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German Pages [297] Year 2013
Cornelius Borck (Hg.)
Hans Blumenberg beobachtet Wissenschaft, Technik und Philosophie
ALBER PHILOSOPHIE
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Über dieses Buch: Seit Wissenschaftsgeschichte weniger die Fortschritte fachlicher Theorien als vielmehr Brüche und Transformationen des Wissens im Kontext seiner kulturellen und medientechnischen Einbettung ins Zentrum ihrer Rekonstruktionen stellt, kommen sich Geschichte und Philosophie in die Quere, weil die Logik der Erkenntnis in Wissenschaft und Technik nicht länger die Richtung weist. Dieser Dynamik galt auch Hans Blumenbergs Mobilisierung der Geschichte menschlichen Denkens. Aber welche Spannung im Wettstreit von Philosophie und Geschichte erzeugt sein Denken – vor allem wenn dabei zusammen mit der Technik auch jenes Objekt in den Blick gerät, das sich heute nicht mehr so bündig auf die Formel »der Mensch« bringen lässt wie noch in jenen Konstellationen, die Blumenberg maßgeblich mitgestaltet hat? Dieser zeitdiagnostische Bezug bildet den Ausgangspunkt des Bandes. Der erste Abschnitt, Zur Legitimität einer technischen Moderne, versammelt Rekonstruktionen seines Nachdenkens von der kürzlich aus dem Nachlass veröffentlichten »Geistesgeschichte der Technik« bis zur Frage nach einer Ethik bei Blumenberg. Wissenschaftsgeschichte zwischen Anthropologie und Ideengeschichte beleuchtet als eine zweite Perspektive das Potenzial, das Blumenbergs Studien für eine epistemologisch orientierte Wissenschaftsgeschichte bereithalten. Schließlich lenkt der Band den Blick auf Blumenbergs Arbeiten und versammelt Studien zu seiner Verfahrensweise.
Der Herausgeber: Cornelius Borck ist Leiter des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen neben der Wissenschaftsphilosophie die Geschichte der Hirnforschung, Studien zu Mensch-Maschine-Verhältnissen in Kunst und Wissenschaft sowie die Ästhetik und Epistemologie des Experiments.
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Cornelius Borck (Hg.)
Hans Blumenberg beobachtet Wissenschaft, Technik und Philosophie
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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2. Auflage 2014 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48585-9
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Inhalt
Einleitung Cornelius Borck
Philosophie als »Transzendenz nach innen« Einleitende Bemerkungen zu Hans Blumenbergs Ortsbestimmung der Philosophie zwischen Wissenschaft und Technik
9
Zur Legitimität einer technischen Moderne Jürgen Goldstein
Entfesselter Prometheus? Hans Blumenbergs Apologie der neuzeitlichen Technik
. . .
25
Blumenberg liest eine Fußnote von Marx Zur Methodik einer »kritischen Geschichte der Technologie«
47
Oliver Müller
Birgit Recki
Technik und Moral bei Hans Blumenberg . . . . . . . . . . .
64
Alberto Fragio
Hans Blumenberg and the Metaphorology of Enlightenment .
88
Wissenschaftsgeschichte zwischen Anthropologie und Ideengeschichte Barbara Merker
Geschichte(n) der Paläoanthropologie . . . . . . . . . . . . 111
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Inhalt
Rüdiger Zill
Zwischen Affinität und Kritik. Hans Blumenberg liest Sigmund Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Pini Ifergan
On Hans Blumenberg’s Genesis of the Copernican World . . . . 149 Cornelius Borck
Begriffene Geschichte: Canguilhem, Blumenberg und die Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Philipp Stoellger
Vom Denkstil zum Sprachstil Von Fleck zu Blumenberg – und zurück: Zur möglichen Horizonterweiterung der Wissenschaftsgeschichte . . . . . 196
Blumenbergs Arbeiten Margarita Kranz
Blumenbergs Begriffsgeschichte Vom Anfang und Ende aller Dienstbarkeiten . . . . . . . . . 231 Ada Kadelbach
»Mißachtung« und »Versöhnungsversuch« Hans Blumenberg und Lübeck . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Ulrich von Bülow und Dorit Krusche
Vorläufiges zum Nachlass von Hans Blumenberg . . . . . . . 273 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . 289 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
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Einleitung
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Philosophie als »Transzendenz nach innen« Einleitende Bemerkungen zu Hans Blumenbergs Ortsbestimmung der Philosophie zwischen Wissenschaft und Technik »Die Philosophie kann die Erkenntnissituation nicht verändern. Sie ist weder eine Wissenschaft wie andere noch eine Überwissenschaft zur Kritik der anderen. Sie ist in gewisser Hinsicht das, was man bilanztechnisch einen Erinnerungsposten nennt.« 1 Mit diesem buchhalterischen Vergleich erfolgreicher Abschreibungen hat Hans Blumenberg wohl kaum dem eigenen Schreiben Wirkungslosigkeit attestieren wollen, wenngleich er nicht nur in dieser Hinsicht skeptisch war. Aber wirkmächtig im Sinne einer »Veränderung der Erkenntnissituation« waren für ihn zweifellos andere Instanzen und Institutionen, allen voran Wissenschaft und Technik, die deswegen die philosophische Reflexion herausforderten. Mit seinen ebenso lapidaren wie apodiktischen Worten aus der Einleitung zum zweiten Teil der Beschreibung des Menschen weist Blumenberg der Philosophie den Platz eines ausgeschlossenen Eingeschlossenen zu. Von den anderen Wissenschaften abgedrängt wird sie zur Sachwalterin von Unerledigtem. 2 – Die Implikationen dieser Orts- wie Aufgabenbestimmung auszuloten, ist das verbindende Thema der in diesem Band versammelten Beiträge. Dabei soll über Blumenbergs Werk in dreifacher Perspektivierung nachgedacht werden, erstens in Anknüpfung an seine Auseinandersetzung mit der Technik als Instanz einer Veränderung der Erkenntnissituation, im zweiten Teil als Exploration des Verhältnisses seiner Philosophie zur Geschichte der Wissenschaften bzw. Wissenschafts- und Ideengeschichte und drittens schließlich im Hinblick auf seine methodische Positionierung und eigene Arbeitsweise. 1 Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlaß herausgegeben von Manfred Sommer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 481. 2 Etwa in dem Sinne, wie Kant am Schluss seiner Prolegomena weiterhin offene Probleme anführt, vgl. Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, § 60, Akademie-Ausgabe Bd. IV, S. 362–364.
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Bemerkungen zum Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften durchziehen Blumenbergs Œuvre. Gleich in einem seiner ersten Aufsätze unterzog er den Begriff der wissenschaftlichen Methode einer philosophischen Analyse. Kritisch diagnostizierte er eine problematische Verselbständigung wissenschaftlicher Methodik und forderte, philosophisches Denken müsse »fundamentaler im Ansatz und umfassender in der Zielsetzung« sein als das wissenschaftliche Denken, um nachzuvollziehen, wie »Wissenschaft als geistesgeschichtliches Phänomen entspringt«. 3 Bereits hier fasste Blumenberg also das Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften nicht nur als historisch bestimmt, sondern als ein wissenschaftshistorisch zu reflektierendes Problem. Diesen Gedanken radikalisierte er in seiner Rede zur Wiedereröffnung der Philosophischen Fakultät der Gießener Universität: Wissenschaft produziere handhabbare und berechenbare Weltmodelle, die im Forschungsprozess selbst immer wieder revidiert und zur Disposition gestellt würden, sie liefere damit aber gerade keine Weltbilder im Sinne geordneter und stimmiger Deutungen der Wirklichkeit, wie dies für Religion und Mythos charakteristisch sei. Kritische und strikte Weltbild-Vakanz sei vielmehr das Merkmal wissenschaftlicher Aufklärung – auch gegen die verbreitete Weltbildbedürftigkeit. 4 Die historischen Ermöglichungsbedingungen der neuzeitlichen Wissenschaften als dem wesentlichen Merkmal der Moderne standen dann bekanntlich im Zentrum der Genesis der kopernikanischen Welt bzw. von Blumenbergs Kritik am Begriff der Säkularisierung in der Legitimität der Neuzeit. Die großen Studien, die später nachfolgen sollten, sowie seine zahllosen Glossen zeigen Blumenberg als versierten Rezipienten rezenter Forschungen verschiedenster Fachdisziplinen, von seinen Bemerkungen zu Astronomie und Weltraumforschung in der Vollzähligkeit der Sterne bis zur Auseinandersetzung mit Molekularbiologie und Genetik im Schlusskapitel der Lesbarkeit der Welt. Bereits dieser kursorische Blick lässt auf eine Verschiebung in BluHans Blumenberg, Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik des Begriffs der wissenschaftlichen Methode, Studium Generale 5 (1952), 133–142, hier S. 133. 4 Hans Blumenberg, Weltbilder und Weltmodelle, Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 30 (1961), 67–75. Die besondere Stellung dieses Vortrags wird dadurch unterstrichen, dass Blumenberg die zentralen Thesen noch im selben Jahr zum Wiener Europa-Gespräch beisteuerte; vgl. derselbe, Die Bedeutung der Philosophie für unsere Zukunft, in: Die voraussehbare Zukunft: Europa-Gespräch 1961, (Wiener Schriften; 16) Wien: Verlag für Jugend und Volk, S. 127–140. 3
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Philosophie als »Transzendenz nach innen«
menbergs Beschäftigung mit Wissenschaft und Technik aufmerksam werden: Blumenberg verlagerte den Modus der Darstellung zunehmend von der Form systematischer Argumentation in wissenschaftlichen Aufsätzen auf die Durchführung materialgesättigter, literarisch nuancierter Detailstudien. Blumenberg hatte vergleichsweise spät erste Monografien in Form umfangreicher historisch-systematischer Analysen veröffentlicht, denen dann in immer rascherer Folge seine berühmten »Problemkrimis« (Odo Marquardt) folgten, begleitet von einer schier unüberschaubaren Fülle kürzerer Ausführungen, deren Umfang erst mit der Erschließung des Nachlasses im Marbacher Literaturarchiv abschätzbar wird. Der damit ermöglichte Einblick in Blumenbergs Schreibwerkstatt macht die beschriebene Verlagerung lesbar als Effekt einer ins Extrem gesteigerten Protokollierung seines Lesens und Arbeitens auf Karteikarten. 5 Aus nüchterner Kennerschaft hat Niklas Luhmann beschrieben, wie die »Kommunikation mit Zettelkästen« zunächst des Mehraufwands bedarf, bevor das System Mehrwert generiert: »Der Zettelkasten braucht einige Jahre, um genügend kritische Masse zu gewinnen.« 6 Im Falle Blumenbergs funktionierte er dann offenbar wie ein Reaktor, wenigstens sah Blumenberg sich nach der Publikation eines Werkes immer wieder veranlasst, ganze Stapel von Karten zu entsorgen, um weitere Kettenreaktionen zu dämpfen. Aber es wäre zu einfach, die Materialfülle von Blumenbergs Studien und die thematische Vielfalt seiner Glossen schlicht zum Effekt seines Schreibverfahrens zu erklären. Seine Texte sind vielmehr Ausdruck einer Arbeit an Formen philosophischer Darstellung, die aus guten Gründen Distanz zu wissenschaftlicher Methode sucht, weil sie Einspruch erhebt gegen deren bündige Schlüsse und konsequente Definitionen. Eine Beschäftigung mit Blumenbergs Schreiben gehört also der Sache nach zu dem hier verhandelten Themenkomplex. Mit der Form seines Schreibens zog Blumenberg dabei die Konsequenz aus seiIhnen widmete das Deutsche Literaturarchiv in Marbach im Sommer 2013 eine Ausstellung unter dem Titel »Zettelkästen«, bei der Blumenbergs Karteikarten das zentrale Element der Inszenierung bildeten, vgl. Heike Gfrereis, Ellen Strittmatter (Hgg.), Zettelkästen: Maschinen der Phantasie, Marbach am Neckar: Deutsche Schiller-Gesellschaft 2013. 6 Niklas Luhmann, Kommunikation mit Zettelkästen. Ein Erfahrungsbericht, in: Horst Baier, Hans Mathias Kepplinger, Kurt Reumann (Hgg.), Öffentliche Meinung und sozialer Wandel, Public Opinion and Social Change. Für Elisabeth Noelle-Neumann, Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, S. 222–228, hier S. 226. 5
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ner intensiven Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen der Begriffsgeschichte in seinem Projekt ihrer Erweiterung zu einer Metaphorologie. Denn gerade seine systematische Arbeit ließ ihn auf Umwege und Abwege aufmerksam werden, auf Unbegriffenes, auf Verschiebungen und Transformationen in Bedeutungszusammenhängen. Solchen »Umbesetzungen« galt Blumenbergs primäres Erkenntnisinteresse. Sein buchstäblich ausuferndes Schreiben ist in dieser Hinsicht ein emphatisches Plädoyer für den epistemologischen Primat von Umwegen. 7 Zugleich legt die Form seiner Arbeiten Zeugnis ab von einer intensiven Beschäftigung mit ästhetischen Fragen, von den frühen literarischen Aufsätzen über die Auseinandersetzung mit Paul Valéry und den Debatten in der Gruppe Poetik und Hermeneutik bis zum nicht veröffentlichten Buch zu Goethe oder den Essays zur Literatur. Dabei verweist »Ästhetik« nicht auf ein weiteres Thema im Sinne vermeintlicher Vielseitigkeit, sondern wiederum auf die Reflexion über die Situation philosophischer Rede. Systematisch entfaltete er diesen Zusammenhang 1971 im Aufsatz »Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik«, wo er rhetorische Figuren und die literarische Form angesichts eines problematischen Absolutismus wissenschaftlicher Methoden skeptisch-pointiert als angemessenen Umgang in Ermangelung sicheren Wissens bestimmte. 8 Mit dieser Verlagerung in der Form der Darstellung korrespondierte eine Umorientierung in der Topik von Philosophie zu Wissenschaft und Technik. Hatte Blumenberg im frühen Methodenaufsatz Philosophie noch als umfassende Einschließung der Wissenschaften bestimmt, so vollzog die Gießener Rede zur Neueröffnung der Fakultät 1961 eine bemerkenswerte Inversion: »Philosophie transzendiert Wissenschaft nicht nach außen, sondern nach innen.« 9 Unter den Materialien im Umfeld der eingangs zitierten Beschreibung des Menschen gibt es eine Schemazeichnung Blumenbergs, die präzise eine solche Transzendenz 7 Hans Blumenberg, Umwege, in: derselbe, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 137 f.; derselbe, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), 7–142 (jetzt neu als Buch erschienen mit einem Kommentar von Anselm Haverkamp, Berlin: Suhrkamp 2013); derselbe, Begriffe in Geschichten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. 8 Hans Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: derselbe, Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart: Reclam 1981, S. 104–136. 9 Blumenberg, Weltbilder und Weltmodelle (wie Anm. 4), S. 74.
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Philosophie als »Transzendenz nach innen«
»nach innen« anschaulich macht. Diese Skizze ist mit »Realitätsprüfung« überschrieben und zeigt drei Kästen, die nach dem Schema eines Schalt- oder Regelkreises mit Pfeilen untereinander verbunden sind. 10 Die Kästen sind mit »Rezeptor«, »black box = Seele« und »Effektor« beschrieben und die Pfeile verbinden sie in der Weise zu einem Regelkreis, dass die »black box = Seele« aus den Reizen, die am RezeptorKasten eintreffen, ein »Ich empfinde« synthetisiert und ein »Ich will« an den Effektor-Kasten gibt, von dem wiederum ein Wirkungspfeil in die Umgebung abgeht. – Insoweit zeigt diese Skizze ein aus der Physiologie vertrautes Schema, also allenfalls die biologisch-evolutionären Voraussetzungen der hier als philosophische Urszene einer Realitätsprüfung imaginierten Situation. Denn der Regelkreis eines Reiz-Reaktionsschemas bleibt ein physiologischer Mechanismus, solange bloß eine fest programmierte Anpassung an eine Umwelt ausgelöst wird. Zur Veranschaulichung einer »Realitätsprüfung« taugt diese Skizze denn auch erst dadurch, dass Blumenberg vom physiologischen Schema in zwei entscheidenden Punkten abweicht. Die erste Abweichung ist eine Verschiebung in den Bezeichnungen. Der Kasten im Zentrum der Darstellung trägt seine Bezeichnung »black box = Seele« nämlich außen und nicht in seinem Inneren, wo stattdessen ein »Ich denke« eingetragen ist. Das »Ich denke« ist das Innere der Blackbox, das damit in der Welt des Körpers verankert ist, auf einer Ebene mit Rezeptor und Effektor, aber den Reflexbogen zur Realitätsprüfung aufsprengt. Als Störung unterbricht es den Automatismus der programmierten Reaktions-Auslösung – bzw. die Unterbrechung der Kette ist jene Lücke, die als ein »Ich denke« hervortritt, wie Blumenberg in einer offensichtlich zugehörigen Textpassage ausführte: Bewußtsein ist zwar in seiner ausgereiften Struktur eine Störung der Unmittelbarkeit als des bloßen Durchlaufs der Energie durch die black box des organischen Systems von der afferenten auf die efferente Seite; aber doch nur, weil es seinen Ursprung schon in einer Störung der Voraussetzungen jener Unmittelbarkeit hatte […]. Nicht das Bewußtsein als ein geheimnisvoller Fremder, der in dieses System gleichsam von außen eingedrungen wäre, ist die Störung, sondern es ist bereits das Arrangement mit der Störung […]. Das Bewußtsein ist nicht der Urheber der Verzögerung, sondern deren ausgeschöpfte Erscheinungsform.11 Ich verdanke den Hinweis auf diese Skizze Dorit Krusche, sie ist in diesem Band abgedruckt im Beitrag von Ulrich von Bülow und Dorit Krusche auf S. 275. 11 Blumenberg, Beschreibung des Menschen (wie Anm. 1), S. 560. 10
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Außerdem zeigt Blumenbergs Skizze – das ist die zweite Abweichung vom physiologischen Schema – keinen geschlossenen Regelkreis. Vielmehr sind an die Stelle der Schließung des Kreises mit einem vierten, statischen Kasten »Umwelt« drei offene, aufrecht stehende Pfeile getreten, die mit einer geschweiften Klammer zur verstreichenden Zeit »t« zusammengefasst werden. Denken ist eine Unterbrechung der Unmittelbarkeit, die sich der physiologischen Anordnung verdankt und zugleich aus ihr heraustritt. Denken braucht Zeit. Die verstreichende Zeit, der physiologische Preis dieses Arrangements, ist zugleich dessen Leistung, nämlich das Heraustreten eines Organismus aus der Unmittelbarkeit seiner Umwelt. Was zunächst nur als Verzögerung der Reaktion erscheint, wird von Blumenberg dabei im dreifach wiederholten Zeitpfeil gleichsam unterstrichen als komplexe Relationalität zur Zeitlichkeit, die sich keineswegs auf den Zeitverbrauch des Denkens beschränkt: Die Unterbrechung »kostet« Zeit in der Gegenwart der Reizverarbeitung, ist Ergebnis der im System gespeicherten Vergangenheit und wirkt auf die Zukunft. In der Weise wie Blumenberg hier Physiologie und Denken ineinander verschränkt, ohne eines im anderen aufgehen zu lassen, veranschaulicht die Skizze zugleich, was Transzendenz der Wissenschaften »nach innen« sein könnte. Dabei darf die räumliche Metapher freilich nicht wörtlich missverstanden werden, denn »im Innern des Denkens und dahinter ist kein Denken«, wie schon der von Blumenberg höchst geschätzte Paul Valéry in eins seiner Cahiers notiert hatte. 12 Blumenbergs topologische Wendung verweist nicht auf ein örtliches Zentrum, auf keinen Sitz des Denkens in der Zirbeldrüse oder deren modernen Korrelaten im präfrontalen Cortex und auf keine Innerlichkeit als authentisches Subjekt. Es ist vielmehr ein Ich-denke, das im Innern des Lebens auftaucht und damit dessen reine Prozessualität durchkreuzt als Ausstieg aus der biologischen Evolution im Eintritt in die Geschichte. 13 Damit kann die Skizze auch als Chiffre für BlumenPaul Valéry, Cahiers 1922–1923, V, ix, in: Hartmut Köhler, Jürgen Schmidt-Radefeldt (Hgg.), Cahiers / Hefte, Bd. 3, Frankfurt am Main: Fischer 1989, S. 142. 13 Das lässt diese Skizze zum Gegenstück einer anderen, inzwischen berühmt gewordenen Darstellung werden, in die ein »Ich denke« eingetragen ist, Charles Darwins »I think« am Rande einer Skizze zur Entstehung der Arten. Darwins »I think« galt dort dem Schema eines sich in alle Richtungen verzweigenden Liniengeflechts, weil er damit ein Modell zur Veranschaulichung des Stammbaums des Lebens gefunden hatte, das nicht mehr seinen botanischen oder geometrischen Vorbildern glich und so den empiri12
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Philosophie als »Transzendenz nach innen«
bergs These entziffert werden, Philosophie sei »weder eine Wissenschaft wie andere noch eine Überwissenschaft zur Kritik der anderen«. Wie auf der phylo- bzw. ontogenetischen Ebene, die im Zentrum der Beschreibung steht, die Unterbrechung und Störung als Akt der Distanzierung im Ich-denke hervortritt, vollzieht »Transzendenz nach innen« diese Distanzierung ins Theoretische auf abstrakter und zugleich kollektiver, institutioneller Ebene. Philosophie ist Realitätsprüfung der Wirklichkeiten in denen wir leben – wie Blumenberg den von ihm selbst herausgegebenen Band seiner Aufsätze überschrieben hat –, 14 »sie hält Fragen aufrecht, die weder in einer Disziplin der institutionalisierten Wissenschaft noch in der vermeintlich interdisziplinären Kommunikation gestellt werden«, denn im erfolgreichen Spiel von Wissenschaft und Technik gerät allzu leicht in Vergessenheit, »was es [war], was wir hatten wissen wollen«. 15 Mit dieser Erläuterung seiner Bestimmung der Philosophie als »bilanztechnischem Erinnerungsposten« beruft sich Blumenberg zentral auf Geschichte, auf die Geschichtlichkeit des Denkens als Medium philosophischer Distanzierung. Aber wie schon in der verschränkten Figur der Transzendenz nach innen vorgezeichnet, taugt auch Geschichte oder Geschichtsphilosophie nicht einfachhin als Ressource zur Gegenwartsdiagnostik bzw. zur Kritik an Wissenschaft und Technik. Denn Geschichte ist immer mehr als bloßer »Vorlauf auf die je aktuelle Gegenwart des Denkens«, wie Blumenberg bereits im Eingangsabsatz seiner Habilitationsschrift exponiert hatte. Im Lichte der durchgemachten Katastrophe stellte sich Geschichte für Blumenberg 1950 vielmehr als »Durchbruch eines Geschicks« dar, als aufgezwungene Einsicht, dass die Dinge nicht so liegen wie erwartet oder theoretisch abgesichert. 16 Philosophie konnte nicht nur diesem Geschick, sie kann
schen Befund der Vielfalt in einer Theorie ihrer Entstehung transzendierte. Hatte Darwin ein Bild zur Geschichte der Formenvielfalt des Lebens gefunden, visualisierte Blumenberg die Entstehungsgeschichte des Denkens. Zu Darwins »I think« vgl.: Julia Voss, Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837 bis 1874, Frankfurt am Main: Fischer 2007, S. 95 ff. 14 In diesem Sammelband wurde auch der Rhetorik-Aufsatz erstmals in deutscher Übersetzung zugänglich, vgl. Blumenberg, Annäherung (wie Anm. 8). 15 Blumenberg, Beschreibung des Menschen (wie Anm. 1), S. 481 f. 16 Hans Blumenberg, Die ontologische Distanz: Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls, Kiel: Habilitationsschrift Christian-Albrechts-Universität 1950. A
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ihrer Geschichte nicht entkommen, auch dort nicht, wo sie sich außerhalb von Geschichte zu stellen sucht. Blumenberg hat daraus die Konsequenz gezogen, dass Philosophie mehr als der Systematik des wiederholenden und materialgesättigten Durchgangs durch ihre konkrete historische Vielfalt bedarf. Knapp 25 Jahre später, anlässlich der Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises der Universität Heidelberg, spitzte Blumenberg den Gedanken, dass Geschichte nicht der Selbstbestätigung von Gegenwarten dienstbar gemacht werden dürfe, noch zu: »Das Ethos der Erkenntnis läßt sich nicht auf die Bestätigung der Selektionsmechanismen in der Geschichte reduzieren.« 17 Im Sinne dieses Zitats erschließt sich Blumenbergs Philosophieren als »Arbeit an der Geschichte« im Namen des Vergangenen und im Sinne einer Werkstatt des Möglichen. In Blumenbergs Archäologie der epistemischen Autopoiese des Menschen wird Arbeit an der Geschichte zum Einsatz gegen vorschnelle Schlüsse und Schließungen. Seine Großtexte mobilisieren die Tradition und sind so selbst Beispiel für Umbesetzungen, die darauf zielen, Leser mit anderen Aussichten zu entlassen, als sie in die Lektüre eingetreten sind. Parallel und gewissermaßen komplementär dazu verdichten seine Glossen und Kurztexte das Denkmögliche zu Miniaturen des Denkmaximalen. Mit beiden Modi der Darstellung zielte Blumenberg auf eine Differentialität zwischen der Geschichte, wie sie gelehrt und aufgehoben wird, und »Geschichte« als deren unhintergehbarer Grund, dessen Einheit gerade in seiner artikellosen Unbestimmtheit liegt. Geschichte wird hier »Geschichtetes«, das in den Geschichten nie ganz aufgeht. Seine Begriffe in Geschichten wie die Höhlenausgänge und die Arbeit am Mythos ziehen auf je eigene Weise die Konsequenz aus der bereits in der Habilitationsschrift formulierten Verborgenheit von Geschichte mit dem festen Ziel, Vergangenes nicht verloren zu geben. Seit die Wissenschaftsgeschichte nicht mehr die Fortschritte fachlicher Ausdifferenzierung oder theoretischer Durchbrüche ins Zentrum ihrer Rekonstruktionen stellt (wofür Blumenberg sie noch schel-
Hans Blumenberg, Ernst Cassirers gedenkend bei der Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises der Universität Heidelberg, in: derselbe, Wirklichkeiten in denen wir leben (wie Anm. 8), S. 163–172, hier S. 166. Das Ethos besteht einerseits in der Auflösung von Selbstverständlichkeiten, weil Geschichte eines der Felder ist, auf denen »das Fremde als das der Möglichkeit nach Eigene zu erfassen ist«, andererseits darin, »den Gewesenen Achtung zu erweisen« (S. 172).
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ten konnte 18 ), sondern entlang von Brüchen und Transformationen die Dynamik von Wissen im Kontext seiner jeweiligen kulturellen Einbettungen analysiert, ist sie in ein deutliches Spannungsverhältnis zu philosophischen Schwesterunternehmen getreten. Die scheinbar klare Arbeitsteilung entlang der Scheidelinie von Genesis und Geltung taugt nicht als saubere Arbeitsteilung, weil sie selbst ein historisches Produkt, eine nur übergängig stabile Fiktion war. Seither kommen sich Geschichte und Philosophie auf dem Feld der Wissenschaften produktiv in die Quere, und Umbesetzungen rücken in eine noch weitgehend unausgelotete Nähe zu epistemischen Brüchen. Das macht die erneute Auseinandersetzung mit Blumenberg zu einem besonders vielversprechenden Unterfangen für die Historische Epistemologie und Wissenschaftsforschung. Als Philosoph hatte Blumenberg das bereits am Ende der Legitimität der Neuzeit in einer Hommage an die Wissenschaftsgeschichte avisiert: Es gibt ein Kriterium für das […], was überhaupt noch an der Geschichte verstanden werden kann, wenn es in ihr tiefe Umbrüche, Umwertungen, Wendungen gibt, die die gesamte Lebensstruktur betreffen. Am ehesten wird die Anwendung dieser Konzeption dort gelingen können, wo das freilich obsolete Ideal einer ›Geistesgeschichte‹ zu realisieren ist. Das ist zweifellos dann der Fall, wenn das Thema der Theorie von Geschichte nichts anderes als die Geschichte von Theorie ist – also das, was gegenwärtig ohne Verächtlichkeit ›Wissenschaftsgeschichte‹ genannt werden kann. 19
Damals konnte das kaum mehr als eine Vision sein, hatte die Wissenschaftsgeschichte doch gerade erst angefangen, Wissen und Theorien tatsächlich entlang der »die gesamte Lebenssituation« betreffenden Umbrüche und Umwertungen zu rekonstruieren. Auf diesem Wege wurde »das freilich obsolete Ideal einer ›Geistesgeschichte‹« inzwischen unter Namen wie Historische Ontologie, Historische Epistemologie oder Wissensgeschichte rehabilitiert, womit zugleich die Kritik an einer traditionellen Geistesgeschichte radikalisiert wurde. Wenn heute Blumenbergs Einsicht weitgehend geteilt wird, dass Wissenschaft und Im Cassirer-Vortrag stellt er der Sturheit der traditionellen Wissenschaftsgeschichte die produktive Verfremdungspraxis der Ethnologie gegenüber, vgl. Blumenberg, Ernst Cassirers gedenkend (wie Anm. 17), S. 170. 19 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2 1988, S. 539. 18
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Technik sich in ihrer Vielschichtigkeit nicht als Prozesse einer Entzauberung der Welt gemäß der Säkularisierungsthese begreifen lassen, wird seine These von der Legitimität der Neuzeit zur aktuellen Frage: Worin liegt die Legitimität gegenwärtiger Wissenschaften, wenn sie im Verein mit ungeahnt potenten Technologien vor allem neue Wirklichkeiten generieren? Bruno Latour hat in einem viel beachteten Essay, der Blumenbergs Warnung vor falscher Wissenschafts- und Fortschrittskritik erstaunlich nahe kommt, für »matters of concern« als neuer Aufgabe einer wirklich kritischen Wissenschaftsforschung geworben. Und für Lorraine Daston ist die Geschichte von Theorie in ihrer materialen, sozialen und epistemischen Komplexität mittlerweile der zentrale Gegenstand, mit dem sich Wissenschaftsgeschichte nicht nur von ihren Nachbardisziplinen emanzipiert, sondern zur Instanz einer intellektuellen Selbstvergewisserung wird. 20 Mit den hier versammelten Beiträgen will der vorliegende Band Blumenberg in solche Diskussionen einbringen. Das Modell dafür stellt nicht die »interdisziplinäre Kommunikation« dar, deren mehr als rein akademischen und institutionellen Mehrwert Blumenberg mit recht bestritten hat, 21 sondern die actio per distans im insistierenden Nachdenken aus Sorge um die Sache. Distanzgewinn war das Lebensthema Blumenbergs, »Entlastung vom Absoluten« hatte es Odo Marquardt in seinem Nachruf genannt. 22 Das galt für die von Blumenberg imaginierte Urszene der »Realitätsprüfung« ebenso wie noch für die konkrete Gestaltung der Lebenswelt des Philosophieprofessors, der seinen Arbeitsrhythmus zwecks Distanzgewinn maximal vom akademischen Alltag abgekoppelt hatte. Seine Abschottung war allerdings keine Flucht in den Elfenbeinturm, so idyllisch damalige akademische Freiheiten sich auch im Vergleich zu heutigen Studien- und Forschungssituationen ausnehmen. Vgl. Bruno Latour, Why has critique run out of steam? From matters of fact to matters of concern, Critical Inquiry 30 (2004), 225–248; Lorraine Daston, Science studies and history of science, Critical Inquiry 35 (2009), 798–813. 21 Vgl. Blumenberg, Beschreibung des Menschen (wie Anm. 1), S. 481. 22 Odo Marquardt, Entlastung vom Absoluten [Gedenkstunde der Hansestadt Lübeck und des Sankt-Petri-Kuratoriums in der Lübecker Petrikirche am 28. August aus Anlaß des Todes des in der Hansestadt geborenen Philosophen], Lübeckische Blätter 1996, Nr. 14, S. 217–220. Bereits in einer Laudatio zu Lebzeiten hatte er diese Interpretation vorgestellt, worauf Blumenberg nur geantwortet habe: »Unzufrieden bin ich nur damit, dass man so schnell merken kann, dass alles ungefähr auf diesen Gedanken hinausläuft.« (ebd. S. 218). 20
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Philosophie als »Transzendenz nach innen«
Schon an der Kieler Universität war Blumenberg zu Forschungsanträgen und Drittmittelprojekten gedrängt worden und hatte darauf bekanntlich »Mittel in noch unbestimmter Höhe zwecks Erforschung der Rückseite des Mondes durch reines Denken« beantragt. 23 Ironische Distanzierung braucht Chuzpe, aber sie verliert ihren Gegenstand nicht aus den Augen; vermutlich hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft die »Astronoetik« nicht in ihre Förderung aufgenommen, aber ihm verdankt sich mit der Vollzähligkeit der Sterne eine intellektuelle Kulturgeschichte der Bundesrepublik im Kalten Krieg. Philosophie muss aus Anteilnahme an der Sache Distanz praktizieren. Sie entfaltet ein Verhältnis der sachlich-systematischen wie zeitlich historischen Distanz zu ihrem Gegenstand. Inzwischen ist nicht nur Blumenbergs Nachlass in Marbach angekommen, mittlerweile wurde die ganze Suhrkamp-Kultur ins dortige Archiv verfrachtet. Allmählich rücken die intellektuelle Kultur der Nachkriegszeit und ihre maßgeblichen Vertreter in den Rang historischer Gegenstände auf. So wie für die politische Geschichte der Bundesrepublik die Wiedervereinigung eine historische Zäsur bildet, kann man in geistesgeschichtlicher Hinsicht auf den Abschluss des Historischen Wörterbuchs und ähnliche Projekte verweisen, mit denen exemplarisch die intellektuelle Leistung der »alten« Bundesrepublik hervortritt. Blumenbergs Welt ist inzwischen Vergangenheit – und darin liegt vor allem ein Distanzierungsgewinn für die erneute Beschäftigung mit ihm: Welches Potenzial entfalten seine Überlegungen, wenn Blumenbergs Breitwand-Begriffslandschaften heute umso schärfer die Frage nach der Überzeugungskraft solcher Analysen stellen? Nicht umsonst dominieren in Geschichtswissenschaft wie Wissenschaftsgeschichte heute Partial- und Mikrogeschichten. Ist die Welt nicht schlicht zu unübersichtlich und uneinheitlich, um auf einheitliche Formeln gebracht zu werden? Was leisten die großen, ja großartigen Erzählungen von den Höhlenausgängen, von der Arbeit am Mythos, wenn inzwischen die Moderne nicht so sehr als Verlust alter Ordnungen und Orientierungen diskutiert wird, sondern sich die Gegenwart angesichts von Biopolitik, Ozonloch und Klimakatastrophe als wesentlich selbst verschuldetes Problemgefüge herausgestellt hat? Es gab in Blumenbergs Lebenswelt zwar noch kein Ozonloch und Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 548.
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keine Klimakatastrophe, aber stattdessen hatte die Atombombe die drohende Selbstzerstörung der Menschheit konkret vor Augen geführt. Der Sammelband setzt deshalb mit der Frage nach der Technik ein. Der erste Teil versammelt Aufsätze Zur Legitimität einer technischen Moderne. Dezidiert gegen die historische Erfahrung einer Bedrohung durch Technik setzte Blumenberg ihre Verteidigung, wie Jürgen Goldstein in »Entfesselter Prometheus? Hans Blumenbergs Apologie der neuzeitlichen Technik« ausführt. Die Gefährdung durch Technik müsse Aufforderung sein, sie unter Kontrolle zu halten, könne aber nicht als genereller Einspruch gegen sie gelten. Das war das besondere Ziel von Blumenbergs Geistesgeschichte der Technik, wie Oliver Müller ausführt, der damit in seinem Aufsatz »Blumenberg liest eine Fußnote von Marx. Zur Methodik einer ›kritischen Geschichte der Technologie‹« zugleich darlegt, wie diese Geistesgeschichte keine Anwendung einer bestimmten begriffsgeschichtlichen Methodik, sondern das für Blumenberg charakteristische Philosophieren im Rückgang auf Bedingungen der Ermöglichung anbahnt. Diesen Bogen der Beschäftigung mit der Technikphilosophie führt Birgit Recki mit ihren Überlegungen zu »Technik und Moral bei Hans Blumenberg« weiter. Gerade angesichts konkreter Gefahren im Atomzeitalter nicht dem Eskapismus einer Technikdämonie zu verfallen, sondern die Selbstbehauptung auch unter den Bedingungen der Selbstgefährdung nicht aufzugeben, bilde den Kern seiner ethischen Überlegungen, wie Recki im Ausgang von Blumenbergs bewusst anstößigem Wort einer »Atommoral« rekonstruiert. Mit seiner Suche nach den konkreten historischen Bedingungen der Möglichkeit neuer Erfahrungen und Konzepte knüpfte Blumenberg dabei nicht nur an das Kantische kritische Projekt an, sondern stellte das Projekt der Aufklärung in eine Philosophie des Scheiterns, wie Alberto Fragio in seinem Beitrag »Hans Blumenberg and the Metaphorology of Enlightenment« zeigt. Aufklärung nicht verloren zu geben, obwohl sie immer wieder zum Scheitern verurteilt ist, kann nur als Einsicht in deren Grenzen geschehen, allen daraus resultierenden Paradoxa zum Trotz. Eine paradoxale Grundkonstellation kennzeichnet nicht nur das Projekt der philosophischen, sondern auch das der wissenschaftlichen Aufklärung, die im Zentrum des zweiten Teils dieses Bandes steht. Barbara Merker verfolgt in »Geschichte(n) der Paläoanthropologie« anhand einer präzisen Lektüre der Beschreibung des Menschen Blumenbergs genaue Exegesen der Fachliteratur, die er dabei vor allem im 20
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Hinblick auf eine Gelegenheit zur philosophischen »Transzendenz nach innen« rezipierte. Das unterscheidet Blumenbergs Anthropologie von der humanen Paläobiologie. Der Struktur nach kam sein Verfahren damit eher einer ganz anderen berühmten Selbstanalyse nahe, der Blumenberg sich erst spät, aber dafür umso nachhaltiger widmete, auch wenn nur Spuren davon in seinen Publikationen manifest wurden. In »Zwischen Affinität und Kritik. Hans Blumenberg liest Sigmund Freud« rekonstruiert Rüdiger Zill aus dem Nachlass eine intellektuelle Begegnung, deren ganzer Gehalt erst heute greifbar wird, wo die Psychoanalyse inzwischen selbst zum historischen Erbe geworden ist. Damit ist der Bogen zur Wissenschaftsgeschichte geschlagen, der auch die erste internationale Auseinandersetzung mit Blumenberg geprägt hatte. In diesem Band knüpft Pini Ifergan daran an, wenn er in »On Hans Blumenberg’s Genesis of the Copernican World« deren Kerngedanken systematisch zusammenträgt. Auch fast 50 Jahre nach ihrem Erscheinen hat Blumenbergs monumentale Studie nichts von ihrem herausfordernden Charakter verloren, wenn man sie als philosophischen Beitrag zu einer Wissensgeschichte zu lesen versteht. Anstelle der internationalen Blumenberg-Rezeption geht mein Beitrag vielmehr einer Leerstelle, einer – aus der Rückschau betrachtet – verpassten Begegnung zwischen deutscher und französischer Wissenschaftsphilosophie nach. »Begriffene Geschichte: Canguilhem, Blumenberg und die Wissenschaften« fragt nach den Berührungspunkten und Differenzen zweier heute wieder intensiv diskutierter Erweiterungen der Begriffsgeschichte zu dem, was man eine »Konzept-Phänomenologie« nennen könnte. Philipp Stoellger beschließt diesen zweiten Teil zur Wissenschaftsgeschichte zwischen Anthropologie und Ideengeschichte mit einer Erinnerung an Ludwik Fleck, dem inzwischen unangefochtenen Vordenker der historischen Wissenschaftsforschung. »Vom Denkstil zum Sprachstil. Von Fleck zu Blumenberg – und zurück: Zur möglichen Horizonterweiterung der Wissenschaftsgeschichte« ist sein Plädoyer für eine Verklammerung von historischer Wissenschaftsforschung mit einem an Blumenberg geschulten Philosophieren. Der abschließende dritte Teil stellt unter dem Titel Blumenbergs Arbeiten die Person und seine Vorgehensweise in den Mittelpunkt. Margarita Kranz überführt in »Blumenbergs Begriffsgeschichte. Vom Anfang und Ende aller Dienstbarkeiten« die langwierigen Diskussionen über das vermeintliche Gegenprojekt einer Metaphorologie in eine präzise Aufarbeitung von Blumenbergs Auseinandersetzung mit der A
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Begriffsgeschichte. Ada Kadelbach hat zu einem späten Moment in Blumenbergs Leben viel zu dessen Versöhnung mit seiner Heimatstadt beigetragen. Ihr Beitrag »›Mißachtung‹ und ›Versöhnungsversuch‹. Hans Blumenberg und Lübeck« rekonstruiert eine – nicht zuletzt Dank Blumenbergs Diskretion – bis heute weitgehend verborgen gebliebene Kontinuität seiner verletzten Verbundenheit mit Lübeck und seine intensive Beschäftigung mit Thomas Mann. Ein Bild-Essay von Dorit Krusche und Ulrich von Bülow »Vorläufiges zum Nachlass von Hans Blumenberg« beschließt diesen Band mit einem detaillierten Blick in Blumenbergs Schreibwerkstatt und auf seine Karteikarten. Hatte zu Lebzeiten international vor allem die Debatte um die Säkularisierungsthese dominiert und in Deutschland die Auseinandersetzung mit Blumenbergs Metapherngeschichte, rückte mit der posthumen Publikation der Beschreibung des Menschen zuletzt seine Anthropologie ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Auch noch nach seinem Tod bleibt Blumenbergs Produktivität vorläufig ungebrochen – und er damit seiner Rezeption voraus, die kaum Schritt halten zu können scheint mit den Quellen und Strömen aus dem Archiv. Aber eine intensivere Beschäftigung mit seiner Wissenschaftsgeschichte, vor allem mit deren Erweiterung zur Wissensgeschichte – um nicht das »inzwischen obsolet gewordene Wort der ›Geistesgeschichte‹« zu nehmen –, steht noch aus. Was hier einzuholen ist, geht über das Ausmessen von Blumenbergs Vielseitigkeit weit hinaus. In Aussicht steht vielmehr eine Aneignung der insistierenden Energie von Blumenbergs Nachdenken. An seinem Geburtshaus in Lübeck wurde inzwischen eine Tafel mit dem Schlusssatz aus seinem Vortrag anlässlich der Verleihung des Freud-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung angebracht: »Nachdenklichkeit heißt, dass nicht alles so selbstverständlich bleibt, wie es war.« 24 Gemünzt auf die Themen dieses Bandes lässt sich daraus ableiten: Den Herausforderungen durch Wissenschaft und Technik angemessen zu begegnen, heißt weniger, diese zu kritisieren, als sie vielmehr »unter der Kontrolle theoretischer Verantwortung zu halten« 25 , damit sie bleiben was sie sind, nämlich Mittel und Wege menschlicher Selbstbehauptung.
Hans Blumenberg, Nachdenklichkeit, Jahrbuch / Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1980, 1, S. 57–61, hier S. 61. 25 Blumenberg, Weltbilder und Weltmodelle (wie Anm. 4), S. 75. 24
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Zur Legitimität einer technischen Moderne
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Entfesselter Prometheus? Hans Blumenbergs Apologie der neuzeitlichen Technik
Auf Einladung Hans Blumenbergs war Hans Jonas am 14. Juli 1964 am Seminar für Philosophie der Universität Gießen zu Gast. Die leitende Frage seines bei dieser Gelegenheit gehaltenen Vortrags weckt noch heute Interesse: »Ist Gott Mathematiker?« Worum es dabei gegangen sein wird, lässt sich durch einen Blick in das von Jonas zwei Jahre später veröffentlichte Buch The Phenomenon of Life. Toward a Philosophical Biology, 1973 in Übersetzung als Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie veröffentlicht, erschließen. Der Umstand, dass seinerzeit der Vortrag im Biologischen Hörsaal der Gießener Universität stattfand, kann kein Zufall gewesen sein, lautet doch der Titel der Endfassung in dem entsprechenden Kapitel von Organismus und Freiheit: »Ist Gott ein Mathematiker? Vom Sinn des Stoffwechsels«. 1 Die Beantwortung der Frage, ob Gott ein Mathematiker ist, nimmt ihren Ausgang beim platonischen Demiurgen im Timaios, der bei der Schaffung der Welt auf ewige Ideen als Vorbilder geschaut hat. Die Mathematik mit ihren geometrischen Formen und proportionalen Verhältnissen verbürgt im Platonismus nicht allein die Stabilität und Schönheit der geschaffenen Welt, sondern ebenso ihre Intelligibilität, also ihre vernünftige Nachvollziehbarkeit. Die Wirklichkeit, so könnte man modernisiert sagen, ist für Platon mathematisch codiert. Die weitere Tradition dieses Gedankens ist so mächtig wie weit verzweigt: 2 Bei 1 Hans Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. I/1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010, S. 1–359, hier S. 125–179. Die dort abgedruckten Überlegungen gehen nicht allein auf den Gießener Vortrag zurück, sondern ebenso auf den von Jonas publizierten Aufsatz: Is God a mathematician? Measure 2 (1951), 404–426. 2 Vgl. Friedrich Ohly, Deus Geometra. Skizzen zur Geschichte einer Vorstellung von Gott, in: Norbert Kamp, Joachim Wollasch (Hgg.), Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des früheren Mittelalters, Berlin/New York: de Gruyter 1982, S. 1–42.
