hier den Mitgliedstaaten überlassen. Doch ob dieser Umstand letztlich zur Unbestimmtheit der Richtlinie führt, erscheint höchst zweifelhaft. Schließlich bejaht der Gerichtshof die unmittelbare Richtlinienwirkung selbst dann, wenn "der Staat zwischen mehreren möglichen Mitteln zur Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Ziels wählen kann.,,110 Zudem liegt es im Wesen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien als Sanktionskategorie des EG-Rechts, daß die Mitgliedstaaten bei nicht fristgerechter Umsetzung auf eine solche Feinabstimmung verzichten müssen. 11 I Endlich ist zu beachten, daß der Kreis der in Art. 4 Abs. 2 i. V. m. Anhang 11 genannten Projekte durch Art. 2 Abs. I UVP-RL hinreichend konkretisiert wird. Danach ist eine Umweltverträglichkeitsprüfung nur bei solchen Projekten durchzuführen, "bei denen insbesondere aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standortes mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist." Hierbei handelt es sich um Tatbestandsmerkmale, die in den Mitgliedstaaten durchaus direkt anwendbar sindY2 Die UVP-Richtlinie ist somit hinreichend bestimmt und unbedingt. Sie entfaltet daher unmittelbare Wirkung.

c) Materiell-rechtlicher Gehalt von Verfahrensvorschriften

Zu überlegen ist, ob der einzelne für den Fall, daß die Behörde nicht von Amts wegen tätig wird, die unmittelbare Anwendung der UVP-Richtlinie erzwingen kann. Grundsätzlich ist das nicht möglich, da die UVP-Richtlinie eine verfahrensrechtliche Regelung darstellt, die - zumindest im deutschen Recht - nicht gerichtlich durchsetzbar ist. 113 Etwas anderes würde gelten, wenn im Wege einer kausalitätsunabhängigen Klagemöglichkeit eine erweiterte Konzeption des Drittschut109

273f. lIO

111

274.

Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996,

EuGH, Sig. 1991,1-5357/5409, Rn. 17. Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996,

112 So auch Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996,274f. 113 Zu dem Streit, ob die UVP-Richtlinie nur verfahrens- oder auch materiell-rechtlichen Charakter besitzt, s. Feldmann, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 34 Rn. 105 ff.; Schmidt-Aßmann, Die Umsetzung der EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung, FS für Doehring, 1989, 889/890; Schmidt" Preuß, DVBI. 1995, 485/488 m. w. N.

A. Ausgewählte Regelungen des EG-Umweltrechts

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zes in die deutsche Rechtsordnung eingeführt würde. Bemühungen in diese Richtung, wie beispielsweise der 1992 in einem Kooperationsprojekt zwischen dem Öko-Institut e.V., der Foundation for Environmental Law and Development und dem Internationalen Netzwerk Umweltrecht erarbeitete Entwurf für eine EGRichtlinie "Access to Justice for Environmental Matters",114 blieben bisher allerdings ohne Erfolg. Vielmehr wies das Bundesverwaltungsgericht noch jüngst darauf hin, daß die UVP-Richtlinie keinerlei Anhaltspunkt dafür biete, "daß der nationale Gesetzgeber verpflichtet gewesen wäre, privaten Dritten eine weitergehende Klagemöglichkeit zu eröffnen, als sie das deutsche Recht allgemein bei der Verletzung von Verfahrensvorschriften eröffnet"Ys Eine "um ihrer selbst willen geschützte Verfahrensposition", die der einzelne selbständig einklagen kann, wird dabei nur in Ausnahmefällen angenommen. 116 Damit verkennt das Bundesverwaltungsgericht möglicherweise die Entwicklung, die der Gerichtshof durch seine jüngste Rechtsprechung vorzuzeichnen sucht. Zu nennen ist hier insbesondere das Urteil 117 zur Umsetzung der Grundwasserrichtlinie 80/68 lEWGYs Dort heißt es, daß die "Vorschriften der Richtlinie [ ... ] Rechte und Pflichten des einzelnen begründen"Y9 Dies gelte auch für die von der Richtlinie vorgegebenen Verfahrensvorschriften. Zum Nachweis eines einklagbaren Individualrechtes reiche es aus, daß ein wesentliches Schutzgut der Richtlinien den einzelnen zugute kommen soll und die Richtlinien deutliche Vorgaben für die Art des Schutzes machen. 120 Dementsprechend stützt der Europäische Gerichtshof in später ergangenen Urteilen das Recht des einzelnen auf die Erwägung, die in Frage stehende Umweltrichtlinie diene dem "Schutz der menschlichen Gesundheit".121 Daß auch die UVP-Richtlinie dem Schutz der menschlichen Gesundheit dient, steht außer Zweifel. Der 11. Erwägungsgrund der Präambel erwähnt dies ausdrücklich. Daneben kommt das Bestreben der gemeinschaftsrechtlichen Regelung, dem Schutz individueller Rechtsgüter wie der menschlichen Gesundheit und 114 Dazu Gebers, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996,139/142f. 115 BVerwG, 4. Senat, B-16-Urteil, UA, 35; vgl. auch die restriktive Rspr. des BVerwG zur Frage der Begründung individueller Rechte aus Verfahrensnormen in BVerwGE 44, 235/ 240. 116 BVerwGE 41,58/65; vgl. auch Wegener, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 1451149; kritisch dazu auch v. Danwitz, DVBl. 1993, 422/ 423f. 117 EuGH, Slg. 1991, 1-825/865ff.; dazu ausführlich Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996, 260. 118 Richtlinie 80/68/ EWG des Rates v. 17. 12. 1979 über den Schutz des Grundwassers gegen Verschrnutzung durch bestimmte gefährliche Stoffe (ABI L 20/43). 119 EuGH, Slg. 1991,1-825/867 Rn. 7. 120 S. den Schlußantrag des GA van Gerven, EuGH, Slg. 1991,1-825/849 Tz. 7f.; vgl. auch Zuleeg, NJW 1993,31/37. 121 EuGH, Slg. 1991,1-2567/2601 Rn. 16; oder auch "dem Schutz des Menschen vor den Auswirkungen der Bleiverschmutzung der Umwelt", EuGH, Slg. 1991,1-2607/2631 Rn. 19.

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

dem Eigentum zu dienen, in Art. 3, 1. SpStr. (Auswirkungen auf den Menschen), 2. SpStr. (Wechselwirkungen unter Berücksichtigung des Menschen), 4. SpStr. (Sachwerte), Art. 5 Abs. 2, 2. SpStr. (Einschränkung, Vermeiden und Ausgleich bedeutender nachteiliger Auswirkungen) und Art. 6 Abs. 2 (Partizipation) zum Ausdruck. 122 Aus gemeinschaftlicher Sicht ist daher anzunehmen, daß die UVPRichtlinie unabhängig von ihrem verfahrensrechtlichen Charakter ein Individualrecht begründet,123 das im Wege gerichtlichen Rechtsschutzes geltend gemacht werden kann. Gleichwohl lehnt neben dem Bundesverwaltungsgericht auch der Bayrische Verwaltungsgerichtshof124 die Einräumung einer selbständigen verfahrensrechtlichen Rechtsposition aus dem UVP-Gesetz ab. Zur Begründung führt er an, daß die Einräumung einer solchen Berechtigung dem Konzept der Richtlinie, die insbesondere der Informationsbeschaffung für die behördlichen Entscheidungsträger diene, widerspreche. "Ebensowenig wie der einzelne nach deutschem Recht ein Planfeststellungsverfahren einfordern könne, sei die Berufung auf das Fehlen einer Umweltverträglichkeitsprüfung für den einzelnen möglich." Rechte einzelner könnten erst aus den Regeln des - der unselbständigen Umweltverträglichkeitsprüfung nachgeschalteten - Hauptzulassungsverfahrens folgen. Auf dem Hintergrund des soeben dargelegten gemeinschaftsrechtlichen Ansatzes zur Ermittlung klagefähiger Individualrechte ist diese Ansicht jedoch kaum haltbar. 125 Zwar ist es korrekt, daß die Umweltverträglichkeitsprüfung der umweltbezogenen Informationserfassung und nicht dem umfassenden Ausgleich sich widersprechender Interessen zu dienen bestimmt ist. Doch sollen aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht dabei gerade auch subjektive Rechte in die Gesamtbetrachtung aller umweltspezifischen Wirkungen eines Projektes mit einbezogen werden. Geschähe dies erst im nachfolgenden, auf einen Umweltschutzsektor beschränkten Zulassungsverfahren, wäre dieser Zweck verfehlt. Zudem verringerte sich die "Durchsetzungsfähigkeit der gemeinschaftsrechtlichen integrativen Umweltschutzkonzeption". 126 Den Betroffenen steht nach EG-Recht also ein einklagbares Recht auf Durchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung zu. 122 Vgl. Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996,269. 123 Ebenso Calliess, NVwZ 1996, 339/340f.; Beckmann, DVBI. 1991, 358/364f.; Winter, Nr. 1989, 197/204; Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996,267; vgl. auch Erbguth/Schink, UVPG, 2. Auf!. 1996, Einl Rn. 117 ff. 124 BayVGH, NVwZ 1993, 906; NuR 1991, 383/384; s. auch VGH Mannheim, UPR 1994,189/190. 125 So auch Ruffen, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996, 269; für eine "großzügigere Definition des subjektiven Rechts" ist auch Classen, in: Kreuzer u. a. (Hg.), Die Europäisierung der rnitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997, 107/121, nach dem hierbei sogar deutsches "Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht am gleichen Strang" ziehen. 126 S. Ruffen, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996, 270.

A. Ausgewählte Regelungen des EG-Umweltrechts

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Indem der Gerichtshof das Individualinteresse als "denknotwendigen Teil,,127 des Allgemeinwohlinteresses begreift, erweitert er somit die Klagebefugnis über das nach deutschem Verständnis zulässige Maß hinaus. 128 Ein Grund dafür wird zu Recht in der Notwendigkeit einer verstärkten Bürgerbeteiligung gesehen, mittels derer das Gemeinschaftsrecht effektiver durchgesetzt werden SOll.129 Eine erweiterte Klagebefugnis allein kann dieses Ziel jedoch nicht sicherstellen. Schließlich ist niemand an einer Klage nur um der Klage willen interessiert. Vielmehr will er den geltend gemachten Anspruch gerichtlich auch tatsächlich durchsetzen können. Das legt die Annahme nahe, daß der Gerichtshof zugleich eine substantielle Stärkung der jeweiligen Individualrechte beabsichtigt, ihnen also auch einen materiellen Gehalt zukommen läßt. 130 Dem könnte entgegengehalten werden, daß einige mitgliedstaatliche Rechtsordnungen dem äußerst restriktiv gegenüberstehen. 131 Eine Anlehnung an nationales Recht hat der Gerichtshof jedoch ausdrücklich abgelehnt. 132 Für eine substantielle Stärkung individueller Klagerechte im europäischen Umweltrecht spricht zudem die zunehmend forcierte Ausrichtung des EG-Vertrages auf einen "bestmöglichen Umweltschutz,,133 in der Gemeinschaft. 134 Der Gerichtshof ist insofern bemüht, in seinen Urteilen 135 die Bedeutung des Gemeinschaftszieles "Umweltschutz" immer wieder hervorzuheben. Er unterstreicht damit zugleich seinen Willen, diesem Vertrags ziel auch zur bestmöglichen Wirksamkeit zu verhelfen. Das setzt, wie dargelegt, auch einen materiell-rechtlichen Gehalt von verfahrensrechtlichen Bestimmungen voraus.

127 Wegener, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 145/160. 128 Pernice / Kadelbach, DVBl. 1996, 1100/ 1108; zu der bereits unüberschaubaren Literatur über subjektiv öffentliche Rechte im deutschen (Umwelt)recht statt vieler Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 58 f.; Eh/ers, VerwArch 84 (1993),139/ 140ff.; Blankenagel, Die Verwaltung 26 (1993),1 ff. 129 Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994,58. 130 Vgl. Wegener, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 145/169 ff. l3l Dazu näher Breuer, Entwicklungen des europäischen Umweltrechts, 1993,63 ff.; Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996, 14 ff.; Ehlers, Verw Arch 84 (1993), 139ff.; Schwarze, NVwZ 1996, 22ff. 132 EuGH, Slg. 1968, 679/694. 133 Zuleeg, NVwZ 1987, 280/283. 134 Wegener, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 145/172; näher dazu v. Borries, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 25 Rn. 24f.; weitere Verstärkung erfährt die gemeinschaftliche Umweltpolitik durch den "Vertrag von Amsterdam" (ABI 1997 C 340/1); eher skeptisch Breier, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 13 Rn. 65. 135 V gl. nur EuGH, Slg. 1992, 1-4431 /4471 ff.; zum Europäischen Gerichtshof als "Motor der Integration" speziell im Bereich der Umweltpolitik Huber, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 19 Rn. 38.

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d) Rechtsschutz bei Verletzung veifahrensrechtlicher Bestimmungen nach § 46 Vw VfG Der gerichtlichen Durchsetzung der UVP-Richtlinie durch den einzelnen könnte im deutschen Recht'möglicherweise noch die Vorschrift des § 46 VwVfG entgegenstehen. Nach § 46 VwVfG ist ein Verfahrensfehler unbeachtlich, wenn es sich - wie bei § 6 BlmSchG - um eine gebundene Kontrollerlaubnis handelt und eine andere Entscheidung in der Sache auch bei Einhaltung des ordnungsgemäßen Verfahrens nicht hätte getroffen werden können. 136 Sollte die Planungsbehörde im Einzelfall ein Projekt genehmigen, ohne vorab eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt zu haben, wäre dem also keinerlei Bedeutung beizumessen, wenn sich der formelle Mangel auf die Entscheidung in der Sache nicht ausgewirkt haben kann. 137 Eine Aufhebung der Genehmigung erfolgt demnach nur, wenn nach den Umständen des jeweiligen Falles die konkrete Möglichkeit besteht, daß die Entscheidung bei Durchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung anders ausgefallen wäre, die Rechtsposition des Klägers infolge des Verfahrensfehlers also nachhaltig beeinfIußt wird. 138 Das setzt allerdings voraus, daß der Anwendungsbereich des § 46 VwVfG nicht auf rein innerstaatliche Angelegenheiten begrenzt ist,139 sondern auch in gemeinschaftsrelevanten Verfahren zum Tragen kommt. 140 Dies hängt maßgeblich davon ab, ob § 46 VwVfG die Wirksamkeit der verfahrensrechtlichen Bestimmungen der UVP-Richtlinie in einer Weise relativiert, die mit dem Effizienzgebot des Gemeinschaftsrechts nicht zu vereinbaren iSt. 141 Danach darf die Anwendung nationalen Rechts nicht darauf hinauslaufen, daß die Verwirklichung der gemeinschaftlichen Regelung "praktisch unmöglich" wird. 142 Nach § 46 VwVfG bleibt die Nichtbeachtung der UVP-Bestimmungen im Einzelfall folgenlos. Die einheitliche Wirksamkeit der UVP-Richtlinie wird somit - sollte § 46 VwVfG zur Anwendung gelangen - in Frage gestellt. Welches Maß an Wirksamkeitsbeeinträchtigung dabei aus gemeinschaftlicher Sicht noch hin136 Anders dagegen die wasserrechtlichen Gestattungen, die atomrechtlichen Genehmigungen und die Planfeststellungsentscheidungen, die einen Entscheidungsspielraum eröffnen und damit zur Unanwendbarkeit des § 46 VwVfG führen. Verfahrensverstöße sind in diesem Bereich daher grundsätzlich von Bedeutung, s. Papier, DVBl. 1993,809/814. 137 Vgl. BVerwGE 87, 62171. 138 BVerwGE 75,214; vgl. auch Sachs, in: Stelkens IBonkl Sachs (Hg.), VwVfG, 4. Auf!. 1993, § 46 Rn. 35f.; Kopp, VwVfG, 6. Auf!. 1996, § 46 Rn. 25f.; Schink, NVwZ 1995, 9531 958 f.; Breier, BayVBl. 1995,459/461 f.; Steinberg, DÖV 1996,221/228 m. w. N. 139 So Kopp, VwVfG, 6. Auf!. 1996, § 46 Rn. 11. 140 Zur Verwerfung nationalen Rechts s. Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 100ff. 141 S. Rengeling, DVBl. 1995, 945/953 f., der das Problem aufwirft, aber unbeantwortet läßt; vgl. ferner Schmidt-AßmannILadenburger, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 18 Rn. 60ff. 142 S. oben 2. Teil D 11 2 a.

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nehmbar ist, bestimmt sich in erster Linie danach, ob § 46 VwVfG eine gemeinschaftsrechtliche Entsprechung findet. Ist das nicht der Fall, muß gegebenenfalls geprüft werden, in welchem konkreten Sachzusarnmenhang die gemeinschaftliche Einflußnahme zum Tragen kommt. 143 Sollte sich hingegen herausstellen, daß das Gemeinschaftsrecht dem § 46 VwVfG vergleichbare Regelungen enthält, müssen an beide Rechtsordnungen entsprechend vergleichbare Maßstäbe angelegt werden. Die Regelung in dem einen Fall zur Anwendung zu bringen, in dem anderen aber mit dem Verdikt der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit zu versehen, erscheint widersprüchlich. l44 Als gemeinschaftliche Bestimmung, deren Regelungsinhalt der Vorschrift des

§ 46 VwVfG möglicherweise gleicht, kommt der Art. 230 Abs. 2 EGV I45 in Be-

tracht. Er gibt dem Gerichtshof u. a. ein Verfahren zur Überwachung der Rechtmäßigkeit der im direkten Vollzug ergangenen rechtsverbindlichen Akte der Kommission an die Hand. Danach "ist der Gerichtshof für Klagen zuständig, die ein Mitgliedstaat [ ... ] wegen [ ... ] Verletzung wesentlicher l46 Formvorschriften [ ... ] erhebt". Auch Verfahrensregelungen gehören hierzu. 147 Wesentlich ist die Formvorschrift dann, "wenn das Verfahren ohne diese Verletzung zu einem anderen Ergebnis hätte führen können".148 Erweist sich der festgestellte Verfahrensfehler dagegen als für die Entscheidung irrelevant, bleibt einer entsprechenden Verletzungsrüge der Erfolg versagt. Dementsprechend verlangt die Sicherung der praktischen Wirksamkeit der im direkten Gemeinschaftsvollzug zu beachtenden Verfahrensregeln nur dann eine Aufhebung der verfahrensfehlerhaft getroffenen Entscheidung, wenn der Forrnmangel für das Ergebnis ursächlich geworden iSt. 149 Führt aber im Bereich des direkten Vollzugs ein Verfahrensfehler nicht notwendig zur Aufhebung der Entscheidung, läßt das vermuten, daß nichts anderes für den Bereich des indirekten Verwaltungsvollzugs gilt. Ein Grund, an die Folgen von Verfahrensfehlern im indirekten Vollzug strengere Anforderungen zu stellen, als sie im direkten Vollzug gelten, ist nicht ersichtlich. 150 Auch im indirekten Vollzug wird eine verfahrensrechtliche Bestimmung des Gemeinschaftsrechts damit nicht schon deshalb praktisch unmöglich gemacht, weil ihre Außerachtlassung nicht in jedem Fall, sondern nur dann zur Aufhebung der Sachentscheidung führt, wenn S. oben 2. Teil D II 2 a. So auch Gellennann, DÖV 1996, 433/442. 145 Früher Art. 173 Abs. 2 EGV. 146 Hervorhebung durch die Verfasserin. 147 Rengeling / Middeke / Gellennann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, Rn. 185; s. dazu näher Krück, in: G/T/E (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Aufl. 1991, Art. 173 Rn. 79 ff.; zur Verletzung von Begründungs- und Mitteilungspflichten, s. EuGH, Slg. 1980, 2264f.; 1983,2191/2207. 148 EuGH, Sig. 1990,1-307/359; vgl. auch EuGH, Sig. 1987,4393/4415 Rn. 13. 149 Gellennann, DÖV 1996, 433/443. 150 S. Gellennann, DÖV 1996,433/442; Schmidt-Aßmann/Ladenburger; in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umwe1trecht, 1998, Bd. I, § 18 Rn. 61. 143

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sich der Verfahrensfehler auf das Ergebnis ausgewirkt hat. § 46 VwVfG, der genau das vorsieht, steht dem Effizienzgebot also nicht entgegen. 151 Er gelangt damit auch in gemeinschaftsrelevanten Verfahren zur Anwendung. 152 Folglich bewirkt ein Verstoß gegen gemeinschaftliche Vorgaben der UVP-Richtlinie nach § 46 VwVfG nur dann eine Aufhebung der formell fehlerhaften Zulassungsentscheidung, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, daß die Sachentscheidung bei korrekter Durchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung anders ausgefallen wäre. Das ist allerdings nur äußerst selten der Fall. 153 Die gerichtliche Praxis bestätigt das. 154 Damit verhilft selbst die Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle über die Durchführung der UVP-Richtlinie dieser zu keiner größeren Effektivität. 155 Im Hinblick auf eine wirksame Durchsetzung der Richtlinie stimmt dieser Befund bedenklich, zumal auch immer wieder auf die Notwendigkeit einer nachhaltigen gerichtlichen Kontrolle hingewiesen wird. So heißt es unter anderem, daß sich auch die amerikanischen Vorschriften über das Environmental Impact Statement erst infolge einer verstärkten Kontrolle seitens der Judikative als effektiv erwiesen hätten. 156 Zudem kann nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden, daß der Europäische Gerichtshof unter einer wirksamen Umsetzung von Umweltrichtlinien insbesondere auch deren gerichtliche Geltendmachung versteht. 157

4. Vorschlag zur verbesserten Durchsetzung verfahrensrechtlicher Bestimmungen Aus gemeinschaftlicher Sicht erfordert eine effektive Durchsetzung von Umweltverwaltungsrichtlinien daher die Anerkennung einer erweiterten umweltSo auch Gellemumn, DÖV 1996,433/443. Ebenso Rengeling, DVBI. 1995,945/953; Gellennann, DÖV 1996,433/443; vgl. ferner Schmidt-AßmannILadenburger, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 18 Rn. 63, der dem zwar grundsätzlich zustimmt, aber auch zu Recht auf potentielle Konfliktherde hinweist. 153 Schmidt-AßmannILadenburger, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 18 Rn. 62. 154 BVerwG, UPR 1995, 391 ff.; vgl. auch Gellennann, DÖV 1996,433/441 und Schink, NVwZ 1995,953/959 jeweils m.w.N.; Rengeling, in: ders. (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 29 Rn. 18, der die gerichtliche Praxis für zutreffend hält. 155 Kritisch ebenfalls ErbguthlSchink, UVPG, 2. Aufl. 1996, Einl Rn. 102. 156 ErbguthlSchink, UVPG, 2. Aufl. 1996, Einl Rn. tOl; Steinberg, NuR 1983, 169/177. 157 S. oben 3. Teil A I 3 c. So auch Steinberg, DÖV 1996, 221/230; GeIlermann, Beeinflussung des bundesdeutschen Rechts durch Richtlinien der EG, 1994, 197; Engel, Die Verwaltung 1992,437/458 f.; Zuleeg, NJW 1993, 31/37 f. 151

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schutzorientierten Individualklage, mittels derer der Bürger in die Lage versetzt wird, nicht nur die Nichteinhaltung rein materiell-rechtlicher, sondern auch die verfahrensrechtlicher Bestimmungen erfolgreich zu rügen. Damit steht die deutsche Legislative und mit ihr die Judikatur vor der Aufgabe, die klassische Vorstellung von einer restriktiv verstandenen Rechtsschutzmöglichkeit des Bürgers in Umweltangelegenheiten aufzugeben. Grundvoraussetzung dafür ist eine Öffnung des deutschen Verwaltungsrechts für die sich europaweit abzeichnende Rechtsentwicklung. Neben einer erweiterten Klagebefugnis sowohl für den einzelnen Bürger als auch für Umweltverbände, 158 muß daher über die Vorschrift des § 46 VwVfG nachgedacht werden. Auch wenn ihr Regelungsgehalt gemeinschaftlichen Vorgaben entspricht, so sollten an die Substantiierurlg der Kausalität zwischen Verfahrensfehler und letztlich getroffener Entscheidung dennoch keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden. 159 Zudem bestehen ohnehin Zweifel, ob sich die Voraussetzung des § 46 VwVfG, nach der sich eine andere Entscheidung in der Sache bei Einhaltung des ordnungsgemäßen Verfahrens nicht ergeben darf, ohne vollständige Nachholung der Umweltverträglichkeitsprüfung überhaupt verifizieren läßt. Denn die für die Entscheidung maßgebenden Abwägungsfaktoren bleiben der Planungsstelle mangels Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung unter Umständen verborgen. Will man den Regelungszweck der UVP-Richtlinie sicherstellen, d. h. eventuelle Umweltauswirkungen möglichst frühzeitig erkennen und in die Entscheidung mit einfließen lassen, so kann das demnach nur über die selbständige Einklagbarkeit der Richtlinienanwendung geschehen. 160

Im übrigen ist der bisher unerwähnte § 44a VwGO in die ReformüberIegungen mit einzubeziehen. Ähnlich dem § 46 VwVfG läßt auch § 44a VwGO die das Verfahrensrecht als individualrechtsbegründend einstufende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unberücksichtigt. Ansonsten bleibt nur abzuwarten, ob die UVP-Richtlinie die erhoffte strukturelle Veränderung der deutschen Rechtsordnung - wenn auch verspätet - schließlich doch noch zu bewirken vermag.

158 S. dazu Winter, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 107/121 f.; zur gleichwohl erforderlichen Eingrenzung der Klagebefugnis s. Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 59 f. 159 Vgl. Steinberg, DÖV 1996,221/231. 160 So auch Pemice/Kadelbach, DVBI. 1996, 1100/1108; Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, 1993, 148; Beckmann, DVBI. 1991,358/364; Krämer, WiVerw 1990, 1381 148f., 157.

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11. Die Richtlinie über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt 1. Entstehungsgeschichte und Zwecksetzung Ließ sich bereits bei der UVP-Richtlinie eine Tendenz zur verstärkten Öffentlichkeitsbeteiligung ausmachen, so wird dieser grundlegende Gedanke des europäischen Umweltrechts mit der Umweltinformationsrichtlinie (UI-RL) im speziellen aufgegriffen und vertieft. 161 Die Richtlinie über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt, 162 so ihre amtliche Bezeichnung, war bis zum 31. 12. 1992 in nationales Recht umzusetzen. 163 Dieser Pflicht kam die Bundesrepublik Deutschland durch Erlaß des Umweltinformationsgesetzes (UIG) mit fast zweijähriger Verspätung erst am 8. 7. 1994 nach. 164 Vorbilder findet die Richtlinie zum einen in dem US-amerikanischen "Freedom of Information Act" und zum anderen in dem japanischen Modell zur verstärkten Konfliktlösung im Wege kooperativer Entscheidungsverfahren. 165 Demgemäß verfolgt die Richtlinie nach Art. 1 das Ziel, den freien Zugang zu den bei den Behörden vorhandenen Informationen über die Umwelt und deren Verbreitung zu gewährleisten. 166 Zugangsberechtigt sind gern. Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 UI-RL natürliche und juristische Personen, kurzum jedermann, der sich als "Bürger der Gemeinschaft" bezeichnen kann. 167 Insbesondere ist unerheblich, ob der Antragsteller zugleich Beteiligter eines konkreten Genehmigungs- oder sonstigen Verwaltungsverfahrens ist oder außerhalb eines solchen Verfahrens steht. Es bedarf nicht einmal eines nachweisbaren Interesses an den umweltbezogenen Informationen, um 161 Dieselbe Zielrichtung weist die EG-VO Nr. 880/92 v. 11. 4. 1992 betreffend ein gemeinschaftliches System zur Vergabe eines UmweltzeicheRs (sog. Europäische Blume) und die EG-VO Nr. 1836/93 (ABI L 168/1) über die freiwillige Beteiligung gewerblicher Unternehmen an einem Gerneinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung (sog. Umwelt-Audit) auf. 162 Richtlinie 90/313/EWG des Rates vom 7.6.1990 (ABI L 158/56); dazu ausführlich Erichsen, Zur Umsetzung der Richtlinie des Rates über den freien Zugang zu Infonnationen über die Umwelt, Berichte des Umweltbundesamtes 1/1992; v. Schwanenflügel, DVBl. 1991, 93 ff.; Blumenberg, NuR 1992, 8 ff.; Scherzberg, UPR 1992, 48 ff.; Krämer; RMC 1991, 866ff.; Stollmann, NVwZ 1995, 146ff.; Röger; UIG, Kommentar, 1995. 163 An. 9 Abs. 1 der Richtlinie 90/313/EWG (ABI L 158/58). 164 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 90/313/EWG v. 8.7. 1994, in Kraft getreten am 16.7.1994, BGBl. 11994, 1490ff. 165 Vgl. Zeller; in: Hegele/Röger (Hg.), Umweltschutz durch Umweltinfonnation, 1993, 83/97; zur US-amerikanischen Regelung s. Gurlit, in: Winter (Hg.), Öffentlichkeit von Umweltinfonnationen, 1990,511 ff.; dies., Die Verwaltungsöffentlichkeit im Umweltrecht, 1989, 50 ff., 148 ff.; Sehende I, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischer! und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 39 Rn. 13. . 166 Ausführlich dazu Fluek/Theuer; Umweltinfonnationsrecht, Stand 1997, § 1 Rn. lOff. 167 Eriehsen, Jura 1993, 180/182.

A. Ausgewählte Regelungen des EG-Umweltrechts

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den Anspruch geltend machen zu können. Einschränkungen dieses Rechts werden auf wenige Ausnahmen begrenzt.