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Plutarch findet sich die Rede vom »stets geometrisierenden Gott«, 3 für ihn ist der platonisch interpretierte Gott nach mathematischen Prinzipien schöpferisch. Auch für Galilei ist das Buch der Welt in der Sprache der Mathematik geschrieben (scritto in lingua matematica), 4 und noch Leibniz formuliert: »Wenn Gott rechnet und seine Gedanken ausführt, entsteht die Welt.« 5 Blickt man auf die lange Kontinuität dieser Tradition, fällt eine markante Differenz zwischen der antiken und der neuzeitlichen Lesart der mathematisch fundierten Welt auf. Hatte der antike Idealismus vornehmlich die unveränderliche Ordnung der Welt mittels der Mathematik darzustellen gesucht, ist die Neuzeit zunehmend an der mathematischen Vorhersage der Bewegung von Körpern und der Beherrschung dynamischer Abläufe interessiert. Der mathematischen Erfassung unveränderlicher Bewegungsabläufe der Sterne folgte nun – als ein Beispiel – die Revolutionierung von Wurfgeschossen im Militärwesen durch mit Schießpulver betriebene Geschütze, wobei deren Handhabung und die Vorhersagbarkeit der Geschossbahnen ausdrücklich als Resultat einer auf Technik ausgerichteten Wissenschaft verstanden wurden. 6 Die entsprechende Mechanisierung des Weltbilds hat nach Jonas ihren vollendeten Ausdruck im cartesischen Dualismus gefunden, dem zufolge der geistigen Substanz (res cogitans) die ausgedehnte Substanz (res extensa) gegenübersteht. Damit ist für Jonas jener epochale Schritt vollzogen, der zu einer Neutralisierung der Wertigkeit der Natur geführt haben soll. Seitdem dient die mathematische Erfassung des Wirklichen in der Neuzeit nicht länger der Vergewisse3 Plutarch, Moralia VIII, qu. 2, 718 b – 720 c, in: Plutarch’s Moralia in Fifteen Volumes, griechisch/englisch, Bd. IX, Cambridge, Massachussetts/London: Harvard University Press 1969, S. 118–130. 4 Galileo Galilei, Il Saggiatore VI, in: derselbe, Opere di Galileo Galilei, Bd. VI, Florenz: Barbèra 1890–1909, Reprint: Florenz: Barbèra 1968, S. 232. 5 Gottfried Wilhelm Leibniz, Dialogus vom August 1677, in: derselbe, Sämtliche Schriften und Briefe, VI, Bd. 4 A, Berlin: Akademie Verlag 1999, S. 22: »Cum Deus calculat et cogitationem exercet fit mundus.« 6 In Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 2, Halle/Leipzig: Zedler 1732 heißt es unter dem Stichwort »Artillerie« (Spalten 1726–1728), unter Artillerie werde nicht allein das Geschütz, sondern »auch die Wissenschaft verstanden, welche lehret, wie man mit dem Geschütz umgehen soll« (Spalte 1728). Dieses Selbstverständnis der Wissenschaft als fundiertes Anwendungswissen hat sich von dem Primat der reinen theoretischen Anschauung nachhaltig emanzipiert.
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rung der intelligiblen Bonität der Welt, sondern ihrer Veränderbarkeit durch technische Eingriffe. Die Welt der wertneutralen Dinge wird zum Rohstoff für humane Ansprüche. Jonas verwendet große Anstrengungen auf den Nachweis, dass das Lebendige diesem modernen mathematischen Paradigma nicht entspricht. Nicht erst der hochentwickelte Mensch, sondern schon die Amöbe wird zum Beleg dafür, dass sich ein lebender Organismus mit seiner Fähigkeit zur Spontaneität nicht aus den Bedingungen des Wirklichen herausrechnen lässt. Das Ideal einer mathematischen Beherrschung der Welt ist somit offenkundig falsch, wenn es auf das Phänomen des Lebens nicht abschließend anwendbar ist. Auf die Frage »Ist Gott ein Mathematiker?« antwortet Jonas daher mit einem vernehmlichen »Nein«. 7 Gleichwohl bedroht gerade die moderne Technik, die in einem verallgemeinernden Sinne angewandte Mathematik ist, die Existenzgrundlage des Lebens. Der Mensch als homo sapiens ist für Jonas nicht länger lediglich ein homo faber, sondern der »endgültig entfesselte Prometheus« 8 , dessen Maßlosigkeit zu der »apokalyptischen Situation« 9 einer Bedrohung der Existenz der Menschheit in der Gegenwart geführt habe. Jonas’ ethisches Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 1979 erschienen, ist mit der Kritik an neuzeitlichen Machtoptionen eines mechanischen Weltbildes der Fluchtpunkt der Überlegungen, ob Gott ein Mathematiker ist. Hans Blumenberg hat sich in seiner Vorlesung über Philosophische Eschatologie im Sommersemester 1985 ausführlich und kritisch zu dem von Jonas vertretenen ›Prinzip Verantwortung‹ geäußert. 10 Der ethische Entwurf von Jonas, so führte er damals aus, sei ein eschatologischer, da er die Existenz des Menschen als grundsätzlich gefährdet und auf dem Spiel stehend ansehe. Dem mochte Blumenberg nicht Jonas, Organismus und Freiheit (wie Anm. 1), S. 179. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 7 (Nachdruck der Originalausgabe von 1979, Frankfurt am Main: Insel-Verlag). 9 Ebd. 10 Als junger Student und Hörer der Vorlesung vermochte ich zwar zu registrieren, dass Blumenberg Jonas’ ›Prinzip Verantwortung‹ einer fundamentalen Kritik unterzog, aber kaum angemessen, warum. Das aufzuklären, sei mir im Folgenden – mit nahezu drei Jahrzehnten Verspätung – gestattet. 7 8
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zustimmen. Schon gar nicht teilte er den Vorbehalt gegenüber der modernen Technik, der durchaus zeitgeistgemäß gleichsam in der Luft lag. Blumenbergs Apologie der neuzeitlichen Technisierung unseres Wirklichkeitsbezugs lässt sich mit einem Blick auf nun veröffentlichte Texte aus dem Nachlass rekonstruieren, die von ihm selbst unter dem Arbeitstitel Geistesgeschichte der Technik gesammelt worden sind. 11 Im Rahmen der von ihm mehr eingeforderten als ausgeführten Geistesgeschichte der Technik wird deutlich, worin für Blumenberg die Legitimität technischer Weltveränderung besteht.
I.
Der Mensch – ein Mängelwesen?
Zu den Grundannahmen der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert gehört die Behauptung, der Mensch sei ein von der Natur unversorgtes Mängelwesen. 12 Kultur und Technik erscheinen demnach als Kompensationsleistungen, die ein Überleben sichern, wo die natürliche Einpassung fehlt. 13 Blumenberg nähert sich der Technik Hans Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik, aus dem Nachlaß hg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. In einem Brief an Erich Rothacker vom 7. Februar 1958 weist Blumenberg darauf hin, er habe seinen Studien »unbescheidenerweise den Arbeitstitel einer ›Geistesgeschichte der Technik‹ gegeben« und betont: »was herauskommt, wird dann schon bescheidener firmieren!« (zitiert nach ebd., Editorische Notiz, S. 148). Die beiden bis dahin unveröffentlichten Schlüsseltexte in dem nun herausgegebenen Nachlassband, der den Arbeits- zum Buchtitel wandelt, lauten entsprechend verhalten: »Einige Schwierigkeiten, eine Geistesgeschichte der Technik zu schreiben« und »Methodologische Probleme einer Geistesgeschichte der Technik«. Man sollte also nicht der Suggestion erliegen, hier sei nun eine ausgearbeitete Geistesgeschichte der Technik an die Öffentlichkeit gelangt. Um eine Apologie der Technik aus der Perspektive Blumenbergs zu entfalten, werde ich daher auf weitere Texte Blumenbergs zurückgreifen und seine Argumentation gleichsam über die nun publizierten Texte hinaus anreichern. 12 So spricht Arnold Gehlen von der »Unspezialisiertheit und Unangepasstheit des Menschen an eine natürliche Umwelt«, die seinen »Charakter als ›Mängelwesen‹« bestimme: Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Textkritische Edition (1940), in: derselbe, Gesamtausgabe, Bd. 3.1, Frankfurt am Main: Klostermann 1993, S. 139. 13 Vgl. Arnold Gehlen, Die Technik in der Sichtweise der Anthropologie, in: derselbe, Gesamtausgabe, Bd. 6, Frankfurt am Main: Klostermann 2004, S. 151–163, hier S. 153: »Das Kunststück eines so riskierten Wesens, sich am Leben zu erhalten, kann in der elementaren Schicht nur in einer Überbietung und Kompensation seiner Mängelausstattung bestehen, und wo wir früheste Kulturen ausgraben, finden wir denn auch die 11
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aber ausdrücklich nicht aus der Perspektive, sie als ein menschliches, sondern vielmehr als ein geschichtliches Phänomen zu begreifen. 14 Dabei interessiert ihn, inwiefern und warum die Technik als ein »konstitutives Moment der Neuzeit« 15 begriffen werden muss. Für Blumenberg stellt sich die Geschichte der Technik nicht als eine allmähliche, ihren Ausgang bei den Anfängen der Menschheit nehmende Fortschrittsgeschichte dar, deren unübersehbarer Zuwachs an technischen Innovationen sich lediglich dem in der Geschichte angewachsenen Fundus an voraussetzbaren Erfindungen verdankt. Vielmehr soll ein signifikanter Wandel zu verzeichnen sein, der die Neuzeit zu einem Zeitalter der Technik hat werden lassen. Bei allen Vorläufern gilt es die Zäsur zu begreifen, welche die neuzeitliche Technik von den antiken und mittelalterlichen Technikanwendungen scheidet. Dazu stellt Blumenberg zunächst den anthropologischen Basissatz in Frage, der Mensch sei grundsätzlich ein Mängelwesen. Für eine sich geschichtlich vergewissernde Anthropologie ist diese Annahme nicht universalisierbar. Blumenberg verweist darauf, diese anthropologische Selbsteinschätzung sei über die längste Zeit der abendländischen Geschichte nicht zustimmungsfähig gewesen: »Die Menschheit hat zu allen Zeiten die Not einer bedrängenden Natur und Mangel gekannt, aber die Verallgemeinerung solcher Erfahrungen als Bewertung der Gesamtwirklichkeit hat zusätzliche Voraussetzungen, die mit jenen Er-
lebensnotwendigen Werkzeuge, die Faustkeile, Feuersteinmesser, Lanzenspitzen, stets in verlorengegangenen Techniken hergestellt, die Feuerspuren usw.« Schon Ernst Kapp hat in seinen Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig: Westermann 1877, S. 30 die These der »Organprojektion« vertreten, wonach Werkzeuge »das Vor- oder Hervorwerfen, Hervorstellen, Hinausversetzten und Verlegen eines Innerlichen in das Aeussere« darstellen. Mängel lassen sich somit durch eine technische Erweiterung der organischen Grundkonstitution kompensieren. 14 Hans Blumenberg, Ordnungsschwund und Selbstbehauptung. Über Weltverstehen und Weltverhalten im Werden der technischen Epoche, in: Helmut Kuhn, Franz Wiedmann (Hgg.), Das Problem der Ordnung. Sechster Deutscher Kongreß für Philosophie, München 1960, Meisenheim am Glan: Hain 1962, S. 37–57; zitiert nach dem Wiederabdruck in: Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik (wie Anm. 11), S. 99–136, hier S. 101 f. Blumenberg hat bereits in seinem frühen Aufsatz »Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem«, Studium Generale 4, 8 (1951), 461–467 den Ansatz, das Phänomen der Technik durch eine Anthropologie zu erläutern, als »unzureichend« qualifiziert (hier S. 462). 15 Blumenberg, Ordnungsschwund und Selbstbehauptung (wie Anm. 14), S. 102. A
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fahrungen nicht schon selbst gegeben sind.« 16 Nachdrücklich weist Blumenberg darauf hin, der Mensch habe sich sehr wohl – vornehmlich in christlich-stoischer Lesart – als das von der Natur versorgte Wesen verstanden, und das über Jahrhunderte, sogar Jahrtausende hinweg. Der stoische Begriff der pronoia, der Vorsehung, ist der prominenteste Ausdruck einer teleologisch verfassten Welt, die um unseretwillen geschaffen worden sein soll: mundus propter nos conditus –, so wird es noch Kopernikus als Grundlegung seines Wirklichkeitsverständnisses formulieren. 17 Zwar gab es auch in einer Welt, die als für den Menschen gemacht verstanden wurde, das Phänomen des Mangels, ohne dass aber daraus ein nicht zu lösendes Problem erwachsen wäre. Zwei Lösungen lassen sich auf Anhieb angeben, die in einer für den Menschen geschaffenen Welt Mängel erklärbar gemacht haben: Zum einen die christliche Lehre vom Sündenfall, der dem Mangel als nachparadiesisch auferlegte Strafe moralische Legitimität verliehen hat, haben wir doch demnach verdientermaßen unsere Existenz im Schweiße unseres Angesichts zu sichern. Zum anderen erscheint der Mangel lediglich als das Resultat des unbewältigten Problems der unzureichenden Verteilung des von Natur aus Ausreichenden. Diese historische Korrektur macht es nicht unmöglich, die Technik als ein anthropologisches Merkmal ersten Ranges und als eine Kompensationsleistung zu begreifen. Aber ohne eine geschichtlich ausgerichtete Anthropologie muss unklar bleiben, wie und warum es in der Neuzeit zu einer ungeahnten Evolution technischer Möglichkeiten gekommen ist: »Der Mensch ist, biologisch betrachtet, als ein mangelhaft ausgerüstetes und angepaßtes Wesen auf die Bühne der Welt getreten und hat von Anfang an Hilfsmittel, Werkzeuge und technische Verfahren zu seiner Selbstbehauptung und zur Sicherung seiner Bedürfnisse entwickeln müssen. Aber dieses Instrumentarium ist über lange Zeiträume und im Spielraum minimaler Varianten stabil geblieben […].« 18 Mit der Neuzeit ist ein signifikanter Anstieg von InnovaBlumenberg, Einige Schwierigkeiten, eine Geistesgeschichte der Technik zu schreiben (wie Anm. 11), S. 38. 17 Zu Herkunft und Bedeutungswandel der kopernikanischen Weltformel vgl. Hans Blumenberg, Die kopernikanische Wende, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1965, S. 52– 99. 18 Blumenberg, Einige Schwierigkeiten, eine Geistesgeschichte der Technik zu schreiben (wie Anm. 11), S. 33. 16
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tionen zu verzeichnen, der die Einschätzung zu belegen hilft, diese Epoche sei nicht allein ein Zeitalter, das über Techniken verfügt, sondern ein technisches Zeitalter. Wie ist es aber zur neuzeitlichen Technisierung gekommen? Um den Siegeszug der modernen Technik und noch grundlegender: um überhaupt das Auftreten der Technik im modernen Umfang verständlich machen zu können, reicht eine immanente Geschichte der Technik als Chronologie ihrer Erfolge nicht aus. Was Technik ist, lässt sich nicht allein durch einen Blick auf die Technik klären.
II.
Eine Geistesgeschichte der Technik
Eine Geistesgeschichte der Technik erschöpft sich nicht in einer Chronologie der Erfindungen. Vielmehr gilt es in ihr zu klären, »aus welchen Antrieben die Organisation einer neuen Realität hervorgegangen ist«. 19 Der Wille zur technischen Bewältigung der Wirklichkeit ist keineswegs selbstverständlich, er lässt sich nicht ohne weiteres aus anthropologischen Grundannahmen deduzieren und stellt keine geistesgeschichtliche Konstante dar. Blumenberg erinnert an vergessene Vorbehalte gegen technische Eingriffe in die Welt als Landschaft: Für Aischylos und Herodot war die Überbrückung des Hellespont ein Frevel. 20 Das Ideal der unverletzten Erde, der inviolata terra, machte selbst den Bergbau begründungsbedürftig. 21 Diese Beispiele illustrieren, dass Technik nicht als eine unproblematische Fortsetzung der Natur mit anderen Mitteln verstanden wurde, sondern als eine durchaus fragwürdige Korrektur am Bestehenden. Erst der technische Eingriff, und sei es die in die Landschaft eingepasste Überbrückung eines Flusses, macht einen Mangel offenbar, mehr noch: formuliert ihn und bringt ihn somit zu jener Ausdrücklichkeit, die seine Behebung legitim erscheinen lassen soll. Die Anwendung von Technik setzt somit implizite Werturteile über das als wirklich Erfahrene voraus. Erst die technischen Hilfsmittel offenbaren die Defizite des Wirklichen aus der Sicht des Menschen. Daher gilt: Im Paradies gab es keine technischen Erfindungen, da sie zu nichts gut gewesen wären. 19 20 21
Ebd., S. 13. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. A
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Die Geschichte der Technik besteht deshalb keineswegs aus einer Abfolge voraussetzungsloser und zufälliger Erfindungen, auf die man gekommen ist, wie der Bauer bei Aristoteles den verborgenen Schatz im Acker beim Pflügen findet. Erst ein veränderter Bezug zur Wirklichkeit hat technische Erfindungen möglich und durchsetzungsfähig gemacht. Erst eine Auflösung von Denkblockaden eröffnete den Spielraum jeweiliger Erfindungen. Epochale Innovationen setzen die Überwindung jener unhinterfragten Selbstverständlichkeiten voraus, die den Rahmen des Denkmöglichen vorgeben und somit die Spielräume des Neuen limitieren. Eine Geistesgeschichte der Technik ist daher vornehmlich an den Bedingungen der Möglichkeit technischer Erfindungen interessiert, weniger an den Erfindungen selbst. 22 Darüber hinaus wäre eine Geschichte der nicht gemachten Erfindungen möglich und durchaus im Interesse einer Geistesgeschichte der Technik. Sie hätte durch Weltbildrekonstruktionen aufzuweisen, warum bestimmte Erfindungen zu bestimmten Zeiten nicht möglich waren. Ein Beispiel hierfür sind optische Linsen. Es ist davon auszugehen, dass seit der Antike der die Optik verändernde Einfluss von Glasscheiben bekannt gewesen ist. Aber erst zu Galileis Zeit hat man begonnen, die Linsen so zu schleifen, dass die bekannten optischen Effekte eintreten. Blumenberg verweist darauf, dass diese Erfindung in der Antike deshalb nicht zu erwarten war, weil das Wirklichkeitsparadigma einer vollständigen Sichtbarkeit alles Wirklichen dies vereitelte: »Daß es in der Welt für den Menschen nicht nur zeitweise und vorläufig, sondern seiner natürlichen Ausstattung definitiv Entzogenes und Unsichtbares geben könnte, war eine der Antike wie im Mittelalter unbekannte, unter bestimmten metaphysischen Voraussetzungen auch unvollziehbare Unterstellung.« 23 Erst das mit bloßem Auge zu verfolgende Auftreten von neuen Sternen am Himmel ließ zu Zeiten Keplers diese VollstänEntprechend ist es Blumenberg bei seinen Studien zur Genese der kopernikanischen Welt ausdrücklich nicht um eine »Erklärung des Faktums der Leistung des Kopernikus« oder gar um eine »Versicherung ihrer Notwendigkeit« gegangen, sondern um die »Begründung ihrer bloßen Möglichkeit am Ende desjenigen Zeitalters, das durch das geschlossenste dogmatische System der Welterklärung geprägt worden war« (Blumenberg, Die kopernikanische Wende [wie Anm. 17], S. 40). 23 Hans Blumenberg, Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit, in: Galileo Galilei, Sidereus Nuncius (Nachricht von neuen Sternen). Dialog über die Weltsysteme (Auswahl). Vermessung der Hölle Dantes. Marginalien zu Tasso, hg. und eingeleitet von Hans Blumenberg, Frankfurt am Main: Insel 1965, S. 7–75, hier S. 15. Ernst Kapp dagegen hat eine kontinuierliche Entwicklung des Fernrohrs und der erforderlichen Linsen 22
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digkeitsannahme brüchig werden und stellte das Sichtbarkeitspostulat in Frage: 1572 war im Sternbild der Kassiopeia ein neuer Stern aufgetaucht, der 1574 wieder verschwand; 1604 erschien im Sternbild des Ophiuchus – des Schlangenträgers – neben Saturn, Jupiter und Mars ein vierter, sehr heller Stern. Für Johannes Kepler war das Auftauchen dieses neuen Sterns im Jahr 1604 »nit ein gemein ding … sondern ein grosses wunder«, 24 da es den tradierten Kenntnisstand, den Hipparch, Ptolemäus und alle nachfolgenden Astronomen besaßen, signifikant erweiterte. Mit dem Verdacht, es sei vielleicht nicht alles Wirkliche auch prinzipiell sichtbar, entstand erst jener Bedarf an technischer Abhilfe, auf den Galilei mit dem Fernrohr reagieren sollte. Beim Anblick des Sternbildes des Orion durch das Fernrohr ist er »überwältigt« (obrutus) von der »ungeheuren Menge« (ingens frequentia) an Sternen, er schätzt sie auf mehr als fünfhundert.25 Eine Geistesgeschichte der Technik ist an diesen Ermöglichungsspielräumen interessiert, die einen Bruch mit der Tradition und eine Antizipation neuer Techniken implizieren. Welche Hintergrundannahmen müssen sich verändert haben, damit technische Erfindungen möglich werden und ihr Nutzen überhaupt erst plausibel erscheint? »Ob und wie aus einem bestimmten neuen Verständnis der Wirklichkeit und der Stellung des Menschen innerhalb dieser Wirklichkeit technischer Wille entsteht, wird Thema einer Geistesgeschichte der Technik sein müssen, die nicht nur Selbstdeutungen der technischen Tätigkeit und Urheberschaft sammelt und registriert, sondern die Motivationen eines auf Technik zielenden und von Technik getragenen Lebensstils faßbar werden läßt.« 26 Erst eine philosophische Interpretation der Geschichte der Technik vermag jene Veränderungen des Wirklichkeitsverhältnisses freizulegen, welche den Willen zur Technik aus seiner Latenz herausriss und zu einem Signum der Moderne hat werden lassen. Derartige Fragen seit der Antike bis zu Herschels Riesenteleskop behauptet (Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik [wie Anm. 13], S. 77–83). 24 Johannes Kepler, Gründtlicher Bericht Von einem vngewohnlichen Newen Stern wellicher im October ditz 1604. Jahrs erstmahlen erschienen, in: derselbe, Gesammelte Werke, Bd. I, München: Beck 1938, S. 393–399, hier S. 397. 25 Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, in: derselbe, Opere (wie Anm. 4), Bd. III-1, S. 76, 78. 26 Blumenberg, Einige Schwierigkeiten, eine Geistesgeschichte der Technik zu schreiben (wie Anm. 11), S. 13. A
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nach den Anfängen des neuzeitlichen Willens zur Technik führen Blumenberg zurück zu den Grundannahmen der antiken Ontologie und Metaphysik und zu den subtilen Disputationen der Mönche des ausgehenden Mittelalters.
III. Das Paradigma der Nachahmung der Natur und die unbegrenzte Schöpfungskraft Gottes Die entscheidende Wende, die eine ganze Epoche einer ungeahnten Technisierung ermöglichen sollte, bestand in der Überwindung des antik-mittelalterlichen Paradigmas, wonach alles Schöpferische des Menschen ein Nachahmen der Natur ist. 27 Schon der platonische Demiurg hatte bei seiner Schaffung der Welt nachgeahmt, indem er die Ideen aktualisierte, also die Idealität zur weltlichen Realität werden ließ. Der metaphysisch verbürgte Seinsbestand war demnach begrenzt, mochte er auch noch so üppig erscheinen. Auch die Hervorbringungen von Gegenständen durch den Menschen folgte diesem Paradigma der Nachahmung, der imitatio. Dabei konnte dem Menschen durchaus die Rolle des Vollstreckers zufallen, nicht aber des voraussetzungslosen Schöpfers. Die »Kunstfertigkeit«, heißt es in der Physik des Aristoteles, »bringt teils zur Vollendung, was die Natur nicht zu Ende bringen kann, teils eifert sie ihr nach«. 28 Sollte das Potentielle mitunter durch ungünstige Umstände in seiner Verwirklichung behindert werden, kann der Mensch helfend einspringen. Jeder Gärtner, der bei Trockenheit die Aussaat mit Wasser versorgt, ist ein Vollender einer gefährdeten Teleologie. Technische Neuerungen dagegen, die nicht durch die Natur schon auf Verwirklichung angelegt sind, kann es nach diesem Paradigma des Vollendens und Nacheiferns nicht geben. Wenn wir Häuser bauen, tun wir das so, wie die Natur es tun würde, wenn sie Häuser wachsen ließe. 29 Mit dieser teleologischen Annahme verbindet sich ein Vorrang Vgl. Hans Blumenberg, »Nachahmung der Natur«. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: derselbe, Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart: Reclam 1981, S. 55–103. 28 Aristoteles, Physik, übersetzt, mit einer Einleitung und mit Anmerkungen versehen von Hans Günter Zekl, griechisch/deutsch, Erster Halbband, Hamburg: Meiner 1987, 199a (S. 89). 29 Ebd. Vgl. dazu Blumenberg, »Nachahmung der Natur« (wie Anm. 27), S. 55 f. 27
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des Aktuellen vor dem Potentiellen. Alles aktuell Wirkliche ist die Realisierung dessen, worauf die Welt aufgrund der sie formierenden Idealität angelegt ist. Die Welt ist nach Aristoteles eine prinzipiell ausgeschöpfte Realisierung aller wesentlichen Möglichkeiten. 30 Wenn er in der Metaphysik ausführt, es könne »offenbar nicht wahr sein, wenn man sagt, das und das sei zwar möglich, aber es werde nicht eintreten«, 31 sind nicht die Möglichkeiten gemeint, die die Realisierung individueller Objekte betreffen – denn deren Entwicklung kann in ihrer Aktualisierung durchaus verhindert werden –, sondern die Verwirklichung jener Möglichkeiten, von der eine Vollständigkeit des Wirklichen abhängt: Mag nicht aus jedem Samen einer Sonnenblume eine Sonnenblume hervorgehen, so verbürgt das Prinzip der Aktualisierung aller wesentlichen Möglichkeiten, dass es in der Welt überhaupt Sonnenblumen als Glied der gestuften Seinsordnung gibt. Die der Dynamik des Seienden innewohnende Entelechie bzw. Teleologie sieht die Verwirklichung alles Möglichen vor. Die Schöpfungskraft des Menschen ist durch diese Wirklichkeitsannahmen limitiert, denn die Bonität der metaphysisch dechiffrierten Welt drückt sich in ihrer Vollständigkeit aus. Es kann demnach nichts Neues, von der Natur nicht auf Verwirklichung Angelegtes erfunden werden. »Der Anblick der Natur entmutigt, weil sie so aussieht, als könne sie nicht anders sein, und weil ihr Reichtum suggeriert, es könne außer ihr nichts geben.« 32 Technik wird sich als das erweisen müssen, was möglich ist, obwohl es die Natur gibt. Die antike Metaphysik verfügt zwar über einen expliziten Begriff der Potenz, nicht aber über einen Begriff der Possibilität. Possibilien – Blumenberg geht in seinen Ausführungen auf diese Differenz zweier Möglichkeitsbegriffe nicht ein – sind logische Möglichkeiten ohne Abhängigkeit von einem Vermögen, das teleologisch auf eine Realisierung verweist. 33 Eine Beachtung der Possibilien als eine einsetzende
Vgl. Russell M. Dancy, Aristotle and the priority of actuality, in: Simo Knuuttila (Hg.), Reforging the Great Chain of Being, Dordrecht usw.: Springer 1981, S. 73–115. 31 Aristoteles, Metaphysik, Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann Bonitz, mit Einleitung und Kommentar von Horst Seidl, griechisch/deutsch, Zweiter Halbband, Hamburg: Meiner 3 1991, 1047 b (S. 111). 32 Blumenberg, Methodologische Probleme einer Geistesgeschichte der Technik (wie Anm. 11), S. 59. 33 Vgl. Ludger Honnefelder, Possibilien (Abschnitt I: Mittelalter), in: Joachim Ritter, 30
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Wertschätzung derjenigen Möglichkeiten, die nicht von Natur aus auf Verwirklichung drängen, setzt sich erst mit dem theologischen Voluntarismus des 14. Jahrhunderts durch. Die Voluntaristen nahmen die Aussage des apostolischen Glaubensbekenntnisses beim Wort, wonach die Christen an einen allmächtigen Gott glauben. Was das heißen mag, haben vornehmlich die Nominalisten durchdekliniert. Wenn Gott in seiner Allmacht beim schöpferischen Akt nicht durch ideale Vorgaben eingeschränkt sein soll, wird jener Universalienrealismus obsolet, der die Welt als ein Abbild göttlicher Ideen begriffen hat. Der göttliche Wille hat nicht länger lediglich zu wollen, was der Intellekt ihm als ein anzustrebendes bonum vorschreibt. Die von Gott gewollte Welt ist daher nicht länger ein Spiegel seines schöpferischen Intellekts, sondern lediglich eine Verwirklichung seiner Möglichkeiten. Die von Gott eingesetzte Ordnung der Welt ist nicht notwendig und metaphysisch dechiffrierbar, sondern kontingent. Das heißt nicht, die Ordnung der Welt sei zufällig. Sie ist vielmehr durch den freien Willen Gottes bestimmt worden. Bei diesem Akt war der göttliche Wille durch nichts, auch nicht durch die göttliche Bonität oder durch seinen Intellekt, eingeschränkt. Blumenberg hat in der Legitimität der Neuzeit 34 diesen – in der Nominalismusforschung strittigen – Allmachtsbegriff dramatisierend zugespitzt und zum Ausgangspunkt der humanen Selbstbehauptung stilisiert. Der Zersetzung aller rationalen Konstanten unter dem Druck eines theologischen Absolutismus korrespondiere eine drohende Ohnmacht der menschlichen Vernunft. Auch wenn man dieser Deutung mit guten Gründen widersprechen mag, 35 kommt es an dieser Stelle auf etwas anderes an: Mit der Betonung der Allmacht Gottes im 14. Jahrhundert hat sich der Wert des Möglichen einschneidend verändert. Wenn Gott nicht auf eine Schöpfung festgelegt ist, gibt es neben der Welt, die er geschaffen hat, die Karlfried Gründer (Hgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. VII, Basel: Schwabe 1989, S. 1126–1135. 34 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966, erneuerte Ausgabe: Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. 35 Vgl. meine kritische Abwägung dieser Nominalismus-Deutung: Jürgen Goldstein, Nominalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham, Freiburg/München: Alber 1998; derselbe, Deus absconditus. Die Rationalität der Allmachtsspekulationen bei Wilhelm von Ockham, in: Günther Mensching (Hg.), »Radix totius libertatis«. Zum Verhältnis von Willen und Vernunft in der mittelalterlichen Philosophie, (Contradictio. Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte; 12) Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 147–160.
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Möglichkeit anderer Welten, die er nicht geschaffen hat, aber hätte schaffen können. Die These von der Pluralität der Welten – die nicht allein numerisch gemeint sein muss – hat diesen Gedanken durchgespielt. Es gibt demnach mögliche Wirklichkeiten, die mehr sind, als nur bislang nicht aktualisierte Potenzen. Für die Wirklichkeit, in der wir leben, gilt seitdem: Alles, was den Naturgesetzen dieser Welt nicht widerspricht, ist ›possibel‹, wie es nun heißt, ohne in seiner Realisierung teleologisch notwendig zu sein. Eine Technik, die ihrem Selbstverständnis nach etwas anderes ist als Nachahmung der Natur, setzt diesen neuen Möglichkeitsbegriff voraus. Die epochale Plausibilität der neuzeitlichen Technisierung verdankt sich nach Blumenberg – zumindest in dem tragenden Willen zur Technik – der Reaktion auf den theologischen Voluntarismus. Denn die Uneinsehbarkeit des göttlichen Willens – wonach er sich nicht länger durch einen Bezug auf den göttlichen Intellekt entschlüsseln lässt – soll zu einer Verunsicherung des Weltbezugs geführt haben. Blumenberg resümiert diesen Vorgang unter dem Stichwort ›Ordnungsschwund‹. Die Entteleologisierung des Wirklichkeitsbezugs und somit die Depotenzierung der Annahme, die Welt sei für den Menschen geschaffen, ist das Resultat einer Welt der Kontingenz, ja der Kontingenz der Welt selbst. Dieser epochale Wandel bezeichnet die Voraussetzung für die neuzeitliche Etablierung der Technik als Ziel der instrumentellen Vernunft. Die als Schöpfung gedachte Welt wird unter den Vorzeichen des göttlichen Voluntarismus unverbindlich, und eben diese Unverbindlichkeit macht den Spielraum der Variation und Konstruktion aus: »Der Nullpunkt des Ordnungsschwundes und der Ansatzpunkt zur Ordnungsbildung sind identisch. Das Minimum an ontologischer Disposition ist zugleich das Maximum an konstruktiver Potentialität.« 36 Damit war der Spielraum eröffnet, das vom Menschen durch Technik zu Schaffende nicht länger lediglich als eine Vollendung einer von Natur aus gegebenen Potenz zu verstehen. Neuzeitliche Technik – als die Hervorbringung von Neuem – schöpft die Möglichkeit aus, zu erfinden, was den Prinzipien des Seins nicht widerspricht, ohne von ihnen auf eine Verwirklichung angelegt zu sein. Ein Beispiel: Die Geschichte der Luftfahrt dokumentiert, dass die längste Zeit, sagen wir
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Blumenberg, Ordnungsschwund und Selbstbehauptung (wie Anm. 14), S. 134. A
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seit Leonardo da Vinci, unternommen wurde, Flugapparate zu bauen, welche die Natur der Vögel nachzuahmen suchten. Wäre dies gelungen, wäre ein Flugzeug eine Vollendung der Natur mit technischen Mitteln. Tatsächlich aber hat erst die Erfindung des Propellers – zusammen mit dem Verbrennungsmotor – Flugzeuge ermöglicht. Anders als Aristoteles werden wir nicht länger sagen wollen, das Prinzip des Propellers sei in der Natur der Vögel bereits so weit ausgereift, dass der Mensch es lediglich vollendet habe. Die Bedingung der Möglichkeit der Erfindung von Propellern bestand allein darin, dass sie den Gesetzmäßigkeiten der Natur nicht widersprechen durften. Ein perpetuum mobile dagegen ist weder eine von der Natur zur Realisierung vorgesehene noch eine technisch vom Menschen zu realisierende Möglichkeit, da es den Gesetzmäßigkeiten der Physik in Bezug auf die Energieerhaltung widerspricht.
IV. Die Begrenztheit der Welt und der Spielraum des Möglichen Man machte es sich zu einfach, wollte man annehmen, dass die Kenntnis der Naturgesetze eine Technik ermöglichte, die Eingriffe in die Natur zuließe, ohne dass dadurch die Bewertung der Welt selbst betroffen wäre. Dieses Moment lässt sich klarer herausarbeiten, als es Blumenberg in seiner unvollendeten Geistesgeschichte der Technik vorgenommen hat. Aus der Perspektive des Mittelalters lässt sich auf einen Satz gebracht sagen: Jede technische Veränderung der Welt impliziert einen Schöpfungstadel. Für das Mittelalter ist die Welt zwar keinesfalls das Paradies, aber was in ihr an Mängeln und Übeln vorkommt, wird – wie es etwa Thomas von Aquin unternimmt 37 – als der strafende und somit die Sünde des Menschen ausgleichende Aspekt eines insgesamt wohlgeschaffenen Weltganzen verstanden. Zur Güte der Welt gehörte die Annahme, sie sei ausreichend und auf die Bedürfnisse des Menschen prinzipiell abgestimmt. Erst die metaphysischen Spekulanten des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit haben mit den Gedanken operiert, die Welt sei alles in allem klein, zu klein angesichts der allmächtigen Schöpferkraft Gottes.
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Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, qu. 19, art. 9.
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Für diese Überlegung gibt es einen eindrucksvollen Beleg. Er stammt von Marcellus Stellatus Palingenius, ein Pseudonym, hinter dem sich wahrscheinlich Pier Angelo Manzoli (ca. 1500–1543) verbirgt. Palingenius ist der Verfasser des theologisch-kosmologischen Lehrgedichtes Zodiacus vitae, das 1534 in Venedig gedruckt und 1560 und 1565 in einer englischen Übersetzung von Barnabe Googe erschienen ist. Allein im 16. Jahrhundert gab es etwa 30 Ausgaben dieses Buches. Die aristotelisch-christliche Welt war endlich, in ihrem Aufbau überschaubar, wohlgeordnet und abgeschlossen. Ihre angenommene Ausdehnung – im Raum wie in der Zeit – mochte für das einzelne Menschenleben groß erscheinen, noch aber war die Möglichkeit einer heilsgeschichtlichen Zentralstellung des Menschen in ihr nicht gefährdet. Die Welt war endlich, da es – außer im Wesen Gottes – keiner Unendlichkeit bedurfte. Palingenius aber stellt in seinem Lehrgedicht die entscheidende Frage, die die Beschränkung der weltschaffenden Kreativität Gottes zur Aporie werden ließ: »Why hath not God created more?« 38 Damit war die in sich ruhende Statik einer sich selbst genügenden Welt, die allein vom Absoluten überboten werden konnte, aufgehoben. Und wenn Gott weniger geschaffen haben sollte, als er vermag, und somit die Möglichkeiten einer zu entgrenzenden Welt nicht ausgeschöpft hat, obliegt es nun dem Menschen, Neues zu schaffen. Technik im modernen Sinne ist die Entsprechung des nun entdeckten Freiraums, mehr hervorbringen zu können, als die Welt von sich aus bietet. Dadurch wird der Mensch nicht zwingend zu einem zweiten Schöpfer, der den göttlichen Urheber in seiner Schaffenskraft zu kopieren hat und somit den Grundlagen des christlichen Mittelalters verbunden bleiben muss. Die technische Kreativität des Menschen wird vielmehr zum Inbegriff einer instrumentellen Vernunft, die auf den Ordnungsschwund einer Wirklichkeit, die unter dem Einfluss eines absolutistischen Gottes stehen soll, konstruierend reagiert.
Marcellus Palingenius, The Zodiake of Life, liber XII: Pisces (Faksimile-Nachdruck der Ausgabe von 1576 in der Übersetzung von Barnabe Googe, Delmar, New York: Scholars’ Facsimiles & Reprints 1976, S. 228). Blumenberg zitiert Palingenius mit eben dieser Frage in: Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2 1985, S. 447. 38
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V.
Entwicklungsschritte der neuzeitlichen Technisierung
Man könnte vermuten, der Siegeszug moderner Technik habe sich in einer gradlinigen Entwicklungsgeschichte entfaltet und gründe in einem Akt der Hybris, bei dem der Mensch die Stelle Gottes eingenommen habe. Hat sich nicht der Mensch zum Schöpfer aufgeschwungen und zu einem zweiten Gott – zu einem alter deus – gemacht, der sich eine neue Welt, eine Welt der Technik erschafft? Gegenüber den prometheischen Selbstverherrlichungen heutiger technischer Spitzenleistungen nehmen sich die Anfänge bescheiden aus. »Der Mut, die ›Erfindung‹ als etwas aufzufassen, was nicht irgendwie ›vorgefunden‹ wird, ist ein ganz später, nur zaghaft gewagter Schritt der Geschichte menschlicher Selbstdeutung.« 39 Einen solchen ersten, verhaltenen Schritt macht Blumenberg an Nikolaus von Kues aus, der in seiner Schrift Idiota de mente einen Laien – den idiota – einführt. Dessen handwerkliche Fertigkeit, in klare Opposition zu den scholastischen Gelehrten gestellt, bringt durch das Schnitzen einen Löffel hervor, also einen Gegenstand, der nicht durch imitatio der Natur, sondern eben durch inventio in die Welt gekommen ist. »Der Löffel hat außer der von unserem Geist geschaffenen Idee kein anderes Urbild«, führt der Laie bei Cusanus aus, und er »ahme […] nicht die Gestalt irgendeines Naturdinges nach«. 40 So bescheiden das Resultat des Löffels anmuten mag, er ist eine technische Erfindung, welche die Welt des Menschen jenseits natürlicher Vorgaben zu bereichern vermag. Dennoch macht Blumenberg an Cusanus die Tendenz aus, den löffelschnitzenden Laien als Demutsfigur auftreten zu lassen, der gegen den Hochmut der Gelehrten eingeführt wird. »Die neu gesehene Würde seiner erfinderischen Arbeit dient der Heraushebung einer Haltung, einer im mittelalterlichen Sozialsystem mißachteten Lebensform, und nicht der neuen Begründung des Ursprungs technischer Gebilde als solcher. Damit wird verständlich, daß dieses Zeugnis des Cusaners im 15. Jahrhundert einsam und zunächst wirkungslos bleibt.« 41 Hans Blumenberg, Einleitung, in: Nikolaus von Cues, Die Kunst der Vermutung. Auswahl aus den Schriften, Bremen: Schünemann 1957, S. 7–69, hier S. 57. 40 Nikolaus von Kues, Idiota de mente/Der Laie über den Geist, cap. II, n. 62, in: derselbe, Philosophisch-theologische Werke, Bd. II, lateinisch/deutsch, Hamburg: Meiner 2002, S. 15. 41 Blumenberg, Einige Schwierigkeiten, eine Geistesgeschichte der Technik zu schreiben (wie Anm. 11), S. 17. 39
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Ein erster Schritt über diese Wirkungslosigkeit hinaus geschah nach Blumenberg durch den alternativen Versuch, mit Hilfe von technischen Mitteln die Natur zu überlisten. Für einen allmächtigen Gott ist die Verlässlichkeit von Naturgesetzen nicht absolut. Wunder, von denen die biblischen Erzählungen berichten, sollen das belegen. Der frühneuzeitliche Begriff von Technik ist im Anschluss an diese Möglichkeit, von den Naturgesetzen abzuweichen, zunächst – und das ist durchaus ein Rückschritt gegenüber Cusanus – eine Überlistung der Naturgesetzmäßigkeiten durch technische Operationen. Paradigmatisch ist dabei die Mechanik, wenn etwa durch mechanische Vorrichtungen selbst große Gewichte scheinbar mühelos gehoben oder bewegt werden können. Der Begriff der ›Mechanik‹ im 17. Jahrhundert besitzt noch die Konnotation von ›List‹ und ›Trick‹. 42 Mechanische Vorrichtungen und barocke, zur Schau gestellte Apparate – wie etwa die mechanische Ente von Jacques de Vaucanson von 1738 – waren Wundermaschinen, die der Vorstellung nach »in Kollision mit der Vorstellung des Naturgesetzes« 43 gerieten. Technische Manipulationen der Wirklichkeit bildeten daher den wunderhaften Eingriff des allmächtigen Gottes in die Welt nach. Diese Auffassung einer Technik als Überlistung der Natur erwies sich als eine Sackgasse, da ihre Möglichkeiten begrenzt und ihre Resultate dem Kuriositätenkabinett zugehörig erschienen.44 Die diesem Modell entgegengesetzte und bis heute tragfähige Auffassung von Technik wurde entschieden von Galilei vertreten. Blumenberg verweist auf dessen Traktat Über die Wirkungen der mechanischen Werkzeuge aus dem Jahr 1593, in dem Galilei davon ausgeht, »die Wirkungen der Technik« könnten »nicht gegen, sondern nur nach den Gesetzen der Natur erzielt werden«. 45 Francis Bacon hat daher gefordert, die Beherrschung der Natur erfordere zuvor die Kenntnis der Natur. 46 Descartes wird seinen Rationalismus mit der Aufforderung verbinden, die Menschen hätten zu »Herren und Eigentümern der Natur« (maistres & possesseurs de la Nature) 47 zu werden. Erst Ebd., S. 18. Ebd. 44 Ebd., S. 62 f. 45 Dazu ebd., S. 23. 46 Vgl. Francis Bacon, Novum Organum, Liber I: Aphorismi de interpretatione naturae et regno hominis. 47 René Descartes, Discours de la méthode VI, in: derselbe, Œuvres, Bd. VI, publiées par Charles Adam et Paul Tannery, nouvelle édition, Paris: Vrin 1996, S. 62. 42 43
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die nun eingeleitete rational-mathematische Welterschließung unter dem sich herausbildenden Paradigma eines methodischen Atheismus, jenseits aller teleologischen Zweckannahmen, ließ eine metaphysikfreie Präzision in der Erfassung physikalischer Gegebenheiten zu, die in ihrer Anwendung technische Operationen ermöglichte, die als unerreichbar hatten gelten müssen. Die Folgen lassen sich an den tiefgreifenden Veränderungen der modernen Lebenswelt ablesen: Der Fortschritt der Medizin seit dem 17. Jahrhundert ist so unübersehbar wie der Einfluss der entdeckten Elektrizität und der durch sie möglich gewordenen technischen Geräte auf das alltägliche Leben oder die Entwicklung von Automobilen. Jenseits der pragmatischen Verwertbarkeit stellt die Landung auf dem Mond einen signifikanten Höhepunkt der technischen Bewältigung physikalischer Gegebenheiten im 20. Jahrhundert dar. Wenngleich die moderne Technisierung der Lebenswelt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Weltorientierung des Menschen besitzt, so war es zunächst eine veränderte Weltorientierung, die diese Technisierung auf den Weg gebracht hat.
VI. Entfesselter Prometheus? Mit Bacons neuer Wissenschaft und dem cartesischen Programm einer Ermächtigung des Menschen ist jener ideengeschichtliche Moment des Beginns eines technischen Zeitalters erreicht, der für Blumenberg ein spätes Stadium einer vorausliegenden, im ausgehenden Mittelalter einsetzenden Entwicklung darstellt. Jonas dagegen macht in seinem Prinzip Verantwortung diesen späten Moment eines ausformulierten Willens zur Technik zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. 48 Er setzt ein, wo Blumenbergs Interesse im Grunde bereits nachlässt. Die Differenzen in ihrer Einschätzung der Legitimität der technischen Epoche beruhen letztlich auf einer unterschiedlichen Bewertung theologischer Hintergrundannahmen. Dabei sucht Jonas nach einer rein säkularen Begründung seiner
Jonas nimmt zwar die Autodynamik technologischer Prozesse in der Moderne in den Blick und weist – wohl nicht zu unrecht – auf die Ambivalenz der Resultate hin, aber er vermag nicht, die Genese des humanen Willens zur Technik angemessen begreiflich zu machen. Die Rede vom ›entfesselten Prometheus‹ mag illustrativ sein, erklärt aber wenig.
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Verantwortungsethik. Das Prinzip Verantwortung will eine theologische Begründung der »Treuhänderrolle« 49 des Menschen gegenüber seiner eigenen Existenz ausdrücklich vermeiden. Jonas verwendet daher viel Mühe auf den philosophischen Aufweis, dass die »angebliche Kluft von Sein und Sollen« 50 zu überbrücken sei und der Mensch daher »das Ja in sein Wollen übernehmen und das Nein zum Nichtsein seinem Können auferlegen« 51 müsse. Wenngleich die Aufhebung der neuzeitlich-naturwissenschaftlichen Neutralisierung des Seienden durch eine Lehre von den Zwecken unternommen wird, wonach mit den Zwecken die Wertigkeit des Zweckhaften in die Welt zurückkehren soll, ist an Jonas’ Argumentation das Echo der religiösen Tradition unüberhörbar. So ist die Eliminierung des Heiligen und die Abschaffung der Transzendenz durch die moderne Naturwissenschaft für Jonas »vielleicht der kolossalste Irrtum der Geschichte«. 52 Er begreift »Dankbarkeit, Pietät, Ehrfurcht als Ingredienzien einer Ethik, die im technologischen Sturm die Zukunft hüten soll«. 53 Wo Verantwortung übernommen werde, besitze der Mensch Ehrfurcht vor dem, was er als »Heiliges« 54 und daher zu Schützendes erfahre. Das ist mehr als eine unverbindliche Anleihe an Sprachgewohnheiten der Religion. Jonas geht es um die »Integrität des ›Ebenbildes‹«, 55 dem in der Schöpfung die Schonung des Geschaffenen übertragen worden ist. Mit Blick auf den zum Imperativ erhobenen Fortbestand der Menschheit ist das Prinzip Verantwortung die säkular formulierte Antwort auf die biblische Frage, ob ich meines Bruders Hüter zu sein habe. Für Jonas ist die Seinsneutralisierung ein Resultat der modernen Naturwissenschaft – Max Weber hat entsprechend von der »Entzauberung der Welt« 56 gesprochen. Für Blumenberg dagegen ist die Neutralisierung der Welt zwar auch ein Resultat einer kopernikanischen Wissenschaft, aber eben nur zum Teil. Der absolute Gott selbst hat nach Blumenberg den Zweifel an der Bonität seiner Schöpfung durch eine Jonas, Das Prinzip Verantwortung (wie Anm. 8), S. 29. Ebd., S. 153. 51 Ebd., S. 157. 52 Ebd., S. 231. 53 Ebd., S. 74. 54 Ebd., S. 393. 55 Ebd. 56 Max Weber, Wissenschaft als Beruf (1917/1919), in: derselbe, Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 17, Tübingen: Mohr 1992, S. 71–111, hier S. 87. 49 50
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überbordende Allmacht aufkommen lassen. Die Unverbindlichkeit der Schöpfung soll ein Resultat der ungehemmten Macht Gottes sein. Das Resultat ist eine nicht länger in ihrer Existenz und ihrer Ordnung notwendige Welt. Die kontingente Welt lässt Variabilität in modernem Maßstab überhaupt erst zu. Technik ist insofern das Ausschöpfen jenes Spielraums, den die Universalisierung des Kontingenzgedankens unter dem Primat eines theologischen Voluntarismus geschaffen hat. Insofern ist die moderne Technik in ihrer Geburtsstunde Teil einer humanen Selbstbehauptung gegenüber der Infragestellung humaner Ansprüche durch einen voluntaristischen Gott. Ausdrücklich widerspricht Blumenberg dem apokalyptischen Szenario, das Jonas ausmalt. In einem Zeitungsbeitrag für die Neue Zürcher Zeitung mit dem Titel »Rette, was wer kann!«, den Blumenberg – ungewöhnlicherweise – in der Vorlesung über Philosophische Eschatologie im Rahmen seiner Kritik an Jonas verlas, heißt es: Man muss Verständnis dafür haben, dass niemand tot sein möchte, wenn es sich vermeiden lässt. Ich habe auch Verständnis dafür, dass niemand eine Welt ohne Menschen haben möchte, auch wenn sich dieser Wunsch ungefähr so anhört, als wolle er keine ohne Schmetterlinge. Dabei ist eine Welt ohne Menschen viel unwahrscheinlicher als eine Welt ohne Schmetterlinge. Die Redeweise hat nur rhetorische Genauigkeit, es sei heute so weit, dass die Menschheit sich selbst ausrotten könne. Sie kann sich allenfalls dezimieren, und sie kann denen, die überleben, so übel mitspielen, als würden sie in die Steinzeit zurückgeworfen – ein Angebot, um das sich andere dringlich bewerben, denen alles nicht ›einfach‹ genug sein kann. 57
Die Rede von der ›Bewahrung der Schöpfung‹ ist für Blumenberg daher Hochstapelei. »Der Wunsch zum Bleiben – auf Gegenseitigkeit – sollte […] nicht hochgespielt werden zu einer Verantwortung, in der es um mögliche Widerpartschaft gegen einen wie immer zu benennenden Schöpfer geht, den zu schonen einem seiner Geschöpfe zugefallen wäre.« 58 Es mag ein berechtigtes Interesse am Fortbestand der Menschheit geben, aber es gibt für Blumenberg keinen kategorischen Imperativ, der sich ontologisch oder theologisch begründen ließe, der eben dies als Pflicht dem Menschen auferlegt. Für den Selbsterhalt der MenschHans Blumenberg, Rette, was wer kann! Neue Zürcher Zeitung Fernausgabe Nr. 79 (5./6. April 1985), 35, Wiederabdruck in: derselbe, Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß, Stuttgart: Reclam 1997, S. 31–33, hier S. 31. 58 Blumenberg, Ein mögliches Selbstverständnis (wie Anm. 57), S. 32 f. 57
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heit ist allein ein hypothetischer Imperativ begründbar. Einen ontologisch entfaltbaren Imperativ der Selbsterhaltung kann es für Blumenberg daher nicht geben. Vom Sein führt für ihn – anders als für Jonas – kein Weg zum Sollen.
VII. Technik als Kunstgriff der Zeitgewinnung Blumenbergs Apologie der neuzeitlichen Technik ist unverkennbar von einer Begeisterung für technische Möglichkeiten getragen. Das hat mehr als nur persönliche Gründe. Zur Kontingenz einer nicht mehr auf die elementaren Bedürfnisse des Menschen abgestimmten Welt gehört auch die Erfahrung des Zeitmangels. Vita brevis, das Leben ist kurz, unsere Zeit ist knapp und der Einsatz von Technik bietet die Verheißung des Zeitgewinns durch Verkürzung von Abläufen. Die Lebenszeit mit ihren natürlichen Einheiten ist für den Menschen im wesentlichen eine unverfügbare und unveränderliche Größe, will er mehr an Leistung und Genuß, so muß er die Realisierung seiner Möglichkeiten in dieser vorgegebenen Zeit beschleunigen. Direkt oder indirekt ist diese Steigerung von Geschwindigkeit die einheitliche Wurzel aller technischen Antriebe des Menschen. 59
Erst mit der Neuzeit ist der Bedarf an Technik als Mittel der Zeitersparnis akut geworden. Damit gewinnt der Grundgedanke an Plausibilität, »daß ein technisches Instrument dem Menschen nur zur Freisetzung von Energie für andere, nicht-technische Zuwendungen dient. Zeitgewinn für Zeitvertreib, das scheint mir die Grundstruktur in der ganzen Neuzeit zu sein.« 60 Darüber ließe sich eine alternative GeistesBlumenberg, Methodologische Probleme einer Geistesgeschichte der Technik (wie Anm. 11), S. 81. Schon Blumenbergs Nutzung der ›Stenorette‹, eines Diktiergeräts, ist ein signifikanter Beleg für diesen Willen zur technischen Beschleunigung: Wer diktiert, ist schneller als der, der selbst schreibt. Dieses Beispiel mag belanglos wirken und nur für Autoren aussagekräftig erscheinen. Aber es symbolisiert den Willen zur Ausnutzung technischer Möglichkeiten, um Zeit zu gewinnen. 60 Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlaß hg. von Manfred Sommer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 616. Vgl. auch: derselbe, Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, in: derselbe, Wirklichkeiten in denen wir leben (wie Anm. 27), S. 7–54, hier S. 50 f.: »Die Technik ist phänomenal ein Reich von Mechanismen. […] Alle Mechanismen sind letztlich auf die Steigerung einer endlich vorgegebenen Kapazität, nämlich der des menschlichen Daseins, angelegt; sie 59
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geschichte der Technik schreiben, für die Blumenberg bereits die Leitlinien entworfen hat: Neuzeitliche Technik ist nicht zuletzt ein Kunstgriff, Zeit zu gewinnen angesichts einer sich in der Neuzeit zunehmend öffnenden Schere von Lebenszeit und Weltzeit. 61 Das technische Zeitalter bezieht somit nach Blumenberg seine Legitimtität nicht allein aus seiner Selbstbehauptung gegen den absolutistischen Gott, sondern auch aus der Selbstbehauptung gegenüber einer rücksichtlosen Wirklichkeit, deren Raum- und Zeit-Kontingenz der Mensch in ihrer »Unerträglichkeit« 62 erfahren muss. Die technische Mobilmachung erweist sich als ein Antwortversuch auf die Zumutung der Unausschöpfbarkeit der Welt angesichts einer zu kurzen Lebensspanne – im Gegensatz zu Blumenberg will Jonas eben diese moderne technische Beschleunigung »eher bremsen«. 63 Mit dieser Frage nach dem Verhältnis von Technisierung und Zeitstruktur wird allerdings »eine Grenze berührt, an der eine Geistesgeschichte der Technik für ihre Problemstellungen isoliert nicht mehr aufkommen kann«. 64 Vielleicht hat Blumenberg auch deshalb das Projekt einer Geistesgeschichte der Technik nicht weiter verfolgt und über den Status eines Entwurfs hinausgetrieben – nicht allein, weil ihm dazu die Zeit fehlte, sondern auch, weil es ihm zunehmend als ein Unterkapitel seiner großen Studien zur Raum- und Zeit-Kontingenz erschienen sein mag.
strecken, wenn man so sagen darf, die Reichweite jedes Daseins, im räumlichen wie im zeitlichen Bezug, sie erlauben uns, Sprünge zu machen, statt Schritte zu tun.« 61 Vgl. Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. 62 Hans Blumenberg, Ernst Cassirers gedenkend bei Entgegenahme des Kuno-FischerPreises der Universität Heidelberg, in: derselbe, Wirklichkeiten in denen wir leben (wie Anm. 27), S. 163–172, hier S. 172. 63 Jonas, Das Prinzip Verantwortung (wie Anm. 8), S. 390. 64 Blumenberg, Methodologische Probleme einer Geistesgeschichte der Technik (wie Anm. 11), S. 83.
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Blumenberg liest eine Fußnote von Marx Zur Methodik einer »kritischen Geschichte der Technologie«
I. Karl Marx hat in seinem Kapital Grundlinien einer »kritischen Geschichte der Technologie« umrissen. In einer Fußnote im 13. Kapitel zu »Maschinerie und große Industrie« schreibt er: Eine kritische Geschichte der Technologie würde überhaupt nachweisen, wie wenig irgendeine Erfindung des 18. Jahrhunderts einem einzelnen Individuum gehört. Bisher existiert kein solches Werk. Darwin hat das Interesse auf die Geschichte der natürlichen Technologie gelenkt, d. h. auf die Bildung der Pflanzen- und Tierorgane als Produktionsinstrumente für das Leben der Pflanzen und Tiere. Verdient die Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der materiellen Basis jeder besondren Gesellschaftsorganisation, nicht gleiche Aufmerksamkeit? Und wäre sie nicht leichter zu liefern, da, wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, daß wir die eine gemacht und die andere nicht gemacht haben? Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen. 1
Dass in Fußnoten ein Forschungsprogramm angemahnt, angeregt oder versprochen wird, ohne dass der Autor selbst dieses umsetzen würde, ist keine Seltenheit. Auch Marx hat keine »kritische Geschichte der Technologie« verfasst; so genau er die Änderung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse in der industriellen Revolution beschreibt, seine Auseinandersetzung mit der Technik verharrt letztlich bei der These, dass es die »manufakturmäßige Teilung der Arbeit« sei, also die spezielle arbeitsteilige Organisation der Güter-Produktion, aus denen Maschinen und Technik entstünden. 2 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1. MEGA, Bd. 23, Berlin: Dietz 1974, S. 392, FN 89. 2 Ebd., S. 390. 1
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Auch wenn Marx selbst das in der Fußnote umrissene Forschungsprojekt nicht verfolgte – vergessen wurde diese Anregung nicht. Es mag zwar auf den ersten Blick überraschend sein, aber es ist Hans Blumenberg, der diese Fußnote zu einem Angelpunkt seiner methodologischen Reflexionen über eine Geistesgeschichte der Technik macht. Wie noch zu zeigen sein wird, greift er die Themen dieser Fußnote – den Status der ›Erfindung‹, das neue Naturverhältnis und das veränderte menschliche Selbstverständnis – auf und rückt sie in den Problemhorizont einer Geistesgeschichte der Technik, ohne allerdings Marx’ materialistischem Credo zu folgen. 3 Blumenberg war ein wohlwollender Leser von Marx’ Dissertation Differenz der demokritischen und epikuräischen Naturphilosophie und ihren Vorarbeiten, aus denen er in der Legitimität der Neuzeit gern zitiert und die er für seine geistesgeschichtliche Themenbildung produktiv heranzieht. 4 So zitiert er Marx dort nicht nur im Rahmen rezeptionsgeschichtlicher Überlegungen, sondern auch als einen Gewährsmann seiner eigenwilligen Methodik: Die Methode, die hier angewendet wird, die Legitimitätsproblematik des Ursprungs der Neuzeit von so entfernten Punkten her zu betrachten, mag bedenklich erscheinen. Das entspricht der Verlegenheit, in die uns die Differenz zwischen dem geschichtlichen Prozeß und seiner dokumentierbaren Ausdrücklichkeit versetzt. Wir müssen, wie Karl Marx in den Vorarbeiten seiner Dissertation über Demokrit und Epikur notiert, »den ständig fortwirkenden Maulwurf des wirklichen philosophischen Wissens von dem gesprächigen, exoterischen, sich mannigfach gebärdenden phänomenologischen Bewußtsein des Subjekts trennen«. 5
Dieses Zitat ist auch daher interessant, weil es die Metapher des Maulwurfs verwendet, die an die späte Auseinandersetzung mit der Figur des ›Wühlers‹ bei Burckhardt und Nietzsche in Höhlenausgänge erinnert. 6 Hier hat das Marx-Zitat auch die Funktion einer knappen Rechtfertigung einer Inszenierung der Vielstimmigkeit in der Beschreibung historischer Prozesse, in der sich bei Blumenberg üblicherweise phiDas deutliche Bekenntnis zum Materialismus wird insbesondere im Fortlauf der Fußnote deutlich, wo Marx eine kritisch-materialistische Religionsphilosophie fordert. 4 Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, Erneuerte Ausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 188–190; 309; siehe zur weiteren Beschäftigung mit Marx auch derselbe, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 633–643. 5 Blumenberg, Legitimität der Neuzeit (wie Anm. 4), S. 156. 6 Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 637 ff. 3
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losophische, literarische, biographische und anekdotische Passagen mischen. Wir haben es also mit einer kondensierten Fassung seiner geistesgeschichtlichen Methodik zu tun: Das Bild des Maulwurfs dient Blumenberg dazu, seine Methodik zu legitimieren, die Genese der Neuzeit von »so entfernten Punkten« her zu untersuchen. Eben das soll die Maulwurfstätigkeit leisten: scheinbar Disparates aufzusuchen und zu verbinden, um dem Offensichtlichen und »Mainstreamhaften« etwas entgegenzusetzen. Den Begriff der ›Geistesgeschichte‹ selbst verwendet Blumenberg vermutlich in Anlehnung an Cassirers Studien zur Neuzeit, die dieser ausdrücklich – siehe exemplarisch den Untertitel zu Freiheit und Form – als Beiträge zur Geistesgeschichte bezeichnete. 7 Allerdings wird Blumenberg den Begriff der Geistesgeschichte nicht durchgehend beibehalten. Seine geistesgeschichtliche Methode firmiert später eher unter den Titeln ›historische Phänomenologie‹ oder ›Phänomenologie der Geschichte‹. 8 Im Folgenden werde ich die geistesgeschichtliche Methode vor dem Hintergrund der These untersuchen, dass Blumenberg wesentliche Aspekte derselben in Auseinandersetzung mit Marx’ »kritischer Geschichte der Technologie« generiert und konturiert. In einem ersten Teil will ich nachzeichnen, wie Blumenberg seine Methodenreflexion überhaupt aus seiner Beschäftigung mit der Technik in den 1950er Jahren entwickelt; dabei kann man sagen, dass die Methodenreflexion auch die Funktion einer Selbstkorrektur hat, denn während er sich in den frühen Aufsätzen zur Technik noch stark an Heideggers Theoriebildung orientiert hatte, scheint er zunehmend skeptisch zu sein, ob sich mit Heideggers »seinsgeschichtlichem« Aufriss die Genese der modernen Technik adäquat beschreiben lässt. Im zweiten Teil werde ich einen explizit der geistesgeschichtlichen Methode gewidmeten Text, nämlich denjenigen über »Methodologische Probleme einer Geistesgeschichte der Technik« aus dem 2009 erschienenen Band Geistesgeschichte der Technik, näher untersuchen. Im dritten Teil meiner Überlegungen werde ich zeigen, wie Blumenberg die von Marx angerissenen Themen, die für die kritische Geschichte der Technologie relevant wären, aufgreift, Ernst Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, in: derselbe, Gesammelte Werke, Bd. 7, hg. von Birgit Recki, Hamburg: Meiner 2001. 8 Hans Blumenberg, Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart: Reclam 1981, S. 6. 7
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differenziert und neu formuliert; so fasziniert er sich von Marx’ Idee einer kritischen Geschichte der Technologie zeigt, hält er einige von dessen Thesen zur Technik auch für »pauschale Feststellungen«. 9 Wenn Blumenberg den »Pluralismus der Modelle« unterstreicht, mit denen eine Geistesgeschichte der Technik arbeiten müsse, 10 dann spricht er sich damit auch gegen einen Materialismus strenger Observanz aus. Seine Methodik will sich ausdrücklich nicht auf die »Gigantomachie der Idealisten und Materialisten« einlassen. 11
II. Dass Blumenberg in den 1960er Jahren explizit über die methodischen Schwierigkeiten einer Geistesgeschichte der Technik nachdenkt, kann damit zu tun haben, dass er selbst in seinen ersten Aufsätzen zur Technik, nämlich in »Natur und Technik als philosophisches Problem« von 1951 und in dem zwei Jahre später erschienenen Text »Technik und Wahrheit« in dieser Hinsicht noch ungenau bzw. unentschieden geblieben war. 12 Auch in den frühen Aufsätzen bemüht er sich zwar schon um eine geschichtliche Perspektive auf die Technik, doch unternimmt er in »Natur und Technik als philosophisches Problem« noch eine Untersuchung des »Wandels des Seinsverstehens«. In einer luziden Ana9 Hans Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 72. Zur Stelle im Kapital, S. 368 f. Das Buch enthält zwei bislang unveröffentlichte Texte zur Geistesgeschichte der Technik, den schon veröffentlichten Aufsatz »Ordnungsschwund und Selbstbehauptung. Über Weltverstehen und Weltverhalten im Werden der technischen Epoche« sowie die Dokumentation der Diskussion über Blumenbergs Vortrag auf dem Freiburger Historikertag. Im Folgenden werde ich diesbezüglich nicht differenzieren, sondern auf das Buch mit Seitenzahl verweisen. 10 Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik (wie Anm. 9), S. 45. 11 Ebd., S. 89. 12 Hans Blumenberg, Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem, Studium Generale 4 (1951), 461–467; derselbe, Technik und Wahrheit, in: Actes du XI. Congrès International de Philosophie, Bruxelles 20–26 août 1953, vol. II: Épistémologie, Amsterdam/Louvain: North-Holland Publication Company 1953, S. 113–120. Siehe zur Genese von Blumenbergs Philosophie der Technik: Oliver Müller, Natur und Technik als falsche Antithese. Die Technikphilosophie Hans Blumenbergs und die Struktur der Technisierung, Philosophisches Jahrbuch 115 (2008), 99–124. Siehe dazu auch derselbe, Zwischen Mensch und Maschine. Vom Glück und Unglück des Homo faber, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 68 ff.
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lyse zeigt Blumenberg zwar, wie ontologische Dispositionen und technisches Welt- und Selbstverständnis zusammenhängen, doch ist der Durchgang durch die ›Seinsverständnisse‹ in mancher Hinsicht noch von Heideggers »Seinsgeschichte« inspiriert: Blumenberg hatte sich in seiner kurz zuvor eingereichten Habilitationsschrift über Die ontologische Distanz intensiv mit Heidegger und insbesondere mit dem Brief über den ›Humanismus‹ und den Holzwegen – in denen bekanntlich auch der technik- und neuzeitkritische Text »Die Zeit des Weltbildes« enthalten ist 13 – beschäftigt. 14 Dies schlägt sich etwa in dem Schluss von »Natur und Technik als philosophisches Problem« nieder, in dem Blumenberg auf den Humanismus-Brief verweist und das »unbedingte Herstellen« in einer kulturkritischen Wendung zitiert und damit indirekt das deszendenztheoretisch-kulturpessimistische Paradigma Heideggers aufgreift. Diese ersten Aufsätze über die Technik kann man als aufschlussreiche Dokumente über die deutliche Emanzipation von Heidegger betrachten – auch wenn deutlich wird, dass er in einzelnen Punkten heideggerschen Denk-Figuren verhaftet bleibt. 15 In jener düsteren Weise wird Blumenberg jedenfalls später nicht mehr über die Technik reden. Er wird sich vielmehr nach dem Illegitimitätsverdacht von Heidegger (und Carl Schmitt) um eine Rehabilitierung der Neuzeit und um die Etablierung der Selbstbehauptungskategorie bemühen – als eine Antwort auf den Selbstermächtigungsbegriff, unter dem Blumenberg die Heideggersche und Schmittsche Diskreditierung der humanen Neu-Orientierung in der Neuzeit verhandelt. Schon in der Vortragsskizze »Technik und Wahrheit« distanziert sich Blumenberg vom späten Heidegger, wenn er definiert: »Der Mensch verdankt sich wesentlich sich selbst, er ist ›autotechnisch‹.« 16 Auch wenn dieser ›Definitionsessay‹ 17 hier sicher in der Nähe Sartres anzusiedeln ist – Blumenberg hat sich später ausdrücklich als »Nach13 Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: derselbe, Holzwege. Gesamtausgabe Bd. 5, Frankfurt am Main: Klostermann 1977, S. 75–113. 14 Hans Blumenberg, Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls, Kiel: unveröffentlichte Habilitationsschrift Christian-Albrechts-Universität 1950. 15 Oliver Müller, Sorge um die Vernunft. Hans Blumenbergs phänomenologische Anthropologie, Paderborn: Mentis 2005, S. 63 ff. 16 Hans Blumenberg, Technik und Wahrheit (wie Anm. 12), S. 119. 17 Siehe zu diesem Begriff Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlaß hg. von Manfred Sommer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 512 ff.
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kriegsleser« Sartres bezeichnet 18 –, findet er hier eine Formulierung für das Menschsein, an die er erst in seiner in den 1970er Jahren verfassten Beschreibung des Menschen auf angemessenem Niveau anknüpfen sollte. 19 Die spätere vehemente Ablehnung der ›Seinsfrage‹ (»Hat die Frage nach dem ›Sinn von Sein‹ überhaupt einen Sinn?« 20 ) ist ein Indiz dafür, von ihr einmal eingenommen gewesen zu sein. Neben dieser Unentschiedenheit in Grundlegungsfragen ist es vor allem die dem frühen Aufsatz zugrunde gelegte Antithetisierung von Natur und Technik, die ihn inhaltlich und methodisch unbefriedigt lassen musste; jedenfalls distanziert sich Blumenberg später ausdrücklich von dieser Vorannahme: »Der Blick auf die Sache selbst [der Technik, O. M.] ist uns weithin verstellt durch die Herrschaft der schon erwähnten Antithese von Technik und Natur […].« 21 Bei der Lektüre der Technik-Aufsätze kann man eine philosophische Suchbewegung erkennen: In Auseinandersetzung mit dem Technik-Thema scheint sich Blumenberg seiner Methode zu vergewissern und kann diese als »Geistesgeschichte der Technik« zunehmend auch ausformulieren und differenzieren (es ist kein Zufall, dass Blumenberg 1959 am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg auch eine Vorlesung zur »Geistesgeschichte der Technik« angeboten hatte). In dem Aufsatz »Ordnungsschwund und Selbstbehauptung« von 1962, der schon im Umfeld seiner Neuzeit-Studien entstanden ist, hat er den »Wandel des Seinsverstehens« hinter sich gelassen und präsentiert hier eine Präzision seines Anliegens und seines Vorgehens: Ansatzpunkt ist jetzt »eine fundamentale Wandlung im Verstehen der Welt und in den darin implizierten Erwartungen, Einschätzungen und Sinngebungen«. 22 Und er fährt fort:
Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 139. Blumenberg, Beschreibung des Menschen (wie Anm. 17), siehe insbesondere den zweiten Teil. 20 Ebd., S. 208. Siehe auch derselbe, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 102. 21 Hans Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, in: derselbe, Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart: Reclam 1981, S. 12. In einer Fußnote konzediert er: »Meine erste Arbeit zum Problem der Technik nahm die traditionelle Antithese noch ganz selbstverständlich auf.« (S. 52, Anm. 2). 22 Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik (wie Anm. 9), S. 103. 18 19
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Solches Weltverstehen summiert sich nicht aus Tatsachen der Erfahrung und ist auch nicht ein ahnungshaftes und vorbewußtes Tiefenwissen, sondern ein Inbegriff von Präsumtionen, die ihrerseits den Horizont möglicher Erfahrungen bestimmen und die Vorgegebenheit dessen enthalten, was es für den Menschen mit der Wirklichkeit auf sich hat. Ein solcher Sinnwandel des Weltverstehens ist aber nicht ein fataler Prozeß, der den Menschen aus einem unverfügbaren Urgrund überkommt, sondern eine jeweils fällige Konsequenz von geistigen Setzungen und Formulierungen, deren Integration das Verhältnis des Menschen zur Welt fundiert. 23
Und eben diesen sich hier herauskristallisierenden neuen geistesgeschichtlichen Ansatz vertieft Blumenberg in zwei Texten, die kurz nach »Ordnungsschwund und Selbstbehauptung« entstanden sind und die 2009 von Alexander Schmitz und Bernard Stiegler aus dem Nachlass herausgegeben wurden.
III. In dem mit »Methodologische Probleme einer Geistesgeschichte der Technik« überschriebenen (und 1967 auf dem Historikertag in Freiburg gehaltenen) Vortrag betont Blumenberg zunächst, dass man eine Geistesgeschichte der Technik nicht im Stil und im Sinne einer Chronik schreiben könnte 24 und unterstreicht damit einen methodischen Aspekt, den er auch in der Legitimität der Neuzeit beibehalten wird. Die bloße Summierung maschineller Produkte oder technischer Errungenschaften wird zu keiner gehaltvollen Geistesgeschichte der Technik führen. Es muss vielmehr darum gehen, sich darüber zu verständigen, wie Technisierungsprozesse in Gang kommen, welche historischen und sozialen Rahmenbedingungen Technisierung ermöglichen, unterstützen oder inhibieren. Und bei einer solchen Fragerichtung kommt man nicht umhin, zu untersuchen, wie eine bestimmte Theorie über die Wirklichkeit Einfluss auf das menschliche Tun haben kann. Blumenberg spricht hier von »Handlungstheorien« und definiert – entgegen der heute üblichen Verwendungsweise des Begriffes: Handlungstheorien sind Theorien, »die dazu bestimmt sind, Handlungen auszulösen, zu beeinflussen oder auch zu blockieren«. 25 23 24 25
Ebd. Ebd., S. 54, siehe auch S. 9 ff. Ebd., S. 55. A
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Um die geistesgeschichtliche Funktion solcher Handlungstheorien zu verdeutlichen, zieht Blumenberg nun Marx als Kronzeuge heran und betont: Eine Geschichtsschreibung vom Schlage einer kritischen Geschichte der Technologie »kann nicht im Schema der chronistischen Tradition stehenbleiben. Das Zuständliche entzieht sich der präzisen Datierbarkeit, die das Begründungsverhältnis von Handlungstheorien und Handlungsprodukten methodisch erschließbar macht.« 26 Gleichzeitig hält er Marx’ einseitige Erklärung der Entwicklung der Maschine aus der manufakturmäßigen Arbeitsteilung für eine Art »ideologische Verkehrung« und konstatiert daher: »Alles spricht dafür, den Zugang zur Sache von Vorentscheidungen freizuhalten.« 27 Das heißt hier vor allem, die schon erwähnte Gigantomachie zwischen Idealismus und Materialismus hinter sich zu lassen. Ansatzpunkt sei vielmehr die Beachtung des schlichteren Sachverhalts, daß Prozesse der Beschleunigung und Verlangsamung unterliegen können, daß sie erlitten oder ergriffen werden können, daß sie Aneignung und Entfremdung zum Korrelat haben können. Jedenfalls im Modell ist dies denkbar: daß die Geschichte der Fakten und als Sequenz von Fakten von der reflektierenden Bildung von Ideen nicht nur im zeitlichen Sinne ›begleitet‹ wird, sondern daß ein System der gegenseitig gerichteten Wirkungen zwischen Idee und Realität besteht. 28
Das »System der gegenseitig gerichteten Wirkungen zwischen Idee und Realität« herauszupräparieren, ist Kerngegenstand einer Geistesgeschichte überhaupt, aber eben auch einer Geistesgeschichte der Technik; und dabei gelte es zu sehen, »wie offen die Fragen sind, die sich hier stellen, und damit auch, was von der methodischen Einstellung zu verlangen ist, die sich jenseits oder diesseits der präjudiziellen Alternativen frei hält für das, was erschließbar sein könnte«. 29 Diese methodische Offenheit hatte Blumenberg schon in seinem Vortrag »Die Bedeutung der Philosophie für unsere Zukunft« in kritischem Bezug auf den Discours de la méthode von Descartes unterstrichen. 30 Der von Blumenberg geforderte »Pluralismus der Aspekte und
Ebd., S. 93. Ebd., S. 73. 28 Ebd., S. 54. 29 Ebd. 30 Hans Blumenberg, Die Bedeutung der Philosophie für unsere Zukunft, in: Die voraussehbare Zukunft. Europa-Gespräch 1961, (Europa-Gespräch; 4) Wien: Verlag für Jugend und Volk 1961, S. 130. 26 27
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der methodischen Ansätze« 31 zeigt sich zunächst in den verschiedenartigen Quellen, die Blumenberg verwendet. Auch in seinen Texten zur Technik zieht er philosophische und literarische Texte zu Rate, analysiert aber auch die Gründe für die Entwicklung der Rechenmaschine und des Wolkenkratzers und weist nach, dass Galilei die Prinzipien der Mechanik im venezianischen Arsenale verstanden hat, auch wenn er es als platonisierende Anamnesis-Erfahrung verschleiern wollte. 32 Im Grunde folgt Blumenberg hier schon einer Methodik, für die er später den Begriff des »Umwegs« und die mit diesem einhergehende philosophische Grundhaltung des ›Zögerns‹ findet. In methodischer Hinsicht ist der Umweg daher von Bedeutung, weil Blumenberg mit diesem Begriff die (scheinbare) Nebensächlich- oder Abseitigkeit von Bezügen und die damit einhergehende Vielstimmigkeit ausdrücklich in die Verfolgung eines Ziels mitberücksichtigt und respektiert haben möchte. Diese Methode des Umwegs wird für eine Geistesgeschichte nun aber nur dann nicht beliebig, wenn die Forschungsfragen hinreichend klar sind. Und Blumenberg lässt daher auch keinen Zweifel, worum es gehen muss: »Geschichte der Technik muß doch verständlich machen, aus welchen Antrieben die Organisation einer neuen Realität hervorgegangen ist, bevor ihre Elemente selbst die Forderungen ihrer Weiterbildung und Integration präsentieren konnten.« 33 Eine Geistesgeschichte der Technik hat die »Organisation einer neuen Realität« zu beschreiben, weil dies zu einer Änderung der Rahmenbedingungen des Handelns und damit des technischen Tuns führen kann. Die »Antriebe«, von denen Blumenberg hier redet, sind nicht psychologisch gemeint, sondern im Sinne von Dynamiken, die entstehen, wenn sich das Wirklichkeitsverständnis ändert und sich damit neue Handlungsoptionen und kreative Potentiale ergeben. Gegenstand einer Geistesgeschichte der Technik ist damit insgesamt das »neue Verständnis der Wirklichkeit«: Ob und wie aus einem neuen Verständnis der Wirklichkeit und der Stellung des Menschen innerhalb dieser Wirklichkeit technischer Wille entsteht, wird Thema einer Geistesgeschichte der Technik sein müssen, die nicht nur Selbstdeutungen der technischen Tätigkeit und Urheberschaft sammelt und regisBlumenberg, Geistesgeschichte der Technik (wie Anm. 9), S. 93. Ebd., S. 58. Siehe auch derselbe, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 153. 33 Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik (wie Anm. 9), S. 13. 31 32
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triert, sondern die Motivationen eines auf Technik zielenden und von Technik getragenen Lebensstils faßbar werden läßt. 34
Die in diesem Vortrag formulierte Methode der Geistesgeschichte, neue Verständnisse der Wirklichkeit und geänderte Selbstdeutungen zu beschreiben, hat Blumenberg in vorangehenden Aufsätzen bereits expliziert. Um die »Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen« und die »Substrukturen des Denkens« herauszupräparieren, entwickelt er in dem Parallelprojekt »Metaphorologie«. 35 In »Licht als Metapher der Wahrheit« betont er, dass es in der metaphorologischen Analyse darum gehe, die »Wandlungen des Welt- und Selbstverständnisses« und den »Wandel der Wirklichkeitsauffassungen« frei zu legen. Diesen methodischen Ansatz wird Blumenberg dann seinem Grundzug nach auch in der Legitimität der Neuzeit beibehalten. Ergänzend findet sich dort auch eine Orientierung am Funktionsbegriff im Sinne Cassirers – ein Bezug, der in den früheren Texten nicht so deutlich hervorsticht. Ausgehend von dem Funktionsbegriff ist in der Legitimität der Neuzeit dann der Begriff der »Umbesetzung« im Zentrum seiner Methodenreflexion. 36 Die Überlegungen zur Technik finden sich in der Legitimität der Neuzeit direkt fortgeschrieben, wenn er dort betont, dass sich die quantitative Vermehrung technischer Leistungen und Hilfsmittel »nur aus einer neuen Qualität des Bewußtseins herleiten« lasse. 37 Die Eruierung jener neuen Qualität des Bewusstseins ist explizit Thema in seiner Geistesgeschichte der Technik. Damit ist sein Ansatz, blickt man auf die Technikphilosophie seiner Zeit, recht ungewöhnlich. Heidegger arbeitet an einer seinsgeschichtlichen Erklärung des ›Wesens‹ der Technik, dem Blumenbergs Detailanalysen völlig fremd sind. Hannah Arendt, Günther Anders, Karl Jaspers, Ernst Cassirer wiederum unternehmen anthropologische, phänomenologische oder kulturphiEbd. Bei der Formulierung mit dem »von Technik getragenen Lebensstil« mag er an die Betrachtungen über die Technik von Ortega y Gasset gedacht haben, die er in ihren Detailbetrachtungen schätzte und in denen Ortega den ›Gentleman‹ als die Existenzform auswies, deren Selbstverständnis die Entwicklung der modernen Technik begünstigte (José Ortega y Gasset, Betrachtungen über die Technik, in: derselbe, Gesammelte Werke, Bd. 4, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1949, S. 7–69). 35 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 13. 36 Blumenberg, Legitimität der Neuzeit (wie Anm. 4), S. 74 f. 37 Ebd., S. 152. 34
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losophische Deutungen der Technik. Am nächsten steht seinem Vorgehen noch Cassirers Ansatz. 38 Dieser hatte in seinem Aufsatz über »Form und Technik« zwar bei kulturanthropologischen Überlegungen angesetzt, deren Reichweite Blumenberg in den genannten Texten begrenzt, doch auch Cassirer versuchte, die neue Qualität des technischen Selbst- und Weltverhältnisses insbesondere in der Analyse der Renaissance zu erfassen, um ein Erklärungsmodell für die Entwicklung der modernen Technik zu haben. Doch es ist eben die besagte Fußnote von Marx, die Blumenberg heranzieht, um seinen geistesgeschichtlichen Ansatz in einen Traditionszusammenhang zu stellen. Möglicherweise hätte er auch von den frühen Vertretern einer historischen Epistemologie angeregt werden können, wenn historische Epistemologie im Kern »die Reflexion auf die historischen Bedingungen« ist, wie Hans-Jörg Rheinberger definiert, »unter denen, und die Mittel mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden, an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten wird«. 39 Wenn es etwa Otto Neurath darum geht, das chronologische Paradigma der Wissenschaftsgeschichte zu verabschieden und eine explizit so genannte ›Geistesgeschichte‹ zu entwickeln, in der der Zusammenhang von bestimmten Hypothesensystemen zum »Denken über die gesamte Welt« der methodische Ansatzpunkt ist, 40 dann scheint das Blumenbergs Anliegen im Prinzip sehr nah. Doch einer der sachlichen Gründe – neben den theorie- oder methodengeschichtlichen Kontingenzen –, warum Blumenberg andere Wege einschlägt, ist, dass er die Engführung von Wissenschafts- und Technikgeschichte für problematisch hält. Die Idee, das Thema der Technik vor dem Hintergrund des Fortschrittsbegriffs zu behandeln – und insbesondere vor dem Hintergrund eines Begriffs des wissenschaftlichen Fortschritts, der den technischen Fortschritt gleichsam mitbedingt –, scheint ihm der falsche Ansatzpunkt zu sein. Hier liege keine konstante Fundierungsstruktur vor, ja er betont sogar, dass die
38 Ernst Cassirer, Form und Technik, in: derselbe, Gesammelte Werke, Bd. 17, hg. von Birgit Recki, Hamburg: Meiner 2004, S. 139–183. 39 Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg: Junius 2007, S. 11. 40 Otto Neurath, Prinzipielles zur Geschichte der Optik, Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 5 (1915), 371–389.
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Emanzipation von der Wissenschaftsgeschichte die Voraussetzung für eine Geistesgeschichte der Technik sei. 41 Blumenberg geht es um das Spezifische einer Geistesgeschichte der Technik – daher muss er seine Fragestellung vom Fortschritts-Paradigma lösen – und plädiert zunächst dafür, die Fragen »gewissermaßen kleiner« zu stellen. 42
IV. Wie man die Fragen in diesem Zusammenhang »gewissermaßen kleiner« stellt, kann man besonders gut an Blumenbergs parallel zu dem Freiburger Vortrag entstandenen Text »Einige Schwierigkeiten, eine Geistesgeschichte der Technik zu schreiben« ablesen. In diesem Text führt Blumenberg drei Beispiele an, die in direkter Auseinandersetzung mit der oben zitierten Fußnote gewählt zu sein scheinen, weil sie vorführen, wie man Marx’ Fragen in »kleinere« transformieren kann. Marx hatte zunächst geschrieben: »Eine kritische Geschichte der Technologie würde überhaupt nachweisen, wie wenig irgendeine Erfindung des 18. Jahrhunderts einem einzelnen Individuum gehört.« Blumenbergs erstes Beispiel ist ganz allgemein die Erfindung (wobei er explizit auf jene Fußnote verweist). 43 Ihn interessiert dabei der Zusammenhang zwischen einem neuen Bewusstsein von Urheberschaft, das sich im Laufe des 18. Jahrhunderts herausbildete und das das ›geistige Eigentum‹ auch als ein Rechtsinstitut im allgemeinen Bewusstsein verankerte. Das ist für Blumenberg ein Indiz für ein Technisierung begünstigendes neues Verständnis der Wirklichkeit: Die Auffassung von der Erfindung als einem schutzwürdigen, nicht auf die Sache, sondern auf die Idee von einer Sache bezogenen Eigentum hat geistesgeschichtliche Voraussetzungen, in denen die traditionellen Auffassungen von der Wirklichkeit und vom Menschen fraglich werden. Dabei rückt zuerst in den Horizont der Möglichkeit, daß es überhaupt Gegenstände geben kann, die vorher in der Natur noch nicht da waren und für die die aristotelische Bestimmung aller menschlichen Fertigkeiten als Nachahmung der Natur nicht mehr zutraf. 44 41 42 43 44
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Dass das Bewusstsein einer neuen Werkwelt entsteht, die sich von physischen und metaphysischen Vorgaben frei zu machen versteht, wird in dem gewandelten und ontologisch aufgewerteten Erfindungsbegriff deutlich; daher liegt in der Untersuchung der Neu-Codierung des Erfindungsbegriffes eine Quelle, um das »bestimmte neue Verständnis der Wirklichkeit« erfassen zu können. Blumenberg liefert in diesem Kontext auch einen Hinweis auf die begriffsgeschichtliche Änderung des Begriffs der Idee: Eine Idee bezeichnet nicht mehr in erster Linie eine platonische Ur-Form für das Seiende, sondern einen geistigen Einfall, der sich durch Originalität gegenüber dem Gegebenen auszeichnet. Dass ein solches neues Verständnis der Wirklichkeit nicht plötzlich eintritt, sondern Ergebnis eines langen Prozesses ist, zeigt Blumenberg in »Nachahmung der Natur« am Beispiel des idiota, des Laien, den Nikolaus von Cues in seinen Dialogen auftreten lässt. Der idiota unterstreicht den erfinderischen Stolz, den man sich schon angesichts einfacher Haushaltswaren gerechtfertigterweise erlauben darf: Löffel, Töpfe und Teller seien schließlich solo humana arte entstanden. 45 Ein zweites Themenfeld, anhand dessen Blumenberg jenes »neue Verständnis der Wirklichkeit« aufzeigt, ist die »Bedeutung der Vorstellung von Naturgesetzen« für die Etablierung von Technisierungsprozessen. 46 Dabei zeigt er, dass der Erfolg der Technik gerade mit einem Verständnis und der Akzeptanz strenger Naturgesetzlichkeiten zusammenhängt: Die Vorstellung des Naturgesetzes war von ihrem Ursprung her als eine Schranke des menschlichen demiurgischen Handelns gedacht; sie wurde nun [bei Galilei, O. M.] zu seiner Ermächtigung, denn das Naturgesetz erwies sich als der Inbegriff derjenigen Erkenntnisse, die es dem Menschen gestatteten, auch das und gerade das zu bewirken, was die Natur in ihrem vorgefundenen Bestand selbst nicht leistete und bereitstellte. 47
Mit dieser Fragestellung weicht er deutlich von Marx ab, der geschrieben hatte, dass wir in Anlehnung an Darwins »Geschichte der natürlichen Technologie« eine »Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen« entwickeln könnten. Blumenberg liest Hans Blumenberg, ›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: derselbe,Wirklichkeiten in denen wir leben (wie Anm. 21), S. 55–103, hier S. 58 f. 46 Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik (wie Anm. 9), S. 18. 47 Ebd., S. 25. 45
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hier Marx’ Fußnote als wichtige Themensetzung, distanziert sich aber von Marx’ deutlicher Trennung von Natur und Kultur, indem er die hier relevante Frage spezifiziert: Nicht die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Technik ist hier zu stellen, 48 sondern die Frage, welche Rolle der Naturgesetzbegriff in der Genese der neuzeitlichen Technik hat, insofern die Orientierung an dem »Gesetz« der Natur den Schluss bedeutete, diesem Gesetz auch durch das menschliche Handeln zu befolgen. Die Berufung auf das Naturgesetz konnte technisches Tun legitimieren. 49 Dies unterstreicht Blumenbergs These, dass die Natur-TechnikAntithetisierung bei dem Verständnis der Technik in die Irre führt. Am Ende des Mittelalters komme es zu einer »Autonomisierung der menschlichen Leistungssphäre, als Ablösung der rezeptiven Bindungen an eine vorgegebene und den Bereich der Möglichkeiten ausschöpfenden Welt«. 50 In seinem Aufsatz über die »Nachahmung der Natur« unterstreicht er, dass der Mensch sich zunehmend aus der Bindung an die Natur gelöst hat und die »theologisch entdeckte Inkongruenz von Sein und Natur für sich als Möglichkeit schöpferischer Originalität erkennen und ergreifen konnte«. 51 Das heißt in der Konsequenz: »Dem Willen zur Konstruktion ist es irrelevant, ob zufällig die Natur nachgeahmt wird oder ob eine dort nicht realisierte Lösung Platz greift; das normative Prinzip der Ökonomie ist eine Idee des menschlichen Geistes für seine Leistungen, nicht für die Produktionen der Natur.« 52 Blumenbergs »normatives Prinzip der Ökonomie« erinnert an Ernst Machs »Ökonomie des Denkens« bzw. »Denkökonomie« 53 , auch wenn er nicht explizit auf diesen verweist. Auch Mach geht es darum, die Momente der »Ersparnis« im wissenschaftlichen Prozess als entscheidende Fortschritts-Faktoren herauszuarbeiten und die »ökonomische
Da Blumenberg selbst das »Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem« behandelt hatte, kann man dies auch wieder als eine Selbstkorrektur verstehen. 49 Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik (wie Anm. 9), S. 25. 50 Ebd., S. 126. 51 Blumenberg, ›Nachahmung der Natur‹ (wie Anm. 45), S. 83. 52 Ebd., S. 88. 53 Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-kritisch dargestellt, hg. von Renate Wahsner und Horst-Heino von Borzeszkowski, Berlin: Akademie Verlag 1988, S. 494 ff. 48
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Funktion der Wissenschaft« als eine von der Naturbindung losgelöste Kategorie zu etablieren. Und auch Blumenbergs drittes Beispiel scheint ein Kommentar zu Marx’ Fußnote zu sein. Marx hatte ja, in seinen Worten, angeregt, das menschliche Selbstverständnis in den Mittelpunkt einer kritischen Geschichte der Technologie zu rücken: »Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen.« Damit umreißt Marx einen bemerkenswerten, geradezu hermeneutischen Ansatz. Das Verständnis der Technik als ein spezifisches Tun und »Verhalten« des Menschen wird als eine Form der humanen Selbstdeutung begriffen: Wenn wir Technisierungsprozesse beschreiben, dann erhalten wir auch Aufschluss über den Begriff des Menschen und seiner Lebensform sowie seiner gesellschaftlichen Verortung. Die Analyse der Technik scheint ihm also eine privilegierte Quelle für die Ausdeutung des menschlichen Selbstverständnisses zu sein. Blumenbergs drittes Beispiel ist vor diesem Hintergrund ausdrücklich der Konkurrenz zwischen geschichtlichem und anthropologischem Ansatz in einer Geistesgeschichte der Technik gewidmet. 54 Blumenberg konzipiert seine eigene Philosophie der Technik in der Spannung zwischen einem anthropologischen und geschichtlichen Ansatz. Auch wenn er in »Natur und Technik als philosophisches Problem« unterstreicht, dass der Mensch das Wesen ist, dessen Existenz »nicht durch organische Anpassung an die natürliche Umwelt gewährleistet ist, das daher in den Daseinsmodus der Selbstbehauptung und Selbstproduktion seiner Lebensbedingungen hineingezwungen ist« und daher ein technisches Wesen ist, hält er dort den anthropologischen Ansatz für »unzureichend«. 55 Noch in »Einige Schwierigkeiten, eine Geistesgeschichte der Technik zu schreiben« betont Blumenberg die Konkurrenz der beiden Ansätze, 56 während er in »Ordnungsschwund und Selbstbehauptung« zwar noch zwischen dem anthropologischen und geschichtlichen Ansatz unterscheidet, diese Ansätze aber nicht mehr hinsichtlich ihrer Konkurrenz, sondern in ihrer Korrespondenz versteht: Die Technik als ein »Instrumentarium der Daseinssiche54 55 56
Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik (wie Anm. 9), S. 32 ff. Blumenberg, Natur und Technik als philosophisches Problem (wie Anm. 12), S. 462. Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik (wie Anm. 9), S. 32. A
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rung und elementaren Bedürfnisbefriedigung« zu verstehen, sei zwar richtig, reiche aber für ihr Verständnis nicht aus, denn: »Es ist etwas anderes, ob der Mensch unter dem Druck der Notwendigkeiten seiner Existenz technisches Verhalten entwickelt oder ob er die Technizität wahrnimmt und ergreift als Thema und Signatur seiner Selbstdeutung und Selbstverwirklichung.« 57 Diese Fragestellung verfolgt Blumenberg in einer Reihe von Analysen, die sich um das Theorem gruppieren, dass die »Preisgabe des Vertrauens in die dem Menschen freundliche Ordnungsstruktur der Welt durch die Idee einer nur ihren immanenten Gesetzen folgenden Natur« mit der Neuzeit zu einem »eminent pragmatischen Wandel im Weltverständnis und Weltverhältnis des Menschen« hatte führen müssen. 58 Insofern ist die Ausbildung der modernen Technik eng an die ontologische Umbruchsituation zu Beginn der Neuzeit geknüpft, die Blumenberg als »Ordnungsschwund« bezeichnet – und auf die mit einer humanen Selbstbehauptungsleistung reagiert wurde. Dass sich der Mensch nicht mehr auf eine transzendent garantierte Ordnung verlassen könne, ist die »Basispräsumtion« nicht nur der Neuzeit, sondern auch der Technik. Die Selbstbehauptungsleistung des Menschen in der Neuzeit ist aber nicht nur Reaktion auf eine unbefriedigende und verstörende metaphysische Situation, sondern sie entwickelt eine eigene Dynamik, denn die »Selbstbehauptung ist […] nicht nur Erwiderung auf den Ordnungsschwund; von einem bestimmten Punkt an treibt sie die Nivellierung der vorgegebenen Weltstruktur voran, um gleichsam das ›Ausgangsniveau‹ für eine konstruktive Neukonzeption zu gewinnen«. 59 Dieses Widerspiel von Ordnungsschwund und Selbstbehauptung ist die Grundlage für die Entwicklung der neuzeitlichen Technik. In der Legitimität der Neuzeit erläutert Blumenberg den Dynamisierungsschub in der technischen Entwicklung folgendermaßen: Wenn der Ordnungsschwund durch den Zerfall des mittelalterlichen Systems die Selbsterhaltung aus ihrer biologisch bedingten Normalität und Unvermerktheit herausriß und zum ›Thema‹ der menschlichen Selbstauffassung machte, läßt sich auch die neuzeitliche Stufe der Technizität nicht mehr aus dem Syndrom der anthropologischen Mangelstruktur allein begreifen. Das Anwachsen des technischen Potentials ist nicht nur die Beschleunigung eines 57 58 59
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Ebd., S. 102. Ebd., S. 33. Ebd., S. 133.