2. Auswirkungen der Umweltinformationsrichtlinie auf den Grundsatz von der beschränkten Aktenöffentlichkeit

Bislang war der bundesdeutschen Rechtsordnung ein derart weit gefaßtes Zugangsrecht unbekannt. 168 Vielmehr unterwirft der in § 29 VwVfG verankerte Grundsatz von der beschränkten Aktenöffentlichkeit den Informationsanspruch engen gegenständlichen, personellen wie auch zeitlichen Grenzen. Ein Einsichtsrecht steht nur den gern. § 13 VwVfG Beteiligten eines anhängigen Verwaltungsverfahrens ZU,169 und dies auch nur, soweit sie ohne Kenntnis der Akten ihre rechtlichen Interessen nicht geltend machen oder verteidigen können. 170 Überdies hängt die Gewährung des Informationszugangs zumeist vom Ermessen der zuständigen Behörde ab, so etwa bei Planfeststellungsverfahren i. S. d. § 72 Abs. 1 VwVfG, im Bundesimmissionsschutzrecht gern. § lOa der 9. BImSchVoder auch im Atomrecht nach § 6 Abs. 3 AtVfVO. 171 Ein subjektiv-öffentliches Recht auf Akteneinsicht entsteht danach nur in den eher seltenen Fällen einer Ermessensreduzierung auf Null. l72 Gleichsam unbedeutend ist das Akteneinsichtsrecht der Chemikalien- und Arzneimittelgesetze, die den betreffenden Behörden keine Pflicht zur Bekanntgabe der erfolgten Einleitung eines Verwaltungsverfahrens auferlegen, ein Zugangsrecht des Bürgers zugleich aber von dessen Beteiligtenstellung in dem Verfahren abhängig machen. 173 Lediglich in einigen wenigen, spezialgesetzlich normierten Fällen gewährt der Gesetzgeber dem Bürger ein verfahrensunabhängiges uneingeschränktes Einsichtsrecht in behördliche Unterlagen, etwa in Denkmallisten gern. § 3 Abs. 5 S. 1 DSchG NW oder in das Wasserbuch nach § 160 Abs. 1 LWG NW. Die Einführung eines weitreichenden Aktenzugangsrechts durch die Umweltinformationsrichtlinie hat das deutsche Umweltverfahrensrecht, jedenfalls abstrakt betrachtet, grundlegend verändert. 174 Nicht nur "die traditionelle Rollenverteilung 168 Dazu Schendel, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 39 Rn. 3; Erichsen, NVwZ 1992, 409/419; Neßler, Europäisches Richtlinienrecht wandelt deutsches Verwaltungsrecht, 1994, 190ff.; Bieber, DÖV 1991,857/864. 169 Vgl. BVerwGE 67,300/304. 170 Dazu Bank, in: Stelkens/Bonkl Sachs (Hg.), VwVfG, 4. Aufl. 1993, § 29 Rn. 23 ff. 171 § 10 Abs. 4 der 9. BImSchV und § 6 Abs. 3 AtVfG nehmen in ihrem Verweis auf § 29 VwVfG jedoch immerhin § 29 Abs. 1 S. 1 mit seiner Beschränkung auf Beteiligte aus. Hierzu ausführlicher Erichsen, Jura 1993, 180/181; v. Mutius, DVBI. 1978, 6651668. 172 Dazu Maurer, AllgVerwR, 11. Aufl. 1997, § 7 Rn. 24f. 173 S. Hegele, in: Hegele/Röger (Hg.), Umweltschutz durch Umweltinformation, 1993, 101/102; Blumenberg, NuR 1992, 8/9. 174 So auch Steinberg, AöR 120 (1995), 5491564 m. w. N.; skeptisch Schwarze, in: ders. (Hg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996, 123 /172; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, 1996,273. Leider hat das deutsche

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

zwischen Geheimhaltung und Aktenzugang,,175 unterliegt einer solchen Veränderung, sondern auch die Verteilung der Staatsfunktionen schlechthin. War es bisher allein Aufgabe des Parlaments und der Gerichtsbarkeit, die Verwaltungstätigkeit zu kontrollieren, so zählt die Richtlinie nunmehr auch auf eine verstärkte Einbeziehung der Öffentlichkeit. Es ist die Rede von einer "sektoralen Systemänderung durch Europarecht".176 Die kollektiven Kräfte sollen gestärkt und eine "ökologische Umorientierung des Gesellschafts- und Wirtschafts systems" bewirkt werden. 177 Diese Entwicklung läßt sich zum einen auf die Erosion parlamentarischer Kontrolleffektivität zurückführen,178 findet ihren Grund aber auch in der allgemein festzustellenden Versubjektivierung vormals rein öffentlich-rechtlicher Belange. 179 In Anbetracht eines steigenden Umweltbewußtseins beansprucht der Bürger, in zunehmendem Maße mitzubestimmen und in. eigener Verantwortung einen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten. Eine vermehrte Mobilisierung der Öffentlichkeit und ein beständig wachsender Einfluß verschiedenster Umweltverbände sind die Folge. lso Selbst das Prozeßrecht wird nicht umhinkommen, der mit der Umweltinformationsrichtlinie einhergehenden Tendenz der Versubjektivierung von Allgemeininteressen Rechnung zu tragen. ISI Der Richtlinie kommt damit eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Ihr Grundgedanke hat sogar schon Eingang in einige der neuen ostdeutschen Landesverfassungen gefunden. ls2 Es gilt, diese Bedeutung durch eine möglichst restrikVI-Gesetz die in der VI-Richtlinie vorgesehenen zahlreichen Beschränkungsmöglichkeiten des Informationszugangsrechts alle übernommen. Sie werden zudem recht extensiv ausgelegt; so etwa der Begriff "Vorverfahren" in Art. 3 Abs. 2 SpStr. 3 VI-RL, dazu Sehendel, in: Renge1ing (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Vmweltrecht, 1998, Bd. I, § 39 Rn. 37ff. 175 Sehmidt-Aßmann, Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, FS für Lerehe, 1993,513/525. 176 Eriehsen, NVwZ 1992, 409/418; vgl. auch Rengeling, VVDStRL 53 (1994), 260/ 261; Sehmidt-Aßmann, DVBI. 1993,924/933. 177 Henneeke, WiVerw 1995,80/100. 178 So Eriehsen, NVwZ 1992,409/418. 179 Bedenken gegenüber dieser Entwicklung äußert Wild, Der Ombudsman in Deutschland, 1970, 145. Seiner Ansicht nach schließe das Prinzip der repräsentativen Demokratie eine direkte Verantwortung der Verwaltung gegenüber dem Volk aus; kritisch auch Erbguth/ Stollmann, UPR 1994, 81. 180 S. dazu auch Steinberg, AöR 120 (1995), 549/562ff.; Sehendel, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Vmweltrecht, 1998, Bd. I, § 39 Rn. 9; Schmidt-Aßmann/Ladenburger, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 18 Rn. 4ff. 181 Dazu Neßler, Europäisches Richtlinienrecht wandelt deutsches Verwaltungsrecht, 1994, 195 f. 182 So in Art. 39 Abs. 7 der Verfassung des Landes Brandenburg, dazu Steinberg, Der Beitrag des Einigungsprozesses und der neuen Bundesländer zur Verfassungsentwicklung in Deutschland, FS für Mahrenholz, 1994, 423/434f.; Eriehsen, Jura 1993,180/181; Theuer, NVwZ 1996, 326/333.

A. Ausgewählte Regelungen des EG-Umweltrechts

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tive Handhabe bei der Umsetzung der Ausnahmetatbestände zum Informationszugangsrecht zu untermauern. 183 Auch die Gebührenforderung für erteilte Auskünfte sollte sich in einem angemessenen Rahmen bewegen, um so dem Informationsanspruch nicht auf indirektem Wege seine Wirkung zu nehmen. 184 Im übrigen ist daran zu denken, das Umweltinformationsgesetz hinsichtlich der durch den Informationsanspruch verpflichteten Stellen im Sinne der Richtlinie weit auszulegen. 185 Endlich ist vor einem Mißbrauch des Informationsrechts zu Wettbewerbszwecken zu warnen; zu denken ist etwa an die Ausforschung konkurrierender Unternehmen. 186 Die neue Konzeption könnte andernfalls einen erheblichen Akzeptanzverlust erfahren. Die strukturelle Veränderung der deutschen Verwaltungsrechtsordnung geriete ins Stocken.

3. Rechtslage in den anderen Mitgliedstaaten

Um Aussagen über die rechtsvereinheitlichende Wirkung der Umweltinformationsrichtlinie treffen zu können, ist ein Blick auf die Regelungen der übrigen Mitgliedstaaten erforderlich. 187 Während die belgisehen, portugiesischen und spanischen Bestimmungen dem deutschen Grundsatz von der beschränkten Aktenöffentlichkeit entsprechen,188 sieht die Rechtslage in Frankreich, den Niederlanden, Griechenland und Dänemark grundlegend anders aus. Der Öffentlichkeit wird dort seit Jahren ein fast unbeschränktes Informationszugangsrecht gewährt. 189 Italien 183 Vgl. Hegele, in: Hegele I Röger (Hg.), Umweltschutz durch Umweltinformation, 1993, 101/118, die darauf hinweist, daß Art. 3 Abs. 2 der Umweltinformationsrichtlinie dem nationalen Gesetzgeber die Bestimmung der Reichweite der Ausnahmetatbestände fast ganz überläßt; vgl. auch Kremer; NVwZ 1990, 843/844; Theuer; NVwZ 1996, 326/330. 184 Kritisch auch Steinberg, AöR 120 (1995), 5491563; Meininger; NVwZ 1994, 1501 151, die befürchten, daß es zur Abwehrhaltung der Verwaltung gegenüber der lästigen Öffentlichkeit kommt, die sich dann in einer überhöhten Gebührenforderung äußert; ähnlich Theuer; NVwZ 1996, 326/332f.; vgl. auch Faber; DVBI. 1995, 722/728f.; Sehendel, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 39 Rn. 31 ff. 185 Für eine weite Auslegung sprechen sowohl der Wortlaut der französischen als auch der englischen Fassung der Richtlinie; dazu Schwarze, in: ders. (Hg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996, 123/172 f. m. w. N. 186 Vgl. Gurlit, in: Winter (Hg.), Öffentlichkeit von Umweltinformationen, 1990,521, die auf eine Untersuchung hinweist, nach der in den USA etwa 80% der Informationsgesuche direkt oder indirekt von Wirtschaftsuntemehmen stammen sollen; s. auch den Hinweis von Sehendel, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 39 Rn. 71. 187 S. dazu auch Sehendel, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 39 Rn. 14ff. 188 S. v. Schwanenflügel, DVBI. 1991,93/95. 189 Vgl. die Länderberichte in: Winter (Hg.), Öffentlichkeit von Umweltinformationen, 1990; Demmke, in: HegelelRöger (Hg.), Umweltschutz durch Umweltinformation, 1993,

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

wiederum sah bisher ein auf Akten beschränktes Zugangsrecht vor. 190 Auch die britische und die irische Rechtsordnung beinhalteten ursprünglich kein umfassendes Einsichtsrecht in Behördendokumente. Vielmehr waren sie auf bestimmte, umweltbezogene Register begrenzt. 191 Demnach bedarf es vor allem in der Bundesrepublik, Spanien, Portugal und Belgien einer grundlegenden Strukturveränderung der jeweils eigenen Rechtsordnung. Ländern wie Frankreich wird es dagegen leicht fallen, den Anforderungen der Umweltinformationsrichtlinie zu genügen. 192 Eine Rechtsangleichung auf diesem Gebiet wird sich daher erst nach einer (noch ungewissen) Übergangszeit einstellen können.

4. Gerichtliche Durchsetzbarkeit des Informationszugangsrechts Endlich bleibt es der gerichtlichen Durchsetzbarkeit des Informationsanspruches vorbehalten, eine einheitliche Anwendung der Umweltinformationsrichtlinie sicherzustellen. Art. 4 der Richtlinie bestimmt, daß eine "Person, die der Ansicht ist, daß ihr Informationsersuchen zu Unrecht abgelehnt oder nicht beachtet worden ist, oder die von einer Behörde eine unzulängliche Antwort erhalten hat, [ ... ] den Bescheid auf dem Gerichts- oder Verwaltungsweg gemäß der einschlägigen einzelstaatlichen Rechtsordnung anfechten" kann. Dabei stellt sich unter anderem das Problem, inwieweit die Richtlinie schon vor Erlaß des Umweltinformationsgesetzes unmittelbar wirksam war, eine gerichtliche Ge1tendmachung des gewährten Informationsanspruchs also bereits zu diesem Zeitpunkt Erfolg versprach. Dem kann an dieser Stelle allerdings nicht näher nachgegangen werden. 193 Statt dessen soll der Hinweis auf die diesbezüglich eher zurückhaltende Praxis deutscher Verwaltungsgerichte genügen. 194

33/54f.; zur französischen Regelung näher VedellDelvolve, Droit Administratif, Bd. I, 11. Auf!. 1990, 298ff.; Chapus, Droit administratif general, 6. Auf!. 1992, 357ff.; Riedei, EuR Beiheft 1 / 1995, 49/72 f. 190 Vgl. Ladeur; in: Winter (Hg.), Öffentlichkeit von Umweltinformationen, 1990,249/ 268ff. 191 Dazu ausführlich Burmeister; in: Winter (Hg.), Öffentlichkeit von Umweltinformationen, 1990,211 /219ff. 192 Dazu, inwieweit eine Umsetzung in den einzelnen Ländern bereits erfolgt ist, s. KOM (96), 600 endg. /95 f.; s. auch Sehendei, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 39 Rn. 102 ff. 193 Ausführlich dazu Röger; UIG, Kommentar, 1995, Einl Rn. 13; ders., in: Hegele/Röger (Hg.), Umweltschutz durch Umweltinformation, 1993, 147/152 ff.; ders., NuR 1994, 125/ 126f.; Wegener, ZUR 1994, 232/234f.; v. Schwanenflügel, DÖV 1993,95/102; Haller; UPR 1994,88 ff.; s. auch Faber, DVBl. 1995,722 ff.

A. Ausgewählte Regelungen des EG-Umweltrechts

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Hinsichtlich des zur Durchsetzung des Umweltinformationsanspruchs möglichen Rechtsschutzes nach Erlaß des Umweltinformationsgesetzes ist festzuhalten, daß im Gegensatz zur prozessualen Durchsetzbarkeit der UVP-Richtlinie die §§ 46 VwVfG und 44a VwGO auf den verfahrensunabhängigen und selbständigen Informationsanspruch keine Anwendung finden. 195 Eine Berufung auf den Richtlinieninhalt erscheint damit weitaus erfolgversprechender. 196 Auch die Regelung des § 99 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 VwGO verkürzt den Rechtsschutz nicht wesentlich. Zwar kann die Behörde danach die Auskunft über geheimhaltungsbedürftige Informationen, wie etwa Geschäftsgeheimnisse, verweigern. Eine Vereitelung der gerichtlichen Durchsetzung des Informationsanspruchs durch eine floskelhaft begründete Verweigerung der Auskunftserteilung oder Aktenvorlage ist aber nicht möglich. 197 Vielmehr werden unter Berücksichtigung des Zweckes der Umweltinformationsrichtlinie entsprechend hohe Anforderungen an die Glaubhaftmachung der Geheimhaltungsbedürftigkeit des Informationsmaterials gestellt. 198 Mit dem Bundesverwaltungsgericht bedeutete das, daß die geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen im gerichtlichen Verfahren so einleuchtend dargelegt werden müssen, daß sie unter Berücksichtigung rechtsstaatlicher Belange noch als triftig anerkannt werden können. 199 Gleichwohl sollte die Verletzung der Veröffentlichungspflicht, dem amerikanischen Vorbild des "Freedom ofInformation Act" folgend,200 zusätzlich einer Sank194 VG Stade, ZUR 1993,225; OVG Münster, BB 1994,2026; anders hingegen VG Minden, ZUR 1993,284. 195 Röger, in: Hegele/Röger (Hg.), Umweltschutz durch Umweltinformation, 1993, 147 I 148; Blumenberg, NuR 1992, 8/14. 196 Zur Zulässigkeit einer Verpflichtungs- und Leistungsklage s. Röger, in: Hegele/Röger (Hg.), Umweltschutz durch Umweltinformation, 1993, 147/149; Blumenberg, NuR 1992, 8 I 14f. 197 Erichsen, Jura 1993, 180/187; Erichsen/Scherzberg, Zur Umsetzung der Richtlinie des Rates über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt, 1992, 121; Röger, in: Hegele I Röger (Hg.), Umweltschutz durch Umweltinformation, 1993, 147/148 f.; kritisch dagegen Cosack/Tomerius, NVwZ 1993, 841/843f.; Wegener, Zur Umsetzung der EGRichtlinie über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt, 1992,47; zur analogen Anwendung des § 99 Abs. 1 VwGO in den Fällen einer Abwehrklage des Geheimnisträgers gegen die sein Betriebs- und Geschäftsgeheimnis offenbarende Behörde Theuer, NVwZ 1996,326/331 f.; zum Spannungsverhältnis zwischen unternehmerischem Geheimhaltungsschutz und Informationsbedürfnis des Bürgers ausführlich Cosack/Tomerius, NVwZ 1993, 841 ff. 198 So auch der Gesetzesentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN in § 23 Abs. 2 Nr. 1 mit Begründung, BT-Drs. 11 I 1152, 7 f., 38; demgegenüber fordern zahlreiche Stimmen die Einführung des in-camera-Verfahrens nach dem Vo~bild des US-amerikanischen Freedom of Information Act (FOIA), s. Gurlit, ZRP 1989,253/257; Mengel, Die Verwaltung 23 (1990), 377 I 389 f.; wieder andere schlagen eine Regelung ähnlich der des § 26 Abs. 2 BVerfGG vor, s. Blumenberg, NuR 1992, 8/15. 199 BVerwGE 74, 115/120; ebenso Röger, in: Hegeie/Röger (Hg.), Umweltschutz durch Umweltinformation, 1993, 147 1149. . 200 Hierzu Gurlit, Die Verwaltungsöffentlichkeit im Umweltrecht, 1989,56.

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tion unterworfen werden. 201 Die einheitliche Anwendung der Umwe1tinfonnationsrichtlinie könnte so möglicherweise noch besser gewährleistet werden.

III. Die Grundwasserrichtlinie 1. Entstehungsgeschichte und Regelungsgegenstand Aufgrund der zu ihr ergangenen Rechtsprechung 202 von besonderer Bedeutung für das europäische Umweltverwaltungsverfahrensrecht ist eine dritte Richtlinie, die Richtlinie über den Schutz des Grundwassers gegen Verschmutzung durch bestimmte gefährliche Stoffe,203 auch Grundwasserrichtlinie genannt. Sie stellt die in Art. 4 der Richtlinie 76/464 / EWG des Rates v. 4. 5. 1976 betreffend die Verschmutzung infolge der Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemeinschaft,204 kurz Gewässerschutzrichtlinie, angekündigte spezielle Richtlinie für den Schutz des Grundwassers dar und war binnen einer Zweijahresfrist in nationales Recht umzusetzen. 20S Inhaltlich 206 sieht die Richtlinie ein absolutes Verbot der Ableitung von Stoffen aus der Liste I in das Grundwasser vor; insofern stellt sie ein Gebot der Null-Emission auf (Art. 3 lit. a). Demgegenüber ist die Ableitung von Stoffen aus der Liste 11 lediglich zu begrenzen (Art. 3 lit. b). Des weiteren differenziert die Grundwasserrichtlinie zwischen direkten und indirekten Ableitungen, wobei ausschlaggebend ist, ob die Stoffe ohne oder mit Boden- oder Untergrundpassage in das Grundwasser gelangen. Im übrigen werden eingehende Regelungen über die Genehmigung ausnahmsweise zugelassener Ableitungen (Art. 4, 5, 6), deren Befristung (Art. 11) und notwendiger Inhalt, wie der der Festlegung bestimmter Ableitungsverfahren, gebotener Vorsichtsmaßnahmen und Höchstmengenbegrenzungen eines Stoffes in der Ableitung (Art. 9, 10), getroffen. Zweck ist es, die Verschmutzung des Grundwassers soweit irgend möglich zu verhindern und die Folgen der bisherigen Verschmutzung soweit wie möglich einzudämmen oder gar zu beheben (Art. 1). Dazu kommt, daß die "Richtlinie durch die Beseitigung von Unterschieden zwischen nationalen Rechtsvorschriften über 201 Zur Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft, Sanktionen einzuführen, s. näher unten 3. Teil B III I b ce. 202 Dazu sogleich 3. Teil A III 2. 203 Richtlinie des Rates (80/68/EWG) v. 17. 12. 1979 (ABI L 20/43), geänd. durch die Richtlinie des Rates (91/6921 EWG) v. 23. 12. 1991 (ABI L 377 148). 204 ABI L 129/23. 205 Nach Lübbe-Wolff, in: BehrenslKoch (Hg.), Umweltschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1991, 127/146, gelten seither die Regelungen der Gewässerschutzrichtlinie mangels gemeinschaftskonformer Umsetzung der Grundwasserrichtlinie dennoch weiter fort. 206 Vgl. zu Ziel, Inhalt und Entstehungsgeschichte der Richtlinie Kromarek, Vergleichende Untersuchung über die Umsetzung der EG-RL Abfall und Wasser, 1987,49 ff.

A. Ausgewählte Regelungen des EG-Umweltrechts

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die Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe in das Grundwasser gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen Betrieben, die Stoffe in das Grundwasser ableiten, herstellen,,207 soll.

2. Umsetzungsdefizite des deutschen Verwaltungsverfahrensrechts Kaum ein anderes Rechtsgebiet hat zu derart zahlreichen Kontroversen zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten geführt wie die Regelungen zum Schutze des Oberflächen- und Grundwassers. 2os Bezeichnenderweise geht es dabei oftmals um Beanstandungen der fehlerhaften, innerstaatlichen Rechtsanwendung,209 so beispielsweise im Rahmen der Badegewässerrichtlinie hinsichtlich der Festlegung von Grenzwerten für bestimmte Parameter oder der konkreten Ausweisung von Badegewässem als so1che?1O Aber auch die unzureichende normative Umsetzung wird gerügt. Hervorzuheben ist im vorliegenden Zusammenhang insbesondere das 1988 vor dem Europäischen Gerichtshof eingeleitete Verfahren zur Umsetzung der Grundwasserrichtlinie. 211 Während die Bundesrepublik die Ansicht212 vertrat, die Richtlinie sei durch die §§ 2, 3, 19a, 199 ff, 34 WHG, einige landesrechtliche Bestimmungen wie die §§ 44, 44a LWG NW und die Verwaltungsverfahrensgesetze sowie das Abfallgesetz 213 gemeinschaftskonform umgesetzt worden, stellte der Gerichtshof in seinem Urteil vom 28. 2. 1991 das Gegenteil fest. Praktisch keine der genannten Regelungen genüge den an eine ausreichende Umsetzung gestellten Anforderungen. 214 Dieser als "Totalangriff,215 auf die Systematik des deutschen Wasserrechts bezeichnete Einwand betraf zum einen die Rechtsform, zum anderen die inhaltliche Gestaltung der Umsetzung?16 GA van Gerven, EuGH, Sig. 1991,1-825/852 Tz. 10. Zur Fisch- und Muschelgewässerrichtlinie vgl. Kromarek, in: Rengeling (Hg.), Europäisches Umweltrecht und Europäische Umweltpolitik, 1988,59172; zur Badegewässerrichtlinie s. Stellungnahme der Kommission v. 11. 7. 1988, SG (88) D I 8388; zur Trinkwasserrichtlinie EuGH, NVwZ 1993, 257; vgl. auch Demmke, Die Implementation von EG-Umweltpolitik, 1994; ausführlich dazu Breuer, WiVerw 1990, 79 I 82 ff. 209 S.Breuer, WiVerw 1990, 79/82f.; 84. 210 Vgl. EG-Kommission, Schreiben v. 26. 7. 1989, SG (89) DI 10041. 211 EuGH, Sig. 1991,1-825 I 830; mit Anm. von Murswiek, JuS 1992,428 I 430. 212 Ausführlich dazu Lübbe-Wolff, in: Behrens/Koch (Hg.), Umweltschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1991, 127/133 ff. 213 Dazu Kunig, in: Kunigl Schwermer/Versteyl (Hg.), AbfG, 2. Auf!. 1992, § 2 Rn. 29ff.; Versteyl, in: Kunig/Schwermer/Verstey1 (Hg.), AbfG, 2. Auf!. 1992, § 15 Rn. 7ff. 214 So schon die EG-Kommission im Hinblick auf das strikte Verbot der Richtlinie, Stoffe aus der Liste 1 in das Grundwasser einzuleiten, SG (87) D I 0285. 215 Breuer, WiVerw 1990,79/83; zur Kritik vgl. auch Salzwedel, UTR 7 (1989), 65/80 ff., der davon spricht, daß die Grundwasserrichtlinie eine hochabstrakte und hochdifferenzierte Nutzungsordnung über das Grundwasserrecht der Mitgliedstaaten stülpt. 207

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

An dieser Stelle ist allein die Frage von Interesse, inwieweit die nationalen Verfahrensvorschriften mit den Vorgaben der Grundwasserrichtlinie in Einklang stehen. 217 Der Gerichtshof sieht in den durch die Richtlinie vorgegebenen Verfahrensbestimmungen "genaue und detaillierte Vorschriften, die Rechte und Pflichten des einzelnen begründen sollen. Deshalb [müßten] sich diese Bestimmungen in den deutschen Rechtsvorschriften so genau und eindeutig wiederfinden, wie es notwendig [sei], um dem Erfordernis der Rechtssicherheit in vollem Umfang zu genügen".218 Den Verfahrensvorschriften der deutschen Rechtsordnung fehle es an einer solchen Präzision. Die allgemeine, unter Verwendung bestimmter Beweismittel zu erfüllende Amtsermittlungspflicht der §§ 24 und 26 VwVfG, auf die mangels spezialgesetzlicher Regelungen zurückgegriffen werden müsse, entspreche nicht den Anforderungen, die nach Art. 7 der Grundwasserrichtlinie an eine vor der Erteilung von Ableitungsgenehmigungen notwendige hydrogeologische Untersuchung zu stellen seien. 219 Ebensowenig reiche die nationale Vorschrift des § 37 VwVfG über das Enordernis der inhaltlichen Bestimmtheit von Verwaltungsakten aus, um die Festlegung der in der Richtlinie aufgeführten Minimalinhalte des Genehmigungsbescheides nach Art. 9 und 10 sicherzustellen?20 Gleiches gelte für die Möglichkeit der Behörde, gern. § 36 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG eine Befristung des Verwaltungsaktes vorzuschreiben. Der in Art. 11 der Richtlinie vorgesehenen zwingenden Befristung der Genehmigung sei damit nicht hinreichend gedient. 221 Die allgemeinen Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes wurden daher vom Gerichtshof, weil zu vage, als für die Erreichung eines effektiven Grundwasserschutzes ungeeignet angesehen. Nicht einmal eine gemeinschaftskonfonne Verwaltungspraxis sei in der Lage, daran Entscheidendes zu ändern. 222 Vielmehr bedürfe es spezieller, in den Fachgesetzen normierter Verwaltungsverfahrensvorschriften, die den aufgestellten Anforderungen an die Konkretisierung, Genauigkeit und Eindeutigkeit derartiger Regelungen nachkämen?23

216 Ausführlich dazu Breuer; Entwicklungen des europäischen Umweltrechts, 1993, 9 ff.; 40 ff.; 84 ff. 217 Als für den Grundwasserschutz absolut folgenloses, neuartiges Rechtsinstitut auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts gilt das vom Gerichtshof geforderte "antragsablehnende Verbot", s. Lübbe-Wolff, in: Behrens/Koch (Hg.), Umweltschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1991, 127/140. 218 EuGH, Sig. 1991,1-825/878 Rn. 61. 219 EuGH, Sig. 1991-1,825/879 Rn. 63. 220 EuGH, Sig. 1991-1,825/880 Rn. 67. 221 EuGH, Sig. 1991-1,825/880 Rn. 69. 222 V gl. GA van Gerven, EuGH, Sig. 1991, 1-825/850 Tz. 8, der ausführt: "Richtlinien [ ... ] können nicht durch das Zusammenspiel bereits bestehender, ungenauer Bestimmungen einerseits und einer [ ... ] Verwaltungspraxis andererseits umgesetzt werden." 223 EuGH, Sig. 1991,1-825/874 Rn. 36, 879 Rn. 63.