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Prozesses, der die ganze Menschheitsgeschichte umspannt. Vielmehr läßt sich die quantitative Vermehrung technischer Leistungen und Hilfsmittel nur aus einer neuen Qualität des Bewußtseins herleiten. Ein der entfremdeten Wirklichkeit bewußt begegnender Wille zur Erzwingung einer neuen ›Humanität‹ dieser Wirklichkeit lebt in dem Anwachsen der technischen Sphäre. Der Mensch reflektiert auf den Mangel der Natur als den Antrieb seines gesamten Verhaltens. 60
Diese schon zitierte »neue Qualität des Bewusstseins« und die damit mögliche Autonomisierung der menschlichen Leistungssphäre werden hier als historische Signatur verstanden, auch wenn diese als Verschärfung des anthropologischen Ansatzes formuliert wird. Dies macht jene demiurgische Selbstbestimmung des Menschen möglich. Denn im Selbstverständnis seiner schöpferischen Originalität macht der Mensch die Inkongruenz von Sein und Natur für sich fruchtbar. Paradigma des menschlichen Schaffens sind nicht mehr im weitesten Sinne Nachahmung natürlicher Strukturen und Phänomene, sondern die eigene Phantasie zur Konstruktion. Insofern kann er dann auch sagen: »Bedürfnisse sind nicht Ansprüche auf natürliche Versorgung, sondern Leerstellen der Natur, die der menschlichen Produktivität ihre Aufgaben stellen.« 61 Diese humane Demiurgizität überführt Blumenberg in seinen späteren Arbeiten immer wieder in anthropologische Grundfiguren. Die prominenteste ist Prometheus, dem im Grunde die ganze Arbeit am Mythos gewidmet ist. Und auch dies kann man als einen langen Kommentar zu Marx lesen, hatte dieser doch bekanntlich am Ende der Vorrede seiner Dissertation geschrieben: »Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender.« 62
Blumenberg, Legitimität der Neuzeit (wie Anm. 4), S. 152. Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik (wie Anm. 9), S. 70. 62 Karl Marx, Über die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, in: Hans-Joachim Lieber, Peter Furth (Hgg.), Frühe Schriften, Bd. 1, Stuttgart: Cotta 1962, S. 22. 60 61
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Die Technik gehört im Werk Hans Blumenbergs zu den Gegenständen eines konstanten theoretischen Interesses. 1 Dabei zeigt sich schon früh, dass Blumenberg weder der Dämonisierung noch auch der Moralisierung der Technik Vorschub zu leisten gedenkt. Als zu grundlegend stellt sich ihm epistemologisch, handlungstheoretisch und anthropologisch der Status der technischen Rationalität dar, 2 als dass von außen hinzutretende Normativität gegen sie etwas ausrichten könnte. Im Folgenden ist zu zeigen, wie Blumenberg die Technik als den ›Terminus a quo‹ eben der menschlichen Freiheit zu fassen sucht, als deren ›Terminus ad quem‹ er die Moral begreift. Erkennbar ist es die Gleichursprünglichkeit von Technik und Moral als Instanzen der menschlichen Freiheit, auf deren Basis Blumenberg selbst dort, wo sich ihm die Verselbständigung der technischen Entwicklungsdynamik als Problem darstellt, die Lösung in nichts anderem zu sehen vermag, als in * Dieser Aufsatz wurde während meines Forschungsaufenthaltes als Senior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald erarbeitet. Ich danke der Stiftung für die großzügige Unterstützung meines Forschungsprojektes »Die instrumentelle Dimension der Freiheit. Technik als anthropologisches Radikal«. 1 Hans Blumenberg, Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem, Studium Generale 4 (1951), 461–467; derselbe, Technik und Wahrheit, in: Actes du XI. Congrès International de Philosophie, Bruxelles 20.–26. Août 1953, Vol. II: Epistémologie, Amsterdam/Louvain: North Holland Publishing Company 1953, S. 113–120; derselbe, »Nachahmung der Natur«. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, Studium Generale 10 (1957), 266–283 (auch in: derselbe, Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart: Reclam 1981, S. 55–103); derselbe, Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, Filosofia 14 (1963), 855–884 (auch in: derselbe, Wirklichkeiten in denen wir leben, S. 7–54; im Folgenden zitiert nach dieser Ausgabe). 2 Zur vermeintlichen Inkonsistenz zwischen einem ontologisch-historischen und einem anthropologischen Strang in Blumenbergs Technikphilosophie siehe die These von deren Vereinbarkeit bei Tim-Florian Goslar, Das Konzept der Technik in den frühen Schriften Hans Blumenbergs. Anthropologie und Metaphorologie im Kontext einer Geistesgeschichte der Technik, Magisterarbeit, Kiel: Christian-Albrechts-Universität 2011.
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der gleichermaßen problem- und selbstreflexiven Vergewisserung dieser Freiheit als Autonomie. 3
1.
Der Begriff der Technik
Es ist Husserls Abhandlung über Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1937), welcher Blumenberg einen Begriff der Technik abgewinnt, der diese nicht als Bereich instrumentell eingesetzter Dinge (wie Werkzeuge, Geräte, Maschinen) fasst, sondern radikal als Prozess der Habitualisierung von Kompetenz: »Die Technik ist primär nicht ein Reich bestimmter, aus menschlicher Aktivität hervorgegangener Gegenstände; sie ist in ihrer Ursprünglichkeit ein Zustand des menschlichen Weltverhältnisses selbst«, 4 so kommentiert Blumenberg zustimmend Husserls Analyse. Die Pointe dieser Entgegensetzung liegt nicht etwa darin, dass hier von vornherein von dem Hervorgehen aus menschlichen Aktivitäten ein von ihnen unabhängiges ›Geschick‹ abgesetzt würde, 5 sondern, wie die Bestimmung der Technik als »ein Reich von Mechanismen« 6 zeigt, in der Unterscheidung zwischen Gegenständen und Die folgende Darstellung bezieht einige teils handgeschriebene Manuskripte aus dem Nachlass ein: 1. ein unveröffentlichtes handschriftliches Manuskript, überschrieben mit »Automation Juni 56« (10 Blätter) und 2. ein unveröffentlichtes handschriftliches Manuskript »Einführung in die Ethik/Ethische Grundhaltungen / Die vier Kardinaltugenden«, vom Archiv datiert »ca. 1957–1958« (15 Blätter) – laut Auskunft aus dem deutschen Literaturarchiv Marbach vom 5. November 2010 Texte aus dem Konvolut der Vorträge, die Hans Blumenberg in Bargteheide vor den Beamten der Oberpostdirektion Hamburg hielt; 3. ein Typoskript »Atommoral. Ein Gegenstück zur Atomstrategie« (9 Seiten), das Hans Blumenberg im Juni 1946 bei der Freiburger Zeitschrift Gegenwart zur Veröffentlichung eingereicht hat, im Folgenden nach dem Original zitiert (siehe die Publikation in Helga Raulff (Hg.), Strahlungen. Atom und Literatur (Marbacher Magazin; 123/12), Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2008, S. 125–136). – Ich danke Dorit Krusche dafür, dass sie mich auf die genannten Texte aufmerksam und sie mir zugänglich gemacht hat. Bettina Blumenberg und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach danke ich für die Erlaubnis der Publikation von Paraphrasen und Zitaten aus den Texten. 4 Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung (wie Anm. 1), S. 32. 5 Vgl. Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik; siehe Florian Grosser, Und wieder ein König. Zur Heidegger-Rezeption in der frühen Bundesrepublik, Flandziu. Halbjahresblätter für Literatur der Moderne NF 4, 1 (2012), 211–223. 6 Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung (wie Anm. 1), S. 50. 3
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Mechanismen. Es sind diese Mechanismen, für die Husserl den Ausdruck ›Technisierung‹ prägt. Er soll die Verselbständigung des instrumentellen Procedere von der ursprünglichen Folie sachhaltigen theoretischen Wissens bezeichnen; einen Abstraktionsvorgang, durch den ein Verfahren, das in einem konkreten Fall der Problemlösung seinen Ursprung hat, als Methode abgezogen und für die generalisierte, nicht an spezifisches Wissen gebundene Anwendung zugerüstet wird. Husserls Beispiel ist die Abstraktion der Gegenstandskonstruktion durch die Einführung ablösbarer Rechenverfahren in die Geometrie. Schon in seinem ersten Aufsatz zur Technik hatte Blumenberg in der Descartes gewidmeten Paraphrase im Geiste Husserls herausgestellt: »Die ›Technik‹ kann nur deshalb angewandte Wissenschaft sein, weil schon diese Wissenschaft aus einem ›technischen‹ Seinsverständnis und Wahrheitsbegriff entspringt«, 7 und deutlicher: »Technik ist also nicht erst ein Derivat der Wissenschaft, sondern sie ist Aktualisierung eines Wesensmomentes der wissenschaftlichen Wahrheit selbst«. 8 Drei Jahre später heißt es ausführlicher: »Formalisierung als Ideal der Reduktion. Geometrie ! Arithmetik ! Algebra ! formale Logik[.] Was man formalisieren kann, kann man mechanisieren; was man mechanisieren kann, kann man automatisieren. Die Technik schlummert in d[er] Theorie.« 9 Und im späteren, ausdrücklich Husserl gewidmeten Aufsatz fasst er dann, weiterhin in Abgrenzung gegen eine Theorie, welche Technik als Modus der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und insofern als abkünftig vorstellt, diese Einsicht in die markante Formulierung, »daß die Technisierung ein Vorgang ist, der sich an dem theoretischen Substrat selbst abspielt«. 10 Diese Insistenz auf der Gleichursprünglichkeit von Wissenschaft und Technik, die freilich nicht im Widerspruch stehen muss zu der Einsicht, dass die derart im theoretischen Prozess entspringende Technik sich im Zuge ihrer Entwicklung gegen die Wissenschaft verselbständigen kann, enthält einen Beitrag zu einer Theorie der Technik. Die Relevanz der Überlegungen für den Begriff der Technik liegt in der dabei gewonnenen Auffassung von Technisierung als Funktionalisierung der Abstraktion
Blumenberg, Technik und Wahrheit (wie Anm. 1), S. 116. Ebd., S. 117. 9 Hans Blumenberg, Ms. Automation Juni 56, aus dem Marbacher Nachlass (wie Anm. 3). 10 Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung (wie Anm. 1), S. 31. 7 8
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durch Formalisierung: Verselbständigung des Verfahrens zur Methode, die ihren Ursprungskontext nicht mehr mit reflektiert. Für Husserl liegt darin eine Einbuße an Redlichkeit in der Wissenschaft; ihr will er das philosophische Verfahren der Phänomenologie als zurückholende Reflexion auf die Erkenntnisursprünge entgegensetzen. 11 Bemerkenswert ist da Blumenbergs Einspruch: Er stimmt Husserl zwar ausdrücklich zu in der Auffassung, dass Technisierung eine »im Schoße des theoretischen Gesamtprozesses entspringende Transformation« sei; deren generelle Einschätzung als Unredlichkeit oder gar als »Abweg in der Selbstverwirklichung der Bewußtseinsintentionalität« dagegen weist er ebenso ausdrücklich zurück 12 – mit dem an Husserls Bewusstseinsanalyse geschulten Argument, der menschliche Intellekt sei »auf der untersten elementaren Stufe seiner Leistungen […] stets schon« in derjenigen »Formalisierung begriffen«, 13 die »als die handlichste, dienstbarste Art [der] Funktionalisierung des einmal Geleisteten […] auch potentiell schon Technisierung« sei. 14 Der menschliche Intellekt hat nach Blumenberg in der Gegenstandsbildung, präzise: in der phänomenologisch beschriebenen regelmäßigen Ergänzung von Leerstellen bei der Gegenstandskonstitution, eine genuine Tendenz zu derjenigen Technisierung, die Husserl als Verselbständigung der Methode in der Wissenschaft beschreibt, so dass deren Einschätzung als pathologisch ihren elementaren Status verfehlte. Insofern Technisierung qua Methode als Element der Konstitution von Gegenständlichkeit begriffen werden muss, kann sie mit Blumenberg gerade nicht als »pathologisches Phänomen«, ja: sie kann nicht einmal als vermeidbar beurteilt werden. Bei der Analyse, dass »die Technisierung sich an dem theoretischen Substrat selbst abspiele«, macht Blumenberg in »Lebenswelt und Technisierung« somit keineswegs Halt. In konsequenter Fortführung seiner zunächst auf Wissenschaft als prototechnische KonstruktiSchon die zitierte Reflexion auf »Formalisierung als Ideal der Reduktion« lässt den Kontext der Auseinandersetzung mit diesem Programm Husserls erkennen, denn vier Zeilen später heißt es »Husserl: Verstand – Vernunft. Aufgabe d[er] Philosophie: den Verstand zur Vernunft zu bringen. Wir sollen wissen, was wir tun.« (Ms. Automation Juni 56 [wie Anm. 3]); siehe dazu die ausführliche Überlegung in Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung (wie Anm. 1), S. 34 f. 12 Ebd., S. 40. 13 Ebd., S. 43. 14 Ebd., S. 41. 11
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on des Gegenstandes bezogenen Einschätzung besteht die phänomenologische Auslegung der Technik, die er in Husserls Krisis-Abhandlung angelegt sieht, nicht in der eingehenden Analyse technischer Leistungen und Phänomene, sondern in der Rückführung von Technik auf Technisierung als einer aus der Intentionalität des Bewusstseins entspringenden Tendenz: Technik als Formalisierung stellt sich ihm als eine apriorische Tendenz schon des Bewusstseinsvollzuges dar. Im Ausgang von Husserls Begriff der Technisierung geht er damit erkennbar über Husserl hinaus, indem er in Anspielung auf die Bewusstseinsanalyse dessen Diagnose eines Sündenfalls der Wissenschaft in der Technisierung bestreitet und Technik als Technisierung im Argument ihrer Unumgänglichkeit rehabilitiert. Aus dieser Argumentation ist eine dreifache Konsequenz zu ziehen: Erstens ergibt sich die – die übliche anthropologische Methode noch fundierende – bewusstseinstheoretische These: Der Mensch ist von Grund auf ein technisches Wesen. Zweitens folgt daraus, dass es zur Technik keine Alternative gibt: Nicht erst bestimmte wissenschaftliche Entscheidungen, zu denen man sich auch (wenngleich mit einiger Mühe) vorstellen könnte, dass bei bewusster Reflexion an ihrer Stelle andere Operationen hätten vollzogen werden können, sondern bereits der Bewusstseinsvollzug als solcher bringt die Technisierung auf den Weg. Drittens erfährt die Bestreitung der Anwendungsthese (Technik entsteht in der Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen) im Vergleich mit Husserls Analyse eine radikale Verschärfung: Nicht erst im theoretischen Prozess der Wissenschaft, schon im Bewusstseinsvollzug ist Technisierung angelegt.
2.
Die Technik und die Techniken – Zur Entgrenzung des Technikbegriffs
Die Auseinandersetzung mit der Technisierungsthese der Husserlschen Krisis-Abhandlung bildet den systematischen Ausgangspunkt eines entgrenzten und vielfältig diversifizierten Begriffs von Technik, seiner Anwendung auf alle möglichen methodisch betriebenen instrumentellen Veranstaltungen des Menschen im Interesse seiner Daseinsbewältigung und Selbststeigerung, für die es schon in Blumenbergs Arbeiten eine Fülle von Beispielen gibt (1); und damit zu einem offenen, nicht von vornherein durch moralische Vorgaben bornierten Blick 68
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auf Wesen und Effekte der Technik (2). Ganz im Gegensatz zum Mainstream moralisierender Technikkritik wird sich umgekehrt sogar zeigen, dass nach Blumenbergs Einschätzung der technische Fortschritt zu einer Verfeinerung moralischer Standards führen kann; der unvoreingenommene Blick vermag den technischen Fortschritt als Bedingung der Möglichkeit verschärften moralischen Problembewusstseins zu erkennen. 15 Ad (1) Blumenbergs Kritik hat auch eine historische Dimension von vermutlich geschichtsphilosophischer Relevanz. Wo er Husserls Analyse der neuzeitlichen Ablösung der rechnerischen Methode von den geometrischen Figuren durch den Hinweis konterkariert, dass bereits die von Platon kritisierte sophistische Rhetorik wie auch seine den Sophisten kritisch entgegengesetzte Dialektik solche Methodenabstraktionen darstellten, 16 da weist er in der Sache darauf hin, dass die Technisierung als Verselbständigung von Methode nicht erst in der Neuzeit, sondern bereits in der klassischen Antike in die Welt gekommen ist. Die Beispiele Rhetorik und Dialektik sind zunächst auf der Wissenschaft vergleichbare komplexe intellektuelle Leistungen bezogen. Zugleich lassen sie mit einem Schlage die Extension des abstrakten Methodenbegriffs von Technik erkennen: Der Begriff ist freigesetzt für eine unabsehbare Bandbreite konkreter Anwendungen. Wo derart die Rhetorik als eine verbale Technik der manipulativen Meinungsmache zu begreifen ist, die Dialektik als Technik der diskursiven Wahrheitsfindung, da darf extrapoliert werden: Mit gleicher Berechtigung wäre die Logik als Technik der regelkonformen Gedankenfügung zu fassen, mit Sicherheit darf (um ein auf Blumenberg abgezwecktes Beispiel zu nehmen) die Metaphorik als Technik der Steigerung von Aufmerksamkeit und der expressiven Veranschaulichung von Gedanken begriffen werden 17 – und die Kritik als Technik der konstruktiven Korrektur. Ausgehend von diesem entgrenzten Begriff wird aber überhaupt erst die Anwendung des Technikbegriffes auf alle möglichen methodischen Veranstaltungen im Interesse menschlicher Daseinsbewälti-
Siehe Abschnitt 7. Dazu passt auch die Variante, dass ihm die durch »reines Machtstreben« bestimmten Sophisten »Techniker d[er] Politik« sind (Ms. Einführung in die Ethik [wie Anm. 3], S. 4). 17 Siehe Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn: Bouvier 1960. 15 16
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gung und Selbststeigerung einsichtig, für die der Sprachgebrauch 1 001 signifikante Beispiele enthält. Nicht allein die penetrante Beliebtheit erkalteter Metaphern wie ›Workshop‹ und ›tool‹ bzw. ›tool set‹ legt beredtes Zeugnis ab für ein technisches Selbstverständnis auch in Arbeitszusammenhängen, die weniger durch handfesten Werkzeuggebrauch als durch diskursive Intellektualität geprägt sind. Sie können darüber hinaus den Blick auf jenen rein strukturellen Begriff von Technik lenken, der von der Bindung an Werkzeug, Maschine und technologischem Großaggregat losgelöst, sondern vielmehr verfahrenspragmatisch und prozessorientiert ist – den Begriff einer Technik, die gleichermaßen ätherisch wie verleiblicht zu denken ist. Wir können Höflichkeit und Diplomatie als Techniken der Lebenskunst begreifen, Komplimente als Technik der Beziehungspflege, Ironie als Technik erkenntnisfördernder Verfremdung und Polemik als agonale Technik sachlichen Prägnanzgewinns. Wir kennen Konzentrationstechnik als Inbegriff der Verfahren, die es einem ermöglichen, aufmerksam bei der Sache zu bleiben, Mnemotechnik als Inbegriff der Verfahren, wie man sich etwas merken und es bei Bedarf erinnern kann; Didaktik als die komplementäre Technik, Lernenden das Lernen zu erleichtern und es günstigen Falls in ihre eigene reflexive Verfügung zu bringen. Erst recht wissen wir, was gemeint ist, wenn davon die Rede ist, dass ein Dirigent, ein Sänger, eine Dressurreiterin oder ein Fußballspieler an ihrer Technik arbeiten. Und vollends geläufig ist die Rede von Atemtechnik wie von autogenem Training als Techniken der Selbstberuhigung. In diesen wie in vielen ähnlichen Prägungen ist etwas anderes bezeichnet, als was der alltägliche Sprachgebrauch überwiegend unter dem Ausdruck ›Technik‹ fasst. Nicht aber ist ein anderer Begriff der Technik gemeint. Was haben die hochtechnologischen Geräte, Aggregate, Systeme von der Kitchen Aid über das Notebook bis zum Produktionsroboter und zum Kernkraftreaktor mit den Werkzeugen handwerklicher Arbeit und was haben sie mit den ›technischen Mitteln‹ der suggestiven Sprache, des folgerechten Denkens, mit den sportlichen oder therapeutischen ›Techniken‹ der Selbstdisziplinierung gemeinsam? Die Technik, die wir in allen diesen Fällen meinen, ist die instrumentelle Effektivierung und Organisation zur Realisierung von Handlungszielen und damit zur Bewältigung der Probleme, auf die das Handeln stets bezogen ist. Es sind die methodisch organisierten und spezialisierten Verfahren der Problembewältigung durch artifizielle 70
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Arrangements in einem jeweiligen Arbeitsbereich, was im einen wie im anderen Fall als Technik bezeichnet wird. Sie verdinglichen sich zum einen in handgreiflichen Hilfsmitteln, d. h. in Werkzeugen, Instrumenten und Apparaten, zum anderen aber in dauerhaften Praktiken und dem ihnen korrespondierenden Habitus. Verdinglichung und Habitualisierung bezeichnen die Dimensionen der instrumentellen Verobjektivierung, die derart im Begriff der Technik gefasst ist, und auf beide trifft das Husserl-Blumenbergsche Merkmal der Funktionalisierung durch Formalisierung zu – das Merkmal der Verselbständigung der Methode. Es ist im Grunde erst dieser Begriff von Technik, der die Einsicht in deren Unhintergehbarkeit vermittelt – einer Unhintergehbarkeit, die nicht in irgendeinem ›Sündenfall‹ beim Übergang vom Werkzeug zur Maschine oder von der Mechanisierung zur elektronischen Vernetzung begründet ist, die vielmehr in etwas liegt, das man als menschliche Natur ansprechen darf. Durch seine phänomenologische Interpretation von Technik als Technisierung verschafft Blumenberg seinem von Anfang vertretenen, in der Beschreibung des Menschen ratifizierten anthropologischen Konzept von Technik eine belastbare bewusstseinstheoretische Grundlegung. Schon 1953 hatte es geheißen: Der Mensch ist ein technisches Wesen; die technische Realität ist das Äquivalent eines Mangels seiner natürlichen Ausstattung. Die moderne Technik ist daher nicht eine einzigartige Erscheinung der menschlichen Geschichte, sondern nur das ins Bewußtsein gerückte, willentlich ergriffene Durchvollziehen einer im Wesen des Menschen verwurzelten Notwendigkeit. 18
Und es sieht nur so aus, als nähme Blumenberg im nächsten Atemzuge diese in eigener Person behauptete These wieder zurück, indem er ihren anthropologischen Ansatz vor dem »Phänomen der Technik« als unzureichend empfindet. Denn das ›Phänomen der Technik‹ – gemeint ist deren augenscheinliche Verselbständigung zu einer Eigendynamik, die sich in ihren Sachzwängen über den Menschen hinwegzusetzen droht – hat für Blumenberg keineswegs das letzte Wort; er begreift es seinerseits wiederum als der Reflexion ebenso zugänglich wie bedürftig. Blumenberg denkt nicht daran, im Begriff einer ›Technik als Geschick‹ vor dem Fetisch Technik zu kapitulieren.
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Die Rede von der Autonomie und Dämonie der Technik, von ihrer unentrinnbaren Perfektion, bereitet vor und rechtfertigt die unmittelbar drohende Kapitulation vor einer vermeintlichen Notwendigkeit. Sie verfestigt das resignierte Genügen an der Aporie […] und schneidet den eigentlich philosophischen Weg ab, der von der Aporie zur Problemstellung führt. 19
Zur Erläuterung ist hier nur zu ergänzen, dass nach Blumenbergs Verständnis eine ›Problemstellung‹ stets den Anspruch auf Lösung impliziert. Weit entfernt also davon, den anthropologischen Ansatz zu verabschieden, qualifiziert ihn Blumenberg in solchen Überlegungen als durchlässig für die kritische Reflexion. Ebenso grundlegend, wenn auch nicht länger epistemologisch, sondern existentiell-pragmatisch, wird er später in der Beschreibung des Menschen seinen anthropologischen Ansatz bekräftigen, indem er die Technik im von Paul Alsberg 20 adoptierten Theorem der Körperausschaltung durch ›actio per distans‹ als Element der Konstitution des Menschen begreift. Blumenbergs bewusstseinsphilosophisch und anthropologisch dimensionierte Theorie der Technik enthält so eine fundamentale Rehabilitierung der instrumentellen Vernunft. 21
3.
Das Problem der Technik
So sehr es einleuchten mag, mit Blumenberg die Technisierung als eine transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Gegenständlichkeit und auf dieser bewusstseinstheoretischen Grundlage die Technik als anthropologisches Radikal zu begreifen, so nahe liegend daraufhin der Schritt von der Entgrenzung des Technikkonzepts zu einem Begriff von Kultur als eines Systems vernetzter Techniken ist – so groß dürfte der Widerstand gegen die daraus abzuleitende Konsequenz einer Suspension pauschaler Moralisierung des technischen Fortschritts sein. WeniEbd. Paul Alsberg, Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung, Dresden: Sibyllen-Verlag 1922. 21 Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Manfred Sommer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006; siehe dazu Birgit Recki, Auch eine Rehabilitierung der instrumentellen Vernunft: Hans Blumenberg über Technik und die kulturelle Natur des Menschen, in: Michael Moxter (Hg.), Erinnerung an das Humane. Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie Hans Blumenbergs, Tübingen: Mohr Siebeck 2011, S. 39–61. 19 20
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ges ist dem von den Furien der Beschleunigung gehetzten Zeitgenossen der Moderne so sehr ans Herz gewachsen wie die Kritik an der destruktiven Verselbständigung technischer Rationalität zum Sachzwang eigendynamischer Effektivierungslogik. Blumenberg hat sich auch dieser ›Selbstverständlichkeit‹ im Selbstverständnis der Epoche mit bewährtem Eigensinn angenommen: – – – – – –
Wir müssen doch nicht alles machen, was wir können. Nein, wir müssen es nicht. Aber? Aber wir werden es machen. Und weshalb? Weil wir nicht ertragen, wenn der kleinste Zweifel bleibt, ob wir es wirklich können. 22
So reflektiert Hans Blumenberg auf das Problem der Technik: die Herausforderung durch Machbarkeit. Die Bezeichnung des kleinen Textes als »Soliloquium« mag zwar preziös anmuten. Für die Frage nach der sachlichen Position, die hier bezogen wird, ist sie jedoch höchst bedeutsam, da sie eine Identifikation des Autorsubjekts mit beiden, mindestens aber dessen Verständnis für beide diskursiv ins Verhältnis gesetzte Seiten der Reflexion anzeigt. Die Frage danach, welche von den hier ins Gespräch gebrachten Instanzen wohl nach der Anlage des Textes Recht haben solle, erübrigt sich: Zweifelsreserve (»Wir müssen doch nicht«) und Begründung für die Unweigerlichkeit, mit der gleichwohl das Machbare gemacht werden wird, gehören als die Reflexionsperspektiven integral zu der Einstellung des ›Wir‹, die damit umschrieben ist; es ist somit das kollektive ›Wir‹ der Menschheit, das in dieser arbeitsteiligen Gegenüberstellung der Standpunkte eines im Selbstgespräch begriffenen Sprechers virtuell vollständig repräsentiert ist. Die These, die in dieser reflektierten Position enthalten ist, ist just die anthropologische, die Blumenberg von Anfang an vertritt und in seiner Beschreibung des Menschen auch narrativ prägnant machen wird: »Der Mensch ist das auf Technik beruhende Wesen.« Zu den Techniken, die dieser Inbegriff einschließt, gehört demnach auch die Kritik, die sich jederzeit reflexiv, dabei aber stets von innen her auf die eigene technische Verfassung beziehen lässt. Es mag daraufhin so aussehen, als erübrigte sich für Blumenberg Hans Blumenberg, Alles über Futurologie. Ein Soliloquium, in: derselbe, Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß, Stuttgart: Reclam 1997, S. 29.
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eine moralische Bewertung der Technik in dem Maße, in dem ihre Motive nur gründlich genug verstanden werden. Dem Programm des eindringlichen Verstehens jedenfalls ist es geschuldet, dass er eine Erklärung selbst für denjenigen Aspekt der technologischen Perfektibilität zu geben beansprucht, der gewöhnlich in seiner Hypertrophie als Fetischisierung beargwöhnt wird: Jene vielfach beklagte Verselbständigung technischer Standards, zu der die Einbindung der Technik in die Kultur führt, die unter anderem sie möglich gemacht hat, ist nur auf den ersten Blick eine bloße geistlose Eigendynamik. Blumenberg gibt sich angesichts des technischen Fortschritts nicht zufrieden mit der Anwendung der stoischen Alternative, ans Rad des Schicksals gebunden könne der Mensch nur wählen, ob er mitlaufen wolle oder sich mitschleifen lasse. »Was als Mangel der Technik erscheint, erweist sich als ein Mangel an Technik.« 23 Dieser programmatische Bescheid in den Notizen von 1956 enthält in nuce Blumenbergs Einspruch gegen die These von der Verselbständigung der Technik. Ausdrücklich spricht er vom »Schein der Versklavung durch die Technik« 24 und setzt systematisch darauf, den Verfügungsanspruch des Menschen über seine Verhältnisse nicht voreilig preiszugeben, ihn vielmehr auch selbstreflexiv auf den Eigen-Sinn der eigenen Produkte konsequent zur Geltung zu bringen. Den nämlichen Geist atmet auch die scharfsinnige Diagnose jener vermeintlichen Eigendynamik, in der er geltend macht, dass technische Rekorde zu repräsentativen Surrogaten werden für die Herausforderung durch eine Härte des Daseins, von der die Kultur den Menschen entlastet hat. In wenigen Strichen macht er hier sichtbar, wie die vielen Zeitgenossen vorschwebende Irrationalität des Fortschritts als Rationalität der Selbstherausforderung und des Leistungstrainings zu deuten wäre: Es ist Unfug zu glauben, der Mensch hätte den technisch möglich gewordenen Flug zum Mond genauso gut unterlassen können; genauso wie es Unfug ist zu meinen, er würde jemals auf einen der erreichbaren sportlichen Rekorde verzichten, welches auch immer der Preis dafür sein würde. Der Mensch macht vom Prinzip der Distanz auch sich selbst gegenüber Gebrauch, indem er seine Belastbarkeit experimentell objektiviert. 25
Ms. Automation 1956 (wie Anm. 3), S. 5; die hier kursiv gegebenen Wörter sind im handgeschriebenen Original unterstrichen. 24 Ebd. 25 Blumenberg, Beschreibung des Menschen (wie Anm. 21), S. 591. 23
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In »Lebenswelt und Technisierung« ist Blumenberg bemüht, die Konsequenz einer Dämonisierung der Technik von Husserls Intentionen auszuschließen. Was an Reflexionen wie der hier zitierten deutlich wird, ist die Tatsache, dass von Anfang an ihm selber eine solche Dämonisierung fern liegt. Hinzuzufügen ist hier nur die Explikation des Selbstverständlichen, das in solchen Bestimmungen vorausgesetzt ist: Eine kultivierte Menschheit muss es im Projekt der Entlastung weit gebracht haben, um sich solche Surrogate der Belastung leisten zu können. Die Kultur macht beides möglich. Doch das ist nicht alles. Blumenbergs eigenwillige Deutung ist systematisch dazu angetan, den eigentlichen Fetisch der Technik zu entzaubern, der gerade in der These von ihrer schicksalhaften Verselbständigung wirkt. Die perhorreszierte Eigendynamik der Technik wird hier transparent im Blick auf das im Selbstverhältnis der vermeintlich enteigneten Subjekte liegende Motiv des technischen Fortschritts. Es liegt in der Sachlichkeit der Ansprüche an die eigene Leistung: Wo eine Steigerung möglich ist, da wird sie im Interesse am ›Standing‹ in der Sache und dem mit ihm verbundenen objektiven Anspruch per se als Herausforderung akzeptiert. Ist es einer Einsicht wie dieser geschuldet, dass Blumenberg der moralischen Problematisierung der Technik vergleichsweise wenig Beachtung schenkt? Wohl weist er in seinem Aufsatz über »Technik und Wahrheit« mit Rekurs auf Kant auf die Differenz – und damit auf die mögliche Diskrepanz – zwischen technischer und moralischer Rationalität hin: Kant hat seinen Begriff der praktischen Vernunft, der sich auf das Prinzip der Freiheit gründet, sorgfältig abgegrenzt gegen den Begriff einer nur technischen Vernunft, die auf dem Prinzip der Kausalität als Einsicht in ZweckMittel-Zusammenhänge beruht. Aber gerade diese Unterscheidung zwischen dem »kategorischen Imperativ« der praktischen Vernunft und dem »hypothetischen Imperativ« der technischen Vernunft ist durch das 19. Jahrhundert um ihre Wirkung gebracht worden. 26
Doch es wird nicht deutlich, ob er darin einen Verlust oder im Gegenteil sogar einen Gewinn sieht. Das mögliche Problem ist jedenfalls ohne jeden Nachdruck exponiert; Blumenberg legt hier offensichtlich keinen Wert darauf, das moralische Problem der technischen Machbarkeit zu dramatisieren oder auch nur stark zur Geltung zu bringen, und 26
Blumenberg, Technik und Wahrheit (wie Anm. 1), S. 118. A
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er wird auf das damit markierte Spannungsverhältnis später nicht wieder zurückkommen. Er selbst spricht im nämlichen Zusammenhang, in dem er die Kantische Unterscheidung von praktischer und technischer Vernunft vindiziert, ausdrücklich von einer »technischen Bestimmung der Freiheit«: Die technische Bestimmung der Freiheit erschöpft sich nicht darin, den Menschen als ein Wesen zu begreifen, das technische Gebilde hervorbringt, sondern als ein Wesen, das sich selbst technisch verwirklicht, dessen ›Wahrheit‹ im Grunde technisch ist. […] Der Mensch verdankt sich wesentlich sich selbst, er ist ›autotechnisch‹ ; er ›hat‹ nicht nur Arbeit, er ›ist‹ auch Arbeit. 27
Mit seiner offenkundigen Absicht, auch die »technische Vernunft« dem Prinzip der Freiheit zuzuordnen, könnte sich Blumenberg systematisch auf Kants gleichermaßen naturteleologische und kulturphilosophische Erweiterung des Freiheitskonzepts in der dritten Kritik stützen. 28
4.
›Atommoral‹ – Blumenbergs exemplarische Ethik der Autonomie
Ein Grund für den späteren Verzicht auf systematische Wiederaufnahme des ethischen Problems dürfte gerade darin zu sehen sein, dass er das Problem zum Zeitpunkt seiner auffällig gelassenen Exposition bereits durchdacht und zu einer gültigen Konsequenz gebracht hatte. Denn Blumenberg hat sich der moralischen Beurteilung des technischen Fortschritts gestellt. Schon früh äußert er sich dazu und skizziert am extremen Fall der nuklearen Kriegsführung im Umriss seine ethische Position. Für Blumenberg ist es »die apokalyptische Uraufführung des Ebd., S. 119. Die teleologische Reflexion auf eine zweckmäßige Natur durch die spekulative Annahme eines Zwecke setzenden Willens (und damit eines Freiheitspotentials) in der Natur führt in der dritten Kritik zu einer naturalistischen Erweiterung des Freiheitskonzepts. Im Zuge des gleichen Gedankens, in dem Kant konsequent von einer »Technik der Natur« in ihren Produkten spricht (Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft [1790], Akademie-Ausgabe Bd. V, S. 246), nimmt er zugleich mit der ethischen Zuspitzung des Freiheitsbegriffs auf moralische Autonomie eine kulturphilosophische Erweiterung vor (§ 83). – Siehe dazu meinen Beitrag: Die Realität der Freiheit, in: Gunnar Hindrichs, Axel Honneth (Hgg.), Freiheit. Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, Band 1: Geist und Geschichte, Frankfurt am Main: Klostermann 2013, S. 241–257. 27 28
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Atomkrieges« über Hiroshima im Hochsommer 1945, die »sowohl an das Wirklichkeitsverständnis wie an die Moralphilosophie« mit einer ungeahnten Herausforderung herantritt. Desiderat wäre eine »Atommoral«, für die er in diesem Text den philosophischen Rahmen abstecken will. 29 An der Bestimmung der Moralphilosophie, die er in diesem Zusammenhang trifft, fällt vor allem auf, dass er keinen methodischen Subjektivismus der moralischen Werte und Normen vertritt, sondern einen dialektischen Ansatz: »Gegenstand der Moralphilosophie ist der Mensch in seiner handelnden Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Welt; ihr Ziel ist die Gewinnung der Normen und Richtwerte dieses Handelns von der Struktur der Wirklichkeit her.« Das ›richtige‹ Handeln, so knüpft er hier in Heideggerscher Manier einen semantischen Knoten, ist das an dieser Wirklichkeit »gerichtete, das aus unverstellter und unverfälschter Einsicht in die Sachverhalte bestimmte Handeln«. 30 Betont wird so Problemorientierung und mit ihr die Sachhaltigkeit der Moral. Das Sachproblem der Energiegewinnung durch Atomspaltung erörtert Blumenberg sodann unter der Metapher der »physikalischen Unterwelt« 31 , die sich bei den Vorgängen im Atominneren in widerspenstiger Weise geltend mache. Es geht mit anderen Worten um das Problem der Verselbständigung von Technik gegen den Verfügungsanspruch ihrer menschlichen Urheber, um eine »Autonomie der technischen Gebilde«. Ursprünglich ist das technische Produkt, so führt er aus, »im weitesten Sinne Werkzeug seiner [des Menschen] Hand«. Doch im Zuge einer »wachsenden Differenzierung und Aufspaltung der Planungs- und Fertigungsprozesse«, bei der die volle Einsicht in und der volle Zugriff auf den gesamten Zusammenhang verloren geht, tritt es »aus dem Dienstverhältnis heraus und stellt umgekehrt den Menschen als Techniker, Unternehmer und Arbeiter in seinen Dienst; ja, es diktiert der ganzen menschlichen Gesellschaft Bedürfnisse und Zwecke auf, die ganz und gar nicht mehr vorgegeben sind. Hier nun liegen die tieferen Gründe für die Rede von der »Dämonie der Technik« 32 , die sich für Blumenberg in der Kernspaltung mit ihrem »unaufhebbaren Widerstand gegen Objektivierung und Form« 33 29 30 31 32 33
Hans Blumenberg, Ts. Atommoral (wie Anm. 3), S. 1. Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 3. A
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sachhaltig exemplifiziert – und »die wir indes nicht ohne weiteres mitmachen wollen. Denn erst indem sich das technische Gebilde der Leidenschaft und Verführbarkeit des Menschen anbietet, gewinnt es so etwas wie ›Dämonie‹ – aber es ist die Dämonie seines Erzeugers« 34 . Schon hier also vollzieht Blumenberg auf engstem Raum die kritische Kehrtwende, die in seiner ersten technikphilosophischen Publikation auffällt: »Die Rede von der Autonomie und Dämonie der Technik« leiste der »Kapitulation vor einer vermeintlichen Notwendigkeit« Vorschub. 35 Für ihn ist die ›Dämonie der Technik‹ keine ausgemachte Sache, sondern – im Sinne ihrer Zurückführung auf die Dämonie ihres Erzeugers – eine Metapher für eine Problemstellung mit offenem Ausgang. So spricht er im Folgenden von einer Zweideutigkeit, einer »Unsicherheit«. Zwar ergeht an die Moralphilosophie die Anforderung, es »in neuer Weise und Tragweite mit dem Sinn von Verantwortung aufzunehmen« 36 , doch scheint es ihm zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen, dass dies auch gelingen kann. Paradoxerweise ist es gerade die in der Atomspaltung sich zeigende »Autonomie der technischen Gebilde«, die als Vergleichsmaßstab für die Potenzierung einer ambivalenten menschlichen Macht die Idee der ›Omnipotentia‹ nahelegt. Während bei Gott diese Allmacht »unabtrennbar und aus innerer Notwendigkeit« verbunden sei mit Weisheit und Güte, wäre diese Verbindung beim Menschen zufällig und lose. Blumenberg ahndet geradezu eine Entsprechung von ›Creatio ex nihilo‹ auf der Seite Gottes und ›Destructio in nihilum‹ auf der Seite des Menschen – »[e]s sei denn, daß dem allgemeinen Fortschritt auch eine ethische Perfektion gleichlaufen oder folgen könnte«. Die entscheidende Frage lautet daraufhin: »In welchem Verhältnis steht das Maß äußerer Macht zu der Aussicht humanistischer und moralischer Faktoren, ihren Gebrauch wirksam zu beeinflussen? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein.« 37 Sicher aber kann sie auch nicht sein, diese Antwort, denn Blumenberg gibt sie nur auf indirekte Weise, indem er das Problembewusstsein der moralischen Diskrepanz an die einschlägige Instanz der besagten ›humanistischen und moralischen Faktoren‹ verweist – an ›die Kultur‹ 34 35 36 37
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Ebd., S. 4. Blumenberg, Natur und Technik (wie Anm. 1), S. 461. Blumenberg, Ts. Atommoral (wie Anm. 3), S. 3. Ebd., S. 5.