A. Ausgewählte Regelungen des EG-Umweltrechts

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3. Auswirkungen auf die Rechtsvereinheitlichung Vor diesem Hintergrund scheint es verständlich, wenn in der Weigerung des Gerichtshofs, "sich auf irgend etwas anderes als einen abstrakten Normentextabgleich einzulassen [ ... ] die Gefahr [gesehen wird], daß Vertragsverletzungsverfahren, die die Umsetzung von Umweltrichtlinien betreffen, zu Papierkriegen mit rein symbolischer Funktion verkommen".224 Zudem drängt sich die Frage auf, inwieweit der Gerichtshof gegen die mit Art. 249 Abs. 3 EGV 225 verfolgte Intention der Vertragspartner verstößt, die Umsetzung von Richtlinien im Hinblick auf die einzusetzenden Formen und Mittel in die Wahlfreiheit jedes Mitgliedstaates zu stellen. 226 Denn eine strenge, an rein formalen Gesichtspunkten ausgerichtete Rechtsprechung beläßt den Mitgliedstaaten diesbezüglich keinen Handlungs spielraum mehr. 227 Hinzu kommt, daß eine wörtliche Übernahme des Richtlinientextes eine bruchlose Integration des Gemeinschaftsrechts in gewachsene nationale Strukturen weitestgehend unmöglich macht. 228 Gerade das soll bei Erlaß einer Richtlinie jedoch vermieden werden. Andernfalls könnte der Gemeinschaftsgesetzgeber gleich auf das Instrument der Verordnung zurückgreifen. Der Gerichtshof wirkt daher dem Ziel, das er mit seiner Judikatur zu erreichen versucht, und zwar eine einheitliche, richtlinienkonforme Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen, eher entgegen als daß er ihm dient. 229 Zwar ist einzuräumen, daß sich die Mitgliedstaaten trotz aller Schwierigkeiten stets um eine gemeinschaftskonforme Umsetzung der Richtlinien zu bemühen haben. Diese Aufgabe sollte ihnen aber nicht unnötig erschwert werden. Widerstand und Akzeptanzprobleme könnten die Folge sein. Bedenkt man außerdem, daß eine EG-weit einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts maßgeblich davon abhängt, wie die Praxis mit einem Problem umzugehen versucht,230 wird der angesprochene Konflikt noch offenkundiger. Solange in der Praxis etwa aufgrund fehlender Akzeptanz gegenüber EG-rechtlichen Regelungen kein gemeinschaftskonformer VolIzug stattfindet, was zu kontrolIieren den zuständigen Gemeinschaftsorganen überdies äußerst schwer falIt, wird auch die wörtliche Übernahme eines Richtlinientextes keinen Erfolg versprechen. 231 224 Lübbe-Wolf!, in: Behrens / Koch (Hg.), Umweltschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1991, 127/155. 225 Früher Art. 189 Abs. 3 EGY. 226 Gleiche Bedenken äußern Gellermannl Szczekalla, NuR 1993, 54/59; Lübbe-Wolf!, in: Behrens / Koch (Hg.), Umweltschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1991, 127/ 148 f. 227 V gl. Everling, RlW 1992, 379/380. 228 S. dazu die Kritik von Salzwedel! Reinhardt, NVwZ 1991, 946/947, die von einer ,,rechtsmißbräuchlichen und besatzungsrechtsähnlichen Intervention in gewachsene und allein vollzugseffiziente Normstrukturen des nationalen Rechts" sprechen. 229 S. auch Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 56f. 230 Vgl. auch HolderlElworthy, CMLRev. 31 (1994), 123/130f. 231 Nach Lübbe-Wolf!, in: Behrens/Koch (Hg.), Umweltschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1991, 127/142 ff. bestehen bereits Zweifel, ob eine explizite Transposition der

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

Mithin sollte weniger Wert auf eine Übereinstimmung der nationalen Rechtsordnungen in Wortlaut, Systematik und Regelungstechnik, denn auf eine funktional gleiche Wirkung der angeglichenen Normen gelegt werden?32 Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß dem Rechtsanwender das Institut der gemeinschaftskonformen Auslegung zur Seite steht. Sollte er im Einzelfall also feststellen, daß eine Richtlinie keine gemeinschaftskonforme Umsetzung in nationales Recht erfahren hat, so muß er die Bestimmung, soweit möglich, zumindest richtlinienkonform anwenden. In welchen konkreten Fällen eine richtlinienkonforme Auslegung genügt, um auftretenden Implementationsdefiziten zu begegnen, kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben?33 Jedenfalls scheint der Gerichtshof diese Möglichkeit in seinem Urteil zur Grundwasserrichtlinie nicht einmal in Betracht gezogen zu haben. 234 Andernfalls hätte er feststellen müssen, daß die eingangs genannten Vorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze schon keine Umsetzungslücke aufweisen. 235 Das ist darauf zurückzuführen, daß die allgemeinen Verwaltungs vorschriften nicht isoliert, sondern stets in Verbindung mit den in das nationale Recht umgesetzten materiellrechtlichen Vorgaben einer Richtlinie zu betrachten sind. Geht man vor diesem Hintergrund von einer ordnungsgemäßen Umsetzung der materiell-rechtlichen Anforderungen aus, und bedenkt man zugleich, daß die Ermittlung der betreffenden Entscheidungsvoraussetzungen durch den Amtsermittlungsgrundsatz des § 24 VwVfG und bestimmte Beweismittel i. S. d. § 26 VwVfG zwingend vorgeschrieben wird, ist kein Grund dafür ersichtlich, eine mangelhafte Umsetzung des Art. 7 der Grundwasserrichtlinie anzunehmen. Die Begründung des Gerichtshofs, Art. 7 der Richtlinie lege im einzelnen fest, worauf sich die vorherigen Prüfungen i. S. d. Art. 4 und 5 konkret erstreckten, die allgemeinen Verwaltungsverfahrensvorschriften hingegen nicht, ist daher so nicht haltbar. Entsprechendes gilt für die übrigen in den Mittelpunkt der Kritik geratenen Verwaltungs verfahrens vorschriften. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Grundwasserschutz einer Rechtsangleichung des nationalen Verwaltungsvollzugs auf dem Gebiet des Umweltrechts eher abträglich, denn dienlich ist. 236 Überdies Richtlinienbestimmungen in das nationale Recht generell überhaupt in der Lage wäre, eine Änderung der Praxis herbeizuführen. 232 So die einhellige Meinung im Schrifttum Gellermann/Szczekalla, NuR 1993, 54/59; Breuer; Entwicklungen des europäischen Umweltrechts, 1993,85; Lübbe-Wolff, in: Behrensl Koch (Hg.), Umweltschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1991, 127/148 ff.; Grabitz, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 189 Rn. 59. 233 Dazu ausführlich Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 54f. m. w. N. 234 Ähnlich Lübbe-Wolff, in: Behrens/Koch (Hg.), Umweltschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1991, 127 /136 f. 235 S. Breuer; EntWIcklungen des europäischen Umweltrechts, 1993,88. 236 Vereinzelt wird die Hoffnung geäußert, daß die Entscheidung des Gerichtshofs zur Grundwasserrichtlinie kein methodischer Präzedenzfall wird, s. Lübbe- Wolff, in: Behrens 1 Koch (Hg.), Umweltschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1991, 127/156.

A. Ausgewählte Regelungen des EG-Umweltrechts

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liegt ein Verstoß gegen Art. 249 Abs. 3 EGV vor. Nur eine Abkehr von der Forderung nach strikter, gar schon wörtlicher Transposition des Richtlinieninhaltes in nationales Recht könnte hier Abhilfe schaffen. 237

IV. Zusammenfassung Die Gesamtschau ergibt, daß das nationale Verwaltungsvollzugsrecht einem vielseitigen Einfluß europäischer Umweltrechtsakte unterliegt. Hierzu zählen insbesondere die verstärkte Öffentlichkeitsbeteiligung, wie sie die Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung oder die Umweltinformationsrichtlinie festschreiben, und die zunehmende Planifizierung des Anlagenzulassungsrechts. Die Verwirklichung des damit angestrebten verbesserten Umweltschutzes hängt indes entscheidend von der Bereitschaft der Mitgliedstaaten ab, auf gemeinschaftliche Lösungen einzugehen. 238 Daß dies teils einschneidende, teils weniger einschneidende Änderungen der nationalen Rechtsordnungen zur Folge hat, liegt auf der Hand?39 Es gilt, die sich insofern abzeichnende Entwicklung nicht von vornherein als "besatzungsrechtsähnlichen Eingriff' abzuwerten, sondern sorgfaltig zu prüfen, wie eine sinnvolle Integration in bestehende Strukturen erreicht werden kann. Bedenkt man, daß der eine oder andere Ansatz innerstaatlich bereits Gegenstand von Reformüberlegungen war,240 dürften die dabei auftretenden Probleme nicht allzu groß sein. Andererseits muß auch dem Gemeinschaftsgesetzgeber eine gewisse Sensibilität für die mitgliedstaatlichen Belange, insbesondere für die Funktionsflihigkeit der vorhandenen nationalen Umweltrechtssysteme, abverlangt werden. 241 Grundvoraussetzung dafür ist die Abstimmung der einzelnen Richtlinien untereinander, deren Fehlen bisweilen bitter beklagt wird. 242 Hinzukommen muß die Berücksich237 S. auch Steinberg, AöR 120 (1995), 549/574, der in diesem Zusammenhang zudem eine Stärkung der Anwendungskontrolle von EG-Recht als unerläßlich erachtet; hiervon zu unterscheiden ist die Forderung nach der Festlegung eindeutiger Vollzugspflichten, s. Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177/194f. 238 Vgl. Krämer, in: Rengeling (Hg.), Integrierter und betrieblicher Umweltschutz, 1996, 51/78; Steinberg, AöR 120 (1995), 549/589; Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 177 / 206 f. 239 Vgl. Cooper I Child, EuZW 1994, 577. 240 S. dazu etwa den Referentenentwurf für ein UVP-Gesetz Anfang der siebziger Jahre dokumentiert in Cupei, Umweltverträglichkeitsprüfung, 1986, 35 ff., und den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN über das Einsichtsrecht in Umweltakten (AERG), BT-Drs. 11/ 1152 v. 11. 11. 1987. Vgl. auch BR-Drs. 172/87. 241 Steinberg, AöR 120 (1995), 549/589 spricht von einem "Prozeß des Gebens und Nehmens zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten, aber auch der Mitgliedstaaten untereinander". 242 Statt vieler SelinerlSchnutenhaus, NVwZ 1993, 828/830; Feldmann, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 34 Rn. 126; s.

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

tigung der tatsächlichen Bedeutung nationaler Bestimmungen. 243 In Anbetracht einer Gemeinschaftsrechtsprechung, die auf eine fast wörtliche Übernahme von Richtlinientexten besteht, kann davon derzeit bedauerlicherweise keine Rede sein. Endlich ist die Verbesserung der Vollzugskontrolle unabdingbar. Die zu diesem Zweck angestrebte verstärkte Mobilisierung der Öffentlichkeit, die u. a. durch eine Ausweitung der Klagebefugnis auf Umweltverbände, eine Einbeziehung verfahrensrechtlicher Bestimmungen in den Kreis subjektiver Rechte oder eine umfassende Information des Gemeinschaftsbürgers erreicht werden kann, stellt einen begrüßenswerten Ansatz dar. Doch darf angesichts dieses neuen Konzepts nicht aus dem Blick geraten, daß es ebenso Aufgabe der Gemeinschaftsorgane ist, eine effektive Anwendung des EGRechts sicherzustellen. Auf der Rechtsprechungsebene sollte dies durch eine möglichst extensiv verstandene Rechtsfortbildung seitens des Gerichtshofs geschehen, auf der Gesetzgebungsebene durch eine vollständige Ausschöpfung der Kompetenzen zur Schaffung europäischen formellen Verwaltungsrechts und dessen Anwendungskontrolle. Wo genau dabei die Grenzen des noch Zulässigen verlaufen, ist unklar und gewinnt angesichts der Forderung der Bundesregierung, prüfen zu lassen, "inwieweit die Europäische Union berechtigt ist, so weit in die Verwaltungsverfahren einzugreifen, wie es der Richtlinien-Vorschlag [zur IVU-Richtlinie]244 vorsieht",245 erneut an Aktualität. Die Beantwortung dieser Frage wird Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen sein.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers zum Erlaß weiteren formellen europäischen Umweltrechts I. Einführung 1. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung

Nach Art. 5 Abs. 1 EGV 246 ist der GemeinschafLein Tätigwerden nur innerhalb der Grenzen der ihr vertraglich zugewiesenen Befugnisse erlaubt. Das darin zum Ausdruck kommende "Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung,,247 unterauch Sach, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 44 Rn. 20, 63. 243 S. Breuer, Entwicklungen des europäischen Umweltrechts, 1993,73 f. 244 Zur IVU-Richtlinie s. näher Dürkop/Kracht/Wasielewski, UPR 1995, 425ff.; Wasielewski, UPR 1995, 90ff.; Becker, DVBI. 1997, 588ff.; Schendel, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 39 Rn. 105 ff. 245 Stellungnahme der Regierung der Bundesrepublik Deutschland v. 6. 1. 1994, tw. abgedr. bei Hennecke, WiVerw 1995,80/102; kritisch auch Schnutenhaus, NVwZ 1994,671/ 672m. w. N. 246 Früher Art. 3b Abs. 1 EGY.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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streicht die Tatsache, daß nicht etwa ein neu auftretender Regelungsbedarf, sondern allein die den Gemeinschaften vertraglich verliehenen Zuständigkeiten deren Rechtsetzungskompetenz begründen?48 Gleiches gilt für die Rechtsangleichungsbefugnis der .Europäischen Gemeinschaft. 249 Eine Harmonisierung des Verwaltungsvollzugs der Mitgliedstaaten durch fonnelles europäisches Umweltverwaltungsrecht, d. h. durch Verwaltungsorganisations-, -verfahrens- und -prozeßrecht, kommt demnach nur in Betracht, wenn das primäre EG-Recht der Gemeinschaft eine entsprechende Kompetenz zuweist. Daneben muß den einschlägigen, im Vertrag angelegten Zielen entsprochen 25o und es müssen die von den Verträgen im konkreten FaiI zugelassenen Handlungsfonnen eingehalten werden. 251 Während der Erlaß von Rechtsvorschriften durch die Mitgliedstaaten somit die Regel bildet, stellt die Zuständigkeit der Gemeinschaft die einer Legitimation bedürftige Ausnahme dar. 252

2. Implizite Kompetenzen Um den genauen Umfang der zugewiesenen Gemeinschaftskompetenzen zu ermitteln, bedarf es der Auslegung der vertraglichen Kompetenznonnen. Die ungeschriebenen Kompetenzen, sog. "implied powers", lassen sich dabei als Hilfe heranziehen. 253 Sie kommen dann zum Tragen, wenn eine ausdrücklich zugewiesene Kompetenz verständlicherweise nicht geregelt werden kann, ohne daß gleichzeitig eine andere, nicht ausdrücklich zugewiesene Materie mitgeregelt wird. 254 Im Gegensatz zu Art. 308 EGV werden die Befugnisse hierbei aus bereits vorhandenen Gemeinschaftszuständigkeiten hergeleitet. 255 Als typisches Beispiel soll die den Gemeinschaften bei gegebener und ausgenutzter Binnenkompetenz zustehende 247

Häufig auch als Prinzip der begrenzten Kompetenzzuweisung bezeichnet, s. etwa bei

Jarass, AöR 121 (1996), 173/ 174; ders., Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft und die Folgen für die Mitgliedstaaten, 1997, 4 ff. 248 Oppermann, Europarecht, 1991, Rn. 432; vgl. auch Schröer; Die Kompetenzverteilung, 1992, 28 f.; Kraußer; Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWG-Vertrags, 1991, 21 ff.; Thiel, Umwe1trechtliche Kompetenzen in der Europäischen Union, 1995,28 f.; vgl. auch BVerfGE 89, 155/192 ff., 209. 249 Klein, in: Starck (Hg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, 1992, 117/127. 250 Eine Ausnahme bildet Art. 308 EGV (früher Art. 235 EGV), nach dem allein die Wahrnehmung eines Vertragszie1es zur Kompetenzbegründung ausreicht, s. Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 12; v. Borries, EuR 1994,263/267. 251 Dazu Stettner; in: Dauses (Hg.), Hdb des EG-Wirtschaftsrechts, 1997, A. IV Rn. 9. 252 Jarass, AöR 121 (1996), 173/175; ders., EuGRZ 1994,209/213. 253 Dörr; EuZW 1996, 39/40; vgl. auch Klösters, Kompetenzen der EG-Kommission, 1994,91 f. 254 EuGH, Slg. 1955/56,297/312; Slg. 1960, 6811708f.; 1987,3203/3253 Rn. 28; 1988, 5545/5560 Rn. 8. 255 Nicolaysen, Europarecht 1,1991,131.

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

Außenkompetenz dienen?56 Die Lehre von den ,,implied powers" zielt folglich nicht auf die Schaffung neuer, sondern auf die Auslegung der im Vertrag bereits explizit vorhandenen Befugnisse ab?51 Die Regelung des Art. 308 EGV, die erst dann eingreift, wenn ein Vertrags ziel auf der Grundlage bestehender Kompetenzvorschriften nicht erreicht werden kann, tritt denknotwendig als subsidiäre "Ergänzungsnorm" dahinter zurück. 258 Bestätigung findet diese Ansicht in der Tatsache, daß die Vertragsparteien Art. 308 EGV in Kenntnis der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den impliziten Kompetenzen in den damaligen EWGVertrag einfügten, ohne zu verdeutlichen, daß damit eine Einschränkung bereits bekannter Auslegungsgrundsätze verbunden sein sollte?59 Auch das Prinzip der begrenzten Einze1ermächtigung steht dem Institut der "implied powers" nicht entgegen. Denn die Beschränkung der Gemeinschaftsorgane auf diejenigen Kompetenzen, die ihnen nach den vertraglichen Grundlagen ausdrücklich zugewiesen sind, verbietet nicht die Auslegung dieser Kompetenznormen, um den wirklichen Umfang der zugewiesenen Kompetenzen zu errnitteln?60 Allerdings müssen aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung die Anwendungsvoraussetzungen der implied powers eng gefaßt werden. Das bedeutet insbesondere, daß mit ihrer Hilfe keine anderen als die in der jeweiligen Vertragsnorm vorgesehenen Handlungsmittel verwendet werden dürfen. Die implied powers erlauben also nicht mehr, als was "die vollständige und wirksame Ausführung einer ausdrücklich zugeteilten Kompetenz erfordert".261 Sie besitzen daher nur einen "begrenzten Anwendungsrahmen".262 Während eine ungeschriebene Kompetenz kraft Sachzusammenhangs eine Zuständigkeit der Gemeinschaft zur Regelung einer der ausdrücklich zugewiesenen Befugnis benachbarten Materie begründet, stellt die Annexkompetenz eine Hilfsregelung im weitesten Sinne dar. 263 Sie erstreckt die explizit zugeteilte Kompetenz 256 Dazu EuGH, Sig. 1971,263/275 Rn. 23129; 1976, 1279/1309 Rn. 16ff.; 1994, 5267ff.; weitere Beispiele bei Nicolaysen, Europarecht 1,1991,131; zu der jüngsten EuGHRspr. auf diesem Gebiet s. Dörr, EuZW 1996, 39 ff.; Hilf, EuZW 1995, 7 f.; Bourgeois, CMLRev. 32 (1995),763 ff. 257 Kahl, NVwZ 1996, 865 I 867; Peruzzo, Das Problem der implied-powers der Organe der EG, 1979,38,45 f., 68 ff. 258 Dörr, EuZW 1996, 39/40; vgl. dazu auch Bleckmann, Europarecht, 6. Auf). 1997, Rn. 798; Schwanz, in: G/T IE (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Auf). 1991, Art. 235 Rn. 11; Rengeling, EuR 1974,216/220. 259 v. BogdandylNettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand: 1997, Art. 3b Rn. 9. 260 Vgl. Himmelmann, EG-Umweltrecht und nationale Gestaltungsspielräume, 1997,73; v. Borries, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 25 Rn. 17. 261 Nicolaysen, EuR 1966, 1291135; vgl. auch Schreiber, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 139. 262 lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 436. 263 Zur Terminologie s. "Jarass, AöR 121 (1996), 173 I 176f.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Uinweltrecht

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auf das Stadium der Vorbereitung und Durchführung?54 Demnach kommt sie etwa dann zum Tragen, wenn die Mitregelung von Verfahrensfragen notwendig ist, um von einer Sachkompetenz Gebrauch machen zu können. 265 Eine "implied power" greift also, wie gesagt, nur unter der Voraussetzung ein, daß eine einheitliche und wirksame Anwendung des EG-Rechts dies zwingend erfordert. 266 Darüber hinaus können sich nach überwiegender Ansicht im Schrifttum267 weitere Kompetenzen aus der Natur der Sache ergeben. Wie die Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs und die Annexkompetenzen finden auch sie ihre Grundlage in der teleologischen Auslegung. 268 Voraussetzung ist, daß "eine Regelung begriffsnotwendig bzw. evident nur durch die EG-Organe selbst erfolgen kann und jede andere sachgerechte Lösung zwingend ausscheidet".269 Eine Anknüpfung an geschriebene Kompetenzen fehlt.

3. Die finale und dynamische Ausrichtung der Befugnisnormen a) Neben den impliziten Kompetenzen wird das "Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung" erheblich dadurch relativiert, daß die einzelnen Befugnisnormen des EG-Vertrags zumeist auf die Erreichung bestimmter Ziele abstellen. 27o Als ein typisches Beispiel auf dem Gebiet des Umweltrechts dient Art. 175 Abs. 1 EGV. 271 Die Vorschrift ermächtigt den Rat dazu, "über das Tätigwerden der Gemeinschaft zur Erreichung der in Artikel 174272 genannten Ziele" zu beschließen. Welcher Art diese Ziele sind, wird in Art. 174 EGV genauestens festgelegt. Daraus geht die finale Ausrichtung der umweltrechtlichen Gemeinschaftskompetenzen recht deutlich hervor. Gleiches gilt für andere Politikbereiche, die hier jedoch nicht im einzelnen aufgeführt werden sollen. 273 Festzuhalten ist, daß die durchweg anzutreffende weitgefaßte Zielbeschreibung der Vertragsbestimmungen im Gegensatz zu den sachgebietsbezogenen Ermächtigungen der bundesdeutschen Kompetenzordnung eine äußerst extensive Auslegung der jeweiligen Befugnisnorm nahele264 v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 3b Rn. 10; zur Parallele auf bundesstaatlicher Ebene s. Grabitz, AöR 111 (1986), 1/25 f. 265 Vedder, EuR Beiheft 1/ 1995, 75/92 f. 266 Vgl. Jarass, AöR 121 (1996), 173/177, der darauf hinweist, daß sich der Europäische Gerichtshof in diesem Zusammenhang häufig auf das Effektivitätsprinzip beruft. 267 Vgl. nur v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 3b Rn. 10 m. w. N. 268 Vgl. Kahl, NVwZ 1996, 865/868. 269 Kahl, NVwZ 1996, 865/868. 270 Dazu ausführlich Jarass, AöR 121 (1996), 173/178 ff. 271 Früher Art. 130s Abs. 1 EGY. 272 Früher Art. 130r EGV. 273 Vergleiche insofern die Auflistung bei Jarass, AöR 121 (1996), 173/179.

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

gen. 274 Dies gilt umso mehr, als dem Gemeinschaftsgesetzgeber ein erheblicher Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage zusteht, ob die vorgesehene Maßnahme dem Gemeinschaftsziel überhaupt förderlich ist. 275 Der Erlaß zahlreicher Umweltrechtsakte zu einem Zeitpunkt, in dem die Einheitliche Europäische Akte (EEA) noch keine Spezialermächtigungen für diesen Rechtsbereich eingeführt hatte, bestätigt diesen Befund. 276 b) Darüber hinaus ist den Gemeinschaftskompetenzen ein dynamisches, auf fortschreitende Integration der Gemeinschaft angelegtes Element inhärent. 277 In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kommt dies darin zum Ausdruck, daß bei der Ermittlung der Kompetenzgrenzen stets auf den "gegenwärtigen Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts,,278 abgestellt wird. Daneben ist in Regelungen wie Art. 2 Abs. 1,5. SpStr. 279 und Art. 3 Abs. 1 EUy280 von "Weiterentwicklung" des gemeinschaftlichen Besitzstandes die Rede, während Art. 4 Abs. 1 EUy281 dem Europäischen Rat die Aufgabe zuweist, "der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse" zu geben; Hinweise darauf, daß sich die Gemeinschaftsbefugnisse im Laufe der Zeit ausdehnen können,z82 Dieser Befund entbindet die Gemeinschaft jedoch nicht von ihrer Pflicht zur Einhaltung der ihr zugewiesenen Kompetenzgrenzen. Neue Befugnisse, die das Pflichten- und Kompetenzgefüge des EG-Vertrags verändern, dürfen nicht geschaffen werden. 283 Gleich der Rechtsfortbildungskompetenz des Gerichtshofs muß sich also auch die Yerwaltungskompetenz des Gemeinschaftsgesetzgebers an den im folgenden näher darzulegenden Vorgaben messen lassen. Sollte sich die Ausschöpfung der Gemeinschaftsbefugnisse im Einzelfall nicht daran halten und auf eine Yertragserweiterung hinauslaufen, entfaltet sie für die Bundesrepublik jedenfalls keine Bindungswirkung. 284

274 Der EuGH greift etwa in knapp der Hälfte seiner Entscheidungen auf die Ziele des Vertrags- und Sekundärrechts als Auslegungshilfe zurück, so Bleckmann, in: Dauses (Hg.), Hdb des EG-Wirtschaftsrechts, 1997, B. I Rn. 15 mit den entsprechenden Rechtsprechungshinweisen. 275 Vgl. Jarass, AöR 121 (1996), 173/180; vgl. auch Steindorff, Grenzen der EG-Kompetenzen, 1990, 109. 276 Vgl. Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 12. 277 S. Jarass, AöR 121 (1996), 173/181. 278 Statt vieler s. EuGH, Slg. 1989, 1105/1129 Rn. 16. 279 Früher Art. B Abs. 1,5. SpStr. EUV. 280 Früher Art. C Abs. 1 EUV. 281 Früher Art. D Abs. 1 EUV. 282 v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 3b Rn. 7. 283 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 5 Rn. 23. 284 Vgl. BVerfGE 89, 155/210; dazu Schweitzer, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 26 Rn. 88 ff.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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4. Grenzen einer an EtTektivitätsgesichtspunkten ausgerichteten Vertragsauslegung

Im Hintergrund einer möglichst extensiven Auslegung von Befugnisnormen steht die Idee, den Bestimmungen des EG-Vertrags zu einer größtmöglichen Wirksamkeit zu verhelfen. 285 Dem Europäischen Gerichtshof zufolge ist das EG-Recht demnach so auszulegen,.daß die Gemeinschaft und ihre Organe in die Lage versetzt werden, auf eine möglichst wirksame Erreichung der allgemeinen Vertragsziele hinzuwirken. 286 Grundsätzlich ist dem zuzustimmen. Dennoch gilt es, bestimmte Grenzen einzuhalten. Der eindeutige Wortlaut der Befugnisnorm ist eine davon. 287 Eine Begrenzung ergibt sich danach insoweit, als die speziellen Merkmale der jeweiligen Kompetenzvorschrift erfüllt sein müssen. Wahrend Art. 95 EGV288 etwa eine unmittelbare Auswirkung der anzugleichenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten auf den Gemeinsamen Markt voraussetzt, bestimmt Art. 308 EGV u. a., daß die betreffende Regelung der Verwirklichung eines Vertragsziels dienen muß. Ferner ist ein Tätigwerden der Gemeinschaft i.d.R. auf bestimmte Arten von Maßnahmen beschränkt; bei Art. 163 Abs. 2 EGV 289 beispielsweise auf die Förderung nationaler Zusammenarbeitsbestrebungen von Unternehmen. 29o Des weiteren stößt der Erlaß eines Gemeinschaftsrechtsaktes dann an seine Grenzen, wenn er durch keine vertraglich festgelegte Kompetenz gedeckt ist. Das gilt selbst für den Fall, daß der Gemeinschaftsrechtsakt die Wahrnehmung von Vertragszielen zum Gegenstand hat. Denn der Schluß von der Aufgabe auf die Befugnis ist, soweit Art. 308 EGV unberücksichtigt bleibt, unzulässig und kann dem Mangel damit nicht abhelfen. 291 Umgekehrt ist eine Maßnahme der Europäischen Gemeinschaft auch dann rechtswidrig, wenn sie keines der im EG-Vertrag vorgegebenen Ziele verfolgt. 292 Eine gegenteilige Position verstieße gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung wie es in Art. 5 Abs. 1 EGV zum Ausdruck kommt. Endlich sind bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zu beachten. 293 Sollte eine Zielerreichung 285 Vgl. Pernice, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 164 Rn. 27. 286 EuGH, Sig. 1993,1-809/813. 287 EuGH, Sig. 1973, 283/288 Rn. 4; 1978, 611/ 619 Rn. 6. 288 Früher Art. 100a EGY. 289 Früher Art. 130f Abs. 2 EGY. 290 Vgl. dazu Jarass, AöR 121 (1996), 173/179, 181 f. 291 Vgl. Zuleeg, in: G/T IE (Hg.), Kommentar zum EU-lEG-Vertrag, 5. Auf!. 1997, Art. 2 Rn. 5; Jarass, AöR 121 (1996), 173/175 f.; Hillgruber, in: v. Danwitz u. a. (Hg.), Auf dem Wege zu einer Europäischen Staatlichkeit, 1993, 31/40. 292 S. dazu v. BogdandylNettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 3b Rn. 5.

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

demnach auch auf mitgliedstaatlicher Ebene möglich sein oder. eine vorgesehene Maßnahme über das erforderliche Maß hinausgehen, sieht sich die Europäische Gemeinschaft nach Art. 5 Abs. 2, 3 EGVan einer Kompetenzausübung gehindert. Solange die genannten Voraussetzungen eingehalten werden, befindet sich eine an Effektivitätsgesichtspunkten ausgerichtete Vertragsauslegung im Rahmen des Zulässigen. Eine mangels Bindungswirkung unbeachtliche Vertragserweiterung liegt dann nicht vor.