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als einen »Inbegriff des weltbezogenen Handelns von und in menschlichen Gemeinschaften«. Der ihr inhärente Anspruch auf sinnvolles Handeln steht unter dem Paradigma derjenigen Herrschaft, »die in dem Gottesauftrag der Genesis ›macht euch die Erde untertan und herrschet!‹ ihre volle Prägnanz gefunden hat«. Es ist ein positiver Begriff von Herrschaft, den Blumenberg hier als die Vollzugsform aller Kultur gibt: Herrschaft weiterhin gilt hier als etwas anderes als ein Niederhalten, Unterdrücken, Ausschalten, Nicht-zur-Geltung-kommen lassen; Herrschaft vollzieht sich vom Menschen her in der geistigen Durchdringung und Erhellung, in der Einsichtnahme in die Gründe und Bedingungen, aber auch in der künstlerischen Entdeckung der Symbolgehalte der Weltwirklichkeit. 38
Woher auch immer dieser Herrschaftsbegriff inspiriert ist – er kongruiert erkennbar mit dem Begriff der Vernunft. Seine Pointe hat er darin, dass sein Gebiet, die Natur, nicht allein die äußere Welt, sondern auch die menschliche Natur umfasse. Blumenberg spricht von der »aus dem Kulturbegriff als normativ entwickelte[n] Gestalt von Naturbeherrschung«. Und er fragt sich, ob diese normativ verstandene Herrschaft im Bereich der Atomtechnik überhaupt zu verwirklichen sei. Jedenfalls tut in der »Krise der ethischen Kraft der Menschheit«, die durch die »Überführung der elementaren Energie in die technische Realität« indiziert ist, die »Aufstellung eines umfassenden normativen Horizonts« not. 39 Blumenberg lässt keinen Zweifel daran, dass er mit der Grundlegung der postulierten Normativität im Kulturbegriff transzendente Bezüge der erst noch zu leistenden Moral gerade ausschließen will. Er setzt für die Bewältigung der menschlichen Probleme einer Neubestimmung der Verantwortung im technischen Zeitalter ausschließlich auf die Zuständigkeit des Menschen. Die Alternative einer theologischen Besinnung auf die Moral der Atomtechnik bleibt hypothetisch: Nur wenn es nicht gelingt, dem Humanen in der (umfänglich auch die eigene verführbare Triebnatur umfassenden) Naturbeherrschung seine normative Geltung neu zu gewinnen, sieht sich die Menschheit zur Überschreitung der Grenze, das heißt zur Preisgabe ihrer Freiheit in der
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Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. A
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»Unterwerfung unter ein göttliches Gebot, einen absoluten Anspruch und ein verheißenes Gericht« genötigt. 40 Es ist nichts anderes als die Forderung nach einer radikalen Erneuerung einer Ethik der Autonomie, in die Blumenbergs Auseinandersetzung mit der ›apokalyptischen Uraufführung des Atomkrieges‹ mündet.
5.
Grundlegung zu einer Ethik der Autonomie. Eine Skizze
Durchweg hat sich Blumenberg zurückhaltend, ja: abstinent gezeigt in der Positionierung der philosophischen Ethik. Eine Monographie zur Frage der Lebensführung und der Moralität sucht man in seinem reichen Werk vergebens, und auch von einer moralphilosophischen Grundlegung in monographischem Ausmaß ist im Werk Hans Blumenbergs nichts bekannt. Gleichwohl lassen sich die ›membra disiecta‹ einer Ethik der Autonomie in seinen Schriften nicht als episodische Phänomene abtun. Auch wenn es sich dabei um einen kurzen Text handelt, so ist doch davon auszugehen, dass der frühe Entwurf zu einer »Einführung in die Ethik« aus der Zeit von 1957/58 in dem Maße den eigenen Ansatz und die Position des Autors präsentiert, wie dies von Einführungen in ein systematisches Gebiet seitens akademischer Lehrer generell gilt. Vom Fehlen einer objektiven Norm des Menschen geht Blumenberg in dieser Skizze aus. An die Stelle einer nicht länger tragfähigen theologischen Bestimmung des Menschen als Gottes Ebenbild ist aus dem Kontext der modernen Wissenschaften und des modernen Berufslebens mit seinem Funktions- und Rollenverständnis keine angemessene Bestimmung des Menschen getreten. In dieser Situation ist die Ethik »die philos[ophische] Lehre v[on] e[inem] verbindl[ichen] Menschenbild. Sie soll Handlungen & Entscheidungen so formen helfen, dass sie von allen als ›gut‹ anerkannt werden können«. 41 Um diesen Verbindlichkeitsanspruch zu qualifizieren, setzt Blumenberg beim Tugendbegriff an: Das Verständnis von Tugend, an das er im Rekurs auf Sokrates, Platon, Aristoteles, Cicero und Thomas erinnert, erfülle den 40 41
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Ebd., S. 9. Hans Blumenberg, Ms. Einführung in die Ethik (wie Anm. 3), S. 2.
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Anspruch auf ein reflektiertes Selbstverständnis des Menschen, das in der Kritik an der Instrumentalisierung des Menschen durch bloße soziale und politische Techniken der Menschenführung (wie bei den Sophisten) und zugleich in der Selbstkritik gewonnen sei. »Ethik ist die Lehre von den Maszstäben der Selbstkritik, die uns zur Lebensform werden soll.« 42 Ausführlich dekliniert Blumenberg die Tugend(en) durch anhand des Aristotelischen ›mesotes‹-Schemas sowie der Rechtslehre Thomas von Aquins. 43 Er erörtert das (Miss-)Verhältnis von Rechtsnormen und ethischen Normen und markiert kritisch das Problem zunehmender Wichtigkeit des Staates. In einer Situation, die durch »Risikoflucht« und »Sicherungshypertrophie« auf der einen Seite, 44 durch »Geltungstrieb, Geltungssucht« aufgrund fehlender »T.[ugend] d.[er] ›inneren Ordnung‹« 45 charakterisiert ist, betont er die Unverzichtbarkeit der Selbstbestimmung. Die Frage nach der »aktuellen Bedeutung der Lehre v[on] d[er] Tugend«, in die seine in anschaulichen Beobachtungen konkret zugespitzten Paraphrasen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens 46 schließlich münden, beantwortet Blumenberg in zwei Schritten. Zum einen ist es ihm wichtig, dass diese Lehre ein Gegengewicht schaffe gegen den mit einer deterministischen Präsupposition einhergehenden »Charakterbegriff der Psychologie«. Unverkennbar macht sich hier im Einspruch gegen einen Determinismus die für jedes ethische Denken konstitutive Insistenz auf Willensfreiheit geltend. Die zweite Antwort bringt es unmissverständlich auf den grundsätzlichen Begriff: »Die Tugendlehre begreift das Problem d[es] Menschen als das seiner ›inneren Form‹. Menschliches Verhalten ist nicht Reaktionsverhalten.
Ebd., S. 3a. Im ausdrücklichen Rekurs auf Max Schelers Zur Rehabilitierung der Tugend (1915) heißt es: »T. ist der Begriff, die Norm die das menschl[iche] Leben des Alltags ›menschenwürdig‹ machen will« – »die innere Form, die wir uns selbst geben.« (Ms. Einführung in die Ethik [wie Anm. 3], S. 9a). 44 Blumenberg, Ms. Einführung in die Ethik (wie Anm. 3), S. 10. 45 Ebd., S. 11; kursivierte Wörter sind im Original unterstrichen. 46 Blumenberg verweist auf das Versagen von Vorgesetzten und auf das allgemeine Prestigedenken: »Zeitalter d[er] ›Abzeichen‹ : das Auto, die Besetzung d[es] ›Vorzimmers‹. [Wieviel Fenster hat das Dienstzimmer e[ines] Staatssekretärs, e[ines] Ministerialdirektors etc.?] Hemmungsloser Konsum, ausgesetzt der Reklame, die unausgesetzt den Prestigedrang anspricht.« (Ebd., S. 11). 42 43
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Die Ethik lehrt uns, selbst zu bestimmen, was wir sein wollen: Autonomie.« 47 Das letzte Wort in dieser ethischen Skizze hat die Autonomie. Bemerkenswert daran ist die Selbständigkeit des Zugriffs. Zwar ist dem jungen Blumenberg die Kantische Konzeption geläufig: »Kant: wir müssen so handeln, dass unser Grundsatz des Handelns für jedermann zum Gesetz erhoben werden kann (Kategor.[ischer] Imperativ)«, 48 und er versteht es, sie in wenigen Strichen als diejenige Form der Selbstkritik kenntlich zu machen, durch die sich der Handelnde zur glaubwürdigen »Autorität« seines als Partner ernst genommenen sozialen Gegenübers macht. Und doch entwickelt er die Frage nach den Maßstäben der Selbstkritik, die den handelnden Menschen zur Selbstbestimmung befähigen, er entwickelt den Begriff der Autonomie, auf den es ihm ankommt, nicht auf dem konventionell nahe liegenden Weg einer ausführlichen Darstellung der Kantischen Ethik der Autonomie, sondern auf dem Umweg über eine Rehabilitierung des Tugendbegriffs. Darin liegt zugleich die unkonventionelle Behandlung des gewählten Kronzeugen Aristoteles. Als Kern seiner Tugendkonzeption erkennt Blumenberg – ganz anders als seine späteren Kollegen, die sich angewöhnen sollten, die Rede von ›zwei Wegen in der Ethik‹ auf die vermeintliche Alternative zwischen Aristoteles und Kant zu beziehen – gerade den Gedanken der Selbstbestimmung. Ihm ist Aristoteles mit seiner auf abwägender Klugheit beruhenden Tugendorientierung weder der in systematischer Alternative zu einem deontologischen Programm profilierte Eudämonist noch (jedenfalls nicht in erster Linie) der Stammvater aller situationsgerechten Realisten, und auch nicht der Traditionalist und Konventionalist der Sittlichkeit, sondern der Denker einer auf Freiheit beruhenden Autonomie.
6.
Die Strenge der moralischen Verantwortung
Dass Blumenberg auch in seinem späteren Werk am ethischen Grundgedanken der Autonomie festgehalten hat, lassen einige im Nachlass wie im veröffentlichten Werk versprengte Reflexionen von großer Prägnanz und Eindringlichkeit erkennen, denen prima facie eines zu 47 48
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Ebd., S. 12. Ebd., S. 3.
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entnehmen ist: Die im Essay über »Atommoral« tragende Reflexion auf Kultur wäre missverstanden, wenn man sie als Hinweis auf ein das handelnde Individuum entlastendes Gerüst deuten wollte. Es ist Blumenbergs Vorstellung von individueller Verantwortung, die dies erkennen lässt: Sie zeigt eine kaum steigerungsfähige Extension und Strenge. Das Schweigen zur Ethik, die gelegentliche Verweigerung sogar von ethischer Position ist hier zumindest konterkariert durch entschiedene Positionierungen, denen die Anleitung zur Extrapolation unschwer zu entnehmen ist. Die Miniatur über die Frage »Ob man sagen darf: ›Ich habe Angst!‹« gehört in diese Rubrik. 49 Sie dokumentiert ein ins Hypertrophe gesteigertes Verantwortungsbewusstsein. In der ersten Person spricht der Autor hier, und mit Bezug auf die Titelfrage besteht er darauf, »daß dies zu sagen unzulässig, ja unsittlich ist«. Die Erläuterung gibt er mit Rekurs auf »die absolute Verlegenheit«, in die man den Anderen durch diesen Sprechakt bringe, in welchem sich ein performativer Widerspruch artikuliere: Ich tue so, als erwartete ich vom Anderen eine angemessene Antwort, dabei kann es eine solche nicht geben, so dass ich ihm mit meiner Frage gerade radikal das Wort entziehe. Das ist es, was Blumenberg »die absolute Verlegenheit« nennt. »Spiele nicht mit den Tiefen des Andern!« Auf diesen Imperativ von Wittgenstein bezieht Blumenberg seine Überlegung. Doch hätte es ebenso nahe gelegen, sie auf die Einsicht des Marc Aurel zu beziehen: »Wenn man wissentlich Unmögliches verlangt, gibt es keinen guten Ausweg mehr.« Nach dieser Einsicht jedenfalls ist Blumenbergs Reflexion gemodelt. Die Voraussetzung, an der sie hängt: Dass alles, was man sagt, im Modus völliger Bewusstseinshelle der Selbstreflexion gesagt wäre. Ist das realistisch? Ist es angemessen? Das kann man fragen. Festzuhalten ist: Hier spricht ein Rationalist, der offenbar das Sprechen zwischen Menschen allein nach dem Modell diskursiver Bezugnahme sich zu denken gewillt ist. Dass die angemessene Antwort des Anderen eine affektiv-empathische Antwort sein könnte, die nicht argumentative Entgegnung wäre, fällt gänzlich aus dem Blick; vollends die Geste, die den Anderen der Anteilnahme und des Verstehens versichern könnte. Und mehr noch: Hier spricht ein Moralist – einer der die Verantwortung ins Absolute steigert. In denselben Zusammenhang gehört auch bereits die Reflexion 49
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auf Rilkes Zeilen in der Ersten Duineser Elegie »Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?« Blumenberg legt hier Wert auf die Feststellung, dass diese »Konjunktivverschachtelung« zwei Antworten zulasse: Gemäß der intuitiv selbstverständlichen Voraussetzung der Kommunikabilität menschlichen Ausdrucksverhaltens kann die Konsequenz aus der Annahme, nicht gehört zu werden, wohl nur sein, dass man sich dann das Schreien auch sparen könne: »Warum dann noch schreien?« Doch Blumenberg kontert sogleich mit der komplementären Frage: »Warum dann nicht schreien?« 50 Während die erste Position die existentielle Vergeblichkeit der Mühe des Ausdrucksverhaltens angesichts eines tauben kosmischen Auditoriums artikuliert, akzentuiert die zweite an derselben Annahme des Resonanzmangels die Unbedenklichkeit des eigenen hemmungslosen Tuns: Wo ich nicht gehört werde, also auch niemand störe oder beunruhige, da darf ich mich ruhig gehen lassen und nach Herzenslust schreien. Und überhaupt nur da darf ich mich gehen lassen – so wäre der Aussagesinn auf der Folie der zuvor zitierten Reflexion zu präzisieren. Hier (in der Negation) ist es wieder, das gleiche Postulat der Selbstdisziplin aus höchstgradiger Verantwortung für das, was man tut und damit bewirkt. Nicht davon geht der Autor aus, dass der Mensch in seiner Qual das Recht auf deren Artikulation habe, sondern davon, dass es hier eine Pflicht zur Rücksichtnahme gebe: Ich darf den Anderen nicht damit behelligen (und notwendig überfordern), dass ich leide. Sucht man die ethische Intuition, die sich in dieser erhabenen Idiosynkrasie ausspricht, präziser zu fassen, so zeigt sich das Pathos der Distanz, das sich auf den ersten Blick hier ausspricht, als Ausdruck einer extremen Betonung von Verantwortung selbst um den Preis der Vereinsamung des Handelnden, als deren Komplement sich der Anspruch auf Autonomie in kaum steigerungsfähiger Form bekräftigt findet.
7.
Technik als Agens der Normativität
Reartikulation und Nutzanwendung dieser moralphilosophischen Perspektive finden sich in ganz unerwarteter Weise im Kapitel über »Trostbedürfnis und Untröstlichkeit des Menschen« in der Beschrei50
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Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt am Main: Insel 1988, S. 72.
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bung des Menschen. Wie ernst es Hans Blumenberg mit dem von Paul Alsberg aufgenommenen Gedanken ist, der Mensch sei das ›werkzeuggeschaffene Lebewesen‹, zeigt hier seine Reflexion auf die Auswirkung der modernen Techniken der Empfängnisverhütung, eine Überlegung, die gleichsam mit einem Bein in der Metaphysik und mit dem anderen in der Moralphilosophie steht. Hans Jonas hatte 1979 in Das Prinzip Verantwortung eine Reihe von gestaffelten Pflichten behauptet: 1. die präliminaren Pflichten, zu denen die Wissensbeschaffung über die problematischen Folgen des technologischen Handelns ebenso gehört wie das, was Jonas im Begriff einer »Heuristik der Furcht« zusammenfasst (Kultivierung eines der Gefahr und Bedrohung angemessenen Gefühls), 2. die materialen Pflichten zur Bedächtigkeit, der Bewahrung und Schonung, der Wachsamkeit über die Anfänge, 3. auch eine Pflicht, die auf einer anderen Ebene zu liegen scheint: »die unbedingte Pflicht der Menschheit zum Dasein«. 51 Zu ihr gehört, folgt man Jonas, auch eine Fortpflanzungspflicht – die Pflicht des Menschen, ein Kind zu zeugen. Blumenberg, der diese Position bei der Niederschrift seines Manuskriptes kaum kennen konnte, hat nicht eine solche mit Blick auf die Bevölkerungsexplosion im Weltmaßstab absurde Pflicht im Sinn, sondern die Ansprüche des Individuums auf Akzeptanz, wenn er in der Beschreibung des Menschen geradezu den Anti-Jonas formuliert: »Seitdem die ungewollte Erzeugung von Nachkommenschaft zuverlässig und mit zumutbaren Mitteln ausgeschlossen werden kann, gibt es ein Menschenrecht darauf, nicht ungewollt zu existieren«. 52 Bemerkenswert ist die Ambiguität des Bezuges in der Zuschreibung »nicht ungewollt«, die sich aus dem Kontext des Gedankens als absichtsvoll erschließen lässt: Es geht, wie der Ausgang vom Willen der Erzeuger von »Nachkommenschaft« in der Formulierung »die ungewollte Erzeugung von Nachkommenschaft« erkennen lässt, zunächst darum, von den eigenen Eltern gewollt zu sein; zugleich aber in der Formulierung vom »Menschenrecht darauf, nicht ungewollt zu existieren«, 53 ebenso sehr um den Willen des Kindes, zu existieren. Der Kontext, in dem Blumenberg sein Postulat situiert, lässt den inneren ZuHans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, hier S. 36; 91 f.; 80. 52 Blumenberg, Beschreibung des Menschen (wie Anm. 21), S. 649. 53 So auch in der Matthäuspassion, wo Blumenberg vom »wichtigsten Befund für jede Existenz: Ob sie denn gewollt sei«, spricht (Blumenberg, Matthäuspassion [wie Anm. 50], S. 132). 51
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sammenhang der beiden Willensbezüge deutlich werden: Es geht um die anthropologische Feststellung der Kontingenz menschlichen Daseins, in deren Zusammenhang dem Autor die Antwort des Thales auf die Frage nach dem Grund seiner Kinderlosigkeit: »aus Liebe zu den Kindern«, 54 ebenso signifikant wird wie die Reflexion Kants in der Metaphysik der Sitten über die Pflicht der Eltern, diejenigen, die sie, ohne ihre Einwilligung eingeholt zu haben, ins Leben gesetzt hätten, mit allen nur denkbaren Mitteln mit den Härten dieses Lebens zu versöhnen. In diesem Gedanken ist angedeutet, wie der Wille der Erzeuger und der Wille der Kinder zusammenhängen: Indem die Eltern alles tun, um die Kinder mit der prima facie nicht gewollten Existenz zu versöhnen, verschaffen sie ihnen die Gewissheit, gewollt zu sein, und modifizieren ihren Willen eben darin so, dass sie der Entscheidung, bei der sie nicht gefragt werden konnten, im Nachhinein zustimmen können. Das Bewusstsein, gewollt zu sein, fungiert bei einem trostbedürftigen und tröstungsfähigen Wesen als genuiner Grund der Bejahung seiner Existenz. Seit Kant, so Blumenberg, der dessen Einsicht offenbar rückhaltlos zustimmt, habe sich die »Pflichtenlage der Eltern« durch die Möglichkeiten der modernen Empfängnisverhütung »verschärft«.55 »Die neugeschaffene Freiheit der Entscheidung für andere, zuvor nicht Befragbare, hat eine ganze moralische Dimension eröffnet.« 56 Darin zeigt sich allerdings eine ganz andere als die übliche Richtung der Technikfolgenabschätzung, ein ganz anderer Zugang zur moralischen Fragestellung angesichts technischen Handelns, als wir es gewöhnt sind. An solchen Stellen einer Schubumkehr des kritischen Gedankens ist zu erkennen, wie ernst es Blumenberg meint mit der programmatischen Forderung, philosophisches Denken hätte in allem zunächst die ›Selbstverständlichkeiten‹ des Denkens und der Orientierung zu brechen. Nicht die Technik als solche wird hier der moralischen Frage der Zumutbarkeit und der Rechtfertigung unterzogen; es wird vielmehr darauf aufmerksam gemacht, dass technische Errungenschaften auch eine Verschärfung und Verfeinerung moralischer Ansprüche mit sich bringen können: Technische Fortschritte sind es, die eine luxurierende oder zumindest komfortablere Situation schaffen, in der es 54 55 56
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Blumenberg, Beschreibung des Menschen (wie Anm. 21), S. 648. Ebd., S. 649. Ebd., S. 650.
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Technik und Moral bei Hans Blumenberg
möglich ist, menschliche Bedürfnisse und Wünsche, sei es nachhaltiger als bisher, sei es erstmals, zu befriedigen, so dass der Hinweis auf deren mangelnden Realismus zur Ausflucht wird. Technik wird mit anderen Worten sichtbar als Agens des normativen Bewusstseins und als Vehikel individueller Autonomie.
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Un périodique allemand, la Berlinische Monatsschrift, en décembre 1784, a publié une réponse à la question: ›Was ist Aufklärung?‹ Et cette réponse était de Kant. Texte mineur, peut-être. Mais il me semble qu’avec lui entre discrètement dans l’histoire de la pensée une question à laquelle la philosophie moderne n’a pas été capable de répondre, mais dont elle n’est jamais parvenue à se débarrasser. Et sous des formes diverses, voilà deux siècles maintenant qu’elle la répète. […] Il n’y a guère de philosophie qui, directement ou indirectement, n’ait été confrontée à cette même question. (Michel Foucault, Qu’est-ce que les Lumières?) ¿De dónde viene ese modelo del filósofo como comparativo ontológico de la humanidad, como criterio de existencia auténtica? Sabemos el veredicto que una ilustración fiscal ha lanzado sobre sus contemporáneos: son perezosos y cobardes. ›Es ist so bequem, unmündig zu sein!‹, dijo Kant. Cuando analizamos su vida, tampoco nos resulta imposible imaginar que alguien observara con razón: ›es tan cómodo ser uno de esos filósofos mayores de edad‹. (José Luis Villacañas, Blumenberg, lector de Kant)
* A previous version of this paper has been published in the Spanish Journal Anales del Seminario de Historia de la Filosofía, Universidad Complutense de Madrid. I would like to express my gratitude to the Schillergesellschaft for having granted me an einmonatiges Postdoktorandenstipendium at Deutsches Literaturarchiv Marbach, and to the Gerda Henkel Stiftung for the award of a Postdoctoral Scholarship. This research has also benefited from the project »Historical Epistemology: Emotional Styles and Communities in the 19th and 20th Centuries«, supported by the Spanish Ministry of Science and Innovation (FFI2010–20 876). The quotations from Hans Blumenberg’s Nachlaß have been published with the permission of Bettina Blumenberg and DLA Marbach. Finally, I would like to thank Paul Johnson for the English revision of this paper. This essay is dedicated to Prof. José Luis Villacañas.
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Blumenberg between Kant and Husserl Blumenberg has referred to himself as »enttäuschtem Kantianer«. 1 We can also add: a disappointed Husserlian. He never concealed to Ludwig Landgrebe – Blumenberg’s mentor and Husserl’s former assistant – his difficulties with phenomenology, of which Landgrebe was nevertheless well aware. In a letter dated May 1976, Blumenberg informed him of his renewed interest in Husserl’s work and the problem of internal time consciousness. 2 Despite all his reluctance, Blumenberg recognized the value of Landgrebe’s teachings on phenomenology with a dear »trotzdem bleibe ich Ihr früher Schüler«. 3 Blumenberg’s Nachlaß in Marbach preserves the copy of a letter sent by Blumenberg to an American colleague, in which he expressly declared his preference for Kant over Husserl: Sie teilen meine Sympathie für Husserl nicht, schreiben Sie, aber ich habe die gar nicht. Für mich gibt es nur einen maßstäblichen Autor in der Philosophie, und das ist Kant. Nur ist Kant eben mit Kant so abgeschlossen, daß er uns – wie die Literatur und das Phänomen des Neukantismus beweisen – keine Chance zur weiteren Arbeit, außer der an ihm, läßt. Ich teile weder Husserls Wesensschau-Illusionen noch seine erkenntnistheoretischen Optionen, auch nicht sein geschichtsphilosophisches Pathos. 4
If he had to express sympathy and influences – Blumenberg continued – he felt much closer to Simmel and Cassirer, although none of them established the image of what it was still possible to do. Returning to Husserl, he continued: 5 1 Hans Blumenberg, Höhlenausgänge [1989], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, p. 549. 2 Letter from Blumenberg to Landgrebe, 14. 5. 1976. DLA Marbach: »In jenem Hamburger Winter haben wir in einer ganz kleinen Gruppe Husserls Vorlesungen zur Phänomenlogie des inneren Zeitbewusstseins bearbeitet, und das war freilich eine meinen weiteren philosophischen Gang bestimende Erfahrung. Seit sechs Jahren erlaube ich mir daher hier in Münster endlich den Luxus, mit einem fast konstanten Kreis in langstündigen Sitzungen ausschliesslich Husserl-Texte zu bearbeiten – ans endlich erreichte Ziel. Allerdings hat das, wie ich vorwarnend gestehen muss, meine Abneigung gegen alles von Heiderr [unreadable amendment] […].« 3 Blumenberg to Landgrebe (see note 2). 4 Hans Blumenberg, BMT IX, undated letter without recipient, DLA Marbach. Blumenberg’s emphasis. 5 »›sympathisiere‹ ich viel mehr mit Simmel, in der Distanzierung von der Erkenntnistheorie mit Cassirer. Wenn also von Sympathie die Rede ist – auch von ›Einfluß‹
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Zugleich gebe ich zu, daß ich methodisch am meisten – oft mit Zähneknirschen – bei Husserl gelernt habe. Aber ich habe ihn vorwiegend als skeptischen Denker gelesen. Das gilt auch und vor allem für die Lebensweltthematik. Da habe ich Ihnen für Ihre Kritik viel zu verdanken. 6
Apropos this letter, Blumenberg wrote an annotation in which he elaborated his views on Husserl and Kant further: [sic] Er teile nicht meine Sympathie f Husserl, schrieb mir ein amerikan Koll & Freund. Ich vermute, so wird es vielen gehen, wenn die Voraussetzg dr Sympathie richtig wäre. Aber kann man sie überhaupt f H. haben? Ich bezweifle das und habe sie nicht. Mein Herz & mein Verstand gehören Kant – aber was hat er mir zu tun übrig gelassen als ihn zu begreifen? Ein exegetisches Leben. Er hinterläßt keine Methode, weil er doch auch ›seine‹ Phil gar nicht hinterlassen hat: die Kritiken sind, systematisch betrachtet, Vorarbeiten, die nicht erahnen lassen, wie das ausgesehen hätte, was die »Methodenlehre« die allzu kurz geratene, zu verfertigen anleiten sollte. Kann man mit ihr leben? Nein. Man kann aber mit H. leben. 7
In our view, such an ambivalence between Kant or Husserl is crucial to an understanding of Blumenberg’s metaphorology as Enlightenment. In this essay I argue that Blumenberg’s metaphorology as a form of phenomenology reproduces Husserl’s difficulties with Enlightenment. I also aim to outline a ›meta-metaphorology‹, a metaphorology of the difficulties with Enlightenment, considering the metaphorical variations and amendments of the Enlightenment project.
»Die offenen Flanken der Aufklärungen« That Enlightenments always fail is an empirical finding. Blumenberg, however, sees in it the opportunity for an extension of the Enlightenment project, in terms of an »Aufklärung der Aufklärung«. 8 The efforts etwa –, sind es diese beiden, die mein Bild von dem bestimmen, was ›noch‹ geleistet werden kann.« Hans Blumenberg, BMT IX, undated letter without recipient, DLA Marbach. 6 Hans Blumenberg, BMT IX, undated letter without recipient, DLA Marbach. 7 Hans Blumenberg, BMT IX, undated annotation, DLA Marbach. Abbreviations and typographical mistakes correspond to the original document. 8 Hans Blumenberg, Anwendung der Aufklärung, UNF 1248, DLA Marbach. See also César González Cantón, La metaforología de Blumenberg como destino de la analítica existencial, Madrid: Universidad Complutense de Madrid 2004, here p. 156.
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made to explain the persistent failure of the Enlightenments, to find an appropriate and precise philosophical meaning in order to understand the causes of their inefficiency, already form part of the Enlightenment tradition itself and its tenacious »Sorge um die Vernunft«. 9 In one of his unpublished texts, Blumenberg made reference to »das Geheimnis des Scheiterns der Aufklärungen«. 10 Undoubtedly each Enlightenment has been confronted with the fate of its own tribulations, but sooner or later all of them converged on failure. Precisely in the universality of their failure lies the mystery. With his usual irony, Blumenberg recognized the greatest achievement of the Enlightenments in the persistence of their lack of success. But he could not resist the temptation to suggest a solution to the enigma of Enlightenment failure. 11 In that unpublished text Blumenberg introduced the formula of »die offenen Flanken der Aufklärungen«, 12 in order to explain their difficulties and the specific reasons for this generalized lack of success. 13 The first and most remarkable of these »offenen Flanken« – shared, according to him, by all enlightened programs – is boredom. Enlightenments invariably provoke and maintain boredom: »Aufklärungen […] sind langweilig.« 14 Although this is not absolutely the main problem, it is already a plausible reason for sedition. 15 Some Enlightenments, moreover, far from being edifying and a rejection of tedium, induce a peculiar weakness in those who suffer from them. Blumenberg has called them the »schwächeren Aufklärungen«. 16 A paradigmatic example, he believes, accompanied Voltaire’s exile to Eng9 Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, here p. 209. 10 Hans Blumenberg, UNF –27–, DLA Marbach. 11 Blumenberg also referred to »die Welträtsel und die Selbstüberschätzung ihrer Löser«, in: the same, Die Vollzähligkeit der Sterne [1997], Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, pp. 278–80. 12 Hans Blumenberg, UNF –27–, DLA Marbach. 13 José Luis Villacañas, Dificultades con la Ilustración, Araucaria. Revista Iberoamericana de Filosofía, Política y Humanidades 21 (2009), 27–43. See also his conference »Más dificultades con la Ilustración«, April 29, 2010, Universidad Complutense de Madrid. 14 Hans Blumenberg, UNF –24–, DLA Marbach. 15 »Aber, dass sie langweilig sind, macht die Aufklärungen anfällig für Abwechslung; für jede Form des Wieder-einmal-etwas-anderes, das nach ihrem Selbstverständnis unzulässig sein muß«. Hans Blumenberg, UNF –24, DLA Marbach. 16 Hans Blumenberg, UNF –24–, DLA Marbach.
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land. Upon his return, Voltaire brought the valuable teaching of Newton’s work, of course, but also the hard lessons of Shakespeare’s Enlightenment. 17 Shakespeare’s plays exposed the breadth and depth of human drama too crudely, and some produced an insidious discouragement, an oedipal one which was perfectly unmanageable and unbearable. The Enlightenment, turned into a living representation of human tragedy, clearly brought on this kind of discouragement: the very Enlightenment provoked fear. In this sense, the theatre of Shakespeare could be understood as an example of those »schreckliche Augenblicke der Aufklärung« 18 which, rather than inspiring courage, frighten an audience with visions of an endless defeat. While Enlightenments as inexhaustible sources of boredom become vulnerable to satire, 19 the Enlightenment as a source of fear involves a precise degree of violence – as in the best of the Platonic tradition. 20 This was undoubtedly one of their »offenen Flanken« : »Aufklärungen sind aggressiv«, 21 concluded Blumenberg. From this point of view, it is not surprising that the Enlightenments had »ihre Gegner«, 22 especially among those who were subjected to the derision of the ›enlightened process‹ and thereby assigned the status of ›barbarians‹. In the Enlightenment perspective, the nonenlightened is a barbarian who, despite a natural resistance to understand, must be guided to a recognizably higher form of mankind. Here it is possible to identify one of the fundamental and most problematic tendencies of the enlightened programs, what we might call »aufklärerische Mimikry« : Enlightenment as universalized mimesis produces In BMT IV Blumenberg has referred to the Voltaire-Shakespeare relation in these terms: »[…] gegen die Simplizität des Vernunftbegriffs seiner Aufklärung […]«. BMT IV –9–, DLA Marbach. 18 Hans Blumenberg, UNF –25–, DLA Marbach. 19 Hans Blumenberg, UNF –26–, DLA Marbach. 20 J. L. Villacañas, Blumenberg, lector de Kant, in: Ana María Andaluz Romanillos (ed.), Kant. Razón y experiencia, Salamanca: Universidad Pontificia de Salamanca 2005, pp. 461–477, here p. 465. 21 Enlightenments’ apparent tolerance and openness hide aggressiveness, like in Lessing’s case: »Allerdings, Lessing ist zwar der Prototip der Toleranz in der deutschen Aufklärung, aber auch er ist aggressiv, seine Polemik gegen die wirkliche oder vermutete Dunkelheit inmitten der Aufklärung grenzt an die physische Läsion.« Hans Blumenberg, UNF –26–, DLA Marbach. 22 »die Aufklärungen haben ihre Gegner«. Hans Blumenberg, UNF –26–, DLA Marbach. 17
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homogeneity by the systematic elimination of differences. It not only tries to elevate the barbarian to a recognizable form of mankind, but also to transform foreign subjects into disciplined and ultimately cooperating figures. Thus, the enlightener must be described as a violent actor, almost a kind of criminal or perpetrator, 23 and the Enlightenment as his crime. The process the enlightener starts and intends to safeguard unfolds as an unstoppable and inherent injustice, by which – under the pretence of distributing goods with prodigality – only evils are disseminated and extended: »Aufklärungen sind ungerecht«, 24 and this is another of their »offene Flanken«. And in addition, they are not only unfair, says Blumenberg, but also attack decency: »Die Aufklärungen sind schamverletzend.« 25 The well known »Arroganz der Aufklärer« and their ›unique pedagogical project‹ 26 define two more »offene Flanken«. Not surprisingly, Enlightenments tolerated hardly any »Umwege«, 27 preferring to maintain its course along straight roads. This is made clear not only by the spontaneous enlightened inclination towards ›pedagogical absolutism‹ 28 , and by an ever-renewed impatience with the slowness of reason, 29 but also by the specific difficulties in finding the appropriate rhetoric for the Enlightenment. 30 Enlightenments have troubles conceiving a persuasive rhetoric since they are essentially opposed to the very idea of it. They are dominated by a logic of certainty, just as their substance is a culture of certainty. In the choice between absolute or rhetorical rationality, 31 enlighteners usually opt for the former. We Hans Blumenberg, Der Theoretiker als Täter, in: Die Genesis der kopernikanischen Welt [1975], Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, here pp. 310–340. 24 Hans Blumenberg, UNF –25–, DLA Marbach. 25 Hans Blumenberg, UNF –27–, DLA Marbach. A good example has been offered by Blumenberg himself in his unpublished »Die nackte Wahrheit« apropos of the psychoanalysis Freud performed on himself, whose great discovery was his secret desire for his own mother, connected to the fact that when he was a child he saw her naked. See Hans Blumenberg, Die nackte Wahrheit, DNW –33–, DLA Marbach. 26 I take the expression from Villacañas, Blumenberg, lector de Kant (see note 20), p. 471. My translation. 27 Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß (see note 9), p. 137. 28 I take the expression from Villacañas, Blumenberg, lector de Kant (see note 20), p. 471. My translation. 29 Hans Blumenberg, Gleichgültig wann? Über Zeitindifferenz, in: the same, Die Verführbarkeit des Philosophen [2000], Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, pp. 9–17. 30 See Villacañas, Más dificultades con la Ilustración (see note 13). 31 Cantón, La metaforología de Blumenberg (see note 8), p. 258. 23
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might even recognize a principle of inverse proportionality: more Enlightenment, less rhetoric; and more rhetoric, less Enlightenment. Rhetoric, Blumenberg decried, »ist immer auch ein Stück der alten Magie«. 32 And finally, a certain enlightened pathos 33 might become recognizable in the blessed eyes of their well intentioned apostles. 34 But even here on the personal side, another philosophically relevant problem arises, the difficulty of the »Enttäuschung der Aufklärung« : Enlightenments have to digest and rework the »enttäuschten Erwartungen« of the enlighteners. 35 Even here we cannot be guided by optimism: From the opacity of the reasons for the failure of Enlightenments follows a similar difficulty in attributing a particular philosophical meaning to their disappointments, those that are largely and simply just our failures. Perhaps therein lies the final danger of Enlightenments.
A metaphorology for the Enlightenments’ difficulties With the war metaphor of »offene Flanken«, Blumenberg attempted a first and preliminary analysis of the Enlightenments’ most common difficulties. However, this was a metaphor completely foreign to the Enlightenment tradition. As is well known, the canonical metaphor of Enlightenment is the metaphor of light, closely related to both the classical enlightened rhetoric and the metaphysical metaphors of truth. In this sense, Blumenberg proposed »metaphorische Indikatoren für das Scheitern der Aufklärung«, 36 associated with the decline of the metaHans Blumenberg, BMT IV –8–, DLA Marbach. See also the same, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: the same, Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart: Reclam 1981, pp. 104–136. 33 I take the expression from Villacañas, Blumenberg, lector de Kant (see note 20), p. 465. My translation. 34 Hans Blumenberg, BMT IV –19–, DLA Marbach. 35 Hans Blumenberg, UNF –28–, DLA Marbach. See also the same, Die Enttäuschung des Aufklärers, UNF –88–, DLA Marbach. In the latter Blumenberg refers to the »Aufklärers« disillusion apropos an encounter of Wieland with Napoleon, in a similar sense to that of Goethe’s in Arbeit am Mythos [1979]. For the re-elaboration of Enlightenment deceptions from an astronoetic perspective see Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne (see note 11), here »Eine Akademie zur Verarbeitung von Enttäuschungen der Vernunft«, pp. 505–506. 36 Hans Blumenberg, BMT IV, DLA Marbach. 32
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phor of light in the enlightened tradition itself. Blumenberg has referred to this in another of his unpublished texts on the metaphor of light from a historical-philosophical perspective, in which he also recovered some of the main arguments of his famous foundational article on metaphorology. 37 This unpublished text belongs to a series of unfinished writings and miscellaneous working materials grouped under the generic title of Beobachtungen an Metaphern, 38 which Blumenberg devoted to various metaphorics as »Kritische Masse«, »der Eisberg«, »die Quellen«, »die Metaphern Schlaf und Weckung«, »Boden« or »Strom«. 39 The text I wish to take into account here is entitled »Beobachtungen an Metaphern IV«, abbreviated »BMT IV«, and begins: Es gehört zur Rhetorik der Aufklärung, dass sie sich der ältesten und verzweigtesten Metapher der Wahrheit bedient, der des Lichts. In Metaphysik und Mystik hatte diese den höchsten Rang der Geltung erreicht, indem sie letzte Instanzen des Unsagbaren noch darzustellen, letzte Fragen zu beruhigen vermochte. 40
From my point of view the connection between the foundational paper of metaphorology and the study of the enlightened metaphor par excellence is not accidental. This connection suggests that Blumenberg situated the metaphorological project from the very beginning within the Enlightenment tradition, and he did so in a decisive way. Blumenberg’s metaphorology, as I would like to argue, can be mobilized in order to clarify and eventually to help overcome the ambiguous and obscure failure of Enlightenments. The difficulties with the Enlightenments, expressed through their metaphorical indicators, suggest that it is precisely in metaphorology itself where the philosophical meaning of Hans Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung, Studium Generale 10 (1957), 432–447. 38 No doubt the starting point of this series of texts is his paper Beobachtungen an Metaphern, Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), 161–214. 39 See »Kritische Masse BMT«, »die Metaphern Schlaf und Weckung«, BMT III, »der Eisberg«, BMT V, »die Quellen«, BMT VI, »Strom«, BMT VII and »Boden«, BMT IX, DLA Marbach. BMT V, BMT VI and BMT VII have been edited by Ulrich von Bülow and Dorit Krusche in Blumenberg’s posthumous book Quellen, Ströme, Eisberge – Beobachtungen an Metaphern, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012. 40 Hans Blumenberg, BMT IV –1–, DLA Marbach. Blumenberg added on enlightened rhetoric: »Diese Rhetorik spricht eine Vertrautheit an, die sie der einzigartiegen neuen Instanz, der Vernunft, zugute bringen will. Diese Vernunft darf selbst das Absolute vertreten und daher sich an den rhetorischen Kühnheiten erproben […].« 37
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the enlightened projects’ failure should appear, a failure – as it seems according to this second approach – Blumenberg regarded as not yet sufficiently appreciated and comprehended. Thus, we can understand Blumenberg’s metaphorology as a hermeneutics of the difficulties with Enlightenment, insofar as the enlightened failure is still pending of Enlightenment. 41 That is to say: the Enlightenment’s enigma must be clarified by metaphorology. This is the interpretation I suggest from »Beobachtungen an Metaphern IV«. The failure of the Enlightenment, in short, requires a metaphorology of the Enlightenment’s difficulties. Although Blumenberg did not develop a proper metaphorology of enlightened failures in »Beobachtungen an Metaphern IV« he left some valuable insights on how this could be outlined by the study of language and metaphorical displacements. In this brief essay, Blumenberg addresses a myriad of authors, 42 many of them belonging to the decaying and diffusing phase of the modern Enlightenment. 43 Blumenberg stressed the historical transformation of the metaphor of light from the metaphysics of truth in the Greek context and as salvation experience in medieval Christian mysticism 44 to an ontology of reason in the modern age. The fundamental difference between the former and the latter is that the ›light of truth‹ or the ›light of salvation‹ was guaranteed as objective and transcendental, while the enlightened ›light of reason‹ was characterized by a constitutive contingency that made it vulnerable to more or less prolonged interruptions. In its strict immanence, not only the ›light of reason‹ could suffer occasional interruptions, but it was no longer possible to take for granted its ability to illuminate »alle neuen ›Verdunklungen‹« that might unexpectedly arise. In this sense, Blumenberg made reference to the later metamorphosis of the ›light of reason‹ metaphor to the discontinuous ›daylight‹ metaphor, 45 which allowed the resurgence of the everyday world from An extremely lucid analysis in this respect in Villacañas, Dificultades con la Ilustración (see note 13); see also his conference »Más dificultades con la Ilustración« (ibid.). 42 Among many others the following: Graf Moravitzky, Christoph Martin Wieland, Johann Georg Sulzer, Pierre Bayle, Fontenelle, Jacobi, Rousseau, Friedrich Melchior Grimm, Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Lessing, Antoine de Rivarol, Pascal, Fichte, Friedrich Nicolai, Johann Wilhelm Ritter et al. 43 See especially Hans Blumenberg, BMT IV 1–9, DLA Marbach. 44 On this topic see also Hans Blumenberg, Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie, PhD thesis, Kiel: Christian-AlbrechtsUniversität 1947, § 6. 45 »Das Weltverhältnis hatte die Selbstverständlichkeit verloren, die durch die Meta41
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complete darkness: »Hier lag alle Schwierigkeit, das Momentane und das Gesetzliche, die Punktualität und die Universalität, die Riesenarbeit der Epoche und den langmütigen Sinn der Geschichte zu vereinigen.« 46 Additionally, the transformation of the ›light of truth‹ as an ontological feature into simple ›daylight‹ as perception now also involved a psychological process: »›Aufklärung‹ war, nicht primär Licht auf die Sachen, sondern in die Köpfe fallen zu lassen.« 47 I do not intend to gloss Blumenberg’s essay. Here I merely want to point out that the contradictions of the enlightened project can be expressed and even clarified by its own metaphorical legacy. But if the solution to the enigma of the Enlightenment’s failure involves a metaphorology of its difficulties, what could this ultimately teach us? How can metaphorology help to clarify and even overcome the enduring enlightened failure? Is it possible to conceive – in addition to a metaphorology of Enlightenment’s difficulties – an enlightened metaphorology? In order to conceive metaphorology as Enlightenment, together with its difficulties and failures, I should preliminarily clarify the phenomenological legacy in Blumenberg’s metaphorology, and especially the ›Husserlian Enlightenment‹.