11. Die Verwaltungsorganisation 1. Die Aufgabenverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten a) Grundlagen Ein Gebiet, auf dem eine Harmonisierung der unterschiedlichen nationalen Verwaltungsvollzugssysteme in Betracht kommt, ist das Verwaltungsorganisationsrecht. Es regelt die Bildung, Errichtung, Einrichtung, Änderung, Aufuebung und Abwicklung von Verwaltungsträgern, Behörden und anderen Verwaltungs stellen durch die Bestimmung ihrer Zuständigkeiten, ihrer Zusammenhänge und ihrer inneren Ordnung sowie durch ihre persönliche und sachliche Ausstattung. 294 Zwar sind gern. Art. 175 Abs. 4 EGV grundsätzlich die Mitgliedstaaten für die Durchführung der gemeinschaftlichen Umweltpolitik verantwortlich?95 Im Rahmen des nationalen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht sind sie es also, die die zuständigen Behörden und deren personelle und sachliche Ausstattung festiegen?96 Doch gilt dies nur unter dem Vorbehalt, daß das Gemeinschaftsrecht nichts anderes bestimmt. 297 Voraussetzung dafür ist, daß sich die Europäische Gemeinschaft bei Erlaß verwaltungsorganisatorischer Maßnahmen auf eine entsprechende Kompetenzgrundlage stützen kann. 298 Anerkannt ist, daß Vorschriften wie Art. 37,47 Abs. 2, 293 Vgl. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 5 Rn. 22. 294 WolfflBachof, VwR II, 4. Aufl. 1976, § 78 I a; Rudolf, in: Erichsen (Hg.), AllgVwR, 10. Aufl. 1995, § 56 Rn. 1. 295 Entsprechendes gilt nach Art. 10 EGV (früher Art. 5 EGV) für diejenigen Umweltrechtsakte, die auf der Grundlage der Art. 94 ff. EGV (früher Art. 100 ff. EGV) ergangen sind; vgl. Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177/181; Rengeling, in: Bieber u. a. (Hg.), Das Europa der zweiten Generation, GS für Sasse, Bd. I, 1981, 197/198 ff. 296 Schweitzer; Die Verwaltung 1984, 137/162; Rengeling, KSE 27 (1977), 26, 33 f.; Hilf, Die Organisationsstruktur, 1982, 202. 297 S. oben 2. Teil D 11. 298 S. oben 3. Teil B I 1; vgl. auch Engel, Die Verwaltung 1992,437/460.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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94, 95, 133 oder 308 EGy 299 wenigstens in einer der genannten Hinsiehten dazu zählen. 3oo Dagegen kommen diejenigen Vorschriften nicht als Kompetenzgrundlage für verwaltungsorganisatorische Maßnahmen der Gemeinschaft in Betracht, die die Organisationshoheit eindeutig nationalen Behörden zuweisen. Das ist dann der Fall, wenn von "den Behörden der Mitgliedstaaten" (Art. 84 EGy 301 ), den "zuständigen Behörden" (Art. 85 Abs. 1 EGy 302) oder den "zuständigen Yerwaltungen der Mitgliedstaaten" (Art. 44 Abs. 2 lit.b EGy 303 ) die Rede ist. Denn dann trifft der EG-Vertrag gerade keine Aussage darüber, welches nationale Organ zuständig sein soll, sondern überläßt dies den Mitgliedstaaten. 304

b) Das" 1ätigwerden" der Gemeinschaft nach Art. 175 Abs. 1 EGV Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Gemeinschaft organisatorische Rechtsetzungsmaßnahmen - und nur um die geht es hier305 - auf die umweltrechtliehe Norm des Art. 175 Abs. 1 EGY stützen kann, ist nach wie vor unklar. Die Stellungnahmen im Schrifttum ließen bislang eher auf eine allgemein restriktive Siehtweise schließen. 306 Begründet wird dies damit, daß das Yerwaltungsorganisationsrecht eines Staates in besonderem Maße dessen Eigenart und Identität widerspiegele und sich damit als Kern seiner inneren Souveränität erweise?07 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entscheide daher auch allein das Yerfassungssystem der einzelnen Mitgliedstaaten, in welcher Weise der Staat die Ausübung der sieh für ihn ergebenden Befugnisse oder Pflichten zur Anwendung Früher Art. 43, 57 Abs. 2, 100, 100a, 113 oder 235 EGV. Vgl. Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993,924/926,930; Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 1771 182f.; ders., Der Schutz der finanziellen Interessen, 1994, 86f.; Hilf, Die Organisationsstruktur, 1982,203; v. Bogdandy, in: Grabitzl Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 5 Rn. 43; Götz, EuR 1986, 29/33; Streinz, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991, 241 1245 (Fn.30). 301 Früher Art. 88 EGY. 302 Früher Art. 89 Abs. 1 EGV. 303 Früher Art. 54 Abs. 3 lit. b EGY. 304 Weitere Beispiele bei Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994,86; Rengeling, EuR 1974,216/226. 305 Zu den Kompetenzgrundlagen für den Erlaß von Einzelfallmaßnahmen, s. unten 4. Teil A. 306 S. Götz, EuR 1986, 29/32 f., der vom "Kern eines ungeschriebenen organisationsrechtlichen Reservatbereiches der Mitgliedstaaten" spricht; Hilf, in: Schwarze (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1982, 67171, 76; Scheuing, EuR 1985,229/249; Oebbecke, in: Ipsen/Rengeling/Mössner/Weber (Hg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995,607/610; s. dagegen Engel, Die Verwaltung 1992, 437/456, für den die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in eine andere Richtung weist. 307 Schwarze, in: ders. (Hg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996, 123/148. 299

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7 Nitschke

3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den VerwaltuIigsvollzug

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des Gemeinschaftsrechts bestimmten innerstaatlichen Organen übertragen könne. 30B Unterstützung finde dieser Befund in Art. 10 Abs. 1 EGV, der die Mitgliedstaaten verpflichte, ihre nationale Verwaltungsorganisation so auszugestalten, daß eine effektive und einheitliche Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts gewährleistet sei. 309 Dabei seien Parallelen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 310 betreffend den Schutz der Grundrechte durch Organisation und Verfahren nicht zu übersehen?1I Art. 175 Abs. 1 EGV sei also restriktiv auszulegen und schließe verwaltungsorganisatorische Maßnahmen daher nicht mit ein. Gegen diese Ansicht spricht ein Vergleich des Art. 175 Abs. 1 EGV mit ähnlich weit formulierten Vorschriften wie Art. 34 Abs. 2 EGV, der die Gemeinschaft ausdrücklich ermächtigt, "alle zur Durchführung des Art. 33 312 erforderlichen Maßnahmen" zu treffen. 313 Der Wortlaut steht einer Zuweisung von Organisationsgewalt an die Gemeinschaft nicht entgegen. Der Europäische Gerichtshof hat denn auch festgestellt, daß Art. 34 Abs. 2 i. V. m. Art. 37 Abs. 2 EGV u. a. zu solchen Maßnahmen ermächtigt, die "eine spezifische Handhabung für die Verwaltung" darstellen und dazu dienen, "die ordnungsgemäße Verwaltung [ ... ] sicherzustellen".314 Warum bei dem ähnlich gefaßten Art. 175 Abs. 1 EGVetwas anderes gelten soll, ist nicht ersichtlich. Wenn die Vorschrift auch keine Ermächtigung zum Erlaß "aller erforderlichen Maßnahmen" beinhaltet, so dürfte mit der Formulierung "der Rat beschließt [ ... ] über das 1ätigwerden315 der Gemeinschaft" dennoch ein vergleichbar weit gefaßter Kompetenzrahmen abgesteckt sein?16 Selbst Vertreter der Gegenansicht räumen ein, daß der Wortlaut der betreffenden Normen für eine restriktive Sichtweise im Grunde keinen Anhaltspunkt bietet. 317 Um das gewünschte Ergebnis einer, wenn auch äußerst beschränkten, so doch aber grundsätzlich beVgI.EuGH,Slg.1977, 1091/1124 Rn. 14f.; 1983,2633/2665 Rn. 17f. EuGH, Slg. 1990, 1-2321/2360 Rn. 20; 1982, 153/157 Rn. 5; Streinz, in: Isenseel Kirchhof (Hg.), HdbStR VII, 1992, § 182 Rn. 19; Schwarze, in: ders. (Hg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996, 123/149; Ress, in: Burmeister (Hg.), Die verfassungsrechtliche Stellung der Verwaltung, 1991, 199/205; Everling, DVBI. 1983,649/653; Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177/182 m.w.N. 310 BVerfGE 53,30/65; dazu Szczekalla, in: RengeIing (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 12 Rn. 27. 311 Zu Recht weist Rengeling, DVBI. 1986, 306/309 allerdings darauf hin, daß diese Parallelbetrachtung bei der Kompetenzfrage nicht weiterhilft. 312 Früher Art. 39 EGY. 313 Ähnlich weit gefaßte Kompetenznormen sind Art. 40 vor lit. a ("alle erforderlichen Maßnahmen"; früher Art. 49) und Art. 71 Abs. 1 lit. d ("alle sonstigen zweckdienlichen Vorschriften"; früher Art. 75). 314 EuGH, Slg. 1992,1-5383/5431 Rn. 26. 315 Hervorhebung durch die Verfasserin. 316 So auch v. Borries, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 25 Rn. 22; vgl. zu den verschiedenen Termini Jarass, AöR 121 (1996), 173/182. 317 Hilf, Die Organisationsstruktur, 1982,203; vgl. auch Rengeling, DVBI. 1986,306/309. 308 309

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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stehenden Organisationsgewalt der Gemeinschaft zu erzielen, bevorzugen sie dessenungeachtet einen Rückgriff auf das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 EGv. 318 Danach seien "Eingriffe der Europäischen Gemeinschaft in die verwaltungsorganisatorische Autonomie der Mitgliedstaaten auf der Grundlage materieller Recht~ setzungsermächtigungen [immer, aber auch] nur dann zulässig, wenn sie zur Sicherung der effektiven und einheitlichen Durchführung des Gemeinschaftsrechts zwingend und unumgänglich erforderlich sind". Diese Sichtweise läßt unberücksichtigt, daß das Subsidiaritätsprinzip eine "Kompetenzausübungsschranke" und keine "Kompetenzbegründungsnorm" iSt. 319 Die Befugnisse der EG-Organe bleiben durch das Subsidiaritätsprinzip also unberührt?20 Eine durch einen Rückgriff auf Art. 5 EGVerzielte Erweiterung der materiellen Rechtsetzungskompetenzen der Gemeinschaft ist damit unvereinbar und somit abzulehnen. Jedenfalls liegt die Annahme nahe, daß den weiten Kompetenzbestimmungen der Verträge vom Wortlaut her kein rein materiell-rechtlicher Gehalt entnommen werden kann, und sich damit auch aus Art. 175 Abs. 1 EGV Gemeinschaftsbefugnisse zum Erlaß verwaltungsorganisatorischer Rechtsakte ergeben. 321 Dafür spricht - wie gesagt - der offene Wortlaut des Art. 175 Abs. 1 EGV, aber auch seine teleologisch-dynamische Auslegung, die darauf abzielt, den praktischen Nutzen der jeweiligen Vorschrift zur bestmöglichen Entfaltung zu bringen. Immerhin wurden eine Reihe von Umweltrechtsakten, die zumindest auch Aspekte des Allgemeinen Verwaltungsrechts betreffen, auf diese Norm gestützt. Zu nennen sind hier nur die Verordnung (EWG) Nr. 1836/93 des Rates vom 29. 6. 1993 über die freiwillige Beteiligung gewerblicher Unternehmen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung 322 oder die Richtlinie 901 313/EWG des Rates vom 7. 6. 1990 über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt. 323 Hinzu kommt, daß sich zwischen materiell-rechtlichen und formell-rechtlichen Regelungen oft kaum unterscheiden läßt. Ein Beispiel dafür stellt das Problem der Festlegung von Grenzwerten und entsprechender Meßverfahren zur Kontrolle ihrer Einhaltung dar?24 Hier zu unterscheiden und die eine 318 Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177/183. 319 In einem gewissen Widerspruch dazu steht die gleichwohl korrekte Bezeichnung des Subsidiaritätsprinzips als Kompetenzausübungsregelung; zur Terminologie s. Jarass, EuGRZ 1994,209/213; Pieper, DVBI. 1993,7051707. 320 Jarass, EuGRZ 1994,209/213; Jarass/Schreiber, in: Jarass/Neumann (Hg.), Leistungen und Grenzen des EG-Umweltschutzes, 1994, 124/136. 321 So Kahl, NVwZ 1996, 865/866. 322 ABI L 168/1. 323 Dazu s. oben 3. Teil A 11. 324 Zwar mag das Problem hinsichtlich verwaltungsorganisatorischer Maßnahmen in Abgrenzung zu materiell-rechtlichen Regelungen weitaus geringer erscheinen, doch ist es auch hier nicht ganz auszuschließen.

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

Maßnahme auf Art. 175 Abs. 1 EGV zu stützen, die andere nicht, erscheint unpraktikabel, wenn nicht gar widersinnig. Somit erstreckt sich das nach Art. 175 Abs. 1 EGV zulässige "Tätigwerden der Gemeinschaft" auch auf verwaltungsorganisatorische Rechtsetzungsmaßnahmen im Umweltbereich. c) Einschränkung des Art. 175 Abs. 1 EGV durch Art. 175 Abs. 4 EGV

Möglicherweise könnte sich aus Art. 175 Abs. 4 EGVeine Begrenzung der EGrechtlichen Kompetenz zum Erlaß verwaltungsorganisatorischer Vorschriften nach Art. 175 Abs. 1 EGVergeben. In Absatz 4 heißt es, daß "unbeschadet bestimmter Maßnahmen gemeinschaftlicher Art [ ... ] die Mitgliedstaaten für die Finanzierung und Durchführung der Umweltpolitik Sorge" tragen. Art. 175 Abs. 4 EGV statuiert damit ein Regel-Ausnahme-Verhältnis: Die Formulierung der Vorschrift legt nahe, daß in der Regel den Mitgliedstaaten die Finanzierung und Verwaltung der Umweltpolitik obliegt und nur im Ausnahmefall der Gemeinschaft. Hierin kommt deutlich das Subsidiaritätsprinzip zum Ausdruck. Wie wichtig seine Einhaltung dem Gemeinschaftsgesetzgeber gerade im Bereich der Umweltpolitik ist, zeigt sich darin, daß sich vor Inkrafttreten des Art. 5 Abs. 2 EGV dessen einzige primärrechtliche Verankerung in Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV fand. Die Gemeinschaft muß bei der Inanspruchnahme der ihr zustehenden Verwaltungskompetenz demnach äußerst restriktiv vorgehen. 325 Wann sie dabei ihre Befugnisse überschreitet, läßt sich allerdings abstrakt kaum bestimmen. Eine entsprechende Beurteilung muß daher der Betrachtung im Einzelfall überlassen bleiben. Sinnvoll erscheint, von der Gemeinschaft einen Nachweis erbringen zu lassen, daß der Vollzug des gemeinschaftlichen Umweltrechts ohne einen EG-rechtlichen Eingriff in die nationale Verwaltungs struktur nicht ordnungsgemäß ausgeführt werden kann, sich das nationale Verwaltungsorganisationsrecht zur Sicherung einer einheitlichen und effektiven Anwendung des materiellen Umweltrechts also außerstande sieht. 326 Gemeinschaftsmaßnahmen mit lediglich vollzugsoptimierender Wirkung zählen nicht dazu. 327 Welche Fallkonstellationen dagegen erlaßt werden, ist mit Hilfe der Implementationsforschung zu ermitteln. Danach lassen sich diejenigen Bereiche ausmachen, die Vollzugsdefizite aufweisen?28 Bei der anschließenden Frage, ob 325

121.

So auch Schreiber; Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997,

326 Vgl. Zuleeg, KSE 9 (1969), 211 f.; Holch, EuR 1967,217/225; Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994, 87; Rengeling, Fragen zum allgemeinen Verwaltungsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, FS für Scupin, 1983, 475/ 486; Sommermann, DVBl. 1996,889/897. 327 Vgl. Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177 /190f. 328 Priebe, EuR Beiheft 1/ 1995, 99 /100f., weist darauf hin, daß Vollzugsdefizite häufig sogar eher im Organisatorischen als im Verfahren auftreten; zu Vollzugsdefiziten im Umwelt-

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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zur Beseitigung des Defizits eine bestimmte verwaltungsorganisatorische Maßnahme der Europäischen Gemeinschaft zwingend erforderlich ist, wird man den Gemeinschaftsorganen zwar einen Ermessensspielraum zubilligen müssen. Doch bleibt darüber hinaus zu beachten, daß sie bei der Wahrnehmung ihrer gegebenenfalls vorhandenen Befugnisse nicht gegen Art. 5 EGV verstoßen dürfen. 329 Insgesamt ist festzuhalten, daß der Gemeinschaft aus Art. 175 Abs. 1 EGV nur insofern Befugnisse zum Erlaß verwaltungsorganisatorischer Maßnahmen zustehen, als sie zur Sicherung einer effektiven und einheitlichen Durchführung des EG-Rechts zwingend erforderlich sind. 33o

2. Erforderlichkeit gemeinschaftlichen Tätigwerdens

a) Die Ausstattung und Einrichtung nationaler Verwaltungsstellen aa) Als ein Vollzugsdefizit, das eine gemeinschaftliche Regelung der nationalen Verwaltungsorganisation rechtfertigen könnte, kommt die unzureichende technische und personelle Ausstattung einer Vielzahl mitgliedstaatlicher Verwaltungsstellen in Betracht. 33 ! Daß das materielle Umwe1tgemeinschaftsrecht aufgrund dieser erwiesenermaßen vorhandenen Mängel nicht wirksam und einheitlich vollzogen werden kann, liegt auf der Hand. Daran, daß der Gemeinschaft deshalb eine Kompetenz zustehen sollte, den Mitgliedstaaten die technische und personelle Mindestausstattung ihrer Behörden vorzuschreiben, bestehen dennoch erhebliche Bedenken. Ein Grund dafür liegt darin, daß derartige verwaltungs organisatorische Maßnahmen der Gemeinschaft möglicherweise ihrerseits unnütz sind. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn bei den Mitgliedstaaten keine finanziellen Mittel für eine personell wie materiell bessere Ausstattung vorhanden sind. Eine Beeinflussung der nationalen Verwaltungsorganisation kann in dieser Hinsicht sinnvoll nur über Art. 175 Abs. 5 EGVerreicht werden. Danach ist die Gemeinschaft ermächtigt, die Mitgliedstaaten durch eine gezielte finanzielle Förderung aus dem Kohäsionsfonds beim Vollzug des europäischen Umweltrechts zu unterstütrecht s. Rengeling /Gellermann, UTR 36 (1996), I ff.; Lorenz, UPR 1991, 253 ff.; Macrory, CMLRev. 1992, 347ff.; Hansmann, NVwZ 1995, 320ff. 329 Zur Frage, inwieweit das Subsidiaritätsprinzip der Setzung verbindlicher Vorgaben für das nationale Organisationsrecht entgegenwirken kann, s. auch Oebbecke, in: Ipsen 1Rengeling/Mössner/Weber (Hg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995,607/612 f. 330 Im Ergebnis ebenso Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177 1183; skeptisch, daß diese Vorausssetzung jemals vorliegt Rengeling, EuR 1974, 216/227f.; s. jedoch die Umweltinformationsrichtlinie, die sich auf Art. 175 EGV (früher Art. 130s) stützt und die ebenfalls verwaltungsorganisatorische Fragen regelt, dazu Oebbecke, in: Ipsen/Rengeling/Mössner/Weber (Hg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995,607/614f.

331 Dazu ausführlich Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177 1184 ff.

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

zen. 332 Zu denken wäre auch an eine Vertiefung bereits vorhandener und an eine Schaffung neuer Austauschprogramme zwischen den einzelstaatlichen Behörden oder an den Ausbau gemeinschaftlicher Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, 333 ähnlich dem Europäischen Institut für öffentliche Verwaltung in Maastricht. 334 Jedenfalls scheidet aus den genannten Gründen ein Rückgriff auf Art. 175 Abs. 1 EGV mangels zwingenden Erfordernisses aus. Direkte verwaltungsorganisatorische Anordnungen zur technischen und personellen Ausstattung der nationalen Vollzugsbehörden kann die Gemeinschaft daher nicht treffen. bb) Überlegenswert ist weiterhin, ob die Gemeinschaft den Mitgliedstaaten die Errichtung unabhängiger Kontrollbehörden vorschreiben kann. 335 In Anbetracht der Tatsache, daß die Kommission mit der Überwachung der einheitlichen und effektiven Anwendung des Umweltgemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten zahlreichen Untersuchungen 336 zufolge erheblich überbelastet ist und auch die nationalen Behörden selbst keine durchweg effektive Implementierung gewährleisten können, dürften gemeinschaftliche Vorgaben in dieser Hinsicht dringend erforderlich sein. Als Vorbild könnte insoweit die Verordnung Nr. 2262/84 des Rates vom 17. Juli 1984 über Sondermaßnahmen für Olivenöe37 dienen?38 Dort heißt es in den Begründungserwägungen, die Erfahrung habe gezeigt, daß die Verwaltungsstruktur der Erzeugermitgliedstaaten für die Durchführung der in der Gemeinschaftsregelung vorgesehenen Kontrollen unzureichend sei. Infolgedessen sei es unerläßlich, daß die Mitgliedstaaten für die Wahrnehmung dieser Aufgaben administrativ selbständige Einrichtungen schafften. 339 Die Verordnung schreibt daher vor, daß jeder 332 Näher dazu Breier, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 13 Rn. 18ff.; s. auch Vogel/Rodi, Probleme bei der Erhebung von EGEigenmitteln aus rechtsvergleichender Sicht, 1995, 171; Schmidt-Aßmann/Ladenburger, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 18 Rn. 45ff. 333 Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177/186. 334 European Institute of Public 'Administration (EIPAj, P.O. Box 1229, NL-6201 BE Maastricht. 335 Dazu s. Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177/187 ff., der in diesem Zusammenhang von "Umwelthöfen" oder "Öko-Rechnungshöfen" spricht; zu ähnlichen Überlegungen im deutschen Umweltrecht s. Lübbe-Woljf, Modernisierung des Umweltordnungsrechts, 1996, 68 ff.; davon zu unterscheiden ist die Errichtung der Europäischen Umweltagentur als Kontrollbehörde der Gemeinschaft; die sich diesbezüglich stellenden Fragen weisen aber Berührungspunkte zu dem hier behandelten Thema auf, s. unten 4. Teil B. 336 S. den Hinweis im 1. Teil C (Fn. 29). 337 ABI L 208/11. 338 Dazu Götz, EuR 1986,29/34; weitere Beispiele bei Ress, in: Burmeister (Hg.), Die verfassungsrechtliche Stellung der Verwaltung, 1991, 199/206. 339 2.-4. Erwägungsgrund der VO Nr. 2262/84.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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Erzeugermitgliedstaat entsprechend seiner Rechtsordnung eine besondere Dienststelle einzurichten hat,· die bestimmte Kontrollen und Aufgaben wahrnimmt und völlige Verwaltungsautonomie genießt. 340 Daneben werden detaillierte Regelungen zur Organisationsstruktur, Behördenbesetzung und finanziellen Tragfähigkeit der Dienststellen getroffen?41 Insbesondere ist vorgesehen, daß die Europäische Gemeinschaft die anfallenden Kosten zu einem erheblichen Teil übernimmt. 342 Als ähnliches Beispiel aus jüngerer Zeit läßt sich die Verordnung Nr. 2075/92/ EWG 343 anführen, die die Errichtung von mitgliedstaatlichen KontrollsteIlen im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Rohtabak vorschreibt. Auch ihnen wird "Verwaltungsautonomie" zugestanden. Grundsätzlich steht einer Übertragung des agrarrechtlichen Modells auf das Umweltgemeinschaftsrecht nichts entgegen. Insbesondere könnten auf diese Weise die den Mitgliedstaaten zufließenden Mittel gezielt eingesetzt werden. Um die Tätigkeit der nationalen, unabhängigen Stellen zu kontrollieren und ihre Arbeit dadurch noch effektiver zu gestalten, könnte ihnen gegenüber der nationalen und gemeinschaftsweiten Öffentlichkeit zudem eine umfassende Berichtspflicht auferlegt werden. Insgesamt spricht also vieles dafür, eine gemeinschaftsrechtliche Inpflichtnahme der Mitgliedstaaten zur Errichtung unabhängiger, für die Kontrolle der Anwendung des Umweltgemeinschaftsrechts zuständiger "Umwelthöfe" aus denselben Gründen wie im Agrarrecht für zulässig zu erachten und als von der gemeinschaftlichen Kompetenz aus Art. 175 Abs. 1 EGV mit umfaßt anzusehen?44 Doch kommen letztlich auch hier die schon bezüglich der gemeinschaftlichen Vorgaben zur technischen und personellen Mindestausstattung der nationalen Behörden angestellten Überlegungen zum Tragen?45 Jedenfalls aber könnte der Europäischen Gemeinschaft die Ausübung ihrer Kompetenz nach Art. 5 Abs. 3 EGV verwehrt sein. Danach gehen "die Maßnahmen der Gemeinschaft nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrages erforderliche Maß hinaus". Es ist mithin "die Art und Weise des gemeinschaftlichen Handeins zu wählen, die den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten nur soweit einschränkt, als dies erforderlich ist, um das Regelungsziel zu verwirklichen".346 Wahrend die Verpflichtung der Art. 1 Abs. 3 VO Nr. 2262/84. Art. 1 Abs. 4, 5 VO Nr. 2262/84; vgl. dazu auch Götz, EuR 1986, 29/34 f., der in der Bildung von Erzeugergemeinschaften nur eine "staatsentlastende Inpflichtnahme Privater" und keine verwaltungsorganisatorische Regelung erblickt. 342 Für die ersten zwei Jahre übernimmt die Gemeinschaft 100%, für ein drittes Jahr 50 % der Kosten. 343 VO Nr. 2075/92/EWG des Rates v. 30. 6. 1992 (ABI L 215/70); VO Nr. 85/93/ EWG der Kommission v. 19. 1. 1993 (ABI L 12/9). 344 Im Ergebnis ebenso Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177/189, der sich dabei allerdings nicht auf die Annexkompetenzen aus Art. 175 Abs. I EGV (früher Art. 130s Abs. 1 EGV) stützt (s. Fn. 280). 345 S. oben 3. Teil B 11 2 a aa. 346 Jarass, EuGRZ 1994,209/214. 340 341

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

Mitgliedstaaten zur Errichtung unabhängiger nationaler Kontrollbehörden einen weitgehenden Eingriff in das nationale Verwaltungsorganisationsrecht darstellt,347 liegt in einer gezielten finanziellen Förderung der bereits vorhandenen Behörden nach Art. 175 Abs. 5 EGVeine die Mitgliedstaaten lediglich unterstützende und damit den mitgliedstaatlichen Handlungsspielraum weniger einschränkende Gemeinschaftsmaßnahme. Daß eine rein finanzielle Hilfestellung in diesem Sinne das Ziel einer einheitlichen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts weniger effektiv verwirklicht als die Schaffung neuer Kontrollbehörden, denen ihrerseits mit Finanzzuweisungen unter die Arme gegriffen werden müßte,348 ist nicht ersichtlich. Folglich liegt in einer verwaltungsorganisatorischen Vorgabe der Gemeinschaft an die Mitgliedstaaten, weisungsunabhängige KontrollsteIlen zu errichten, ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 EGY. Sie ist daher unzulässig.

b) Aufgabenwahrnehmung durch Private Denkbar erscheint des weiteren, einen in jüngster Zeit vermehrt diskutierten Ansatz zur Vollzugsverbesserung im deutschen Umweltrecht aufzugreifen. Es handelt sich um den Vorschlag, bestimmte Aufgabenbereiche staU von Verwaltungsbehörden von privaten Stellen durchführen zu lassen. 349 Sollte es eine vollzugseffiziente Anwendung des materiellen Umwe1trechts auf Gemeinschaftsebene also zwingend erfordern, könnte die Europäische Gemeinschaft möglicherweise dazu ermächtigt sein, den Mitgliedstaaten eine Aufgabenübertragung der genannten Art vorzuschreiben. Dafür spricht, daß nationale Behörden entlastet und Personal an anderer Stelle effizienter eingesetzt werden könnte. Ein Beispiel hierfür ist die Öko-AuditVerordnung, die ebenfalls auf die Eigenverantwortung der privaten Unternehmer baut und damit auf staatlicher Seite enorme Kapazitäten freisetzt. 35o Einziger Unterschied zu der hier angesprochenen Konstellation ist der, daß die Öko-Audit-Verordnung auf einer freiwilligen Beteiligungsbasis der privaten Unternehmer beruht. Die Europäische Gemeinschaft würde dadurch jedoch auch in einem erheblichen Maße in die innerstaatliche Souveränität der Mitgliedstaaten eingreifen. Diese äußert sich dem Bundesverfassungsgericht351 zufolge in der Befugnis des Staates, 347 Vgl. auch Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177/188. 348 Zur Notwendigkeit einer finanziellen Unterstützung s. auch die oben genannte Verordnung zum Agrarrecht. 349 Lübbe- Wolff, Modernisierung des Umweltordnungsrechts, 1996, 25 ff. 350 VO (EWG) Nr. 1836/93 des Rates v. 29. 6. 1993 über die freiwillige Beteiligung gewerblicher Unternehmen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung (ABI L 168/1); zur Öko-Audit allgemein s. Di Fabio, in: Rengeling (Hg.), Integrierter und betrieblicher Umweltschutz, 1996, 183/199; v. Werder/Nestler; RIW 1995, 296ff.; Scherer; NVwZ 1993, 11 ff.; zum Vergleich mit Zulassungssystemen anderer Mitgliedstaaten s. Falk, NVwZ 1997, 144 ff. 351 BVerfGE 17,371/377.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

105

selbst zu entscheiden, welche Aufgaben von ihm und welche von privaten Stellen wahrgenommen werden. Das mag schon deswegen sinnvoll erscheinen, weil der Gemeinschaft die genauen Organisationsstrukturen der Mitgliedstaaten kaum bekannt sein dürften. Daß die Gemeinschaft im Gegensatz zu den nationalen Stellen eher dazu in der Lage ist, die der Aufgabenwahrnehmung am besten gewachsene Vollzugsinstanz auszuwählen, ist somit nahezu ausgeschlossen. 352 Man wird sogar annehmen müssen, daß sich die von der Gemeinschaft bestimmten privaten Organe eher als Fremdkörper, denn als integrierter Bestandteil des nationalen Vollzugsapparates erweisen würden. 353 Zudem bietet die finanzielle Unterstützung der bereits vorhandenen Behörden auch hier ein weitaus weniger einschneidendes, wohl aber gleich effektives Instrument zur Einflußnahme auf das nationale Verwaltungsorganisationsrecht. Eine Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft zur Vorgabe behördlicher oder privatrechtlicher Organisationsstrukturen ist somit abzulehnen. Ein Rückgriff auf sonstige Ermächtigungsgrundlagen scheidet mangels erforderlichen Gemeinschaftshandelns ebenfalls aus. Auf dem Gebiet des Verwaltungsorganisationsrechts stehen der Gemeinschaft damit einstweilen nur äußerst beschränkte Harmonisierungskompetenzen zu. 354

III. Das Verwaltungsverfahren In der Regel wird ganz allgemein darauf hingewiesen, daß eine Harmonisierung der verwaltungsverfahrensrechtlichen nationalen Bestimmungen auf Spezialermächtigungen, implied powers, Art. 94 oder aber auf Art. 95 bzw. Art. 308 EGV gestützt werden könne. 355 Weitgehend unklar bleibt, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang der Rückgriff auf die jeweilige Ermächtigungsnorm zulässig ist. Dem gilt es im folgenden näher nachzugehen.