Phenomenological Enlightenment We may claim that Husserlian Enlightenment played exclusively in the domain of subjectivity or, more accurately, intersubjectivity, 48 as evidenced by Husserl’s early battle against psychologism and, more specifically, against the reduction of logic to psychology. From this point of view, Husserlian Enlightenment would consist essentially of
phorik des Tageslichts bezeichnet wird: in diesem Licht liegen die Gegenstände vor uns, aber es gibt ihnen keinerlei Bestimmtheit. Erleuchtung bedeutet hingegen ein Instrumentarium für die Erfassung der Welt, das sich in Prinzipien und Begriffen systematisch erschließen lässt. Das Tageslicht hat nichts von Bedürftigkeit, das der Illuminationen indiziert immer einen Mangel der menschlichen Vernunft, ihre Unfähigkeit, sich selbst die letzte Begründung ihrer Leistungen zuzutrauen.« Hans Blumenberg, BMT IV 1–9, DLA Marbach. 46 Hans Blumenberg, BMT IV –2–, DLA Marbach. 47 Hans Blumenberg, BMT IV –6–, DLA Marbach. 48 See for example Blumenberg’s analysis on the phenomenological cavern, Blumenberg, Höhlenausgänge (see note 1), p. 708. A
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trying to save the subject from its own psychological traps by accessing in a systematic, free and permanent way the transcendental order of human consciousness. In this way, Husserlian Enlightenment focused on safeguarding the transcendental subject from the dangers of individual psychology. In doing so, Husserl’s project implicitly engaged the myth of a fully realized rationalism, which in its most purified version would have fully overcome the original chaos of individual consciousness. Appealing to the formal structure of transcendental consciousness, the heroic subject of phenomenology was assumed to be able to correct any psychological anomaly by the methodological orthodoxy of phenomenology. Whereas individual psychology, succumbing to the subject’s strict spontaneity, would always constitute a sort of original psychopathology, the rationalism of transcendental phenomenology would allow overcoming fully the limits of any natural psychology. Without making recourse to the forms of religious transcendence, 49 phenomenological transcendence barely reached the human element. The enlightened dream of Husserlian phenomenology was then to create an egalitarian community of individuals who would and could participate together in the transcendental order, accessing it systematically and objectively, not merely accidentally or episodically. In this mysterious intersubjective space, the empirical subject, liberated from any personal facticities, would reach its own essence, previously hidden and lost in the labyrinths of personal psychology. In this sense, the Husserlian Enlightenment included a peculiar form of freedom and liberation.
The difficulties of Husserlian Enlightenment through its metaphors The main difficulty of phenomenology was that it became an endless task. And Husserl recognized himself that the project of a phenomenological Enlightenment found its failure in becoming an endless enOn the phenomenological »Kryptotheologie« see Hans Blumenberg, Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß, Stuttgart: Reclam 1997, here »Der verborgene Gott der Phänomenologie«, pp. 139–40; the same, Husserls Gott, in: the same, Beschreibung des Menschen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, pp. 378–453.
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deavour. In spite of this hard evidence, however, Husserl did not resign his efforts. Instead, he appealed to the hardly inspiring metaphorical order of the »Funktionäre der Menschheit«, 50 who would carry on these efforts until exhaustion, aware as he was of the fact that others would have to continue the endless phenomenological task. The appeal to »Funktionäre der Menschheit« was more than just a »metaphorischer Indikator« of a difficulty; it was also the strange symbol of the failure of the phenomenological Enlightenment itself. Even this, however, is not the metaphor or the difficulty I want to emphasize in this context, but a related one which is even more insidious, more twisted and perhaps less evident, and which emerged with Husserl’s attempts to capture phenomenologically the structure and dynamics of consciousness. While the aforementioned problem of phenomenology as an endless task has widely been accepted as the crisis of a specific school of thought, the difficulties linked to the phenomenological analysis of consciousness seem, rather, an obstacle shared by any form of Enlightenment: it is another of its open flanks. Here, Husserl’s metaphor of the »Strom« provides new insights. In »Beobachtungen an Metaphern VII«, Blumenberg has referred to the »Strom« as »die klassische Bewußtseinsmetapher der Phänomenologie«. 51 According to Blumenberg, the »Bewußtseinsstrom« and his variations such as »der Bewußtseinsfluß« or the »Erlebnisstrom« are the dominant metaphors of Husserlian phenomenology, 52 by which he demonstrated a remarkably spontaneous affinity with another metaphor, the »Heraklitischer Fluß von Phänomenen«. 53 It was assumed that the unitary flow of the world could be reduced to the unitary flow of consciousness. As if it was a kind of pre-established harmony, both Heraclitus’ river of the world and Husserl’s river of consciousness had in common the same essence, capable of being disclosed by the descrip50 Edmund Husserl, Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie, Haag: Martinus Nijhoff 1962, p. 15. 51 Hans Blumenberg, BMT VII –14–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 125. See also the same, Zu den Sachen und zurück [2002], Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, p. 12. 52 Hans Blumenberg, BMT VII –2b–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 108. See also the same, Beschreibung des Menschen (see note 49), p. 464. 53 Husserl’s expression quoted by Hans Blumenberg, BMT VII –3–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 114.
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tive task of phenomenology. If the river of Heraclitus was »eine universale synthetische Einheit«, 54 consciousness was synthetic and universal like the river, because »das Bewußtseinsleben ist im Fluß, und jedes cogito ist fließend«. 55 In order to see clearly in and through the stream of the world, the mystery of the synthetic unity of the consciousness-river had to be explained, to be traced to its »Urquell«. 56 In a certain sense, both rivers – the river of phenomena and the river of consciousness – were materially real. At least in principle, it seemed possible to swim in them safely. However, Heraclitus’ famous dictum predicted that no man ever stepped twice in the same river. This was undoubtedly a difficulty to be taken into account by phenomenology. As Moses did, the phenomenologist aspires to put on hold and split the rushing torrent of the water of consciousness, to open and provide a secure passage to the promised land of the transcendental subject, towards the »Urimpression« from the »transzendentalen Quelle«. 57 Blumenberg emphasized the excessive and misleading initial success of the stream metaphor, a metaphor that was to be modified and reworked in subsequent phases of phenomenology. 58 The ambivalence of the stream metaphor became particularly apparent with the question of time and its subjective consequences: 59 »Im Bewußtseinsstrom ist Erinnerung als Akt ein immer gegenwärtiges Erlebnis, aber die ›Erlebnisvergangenheit‹ des sich erinnernden Subjekts ist in ihrer transzen-
Hans Blumenberg, BMT VII –5–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 116. 55 Husserl, WW I 20, quoted by Hans Blumenberg, BMT VII –5–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 116. 56 Hans Blumenberg, BMT VII –11–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 122. 57 Hans Blumenberg, BMT VII –17a–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 131. 58 »die Vorphase metaphorischer Fruchtbarkeit voreilig verlassen«. Hans Blumenberg, BMT VII –2e–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 113. 59 Blumenberg himself has addressed the phenomenological analysis of consciousness time in BMT VII –12– and BMT VII –17a–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), pp. 122, 131; see also his Zur genetischen Phänomenologie der Weltzeit, in: the same, Lebenszeit und Weltzeit [1986], Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, pp. 295–312; the same, Zeitbewußtsein und humane Reflexion, in: the same, Beschreibung des Menschen (see note 49), pp. 146–243. 54
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dentalen Qualität problematisch.« 60 That is to say: one can never quite be sure whether memory represents the stream of consciousness adequately as once lived or whether it is a new experience of the subject in permanent escape from itself. Moreover, one of the greatest certainties of consciousness is that memory is unreliable. 61 This issue had for Husserl specific anti-narcissistic consequences: Ist aber Erinnerung nicht mehr eine Quelle apodiktischer Gewissheit für meine vergangenen cogitationes, dann darf ich nicht mehr von meinem unendlichen Strom des Lebens, nicht mehr von meinem vergangenen Ich und meinen vergangenen intentionalen Erlebnissen spreche; ich muss auch in dieser Hinsicht phänomenologische Reduktion walten lassen. 62
Hence the scandal of subjectivity. The continued loss of experiences was the most obvious and singular tragedy of a subject that constantly leaks and does not possess itself in its most intimate domains, but diffuses and expires over time. Ultimately, neither the river of world nor the river of consciousness were in possession of the subject; rather, they had to be considered as always already lost in their purity and strict immediacy. As with the river of world, it was also not possible to step twice into the same stream of consciousness, it was not feasible to stop the incessant stream of subjectivity. At the same time, it was doubtful whether phenomenology was actually able to tame the violent stream of the waters of consciousness, and to go up the river to the mythical sources of the self and the world. Against this endeavour stood the »psychologisches Faktum« of the »Diskontinuität zwischen jener strömenden Urgegenwart und jeder ihrer Vergangenheiten«. 63 The subject was not able to generate a unitary memory of its own past, and it was not phenomenology’s role to amend that situation. Because of pheHans Blumenberg, BMT VII –9–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 120. 61 »Nun gehört dies zu den besten Gewißheiten des Bewußtsein, dass, was auch immer Täuschung sein mag an meinen Erinnerungen, das erlebende Ich des Erinnerten in jedem Fall nur das meinige sein kann. Ob das aber genügt, diese formal erschlossene Ichidentität der Erinnerung, das ist das im metaphorischen Zerfall herausspringende Problem.« Hans Blumenberg, BMT VII –10–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 121. 62 Husserl, WW XI 366, quoted by Hans Blumenberg, BMT VII 9–10, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 120. 63 Hans Blumenberg, BMT VII –11–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 121. 60
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nomenology’s essentialism and its disinterest in retaining past experiences, oblivion became a dimension of the phenomenological Enlightenment. In addition, the metaphor of the stream of consciousness helped to solve neither the problem of the »fliessende Einheit des Bewusstseins« nor the »amorphe Struktur des Fliessenden«. 64 The metaphor was not able to resolve »die beiden grossen Sonderprobleme der Phänomenologie, Erinnerung und Fremderfahrung«,65 instead placing »diese Schwierigkeiten« into further relief. 66 The metaphor of the stream made it possible, of course, to describe in detail the subjective aspects of consciousness, but as a result it also obscured its formal, objective and structural dimensions. The metaphor of the stream was suitable to describe »das faktische mundane Ich«, but not the »transzendentale Subjektivität«. 67 Thus, through the metaphor of the stream the division of the subject with regard to both itself and to the memory of its past was exposed. Additionally, it showed the double character of mundane and transcendental consciousness. While mundane consciousness was fully submerged in the river of life, transcendental consciousness aspired to hold on to the formal structure from above the waters. From this ambiguity followed in a certain sense the second major phenomenological metaphor of consciousness, that of the ›horizon‹ – almost an antagonistic metaphor, in opposition to that of the stream. The metaphor of the ›horizon‹ allowed the consideration of »Gegenstände als Sinneinheiten«, 68 and it thus opened a new perspective on the problem of the constitution of time consciousness as well as offering an analysis
Hans Blumenberg, BMT VII –2e–, DLA Marbach; BMT VII –4–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), pp. 113, 115. 65 Hans Blumenberg, BMT VII –11–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 121. 66 Hans Blumenberg, BMT VII –2e–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 113. 67 »[…] bleibt doch ein anderer Aspekt, der die Strommetaphorik aktuell erhält: der des Verhältnisses von mundaner und transzendentaler Subjektivität. Das Bild des Stromes erlaubt, vorstellig zu machen, wie das faktische mundane Ich […].« Hans Blumenberg, BMT VII –17a–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 131. 68 Hans Blumenberg, BMT VII –5–, DLA Marbach. »Die Theorie fließt, ihre Gegenstände stehen«. BMT VII –3–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), pp. 114, 116.« 64
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of subjectivity. 69 The metaphor of the horizon thus presented itself as the great alternative for thematizing the static, formal and objective aspects of transcendental subjectivity. Blumenberg further identified here the »metaphorische Dilemma von ›Strom‹ und ›Horizont‹«. As »interferente Metaphern«, the stream and horizon metaphors introduced »ein ernstes Indiz für Schwierigkeiten«, 70 according to Blumenberg’s reconstruction. For Husserl, however, such a metaphorical dilemma of phenomenology did not exist, because he was convinced from the very beginning of the greater viability of the stream metaphor – a striking example of intellectual honesty, even though such a choice was clearly against the interests of his Enlightenment. According to Blumenberg, it was Heidegger who later adopted the metaphor of the horizon for conceptualizing the »Fundamentalstruktur des Daseins als Sorge«, 71 as static metaphysical unity in the form of the »In-der-Welt-sein«. 72 The spatial metaphor of the horizon was suitable not only for Heidegger’s existential analysis but also for his specific concept of time 73 and his understanding of being. In Heidegger’s preference »[…] Differenz der Zeitkonstitution durch den ekstatischen Horizont«. Hans Blumenberg, BMT VII –14–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 125. 70 Hans Blumenberg, BMT VII –15–; BMT VII –2b–; BMT VII –9–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), pp. 125, 108, 120. 71 Hans Blumenberg, BMT VII –15–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 125. 72 »Heideggers ›Bewußtsein‹ fließt nicht, es steht.« »Es steht auch nicht bei sich selbst und nicht über sich selbst gebeugt, es ist außer sich, wie es das im Immerschonsein bei dem, was es nicht selbst ist, der Welt, sich vorgegeben findet. […] Dieses Konzept des Bewußtseins als ekstatische Struktur ist unverkennbar gegen den phänomenologischen Schulbegriff des Bewußtseinsstroms gefunden und konfrontiert sich diesem gerade dadurch, dass es funktional dieselbe Stelle besetzt wie der die immanente Zeitkonstitution leistende Bewußtseinsstrom. Die Vorstellung der Ekstasis ist die genetische oder zumindest genetisch gemeinte Übersetzung des Horizontbegriffs, der ja keineswegs aufgegeben, sondern nur als ›Produkt‹ des Daseins als Sorge beschrieben werden soll. An der fundamentalontologischen Schlüsselfunktion des Horizontbegriffs ändert sich nichts, denn immerhin schließt der einzig vorliegende Teil von ›Sein und Zeit‹ mit der Frage: Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins? (438).« Hans Blumenberg, BMT VII –15–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 126. Blumenberg’s emphasis. 73 »Die Unausweichlichkeit, den Zeitbegriff in einer räumlichen Metaphorik aufzufassen, die ja auch in der des Stromes keineswegs vermieden wird, bekommt einen statischen Grundzug. Zeitlichkeit ist dann nichts anderes als derjenige Raum des Bewußtseins selbst, in welchem es außer sich sein kann, zumal sich vorweg, so dass die Richtung 69
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for the »Solidität« of the horizon metaphor, and not for the »Liquidität« of the stream metaphor, we recognize the distortion which prepared, in Heidegger’s thinking, the advent of ›Being‹ as parousia. It was due to the historical paradox of phenomenology, which can be linked to this metaphorical dilemma, that Husserl remained faithful to a mundane consciousness even though this contradicted the promise of freedom by his Enlightenment, while Heidegger – through the pretext of providing an account of the facticity and historicity of »Dasein« – chose precisely the alternate metaphor, the one more suitable for expressing the immutability of the transcendental subject, now in the form of the eternally delayed epiphany of Being. The stream metaphor did justice to the subject as pure psychology, despite Husserl’s Enlightenment ›essence‹ : the definitive overcoming of psychologism. With the metaphor of the horizon, Heidegger, on the other hand, secretly renewed the mythology of the transcendental subject and internalized – in his existential analysis – what can be described as the fundamental schizophrenia of phenomenology. A schizophrenia that was expressed by these two antagonistic absolute metaphors74 of stream and horizon for the phenomenology of consciousness; 75 an antagonism which Blumenberg described as explosive. 76 In Husserl’s preference for the metaphor of the stream we can localize a second, more subtle self-impugnment of the Husserlian Enlightenment, a self-impugnment produced from more deeply within phenomenology. The metaphor of the stream implied de facto the suspension of the normative ideal of a community of individuals, united in their illusion of participating collectively at the level of the transcendental subject. Considering the fluctuatio animi, the intrinsic difficulties of Husserlian Enlightenment in stabilizing memory and of securing the emergence of transcendental subjectivity from the impetuous torrent of individual subjectivity clearly become insurmountable. Pheseiner Bewegung im Horizont der Sorge als seine Entwerfung von Zeit benannt werden kann«. Hans Blumenberg, BMT VII –15–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 126. Blumenberg’s emphasis. 74 Blumenberg, Zu den Sachen und zurück (see note 51), p. 12. 75 For other phenomenological metaphors such as »Bewußtseinsinsel«, see Hans Blumenberg, BMT VII –5–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 117; on »die Metaphern Schlaf und Weckung«, see BMT III, DLA Marbach. 76 »An diesem Punkt explodiert die Metaphorik.« Hans Blumenberg, BMT VII –10–, DLA Marbach, and the same, Quellen, Ströme, Eisberge (see note 39), p. 120.
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Hans Blumenberg and the Metaphorology of Enlightenment
nomenology provides another, though more twisted, example of Enlightenment’s failure.
The open flanks of an enlightened metaphorology From our point of view, Blumenberg’s metaphorology as Enlightenment consists essentially of saving the horizons of meaning and avoiding their final collapse. Metaphorology could be described as method for revealing the more fundamental, though fragmentary, memory of the hidden course of meaning. Metaphorology demonstrates a particular suitability for reconstructing the latter through the historical transformations of some particularly outstanding key metaphors, because the history of metaphors reflects the »Metakinesen des geschichtlichen Sinnhorizontes« 77 and their corresponding thresholds governing these transformations. Metaphorology as a hermeneutics of the consciousness-life or hermeneutics of facticity reached human existence, considering the digressions and »Umwege« as a normative fact of consciousness and culture, as well as life itself as a source of meaning that should be saved from oblivion. However, Blumenberg reproduced in his analysis, in a certain sense, Husserl’s metaphorical-phenomenological dilemma in the dual conception of metaphorology as i) reconstruction of the »Metakinesen des geschichtlichen Sinnhorizontes«, i. e. as phenomenology of history, and ii) as hermeneutics of the life-world, being a chronicle of the stream of metaphors, anecdotes and »Umwege«. In the first case, metaphorology collects the historical trace of human freedom and thus turns into a ›hermeneutics of freedom‹ ; 78 in the second case, the metaphorology includes by itself an exercise of freedom: the ›freedom for digression‹ (»Freiheit der Abschweifung«). 79 Here we can identify an open flank of a metaphorological Enlightenment similar to the one ex-
Hans Blumenberg, Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls, Kiel: Christian-Albrechts-Universität 1950, p. 104; see also the same, Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, pp. 13 and 50: »der historische Wandel einer Metapher bringt die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte«. 78 Villacañas, Blumenberg, lector de Kant (see note 20), p. 476. 79 Hans Blumenberg, Nachdenklichkeit, Neue Zürcher Zeitung 273 (22. 11. 1980), p. 65. 77
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pressed in the duality of the metaphor of the horizon and the stream. Initially, Blumenberg opted clearly for the metaphor of the horizon, in particular in the early phase of his metaphorology but also in much of his later work as an historian of philosophy, especially when he mobilized metaphorology for approaching a theory of historical experience. 80 But Blumenberg’s œuvre in its entirety escapes, as is well known, any systematic form and is marked instead by both the unpredictable whim of its itineraries and the torrential quality of its writing. In addition, metaphorology as both phenomenology of history and hermeneutics of the life-world is related, in our opinion, to an aesthetic understanding of history as the place par excellence of freedom and humanity symbolically redeemed. Metaphorology as »Metakinesen des geschichtlichen Sinnhorizontes« involves an aesthetic understanding of history, which, paradoxically, only the hermeneutics of the life-world brought to its fullness – to the extent that its narrative and philosophical value became a form of pure enjoyment of sense. 81 The aesthetic dimension of Blumenberg’s writings on culture and his benevolent mystification of history become increasingly evident in his mature works, in his tenacious efforts to make each page a stylistic and semantic peak. The inevitable turn of metaphorology towards aesthetics represents yet another subtle self-impugnment of metaphorological Enlightenment. Here, in our view, another open flank of meta-
Metaphorology’s change towards a theory of experience was evident in Die Lesbarkeit der Welt [1981], where Blumenberg presented the book as »eine Metapher für das Ganze der Erfahrbarkeit«. In Blumenberg’s Nachlass, there is an administrative document related to his research activities in the Philosophisches Seminar at the Westfälische Wilhelms-Universität Münster, in the period 1979–1983. In this document Blumenberg referred to the evolution of his early metaphorology from a theory of concept formation in philosophy and history of science into a »Metaphorik der Erfahrung«. In this context we shall place his Schiffbruch mit Zuschauer [1979] as a »Daseinsmetaphorik«, together with his still unpublished »Die nackte Wahrheit« (DLA Marbach): »Neubearbeitung der in ›Paradigmen zu einer Metaphorologie‹ (Bonn 1960) zuerst entwickelten und in ›Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit‹ (1979) fortgeschriebenen Konzeption einer Theorie der Verwendung absoluter Metaphern bei der theoretischen Begriffsbildung in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Nach dem ersten 1979 abgeschlossenen Abschnitt ›Daseinsmetaphorik‹ ist 1981 der zweite Abschnitt ›Metaphorik der Erfahrung‹ abgeschlossen und publiziert, der dritte Abschnitt ›Wahrheitsmetaphorik‹ eingeleitet worden.« WWU 4468, DLA Marbach. On the matter of experience see also his Metaphorologica minora, DLA Marbach. 81 No doubt the emblematic case is Die Sorge geht über den Fluß (see note 9). 80
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Hans Blumenberg and the Metaphorology of Enlightenment
phorological Enlightenment is embodied. One may therefore wonder whether these open flanks of metaphorological Enlightenment are the endless beginnings of ever greater difficulties or the first signs of a dialectic of metaphorological Enlightenment.
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Wissenschaftsgeschichte zwischen Anthropologie und Ideengeschichte
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Geschichte(n) der Paläoanthropologie*
Fast 1 000 Seiten umfasst die Beschreibung des Menschen, 1 die ausführlichste Darstellung der Anthropologie von Hans Blumenberg, die 2006 aus dem Nachlass herausgegeben wurde. Die Anthropologie, an der Blumenberg sein ganzes akademisches Leben gearbeitet hat, steht dort allerdings in einem größeren Zusammenhang: Sie dient der Kritik an der Phänomenologie Edmund Husserls. Husserl, so Blumenbergs These, ist mit seiner Konzeption der Phänomenologie in grundsätzliche Schwierigkeiten geraten, weil er glaubte, auf eine Anthropologie nicht nur verzichten zu können, sondern sogar verzichten zu müssen. Das Wesen von Bewusstsein überhaupt und damit von Intentionalität und Vernunft – also das Hauptthema der Phänomenologie – kann, so Husserls Credo, unabhängig von den Kontingenzen der spezifischen Organausstattung des Menschen und damit unabhängig von der Anthropologie bestimmt werden. Mein Thema im Folgenden ist aber nicht die Unverzichtbarkeit der Anthropologie für die Phänomenologie, sondern ein Ausschnitt aus Blumenbergs Anthropologie, und zwar seine Diskussion der Paläoanthropologie. Diese ist nämlich nicht, wie es leicht den Anschein haben könnte, eine bloße Marginalie, sondern Fundament für Blumenbergs Anthropologie wie für seine Philosophie insgesamt.
Transformation der Anthropologie Warum ist die Paläoanthropologie so wichtig für Blumenbergs Konzeption der Anthropologie? Weil er dort findet, was er braucht, um * Aus gegebenem Anlass möchte ich Manfred Sommer danken, der, wie so häufig, eine frühere Fassung des Textes gelesen und mit Kommentaren versehen hat. 1 Hans Blumenberg, Die Beschreibung des Menschen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006 (die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Seitenzahlen in diesem Text). A
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nicht nur, destruktiv, bei einer Kritik der traditionellen Anthropologie zu verweilen, sondern auch, positiv, eine Alternative zu ihr zu präsentieren. Zur traditionellen Grundfrage der Anthropologie »Was ist der Mensch?« gehört ein bestimmter Typus von Antworten, in denen das Wesen des Menschen nach dem Muster einer Verbindung von genus proximum und differentia specifica bestimmt wurde, also einerseits als zur Gattung der Tiere gehörig, andererseits aber durch eine bestimmte Eigenschaft von ihnen unterschieden. Die anthropologischen Bemühungen weichen voneinander u. a. durch die Auswahl der Eigenschaft ab, die zur Spezifizierung des Menschen jeweils herangezogen wird. Blumenberg erwähnt – neben der klassischen Bestimmung als animal rationale und Platons ironischer Charakterisierung des Menschen als zweibeiniges ungefiedertes Tier, die auf einer Verwechslung des Wesentlichen mit etwas Spezifischem beruht – u. a. das Lachen, Weinen, Schwindeln, Tauschen, Versprechen, Reden, Verheimlichen, Neinsagen, Trostsuchen, Sichlangweilen, Sich-an-alles-Gewöhnen, Sichselbst-Verstehen, Werkzeugherstellen, Aufrechtgehen, den Neid, die Astronomiefähigkeit und den organologischen Dilettantismus als Eigenschaften, die herangezogen wurden, um das Spezifische oder das Wesentliche des Menschen zu bestimmen. Blumenberg hält all diese Bestimmungen zwar nicht für falsch, er hält die traditionelle Anthropologie aber für unzulänglich, weil sie die spezifische Differenz, vor allem die Vernunft, mit der Gattungsbestimmung des Menschen als Lebewesen nur additiv und kontingent verbinden kann (S. 475 f.). Er dagegen möchte die Existenz von Vernunft aus der organischen Verfassung des Menschen erklären. Vernunft ist zwar auch für ihn das menschliche Vermögen, auf das verwiesen werden muss, wenn die anthropologische Grundfrage beantwortet werden soll. Diese lautet nun aber nicht mehr: »Was ist der Mensch?«, sondern »Wie ist der Mensch möglich?« (S. 535 f.). Vernunft ist aus dieser neuen anthropologischen Perspektive nicht mehr eine unerklärte Zutat zu einem Lebewesen, das durch sie erst zum Menschen wird, sondern das Vermögen der Distanz zur Natur durch Kultur, ohne welche das Mängelwesen Mensch nicht überleben und sich erhalten kann. Vernunft ist, einerseits und primär, die lebensnotwendige Kompensation der tierlichen Spezialisierung, Instinktausstattung und Einbettung in den Mechanismus von Reiz und Reaktion, die Menschen weitgehend fehlen (S. 552), andererseits und sekundär aber auch das Reservoir für den
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Reichtum von Kulturleistungen, die nicht direkt der Selbsterhaltung dienen und schließlich sogar zur Selbstvernichtung taugen. Blumenbergs Grund für die Neufassung der anthropologischen Frage ist also seine Überzeugung, dass der Mensch auf einzigartige Weise »ein riskantes Lebewesen« ist, »das sich selbst mißlingen kann« (S. 550). Und der Zweck seines Exkurses in die Paläoanthropologie besteht darin, eine Antwort auf die anthropologische Grundfrage zu finden, wieso die zahlreichen Vor- und Frühmenschen vom australopithecus africanus über den werkzeugbenutzenden homo rudolfensis bis zum homo sapiens, homo erectus und Neandertaler ausgestorben sind, wir dagegen immer noch leben.
Vor oder nach der Spezialisierung: Zwei Arten von Theorien Vor allem zwei Gruppen von Theorien finden Blumenbergs Interesse. Beide erheben den Anspruch zu erklären, »wie es inmitten spezialisierter und an Umwelten angepaßter Primatenformen zu dem unspezialisierten und von Anpassungen weitgehend entblößten Typus der Vorform der Entwicklung zum Menschen kommen konnte« (S. 571). Als unspezialisierte Lebewesen sind wir vom Reflexbogen befreit und müssen uns sozusagen selber zu situationsangemessenem Verhalten spezialisieren. Notwendig dafür sind die vernünftigen Leistungen der Präsumtion, Antizipation, Prävention – alles Leistungen, die Blumenberg zufolge die Sicherheit des Reflexbogens (S. 554 f., S. 563) kompensieren und Begriffe (S. 562) involvieren als Fähigkeit, Abwesendes in einer bestimmten Weise anwesend zu machen. Nach Blumenberg gibt es genau zwei Arten von Theorien zur menschlichen Phylogenese und er vermutet, dass es auch gar nicht mehr geben kann (S. 571). Das lässt sich so erklären: Sofern zwei Arten von Lebewesen, von denen die einen sich aus den anderen entwickelt haben, sich dadurch unterscheiden, dass die Exemplare der früheren Art spezialisiert sind, die der neuen Art dagegen nicht, scheint es genau zwei Erklärungsansätze zu geben. Entweder die unspezialisierte Art hat ihre vorherige Spezialisierung verloren oder sie ist auf dem üblichen Weg zur Spezialisierung stehengeblieben. Beide Erklärungsmuster sind in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts auch vertreten worden (S. 571 ff.). A
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Auf der einen Seite sieht Blumenberg diejenigen, die – mit unterschiedlichen Erklärungen – der Auffassung sind, der Mensch sei dadurch entstanden, dass die normale tierliche Entwicklung auf einer primitiven Stufe der Ontogenese zum Stillstand gekommen sei. Hätte er sich weiterentwickelt, wäre er – wie die anderen Tiere – Instinktwesen mit Spezialisierung geworden. Otto H. Schindewolf hat in seinen Beiträgen »Entwurf einer Systematik der Perisphincten« von 1925 und »Das Problem der Menschwerdung. Ein paläoontologischer Lösungsversuch« von 1928 seinen Ansatz auf den Begriff der »Proterogenese« gebracht und damit sozusagen eine Umkehrung des Haeckelschen biogenetischen Gesetzes in Erwägung gezogen. 2 Er hält es für möglich, dass intra-uterine embryonale Stadien gleichsam verlängert und in die extra-uterine Phase verschoben werden. Die Fähigkeit zur Aufzucht von Frühgeburten wird stabilisiert, die Altersstadien werden verdrängt. Der holländische Anatom Louis Bolk vertritt in seinem Buch Das Problem der Menschwerdung von 1926 eine ähnliche These unter dem Stichwort der »Neotenie«. 3 Allerdings geht Bolk nicht von einer Verdrängung der Altersstufen durch Stabilisierung von Frühformen, sondern von einer Entwicklungshemmung aus. Arnold Gehlen hat den Prozess als »Retardation« bezeichnet und auf Veränderungen im endokrinen System zurückgeführt (S. 574 f.). Dass Blumenberg für seinen eigenen Zugang zur Anthropologie nicht auf diese Gruppe von Theorien zurückgreift, liegt daran, dass er in ihnen die wichtige Frage nach dem Ursprung des aufrechten Ganges, der Bipedie, vermisst (S. 575). Aus diesem Grund zieht er die zweite Theorie als die »leistungsfähigere« vor (S. 575), nämlich die Fluchttiertheorie, die Paul Alsberg in seinem Buch Das Menschheitsrätsel von 1922 entwickelt hat. 4 Zu diesem Lob der Leistungsfähigkeit will allerdings nicht so recht passen, dass er später Alsberg gerade dafür kritisiert, dass er zuviel auf einmal erklären will: sowohl das menschliche Vermögen der Distanz als auch den aufrechten Gang. Für Alsberg ist die mangelnde natürliche Spezialisierung des Menschen nicht durch das Anhalten auf einer noch unspezialisierten Stufe der Ontogenese 2 Otto H. Schindewolf, Entwurf einer Systematik der Perisphincten, Neues Jahrbuch für Mineralogie, Supplement 52 (1925), 309–343; derselbe, Das Problem der Menschwerdung. Ein paläoontologischer Lösungsversuch, Jahrbuch der Preußischen Geologischen Landesanstalten 49/II (1928), 716–766. 3 Louis Bolk, Das Problem der Menschwerdung, Jena: Fischer 1926. 4 Paul Alsberg, Das Menschheitsrätsel, Dresden: Sibyllen-Verlag 1922.
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zu erklären, sondern durch den Schwund bereits vorliegender Spezifikationen, die funktionslos geworden sind. Schindewolf und Bolk zufolge sind wir also Wesen, die gar nicht erst zur Spezialisierung gelangen, nach Alsberg dagegen sind wir Wesen, die ihre Spezialisierung verloren haben.
Alsbergs Urszene: Der Steinwurf – Distanz und aufrechter Gang Was Blumenberg an der Theorie Alsbergs anscheinend besonders fasziniert, ist dessen Fiktion einer Urszene, die zwar nicht die Genese des Menschen, wohl aber die Genese des »Prinzips« der Menschwerdung »mit einem Schlag« (S. 581) erklären soll. Zusammengefasst und mit eigenen Kommentaren versehen stellt Blumenberg die im Tertiär angesiedelte Urszene Alsbergs folgendermaßen dar: Unser fiktiver Vorfahre, der Pithekanthropogeneus, der menschenähnlichste Affe, war ein vierfüßiges Fluchttier und ein knuckle-walker, der auf dem Handrücken lief und so die Handinnenflächen frei hatte, zum Beispiel zum Transport von Nahrung. Als Fluchttier hatte der knuckle-walker die Fähigkeit zum Nahkampf verloren. Was also sollte er tun, wenn er – so der Beginn der Urszene – in eine Sackgasse gerät, aus der keine Flucht vor dem Verfolger mehr möglich ist. In Alsbergs Urszene sieht unser Ahne in diesem Moment einen Stein, dreht sich um, richtet sich auf und schleudert ihn auf den Angreifer. Insofern war es »die Hand«, die »den Menschen zum Menschen gemacht hat« 5 bei »selektive[r] Begünstigung des Stützfußes gegenüber dem Lauffuß« (S. 579). Die Grundleistung des Fluchttiers, Distanz zu einem Angreifer zu gewinnen, wird auf neue Weise erbracht: Nicht mehr durch eigene Fortbewegung, sondern durch den Wurf als einem anderen Weg der Prävention des Nahkampfes wird der unmittelbare, gefährliche Körperkontakt mit dem Gegner vermieden. An die Stelle des Nahkampfs tritt bei diesem Fluchttier nun nicht die Flucht, sondern das Kampfprinzip in der Form der actio per distans. In genau dieser Aktion sieht Alsberg die Genese des Menschheitsprinzips: in der Gewinnung der Distanz, durch die die Wirklichkeit im wörtlichen Sinne vom Leibe gehalten wird (S. 578 f., S. 570). Morphologisch ist dieser Schritt zur Menschwerdung aller5
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dings nicht nachweisbar. Die entsprechenden morphologischen Veränderungen für den dauerhaften aufrechten Gang und seine Konsequenzen sind vielmehr erst Folge dieses Prinzips. Daher können fossile Funde allein auch keine Auskunft über das Noch-Tier- oder Schon-Mensch-Rätsel geben (S. 581).
Blumenbergs Urszenen: 1. Biotopwechsel (Aufrechter Gang) und 2. Steinwurf (Distanz) Blumenberg macht sich anscheinend, trotz seiner Kritik an Alsberg, auf die ich gleich kurz eingehen werde, dessen »Menschheitsprinzip« partiell zu eigen. Der Kern seiner Anthropologie besteht darin, das vielfältige Spektrum menschlicher Leistungen aus der Perspektive dieses »Menschheitsprinzips«, also mit Blick auf die Distanzgewinnung und Körperausschaltung zu betrachten. »Körperausschaltung« ist ein Ausdruck von Alsberg, mit dem dieser darauf hinweist, dass wir »kulturelle Puffer« zwischen unseren Leib und die Realität stellen. Im Einzelnen versucht Blumenberg zu zeigen, auf welche Weise menschliche Grundphänomene – von der Erinnerung über Delegationen in den Formen von Trost, Staaten und anderen Institutionen bis hin zu modernen Kriegstechniken – durch räumliche, aber auch zeitliche Distanz und speziell durch actiones per distans konstituiert sind. Eine Voraussetzung für solche konkreten distanzkonstituierten Grundphänomene, die nicht die Totalität menschlicher Ausrichtung auf die Welt umfassen – Phänomene der Nähe und des Körpereinsatzes können ja nicht ernsthaft geleugnet werden –, sind zwei fundamentale Formen von Distanz, die das gesamte Welt- und Selbstverhältnis des Menschen begründen. Blumenberg stützt sich hier auf Theorien der Intentionalität und Reflexivität, wie sie in der Phänomenologie Husserls entwickelt wurden, aber auch von vielen gegenwärtigen Philosophen vertreten werden. Distanz ist dabei sozusagen in beiden Richtungen von Belang: Zum einen eine Distanz zu uns selber, die uns als mit implizitem Selbstbewusstsein begabte, reflexive Wesen von unseren Vorfahren unterscheidet und explizite Reflexion erst möglich macht. Ein wesentlicher Teil der kritischen anthropologischen Ergänzung, die Blumenberg an Husserls Theorie der Reflexion vornimmt, besteht darin, Situationen vor Augen zu führen, in denen reflexive Fähigkeiten evolutionär vorteilhaft sein mussten. Die Szene, in der unser Vorfahre 116
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aufgerichtet in der offenen Savanne stand und dort, anders als ehedem im Dschungel, fremden Blicken ausgesetzt war, ist ein wichtiger Teil der beiden Urszenen, an denen Blumenberg seine Anthropologie orientiert. In einer solchen exponierten Situation des aufrechten Ganges, so seine These, hatten die Lebewesen einen evolutionären Vorteil, die über ein implizites Selbstbewusstsein und damit über die Möglichkeit zur Reflexion verfügten. Visibilität nämlich, also das Bewusstsein davon, nicht nur zu sehen, sondern auch gesehen zu werden, ist eine Variante dieser inneren Distanz, die Lebewesen zu sich selber einnehmen, wenn sie ein Bewusstsein ihres Bewusstseins haben (S. 603, S. 657–895). Zum anderen haben wir auch eine Distanz zur Wirklichkeit außer uns entwickelt. Nicht nur werden die äußeren Gefahren der Natur durch Zwischenschaltung von Kultur – wie durch den Steinwurf – gebannt. Jede intentionale Bezugnahme auf sie ist kulturell vermittelt – von der Zeigegeste bis zu Abbildungen und Sprache und dank ihrer auch der bloße Blick. Distanz und Entspezialisierung kommt in beidem, im intentionalen Bewusstsein wie im reflexiven Selbstbewusstsein, auch dadurch ins Spiel, dass sie ein Durchtrennen der Reiz-ReaktionsKette voraussetzen, in die andere Tiere mehr oder weniger eingebunden sind (S. 554, S. 563, S. 559). Es ist hier, wie auch in anderen Schriften Blumenbergs, nicht so leicht festzustellen, wo er lediglich darstellt und referiert und wo eigene Stellungnahmen einfließen. Einerseits, so haben wir gesehen, gibt er der Theorie Alsbergs Vorrang vor der Alternative von Bolk und Schindewolf, weil diese den aufrechten Gang und die Distanz als anthropologische Grundphänomene nicht erklären. Andererseits sieht er »die neuere theoretische Entwicklung des halben Jahrhunderts seit Alsbergs Buch wohl als weiterführend« (S. 579) an, weil sie den aufrechten Gang (zusammen mit der wurffähigen Hand) nicht mehr monofaktoriell nur durch die Notwendigkeit der Selbstverteidigung durch den Steinwurf erklären. Doch er erwähnt nur die in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts fallenden Arbeiten des holländischen Gynäkologen Klaas de Snoo, der auf den selektiven Vorteil des aufrechten Ganges für den Geburtsvorgang hingewiesen hat (S. 579 f.). 6 Einerseits also sieht Blumenberg in dem monofaktoriellen Ansatz 6 Klaas de Snoo, Das Problem der Menschwerdung im Lichte der vergleichenden Geburtshilfe, Jena: Fischer 1942.
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Alsbergs – trotz der Überlastung durch zwei heterogene Erklärungsprojekte, nämlich Genese des aufrechten Ganges plus Genese des »Menschheitsprinzips« der Distanzgewinnung und Körperausschaltung – einen Vorteil, weil er gemäß der wissenschaftlichen Tugend der Ökonomie mit möglichst wenig Voraussetzungen für ihre Erklärungen auskommt. Andererseits sieht er in Alsbergs Urszene aber auch den Nachteil, dass sie etliche Fragen offen lassen muss, weil andere Theorien und Fakten – Blumenberg verrät allerdings nicht, welche – nicht einbezogen werden. Zu den offenen Fragen zählt er die nach dem Ort der Urszene: Wenn sie noch auf dem Erdboden des Urwalds stattfand, hätte es keine ausweglose Sackgasse gegeben, der Weg auf die Bäume wäre ja frei gewesen. Wenn sie in offenem Gelände stattfand, also bereits nach dem Biotopwechsel vom Regenwald in die Savanne, hätte der aufrechte Gang schon vor dem Steinwurf wegen der Notwendigkeit der räumlichen Orientierung und der Chancen stereoskopischen Sehens als selektiver Vorteil entstehen können (S. 586). Ein Versuch, mit Hilfe der verstreuten Winke und Andeutungen Blumenbergs seine eigenen Vorstellungen einer Urszene zu rekonstruieren, gibt ungefähr folgendes zweigeteilte Bild: Der aufrechte Gang ist bereits durch den klimatisch bedingten Biotopwechsel vom schrumpfenden Regenwald zur Savanne als evolutionär vorteilhaft entstanden (S. 557 f.). Damit wird die Erklärung der Genese des aufrechten Ganges – deretwegen Blumenberg ja Alsberg den konkurrierenden Autoren vorgezogen hat – getrennt von der Erklärung der Genese des »Menschheitsprinzips« praktischer Distanzgewinnung und Körperausschaltung durch den Steinwurf. Zugleich wird sie verbunden mit einer ersten Form von theoretischer Distanz, der Reflexivität, die in Gestalt der Visibilität, des Bewusstseins davon, gesehen zu werden, die Überlebenschancen der Aufrechten erhöhen soll. Durch eine eigenständige Erklärung des aufrechten Ganges, so Blumenberg, werde die Erklärungsüberlast der Urszene und weitere Unplausibilitäten vermieden. Aber auch dieses um die Erklärung des aufrechten Ganges entlastete Urszenario greift, wie Blumenberg betont, auf eine Reihe von Leistungen zurück, die nur erklärt werden können, wenn eine bestimmte endogene und autonome Gehirnentwicklung vorausgesetzt wird, in der die alten, für unwillkürlich-instinktives Verhalten zuständigen Hirnregionen sich ins Innere des Gehirns zurückgezogen haben, die archaischen Geruchs- und Geschmackssinne zurückentwickelt wurden und die Entwicklung des Neocortex mit den modernen Fernsinnen 118
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an Bedeutung gewonnen haben. Blumenberg diskutiert diesen Vorgang unter den Titeln »Introversion und Promination«, die den Schriften von Hugo Spatz entstammen (S. 540 ff., S. 557). 7 Dieser hatte, was Blumenberg wohl noch nicht wissen konnte, seine Erkenntnisse Anfang der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts als Direktor des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung u. a. anhand der Untersuchung der Gehirne von Opfern der Euthanasiemorde gewonnen. Nur auf der Basis solcher neozerebraler »Leistungsreserven« werden die Wahrnehmung des Steines als Zeug und die minimale Freiheit des Wurfes verständlich, weiter die Fähigkeiten zur Erinnerung und zur abstrahierenden Erfassung von Ähnlichkeiten in Situationen – auch eine Form der actio per distans – als Voraussetzung für die Fähigkeit, zu lernen und den gelernten Steinwurf an andere zu tradieren. Erst die Institutionalisierung des Steinwurfs unterscheidet unseren Vorfahren von anderen Hominiden (S. 576, S. 587). Zum einen muss Blumenberg also für seine zweite Urszene die Annahme einer solchen Leistungsreserve in Anspruch nehmen: Für die Reaktion unseres Vorfahren, der in eine Sackgasse gerät, den Steinwurf auf seinen Verfolger erfindet, sich darin übt und das erworbene Know-how an seine Artgenossen weitergibt. Zum anderen greift er auf die Existenz einer solchen Leistungsreserve (S. 557) aber auch bei der Darstellung seiner ersten Urszene zurück. Mit dem Biotopwechsel vom Regenwald zur Savanne wird nämlich nicht nur der aufrechte Gang entwickelt. Es entstehen ebenfalls sowohl Reflexivität als basale theoretische Selbstdistanz in Form der Visibilität als auch theoretische Intentionalität als eine erste Form kognitiver Weltdistanz in Gestalt der für aufrecht gehende Zweifüßler vorteilhaften und bereits angelegten perspektivischen Wahrnehmung (S. 563). Diese überschreitet bereits die Beschränktheit der distanzlosen Unmittelbarkeit sensorischer Reizwahrnehmung und die damit einhergehende Spezialisierung (S. 542, S. 554 f.). Blumenbergs zweite Urszene, die der um die Erklärung des aufrechten Ganges reduzierten Urszene Alsbergs entspricht, hätte Hugo Spatz, Vergangenheit und Zukunft des Menschenhirns, Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (1964), 228–242. Voraussetzung für die Selbstaufrichtung ist der von Spatz »Introversion und Promination« genannte Rückgang des Paläocortex mit der »Zurückdrängung der Geruchsfunktion«; zudem wird »das Riechorgan […] durch das Vorrücken der Augen zum perspektivischen Sehen eingeengt, d. h. die Optik muß schon ›Vorsprung‹ haben, bevor die Aufrichtung beginnt.« Blumenberg, Beschreibung des Menschen (wie Anm. 1), S. 542.
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dann sozusagen noch eine Form praktischer Distanz, die actio per distans des Steinwurfs zu erklären. Die Möglichkeit zu einer solchen Handlung auf Distanz ist aber schon angelegt, wenn erst einmal – wie in der perspektivischen Wahrnehmung – die Unmittelbarkeit des ReizReaktions-Schemas und die dazugehörige Spezialisierung aufgegeben wurde. In einer solchen Reduktion des komplexen und komplizierten Vorgangs der Anthropogenese auf zwei Urszenen bleiben freilich all die Probleme weitgehend ausgeblendet, die sich stellen, wenn die bei der Anthropogenese zusammenwirkenden Faktoren wie die Gehirnentwicklung, die Morphologie und Endokrinologie und die korrespondierenden mentalen, leiblichen und körperlichen Fähigkeiten zusammen mit Faktoren der Umwelt in einen chronologischen und kausalen Zusammenhang gebracht werden sollen.
Narrativität in der Wissenschaft(sgeschichte) In dem nun folgenden abschließenden Teil möchte ich überlegen, ob es eine Rechtfertigung dafür geben könnte, dass Blumenberg sich fast ausschließlich auf paläoanthropologische Literatur aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts beschränkt, die anscheinend veraltet ist. Dabei werde ich zeigen, wie die wenigen methodischen Bemerkungen, die er in seine Ausgestaltung der Urszenen einfließen lässt, sich einfügen in seine allgemeine »Theorie der Unbegrifflichkeit« und welche Perspektive diese für die Rolle von Narrativität in der Wissenschaftsgeschichte eröffnet. An Blumenbergs Auswahl paläoanthropologischer Texte fällt auf, dass die zentralen Werke, auf die er sich stützt, aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts stammen. Er hätte, als er in den 1960er Jahren mit seiner Arbeit an der Anthropologie begann, bereits aktuellere Literatur zur Verfügung gehabt. Erst recht hätte er in seiner späteren Arbeit neuere Literatur berücksichtigen können. Arnold Gehlen, dessen Konzeption des instinktreduzierten Mängelwesens für ihn wichtig ist, ist ja kein Paläoanthropologe. Warum also benutzt er jahrzehntealte Texte? Und könnten seine Überlegungen im Anschluss an diese Texte durch neue Funde und Theorien veraltet sein? Es scheint drei Eigenschaften dieser älteren Texte zu geben, die ihre Bevorzugung gegenüber neuerer Forschungsliteratur legitimieren könnten: ihre re120
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flektierte Narrativität, ihre phänomenologische Differenziertheit und der Versuch, eine Gesamtperspektive auf den Menschen zu gewinnen, die seine körperlichen, leiblichen, mentalen und aktiven Eigenschaften zu integrieren vermag. Drei Grundfragen der Wissenschaft hat auch die Anthropologie nach Blumenberg zu beantworten: 1. »Was war es, was wir hatten wissen wollen?«, 2. »Was ist es, was wir wissen können?«, 3. »Was tun wir, wo wir auf Wissen verzichtet haben oder noch verzichten müssen?« (S. 482). – Sowohl die Urszene, die Alsberg entworfen hat, als auch Blumenbergs eigene beiden Alternativen dazu erfüllen offensichtlich die Funktion, Lücken im Wissen zu schließen. Isolierte Wissensfragmente werden dabei so in einen Zusammenhang gebracht, dass ein Teil der Anthropogenese verständlich wird. Die Urszenen geben also eine Antwort auf die dritte Frage, was wir in den Bereichen tun können oder tun sollten, in denen wir »fast gar nichts wissen und vielleicht auch künftig fast nichts wissen werden« (S. 575). Blumenberg sagt zwar nicht, wen er für disziplinär zuständig für die lückenfüllende Narration hält. Ist es die Aufgabe der Paläoanthropologie? Ist es eine Aufgabe der Philosophie, die dann mehr sein muss als bloßer »Erinnerungsposten« (S. 481) für Restfragen, die die Wissenschaft behindern können? Sie müsste dann auch zuständig sein dafür, auf solche Restfragen sinnvolle Antworten zu geben. Oder sollte es ein disziplinenübergreifendes kooperatives Unternehmen sein? Aus dem, was Blumenberg tut – aus seiner Darstellung der Urszene des Paläoanthropologen Alsberg und aus seiner philosophischen Korrektur dieser Urszene –, wird klar, dass er wohl alle drei Varianten für legitim hält. Blumenberg unterscheidet, in positivistischer Manier, zwischen den Fakten – den fossilen Funden und dem, was ihre morphologischen und genetischen Analysen an Ergebnissen liefern – und dem, was über diese hinaus an Behauptungen auf- oder an Vermutungen angestellt wird. Dabei kommt ihm nicht in den Sinn, dass eine Vielfalt wissenschaftlicher Normen und Praktiken eine Rolle für das spielt, was durch sie als Faktum und als wissenschaftlich relevantes Faktum gilt. Was in den Urszenen über die bloßen Fakten hinausgeht, ist nicht eine wissenschaftliche Hypothese oder Theorie, sondern eine Narration. Diese unterscheidet sich von jenen dadurch, dass sie vermutlich niemals verifizierbar oder falsifizierbar sein wird. Ausdrücklich weist Blumenberg darauf hin, dass der, der »den Positivismus bevorzugt«, zwar »ärmlich lebt«, »gefährlich« aber, »wer sich von ihm entfernt« (S. 481). Dass er A
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sich selber vom Positivismus entfernt, kann nun aber nicht als Ermunterung verstanden werden, sich ruhig in Gefahr zu begeben. Gefährlich wird es, so muss man ihn wohl verstehen, nur dann, wenn man Behauptungen, die über Fakten und wissenschaftliche Hypothesen hinausgehen, den Status von Wissen verleiht. Doch wenn wir eingestehen, kein Wissen zu haben, haben wir die Lizenz, von der er selber auch Gebrauch macht, auf »unbegrifflichen«, metaphorischen, mythischen, narrativen Wegen zu wandeln. Es ist gerechtfertigt durch das Bedürfnis der Vernunft nach Sinn und Totalität des Verstehens, das nur partiell durch die traditionelle Metaphysik erfüllt wird, die der Ergänzung oder sogar der Ersetzung durch narrative Verfahren bedarf. Eine solche Einschätzung scheint auch dem Selbstverständnis zumindest einiger Naturwissenschaftler zu entsprechen. Alsberg hat die fiktive Urszene des Steinwerfers erfunden, der Tübinger Archäologe Nicholas Conard hat mit dem Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer zusammen das Buch »Venus aus dem Eis« verfasst, in dem sie versuchen, den Zusammenhang von drei Ereignissen – die Genese des homo sapiens, das Ende der Neandertaler und die Entstehung der Kunst – auf eine literarische Weise verständlich zu machen. 8 Sie erzählen die fiktive Geschichte von Khar, einer jungen Neandertalerin, die an eine homo-sapiens-Gruppe gerät, von ihnen lernt und schließlich zur Erfinderin von Kunst wird, indem sie aus dem Stück Stein, das sie stets bei sich trägt, eine üppige Frauenfigur formt und andere ebenfalls zum Schnitzen animiert. 9 Auch hier ist zwar nicht die geschnitzte Frauenfigur erfunden, die die Archäologen, die sie entdeckten, auf den titelgebenden Namen »Venus« tauften, wohl aber die Protagonistin und ihre Geschichte. Wo Conard und Wertheimer explizit und reflektiert ein narratives Verfahren wählen – sie schreiben einen Roman, in dem es allerdings um eine real existierende Figur geht und in dem auch andere Forschungsergebnisse Berücksichtigung finden –, vollzieht der Frankfurter Archäologe Friedemann Schrenk die Abkehr vom Positivismus der Fakten eher durch Spekulationen in Gestalt des Konjunktivs. Ihm ist
8 Nicholas J. Conard, Jürgen Wertheimer, Die Venus aus dem Eis – Wie vor 40 000 Jahren unsere Kultur entstand, München: Knaus 2010. 9 Vgl. die Rezension dazu von Ulf von Rauchhaupt, Wer schuf die früheste Kunst – und warum? Nicholas Conard und Jürgen Wertheimer wagen ein literarisches Experiment mit der Altsteinzeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung (2. 10. 2012).
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die Unterbestimmtheit der Funde wohl bewusst, wenn er darauf hinweist, dass »kein einziger Fund der Auffassung, daß der Beginn der Menschwerdung der aufrechte Gang war und nicht die Vergrößerung des Gehirns« widerspricht. »Durch den Stand auf zwei Beinen konnten unsere Vorfahren erstmals ihre Hände benutzen. Dies schuf die Voraussetzung dafür, daß Werkzeugkulturen entstanden und mit dem Einsatz dieser Hilfsmittel ein größeres Nahrungsangebot erschlossen werden konnte – günstige Faktoren für das vor zwei Millionen Jahren einsetzende Wachstum des Gehirns. Neugierde und eine beginnende vorausschauende Lebensweise könnten an dieser Wegmarke der Entwicklungsgeschichte unserer Vorfahren erstmals eine Rolle gespielt haben.« 10 Schrenk wagt sich hier an eine chronologisch-kausale Darstellung heran, die verschiedene Faktoren der Anthropogenese umfasst: Körperliche Veränderungen und leibliche Tätigkeiten, die von mentalen Aktivitäten wie Wahrnehmungen und Absichten begleitet sein müssen (aufrechter Gang, Gebrauch der Hände, Werkzeugkultur), dann wieder körperliche Veränderung (Wachstum des Gehirns) und infolgedessen neuartige mentale Aktivitäten (Neugierde und Prävention). Aus der Perspektive Blumenbergs müsste man diese spekulative Darstellung ambivalent bewerten. Sie versucht zwar, verschiedene Faktoren in einen plausiblen chronologischen Zusammenhang zu bringen und sogar zwischen Stufen mentaler Fähigkeiten zu unterscheiden. Blumenbergs Ausführungen aber lässt sich entnehmen, dass er sowohl die undifferenzierte Lokalisierung von Werkzeugkulturen auf der ersten Stufe als auch die Art der mentalen Stufendifferenz für falsch halten würde: Die Beschreibung von frühen Werkzeugtechniken der Altsteinzeit ist an einer Fülle von Material in ihrer Differenzierung weit vorangekommen. Aber die anthropologische Erörterung dieses Materials ist höchst unbefriedigend. Es bleibt bei puren Klassifikationen. So wird der Unterschied zwischen Kerngeräten (core tools) und Abschlaggeräten (flake tools) rein morphologisch durchgeführt und im Hinblick auf die bei der Herstellung der Geräte angewendete Technik und deren Schwierigkeitsgrad vorangetrieben. Völlig außer acht ist geblieben, daß die beiden Typen von Geräten völlig heterogene intellektuelle Vorleistungen erforderlich machen. Wenn von einer FlintknolFriedemann Schrenk, Menschwerdung I – Die Auskunft der Fossilien, in: Ernst Peter Fischer, Klaus Wiegandt (Hgg.), Evolution und Kultur des Menschen, Frankfurt am Main: Fischer 2010, S. 32–56, hier S. 45. 10
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le Stücke abgeschlagen werden, so können diese vom unmittelbaren Anblick des jeweils gewonnen Stückes her im Hinblick auf Zwecke akzeptiert oder verworfen werden. Sie weisen bestimmte gesuchte Eigenschaften auf wie Schärfe einer Schneide oder einer Spitze. Dagegen ist das Herausarbeiten eines Kerns nur im Hinblick auf gesuchte, vorgestellte, aber nicht gefundene Eigenschaften möglich. Die Natur gibt das Material vor, ohne daß der Flintknolle anzusehen ist, welche Möglichkeiten sie enthält. Erst in einer Folge von Einzelakten der Abspaltung je für sich wertloser und unbeachtet bleibender Abfallteile tritt das vorgestellte Modell heraus. Es war vom Anfang der Handlung an seiner Funktion und Gestalt nach leitend, vergleichbar dem ganzen Prozeß bei der Herstellung einer Skulptur aus einem Materialblock [vgl. Venus, B. M.]. Entscheidend war also, daß der Gegenstand abwesend war und dennoch vergegenwärtigt werden konnte, ganz im Unterschied zu den Abschlaggeräten, die als solche stets als Zufallsresultate aus einer größeren Menge vorgefunden und ausgesondert werden können. Bei den Kerngeräten dirigiert die begriffliche Vorleistung die Erwartung des Resultats und jeden Schritt zu diesem. Selbst wenn die Befunde in Lagerstätten ergeben sollten, daß Kerngeräte früher vorkommen als Abschlaggeräte, würde dies nicht im geringsten gestatten, dem Befund anthropologische Bedeutung zu geben. Aber der prähistorische Fund hat uns auf ein anthropologisch entscheidendes Phänomen geführt, nämlich auf die in der Sachkultur und ihren Relikten nachweisbare Verfügung des prähistorischen Subjekts dieser Kultur über den Begriff als die Funktion der Vergegenwärtigung des Abwesenden, sei es im Raum oder in der Zeit. Jede Anthropologie muß wenigstens eine Möglichkeit anbieten, innerhalb ihrer Erklärungsleistungen auch dies zu verstehen, wie der Mensch auf den Begriff gekommen sein könnte, um durch ihn auf ganz anderes zu kommen. Es genügt nicht, dies eine schöpferische Urleistung des Menschen zu nennen. Es muß gezeigt werden, in welcher Situation der Begriff dem Menschen einen wesentlichen Schritt der Sicherung seines Daseins ermöglichte (S. 533 ff.).
Auch Blumenberg plädiert also für eine zweistufige Entwicklung mentaler Vermögen, die mit zwei unterschiedlichen Fähigkeiten des Umgangs mit Werkzeugen korrelieren. Einmal die »niedrigere« Fähigkeit, Material zu verwenden oder zu verbessern, das bereits von Natur aus so geformt ist, dass es geeignet ist für Zwecke wie beispielsweise Schneiden oder Stechen, dann die »höherstufige« Fähigkeit, Material, das mit dem aus ihm hergestellten Gegenstand keinerlei Ähnlichkeit hat, mit Blick auf den Zweck der Existenz eines solchen Gebildes zu formen. Diese Fähigkeit setzt das Verfügen über einen Begriff voraus als Vermögen, Abwesendes präsent zu machen. Entscheidend ist also die differenzierte Berücksichtigung des Zusammenhangs zwischen kör124
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perlicher Ausstattung, mentalen und leiblichen Fähigkeiten und der Umwelt, in die sie jeweils eingebettet sind – auch wenn sich gegen Blumenberg einwenden lässt, dass seine grobe Zweiteilung mentaler Fähigkeiten Zwischenstufen des Umgangs mit Material und die dazugehörigen Fähigkeiten vielleicht nicht hinreichend berücksichtigt –, wie lässt sich etwa die zweckbezogene Verbesserung verstehen, die ihr Ziel ja auch nicht dem vorliegenden Material entnehmen kann? Wer sich nicht auf die positivistische Sammlung und Klassifikation von Funden beschränken und bestehende Wissenslücken füllen will, muss, so lassen sich die bisherigen Überlegungen zusammenfassen, bestimmte Anforderungen erfüllen. Die fiktive Narration (wie die Urszenen Alsbergs und Blumenbergs), die literarisch-fiktive Historie (wie der Roman Conards und Wertheimers), die diskursive Spekulation (wie die Extrapolationen Schrenks) dürfen nicht beliebig sein. Sie müssen aktuelles Wissen einbeziehen und sollten nicht gegen es verstoßen. Entscheidend ist die Plausibilität des konjunktivischen Urteils: So hätte es sein können, auch wenn es sich niemals als so gewesen wird nachweisen lassen. Körperausstattung, leibliche und mentale Fähigkeiten müssen hinreichend differenziert und in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit untereinander und von der jeweiligen Umwelt dargestellt werden. Der philosophischen Anthropologie lässt sich dabei die Funktion zuweisen, die von den alten Paläoanthropologen nach Blumenberg vorbildlich erfüllt wird. Sie entwirft eine Perspektive auf den Menschen als Ganzen – sozusagen sein »Prinzip« –, in der die verschiedenartigen Fähigkeiten eine integrale Einheit bilden und unter den Titeln räumliche und zeitliche »Distanzgewinnung« und »Entspezialisierung« zusammengefasst werden können. Unter solchen Voraussetzungen sind narrative Spekulationen legitim, die sich »um den gemeinsamen Kern aller gegenwärtig respektierten Theorien zur Anthropogenese ranken«. 11
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Rüdiger Zill
Zwischen Affinität und Kritik. Hans Blumenberg liest Sigmund Freud
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Psychoanalyse als Modell für die Metaphorologie?
Denken ist ein sozialer Akt; es entsteht in Auseinandersetzung mit anderem Denken. Die Beziehungen, in die Theoretiker dabei mit anderen Theoretikern treten, werden allerdings häufig in ein zu grobschlächtiges Raster eingeteilt: Schüler, Mitarbeiter, Rivalen, Gegner. Oft werden diese Beziehungen nach dem Muster der Bewirtschaftung von Gütern verstanden: Rivalen streiten um die Urheberschaft an einer Theorie wie Goldgräber, die behaupten, jeweils als erster einen Claim abgesteckt zu haben; Schüler übernehmen einen Ideenbestand, wie Landwirte Ackerland erben, um es weiter zu bestellen, bestenfalls dabei auf der vorhandenen Grundlage den Ertrag zu steigern. Aber gerade in der Philosophie und in der Wissenschaftsgeschichte nimmt die Auseinandersetzung mit dem vorausgegangenen Ideenfundus eine Vielzahl von nuancierten Möglichkeiten an, denen im Einzelnen nachzuspüren lohnt. Wenn zum Beispiel ein Theorienbestand die »Bedingung der Möglichkeit« 1 des anderen ist, handelt es sich dabei lange noch nicht um Schülerschaft. Gerade dort, wo, wie in der Philosophie, das Ideal des Originalgenies – wenn auch unausgesprochen – nach wie vor das Bewusstsein bestimmt, führt das bei den Autoren zu »Einflussangst« 2 und der Verleugnung solch intellektueller Beziehungen. Wer eines anderen Schüler ist, kommt schnell in den Ruf, lediglich ein Denker zweiter Klasse zu sein. Doch Einflüsse, im positiven Sinn der Aufnahme wie im negativen der Absetzung, konstituieren eine Theorie. Man darf Einflüsse nur
Vgl. zu einem solchen Beispiel, das Hans Blumenberg selbst untersucht, sein Die Genesis der kopernikanischen Welt bzw. den Beitrag von Pini Ifergan in diesem Band, S. 149–167. 2 Vgl. Harold Bloom, The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York/Oxford: Oxford University Press 2 1997. 1
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nicht im Sinne einer Filiationsgeschichte, bei der am Erbgut eines Denkens die Abkunft dechiffrierbar wäre, verstehen. Solche quasikausalen Unterstellungen, die die Genesis einer Denkwelt mit einer philologischen Erbschaftssteuer belegen wollen, sind ohnehin immer zweifelhaft. Die entscheidende Frage ist nicht, wessen Schüler man ist, sondern wie man mit welchen Einflüssen konkret umgeht. Für jeden Autor gibt es dabei eine mehr oder weniger große Zahl von Bezugstheorien, von Denkern, mit denen man sich auf die eine oder andere Weise immer wieder auseinandersetzt, die eine fortdauernde Präsenz in der intellektuellen Werkstatt eines Autors haben. In Hans Blumenbergs Texten erscheint eine ganze Reihe solch virtueller Sparringspartner: Immanuel Kant, Edmund Husserl, Ludwig Wittgenstein, nicht zuletzt Martin Heidegger, um nur einige zu nennen. 3 Dass auch Sigmund Freud und die Psychoanalyse wichtige Bezugspunkte für Hans Blumenberg waren, zeigt sich schon, wenn man nur flüchtig in seinen umfangreichen Studien blättert. Bei näherer Betrachtung aber wird klar, dass Freud in mehrfacher Hinsicht in Blumenbergs Denken präsent ist. In den zu Lebzeiten publizierten Untersuchungen erscheinen die psychoanalytischen Gründungstexte in erster Linie als neutraler Gegenstand der Analyse, ihre Thesen markieren einen Knotenpunkt in der Geschichte bestimmter Metaphern, so etwa die vom Buch der Natur in Die Lesbarkeit der Welt (1986) und die der Höhle in den Höhlenausgängen (1989); in der Neuauflage von Der Prozeß der theoretischen Neugierde (1973) ist Freud ein halbes Kapitel gewidmet. In Arbeit am Mythos (1979) ist er ein wichtiger Gesprächspartner für Blumenberg, und Spurenelemente finden sich darüber hinaus in Lebenszeit und Weltzeit (1986). In den bereits aus dem Nachlass publizierten kleineren Freud-Texten, wie etwa den »Freud-Facetten« aus Die Verführbarkeit des PhiZur Beziehung Blumenbergs etwa zu Kant und Husserl vgl. den Aufsatz von Alberto Fragio, Hans Blumenberg and the Metaphorology of Enlightenment, in diesem Band, S. 88–107, insbesondere Blumenbergs auf S. 89 zitierte Bemerkungen aus einem undatierten Brief. Zu Blumenbergs Reflexionen über die Lehrer-Schüler-Beziehung als Vater-Sohn-Verhältnis gerade auch im Hinblick auf Freud vgl. Rüdiger Zill, Überlebensthemen. Vom Umgang mit der Sterblichkeit des Menschen bei Hans Blumenberg, in: Falko Schmieder (Hg.), Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen, München: Fink 2011, S. 265–280, hier S. 270–272 sowie derselbe, Substrukturen des Denkens. Grenzen und Perspektiven einer Metapherngeschichte nach Hans Blumenberg, in: Hans Erich Bödeker (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen: Wallstein 2002, S. 209–258, hier S. 211–221.
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losophen oder einigen Bemerkungen in Lebensthemen, geht es nicht so sehr um die Psychoanalyse als Theorie, sondern vielmehr um eine intensivere Auseinandersetzung mit der Person Sigmund Freud selbst. Im bisher unpublizierten Nachlass findet sich jedoch noch eine große Zahl weiterer Texte zu Freud – zu seiner Person wie auch zu seiner Theorie. Der umfangreichste daraus umfasst 109 Blätter und steht unter dem Titel »Ausgeträumte Träume«. 4 Dieses Manuskript ist eine sehr kritische Auseinandersetzung mit Freud, vor allem mit dem, was Blumenberg »Paratheorie« nennt: eine Metatheorie, die alle scheinbaren Falsifikationen einer Theorie auffängt und zu Verifikationen umdeutet. 5 Vielleicht wird die eigentliche Bedeutung Freuds für Blumenberg erst nach und nach, wenn all diese Texte aus dem Nachlass einer breiteren Leserschaft zugänglich sind, klar erkennbar. Man ist fast geneigt, mit einer selbst tiefenmetaphorischen Formulierung von einer hinter der scheinbar neutralen Oberfläche der publizierten Texte verborgenen Untergrunddimension, nicht unbewusst, aber unpubliziert, zu sprechen: latentes Gedankengut, das die manifesten Erscheinungen speiste, uns Lesern aber nicht sichtbar war. Liest man nun all diese Texte im Hinblick auch auf ihren thematischen Ort und ihre Entstehungszeit, erkennt man eine Verschiebung des Interesses und der Perspektive: Blumenbergs Blick auf Freud wird immer kritischer und distanzierter, ohne dass der Autor seine Faszinationskraft für ihn verloren hätte. Es ist aus zwei Teilmanuskripten zusammengefügt und mit den Sigeln TRD und TRD II versehen. Auch in den UNF-Konvoluten wird Freud an vielen Stellen zum Thema. Ich danke Bettina Blumenberg und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, in dem sich der Nachlass Hans Blumenbergs befindet, für die Erlaubnis, aus seinen unpublizierten Texten zu zitieren. 5 Diese Manuskript-Konvolute waren – wie oft bei Blumenberg – Bergwerke, aus denen sich die Produktion der Publikationen speiste. So weist das Ende der »Ausgeträumten Träume« inhaltlich eine deutliche Nähe zum Freud-Kapitel in Die Lesbarkeit der Welt aus. Und ein TRD III gesigeltes Manuskript, ebenfalls in der Mappe, ist offensichtlich eine genuine Vorfassung zu diesem Kapitel; es lässt daher Rückschlüsse auf die Entstehungszeit der Manuskripte zu, man darf sie schon deshalb Anfang der 1980er Jahre vermuten. Und in der Tat gibt es in einem der Karteikästen einige Karten mit einem Verzeichnis des Geschriebenen, das auch für die TRD-Texte präzise Entstehungsdaten angibt, für TRD und TRD II September bis Dezember 1980, für TRD III März und April 1981. Marbach: Karteikasten Metaphorologie 1. TRD verfasst 1980: 1–6 (30. 9.), 7/8 (24. 10.), 9/10 (5. 11.), 12 (17. 11.), 13 (24. 11.), 14 (27. 11.), 15/16 (1. 12.); TRD II verfasst 1980: 1 (24. 10.), 2/3 (27. 10.), 4/5 (29. 10.); TRD III verfasst 1981: III 1 (13. 3.), 2/3 (13. 3.), 4/5 (19. 3.), 6 (26. 3.), 7/8 (10. 4.). 4
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Bedeutet das aber, dass die Psychoanalyse nicht nur ein Gegenstand für den Wissenschaftshistoriker war, sondern methodisch auch Spuren in dessen Denken hinterlassen hat? Der erste, der eine Andeutung in diese Richtung machte, war Odo Marquard. Was bei ihm jedoch nur ganz versteckt in einer Fußnote erschienen ist, 6 nahm sein Gießener Kollege Ludger Oeing-Hanhoff 1969 in einer Rezension von Blumenbergs Die Legitimität der Neuzeit wieder auf. 7 Beiden geht es – wenn auch mit verschiedenen Stoßrichtungen – darum, eine Strukturanalogie zwischen Blumenbergs und Freuds Theorien festzustellen. Denn sowohl Freud als auch Blumenberg versuchen je auf ihre Weise Oberflächenerscheinungen durch ein hinter ihnen Verborgenes zu erDort heißt es nach einer längeren Anmerkung über Freuds Theorie von der Wiederkehr des Verdrängten: »Es wäre reizvoll, Strukturverwandtschaften zwischen Freuds Theorie der Triebschicksale und H. Blumenbergs Umbesetzungstheorie zu untersuchen, zumal u. a. der Ausdruck ›Besetzung‹ ja nicht nur im bildspendenden Bereich der Personalpolitik, sondern auch im œuvre Freuds seinen bedeutenden Platz hat […], und weil sich bei der Analyse von trivialen Individualereignissen – z. B. Wechselwirtschaft von Gewissenhaben und Platzangst – prinzipiell mit dem gleichen Vokabular arbeiten läßt wie bei der Analyse von geistesgeschichtlichen Großereignissen, z. B. Genesis der Neuzeit. Freud und Blumenberg konkurrieren mit strukturverwandten Theorien beim Versuch, die durch Emeritierung des Systemgedankens eingetretene Vakanz zu beseitigen. Ich weise hier darauf hin, um zu betonen: entweder sind beide Theorien inaktuell, oder aber keine von beiden; entweder müssen beide Theorien gehört werden (Koselleck), oder keine von beiden.« Odo Marquard, Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten für eine Theorie der nicht mehr schönen Künste, in: Hans Robert Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Poetik und Hermeneutik, Bd. 3, München: Fink 1968, S. 375–392, hier Anm. 68, S. 389 f. Marquard fügt den Hinweis nachträglich in seinen Beitrag zum dritten Colloquium von »Poetik und Hermeneutik«, das 1966 in Lindau stattgefunden hat, ein. Dort hatte Reinhart Koselleck in der Diskussion zu Marquards Vorlage sehr skeptisch auf die Idee reagiert, dass man Freuds Theorie für die Ästhetik überhaupt ernsthaft in Betracht ziehen solle. Marquard repliziert auf diese Kritik in der Diskussion seines Beitrags noch moderat, fügt dann aber in die Druckfassung die Parallele als Fußnote ein, wohl um Koselleck zu verstehen zu geben, wer Freud ablehne, kritisiere damit auch Blumenberg. Oeing-Hanhoff nimmt diese Idee hingegen auf, um beide, Freud wie Blumenberg, als verfehlt zu kritisieren. Diese Kontroverse verdiente eine eigene Untersuchung, die den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde. 7 Vgl. Ludger Oeing-Hanhoff, Psychotherapie des philosophischen Bewusstseins. Zu H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit (1966), Philosophisches Jahrbuch 76, II (1969), 428–439. Dass Oeing-Hanhoff von Marquards Bemerkung angeregt wurde, zeigt sich daran, dass er Blumenberg eine Kopie der Rezension mit der handschriftlichen Widmung »Marquardeskes aus Gießen! Mit besten Grüßen Oeing-Hanhoff. 25. 7. 69« zugeschickt hat (Nachlass Blumenberg, DLA Marbach). 6
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klären: Freud die Manifestationen des Traums, die Psychopathologien des Alltagslebens und die Neurosen durch die Annahme eines Unbewussten, Blumenberg philosophische Theoriegebäude durch eine untergründige Schicht des Denkens, »die zwar in den Systemen nicht formuliert enthalten, wohl aber implizit durchstimmend, färbend, strukturierend gegenwärtig und wirksam gewesen ist«. 8 Wenn aber eine geistige Verwandtschaft zwischen beiden Theorien besteht, wie wäre sie entstanden? Man könnte vermuten, dass es sich um einen genuinen Fall von Modellübertragung handelt: Theoretische Strukturen werden aus einer wissenschaftlichen Disziplin in eine andere transferiert, um den Erfolg, den diese Strukturen in ihrem Ursprungsgebiet haben, auch auf anderen Feldern fruchtbar zu machen, wobei sie nach einigen Anpassungsleistungen dort durchaus ein Eigenleben entwickeln können. 9 Auffällig ist allerdings, dass Blumenbergs explizite Auseinandersetzung mit Freud frühestens in den späten 1960er Jahren beginnt, davor findet sich der Name so gut wie gar nicht in seinen Texten. 10 8 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 15, vgl. dazu auch Rüdiger Zill, Wie die Vernunft es macht. Die Arbeit der Metapher im Prozeß der Zivilisation, in: Franz Josef Wetz, Herrmann Timm (Hgg.), Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 164–183. 9 Die historisch wahrscheinlich einflussreichsten Beispiele sind die mechanistische Philosophie im 17. Jahrhundert, der Strukturalismus, der linguistische Theorieelemente in die Ethnologie, die Soziologie und eine Reihe anderer Disziplinen projiziert hat, im 20. Jahrhundert oder aus der jüngeren Wissenschaftsgeschichte die computer sciences. Zum Begriff der Modellübertragung vgl. Rüdiger Zill, Metapher als Modell. Die Figur des Neuen in der Genese wissenschaftlicher und philosophischer Theorien, in: Wolfgang Sohst (Hg.), Die Figur des Neuen, Berlin: Xenomoi 2008, S. 17–78. 10 Die ersten Texte, in denen eine intensivere Auseinandersetzung mit Thesen von Freud stattfindet, sind der Aufsatz Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: Manfred Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel, München: Fink 1971, S. 11–66 (hier vor allem mit Der Mann Moses und die monotheistische Religion sowie Totem und Tabu und Jenseits des Lustprinzips) und Hans Blumenberg, Beobachtungen an Metaphern, Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), 161–214. Davor lassen sich allenfalls kurze Erwähnungen finden wie in seinen Literaturessays Der absolute Vater, Hochland 45 (1952/53), 282, oder Rose und Feuer. Lyrik, Kritik und Drama T. S. Eliots, Hochland 49 (1956/57), 109–126. Der Titel eines Zeitungsaufsatzes über den Halley’schen Kometen spielt 1954 auf eine berühmte Schrift Freuds an (Das Unbehagen in der Natur, Düsseldorfer Nachrichten [6. 2. 1954], veröffentlicht unter dem Pseudonym Axel Colly, unter seinem eigenen Namen nachgedruckt in Bremer Nachrichten vom 17. 2. 1954, S. 10). Der Bezug geht aber hier nicht über ein Hörensagen hinaus, was sich schon daran
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Das mag kein Argument gegen eine Modellübertragung sein, da manch ein – eben von Einflussangst getriebener – Autor mitunter die Theoretiker verschweigt, die ihn am meisten geprägt haben. Die Indizien sprechen allerdings eher dafür, dass Blumenberg in der Tat erst Mitte bis Ende der 1960er Jahre beginnt, sich mit den Schriften von Freud selbst genauer auseinanderzusetzen. 11 Wenn es hier eine Modellübertragung von psychoanalytischen Theorieelementen auf ideengeschichtliche gegeben haben sollte, dann allenfalls selbst in einer Art unbewusstem Verfahren. Psychoanalytisches Gedankengut lag schon zu dieser Zeit »in der Luft«. Freuds Theorie war spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so erfolgreich, dass Versatzstücke von ihr im offiziellen Diskurs, sei es in Zeitungen und Zeitschriften oder in Romanen und Erzählungen, sei zeigt, dass Blumenberg von »Unterbewusstsein« spricht, einem popularisierten Terminus, den Freud selbst immer abgelehnt hat. Oeing-Hanhof verweist in seiner Rezension Psychotherapie des philosophischen Bewusstseins (wie Anm. 7), S. 430, übrigens ausdrücklich darauf, dass in der ursprünglichen Fassung der Legitimität der Neuzeit nur einmal die Psychoanalyse selbst erwähnt wird. Vielleicht waren Marquards und sein Vergleich sogar erst der Anstoß für Blumenberg, sich intensiver mit Freuds Denken auseinanderzusetzen. In die überarbeitete Neuausgabe des zweiten Bandes (Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973) fügt Blumenberg zwar ein Kapitel über Feuerbach und Freud sowie einige generelle Verweise auf Freud ein, jedoch bleibt der Psychoanalytiker auch hier nur Gegenstand der Untersuchung, er wird nicht zum Gesprächspartner in methodischen Fragen. 11 Blumenberg hat von 1942 bis 1986 Leselisten geführt. In ihnen wurde penibel notiert, was er täglich gelesen hat: vom Kriminalroman bis zu Kants Kritik der reinen Vernunft. In diesen Listen taucht der Name Freud zunächst nur im Zusammenhang mit Briefeditionen auf (Briefe an Arthur Schnitzler, gelesen 22. 3. 1955, Briefe 1873–1939, gelesen 19. 2. 1964), ab 1964 beginnt er auch theoretische Texte von Freud zu lesen: Gesammelte Werke XIII 1920/24 (1. 3. 64); Gesammelte Werke XII 1917–1920 (20. 4. 64); Der Mann Moses und die monotheistische Religion (2. 8. 68); Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (23. 9. 69); Selbstdarstellung (24. 2. 72); Totem und Tabu (15. 6. 73); Abriss der Psychoanalyse (7. 9. 73); Briefwechsel mit Arnold Zweig (12. 9. 73); Das Unbehagen in der Kultur (5. 12. 73); »Zur Gewinnung des Feuers« (22. 11. 80); Traumdeutung (1. 12. 80; ein Exemplar der Traumdeutung, Taschenbuchausgabe des Fischer Verlags, 1979, ist in Blumenbergs Bibliothek, jetzt DLA Marbach, mit vielen Unterstreichungen versehen überliefert); Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (3. 1. 81); Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (11. 1. 81); Schriften aus dem Nachlass (11. 2. 81); »Zur Psychologie des Gymnasiasten« (15. 2. 81); Das Ich und das Es und andere metapsychologische Schriften (25. 2. 81). Das deutet auf verschiedene Phasen der Auseinandersetzung mit Freud hin, die Traumtheorie kommt offensichtlich erst Ende der 1970er Jahre in den Blick, während der Arbeit an »Ausgeträumte Träume« und Die Lesbarkeit der Welt. A
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es in der populärwissenschaftlichen Literatur, omnipräsent waren. Man musste Freuds Bücher nicht selbst gelesen und analysiert haben, um seine Ideen ›irgendwie‹ zu kennen, wobei das ›Irgendwie‹ eine diskursive Verschleifung und konstruktive Unschärfe andeutet, die Adaptionen in anderen Gebieten entgegengekommen sein mögen. Dennoch ist der Einfluss solcher intellektueller Zeitstimmungen natürlich schwer verifizierbar. Deshalb ist die entscheidende Frage hier weniger die nach Affiliationen als die nach Affinitäten, nach der Macht eines Faszinosums: wie unbewusst oder vielleicht sogar gleichursprünglich ähnliche Theoriestrukturen entstehen, die einen Autor dann im Nachhinein für einen anderen interessant machen, jenen zu einer Auseinandersetzung mit diesem treiben.
II.
Affinitäten zwischen Psychoanalyse und Metaphorologie
In der Tat zieht Blumenberg in einigen Arbeiten seit den 1970er Jahren zuweilen selbst den Vergleich der Metaphorologie mit der Psychoanalyse. Eine der naheliegenden Verwandtschaften, auf die er hinweist, ist die zwischen Freuds Verständnis des Traums und der Bedeutung der absoluten Metapher. Beide erscheinen bildhaft, sind aber in ihrer Substanz sprachlich. Das mag für Freuds Traumdeutung nicht unbedingt evident sein, ist von Blumenberg aber nachdrücklich betont worden. Freuds Deutungen setzten sehr oft weniger am eigentlichen Traum als bei den Notizen über ihn an. Häufig verwenden sie auch das sprachliche Material, um damit zu spielen. So hält es Blumenberg vor allem für ein Selbstmissverständnis Freuds, wenn dieser glaube, der manifeste Traum sei eine Übersetzung des latenten Gehalts in visuelle Bilder. Obwohl die Traumhandlungen sich »in visuellen Umgebungen« abspielten, seien sie doch »weit überwiegend Sprachhandlungen mündlicher und schriftlicher Natur«. 12 Blumenberg schließt daraus: »Es gibt eine Affinität des psychischen Apparats, wie Freud ihn verstanden wissen wollte, zur Schriftlichkeit.« 13 Diese Schriftlichkeit ist aber keine des Begriffs. Traum wie MetaHans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 368. Blumenberg bezieht sich hier auf eine Formulierung in Sigmund Freud, Selbstdarstellung, Frankfurt am Main: Fischer 1971, S. 72. 13 Blumenberg, Lesbarkeit (wie Anm. 12), S. 365. 12
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pher verweigern sich beide einer strikten Logik. Das zeigt sich zum Beispiel an der Verneinung. Weder der Traum noch die absolute Metapher können im strengen Sinne falsch sein; sie lassen sich nicht negieren. 14 Negiert werden kann nur der Begriff; er kann etwas ausschließen und ist daher von großer Bedeutung für die Wirklichkeitsbewältigung, er ist perceptio per distans. Anders der Traum: Verneint werden kann in ihm nur durch die Negation seiner selbst – indem der Schläfer erwacht. Auch die Metapher ist nicht negierbar, »es sei denn, in der begrifflichen Feststellung gegenüber dem Kontext der Metaphorik, daß eine Metapher mit der anderen sich nicht verträgt, daß Interferenz zwischen ihnen besteht und so weiter«. 15 In einer anderen Version bezeichnet Blumenberg die Sprengmetaphorik als einzige Form negierter Metaphorik. 16 Sowohl der Traum als auch die Metapher arbeiten mit Mitteln der Verschiebung und Verdichtung. Während allerdings die Traumdeutung diese Verschiebungen und Verdichtungen wieder auflösen und den latenten Gehalt in den manifesten Bildern sichtbar machen will, versucht die Metaphorologie eher die produktiven Erträge solcher Transformationen einzulösen. Ein Abstraktum wie Welt oder Wahrheit, das an sich nicht erfahrbar ist, gewinnt in der absoluten Metapher erst Leben. Traum wie Metapher mögen beide als Symptome bezeichnet werden, eine Reaktion auf das Andringen der Wirklichkeit. Dann ließe sich die Analyse weiter denken: Die Metapher mag wie der Traum eine Wunscherfüllung sein, jedoch ersetzt sie die intrapsychische Kraft der Zensur durch die äußerliche des ›Absolutismus der Wirklichkeit‹. Und das ist ein entscheidender Unterschied, denn im Traum, in der individuellen Psyche arbeiten – anders als bei der Metapher – zwei interne Instanzen gegeneinander. Interessant ist, wie Blumenberg diesen Mechanismus interpretiert. Er schreibt in einem Nachlassfragment: Vgl. Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlaß hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 75 f. Die sicherlich zutreffende Datierung dieses Manuskripts auf das Jahr 1975 scheint der Feststellung zu widersprechen, Blumenberg habe die Traumdeutung erst 1980 gelesen (vgl. Anm. 11), denn er zitiert aus ihr in einer Passage. Doch weist er dieses Zitat zusammen mit einem Hinweis auf Merleau-Pontys Vorlesungen nach, genauer mit einer Stelle, in der Merleau-Ponty selbst das entsprechende Freud-Zitat anführt. Blumenberg bezieht sich hier auf Freuds Thesen offensichtlich in der Interpretation Merleau-Pontys. 15 Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit (wie Anm. 14), S. 76. 16 Ebd., S. 79. 14
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Der Traum ist der Narr, der die Wahrheit sagt, ohne daß sie als diese erkannt wird – bis die Traumdeutung eingreift. Der Zensor des Traumlebens ist von der Beschränktheit aller Zensoren, der Analytiker dagegen von der Pfiffigkeit des Publikums in Diktaturen, das zwischen den Zeilen zu lesen vermag und die Signale listiger Schreiber und Redakteure aufnimmt, die der Zensur, volksfern wie sie ist, unverständlich bleiben – wie jedenfalls dann behauptet wird, wenn die Entmachtung der Zensur gelungen ist. 17
Gegen diese Diagnose lassen sich zwei Einwände machen. Zum einen darf man vielleicht das kreative Potential eines Zensors nicht unterschätzen. Warum sollte er dümmer sein als das allgemeine Publikum? Blumenberg selbst berichtet in den »Freud-Facetten« von einem Kommissar, der 1938 von den Nationalsozialisten eingesetzt worden war, um die Geschäfte von Freuds Verlag zu überwachen. Aus Langeweile habe er begonnen, Freuds Bücher zu lesen. »Was dabei auch immer in ihm vorgegangen sein mag«, kommentiert Blumenberg, »– von ›Bekehrungen‹ hört man nicht mehr gern –, er wurde zum Beschützer dessen, was noch zu beschützen war«. 18 Im Gegenzug ist der Analytiker manchmal dümmer, als man gemeinhin meint. Gibt es doch schon bei Freud das Problem der unendlichen Analyse, nach dem es nie gesichert ist, dass ein Gehalt ausinterpretiert ist. Manchmal bleibt er der ewig Genarrte. Viel wichtiger aber: Ist es ausgerechnet der Analytiker, der hier mit dem Publikum in einem diktatorischen Regime gleichzusetzen ist? Braucht der Traum denn überhaupt einen Deuter oder hat er nicht längst ein Publikum? Auf die Behauptung, es gebe in jedem Traum so etwas wie einen unentschlüsselbaren Rest, eine Art Ding an sich, das man niemals erfassen könne, hat Blumenberg selbst eingewandt, dies widerspreche der Systematik der Theorie. »Denn: Was sollte Unergründlichkeit bei einem Instrument, das sich der psychische Apparat schafft, um seinen Gedanken, wenn auch verschlüsselt, an den Adressaten zu bringen, damit dieser sich als dessen Leser erst vollends in den Besitz seiner selbst bringt?« 19 Mit gleichem Recht könnte man sagen, der psychische Apparat habe sich das komplizierte Instrument keineswegs geschaffen, um bei
Hans Blumenberg, Das Gewand des Traums, Neue Rundschau 1 (2006), 76 f. Hans Blumenberg, Die Verführbarkeit des Philosophen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 168. 19 Blumenberg, Lesbarkeit (wie Anm. 12), S. 369 f. 17 18
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der Entschlüsselung seiner Produkte auf den Analytiker zu warten. Geträumt wurde lange vor Freud. Ein Schelm, wer hier jetzt einwendet: ja, aber nicht psychoanalytisch. So kann man den Analytiker auch in einer anderen Rolle sehen – und auch das hat Blumenberg getan –, um in der Metaphorik diktatorischer Regime zu bleiben: in der Rolle des Verhörspezialisten. In der Tat verwenden beide ähnliche Methoden, so wenn der Analytiker zum Beispiel den »verhörten Patienten« einen Traum zum zweiten Mal aufschreiben lässt. Wo Abweichungen oder gar Widersprüche auftreten, da ist die erneute Arbeit des immer wachenden Subjekts mit Händen zu greifen und die ganze Aufmerksamkeit des Deuters in Aufmerksamkeit versetzt [sic!]. Es ist auch hier weniger der Triumph einer bestimmten Methode, bestimmter dem Verfahren zugrunde liegender Hypothesen, als vielmehr der einer universalen Sinnbehauptung, die sich erstaunlicherweise mit einer Negation von Freiheit, mit einem durchgehenden Determinismus verbindet. 20
Aber vielleicht ist auch das noch zu sehr in der Kampfrhetorik einer Aufklärung gedacht, der das Bild von der hochnotpeinlichen Befragung der Natur vor dem Tribunal der Vernunft durchaus geläufig war. Blumenberg macht hier spöttisch den Einwand: »Im heutigen Forscher sieht keiner mehr den Vernehmungsrichter der Natur, eher den vom Streß geplagten Interviewpartner ihrer launischen Manifestationen.« 21 Bleiben wir aber bei einer anderen Bemerkung, der von der Unterstellung einer »universalen Sinnbehauptung«. Alles ist bedeutungstragend, sowohl an der Metapher wie am Traum. Deshalb teilt Blumenberg mit Freud auch die Vorliebe fürs scheinbar nebensächliche Detail. So liest und interpretiert er nicht nur immer wieder die zentralen Texte, v. a. die Traumdeutung, die Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und als Mythostheoretiker natürlich den Mann Moses, sondern auch das Marginale und Parergonale: Briefwechsel zum Beispiel. Die kleinen, halb privaten Texte sind Äußerungen, die der rationalen Bearbeitung weniger rigide unterliegen; hier wird ins Offene gesprochen, die Rücksicht auf Darstellbarkeit hat das Material noch nicht überformt. TRD 71. TRD 29. Die Passage ist im Manuskript allerdings gestrichen, was bedeuten kann, dass Blumenberg sie verworfen hat, oder auch nur heißt, dass er sie an anderer Stelle verwendet hat.