352 Vgl. Rengeling, EuR 1974, 216/228; Klösters, Kompetenzen der EG-Kommission, 1994,22f. 353 So auch Klösters, Kompetenzen der EG-Kommission, 1994, 154. 354 Zu den (Ausnahme-)Bereichen, in denen die Gemeinschaft Einfluß auf die nationale Verwaltungsorganisation nimmt, s. Schwarze, in: ders. (Hg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996, 123/149 ff.; Everling, DVBI. 1983,649/653 f.; Rengeling, Fragen zum allgemeinen Verwaltungsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, FS für Scupin, 1983, 475/477ff.; Oebbecke, in: Ipsen/Rengeling/Mössner/Weber (Hg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995,607/611 f., 614f.; Pütfner, in: Schoch (Hg.), Das Verwaltungsrecht als Element der europäischen Integration, 1995,71 ff.; Streinz, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991, 241/261; vgl. auch Ress, in: Burrneister (Hg.), Die verfassungsrechtliche Stellung der Verwaltung, 1991, 199/205 f., der vorn "Anfang einer sich unter Umständen ausweitenden Entwicklung" spricht. 355 S. nur Klein, in: Starck (Hg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, 1992, 117/138; Wolffgang, DVBI. 1996,277/282; Kasten, DÖV 1985,570/574; Schweitzer, Die Verwaltung 1984, 137/168.

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

1. Spezialermächtigung nach Art. 175 Abs 1 EGV

a) Anwendungsvoraussetzungen

Das Verwaltungsverfahren kann ebenso wie die Verwaltungsorganisation nur unter den einschränkenden Bedingungen des Art. 175 Abs. 4 EGV von der Gemeinschaft gern. Art. 175 Abs. 1 EGV geregelt werden?56 Voraussetzung dafür ist, daß im konkreten Fall eine unzureichende nationale Verwaltungsverfahrensnorm die Durchsetzung der materiellen EG-Kompetenz im innerstaatlichen Bereich behindert. 357 Bei enger Verbundenheit der Verfahrens bestimmung mit der sachlichen Regelung wird dies überwiegend bejaht. 358 Insbesondere aber ist anerkannt, daß die unterschiedliche Ausgestaltung der Verfahrensrechte in den Mitgliedstaaten einen negativen Einfluß auf die gleichmäßige Geltung und Wirksamkeit des Umweltgemeinschaftsrechts ausübt und so Wettbewerbsverfälschungen hervorruft. 359 Wenn und soweit es für den effektiven und gemeinschaftsweit einheitlichen Vollzug des Gemeinschaftsrechts erforderlich ist, besitzt die Europäische Gemeinschaft somit die Kompetenz, nach Art. 175 Abs. 1 EGV das Verwaltungsverfahrensrecht der Mitgliedstaaten für den Vollzug von EG-Umweltrecht zu harmonisieren. Während die nationalen Verfahrens gesetze früher durchweg für ausreichend erachtet wurden, die betreffende materielle Gemeinschaftsnorm sinnvoll zur Anwendung zu bringen, die Erforderlichkeit einer gemeinschaftlichen Regelung verfahrensrechtlicher Art also abgelehnt wurde,360 weist die Tendenz heute eher in die entgegengesetzte Richtung. Mit der zunehmenden Erkenntnis, daß gerade das Umweltrecht "angesichts komplexer Entscheidungsinhalte und materiell-rechtlich nur unvollständig determinierter und determinierbarer Abwägungsprozesse in besonderer Weise auf ein funktionierendes Verfahrensrecht" angewiesen ist,361 wird das Erfordernis einer gemeinschaftlichen Regelung zunehmend bejaht. 362 Der bestän356 S. oben 3. Teil BIll b, c; vgl. auch Holeh, EuR 1967,217/224; Bünten, Staatsgewalt und Gemeinschaftshoheit, 1977, 160; Rengeling, EuR 1974, 216/230f. 357 Vgl. Klösters, Kompetenzen der EG-Kommission, 1994,25. 358 So Rengeling, EuR 1974,216/231; Kasten, DÖV 1985,570/573; Streinz, Die Verwaltung 1990, 153/161. 359 Vgl. Ehle, in: Ehle/Meier (Hg.), EWG-Warenverkehr, 1971, F 14; Scherer, EuR 1986, 52/55; Bieber, in: Capotorti 1Ehlermann 1Frowein u. a. (Hg.), Du droit international au droit de l'integration, Liber amicorum Pierre Pescatore, 1987, 25ff.; Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177/192; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1,1988, 464f.; Oldiges, VVDStRL 53 (1994),281. 360 Vgl. nur Zuleeg, JöR 20 (1971), 1/44; ders., KSE 9 (1969), 220. 361 Wegener, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 145/168; vgl. auch Grimm, NVwZ 1985, 865/866f. 362 S. auch das Urt. v. 12.6. 1980, Sig. 1980, 1887/1900 Rn. 12, in dem der Europäische Gerichtshof das Fehlen einer verwaltungsverfahrensrechtlichen Gemeinschaftsregelung sogar ausdrücklich bedauert.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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dige Ausbau verfahrensrechtlicher Bestimmungen, genannt sei hier nur die Umweltinformationsrichtlinie,363 bestätigt das.

b) Eiforderlichkeit vollzugsverbessemder Gemeinschaftsregelungen

Welche gemeinschaftlichen Vorgaben verfahrensrechtlicher Art konkret erforderlich sind, bedarf der Prüfung des jeweiligen Sachbereichs. Wie bei der Verwaltungsorganisation müssen folglich auch hier zunächst die Gebiete ermittelt werden, auf denen Vollzugsdefizite bestehen, auf denen sich also das nationale Verwaltungsverfahrensrecht zur wirksamen und einheitlichen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts außer stande sieht. aa) Dazu zählt einmal der Bereich der Öffentlichkeitsbeteiligung. Wie schon aus der Untersuchung zur UVP-Richtlinie hervorging, existieren in den Mitgliedstaaten insoweit recht unterschiedliche Regelungen, die der einheitlichen Durchsetzung des EG-Rechts entgegenstehen?64 Durch Vorgaben der Gemeinschaft an die Mitgliedstaaten, die Beteiligungsrechte Dritter an nationalen Genehmigungsverfahren und sonstigen Verfahren der Anwendung umweltrechtlicher Gemeinschaftsrechtsakte auszubauen, könnte dem abgeholfen werden. Konkret bedeutete das, daß die Europäische Gemeinschaft dem einzelnen verstärkt individuelle Rechtspositionen im materiellen Umweltrecht der Gemeinschaft einräumen müßte. Daraus folgte dann mittelbar die Befugnis des einzelnen, sich am nationalen Verwaltungsverfahren zu beteiligen. 365 Dasselbe würde für Umweltverbände gelten. Mit dem Ausbau der Beteiligungsrechte unmittelbar verknüpft ist die verbesserte Information der Öffentlichkeit. Das eine kann nicht wirksam ohne das andere erreicht werden. Um dem gerecht zu werden, erließ die Europäische Gemeinschaft die Umweltinformationsrichtlinie. 366 Für die Beseitigung des Vollzugsdefizits bei der Öffentlichkeitsbeteiligung reicht sie indes gewiß nicht aus. Die Gemeinschaft sollte daher darüber hinaus den Mitgliedstaaten in allen Umweltrechtsakten eine umfassende Vollzugsberichterstattungspflicht367 an die Öffentlichkeit auferlegen; Zu den verfahrensrechtlichen Aspekten dieses Umweltrechtsaktes s. oben 3. Teil A 11. S. oben 3. Teil A I 3 a; s. auch WahllAppel, in: Kroeschell/Cordes (Hg.), Vom nationalen zum transnationalen Recht, 1995, 197/218f. 365 So auch Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177 1202. 366 Dazu oben 3. Teil A 11. 367 Vgl. Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177/203; s. dazu ferner Schmidt-AßmannILadenburger, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 18 Rn. 12, 65; zur bislang fehlenden institutionalisierten Vollzugsberichterstattung der deutschen Umweltbehörden s. Lübbe-Wolff, in: dies. (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 77 ff.; kritisch zur Berichtspraxis der Mitgliedstaaten Sach, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 44 Rn. 27 ff. 363

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

für die einheitliche und effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts eine sicherlich erforderliche Maßnahme. bb) Ein weiterer Bereich, in dem vollzugsverbessernde Vorgaben der Gemeinschaft notwendig erscheinen, betrifft die Festlegung von Meßverfahren für die Ermittlung gemeinschaftsweit einheitlicher Grenzwerte. Betrachtet man etwa die Schwefeldioxid- und Schwebestaubrichtlinie, 368 nach der die mitgliedstaatlichen Meßstationen an den Orten gelegen sein müssen, an denen man "die stärkste Verschmutzung" vermutet, wird deutlich, daß hier ohne nähere Vorgaben der Europäischen Gemeinschaft etwa zu der Anzahl der einzurichtenden Meßstationen und der Häufigkeit der durchzuführenden Messungen oder den Meßabständen und der Zusammenfassung bestimmter Bereiche zu einem Ort mit gleichen Verhältnissen kein einheitlicher Vollzug sichergestellt ist. Es kommt fast zwangsläufig zu recht unterschiedlichen nationalen Umsetzungsmaßnahmen allein betreffend die Häufigkeit und den Ort der Messungen. Dasselbe gilt für die Bestimmung, nach der Schadstoffkonzentrationen im Wasser "hinreichend nahe" an der Einleitungsstelle gemessen werden sollten. Nicht weiter erstaunlich ist dementsprechend auch, daß hier ein Mitgliedstaat mit einer Messung in 1,9 km Entfernung von der Einleitungsstelle den Anforderungen zu genügen glaubte. 369 Die Erforderlichkeit einer Rechtsharmonisierung der Meßverfahren ist damit jedenfalls kaum noch von der Hand zu weisen?70 cc) Endlich soll auf die im Bereich der Sanktionen bestehende uneinheitliche Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts hingewiesen werden?7! Zwar müssen die Mitgliedstaaten durch den Einsatz mitgliedstaatlicher Sanktionen die Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften sicherstellen; in der Wahl der einzusetzenden Sanktionen sind sie aber grundsätzlich frei. 372 Dadurch kommt es zu einer recht unterschiedlichen Verfolgung von Verstößen gegen das EG-Recht. Das wiederum wirkt sich wettbewerbsverzerrend aus. Die Vorgabe der Gemeinschaft an die Mitgliedstaaten, in bestimmten Fällen ganz bestimmte Zwangsmittel einzusetzen, könnte hier Abhilfe schaffen. 373 In die richtige Richtung weist insofern die RL 801779/EWG (ABI L 229/30). S. Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177/196 (Fn. 64). 370 Zu bereits bestehenden detaillierten Gemeinschaftsvorschriften über Meßverfahren s. Schmidt-NJmann/Ladenburger; in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 18 Rn. 59. 371 Dazu und zu weiteren Möglichkeiten der Europäischen Gemeinschaft, an die Mitgliedstaaten verfahrensrechtliche Vorgaben zu richten, Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177 /194 ff.; zur Kompetenz der Gemeinschaft, Sanktionen zu verhängen, Schreiber, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 172ff.; Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994, 304 ff. 372 Vgl. Scheuing, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandeins, 1994, 289/311 f.; Sach, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 44 Rn. 88. 368

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B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der in einem Urteil aus dem Jahre 1989 374 präzisiert, daß die mitgliedstaatlichen Sanktionen für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht ,jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend" sein müßten. In einem anderen Urteie 75 erklärt er Durchführungsverordnungen der Kommission zu EG-Agrarsubventionsregelungen, die die mitgliedstaatlichen Verwaltungen u. a. dazu verpflichteten, gegenüber betrügerischen Landwirten einen einjährigen Leistungsausschluß zu verhängen und von ihnen außer der Rückzahlung der Subventionen die Zahlung zusätzlicher Zuschläge in Höhe von regelmäßig 30 % zu verlangen, für rechtmäßig. Der Gerichtshof erkennt damit ausdrücklich die gemeinschaftliche Kompetenz an, "alle Sanktionen einzuführen, die für die wirksame Anwendung der Regelungen auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik erforderlich sind". Warum gleiches nicht auch für das Umweltrecht gelten soll, ist nicht ersichtlich,376 selbst dann nicht, wenn man die erhöhte Regelungsdichte auf dem Agrarsektor beachtet. Für besonders vollzugsförderlich werden durchsetzungsorientierte Verwaltungssanktionen gehalten, von denen wirtschaftlicher Druck ausgeht. Ein Beispiel dafür sind die verschuldensunabhängigen, zumindest gewinnabschöpfenden und nach Dauer des Verstoßes bemessenen Sanktionen gegen den Betrieb eines Industrieunternehmers. 377 Die Vorgabe der Europäischen Gemeinschaft an die Mitgliedstaaten, derartige Sanktionen einzuführen, muß als erforderlich für eine wirksame und gemeinschaftsweit einheitliche Durchführung des Gemeinschaftsrechts angesehen werden.

2. Erlaß von Durchführungsvorschriften durch die Kommission nach Art. 211 EGV a) Art. 211, 1. SpStr. EGV 378 ermächtigt die Kommission, "für die Anwendung dieses Vertrags sowie der von den Organen auf Grund dieses Vertrags getroffenen 373 Davon zu unterscheiden ist die Befugnis der Gemeinschaft, die von ihr erlassenen Sanktionsvorschriften selbst anzuwenden, s. dazu Schreiber, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 173 f. 374 EuGH, Slg. 1989,2965/2985 Rn. 24. 375 EuGH, Slg. 1992,1-5383/5424 Rn. I ff. 376 So auch Pache, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 177 /205, der allerdings die Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft nur insofern für erforderlich hält, als die Mitgliedstaaten zur Einführung bestimmter näher festzulegender Sanktions systeme verpflichtet werden. Der Erlaß eigenständiger gemeinschaftsrechtlicher Sanktionsvorschriften sei dagegen nicht erforderlich. S. dazu ferner Sach, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 44 Rn. 89, der auf bereits bestehende gemeinschaftliche Sanktionsvorschriften wie Art. 26 Abs. 5 VO 259/93 und Art. 16 VO 338/97 hinweist. 377 Hierzu Lübbe-Wolff, Modernisierung des Umweltordnungsrechts, 1996, 181 ff. 378 Früher Art. 155, I. SpStr. EGY.

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

Bestimmungen Sorge zu tragen". Teilweise 379 wird darin eine generelle Ermächtigung der Kommission zum Erlaß von - nur das interessiert hier38o . - Durchführungsverordnungen bzw. -richtlinien zu den Vertragsvorschriften und den Rechtsakten des Rates gesehen. Dem Art. 211, 1. SpStr. EGV könnte demnach möglicherweise auch eine umfassende Kompetenz der Kommission zum Erlaß verwaltungsverfahrensrechtlicher Regelungen entnommen werden. Diese Ansicht ist jedoch abzulehnen. Art. 211,2. SpStr. EGV 381 zeigt, daß Art. 211 EGV generelle Ermächtigungen ausdrücklich hervorhebt. Dort heißt es, daß die Kommission zum Erlaß von Empfehlungen und Stellungnahmen auch ermächtigt ist, "soweit sie es für notwendig erachtet", der Vertrag also keine ausdrückliche Ermächtigung enthält. Ferner bestimmt Art. 211, 3. SpStr. EGV 382, daß die Kommission nur "nach Maßgabe dieses Vertrags", also nur dann Rechtsakte 383 erlassen kann, wenn dies im Vertrag an anderer Stelle ausdrücklich vorgesehen ist. Das spricht für eine restriktive Auslegung der Vorschrift insgesamt. 384 Könnte die Kommission zudem schon nach Art. 211, 1. SpStr. EGV generell Durchführungsverordnungen erlassen, wäre Art. 211,4. SpStr. EGV 385 überflüssig. Das kann vom Gemeinschaftsgesetzgeber schwerlich gewollt sein. Im übrigen sind generalklauselartige Ermächtigungen mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 386 unvereinbar. Somit vermittelt Art. 211, 1. SpStr. EGV der Kommission keine generelle Befugnis zum Erlaß verwaltungsverfahrensrechtlicher Bestimmungen. b) Nach Art. 211, 4. SpStr. EGV ist die Kommission ermächtigt, "die Befugnisse auszuüben, die ihr der Rat zur Durchführung der von ihm erlassenen Vorschriften überträgt." Der Rat kann also seine Rechtsetzungskompetenzen für den Vollzug des Gemeinschaftsrechts auf die Kommission delegieren. Diese ist dann gegebenenfalls ermächtigt, Durchführungsverordnungen und -richtlinien zu erlassen?87 Was darunter zu verstehen ist, definiert der EG-Vertrag nicht. 388 Nach

379

731.

Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972,20/51; Kraushaar; DÖV 1959,726/

380 Zur Frage, inwieweit die Kommission nach Art. 211 EGV (früher Art. 155 EGV) bzw. Art. 202 EGV (früher Art. 145 EGV) zum Erlaß von Einzeimaßnahmen im Gegensatz zu rechtsetzenden Maßnahmen befugt ist, s. unten 4. Teil A II 2. 381 Früher Art. 155, 2. SpStr. EGY. 382 Früher Art. 155,3. SpStr. EGY. 383 Unter "Entscheidungen" i. S. d. Art. 211, 3. SpStr. EGV fallen auch Verordnungen und Richtlinien, s. Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rn. 512. 384 Vgl. Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rn. 512; s. ferner Breuer; WiVerw 1990, 79/113 ff. 385 Früher Art. 155,4. SpStr. EGY. 386 Dazu s. oben 3. Teil B I 1. 387 EuGH, Slg. 1989,3457/3485 Rn. 9ff.; 1992,1-5383/5434 Rn. 39; vgl. dazu Jarass, AöR 121 (1996), 173/182; Winter; in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 107/122f.; Hummer; in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 155 Rn. 46.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

III

Ansicht des Europäischen Gerichtshofs 389 soll jedenfalls nur eine Delegation von "genau umgrenzten Ausführungsbefugnissen" zulässig sein. Eine Delegation von Befugnissen, die "nach freiem Ermessen" auszuüben sind, sei dagegen nicht möglich, da dies eine "tatsächliche Verlagerung der Verantwortung" mit sich brächte. Auch nach teil weiser Ansicht im Schrifttum390 dürfen Durchführungsvorschriften i. S. d. Art. 211, 4. SpStr. EGV "keine neuen Verpflichtungen enthalten, sondern nur die bereits bestehenden "verbesondern" [ ... ], insbesondere [sei] eine Ergänzung von Rechtsvorschriften des Rates durch die Kommission ausgeschlossen". Die von der Kommission erlassene Verordnung dürfe nur "ausführen", ,,konkretisieren" bzw. "detaillieren oder spezialisieren".391 Zudem müßten "die Durchführungsbestimmungen mit System und Zweck der durchzuführenden Vorschriften übereinstimmen. Im Einzelfall [seien] der Inhalt und der Umfang der Durchführungsbefugnis aus der Formulierung der Ermächtigung und aus dem Ziel und dem konkreten Inhalt der durchzuführenden Ratsvorschriften zu ermitteln".392 Neue Rechte und Pflichten könne die Kommission nicht begründen. Sie besitzt demnach auch keine originäre Kompetenz zum Erlaß verwaltungsverfahrensrechtlicher Regelungen. Etwas anderes gilt möglicherweise für die Auffassung, nach der die Befugnisse der Kommission "von bloßen Anwendungsmodalitäten detaillierter Regelungen bis zu echten Ergänzungen einschließlich der Schaffung neuer Rechte und Pflichten für die Adressaten reichen" können?93 Für diese Ansicht spricht die schwierige Unterscheidung zwischen bloß ergänzenden bzw. konkretisierenden Befugnissen auf der einen und ganz neuen Kompetenzen auf der anderen Seite. Dagegen ist jedoch anzuführen, daß der Begriff "Durchführung" ein eher restriktives Verständnis nahelegt. Jedenfalls dürfte man sich aber darüber einig sein, daß der Rat Befugnisse nur soweit delegieren kann, wie er selbst handeln kann. Denn es liegt im Wesen einer Delegation, daß der Delegant nur die ihm selbst zustehenden Befugnisse übertragen, die Kommission also auch nur die ursprünglich dem Rat bzw. der Gemeinschaft vertraglich zugewiesenen Kompetenzen wahrnehmen kann. 394 Ihr bleibt also auch nach der zweitgenannten Ansicht eine generelle Befugnis zum Erlaß von Durchführungsverordnungen und -richtlinien und damit zum Erlaß verwaltungsverfahrensrechtlicher Regelungen verwehrt, da diese Kompetenz 388 Vgl. Schindler, Delegation von Zuständigkeiten in der Europäischen Gemeinschaft, 1972,143f. 389 EuGH, Sig. 1958,9/14 (LS 8,10), 43f.; 47; vgl. auch EuGH, Sig. 1975, l302; 1987, 2671 ff.; 1988,2041 ff., wonach die durchzuführende Grundmaßnahme alle wesentlichen Elemente der zu regelnden Materie enthalten muß. 390 Rabe, Das Verordnungsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1963, 109 f.; Däubler, DVBI. 1966,660/661; Klösters, Kompetenzen der EG-Kommission, 1994, 156. 391 Möller, Die Verordnung der Europäischen Gemeinschaften, 1967, 96f. 392 Hamier; in: G/T/E (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Auf!. 1991, Art. 145 Rn. 21. 393 Morand, La Legislation dans les Communautes Europeennes, 1968,215. 394 Zum Wesen der Delegation vgl. oben 2. Teil B II; s. auch Hummer; in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 155 Rn. 46ff.

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

- wie oben bereits ausgeführt - auch dem Rat nicht zusteht. 395 Dem Rat können zusätzlich zum Erlaß materieller Vorschriften, soweit erforderlich, allenfalls eng begrenzte Kompetenzen zum Erlaß formeller Verwaltungsregelungen zustehen. Macht er hiervon Gebrauch, hat die Kommission Gelegenheit, diese Verfahrensregelungen im Wege einer Durchführungsverordnung bzw. -richtlinie zu konkretisieren. Eigene formelle Regelungen kann sie dagegen nicht erlassen. 396 Festzuhalten bleibt, daß sich weder aus Art. 211, 1. SpStr. EGV noch aus Art. 211, 4. SpStr. EGV umfassende Kompetenzen der Kommission zum Erlaß verwaltungsverfahrensrechtlicher Regelungen ergeben.

3. Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 Abs.l EGV a) Anwendungsvoraussetzungen aa) Art. 94 EGV bestimmt, daß der Rat "einstimmig [ ... ] Richtlinien für die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten [erläßt], die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken". Der damit umschriebene gemeinschaftliche Kompetenzrahmen läßt sich auf Grund der begrifflichen Unschärfe dieser Vorschrift nur schwer ausmachen. Einschlägig ist die Norm jedenfalls dann, wenn die nationalen Vorschriften bzw. die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede die Freiheit des Wirtschaftsverkehrs innerhalb der Europäischen Gemeinschaft beeinträchtigen und so Wettbewerbsverfälschungen hervorrufen. 397 Da die Verwaltungsrechtsordnungen der Mitgliedstaaten verschiedentlich so erheblich voneinander abweichen, daß ein nationaler Rechtssatz den anderen Systemen völlig fremd ist,398 verdient insofern die bislang ungeklärte Frage Aufmerksamkeit, ob und in wievielen Mitgliedstaaten überhaupt eine Regelung vorhanden sein muß, die angeglichen werden kann. 399 Während es einer Ansicht400 nach ausreicht, wenn mindestens eine mitgliedstaatliche Rechtsordnung eine entsprechende Regelung enthält, verzichtet eine 395 Vgl. Harnier; in: G/T IE (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Auf!. 1991, Art. 145 Rn. 16; Van Solinge, in: Louis I Waelbroeck (Hg.), La Commission au coeur du systeme institutionnel des Communautes europeennes, 1989, 71/72. 396 S. Klösters, Kompetenzen der EG-Kommission, 1994, 155; v. Sydow, in: G IT IE (Hg.), Kommentar zum EU-lEG-Vertrag, 5. Auf!. 1997, Art. 155 Rn. 73. 397 S. Schwartz, Zur Konzeption der Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, FS für Hallstein, 1966, 474/488; Everling, Probleme der Rechtsangleichung, FS für Steindorff, 1990, 1155/1159 f. 398 S. beispielsweise den unten angeführten Fall betreffend den einstweiligen Rechtsschutz, 3. Teil B IV 2 a. 399 S. dazu auch Huthmacher; Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, 244; Schweitzer/Hummer; Europarecht, 5. Auf!. 1996, Rn. 1232. 400 Bleckmann, Europarecht, 6. Auf!. 1997, Rn. 2106.

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andere Ansicht401 ganz auf deren Vorliegen. Da mit der Rechtsangleichung stets die aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht bestmögliche Lösung angestrebt werden müsse, dürfe die Europäische Gemeinschaft auch vollkommen neues Recht schaffen, das Vorhandensein der betreffenden Regelung in mindestens einem Mitgliedstaat sei also entbehrlich. Die Gemeinschaft trete insofern rechtsschöpfend auf. Dafür spricht, daß es einen Umweg darstellt, erst abzuwarten, bis national unterschiedliches, auf den Gemeinsamen Mllrkt störend einwirkendes Recht geschaffen wird, um dieses dann per Angleichung wieder beseitigen zu können. 402 Im übrigen führt ein Zuwarten auf die Verabschiedung der nationalen Norm zu einer Verfestigung von Interessenspositionen und so letztlich zu einer Erschwerung der Rechtsangleichung. 403 Dagegen ist jedoch anzuführen, daß es zu konkreten Wettbewerbsverzerrungen nur kommt, wenn in den Mitgliedstaaten tatsächlich voneinander abweichende Vorschriften existieren. Zudem ist die Möglichkeit der "Angleichung" von Lücken schon rein begriffsnotwendig ausgeschlossen. Gleichsam widersinnig ist ein Verständnis der Rechtsangleichungsbefugnis als Rechtsetzungskompetenz. Folglich muß ein Verzicht auf das Vorliegen nationaler Bestimmungen abgelehnt werden. 404 Vielmehr muß unter dem Gesichtspunkt gleicher Wettbewerbsbedingungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft vorausgesetzt werden, daß sich mindestens in einem Mitgliedstaat ein Rechtssatz findet, dessen Existenz ein Vorgehen nach Art. 94 EGV rechtfertigt. Das gilt auch für den Fall, daß sich der Erlaß unterschiedlicher nationaler Regelungen bereits abzeichnet. Es ließe sich nämlich nur schwer ausmachen, wann der Erlaß voneinander abweichenden Rechts schon so konkret bevorsteht, daß ein Vorgehen nach Art. 94 EGV gerechtfertigt erschiene. Eine Harmonisierung der nationalen Verwaltungsverfahrensregelungen nach Art. 94 EGV setzt des weiteren voraus, daß sich auf Grund der Unterschiedlichkeit der Rechtslagen in den einzelnen Mitgliedstaaten eine unmittelbare Auswirkung auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes ausmachen läßt. 405 Eine Norm 401 Taschner, in: G/T/E (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Auf!. 1991, Art. 100 Rn. 27; Rambow, EuR 1981, 240/243; vgl. auch Langeheine, in: Grabitz 1Hilf (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, Stand 1997, Art. 100 Rn. 23, der das Problem eher auf politischer, denn juristischer Ebene verortet. 402 Taschner, in: G/T/E (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Auf!. 1991, Art. 100 Rn. 27. 403 So Langeheine, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, Stand 1997, Art. 100 Rn. 21; vgl. auch Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985,245, für den ein Abwarten bis zum tatsächlichen Tatigwerden des nationalen Gesetzgebers reiner Formalismus wäre. 404 Im Ergebnis ebenso Bleckmann, Europarecht, 6. Auf!. 1997, Rn. 2106; Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, 245; Breulmann, Normung und Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1993, 82 f. 405 Vgl. Taschner, in: G/T/E (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Auf!. 1991, Art. 100 Rn. 28ff.; Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, 143; Beutler/ Bieber / Pipkorn/ Streit, Die Europäische Union, 4. Auf!. 1993, 384 f.

8 Nitschke

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

ist demnach angleichungsbedürftig, wenn sie die Ziele des Gemeinsamen Marktes nicht fördert oder nicht im Einklang mit ihnen steht oder ihrer Erreichung sogar hinderlich ist. 406 Der Nachweis eines strikten Kausalzusa~enhangs zwischen der betreffenden einzel staatlichen Norm und der Funktionsfähigkeit des Gemeinsamen Marktes ist allerdings nicht erforderlich. Er ließe sich kaum führen. Art. 94 EGV kommt somit bereits dann zum Tragen, wenn die Rechtsgegensätze aufgrund der Unterschiedlichkeit oder der territorialen Beschränkung der nationalen Rechtssysteme spürbar sind. 407 Eine Rechtsangleichung kann also schon dann vorgenommen werden, wenn die staatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zwar materiell gleichartig sind, im Verhältnis zueinander aber eine Beeinträchtigung des Gemeinsamen Marktes darstellen. Rechtsangleichung ist dann gleichbedeutend mit Anpassung an den Gemeinsamen Markt. 408 Da die materiellen Vorschriften des EG-Rechts zum wesentlichen Bestandteil des Gemeinsamen Marktes zählen,409 ihre Wirkkraft aber überwiegend von den sie ausführenden Verfahrensvorschriften abhängt, liegen die Voraussetzungen des Art. 94 EGV für die Kodifikation europäischen Verwaltungsverfahrensrechts demnach grundsätzlich vor. Zu beachten ist allerdings, daß die funktionale Kompetenznorm lediglich die Aufhebung der durch die Unterschiede bedingten negativen Wirkungen auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes ermöglicht410 und zudem nur subsidiär anwendbar iSt. 411 Ein umfassendes gemeinschaftsspezifisches Verwaltungsverfahrensrecht wird sich mit Hilfe dieser Vorschrift daher nicht begründen lassen. 412 bb) Nach Art. 95 Abs. I EGVerläßt der Rat "die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben". Im Unterschied zu Art. 94 EGVermöglicht Art. 95 Abs. 1 EGV demnach auch den Erlaß von Verordnungen. 413 Für die Schaffung eines europäischen Verwaltungsverfah406 Taschner, in: G/T/E (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Auf!. 1991, Art. 100 Rn. 29. 407 Beutler I Bieberl Pipkornl Streil, Die Europäische Union, 4. Auf!. 1993, 385. 408 Taschner, in: G/T/E (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Auf!. 1991, Art. 100 Rn. 3. 409 Vgl. Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985,246. 410 S. Langeheine, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 100 Rn. 32; Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, 254; Streinz, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht 1991, 241/248. 411 Vgl. Everling, Probleme der Rechtsangleichung, FS für Steindorff, 1990, 1155/1158. 412 Im übrigen s. die nachfolgenden Ausführungen zu Art. 95 Abs. 1 EGV (früher Art. 100a Abs. 1 EGV). 413 Zur Abgrenzung beider Anwendungsbereiche s. auch Himmelmann, EG-Umweltrecht und nationale Gestaltungsspielräume, 1997, 85 ff.; Everling, Probleme der Rechtsangleichung, FS für Steindorff, 1990, 1155/1162 ff., 1169 ff.; zur Frage, ob Art. 95 EGV (früher Art. 100a EGV) auch den Erlaß von Einzelfallmaßnahmen deckt, s. unten 4. Teil A II 3.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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rensrechts mag das gegenüber der Richtlinie das geeignetere Instrument sein. 414 Dessenungeachtet müssen aber auch bei Art. 95 EGV die Erfordernisse des Binnenmarktes im jeweiligen Einzelfall für eine EG-rechtliche Regelung sprechen. 415 Das ist dann der Fall, wenn eine Harmonisierung der nationalen Verwaltungsverfahrensrechte Voraussetzung für die einheitliche und effektive Geltung des materiellen Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten iSt. 416 Dabei kommt den Gemeinschaftsorganen sowohl hinsichtlich der konzeptionellen Ausgestaltung und Konkretisierung der Intensität des Binnenmarktes als auch bezüglich der Beurteilung der marktintegrativen Erforderlichkeit einer gemeinschaftlichen Maßnahme ein weiter Beurteilungsspielraum ZU. 417 Das läßt sich darauf zurückführen, daß die Bestimmung des Gemeinwohlinteresses i. S. d. Art. 2 EGV nur von den Gemeinschaftsorganen selbst vorgenommen werden kann. 41S Die einzig wichtige Beschränkung, der die Organe in diesem Zusammenhang unterliegen, besteht darin, die marktintegrative Notwendigkeit einer Maßnahme nachvollziehbar und schlüssig zu begründen, bereits im Vorfeld des Erlasses rechtsangleichender Maßnahmen wesentliche Fachkenntnisse einzuholen und diese bei der Entscheidungsfindung entsprechend zu berücksichtigen.419 Angeglichen werden können die "Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten". Zu den Rechtsvorschriften zählen alle staatlichen Gesetze im formellen und materiellen Sinn, Verordnungen, Kollektivverträge, autonome Satzungen, nationales Gewohnheitsrecht und ungeschriebene Rechtsgrundsätze. Unter Verwaltungsvorschriften sind generell-abstrakte Anweisungen übergeordneter Be414 So Vedder, EuR Beiheft 1/1995,75/94; Flauss, in: Schwarze (Hg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996,31/ 116 f.; davon zu unterscheiden ist die Frage, ob auf Grund des Subsidiaritätsprinzips nicht der Erlaß von Richtlinien Vorrang genießt; s. dazu die Erklärung, die die EG-Mitgliedstaaten bei der Unterzeichnung der EEA der Schlußakte beigefügt haben, ABI 1987 L 169/24; vgl. auch Everling, Probleme der Rechtsangleichung, FS für Steindorff, 1990, 1155/1166; Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, 1985, 250ff.; Klein, in: Starck (Hg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, 1992,117/128. 415 Allerdings stellt Art. 95 EGV (früher Art. lOOa EGV) auf den ,,Binnenmarkt", nicht auf den "Gemeinsamen Markt" ab; s. zur Abgrenzung beider Begriffe Grabitz, in: Grabitz / Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1996, Art. 8a Rn. 3 ff.; Lenz, in: Lenz (Hg.), EG-Vertrag, Kommentar, Stand 1994, Art. 7a Rn. 2f.; Schräer, Die Kompetenzverteilung, 1992, 160 ff.; Everling, Probleme der Rechtsangleichung, FS für Steindorff, 1990, 1155 ff. 416 Hilf, in: Schwarze (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1982, 67/83, 89 f.; Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994, 130. 417 Vgl. Müller-Graf!, ZHR 159 (1995), 34/42. 418 Müller-Graf!, ZHR 159 (1995), 34/42. 419 Zu den aufgrund des Subsidiaritätsprinzips erhöhten Anforderungen an die Begründungspflicht bei Erlaß von Sekundärrechtsakten, vgl. Pieper, DVBI. 1993, 705/711; Blanke, ZG 10 (1995), 193/203, 213f.; Kahl, AöR 118 (1993), 414/440f.; s. auch Müller-Graf!, ZHR 159 (1995), 34/72. \

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

hörden oder Beamter an nachgeordnete Funktionsträger zu verstehen. 42o Damit sind alle von staatlicher Seite erlassenen oder anderweitig mit staatlicher Autorität versehenen generellen Regeln angleichungsfähig. 421 Einer Harmonisierung verfahrensrechtlicher Bestimmungen des Umwe1trechts nach Art. 95.Abs. 1 EGV steht also grundsätzlich nichts entgegen. Voraussetzung ist lediglich, daß materielle Umweltrechtsakte existieren,422 deren effektive und einheitliche Anwendung nur gewährleistet ist, wenn die Europäische Gemeinschaft zugleich Maßnahmen zur Angleichung des betreffenden nationalen Verwaltungsverfahrensrechts ergreift. Die Harmonisierung des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts nach Art. 95 Abs. 1 EGV ist also nur bei materiellrechtlichen Auswirkungen zulässig. Dasselbe gilt für eine auf Art. 95 EGV gestützte, einen ganzen Politikbereich umfassende abstrakte Bereichskodifikation423 verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorgaben wie sie der Zollkodex 424 darstellt. 425 Dagegen reicht die Bestimmung für ein darüber hinausgehendes umfassendes Gemeinschaftsverfahrensrecht nicht aus, da sie ähnlich dem Art. 94 EGV nur den Erlaß solcher Maßnahmen ermöglicht, die einen substantiellen Beitrag zur Errichtung des Binnenmarktes und der Sicherstellung seines fortdauernden Funktionierens leisten. 426

420 Langeheine, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 100 Rn. 15 ff. 421 S. Schreiber; Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 127. 422 Zur Abgrenzung von Art. 175 Abs. I EGV (früher Art. 130s Abs. I EGV) und 95 Abs. I EGV (früher 100a Abs. I EGV) als Ermächtigungsgrundlagen zum Erlaß von Umweltrechtsakten s. EuGH, Sig. 1993, 1-939ff.; 1994, 1-2857ff.; Jarass, EuZW 1991,5301 531; Schröer; Die Kompetenzverteilung, 1992, 105ff.; Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, 1993, 302 ff.; Himmelmann, EG-Umweltrecht und nationale Gestaltungsspielräume, 1997, 94ff.; Everling, EuR 1991,179/181; ders., in: Behrens/Koch (Hg.), Umweltschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1991,29/43; Breuer; UTR 9 (1989), 43/89ff.; Krämer; EuGRZ 1995,45/48; Vorwerk, Die umweltpolitischen Kompetenzen, 1990, 92ff.; Bleckmann, Europarecht, 6. Auf!. 1997, Rn. 1926f.; Glaesner; in: Rengeling (Hg.), Europäisches Umweltrecht und europäische Umweltpolitik, 1988, 1/10; Grabitz/Zacker; NVwZ 1989, 297/301; Molkenbur; DVBI. 1990, 677/682; Breier; in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 13 Rn. 45 ff. 423 Zum Begriff s. Vedder; EuR Beiheft 1/1995, 75/83, 85. 424 VO Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften v. 12.10. 1992 (ABI L 302/1). 425 Vgl. Streinz, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991, 291; Klein, in: Starck (Hg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, 1992, 138; Vedder; EuR Beiheft 11 1995,75/94; Sommermann, DVBI. 1996,889/897. 426 Vgl. dazu Kahl, NVwZ 1996, 865/869; Sommermann, DVBI. 1996, 889/897; Pipkom, in: G/T IE (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Auf!. 1991, Art. l00a Rn. 25.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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b) Verhältnis von Art. 94 und 95 Abs. 1 EGV

Seit der Einfügung des Art. 95 in den EG_Vertrag 427 ist sein Verhältnis zu Art. 94 EGV umstritten. 428 Mit der Titandioxid-Entscheidung 429 des Gerichtshofs dürfte das Problem mittlerweile jedoch geklärt sein. Der Gerichtshof zog darin den Anwendungsbereich des Art. 95 Abs. I EGV so weit, daß nunmehr alle Maßnahmen der Gemeinschaft, die die Schaffung unverfälschter Wettbewerbsbedingungen zum Gegenstand haben, die Verwirklichung des Binnenmarktes betreffen und deshalb auf den insoweit spezielleren Art. 95 EGV zu stützen sind. 43o Dafür spricht schon der Wortlaut des Art. 95 Abs. I S. 1 EGV, nach dem, soweit im EG-Vertrag nichts anderes bestimmt ist, "abweichend von Artikel 94 für die Verwirklichung der Ziele des Artikels 14 die nachstehende Regelung" gilt. Das läßt den Schluß zu, daß der Rückgriff auf Art. 94 EGV kraft vertraglicher Anordnung solange ausgeschlossen ist, wie Art. 95 EGV seinen Tatbestandsvoraussetzungen nach reicht, Art. 95 EGV gegenüber Art. 94 EGVaiso spezieller ist. 431 Art. 94 EGV kommt demnach allenfalls noch in den nach Art. 95 Abs. 2 EGVaus dem Anwendungsbereich des Absatzes 1 Satz 2 ausgeklammerten Rechtsbereichen zum Tragen. 432

c) Subsidiarität des Art. 95 EGV

Für den Fall, daß keine vertraglich spezielleren Sonderermächtigungen vorliegen - Art. 95 EGV ist seinem Wortlaut nach nur anwendbar, "soweit in diesem Vertrag nichts anderes bestimmt ist" -, ist auf Art. 95 Abs. 1 EGV als richtige Rechtsgrundlage zum Erlaß von Harmonisierungsmaßnahmen zurückzugreifen. Als solche speziellere, die Anwendung von Art. 95 EGV ausschließende Kompetenzgrundlage zur Harmonisierung des nationalen Verwaltungs verfahrens auf dem Gebiet des Umwe1trechts kommt die Kompetenz der Gemeinschaft aus Art. 175 Abs. 1 EGV in Betracht. Andere den Art. 95 Abs. 1 EGV insofern verdrängende Bestimmungen sind nicht ersichtlich. Darauf, in welchem Verhältnis Art. 95 EGV zu Art. 308 EGV steht, soll an anderer Stelle näher eingegangen werden. 433 Dies erfolgte durch die EEA v. 28. 02. 1986 (BGBI. H, 1104). Ausführlich dazu Epiney, JZ 1992, 564/566f.; Breulmann, Normung und Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1993, 102 ff.; Himmelmann, EGUmweltrecht und nationale Gestaltungsspielräume, 1997, 85 ff. 429 EuGH, Slg. 1991,1-2867/2895 ff. 430 Vgl. Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994,327 m. w. N. 431 So auch Breulmann, Normung und Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1993, 104; Langeheine, EuR 1988, 235/241 f.; Müller-Graf!, EuR 1989, 107/132. 432 Wie hier Everling, EuR 1991, 179/181; Breulmann, Normung und Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1993, 113/ Fn. 99. 433 S. unten 3. Teil B III 4 b. 427 428

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

4. Die Kompetenzergänzungsvorschrift des Art. 308 EGV a) Anwendungsvoraussetzungen

Ausgehend vom Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung sieht der EG-Vertrag in Art. 308 eine Erweiterung der vertraglich vorgesehenen Kompetenzen vor. Voraussetzung dafür ist, daß ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich erscheint, "um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen", und "die hierfür erforderlichen Befugnisse" im Vertrag nicht schon vorgesehen sind. Eine Unterscheidung zwischen materieller, verfahrensrechtlicher und organisatorischer Rechtssetzung wird nicht getroffen. Art. 308 EGV stellt vielmehr primär auf die Erfüllung der Vertragsziele ab. 434 Gern. Art. 3 lit.h EGV zählt die Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften dazu, "soweit dies für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlich ist". Wird die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts durch die Unterschiedlichkeit der nationalen Verfahrensregelungen beeinträchtigt, kann eine Erforderlichkeit in diesem Sinne bejaht werden. Ausschlaggebend für die Anwendung des Art. 308 EGV ist damit die Frage, ob die zur Zielverwirklichung erforderlichen Befugnisse im Vertrag nicht schon vorgesehen sind. 435 Denn soweit Spezialermächtigungen wie Art. 175 Abs. 1 EGV oder aber Art. 94, 95 EGV bzw. implied powers zum Tragen kommen, bleibt kein Raum für Art. 308 EGY. Die Bestimmung gelangt allenfalls subsidiär zur Anwendung. 436 b) Verhältnis zu Art. 175,94,95 EGV

Kann der Erlaß materieller Umweltrechtsakte auf Art. 308 EGV gestützt werden, ergeben sich die entsprechenden verfahrensrechtlichen Kompetenzen zur Sicherung der effektiven Durchsetzung des materiellen Rechts ebenfalls aus Art. 308 EGV. Die Möglichkeit der Kodifikation verfahrensrechtlicher Vorgaben ist somit unmittelbar an die Abgrenzung der Befugnisnormen auf materiell-rechtlicher Ebene geknüpft. Ob nach Einführung der Art. 175 Abs. 1,95 EGV durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA)437 für die Kompetenzergänzungsvorschrift des Art. 308 EGV noch ein Anwendungsbereich verbleibt, ist umstritten. Teilweise wird die Ansicht438 vertreten, das umweltpolitische Aufgabenfeld sei mit Art. 175 EGV und 434 S. Schwartz. in: G/T/E (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Auf!. 1991, Art. 235 Rn. 20. 435 Zu den übrigen Voraussetzungen s. Häde / Puttler, EuZW 1997, 13/14 f. 436 EuGH, Sig. 1996, I-1759/1788 Rn. 28; Grabitz. in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 235 Rn. 39; Engel. Die Verwaltung 1992,437/ 461. 437 Zu Art. 308 EGV (früher Art. 235 EGV) als Rechtsgrundlage für Umweltrechtsakte vor der EEA v. 28. 2. 1986 (BGB!. 11, 1104), s. Scheuing, EuR 1989, 152/154 ff.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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Art. 95 EGV umfassend abgedeckt. Art. 308 EGV komme auf dem Gebiet des Umweltrechts also nicht mehr zum Tragen. Nach anderer Ansicht439 greift die Vorschrift noch im Bereich der Umwelterziehung und der umweltorientierten Energiepolitik Platz. Dem ist entgegenzuhalten, daß auch diese Bereiche den in Art. 174 Abs. 1 EGV formulierten Zielen dienen und somit ebenfalls dem Anwendungsbereich des Art. 175 Abs. 1 EGV unterfallen. 44o Daß es sich dabei eher um mittelbare Steuerungsinstrumente, denn um direkte Maßnahmen zur Verwirklichung der Gemein schafts ziele handelt, ist unerheblich. Anhaltspunkte dafür, daß die Europäische Gemeinschaft die Gemeinschaftsziele i. S. d. Art. 174 Abs. 1 EGV nur auf direktem Wege verfolgen darf, bestehen nicht. Art. 308 EGV scheidet damit als Ermächtigungsgrundlage zum Erlaß von Umweltrechtsakten aus. Dementsprechend entfällt die Möglichkeit, auf der Grundlage annexer Kompetenzen zu konkreten materiell-rechtlichen Regelungen gern. Art. 308 EGV auch verfahrensrechtliche Vorgaben an die Mitgliedstaaten zu richten.

c) Abgrenzung zur Vertragsänderung

Art. 308 EGV könnte allenfalls ,eine von konkreten materiell-rechtlichen Umweltrechtsakten losgelöste abstrakte Bereichskodifikation des Verwaltungsverfahrens tragen. 441 Über deren rechtliche Zulässigkeit besteht Streit. Nach einer Ansicht442 muß ein Rückgriff auf Art. 308 EGV prinzipiell zulässig sein, wenn der Zersplitterung des Verwaltungsrechts und damit der uneinheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht anders entgegengewirkt werden kann. Da sich eine abstrakte Kodifika438 Pernice, Die Verwaltung 1989, 1/6; Breuer; UTR 9 (1989), 43/88; Glaesner; EuR 1986, 119/141; ders., NuR 1988, 1661169; Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rn. 2820. 439 GrabitzlNettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 130s Rn. 56; vgl. auch v. Borries, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 25 Rn. 34, der es dahingestellt sein läßt, ob Art. 308 EGV (früher Art. 235 EGV) im Umweltbereich theoretisch noch anwendbar ist oder nicht. 440 So auch Schröer; Die Kompetenzverteilung, 1992, 195; Himmelmann, EG-Umweltrecht und nationale Gestaltungsspielräume, 1997, 120 f. 441 Vgl. etwa die auf Art. 308 EGV (früher Art. 235 EGV) gestützte VO Nr. 1430/79 des Rates über die Erstattung oder den Erlaß von Eingangs- oder Ausfuhrabgaben v. 2. 7. 1979 (ABI L 175/1) und die VO Nr. 1697/79 des Rates betreffend die Nacherhebung von noch nicht vom Abgabenschuldner angeforderten Eingangs- oder Ausfuhrabgaben für Waren, die zu einem Zollverfahren angemeldet worden sind, das die Verpflichtung zur Zahlung derartiger Abgaben beinhaltet, v. 24. 7. 1979 (ABI L 197/1); dazu Ress, in: Burmeister (Hg.), Die verfassungsrechtliche Stellung der Verwaltung, 1991, 199/208 ff.; weitere Beispiele bei Kahl, NVwZ 1996, 8651 868 f. 442 Engel, Die Verwaltung 1992,437/461; Streinz, in: Schweitzer (Hg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991,241/290.

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

tion nicht auf Art. 175 Abs. 1 EGV stützen läßt und Art. 94, 95 EGV diesbezüglich nur beschränkt Anwendung finden, kommt Art. 308 EGV hier demnach möglicherweise zum Tragen. Demgegenüber lehnen andere443 einen Rückgriff auf Art. 308 EGV ab, da kein Bedürfnis für dessen Anwendung bestehe oder aber seine Inanspruchnahme das Subsidiaritätsprinzip verletze. Im übrigen überlasse das Gemeinschaftsrecht die Aufgabe des indirekten Vollzugs grundsätzlich den Mitgliedstaaten. Ein extensives Verständnis des Art. 308 EGV stehe dem entgegen. Als Kernproblem des Streits erweist sich somit letztlich die Frage nach der Abgrenzung des Art. 308 EGV zur Vertragsänderung i. S. d. Art. 48 EUV444 • Auch in dieser Hinsicht gehen die Meinungen weit auseinander. Wahrend die Zulässigkeit einer Vertragsänderung nach Art. 308 EGV teils445 auf strikte Ablehnung stößt, wird sie teils 446 prinzipiell bejaht. Es dürfe nur "der Charakter des Vertrages" nicht verändert, die "Identität der Gemeinschaft" nicht in Frage gestellt oder eine Vertragsbestimmung nicht "im Grundsatz umgekehrt" werden. Ob damit geeignete Abgrenzungskriterien gefunden sind, mag zu Recht zweifelhaft sein. 447 Fest steht allenfalls, daß Art. 308 EGV keine Änderung des Wortlautes einer vertraglichen Regelung ermöglicht. 448 Daneben verbietet sich ein Rückgriff auf Art. 308 EGV, wenn der EG-Vertrag ausdrücklich auf das Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 EUV verweist oder ein Tätigwerden der Gemeinschaft explizit ausschließt bzw. ein Handeln der Mitgliedstaaten vorschreibt. 449 Letzteres ist hier möglicherweise der Fall. Art. 175 Abs. 4 EGV erklärt die Finanzierung und Durchführung der Umweltpolitik nämlich zur Aufgabe der Mitgliedstaaten. Die Vorschrift könnte demnach einer Bereichskodifikation des Verwaltungsverfahrens durch die Gemeinschaft nach Art. 308 EGV entgegenstehen. Art. 175 Abs. 4 EGV bestimmt aber auch, daß die Aufgaben "unbeschadet bestimmter Maßnahmen gemeinschaftlicher Art" wahrzunehmen sind. Die danach zulässigen Gemeinschaftsaktivitäten finden ihre Grundlage wiederum in anderen Vertragsbestimmungen, zu denen u. a. Art. 308 EGV zählt. Bei näherer Betrachtung gelangt man so zu einem Zirkelschluß, der nicht weiterführt. 443 Vedder, EuR Beiheft 1/1995, 75195; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. I, 1988,51; Zuleeg, KSE 9 (1969), 221, der primär sogar einen Verwaltungsvollzug durch die Gemeinschaftsorgane selbst ins Auge faßt. 444 Früher Art. N EUV. 445 S. nur Tomuschat, EuR 1976, Sonderheft, 45155. 446 HädelPuttler, EuZW 1997, 13/15; Schreiber, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 153 f.; s. dazu auch Grabitz, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 235 Rn. 4ff. 447 Skeptisch auch Grabitz, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 235 Rn. 5. 448 Schwartz, in: G/T/E (Hg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Auf!. 1991, Art. 235 Rn. 22 m. w. N. 449 Vgl. Jarass, AöR 121 (1996), 173/184; HädelPuttler, EuZW 1997, 13/15; Lenaerts, CMLRev. 31 (1994), 7/36; Ress, Die Zulässigkeit von Kulturbeihilfen in der Europäischen Union, GS für Grabitz, 1995, 5951625.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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Es muß daher nach anderen als den genannten Abgrenzungskriterien gesucht werden. Diesbezüglich könnte das vom Europäischen Gerichtshof jüngst erarbeitete Gutachten 2/94450 nähere Aufschlüsse liefern. Der Gerichtshof stellt darin für die Abgrenzung des Art. 308 EGV von der Vertragsänderung i. S. d. Art. 48 EUV auf die Folgen der beabsichtigten Maßnahme ab. 451 Sollten diese in einer wesentlichen Änderung des Gemeinschaftssystems bestehen, "die grundlegende institutionelle Auswirkungen sowohl auf die Gemeinschaft als auch auf die Mitgliedstaaten hätte",452 ginge dies über die Grenzen des Art. 308 EGV hinaus und erfordere daher ein Vorgehen nach Art. 48 EUY. Wenn auch unklar bleibt, auf welches Tatbestandsmerkmal der Gerichtshof dabei konkret abstellt, so läßt sich dem Gutachten dennoch ein insgesamt restriktives Verständnis des Art. 308 EGV entnehmen. 453 Mit der wiederholten Betonung des Grundsatzes von der begrenzten Einzelermächtigung folgt der Gerichtshof damit der Forderung des Bundesverfassungsgerichts,454 der Anwendung des Art. 308 EGVengere Schranken als bisher zu ziehen. Was die abstrakte Regelung des Umweltverwaltungsverfahrens durch die Gemeinschaft betrifft, spricht somit einiges dafür, die Notwendigkeit einer Vertragsänderung anzunehmen. Das gilt um so mehr, als eine Zuweisung formellrechtlicher Befugnisse an die Europäische Gemeinschaft einen schwerwiegenden Eingriff in die innerstaatliche Souveränität der Mitgliedstaaten mit sich brächte, das institutionelle Gefüge der nationalen Verwaltungsrechtsordnungen also nicht unerheblich beeinträchtigt wäre. 455 Endlich spricht für eine Vertragsänderung die Akzeptanz der gemeinschaftlichen Maßnahme, die bei Beteiligung der nationalen Parlamente im Verfahren nach Art. 48 EUV gewiß weitaus größer ausfiele als bei einem äußerst vagen Vorgehen nach Art. 308 EGY. Die Zulässigkeit einer abstrakten Bereichskodifikation des Verwaltungsverfahrens gern. Art. 308 EGV ist somit abzulehnen. Dasselbe gilt dann erst recht für eine allgemeine sachgebietsübergreifende456 Regelung.

EuGH,Slg. 1996,1-1759ff.;s.auchEuGH,Slg. 1994,1-5267/5414. EuGH, Sig. 1996,1-1759/1788 Rn. 30. 452 EuGH, Sig. 1996,1-1759/1789 Rn. 35. 453 Vgl. auch Hädel Puttler, EuZW 1997, 13/17; Schreiber, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 154, nach deren Ansicht nicht davon ausgegangen werden kann, daß der Gerichtshof in seinem Gutachten das Verhältnis zwischen Art. 308 EGV (früher Art. 235 EGV) und Art. 48 EUV (früher Art. N EUV) abschließend entscheiden wollte. 454 BVerfGE 89, 155/210. 455 Vgl. auch Grabitz. in: Grabitz I Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 235 Rn. 24, demzufolge das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip sowie das Prinzip vertikaler Gewaltenteilung als Ausdrucksfonnen des Prinzips der begrenzten Einzelennächtigung leerliefen, wenn "unter Zielen des Vertrages" in Art. 308 EGV (früher Art. 235 EGV) auch Erwartungen zu verstehen wären, die die Gemeinschaft losgelöst von ihren allgemeinen oder besonderen Aufgabenzuweisungen erfüllen könnten. 456 Eine Regelung, die sich nicht auf einen bestimmten Bereich beschränkt, sondern mehrere Sachgebiete betrifft. 450 451

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

IV. Der Verwaltungsprozeß 1. Kompetenzgrundlagen Für die Einwirkungsmöglichkeiten der Europäischen Gemeinschaft auf das Verwaltungsprozeßrecht der Mitgliedstaaten kann nichts anderes gelten als für ihre verwaltungsorganisatorischen und -verfahrensrechtlichen Befugnisse. Die einschlägigen Kompetenzgrundlagen und deren Reichweite sind dieselben, handelt es sich doch das eine wie das andere mal um Gemeinschaftsregelungen auf dem Gebiet des allgemeinen Verwaltungsrechts, für die im vorliegenden Zusammenhang allenfalls auf die durch Art. 175 Abs. 4 EGV eng begrenzte Kompetenz aus Art. 175 Abs. 1 EGV als Spezialermächtigung bzw. Art. 94, 95 Abs. 1 EGV als Rechtsangleichungsnormen zurückgegriffen werden kann. 457 Im Vordergrund der gemeinschaftlichen Handlungsbefugnis steht damit abermals die Frage nach der zwingenden Erforderlichkeit EG-rechtlicher Eingriffe, diesmal in die nationalen Verwaltungsprozeßordnungen. 2. Erforderlichkeit gemeinschaftlichen Tätigwerdens a) Verwaltungsgerichtlicher vorläufiger Rechtsschutz

Mitgliedstaatliche Vollzugsdefizite, die gemeinschaftliche Vorgaben prozessualer Art erfordern, könnten sich möglicherweise beim verwaltungsgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutz zeigen. 458 Insofern sei auf die Urteile des Europäischen Gerichtshofs im Fall ,,zuckerfabrik Süderdithmarschen" und "Atlanta" verwiesen. Der Rechtssache "Zuckerfabrik Süderdithmarschen,,459 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Das Hauptzollamt Itzehoe hatte gegen die Zuckerfabrik Süderdithmarschen einen Bescheid erlassen, in der sie eine besondere Tilgungsabgabe für Zucker festsetzte. Rechtsgrundlage hierfür war die Verordnung 1914/87/EWG.46o Die Zuckerfabrik hielt die Verordnung für rechtswidrig und daher unwirksam, so daß sie nach erfolglosem Einspruch Anfechtungsklage erhob. Gleichzeitig bean457 Vgl. Schach, DVBI. 1997, 289/294, der allerdings auch auf Art. 308 EGV (früher Art. 235 EGV) verweist. 458 S. zum vorläufigen Rechtsschutz im Gemeinschaftsrecht allgemein Schwarze, Vorläufiger Rechtsschutz, FS für Börner, 1992, 389ff.; Schach, DVBI. 1997,289/290; SchlemmerSchulte, EuZW 1991, 307ff.; Dänzer-Vanotti, BB 1991, 1015ff.; Wägenbaur, EuZW 1996, 327ff.; Haibach, DÖV 1996, 60ff.; Classen, in: Kreuzer u. a. (Hg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997, 107/113 ff.; Scheuing, in: Hoffmann-Riem 1Schmidt-Aßmann (Hg.), Innovation und Flexibilität des VerwaltungshandeIns, 1994, 2891 324 ff. m. w. N. 459 EuGH, Slg. 1991, I-4151534ff.; dazu Dänzer-Vanotti, BB 1991, 1015/1017; Schwarze, Vorläufiger Rechtsschutz, FS für Börner, 1992, 389/399f.; Schlemmer-Schulte, EuZW 1991,307/309f. 460 VO 1914/87 IEWG des Rates v. 2. 7.1987 (ABI L 18315).

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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tragte sie, die Vollziehung des Abgabenbescheids auszusetzen (§ 69 Abs. 3 S. 1 FGO). Das Finanzgericht gab dem Antrag statt, legte aber dem Gerichtshof nach Art. 234 EGV die Frage vor, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen zur Aussetzung der Vollziehung eines auf einer EG-Verordnung beruhenden Verwaltungsakts vorläufiger Rechtsschutz gewährt werden könne. Die Frage, ob einstweiliger Rechtsschutz gewährt werden könne, beantwortete der Gerichtshof positiv. Zur Sicherstellung eines umfassenden Rechtsschutzes sei es dringend erforderlich, daß für ein nationales Gericht generell die Möglichkeit bestehe, die Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auszusetzen. 461 Außerdem sehe Art. 242 EGV462 auch auf Gemeinschaftsebene die Möglichkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vor. Was aber für die Gemeinschaft gelte, könne den Mitgliedstaaten nicht versagt sein. Im Interesse einer einheitlichen Durchführung des EG-Rechts orientierte sich der Europäische Gerichtshof dementsprechend auch bei der Frage nach den maßgeblichen Voraussetzungen einer Aussetzungsanordnung an den in Art. 242 EGV genannten Kriterien. 463 Nach Maßgabe dieser Vorschrift müsse das den Verwaltungsakt aussetzende Gericht nicht nur erhebliche Zweifel an der Gültigkeit der zugrundeliegenden Gemeinschaftsverordnung haben, sondern die Aussetzung habe darüber hinaus so dringend zu sein, daß der Antragsteller für den Fall des Vollzugs des betreffenden Verwaltungsaktes möglicherweise einen nicht wiedergutzumachenden schweren Schaden erlitte. Zudem habe das nationale Gericht den Gemeinschaftsinteressen ausdrücklich Rechnung zu tragen. 464 Ein nationales Gericht habe folglich auch dann vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dem eine nationale Norm entgegensteht, im Hinblick auf den Anwendungsvorrang des EGRechts der Erlaß einer einstweiligen Anordnung aber geboten erscheint. Andererseits müsse es die sofortige Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden Verwaltungsaktes anordnen, wenn nur so eine möglichst effektive Umsetzung des EG-Rechts sichergestellt ist. 465 Da die Kriterien des Art. 242 EGV von denjenigen des deutschen Rechts erheblich abweichen,466 liegt damit eine weitgehende Verdrängung nationaler Bestim461 Vgl. auch EuGH, Sig. 1990, 1-2433/2474 Rn. 21. Für das deutsche Rechtsschutzsystem bleibt diese Entscheidung allerdings ohne Bedeutung, s. Schach, DVBI. 1997,289/294. 462 Früher Art. 185 EWGY. 463 EuGH, Sig. 1991,1-4151542 Rn. 25 ff.; dazu vgl. auch Krück, in: G/T IE (Hg.), Kommentar zum EU-lEG-Vertrag, 5. Aufl. 1997, Art. 185 Rn. 7ff.; Klinke, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1989, 83 ff.; Schwarze, in: ders. (Hg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996, 123/188; Schweitzer, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 26 Rn. 25. 464 EuGH, Sig. 1991,1-4151543 Rn. 30. 465 V gl. Schwarze, Vorläufiger Rechtsschutz, FS für Börner, 1992, 389/397. 466 Näher dazu Engel, Die Verwaltung 1992, 437/439 f.; vgl. auch Schwarze, in: ders. (Hg.), Das VerwaltuLlgsrecht unter europäischem Einfluß, 1996, 123/189.

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

mungen durch richterlich entwickelte Entscheidungsmaßstäbe vor. 467 Das ist als Rechtsfortbildung 468 durch den Europäischen Gerichtshof zu werten. Mit Urteil vom 9. 11. 1995 469 bestätigte der Gerichtshof diese Judikatur. 47o Anders als im ,,süderdithmarschen"-Fall ging es in der sog. "Atlanta"-Entscheidung allerdings um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein nationales Gericht bei erheblichen Zweifeln an der Gültigkeit der dem betreffenden Verwaltungsakt zugrundeliegenden EG-Verordnung eine einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO erlassen darf. 471 Vergleichbar sind die Entscheidungen gleichwohl deshalb, weil der Gerichtshof in beiden Fällen gemeinschaftsrechtliche Grundsätze zum Maßstab der Anwendung nationalen Verwaltungsprozeßrechts macht. Legt er einmal die für Art. 242 EGVentwickelten Kriterien zugrunde, stützt er seine Vorgaben das andere Mal auf den in Art. 243 EGV472 zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken. 473 Die nationalen Gerichte haben demnach auch bei Erlaß einstweiliger Anordnungen vorläufigen Rechtsschutz nach gemeinschaftsrechtlichen Maßstäben zu gewähren. Festzuhalten ist, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Aussetzung der Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsaktes nur unter den strengen Voraussetzungen des Art. 242 EGV zulässig474 bzw. nationales, der vollen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts entgegen467 So auch Rengeling, VVDStRL 53 (1994), 202/226; vorsichtiger Classen, in: Kreuzer u. a. (Hg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997, 107/115, der in diesem Zusammenhang der Auffassung ist, daß beim Europäischen Gerichtshof weder "Systemveränderer [ ... ] noch wilde Rechtsdurchsetzer" tätig seien; vgl. auch EuGH, Sig. 1990,1-2433 ff., wo es sogar um die Aufoktroyierung des einstweiligen Rechtsschutzes als einem dem englischen Common Law vollkommen fremden Rechtsinstitut ging, dazu Pagenkopf, NVwZ 1993,216/220; Klein, Der Staat 1994, 39/46 (Fn. 36). 468 Auch als "Rechtsschöpfung" bezeichnet bei Schoch, DVBI. 1997, 289/294; zur Rechtsfortbildung durch den Europäischen Gerichtshof allgemein s. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung, 1995; Hillgruber, in: v. Danwitz u. a. (Hg.), Auf dem Wege zu einer Europäischen Staatlichkeit, 1993, 31 ff.; Dänzer-Vanotti, Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, FS für Everling, 1995, 205 ff.; ders., RIW 1992, 733/ 734; ders., BB 1991, 1015/1016; Stein, Richterrecht wie anderswo auch?, FS für die Jur. Fak. Heidelberg, 1986, 619 ff.; Hummer I Obwexer, EuZW 1997, 295 ff.; Koenig I Sander; Einführung in das EG-Prozeßrecht, 1997, 8; Bleckmann, Die Rolle der richterlichen Rechtsschöpfung, GS für Constantinesco, 1983,61 ff.; teilweise wird die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze durch den Europäischen Gerichtshof auch als richterrechtliche Konkretisierung des Art. 234 EGV (früher Art. 177 EGV) angesehen, Hatje, Gemeinschaftsrechtliche Steuerung, 1996, 342 f.; kritisch dazu Schoch, DVBI. 1997, 289/294 f. 469 EuGH, Sig. 1995,1-3761/3781 ff.; Anm. dazu BurmeisterlMiersch, EuZW 1995, 840f. 470 S. auch seine noch weitergehende "Bananenmarktordnungs-Entscheidung" v. 26. 11. 1996, EuGH, Sig. 1996, 1-6065/6088ff.; dazu ausführlich Koenig, EuZW 1997, 206ff. 471 Dazu Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, 2. Auf!. 1996, § 33 Rn. 13 ff.; § 25 Rn. 20a. 472 Früher Art. 186 EGY. 473 Zu den Voraussetzungen im einzelnen s. EuGH, Sig. 1995,1-3761/3791 Rn. 34ff. 474 EuGH, Sig. 1991,1-415/541 Rn. 20 f.; kritisch dazu Gomig, JZ 1992,39 ff.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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stehendes Verwaltungsprozeßrecht nicht anwendbar ist. 475 Im Hintergrund steht der Gedanke, eine effektive und einheitliche Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen. Die EuGH-Rechtsprechung läßt annehmen, daß dieses Ziel nur durch gemeinschaftliche Vorgaben erreicht werden kann, ein Tätigwerden der Europäischen Gemeinschaft hier also zwingend erforderlich ist. 476 Da der Gemeinschaft bei der Beurteilung der Erforderlichkeit ein erheblicher Ermessensspielraum zukommt,477 ist dem zuzustimmen. Einer Kodifikation der vom Gerichtshof aufgestellten verwaltungsprozessualen Vorgaben für den indirekten Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten steht somit nichts entgegen. Die teilweise im Schrifttum vertretene Ansicht,478 daß dadurch die Verbandskompetenz der Gemeinschaft überschritten werde, ist abzulehnen. Sie wäre nur dann nachvollziehbar, wenn sich der Gemeinschaftsgesetzgeber auf keine der eingangs genannten Rechtsgrundlagen stützen könnte. Als solche kommt hier aber Art. 95 EGV in Betracht. Danach ist eine Kodifikation der verwaltungsprozessualen Regelungen der Mitgliedstaaten bei Vorliegen materiellrechtlicher Auswirkungen möglich. 479 Daß die hier in Frage stehenden unterschiedlichen verwaltungsprozeßrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten der einheitlichen und effektiven Anwendung des materiellen Gemeinschaftsrechts entgegenstehen, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Bedenkt man außerdem, daß der Gemeinschaft diesbezüglich - wie erwähnt - ein erheblicher Ermessensspielraum zukommt, sind die Voraussetzungen einer gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierung nach Art. 95 EGV zu bejahen.

b) Klagebefugnis Ein weiteres Gebiet, auf dem eine Kodifikation verwaltungsprozessualer Vorgaben der Europäischen Gemeinschaft denkbar erscheint, betrifft die in den einzelnen Mitgliedstaaten recht unterschiedlich ausgestaltete Klagebefugnis. Daß insoweit ein zwingender Harmonisierungsbedarf besteht, dürfte unbestritten sein. Gerade im umweltrechtlichen Bereich führt der einmal weit, ein andemmal restriktiv gefaßte Individualrechtsschutz zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen. Um eine bereichsspezifisch einheitliche Kodifikation der Klagebefugnis herbeizuführen, könnte sich die Europäische Gemeinschaft daher möglicherweise auf Art. 94 oder 475 EuGH, Sig. 1990, 1-2433/2473 Rn. 18 ff.; vgl. auch Jowell/ Birkinshaw, in: Schwarze (Hg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996, 273 / 302 ff. 476 Vgl. Klein, in: Starck (Hg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, 1992, 117/ 138; Triantafyllou, NVwZ 1992, 129; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, Rn. 1153 ff.; a.A. Vedder, EWS 1991, 10/13 f.; Haibach, DÖV 1996,60ff. 477 S. oben 3. Teil BIll c. 478 So Schoch, DVBI. 1997,289/294; Schwarze, DVBI. 1996,881/ 886f., die kategorisch jede sachgebietsübergreifende Kodifikation verwaltungsprozessualer Gemeinschaftsrechtsgrundsätze ablehnen. 479 Dazu ausführlich oben 3. Teil B III 3 a.

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungsvollzug

95 Abs. I EGV stützen. Grundvoraussetzung dafür ist, daß sich die betreffenden nationalen Verwaltungsregelungen nicht nur generell auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes bzw. Binnenmarktes auswirken, sondern daß es darüber hinaus zu einer unmittelbaren Beeinträchtigung der einheitlichen und effektiven Geltung des materiellen Gemeinschaftsrechts kommt. 48o Die unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Bestimmungen zur Klagebefugnis könnten sich auf eine einheitliche Umsetzung der im materiellen Gemeinschaftsrecht verankerten individualschützenden Rechtspositionen auswirken. Als individualschützend betrachtet der Gerichtshof beispielsweise die "insbesondere zum Schutz der menschlichen Gesundheit" geschaffenen Grenzwerte der Luftreinhalterichtlinien. 481 Droht durch die Überschreitung dieser Grenzwerte eine Gefahr für die menschliche Gesundheit, müssen die Betroffenen deshalb in der Lage sein, "sich auf zwingende vorschriften zu berufen, um ihre Rechte geltend machen zu können".482 Der nationale Gesetzgeber hat somit jeden für klagebefugt zu betrachten, dem nach der gemeinschaftlichen Bestimmung ein Recht auf Einhaltung der Grenzwerte zustehen soll.483 Das ist dann der Fall, wenn "der Gemeinschaft oder den Mitgliedstaaten klare und uneingeschränkte Verpflichtungen auferlegt sind, die keinem zeitlichen Aufschub unterliegen, nicht oder nicht mehr von einer Bedingung abhängen und keine weitere Rechtsetzung auf der Ebene der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten erfordern, um günstige Rechtsfolgen für die Einzelnen deutlich festzulegen".484 Hierfür genügt, daß ein wesentliches Schutzgut der betreffenden Richtlinie dem einzelnen zugute kommen soll und insofern deutliche Vorgaben für die Art des Schutzes gemacht werden. 485 Eine besondere gesetzgeberische Absicht der Drittbegünstigung ist nicht erforderlich. 486 Dem deutschen Verständnis läuft das zuwider. Indem die Klagebefugnis an das Vorliegen subjektivöffentlicher Rechte anknüpft, subjektiv-öffentliche Rechte aber nur durch vorwiegend im Interesse des einzelnen erlassene Rechtsnormen begründet werden können, vermitteln die dem Allgemeinwohl dienenden Grenzwertregelungen grund480 Dazu oben 3. Teil B III 3 a; vgl. auch Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994, 130 f. 481 EuGH, Slg. 1991,1-2567/2601 Rn. 16; EuGH, Slg. 1991,1-2607/2631 Rn. 19; dazu s. auch Murswiek, JuS 1992,428/430. 482 EuGH, Slg. 1991,1-2567/2630 Rn. 16; ähnlich das Urteil zur Grundwasserrichtlinie, EuGH, 1991, 1-825/868 Rn. 8 und EuGH 1991, 1-5863/5886 Rn. 19; dazu ausführlich Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 57 ff.; Zuleeg, NJW 1993,31/37. 483 Der EuGH-Rspr. wird insofern auch eine ..Tendenz zur umweltrechtlichen Popularklage" attestiert, s. Murswiek, JuS 1992, 428/430. 484 Zuleeg, NJW 1993, 31/37; vgl. auch Jarass, NJW 1990, 2420; Everling, UTR 17

(1992),3/ 19;·ders., RIW 1992, 379/384f. 485 Zuleeg, NJW 1993,31/37; Himmelmann, DÖV 1996, 145/149. 486 Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 59; s. auch Wegener, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 145/ 163 ff.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgeoers im lJmweltrecht

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sätzlich keinen Individualrechtsschutz. 487 Dadurch verhindert die im deutschen Recht restriktiv verstandene Klagebefugnis die gerichtliche Durchsetzbarkeit derjenigen gemeinschaftlichen Rechtspositionen, die den Bürger durch einen bloßen Rechtsreflex begünstigen und damit kein subjektiv-öffentliches Recht gewähren. 488 Demgegenüber steht im französischen Recht die objektive Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Verwaltung im Vordergrund, so daß bereits ein bloßes Interesse ("interet pour agir") des Klägers an der Aufhebung der gerügten Maßnahme für eine rechtsschutzbegründende Position genügt. 489 Ob ihm ein subjektiv-öffentliches Recht zusteht, ist unerheblich. Die gerichtliche Geltendmachung der sich aus den Grenzwertregelungen des EG-Rechts ergebenden materiellen Rechtspositionen ist sichergestellt. Ob Gleiches auch für die tatsächliche Rechtsdurchsetzung gilt, ist zwar höchst zweifelhaft. Das französische Recht räumt der Verwaltung einen großen Ermessensspielraum ein, so daß eine Klage häufiger unbegründet ist. Es ist aber nicht sicher, ob ein Mehr an gescheiterten Klagen auf der Begründetheitsebene ein Weniger auf der Zulässigkeitsebene kompensiert. Daraus folgt, daß sich die konzeptionellen Unterschiede bei der Ausgestaltung der nationalen Klagebefugnisse unmittelbar auf die einheitliche und effektive Durchsetzung des materiellen Gemeinschaftsrechts auswirken. Damit liegen die Voraussetzungen der Art. 94, 95 Abs. I EGV zur Harmonisierung der in Bezug genommenen verwaltungsprozessualen Regelung vor. Die Harmonisierungsmaßnahme dürfte gern. Art. 5 Abs. 3 EGVallerdings "nicht über das für die Erreichung der Ziele [des EG-Vertrags] erforderliche Maß hinaus[gehen]". Danach sind die Kompetenzgrenzen überschritten, wenn eine einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts, auch durch einen die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen weniger beschneidenden Eingriff sichergestellt wäre. 490 Die Europäische Gemeinschaft könnte demnach verpflichtet sein, es statt einer einheitlichen Kodifikation der Klagebefugnis bei dem ohnehin geltenden Grundsatz der gemeinschaftskonformen Auslegung zu belassen. 491 Voraussetzung dafür ist, daß 487 Zur Abgrenzung des subjektiv-öffentlichen Rechts von bloßen Rechtsreflexen s. Wolff/ Bachof/ Stober, VerwR I, 10. Aufl. 1994, § 43 Rn. 8 ff.; Kadelbach, in: v. Danwitz u. a. (Hg.), Auf dem Wege zu einer Europäischen Staatlichkeit, 1993, 131/139ff.; eine ähnliche Trennung von "subjektiven Rechten" (diritto soggettivo) und "berechtigten Interessen" (interesse legittimo) kennt das italienische Recht, s. dazu Chiti, in: Schwarze (Hg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996, 229/252. 488 Schwarze, in: ders. (Hg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996, 123/176; Kadelbach, in: v. Danwitz u. a. (Hg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, 131/140ff.; Wegener, in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 145/147ff. 489 Jarass, DÖV 1981, 813/821; Frenz, DVBI. 1995,408/409; Schwarze, NVwZ 1996, 22/23. 490 Zu Art. 5 EGV (früher Art. 3b Abs. 3 EGV) ausführlich Jarass, EuGRZ 1994,209/ 214f. 491 So auch Zuleeg, NJW 1993, 31/37; ähnlich Frenz, DVBI. 1995,408/411 f.; Steinberg, AöR 120 (1995), 549/590, spricht von einer ,,richtlinienkonformen Fortentwicklung der

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3. Teil: Einwirkung von EG-Recht auf den Verwaltungs vollzug

es sich dabei um ein milderes, dem Ziel der einheitlichen Durchsetzung des materiellen Gemeinschaftsrechts gleichsam dienendes Instrument handelt. Wahrend der nationale Gesetzgeber durch den Erlaß eines gemeinschaftlichen Rechtsaktes nach Art. 94, 95 Abs. 1 EGV in seiner verwaltungsprozessualen Autonomie erheblich eingeschränkt würde,492 müßten die nationalen Stellen bei einer Verpflichtung zur gemeinschaftskonformen Auslegung einer mitgliedstaatlichen Bestimmung als drittschützend nur den ihnen ohnehin nach Art. 10 EGV obliegenden Pflichten nachkommen. Damit handelt es sich bei der gemeinschaftskonformen Auslegung um ein die nationalen Rechtsordnungen weniger berührendes Instrument. Zugleich müßte sichergestellt sein, daß auch solche gemeinschaftlichen Rechtspositionen als subjektiv-öffentlich eingestuft würden, die nach traditionellem deutschen Verständnis Ausdruck eines bloßen Rechtsreflexes sind und damit an sich keinen Individualschutz vermitteln. Aus deutscher Sicht ergeben sich in Anbetracht der Ausgestaltung der umweltrechtlichen Vorschriften hier keine Bedenken. Die einheitliche Anwendung etwa der in den Luftreinhalterichtlinien festgelegten Grenzwerte braucht also nicht über eine Angleichung der national unterschiedlich ausgestalteten Klagebefugnisse sichergestellt werden, sondern begründet bei gemeinschaftskonformer Auslegung bereits von sich aus ein subjektivöffentliches Recht, das dann unproblematisch auch im deutschen Recht gerichtlich durchsetzbar ist. Die zur Umsetzung der Luftreinhalterichtlinien ergangene 22. BImSchV bezeichnet die Grenzwerte dementsprechend auch ausdrücklich als Schutzwerte und weist ihnen damit nicht mehr nur eine bloße Vorsorgefunktion ohne Drittschutzcharakter zu. Mehr als fraglich ist jedoch, ob auch in den übrigen Mitgliedstaaten sichergestellt ist, daß durch das Institut der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung alle gemeinschaftlichen subjektiv-öffentlichen Rechtspositionen dem einzelnen einen Individualschutz vermitteln. Zudem kommt die gemeinschaftliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung ihrer materiell-rechtlichen Bestimmungen nur in den Grenzen des nach nationalem Recht Möglichen zum Tragen. Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung stellt somit zwar ein milderes, zur Zweckerreichung einer einheitlichen Durchsetzung materiell-rechtlicher Gemeinschaftsvorgaben aber nicht gleich geeignetes Instrument dar. Eine Harmonisierung der verwaltungsprozessualen Regelungen über die Klagebefugnis nach Art. 94, 95 Abs. 1 EGV ist also durchaus erforderlich. Schutznonntheorie". Eine andere Frage betrifft das Problem, welche Alternativen sich aus deutscher Sicht für die Umsetzung der zitierten EuGH-Rechtsprechung ergeben. S. dazu Schwarze, in: ders. (Hg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996, 123/ 177 ff.; vgl. auch Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 57 ff.; ders., in: ders./Neumann (Hg.), Umweltschutz und Europäische Gemeinschaften, 1994,35 ff.; ders., EuR 1991,211 ff.; ders., BlmSchG, 3. Auf!. 1995, § 48a Rn. 9; v. Danwitz, VerwArch 84 (1993), 73/89; Engel, Die Verwaltung 1992, 437/458f.; Everling, NVwZ 1993,209/215; Himmelmann, DÖV 1996, 145/148 f.; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261 ff. 492 Vgl. in anderem Zusammenhang Schwarze, in: ders. (Hg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996, 123/178.

B. Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Umweltrecht

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Lassen sich demnach auch eine Reihe verwaltqngsprozessualer nationaler Bestimmungen ausmachen, die in Anbetracht ihrer uneinheitlichen Anwendung EG-rechtlicher Vorgaben ein gemeinschaftliches Tätigwerden nahelegen, spielt die Kodifikation verwaltungsrechtlicher Regelungen auf diesem Gebiet gleichwohl eine eher untergeordnete Rolle. Ein speziell das Umweltrecht betreffender Regelungsbedarf ist nicht ersichtlich.

9 Nitschke

Vierter Teil

Einwirkungsmöglichkeiten auf den innerstaatlichen Verwaltungsvollzug durch Behörden der Gemeinschaft A. Einzelfallmaßnahmen der Kommission I. Problemstellung Eine weitere Möglichkeit, die der Europäischen Gemeinschaft zur Harmonisierung des nationalen Verwaltungsvollzugs zur Verfügung steht, besteht darin, gegenüber den Mitgliedstaaten Einzelfallmaßnahmen zu treffen und damit selbst Verwaltungstätigkeiten wahrzunehmen. Hierbei ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu beachten. I Danach haben die Gemeinschaftsorgane ihr Handeln auf eine primärrechtliche Ermächtigungsgrundlage zu stützen. Verordnungen, die die Gemeinschaftsorgane zu administrativem Handeln ermächtigen, sind also auf eine vertragliche Ermächtigungsnorm zurückzuführen. 2 Die Frage, welche Vorschriften darunter fallen, gewinnt an Aktualität. Denn die Zahl der Fälle, in denen die Gemeinschaft zumindest partiell selbst verwaltend tätig wird, nimmt zu. So entscheidet etwa nach der VO (EWG) Nr. 2309/93 3 nunmehr die Kommission über die Genehmigungsfähigkeit der Arzneimittel oder nach der VO (EG) Nr. 40/ 944 das "Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle)" über den Vollzug des gemeinschaftlichen Markensystems. Dem vergleichbar sieht die VO (EG) Nr. 2100/945 einen gemeinschaftlichen Sortenschutz vor, dessen Umsetzung und Anwendung im Aufgabenbereich des "Gemeinschaftlichen Sortenamtes" liegt. 6 Aus dieser Entwicklung ergeben sich Probleme, die auf die bislang nicht ausreichend klare Kompetenzabgrenzung zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten zurückzuführen sind. Kompetenzverteilungsnormen S. oben 3. Teil B I 1 betreffend Legislativakte. Vgl. Schreiber, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997,69. 3 ABI 1993 L 214/1. 4 ABI 1994 L lI/I, geänd. durch die VO (EG) Nr. 3288/94 (ABI L 349/83). 5 ABI 1994 L 22711. 6 S. weitere Beispiele bei v. Borries, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, FS für Everling, 1995, 127/133 ff.; s. ferner die Funktion der Kommission im Rahmen der Gentechnikrichtlinie 90/220/EWG (ABI L 117/15), vgl. dazu Jarass, NuR 1991, 49ff.; ders., UTR 14 (1991), 91 ff. 1

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A. Einzelfallmaßnahmen der Kommission

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ähnlich den Art. 83 ff. GG der bundesdeutschen Verfassung existieren nicht. Die vorhandenen Bestimmungen sind oft weit und allgemein gefaßt. Nach der dynamischen Auslegungsmethode besteht für die Gemeinschaft viel Raum, sie entsprechend extensiv zu nutzen. 7 Greifen keine speziellen Ermächtigungsnormen ein, kommt zudem eine Heranziehung des Art. 308 EGV in Betracht. s Befürchtungen der Mitgliedstaaten, die Gemeinschaft könne ihre Verwaltungskompetenzen überschreiten oder bereits überschritten haben, scheinen auf diesem Hintergrund durchaus berechtigt zu sein. Es gilt daher näher zu untersuchen, in welchem Umfang der Gemeinschaft derartige Kompetenzen tatsächlich zustehen.

11. Kompetenzgrundlagen 1. Art. 175 Abs. 1 EGV Als spezielle Ermächtigungsgrundlage für den Erlaß von Einzelfallmaßnahmen auf dem Gebiet des Umweltrechts kommt Art. 175 EGV in Betracht. Die Frage ist, ob Einzelfallmaßnahmen im Gegensatz zu Maßnahmen der Rechtsetzung möglicherweise nicht auf Art. 175 Absatz 1, sondern auf Absatz 4 zu stützen sind. Nach dieser Bestimmung tragen "unbeschadet bestimmter Maßnahmen gemeinschaftlicher Art [ ... ] die Mitgliedstaaten für die Finanzierung und Durchführung der Umweltpolitik Sorge." Unter "Durchführung" - im englischen Text mit "implement", im französischen mit "execution" übersetzt - ist die Konkretisierung von Gemeinschaftsrecht bzw. nationalem Ausführungsrecht durch eine Verwaltungsinstanz im Einzelfall zu verstehen. 9 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs umfaßt der Begriff der "Durchführung" daher u. a. den Erlaß von Einzel- bzw. Verwaltungsakten. 10 Dementsprechend konkretisiert sich der im engen Zusammenhang mit dem Begriff der "Durchführung" stehende Ausdruck "bestimmte Maßnahmen gemeinschaftlicher Art" dahingehend, daß auch Einzelfallmaßnahmen dazuzählen dürften. I I Unklar bleibt indes, ob der Gemeinschaftsgesetzgeber mit der Formulierung "unbeschadet bestimmter Maßnahmen gemeinschaftlicher Art" zum Ausdruck bringen wollte, daß auf anderen Ermächtigungsgrundlagen beruhende Gemeinschaftsrechtsakte unberührt bleiben oder solche, die auf Art. 175 Abs. 4 EGV gestützt sind. Ist letzteres der Fall, setzt er voraus, daß Art. 175 Abs. 4 EGV der Gemeinschaft eine originäre Verwaltungskompetenz verleiht. Der Wortlaut der VorS. dazu oben 3. Teil B 1 3. Vgl. Schreiber, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 17f., die außerdem auf die zunehmende Anzahl von EG-Mitgliedstaaten als weiterem Problem in diesem Zusammenhang hinweist. 9 S. oben 1. Teil B 11. 10 EuGH, Slg. 1989,3457/3485 Rn. 9ff.; 1992,1-5383/5434 Rn. 39. 11 Vgl. dazu oben 3. Teil BIll c. 7

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4. Teil: Einwirkungsmöglichkeiten durch Behörden der Gemeinschaft

schrift, der von "bestimmten", aber nicht auf eine spezielle Etmächtigungsgrundlage zurückzuführenden Maßnahmen spricht, läßt beide Interpretationen zu. Für die erste ist anzuführen, daß die Formulierung .,bestimmte Maßnahmen gemeinschaftlicher Art" generalklauselhaft erscheint, eine generalklauselhafte Ermächtigung aber wegen Verstoßes gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung unzulässig wäre. Wahrscheinlicher ist daher, daß sich der Gesetzgeber mit der Formulierung "bestimmte Maßnahmen" auf das in engem Zusammenhang damit stehende "Tätigwerden der Gemeinschaft" nach Art. 175 Abs. 1 EGV beziehen und daher lediglich Absatz 1 als Ermächtigungsgrundlage für Gemeinschaftsrechtsakte ansehen wollte. Dafür spricht u. a. die Überlegung, daß andernfalls Einzelfallmaßnahmen auf Absatz 4, rechtsetzende Maßnahmen dagegen auf Absatz 1 gestützt werden müßten, eine solche Differenzierung aber oft .schwer durchführbar ist. Abgesehen davon ist sie in vielen Mitgliedstaaten und im Gemeinschaftsrecht auch gar nicht üblich bzw. weit weniger ausgeprägt als etwa in der Bundesrepublik Deutschland. 12 Des weiteren ermächtigen auch andere Vorschriften des EG-Vertrages, wie etwa Art. 34 Abs. 2 EGV, zu Einzelfallmaßnahmen, ohne einen dem Absatz 4 des Art. 175 vergleichbaren Absatz aufzuweisen. Ihr offener Wortlaut und dessen teleologisch-dynamische Auslegung, die darauf abzielt, den praktischen Nutzen der jeweiligen Bestimmung zur bestmöglichen Entfaltung zu bringen, ermöglichen diesY Warum bei Art. 175 Abs. 1, dessen Wortlaut ähnlich weit gefaßt ist, etwas anderes gelten sollte, ist nicht ersichtlich. 14 Demnach ist davon auszugehen, daß Einzelfallmaßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Umweltrechts ebenso wie Rechtsetzungsmaßnahmen auf diesem Gebiet nicht auf Art. 175 Abs. 4 EGV, sondern auf Art. 175 Abs. 1 EGV zu stützen sind. Art. 175 Abs. 4 EGV kann il) diesem Zusammenhang aus denselben Gründen, wie sie schon im Hinblick auf die Rechtsetzungsmaßnahmen angeführt wurden,15 nur als Kompetenzbeschränkung dienen. Die Gemeinschaft hat bei der Inanspruchnahme der ihr zustehenden administrativen Befugnisse also äußerst restriktiv vorzugehen. Sie hat daher in jedem Einzelfall gesondert zu beurteilen, ob eine gemeinschaftliche Maßnahme wirklich zwingend erforderlich iSt. 16 Eine sachgerechte Lösung enthält insoweit etwa die Verordnung (EWG) Nr. 880/92.'7 Nach ihr entscheidet grundsätzlich die nationale Stellt: über die Vergabe des Umweltzeichens und nur ausnahmsweise, nämlich dann, wenn sich die Mitgliedstaaten S. Jarass, AöR 121 (1996), 173/183; ders., DÖV 1981, 813/819f. Vgl. Kahl, NVwZ 1996, 865/866. 14 Vgl. oben 3. Teil BIll b. 15 S. oben 3. Teil BIll c. 16 S. oben 3. Teil BIll c; vgl. auch v. Borries, in: Rengeling (Hg.), Hdb zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, Bd. I, § 25 Rn. 40. 17 ABI 1992 L 99/l. Daneben besteht im Umweltbereich mit der Förderung von Umweltprojekten im Rahmen der VO (EWG) Nr. 1973/92 über die Schaffung eines Finanzierungsinstruments für die Umwelt (LIFE) (ABI 1992 L 206/1) eine weitere administrative Befugnis der Kommission. 12 13

A. Einzelfallmaßnahmen der Kommission

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nicht einigen und die einheitliche Anwendung der Kriterien und die Einhaltung des Verfahrens nicht mehr gewährleistet ist, die Kommission.

2. Art. 211, 1. und 4. SpStr. EGV a) Art. 211, 1. SpStr. EGVermächtigt die Kommission, "für die Anwendung dieses Vertrags sowie der von den Organen auf Grund dieses Vertrags getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen". Da unter "Anwendung", wie bereits dargelegt, 18 die Konkretisierung von Gemeinschaftsrecht bzw. nationalem Ausführungsrecht durch eine Verwaltungsinstanz im Einzelfall zu verstehen ist, könnte der Vorschrift demnach möglicherweise eine umfassende Kompetenz der Kommission zum Erlaß von Einzelfallmaßnahmen entnommen werden. Dagegen sprechen jedoch zum einen die bereits gegen eine generelle Befugnis der Kommission nach Art. 211, 1. SpStr. EGV zum Erlaß verwaltungsverfahrensrechtlicher Bestimmungen angeführten Gründe 19 und zum anderen der Vergleich mit der französischen Fassung der Norm. Das dort verwendete Wort "veiller" weist eindeutig darauf hin, daß es sich um eine reine Überwachungsfunktion handelt, die der Kommission nach Art. 211, 1. SpStr. EGV zukommen soll. Ihr wird also lediglich die Aufgabe einer "Hüterin der Verträge" zugewiesen. 2o Daß sie darüber hinaus allgemein zur verwaltungsmäßigen Anwendung des EG-Rechts berufen sein soll, läßt sich der Vorschrift dagegen nicht entnehmen. b) Nach Art. 211, 4. SpStr. EGV ist die Kommission ermächtigt, "die Befugnisse auszuüben, die ihr der Rat zur Durchführung der von ihm erlassenen Vorschriften überträgt." Unter "Befugnisse zur Durchführung" fallen nach Ansicht des Gerichtshofs dabei Kompetenzen zum Erlaß von Durchführungsvorschriften und Einzelakten. 21 Im Unterschied zu Art. 175 Abs. 1 EGV muß hier jedoch davon ausgegangen werden, daß der Kommission nach dieser Vorschrift keine originären, sondern lediglich vom Rat delegierte Verwaltungsbefugnisse zustehen. Denn Art. 211,4. SpStr. EGV spricht von "übertragenen" Befugnissen. Wie bereits festgestellt wurde,22 handelt es sich bei Art. 211, 4. SpStr. EGV deshalb um eine Delegationsnorm, nach der der Rat nur Befugnisse übertragen kann, die er selbst besitzt. Diese müssen ihm aufgrund anderer Vertragsbestimmungen zugewiesen worden sein. Eine solche Vertragsnorm stellt etwa Art. 175 Abs. 1 EGV dar. S. oben I. Teil B II. S. oben 3. Teil B III 2 a. 20 Vgl. Schreiber; Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 71; zur Bedeutung des Art. 211, I. SpStr. EGV (früher Art. ISS, I. SpStr. EGV) s. auch Bleckmann, RIW 1991,218/219 f.; Breuer; WiVerw 1990,79/113 ff. 21 EuGH, Sig. 1989,3457/3485 Rn. 9ff.; 1992,1-5383/5434 Rn. 39; vgl. dazu Jarass, AöR 121 (1996), 173/182; Winter; in: Lübbe-Wolff (Hg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 1071122f. 22 S. oben 3. Teil B III 2 b. 18 19

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4. Teil: Einwirkungsmöglichkeiten durch Behörden der Gemeinschaft

3. Art. 95 Abs.l EGV a) Die Praxis der Gemeinschaftsorgane aa) Die sog. Novel-Food-Verordnung Der Rat und die Kommission gehen davon aus, daß Art. 95 Abs. 1 EGV Einzelfallentscheidungen der Gemeinschaftsorgane zuläßt. 23 Als aktuelles Beispiel hierfür dient die auf Art. 95 Abs. 1 EGV gestützte sog. Novel-Food-Verordnung über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten. 24 Sie wurde am 14. 2. 1997 im Amtsblatt bekanntgemacht und trat gemäß ihrem Art. 15 90 Tage später, also am 15. 5. 1997, in Kraft. 25 Inhaltlich führt die Verordnung für die ihrem Anwendungsbereich unterfallenden Produkte 26 generell ein Anzeigeverfahren und in bestimmten Fällen ein Genehmigungsverfahren ein. 27 Lediglich anzeigepflichtig sind danach Produkte i. S. d. Art. 3 Abs. 4 i. V. m. Art. 5 der Verordnung. Dies sind Lebensmittel nach Art. 1 Abs. 2 lit.b, d und e, "die hinsichtlich ihrer Zusammensetzung, ihres Nährwertes, ihres Stoffwechsels, ihres Verwendungszwecks und ihres Gehalts an unerwünschten Stoffen den bestehenden Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten im wesentlichen gleichwertig sind,,?8 Bei allen anderen Produkten, die der Novel-Food-Verordnung unterfallen, ist ein differenziertes, zweistufiges Genehmigungsverfahren nach Art. 3 Abs. 2 i. V. m. Art. 4, 6 und 7 VO Nr. 258/97 durchzuführen. Die zuständige nationale Stelle, in der Bundesrepublik Deutschland das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin, prüft in einem ersten Schritt den Antrag des für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses in der Gemeinschaft Verantwortlichen (Art. 6 Abs. 2). Kommt sie dabei zu einem für den Antragsteller günstigen Ergebnis, ist also eine ergänzende Prüfung nicht erforderlich (Art. 6 Abs. 3) und erheben weder die Kommission noch die Mitgliedstaaten einen begründeten Einwand gegen die 23 Wobei der Rat hierbei allerdings etwas zurückhaltender erscheint. So stellte er etwa die Rechtsgrundlage für die Arzneimittel-Zulassungs-Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 (ABI 1993 L 21411), dazu s. oben 4. Teil A I, von Art. 95 EGV (früher Art. 100a EGV), wie es der Vorschlag der Kommission vorsah, auf Art. 308 EGV (früher Art. 235 EGV) um. 24 VO (EG) Nr. 258/97 (ABI L 43/1); s. weitere Beispiele ähnlicher Rechtsakte bei Schreiber, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 122 f. 25 Ein im Jahre 1992 veröffentlichter Entwurf fand zunächst keine Zustimmung (ABI C 190/3 ff.). Er wurde 1994 erheblich modifiziert (ABI C 16/IOff.). Es folgten weitere interne Komprornißvorschläge, die insbesondere die Festlegung des Anwendungsbereichs und die Einführung und Ausgestaltung des präventiven Zulassungsverfahrens, aber auch das "Ob" und "Wie" der Produktkennzeichnung zum Streigegenstand hatten. 26 Dazu ausführlich Streinz. EuZW 1997, 487/489 f. 27 Der darin zum Ausdruck kommende grundrechtsbeschränkende Eingriff bedarf eines Rechtfertigungsgrundes. Dieser ist hier im vorbeugenden Gesundheitsschutz zu sehen. 28 Die "wesentliche Gleichwertigkeit" soll entweder nach den verfügbaren und allgemein anerkannten wissenschaftlichen Befunden oder aufgrund einer Stellungnahme einer Lebensmittelprüfstelle (Art. 4 Abs. 3) beurteilt werden.

A. Einzelfallmaßnahmen der Kommission

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Marktplazierung (Art. 6 Abs. 4 ), so erteilt sie eine mitgliedstaatliche Genehmigung zum Inverkehrbringen des Produkts (Art. 4 Abs. 2, 1. SpStr.). Diese Genehmigung hat gemeinschaftsweite Wirkung. Kommt sie dagegen zu einem negativen Pliifbericht, etwa weil ein Mitgliedstaat Einwände erhebt, so wird das Verfahren zwingend in das Kommissionsverfahren nach Art. 7 i. V. m. Art. 13 übergeleitet. Dort entscheidet dann die Kommission, ob sie den Genehmigungsantrag ablehnt oder ihn durch die Erteilung einer Gemeinschaftsgenehmigung positiv bescheidet. 29 Ihre Entscheidung kann als Rechtsakt der Gemeinschaft i. S. d. Art. 249 Abs. 4 EGV nach Art. 230 Abs. 4 EGVangefochten werden. Nach Ansicht der Kommission und des Rates ist ein einheitliches Genehmigungsverfahren auf europäischer Ebene bei Novel Food notwendig. Sie halten daher betreffend die Novel-Food-Verordnung einen Rückgriff auf Art. 95 Abs. 1 EGV für gerechtfertigt. 30 Dafür spricht, daß über das Inverkehrbringen der betreffenden Produkte in der gesamten Gemeinschaft und nicht nur in einem einzelnen Mitgliedstaat entschieden werden soll. Zudem wirkt die Einführung möglichst klarer und einheitlicher Gemeinschaftsregelungen "der (teilweise) vorhandenen Beunruhigung der Bevölkerung - die nicht zuletzt auf Unsicherheiten über die bereits tatsächliche Vermarktung von Novel Food sowie der Unbedenklichkeit dieser Erzeugnisse beruht -" entgegen. 31 Es ist anzunehmen, daß daher tatsächlich ein Regelungsbedarf besteht. 32 Doch vermag das allein noch keinen Rückgriff auf Art. 95 EGV zu rechtfertigen. Die übrigen Voraussetzungen der Vorschrift müssen ebenfalls erfüllt sein. Bevor darauf näher eingegangen wird, soll jedoch zunächst die Praxis des Europäischen Gerichtshofs untersucht werden. bb) Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Produktsicherheits-Richtlinie In seinem Urteil zur Produktsicherheits-Richtlinie 33 aus dem Jahre 199434 bescheinigte der Europäische Gerichtshof Art. 9 der auf Art. 95 EGV gestützten Richtlinie Vertragskonformität. Die Vorschrift sieht vor, daß die Kommission unter bestimmten näher festgelegten Voraussetzungen die Mitgliedstaaten zum Erlaß Näheres dazu s. Wahl/Groß. DVBI. 1998,2/8. 2. Erwägungsgrund der Verordnung; Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr. 25/95 (ABI C 320/1). 31 Wahl/Groß. DVBI. 1998,2/5. 32 Im übrigen steht der Gemeinschaft insofern ohnehin eine grundsätzliche Einschätzungsprärogative zu. 33 RL 92/59/EWG (ABI L 228/24). 34 EuGH, Sig. 1994, 1-3681/3698ff.; krit. dazu Micklitz. EuZW 1994,631; weitere Beispiele von Verordnungen und Richtlinien, deren (geplante) Rechtsgrundlage Art. 95 Abs. 1 EGV (früher Art. 100a Abs. I EGV) ist und die der Gemeinschaft VerwaItungskompetenzen einräumen, bei v. Borries. Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, FS für Everling, Bd. 1, 1995, 127/134 ff. 29

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4. Teil: Einwirkungsmöglichkeiten durch Behörden der Gemeinschaft

"geeigneter vorläufiger Maßnahmen" i. S. d. Art. 6 lit. d bis h RL 92/59/ EWG verpflichten kann. Der Vollzug des angeglichenen Rechts erfolgt in diesen Fällen aufgrund einer Einzelfallentscheidung der Kommission. 35 Zur Begründung seines Urteils führt der Gerichtshof u. a. an, daß die Ermächtigung zur Angleichung nationaler Bestimmungen dem Rat die Befugnis einräumt, ,,Maßnahmen hinsichtlich eines bestimmten Produkts oder einer bestimmten Produktkategorie und gegebenenfalls ·auch Einzelmaßnahmen hinsichtlich dieser Produkte vorzuschreiben". 36 Die hiernach zulässigen Maßnahmen i. S. d. Art. 95 Abs. 1 EGVerfassen nach seiner Ansicht also nicht nur Rechtsakte mit normativem Gehalt, sondern für den Fall, daß "die Angleichung nur der allgemeinen Vorschriften nicht ausreicht, um die Einheit des Marktes zu gewährleisten",37 auch Entscheidungen administrativer Natur. Zwar betont der Gerichtshof zugleich, daß solche Entscheidungen eines besonderen Rechtfertigungsgrundes bedürfen. Er führt nämlich weiter aus, daß die Kommission von ihrer Befugnis nach Art. 9 RL 92/59/ EWG nur dann Gebrauch machen dürfe, wenn Gefahren für die Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher nur durch gemeinschaftsweit einheitlich anwendbare Maßnahmen bewältigt werden und die Mitgliedstaaten in bezug auf die zu ergreifenden Maßnahmen zu keiner Einigung gelangen könnten. 38 Im Ergebnis stimmt er aber dem Erlaß von Vorschriften, die auf der Grundlage von Art. 95 Abs. I EGV die Gemeinschaftsorgane zur Vornahme von Einzelmaßnahmen ermächtigen, zu.

b) Anwendungsvoraussetzungen Nach Art. 95 Abs. 1 EGV ist der Rat befugt, "Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten" zu erlassen. Die Frage ist, ob darunter auch administrative Befugnisse der Gemeinschaft zum Erlaß von Einzelfallmaßnahmen fallen. Dafür könnte sprechen, daß mit der Ermächtigung zur Angleichung von Verwaltungsvorschriften auch solche Vorschriften harmonisiert werden können, durch die die administrative Tätigkeit der nationalen Stellen 35 Der Unterschied zur Novel-Food-Verordnung liegt hier darin, daß sich die Entscheidungen nach Art. 9 der Produktsicherheitsrichtlinie an die Mitgliedstaaten und nicht wie nach Art. 7 der Novel-Food- va unmittelbar an die betroffenen Gemeinschaftsbürger bzw. Unternehmer richten. Ein Verwaltungsvollzug durch die Mitgliedstaaten, der auf Weisungen der Kommission beruht, ist zwar formal "indirekter Vollzug", materiell handelt es sich aber eher um einen abgestuften "direkten Vollzug" durch die Kommission. Denn er erfolgt nicht autonom durch die nationalen Stellen aufgrund eines generellen normativen Rechtsanwendungsbefehls, sondern auf der Grundlage einer gemeinschaftlichen Einzelfallentscheidung, s. v. Borries, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, FS für Everling, 1995,127/137. 36 EuGH, Slg. 1994, 1-3681/3711 Rn. 37. 37 EuGH, Slg. 1994, 1-368113711 Rn. 37; vgl. auch v. Borries, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, FS für Everling, Bd. I, 1995, 127/134; Kahl, NVwZ 1996, 865/867 f. 38 EuGH, Slg. 1994, 1-3681/3711 Rn. 30ff.

A. Einzelfallmaßnahmen der Kommission

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u. U. detailliert geregelt wird. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß es einen Unterschied macht, Vorschriften anzugleichen oder selbst diejenigen Entscheidungen zu treffen, mit denen die Vorschriften auf Einzelfälle angewandt werden. 39 Während es im ersten Fall um die Harrnonisierung normativer Bestimmungen geht, handelt es sich im letzten um die Angleichung von Verwaltungs- bzw. Einzelakten. Eine Befugnis zur Vereinheitlichung von Einzelakten verleiht Art. 95 Abs. I EGV aber gerade nicht. Mit der Beschränkung der gemeinschaftlichen Kompetenz auf die Angleichung von "Rechts- und Verwaltungsvorschrijten der Mitgliedstaaten" erfaßt die Regelung explizit nur rein normative Tätigkeiten. 4o Zwar ist die insbesondere im deutschen Recht anzutreffende fundamentale Differenzierung zwischen Rechtsnormen und Einzelfallentscheidungen in den anderen Mitgliedstaaten und im EG-Recht weit weniger ausgeprägt. 41 Aber sie ist auch hier nicht unbekannt. Es liegt daher nahe anzunehmen, daß die Harrnonisierungsmaßnahmen der Gemeinschaft i. S. d. Art. 95 Abs. I EGV ihrerseits einen rein normativen Gehalt aufweisen müssen, administrative Regelungen in Form von Einzelfallmaßnahmen also vom Anwendungsbereich des Art. 95 Abs. I EGVausgeschlossen sind. 42 Bestimmungen wie die der Art. 7 i. V. m. 13 va Nr. 258/97 und Art. 9 RL 92/59/ EWG, wonach die Gemeinschaft Einzelfallmaßnahmen ergreifen darf, werden damit von Art. 95 Abs. I EGV nicht gedeckt.

c) Art. 95 Abs. 1 EGVi. V. m. implied powers

Zu überlegen ist, ob die Kompetenz der Gemeinschaft zum Erlaß von Einzelfallmaßnahmen möglicherweise auf die implied powers des Art. 95 Abs. I EGV gestützt werden kann. Dann müßte eine einheitliche und wirksame Anwendung des Gemeinschaftsrechts dies zwingend erfordern. 43 Dafür spricht, daß Funktionsstörungen des Binnenmarktes nicht allein auf die unterschiedlichen Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten zurückzuführen sind, sondern maßgeblich auch 39 GA Jacobs, Sig. 1994,1-3693; s. auch Schreiber; Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 132. 40 Vgl. Langeheine, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 100a Rn. 41, Art. 100 Rn. 15 ff. 41 S. oben 4. Teil A 11 I; Jarass, AöR 121 (1996), 173/183; zum französischen Recht vgl. ders., DÖV 1981, 813/819f. 42 S. v. Borries, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, FS für Everling, Bd. I, 1995, 127/133; s. ferner Schreiber; Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 133f., die hier eine Anwendung des Art. 95 EGV (früher Art. l00a EGV) zudem deshalb ablehnt, weil die Einführung eines zentralisierten Genehmigungsverfahrens keine Regelung mit Bezug zum nationalen Recht darstelle, der Begriff der Angleichung aber einen solchen Bezug voraussetze; kritisch auch Delbrück, EuZW 1990,371/375 und Herdegen, RIW 1992, 89/91: die eine Entscheidungskompetenz der Kommission nur bei einer recht weiten, dynamischen und damit kaum begrenzbaren, ihrerseits problematischen Vertragsauslegung als von Art. 95 EGV (früher Art. 100a EGV) gedeckt ansehen. 43 S. oben 3. Teil B I 2.

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4. Teil: Einwirkungsmöglichkeiten durch Behörden der Gemeinschaft

auf deren - durch unterschiedliche Verwaltungsentscheidungen hervorgerufene uneinheitliche Anwendung. Wenn die Mitgliedstaaten in solchen Fällen nicht in der Lage sind, dem zu begegnen, kann ein einheitlicher Vollzug u. U. nur erzielt werden, wenn die Gemeinschaft selbst die entsprechenden Maßnahmen ergreift. Dementsprechend geht ein Teil des Schrifttums44 im Ergebnis übereinstimmend mit den Gemeinschaftsorganen45 davon aus, daß es in bestimmten, eng umgrenzten Ausnahmefällen, wie etwa bei der Gefahr von schweren Produktsicherheitsnotfällen im Rahmen der Produktsicherheitsrichtlinie,46 zulässig sei, wenn die Gemeinschaft auf der Grundlage von Art. 95 EGV i. V. m. implied powers Einzelfallmaßnahmen ergreift. Ansonsten könne Art. 95 EGV "nicht in vernünftiger und zweckmäßiger Weise zur Anwendung gelangen." Zur Unterstützung dieses Befundes wird angeführt, daß das Ergebnis sowohl dem Subsidiaritäts- als auch dem Verhältnismäßigkeitsprinzip hinreichend Rechnung trage. Zum einen, weil die Gemeinschaft danach nur dann administrativ tätig werden dürfe, wenn nationale Aktivitäten nicht mehr ausreichten, und zum anderen, weil die weniger einschneidende Möglichkeit, den Mitgliedstaaten ein bestimmtes Vorgehen zu empfehlen, mangels Verpflichtung zu einem konkreten Verhalten keine einheitliche Durchsetzung garantieren könne. Außerdem dürften Gemeinschaftsentscheidungen nur als letztes Mittel erlassen werden. Nicht unproblematisch erscheint es jedoch, wenn hierbei von einer Gesetzgebungskompetenz auf eine ungeschriebene Verwaltungskompetenz geschlossen wird und nicht, wie bei den ungeschriebenen Kompetenzen üblich, von einer gegebenen Gesetzgebungskompetenz auf eine andere Gesetzgebungskompetenz oder einer gegebenen Verwaltungskompetenz auf eine andere Verwaltungskompetenz. 47 Da von den "implied powers" aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung nur äußerst restriktiv Gebrauch gemacht werden sollte, spricht einiges dafür, eine derartige Kompetenzerweiterung als unzulässig zu betrachten. Denn sie weist keinen ergänzenden, akzessorischen oder nebensächlichen Charakter mehr auf, sondern erstreckt die Gemeinschaftsbefugnisse auf einen vollkommen neuen Regelungsbereich, nämlich den des direkten administrativen Verwaltungsvollzugs. Hält sich die Heranziehung von ungeschriebenen Kompetenzen demnach aber nicht mehr im Rahmen des Zulässigen, scheidet Art. 95 44 S. v. Borries, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, FS für Everling, 1995, 127/137; Kahl, NVwZ 1996, 865/867; Schreiber; Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 144f. m. w. N.; s. auch Streinz, EuZW 1997,487/490. 45 S. oben zur Praxis der Gemeinschaftsorgane, 4. Teil A II 3 a, bei denen allerdings keine Rede von "implied powers" ist, sondern ein direkter Rückgriff auf Art. 95 EGV (früher Art. 100a EGV) erfolgt. 46 Nach Schreiber, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 136, sind dagegen die in der Novel-Food-Verordnung begründeten administrativen Gemeinschaftskompetenzen nicht gleichermaßen gerechtfertigt. Denn im Vergleich zur Produktsicherheitsrichtlinie sei die Kommission hier nicht ausnahmsweise zuständig, sondern es könnten - gerade umgekehrt - die Mitgliedstaaten nur in Ausnahmefällen handeln. So auch Wahl/Groß, DVBI. 1998,2/12. 47 So zu Recht der Hinweis von Wahl/Groß, DVBI. 1998,2/12.

A. Einzelfallmaßnahmen der Kommission

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EGV i. V. m. implied powers als Rechtsgrundlage für den Erlaß von Einzelfallentscheidungen selbst dann aus, wenn die Regelung im übrigen den Anforderungen des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips entspricht. Die Ansicht, nach der die Gemeinschaft unter bestimmten Voraussetzungen gemäß Art. 95 EGV i. V. m. implied powers Einzelfallentscheidungen treffen darf, ist somit abzulehnen.

4. Art. 308 EG V

a) Grundsätzliche Zulässigkeit direkter Vollzugsbefugnisse Neben Art. 95 EGV dient auch Art. 308 EGV den Gemeinschaftsorganen häufig als Rechtsgrundlage zur Schaffung direkter Verwaltungsbefugnisse. So beruhen etwa die bereits oben erwähnten Verordnungen über die Gemeinschaftsmarke und den gemeinschaftlichen Sortenschutz48 auf dieser Vorschrift. Die Begründung direkter Verwaltungsbefugnisse der Gemeinschaft auf der Grundlage von Art. 308 EGV ist zulässig, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen der Bestimmung erfüllt und ihre Kompetenzgrenzen nicht überschritten sind. Der direkte Vollzug müßte also zunächst der gemeinschaftlichen Zielverwirklichung dienen. Dafür spricht, daß er am ehesten eine in allen Mitgliedstaaten weitgehend einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts gewährleistet. In bestimmten Fällen dürfte er sogar das einzige Mittel sein, um Wettbewerbsverfälschungen und sonstigen Gefahren effektiv zu begegnen. Er ist damit generell geeignet, die Erreichung der gemeinschaftlichen Ziele zu fördern. In aller Regel wird er auch "im Rahmen des Gemeinsamen Marktes" liegen. Situationen, in denen dieses Merkmal nicht erfüllt ist, sind schwer vorstellbar. 49 Gleiches gilt für das Merkmal der Erforderlichkeit eines gemeinschaftlichen Tätigwerdens zur Begründung direkter Exekutivbefugnisse der Ge~einschaft. Dem Rat steht insoweit ein erheblicher Ermessensspielraum zu. Die Erforderlichkeit seines Handeins wird daher ebenfalls regelmäßig zu bejahen sein. Letztlich kommt es somit auf die Beurteilung im Einzelfall an, ob speziellere Normen der Anwendung des Art. 308 EGVentgegenstehen. Ist das nicht der Fall und sind alle Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 308 EGV erfüllt, so ist der Rat ermächtigt, "auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften" zu erlassen. Unter "Vorschriften" sind dabei alle in Art. 249 EGVaufgeführten Rechtsakte zu verstehen. 5o Der Rat ist also weitgehend frei in seiner Entscheidung, welche Maßnahmen er ergreift. Art. 308 EGV stellt lediglich auf die Eignung zur Verwirklichung der Vertragsziele ab, schließt aber keine Handlungsmöglichkeiten von S. oben 4. Teil A I. Vgl. Schreiber, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 156 f. 50 Grabitz, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand 1997, Art. 235 Rn. 83. 48 49

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4. Teil: Einwirkungsmöglichkeiten durch Behörden der Gemeinschaft

vornherein aus. Das entspricht den Grundsätzen von einer dynamischen Fortentwicklung und Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft, denen Art. 308 EGV Rechnung tragen SOIl.51 Der Rat kann auf der Grundlage von Art. 308 EGV somit grundsätzlich auch direkte Verwaltungs befugnisse der Gemeinschaft schaffen. Ob er dabei die Grenzen seiner Befugnisse52 einhält, läßt sich wiederum nur im Einzelfall entscheiden. b) Verhältnis zu Art. 175 Abs. 1 EGV

Ob Art. 308 EGV dem Rat im umweltrechtlichen Bereich direkte Verwaltungsbefugnisse einräumt, hängt, wie erwähnt, maßgeblich davon ab, ob nicht bereits speziellere Normen den Umfang der gemeinschaftlichen Kompetenzen abschließend regeln. Als speziellere Norm kommt hier Art. 175 Abs. 1 EGV in Betracht. Sie ermächtigt die Gemeinschaft, ausnahmsweise selbst (direkte) Verwaltungskompetenzen wahrzunehmen. 53 Das allein bedeutet allerdings noch nicht, daß damit ein Rückgriff auf Art. 308 EGV im umwel~echtlichen Bereich von vornherein ausgeschlossen wäre. Denn Art. 308 EGV greift auch dann ein, wenn die vorhandenen Einzelbefugnisse die Vertragsziele nicht ausreichend verwirklichen. 54 Hinsichtlich aller umweltpolitischen Maßnahmen kommt Art. 308 EGV neben Art. 175 EGV jedoch kein eigenständiger Regelungsgehalt ZU. 55 Die Vorschrift kann zur Begründung direkter Verwaltungs befugnisse im umweltrechtlichen Bereich somit allenfalls dann herangezogen werden, wenn die in Frage stehende Maßnahme nicht allein umweltpolitische, sondern auch andere Vertragsziele verfolgt.

B. Sonderfall: Die Übertragung von Verwaltungsaufgaben auf die Europäische Umweltagentur J. Entstehungsgeschichte Angestoßen durch eine Rede des damaligen Kommissionspräsidenten Delors vor dem Europäischen Parlament unterbreitete die Kommission am 21. 6. 1989 einen Vorschlag zur Errichtung einer Europäischen Umweltagentur (EUA).56 W