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Dabei ist vor allem die Insistenz erstaunlich, mit der Blumenberg gerade solch bewegtes Beiwerk untersucht. Nehmen wir nur einige Beispiele: Immer wieder kommt Blumenberg auf die Rolle der Selbstanalyse für Freuds Theorie zurück, immer wieder auch auf die Notwendigkeit von Schülern, die gleichzeitig eine Gefahr darstellen – und in diesem Kontext besonders auf die Anekdote, in der sich der Bruch Freuds mit Jung ankündigt. 22 Dabei sind die jeweiligen Schlussfolgerungen, die sich aus je erneuten Lektüren und Analysen ergeben, äußerst verschieden. Jede Relektüre lässt einen anderen Aspekt solcher Anekdoten aufblitzen. Bedeutsam ist für Blumenberg aber auch Freuds Sicht auf das Verhältnis der Psychoanalyse zu den Naturwissenschaften und der darin implizierte Anspruch, die hermeneutische Methode sei nur ein Provisorium, solange man das Eigentliche nicht erreicht habe, vergleichbar mit Descartes’ morale provisoire. In dieser Insistenz der Relektüren zeigt sich noch eine weitere Parallele zwischen dem Analytiker und dem Metaphorologen. Die Psychoanalyse kann sich nie gewiss sein, dass ein Material ausinterpretiert ist, dass nicht am Ende eine scheinbar gelungene Deutung doch nur eine Wahrheit verbirgt, die noch hinter der angenommenen Bedeutung liegt. Deshalb war für Freud auch jede Analyse potentiell eine unendliche. 23 »Freud hatte der Gedanke nie wirklich geschreckt, die Analyse könnte im Grenzfall die lebenslange Arbeit eines Analytikers mit einem Patienten sein.« 24
22 Vgl. Blumenberg, Lesbarkeit (wie Anm. 12), S. 352, derselbe, Höhlenausgänge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 694 ff., TRD 35a. 23 Blumenberg hat in seinen frühen Schriften die Geschichte veränderter Wahrheitsvorstellungen skizziert. Im Rahmen eines mittelalterlichen, als geschlossen verstandenen Kosmos war die ganze Fülle der Wahrheit erlangbar, und sie eröffnete sich dem Einzelnen von selbst. Erst mit der Neuzeit erhielt der Prozess der Wahrheit einen Arbeitscharakter. Wahrheit musste nun schwer errungen werden, und das war mehr, als ein Einzelner bewältigen konnte; die Wahrheitsfindung wurde zum kollektiven Projekt. Mit der Fortschrittstheorie erstreckte sich dieses Kollektiv dann auch in der Zeit. Zwar konnte man Erkenntnisse im Laufe der Jahrhunderte kumulieren, doch bleibt der Prozess unabgeschlossen: Das Wissen um die Welt ist nicht mehr endlich (vgl. Hans Blumenberg, Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik des Begriffs der wissenschaftlichen Methode, Studium Generale V [1952], 133–142). Die Psychoanalyse geht im Grunde noch einen Schritt weiter, indem sie nicht nur die Arbeit am Wissen als ganzem, sondern auch die am einzelnen Wissensobjekt als unendliche betrachtet. 24 Hans Blumenberg, Die unendliche Theorie, in: derselbe, Ein mögliches Selbstverständnis, Stuttgart: Reclam 1997, S. 211.
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Von diesem Gedanken zeigt sich Blumenberg immer wieder fasziniert. Er bedeutet auch für ihn eigentlich, dass kein Thema, kein Text jemals vollständig erschlossen ist. In gewisser Hinsicht ist seine eigene Auseinandersetzung mit der Geistesgeschichte gleichfalls eine unendliche Analyse. Auch er kommt immer wieder auf seine Themen zurück. 25 Das grenzt an die Hermeneutik des absoluten Lesers, die Blumenberg bei der Lektüre verschiedener Autoren beschäftigt hat, etwa bei Schopenhauer oder bei Hebbel. Blumenberg beginnt also in den 1970er Jahren selbst mit den Affinitäten seiner Theorie und der Freuds zu spielen. Aber das Spiel bleibt alles in allem eine Koketterie, die von einem fundamentalen Unbehagen überschattet wird. Dieses Unbehagen an der Psychoanalyse äußert sich zunächst auf dem Umweg über die Auseinandersetzung mit der Person ihres Schöpfers Freud.
III. Auseinandersetzung: Einsicht in die Notwendigkeit vs. Kampf um Selbstbehauptung In der Verführbarkeit des Philosophen greift Blumenberg eine Anekdote aus der Biographie Sigmund Freuds auf, der sie 1886 selbst in einem Brief an Joseph Breuer erzählt hat: Als Landwehrarzt bei einer Übung in Olmütz muss Freud feststellen, dass man dort im Kaffeehaus sehr hierarchiefixiert ist und vor allem die Generäle hofiert werden. Als er einmal besonders lang auf ein bestelltes Glas Wasser warten muss, wird es ihm zuviel: »Er packt einen der Kellner und schreit ihn an: ›Sie, ich kann auch noch einmal General werden, bringen Sie mir daher ein Glas Wasser.‹ Das habe gewirkt.« 26 Blumenberg kommentiert diese Stelle zunächst mit den Worten: »Wer Freuds Geschichte kennt, will um keinen Preis Psychologie treiben (es ist immer schäbig das am Meister zu tun).« 27 Man kann sich leicht vorstellen, warum er das schreibt. Denn den Schulgründer mit seinen eigenen Mitteln zu analysieren, ist eine Form des Vatermords. Für ein Fallbeispiel vgl. Rüdiger Zill, Der Umweg als Abkürzung. Anmerkungen zu einer Hermeneutik des Auflesens, in: Peggy Breitenstein, Volker Steenblock, Joachim Siebert (Hgg.), Geschichte – Kultur – Bildung. Philosophische Denkrichtungen. Johannes Rohbeck zum 60. Geburtstag, Hannover: Siebert 2007, S. 86–102. 26 Blumenberg, Verführbarkeit des Philosophen (wie Anm. 18), S. 163. 27 Ebd. 25
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Das ist ein Thema, das den Autor von Totem und Tabu offensichtlich lange beschäftigt hat und das auch Blumenberg immer wieder kommentiert. 28 Am Meister Psychologie zu treiben, sei schäbig, schreibt Blumenberg und tut es dennoch. Denn die Fortsetzung seines Kommentars ist in gewisser Weise Psychologie am Psychologen – und zwar auf fast metaphorologische Art, denn er bezieht die Anekdote auf eine andere, frühere. In der Traumdeutung berichtet Freud von der Erfahrung seines Vaters, der eines Tages auf offener Straße von anderen Passanten gedemütigt wird, indem man ihm die Mütze vom Kopf schlägt und ihn anschreit: »Jud, herunter vom Trottoir!« Als der Sohn daraufhin wissen will, was der Vater getan habe, nimmt dieser das Geschehen als Zeichen dafür, dass die Zeiten besser geworden seien. Blumenbergs abschließender Kommentar: »Hatte der Sohn es nicht glauben wollen? Fast sieht es aus, als hätte er die Probe darauf gemacht: Ein Glas Wasser, in Olmütz. Und fast sieht es aus, als hätte er sein Leben lang, immer wieder, darauf die Probe erzwungen.« 29 Aber Blumenbergs Analyse am Meister, der seiner ja nicht wirklich ist, zeigt auch die ganze Distanz, die er zwischen sich und Freud legt. Es geht hier nicht um den Ödipuskomplex, sondern um Selbstbehauptung. Der Kampf um Selbstbehauptung ist Blumenbergs großes Thema für die Menschheitsgeschichte im Allgemeinen und die Geistesgeschichte im Besonderen. Für Freud ist Freiheit in gewisser Hinsicht Einsicht in die Notwendigkeit. In Blumenbergs Sicht auf die Psychoanalyse ist die diktatorische Autorität des Therapeuten von dem Zwang der Sache oft schwer zu unterscheiden, um so mehr, wenn es gar keinen Punkt der vollendeten Heilung gibt, stattdessen eine unendliche Analyse immer mehr in die Abhängigkeit des Analytikers führt. Blumenberg setzt dagegen auf Selbstbehauptung. In seinen Augen können wir unseren Zwängen entkommen, auch ohne unter neue, nämlich die von psychoanalytischen Autoritäten, zu geraten. Die universale Sinnbehauptung geht hier gerade nicht mit einer Negation der Freiheit einher. Wir können entkommen, wenn auch vielleicht nur auf Krücken. Psychisch und geistig ist der Mensch bei Blumenberg daher viel eher ein »Prothesengott« als bei Freud. Denn er schafft sich buch28 29
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Vgl. Zill, Überlebensthemen (wie Anm. 3). Blumenberg, Verführbarkeit des Philosophen (wie Anm. 18), S. 163 f.
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stäblich Freiräume, indem er mit seinen materiellen wie geistigen Instrumenten die drängenden und bedrohlichen Zwänge der Wirklichkeit auf Distanz bringt und sie sich so vom Leibe wie von der Seele hält. 30 Zugespitzt gesagt, geht es Blumenberg um eine Philosophie der Freiheit, eine Idee, der Freuds negative Anthropologie nur in Grenzen traut. Selbstbehauptung darf für Blumenberg aber nicht in Selbstüberhebung umschlagen. 31 Solch Hybris diagnostiziert er immer wieder an der Person Freuds, eine Haltung, die zum Beispiel auch in dessen Stilisierung seiner selbst als Opfer zum Ausdruck kommt. Und genau dieser Gestus greife nun auch auf Praxis und Theorie der Psychoanalyse über.
IV. Kritik der theoretischen Neugier In einer anderen der »Freud-Facetten« analysiert Blumenberg eine Bemerkung aus einem Brief Freuds an dessen Freund Wilhelm Fließ. Ein Patient, heißt es da, habe die Behandlung frühzeitig abgebrochen, weil es ihm besser gehe. Dadurch gefährde er aber die endgültige Heilung.
Die Bedeutung der Anthropologie für Blumenbergs Denken ist in letzter Zeit durch die Publikation eines großen Nachlass-Manuskripts mit dem Titel Beschreibung des Menschen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006 besonders deutlich geworden. Die Literatur zu Blumenbergs Anthropologie ist umfangreich. Um nur einige neuere Arbeiten zu nennen, die den Nachlassband schon mit einbeziehen: Rebekka A. Klein (Hg.), Auf Distanz zur Natur. Philosophische und theologische Perspektiven in Hans Blumenbergs Anthropologie, Würzburg: Königshausen und Neumann 2009; Michael Moxter (Hg.), Erinnerung an das Humane. Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie Hans Blumenbergs, Tübingen: Mohr Siebeck 2011; Angus Nicholls, Myth and Human Science. Hans Blumenberg on Myth, Routledge 2013 (im Erscheinen); Barbara Merker, Geschichte(n) der Paläoanthropologie, in diesem Band S. 111–125. 31 Zu den Differenzen von Blumenberg und Freud siehe auch Jürgen Goldstein, Nominalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham, München: Alber 1998, S. 48 f., der auch Blumenbergs von Freud abweichende Intention betont, den »Spielraum[] der gewesenen Möglichkeiten, der Bedingung der Freiheit einer geschichtlichen Handlung gewesen ist« zu rekonstruieren. Blumenbergs Hintergrundsbegriff ähnele im Übrigen nur formal dem Freuds, er stamme vielmehr aus der Phänomenologie Husserls. Auch Felix Heidenreich sieht in Mensch und Moderne bei Hans Blumenberg, München: Fink 2005, S. 84–86 vor allem die Differenz zwischen Blumenberg und Freud. 30
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So sieht einer der Sätze aus, von denen man getrost sagen kann, in der Geschichte wären sie erst seit kurzem überhaupt möglich geworden. Es geht dem Patienten sehr gut, aber er benutzt diesen Gewinn nur dazu, sich nach sieben Monaten der Begierde seines Arztes zu entziehen, es ihm noch besser und womöglich endgültig gut gehen zu lassen. 32
Aber sorgt sich Freud bloß um die gefährdete Gesundheit seines Patienten? Blumenbergs weitere Argumentation biegt zunächst vom graden Weg dieser Frage ab und zieht den Vergleich zu bestimmten »Weltverbesserern«, die ganz ähnlich argumentieren: Zufriedenheit mit dem Bestehenden gefährde die Realisierung einer gerechten und wirklich glücklichen Welt. Nach diesem Vergleich kommt er zurück auf Freud, aber genau genommen auf ein anderes Motiv, scheinbar schweift er von der Abschweifung ab: »Bei Freud ist der Verdacht gar nicht auszuräumen, seine theoretische Neugierde sei das Motiv seiner Unzufriedenheit mit einem Patienten, der seine Geheimnisse noch nicht allesamt preisgegeben hatte, weil es ihm auch so schon sehr gut ging.« 33 Der Arzt ist also gar nicht in erster Linie am Patientenwohl interessiert, sondern an der Befriedigung seiner Neugier, nicht altruistische Praxis bestimmt sein Handeln, sondern egoistische Theorie. An einer anderen Stelle, einem Fragment zur Geschichte der Metapher von der nackten Wahrheit, heißt es von Freud, er bleibe stets »ein kühler, beteiligter Zuschauer, der Therapie vor allem betreibt, weil sie das Mittel zur Bestätigung seiner Grundauffassungen ist«. 34 Und so fährt die Analyse dann auch fort, indem sie auf die »Weltverbesserer« zurückkommt und provokativ fragt, ob sie »vielleicht auch nur die neugierigen Beobachter eines Experiments« seien, »bei dem auf jeden Fall für sie etwas Verwertbares herauskommen würde, wie immer es ausginge[.] Damit es aber stattfinden kann, müssen große und unbestimmte Erwartungen innerviert werden. Das Schlimmste ist immer, wenn der Klient wegen zu früher Teilerfolge die Flucht ergreift – um für sich zu retten, was zu retten ist.« 35 Das schreibt immerhin ein Autor, der intensiv die Nobilitierung
Blumenberg, Verführbarkeit des Philosophen (wie Anm. 18), S. 170 f. Ebd., S. 171. 34 Blumenberg, Gewand des Traums (wie Anm. 17), S. 73. Eine ähnliche Kritikfigur findet sich auch in dem unpublizierten Fragment »Moses, der Ägypter« (UNF 350–360). 35 Blumenberg, Verführbarkeit des Philosophen (wie Anm. 18), S. 171. 32 33
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der Neugierde im Spätmittelalter untersucht hat 36 und der auf die Frage, warum wir so vielen scheinbar nutzlosen technischen Höchstleistungen nachjagen, nicht müde wird zu antworten: Weil wir es können, oder besser: weil wir wissen wollen, ob wir es können. 37 Was Blumenberg jedoch an der Dominanz der theoretischen Neugierde über die praktische Fürsorge besonders stört, ist, dass sie auch dann in den Vordergrund tritt, wenn es um Fälle geht, die sich nach Freuds eigenem Bekenntnis gar nicht psychoanalytisch heilen lassen. Denn das heißt letztlich, dass man die Patienten über ihre Unheilbarkeit im Ungewissen hält und sie auch noch bezahlen lässt für eine reine Forschung, die sich zwar ihrer bedient, aber allenfalls in der Zukunft, dann jedoch nicht für sie, Früchte trägt. Freud, so ist Blumenbergs strenges Fazit, »forscht im Maße, in dem er nicht heilt«. Mehr noch: Er sei »in dieser theoretischen Moral von erstaunlicher, ebenso bewundernswürdiger wie erschreckender Unerschrockenheit«.38 Die Psychiatrie hingegen – so sein Gegenbild – hätte ihre Patienten wenigstens nicht durch ein falsches Heilsversprechen gelockt. Hätte sie Paranoia diagnostiziert, hätte sie ihren Patienten nicht länger hingehalten, genau das aber tat der Analytiker. 39
V.
›Widerstand‹ als Element einer Paratheorie
Akzeptiert der Patient diese Rolle aber nicht, so reagiert die Psychoanalyse, die ihn praktisch nicht wieder in die Behandlung zurückzwingen kann, immerhin mit einer theoretischen Sanktion: Sie erklärt den Abbruch der Analyse als unbewussten Widerstand gegen sich und damit zur ebenso unbewussten Bestätigung ihrer Richtigkeit. Die Diagnose des Widerstands beschäftigt Blumenberg vor allem in dem Manuskript »Ausgeträumte Träume«. Auch dort erwähnt er den Fall eines Patienten, der seine Therapie aus eigenem Entschluss abbricht, indem er erklärt, gesund zu sein – und zwar schon nach zweistündiger Konsultation. Für Blumenberg ist
Vgl. Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde (wie Anm. 10). Vgl. z. B. Hans Blumenberg, Flußaufwärts wie die Lachse zur Laichzeit, in: derselbe, Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 212–215. 38 TRD 28 d. 39 Vgl. dazu auch TRD 28 e. 36 37
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die Art und Weise, wie Freud diesen Abbruch interpretiert, »eine schwerwiegende Mitteilung«, denn sie suggeriere, »erklärte Heilungen könnten Formen des Widerstands gegen die Analyse, gegen die Fortsetzung der Analyse, sein«. 40 ›Widerstand‹ ist ein zentraler Begriff der psychoanalytischen Theorie und wird als solcher auch zu einem herausragenden Stein des Anstoßes für Blumenberg. Für Freud ist er eine Negation, die in eine positive Bestätigung umgedeutet wird; wir kennen diese Figur der Leugnung, die eigentlich erst die Richtigkeit der Deutung bekräftige, aus vielen Beispielen. Grundsätzlich erscheint der Begriff des Widerstands dabei aber auf zwei Ebenen: auf einer innertheoretischen 41 und auf einer selbstreflexiv wissenschaftstheoretischen. 42 Innertheoretisch bezeichnet er zum Beispiel die Leugnung des Analysanden, dass die Deutung einer Traumpassage zutreffen könne, um sich ihrer unangenehmen Wahrheit zu verschließen. Blumenberg widmet sich dieser Variante des Widerstands nicht im Detail, gibt aber zu bedenken, dass man ihn doch auch der Würde des Menschen zuschreiben könnte, eines Menschen eben, der sich nicht in alle Einzelheiten zerlegen lassen wolle. Bei Charcots Patienten habe Freud schließlich sehr wohl den Widerstand akzeptiert, nicht aber bei seinen eigenen. Die Diagnose des Widerstands kommt aber nicht nur da ins Spiel, wo die Analyse nicht recht vorankommt, sondern eben auch da, wo sie ganz abgebrochen wird. Hier beginnt die Reflexion auf eine Metaebene überzuwechseln, denn Freuds Theorie enthalte »eine implikative Paratheorie für die Fälle nachträglich als gescheitert ausgegebener Analysen, indem [als] eine der Formen des bei tieferem Zugriff anwachsenden Widerstands die Selbsterklärung des Patienten als geheilt auftritt«. 43 Damit hat Blumenberg den Begriff der Paratheorie eingeführt, der von der psychologischen Dimension des Widerstands zu seiner wissenschaftshistorischen führt. TRD 28 c. So verwendet Freud den Begriff schon seit den Studien über Hysterie (1895) als zentrales Element seiner Theorie und hält an ihm bis in die letzten Arbeiten fest. Systematisch unterscheidet er auf der individuellen Ebene fünf Arten des Widerstands aus drei verschiedenen Quellen (Ich, Es, Über-Ich), vgl. Sigmund Freud, Hemmung, Symptom und Angst (1926), in: derselbe, Gesammelte Werke XIV, London: Imago 1948, S. 192 f. 42 Vgl. z. B. Sigmund Freud, Die Widerstände gegen die Psychoanalyse (1925), in: derselbe, Gesammelte Werke XIV (wie Anm. 41), S. 99–110. 43 TRD 28 c//d. 40 41
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Die Paratheorie zu einer Theorie liefert, in Konsistenz mit der Haupttheorie, Erklärungen für deren Folgen: Erfolg und Mißerfolg, Widerstand und leichtfertige Zustimmung, Versagen der Anwendung und schließlich die Konkurrenzlust anderer Theorien. Paratheorien können in den Haupttheorien implizite oder explizite enthalten sein. Sind es zumeist auch, werden aber im Maße ihrer Benötigung mehr und mehr herauspräpariert, isoliert und können die Haupttheorie gleichgewichtig oder zu ihr übergewichtig werden. 44
Sie sind also eine Art Sicherheitsfallschirm – Paratheorie als ›parachute‹. Und in diesem Sinne benutzt Freud den ›Widerstand‹ vor allem auch, um mit diesem Begriff die (scheinbar) mangelhafte Akzeptanz seiner Lehre insgesamt zu erklären. Aus einem gegenstandsbezogenen Teil der psychoanalytischen Theorie wird somit eine Form der Autoimmunisierung jener Lehre selbst. Blumenberg will hier ein Moment der (ironischen) Bewunderung nicht verbergen: Diese Art von Nebentheorie perfektioniere einen Ansatz, denn sie mache den Widerstand gegen ihn nicht nur – in Verdrehung der Intention der Opponenten – zum Kriterium ihrer Richtigkeit, sie erlaube es den Anhängern der angefeindeten Theorie auch, ohne Bedenken an ihr festzuhalten. Schon Karl Popper hatte (neben anderen theoretischen Ansätzen) die Psychoanalyse dafür kritisiert, dass ihre Behauptungen nicht falsifizierbar seien, dass ihre Anhänger alle Daten (wie widersprüchlich sie auch seien) als Bestätigung ihrer Diagnose interpretieren. 45 Blumenberg überbietet diese Kritik aber, denn er liest sie im Lichte ihrer eigenen Intentionen. Die Paratheorie sei »ein Stück im Selbsterhaltungssyndrom einer Theorie, die sich der Zumutung an das Durchhaltevermögen ihrer möglichen Anhänger bewußt ist«. 46 Die Theorie des Widerstands wird selbst zur Geste der Resistenz. Ein Vergleich zu den Anhängern religiöser Sekten liegt nahe, und Blumenberg zieht ihn. »Aus der Geschichte der Psychoanalyse eine Passion ihres Stifters zu machen, gehört zu den Regularien der Legendenbildung, wie das Martyrium zur Frühgeschichte einer Religion.« 47 Der Umgang mit der eigenen Person ist bei Freud also von dem mit der Sache, d. h. von Theorie und Praxis der Psychoanalyse, nicht zu TRD 1. Vgl. Karl Popper, Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis. Bd. I, Tübingen: Mohr Siebeck 1994, S. 48 ff. 46 TRD 01 47 TRD 11. 44 45
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isolieren. Worauf Blumenberg hier letztlich den Finger legt, ist die Untrennbarkeit des Boten von seiner Botschaft: sowohl beim Analysierten, als auch beim Analytiker. In der Tat gehört es zum weithin anerkannten Selbstverständnis der Psychoanalyse, dass ihr Leidensweg ein steiniger gewesen sei, dass sie selbst in ihren Anfangsjahren großen Anfeindungen ausgesetzt war, sei es wegen ihrer stark sexuell konnotierten Inhalte, sei es auch aus antisemitischen Motiven. Das habe vor allem zu einer Missachtung Freuds und seiner Lehre durch die Wiener Universität im Allgemeinen und seiner Kollegen im Besonderen geführt. Diesem Selbstverständnis hat schon ein 1960 erschienenes Buch von Josef und Renée Gicklhorn widersprochen.48 Blumenberg bezieht sich nun auf diesen Band, um ihn im Detail zu kommentieren und die Bedeutung der Freud’schen Paratheorie näher zu untersuchen.49 Josef Gicklhorn, Renée Gicklhorn, Sigmund Freuds akademische Laufbahn im Lichte der Dokumente, Wien/Innsbruck: Urban und Schwarzenberg 1960. 49 Korreliert man übrigens den Eintrag des Gicklhorn’schen Buchs in die Leseliste (1. 10. 1980) mit der Datierung der Kapitel der »Ausgeträumten Träume« (30. 9.– 1. 12. 1980), wird sichtbar, dass sich in diesem Fall Rezeption unmittelbar in Produktion, d. h. in ein immerhin mehr als hundertseitiges Manuskript, umgesetzt haben muss. Ulrich von Bülow und Dorit Krusche haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Blumenbergs Texte in der Regel mit Hilfe eines mehrstufigen Verfahrens entstanden sind: 1. analytische Lektüre, 2. Sammlung von zentralen Zitaten auf Karteikarten, mit denen dann 3. ein umfassender Text diktiert wurde und 4. die Korrektur des daraus entstandenen Typoskripts. Im Fall der »Ausgeträumten Träume« kann man bemerken, dass die Karteikarten als »Brutkasten der Gedanken« (Ulrich von Bülow, Dorit Krusche, Nachwort, in: Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 281, vgl. auch dieselben, Vorläufiges zum Nachlass von Hans Blumenberg, in diesem Band S. 273–288) übersprungen worden sind oder doch nur eine untergeordnete Rolle hatten. Auch wenn das so entstandene Manuskript noch keine Druckfassung ist und man nicht beurteilen kann, wie stark Blumenberg es überarbeitet hätte, wäre es überhaupt publiziert worden, so ist es doch argumentativ und sprachlich so dicht ausformuliert, dass man nicht lediglich von Notizen oder gar kommentierenden Exzerpten sprechen kann. Bei der Schnelligkeit, mit der in diesem Fall Lektüre in Diktat transformiert worden ist, liegt der Verdacht nahe, dass es sich hier um eine Art von Affektschreiben handelt. Das widerspricht gerade der von Blumenberg so vehement verfochtenen Nachdenklichkeit und seinem Lob des Umwegs. So oder so, wenn Philipp Stoellger aber bemerkt, dass Blumenbergs »Denkgeste, die den Nachdenklichen auf Umwege lockt« einem Denkstil entspricht, der »›als Schreibstil‹ manifest werden kann: die Phänomenalität des Denkstils ›ist‹ der Schreibstil dieses Textes« (Vom Denkstil zum Sprachstil. Von Fleck zu Blumenberg – und zurück: Zur möglichen Horizonterweiterung der Wissenschaftsgeschichte, in diesem Band S. 196–228, hier S. 221), dann stimmt das auch für die »Ausgeträumten Träume«, allerdings unter dem Vorbehalt, dass es nicht allein um ›Poesie‹, 48
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Folgt man – wie Blumenberg – diesem Material, dann waren Freud und seine Lehre keineswegs das Ziel einer außergewöhnlich starken innerakademischen Ablehnung, von seiner Fakultät ist er sogar unterstützt worden. Blumenberg interpretiert die Kämpfe um die Psychoanalyse eher als Teil eines normalen Paradigmenwechsels, wobei das Verhalten der akademischen Administration sogar auf ein gesundes Maß an wissenschaftspolitischer Vorsicht zurückzuführen sei. Warum aber wurden die Verzögerungen bei der Durchsetzung der Psychoanalyse von Freud und seinen Anhängern dann als massiver ›Widerstand‹ erfahren? Bestätigt diese Klage nur den Wunsch nach Legendenbildung? Blumenberg hat das nahegelegt, sucht aber noch nach einem anderen Motiv. Dabei schreckt er erst recht nicht vor dem selbst aufgestellten Gebot zurück, keine Psychologie am Psychologen zu versuchen. Im Grunde kann er sich hierfür auf Freud selbst berufen: Immerhin war genau das, und zwar wiederum als Figur der Selbstreflexion, Teil des Gründungsakts der Psychoanalyse: Freuds Bergwerk für die eigene Theorie war bekanntlich die Selbstanalyse, die dann auch in verschlüsselter Form einen Großteil des Materials in der Traumdeutung bereitstellte. Blumenbergs Diagnose aber ist spekulativ. Es habe bei Freud geradezu eine Lust am ausbleibenden Avancement gegeben: »die heimliche Einwilligung in den Widerstand der Umwelt gegen eine Theorie, deren ungeheuerliche Zumutung empfindbar sein sollte«. 50 Damit wird die Psychoanalyse nicht nur gegen sich selbst gewendet, sondern auch gegen ihren Gründer. Man mag das als Ranküne zurückweisen – oder auch als Widerstand, der die Richtigkeit der Theorie bekräftigt –, wie überhaupt die Verteidiger der Psychoanalyse sicher einiges gegen die Unterkomplexität dieser Kritik ins Feld zu führen haben. Letztlich kann man solche Diagnosen auch als affektives Unbehagen gegenüber einem Theoretiker, der einen anderen intellektuellen Stil vertritt, abtun; inhaltlich führen sie nicht weiter. Die Kritik an Freud und die Distanzierung von psychoanalytisch inspirierten Theoriemomenten geht aber auch einher mit einem Perspektivenwechsel, und diese Verschiebung der Aufmerksamkeit ist
sondern um Poiesis geht, nicht lediglich um eine Verschränktheit von Denk- und Sprach- bzw. Schreibstil, sondern um das gesamte Gefüge eines geistigen Produktionsprozesses, der andere Medien und Praktiken mit einbezieht, kurz: um einen poietischen Stil. 50 TRD 15 d. A
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durchaus produktiv. Blumenberg nimmt im Zusammenhang seines Freud-Kommentars auch wissenssoziologische Bedeutungen von Theorien in den Blick. Der Begriff der Paratheorie verweist einmal mehr auf das, was Blumenberg schon bei den Untersuchungen zur Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit im Auge hatte: die lebensweltliche Bedingtheit und Einbindung von Wissenschaft. Konkret aber kann man sie auch als einen Beitrag zur Theorie des Denkkollektivs lesen. So entsteht das »Gefühl der Denksolidarität« unter »mental gleichgestellte[n] Teilnehmern desselben Denkkollektives«, die »gemeinsame Stimmung« in dieser Gemeinschaft nicht nur positiv, weil man gemeinsam »im Dienste einer überpersönlichen Idee« arbeitet, 51 sondern auch negativ durch die Abgrenzung von einem wissenschaftlichen Gegner. Das ist aber keine rein intellektuelle Aufgabe, sondern auch eine psychosoziale. 52 Paradigmenwechsel sind auch Machtfragen; nicht zuletzt das spricht die Theorie der Paratheorie an. Im Kampf um Anerkennung müssen die konkreten Individuen, die ihn ausfechten, auch psychisch gerüstet sein, um ihn zu bestehen. Dazu hat jede neue Schule ihr Waffenarsenal. Besonders große Bindungskraft haben Denkstile da, wo sie – und das ist bei der Psychoanalyse in außergewöhnlich starkem Maß der Fall – diese Waffen aus sich selbst heraus entwickelt haben. Nicht zuletzt das ist ein Ertrag der Blumenberg’schen Freud-LekLudwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 139 f. 52 »Eine starke Theorie«, schreibt Philipp Stoellger (Vom Denkstil zum Sprachstil, S. 223 f. in diesem Band), »erweist ihre Stärke in der Regel auch darin, dass sie nicht in Verlegenheit gerät, sondern weiß und gelöst hat, was der schwachen hingegen Probleme bereitet. Diese Stärke kann darin eskalieren, dass eine Theorie zu erklärungskräftig wird, aber schon diesseits dieser Eskalation ist eine starke Theorie insofern der Anfang der Barbarei, als sie die Situation der Nachdenklichkeit erfolgreich zu vermeiden vermag. Starke Theorien verbreiten zuviel Fraglosigkeit und Unbefragbarkeit und unterdrücken Zweifel und Zögern, die Umwege und neue Perspektiven finden könnten.« Wer wie Blumenberg aber gerade auf Zögern, Umwege und Nachdenklichkeit setzt, muss gerade vor sich selbst immunisierenden Paratheorien zurückschrecken. Vielleicht ist auch dies ein Grund dafür, dass Blumenbergs eigenes Denken nicht nur keine Paratheorie entwickeln konnte, sondern schon die Theorie erster Ordnung verweigerte und an ihre Stelle eine narrative Philosophie setzte, bei der die Narration mehr und mehr den Charakter einer großen Erzählung verloren hat und stattdessen zu einer Sammlung von Begriffen in Geschichten geworden ist. 51
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türe, der sich produktiv weiterentwickeln lässt, unabhängig davon, ob man die inhaltliche Kritik zutreffend und aktuell oder falsch bzw. ohnehin müßig findet.
VI. Die vielen Seiten Sigmund Freuds Blicken wir noch einmal zurück: Welche Bedeutung hatte Sigmund Freud letztlich für Blumenbergs Denken? Auffällig ist, wie sich Blumenbergs Sicht auf die Psychoanalyse im Laufe seiner Beschäftigung mit Freuds Schriften verändert. Aus strukturellen Ähnlichkeiten zwischen der frühen Metaphorologie und psychoanalytischen Motiven wird zunächst ein Spiel mit partiellen Affinitäten. Je intensiver Blumenberg aber Freud liest, desto kritischer wird seine Einschätzung. Es ist eine noch offene Frage, ob dies auch zu der schon oft beschworenen Umbildung der Metaphorologie zu einer allgemeinen Theorie der Unbegrifflichkeit beigetragen hat. 53 Schließlich findet diese Umbildung etwa zur selben Zeit wie die verstärkte Freud-Lektüre statt. Zumindest auf der sprachlichen Ebene tritt bei Blumenberg die Metaphorik des Untergründigen, wie er sie in den ersten Texten zur Metaphorologie verwandt hatte, zurück. Es wäre allerdings eine Vereinfachung, wollte man in das Verhältnis Blumenbergs zu Freud eine eindimensionale Entwicklung hineinlesen. Freud war in Blumenbergs Denken immer in mehreren Hinsichten präsent: als Gegenstand historischer Untersuchung, als Denker, mit dem man sich vergleichen konnte, als Gegner in theoretischen Fragen, aber auch als affektiver Antipode, dessen intellektueller Habitus den Verfechter der Nachdenklichkeit abstieß. Es gibt immer wieder Autoren, die sich für einen Denker nicht in eine einzige, funktional klare Beziehung setzen lassen. Die Intensität der Beschäftigung mit ihren Arbeiten ist vielmehr so groß, dass sie im Denken auf eine schlecht definierbare Art anwesend sind. Wie Familienmitglieder, die man Blumenberg hat die Veränderung in seinem Ansatz – sowohl im Verhältnis der Metaphorologie zur Begriffsgeschichte als auch in ihrer Erweiterung als Theorie der Unbegrifflichkeit – selbst betont (vgl. Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 77), dennoch ist der Umfang, die Reichweite und die Relevanz dieses Umbaus in der Theorie noch lange nicht in vollem Umfang untersucht. Vgl. zuletzt Margarita Kranz, Blumenbergs Begriffsgeschichte. Vom Anfang und Ende aller Dienstbarkeiten, in diesem Band S. 231–253.
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manchmal hasst, manchmal liebt, die einem zuweilen auf die Nerven gehen und gelegentlich inspirieren, immer aber dazugehören, können sich auch andere Autoren in die geistige Familienaufstellung einreihen. Es gibt einige Theoretiker, die solch eine Rolle für Hans Blumenberg gespielt haben, Freud gehört ohne Zweifel dazu. Es ist dabei eine besondere Pointe, dass die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zu Darmstadt Hans Blumenberg 1980 den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa verliehen hat. In Blumenbergs Dankesrede, ein Schlüsseltext für sein Denken, der den Titel »Nachdenklichkeit« trägt, fällt der Name Freuds kein einziges Mal.
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On Hans Blumenberg’s Genesis of the Copernican World
»The combined circumstance that we live on the Earth and are able to see stars – that the conditions necessary for life do not exclude those necessary for vision, or vice versa – is remarkably improbable.« It is with this alluring declaration that Hans Blumenberg opens his monumental work, The Genesis of the Copernican World. 1 Soon after, the author poses Poincaré’s no less dramatic hypothetical question from the early 1900s: Would a Copernicus ever have arisen if human beings were unable to gaze at the stars because of, say, a permanent layer of thick clouds in the atmosphere? Would we have realized that the earth revolves around its axis and circles the sun? Closed in an atmospheric ›cave‹, how would humankind ever have learnt that the planet belongs to a solar system and to a universe that is comprised of myriad worlds? Poincaré averred that a Copernicus would have indeed emerged, but later on and as a pure physicist, rather than an astronomer. Moreover, the findings of any physicist that based his or her research on observations of the planet and its immediate surroundings would not have differed greatly from the Aristotelian and Scholastic traditions, namely, the prevailing doctrines and premises with which Copernicus had to contend. Blumenberg casts doubt on Poincaré’s assertion. In his opinion, it is illogical to draw a distinction between the advent of modern physics and the astronomical revolution, for both essentially share the same history. Furthermore, as the Blumenberg translator and scholar Robert Wallace points out, 2 Poincaré’s view, like the entire historiography of the sciences, avoids a specific characterization of pure theory that arises from its history. Whereas for modern science Copernicus’ theory is independent of and unconnected to any particular 1 See Hans Blumenberg, The Genesis of the Copernican World, translated by Robert M. Wallace, Cambridge/London: MIT Press 1987, p. 772, here p. 3 (henceforth all parenthetical page references are to this book). 2 Ibid., p. xxxv.
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worldview, Blumenberg contends that it was originally, and until the advent of modern science, intimately connected to a specific view of the world, and as to astronomy, to star gazing. Seeing, unlike other sense data, held a privileged status that made the theory and its actualization possible. The changes in the way the world is viewed – that is, the contradictions that were discovered – and the very concept of ›viewing‹ are the primary developments that enabled Copernicism to gain influence and alter the course of human self-consciousness. »The change that was brought about by Copernicus in mankind’s historical consciousness of itself is conceivable, in its radical quality, only against the background and as consequence of the prior history.« (p. 5) This somewhat circuitous account not only provides an early sampling of the book’s argumentative style, but also hints at the nature of its content. Those who follow the long historical narrative of the logic behind the Copernican world’s rise out of the necessary, nonscientific, conditions that obtained during the late Middle Ages can look forward to an intellectual adventure extending all over the history of Western consciousness. Though far from seamless, Blumenberg’s book is undoubtedly a one-of-a-kind journey. Though not always convincing, The Genesis of the Copernican World improves our understanding of this early-modern thinker’s revolution and the modern age in general. More specifically, Blumenberg offers a detailed analysis of medieval Christian thought: not only religious, but philosophical, scientific, and metaphorical. In his view, this intellectual context paved the way for the Copernican reform by removing many age-old obstacles and creating a synthesis of vital ancillary ideas. I will summarize this process and present Blumenberg’s central arguments that appear in the course of his work in what is quite often a less than coherent manner. Given the vast array of topics and surfeit of details that Blumenberg offers, this survey is far from exhaustive. I will barely touch upon the following major topics of the book: the ramifications of Copernicism on the ancient idea that contemplating the cosmos is the supreme fulfillment of mankind (part I of the book, »The Ambiguous Meaning of the Heavens«); the typology of the approaches and reactions to the theory within a hundred-year span of Copernicus’ proclamation that his arguments should be viewed as the new truth (part III, »A Typology of Copernicus’ Early Influence«); Copernicus’ place in the history of the concept of time and his theory’s impact on this concept (part IV, »The Heavens Stand Still and Time Goes on«); the metaphors that have since 150
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been extracted from Copernicism and its philosophical uses in the works of Johann Heinrich Lambert and Immanuel Kant (part V, »The Copernican Comparative«); and lastly, Blumenberg’s account of the meaning of Copernicism in the space age, from the standpoint of our special place in the universe and our faculty of reason (part VI, »Vision in the Copernican World«). Like other monumental works, Blumenberg’s book calls for – perhaps more than anything else – a comprehensive critical study. The ocean of details is liable to drown those readers who are not well versed in all the topics that are raised. Save for a general vague impression, those unfamiliar with most of the texts that Blumenberg analyzes will be incapable of judging the myriad interpretative readings that the work offers, most of which appear to be new and refreshing as well as speculative and provocative. Another potential stumbling block is the book’s fair share of disciplinary and methodological ambiguity. The majority of the text is devoted to the historical narrative, so that, at first glance, it appears to fall under the heading of a history of science and ideas. However, on closer inspection, the narrative offers a novel commentary on modernism, a unique conception of scientific rationalism, and numerous arguments concerning the philosophical foundation, characterization, and objective of the historiography of the sciences and ideas – topics that are usually classified under the history of philosophy and the philosophy of culture, science, and history. This variety dictates an intricate methodology, which combines a historical survey, analysis, and detailed account of the unfolding of events and findings that set the stage for the revolution with a host of propositions that are arrayed in a philosophical argumentative structure. Against this backdrop, it is unclear whether the existing critical tools of the relevant disciplines suffice to evaluate this work. In light of the above, it seems as though only a small coterie of scholars possess the knowledge to fully understand and critically appraise this voluminous and perplexing work. Over the next few pages, I will enumerate the book’s objectives, take stock of its principal theories, and highlight those attributes that set it apart from other studies on the Copernican revolution. I will succinctly discuss the theoretical issues that arise, while focusing on the theoretical and methodological implications of Blumenberg’s findings on several central topics: the historiographical characterization of
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the history of the sciences and the history of ideas in general and the concept of modern rationalism.
A characterization of Blumenberg’s research For the most part, Blumenberg does not specify the book’s objectives and their scope, intermittently weaving in pieces of evidence for his theoretical views and slivers of criticism against other works on the same topic, while barely mentioning the names of the works and scholars that he is referring to. His primary thesis is historical, but it encompasses several implicit philosophical sub-theses. These arguments touch upon the history of the sciences, the history and interpretation of the modern era, the philosophy of science and rationalism, and the theory of history. The book’s title – The Genesis of the Copernican World – provides a two-pronged preliminary characterization of its central aim: first, Blumenberg is more interested in the Copernican world than in the eponymous thinker-cum-scientist; second, his emphasis is on the different stages in this world’s formation, rather than the finished product. The traditional definition of this world sharpens this dual characterization. Although the scientific revolution is obviously a key component of this world, the latter can neither be equated with the former nor reductively summarized in this fashion. Above all, Copernicism constitutes an upheaval in the European consciousness – a farreaching shift in the way humanity comprehends itself that penetrates all spheres of life, including the sciences, religion, and philosophy. Against this backdrop, the basic contours of the work’s main objective begin to come into focus: Blumenberg has no intention of describing the world that has come to be known as the Copernican world, or writing a historical narrative of its emergence. Insofar as the revolution is concerned, he is not interested in the history of science or the intrascientific developments that may have led to Copernicus’ revolutionary discoveries. While some parts of Blumenberg’s analysis can indeed be interpreted in this fashion, his aim is not to decipher the internal logic that undergirded the reform. Lastly, he is even less interested in external influences, such as erstwhile astronomical hypotheses. As a result, Blumenberg’s detailed analysis is both rich and meager: rich in its survey of the cultural landscape from which Copernicus erupted onto the scene, but meager in all that concerns his astronomical forerunners. 152
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The book thus lacks an in-depth reading of most of the scientific works by Copernicus and other key figures, and offers no discussion of Copernicus’ relationships with his mentors. On the other hand, though, he examines the theory’s impact on and resonance in the works not only of obvious candidates like Kepler, Galileo, and Newton, but also Kant, Lambert, and other philosophers. In sum, the inevitability of Copernican astronomy, the realization of the scientific revolution, and the wider influence of the latter as a historical watershed are not among Blumenberg’s top priorities. Now that we have settled the areas Blumenberg is not interested in, let us turn to his actual objectives. In other words, what is the book’s positive intention? Blumenberg’s answer also starts out on an exclusionary note: the ›prehistory‹ of the Copernican reform does not present itself as the gradual consolidation and convergence of sets of motives into what is finally an irresistible historical necessity. To me, the exciting historical problem of this epochal turning is precisely not the explanation of the fact of Copernicus’s accomplishment, or even the affirmation of its necessity, but rather finding the basis of its mere possibility. (p. 167, Blumenberg’s italics) Our subject is the […] conditions of the possibility of the fact that there is any such thing as a history of Copernicus’s effects – which is by no means a matter of course, since there had not been such a history in the case of Aristarchus of Samos. (p. 131)
With the stroke of a pen, Blumenberg condenses the book’s objective as well as a preliminary version of its main hypothesis and some of its underlying theoretical conceptions into a few words. Therefore, this citation constitutes the basis for the present discussion, and I will draw from it throughout the remainder of this paper. Blumenberg raises the question of the very possibility of the Copernican reform (as well as the Copernican world). His point of departure gives rise to a pair of historical questions: How did Copernicus avoid becoming the second Aristarchus of Samos – who proposed a theory of heliocentrism in the third century BCE, yet fell on deaf ears? What paved the way for the emergence of the Copernican reform that »stands at the end of the centuries that had borne the imprint of the most closed and dogmatic system of world-explanation, whose basic characteristic, not accidentally, can be summarized as implying the impossibility of Copernicus before his time« (p. 167)? Blumenberg is obA
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viously referring to Scholasticism, the Christian worldview that for centuries had neutralized, dismantled, co-opted, and adapted to its own needs every other worldview – threatening or otherwise – beginning with the Greek philosophers (especially Plato and Aristotle), continuing with Gnosticism, and ending with important theologians, such as St. Augustin, Thomas, and Nicolaus Cusanus. Blumenberg attempts to show how it was possible for the Copernican reform to rise both in opposition to and within the wider culture that preceded it. To begin with, he conducts a thorough analysis aimed at revealing the systematic processes that informed late-medieval Christian thought: doctrines that came crumbling down and were repaired, and the contradictions that surfaced and were solved. Correspondingly, Blumenberg locates the open junctions, dead ends, niches and lacunae, and points to substantial hurdles that were gradually removed or lowered, all of which helped pave the way for Copernicus. From this internal dialectic of ruin and construction, he then extracts the necessary preconditions for the possibility of the reform and demonstrates that they were indeed extra-scientific factors. At this juncture, I would like to expand upon the role that Blumenberg attributes to preconditions. The title of the second part of his book – »The Opening Up of the Possibility of a Copernicus« – alludes to the fact that the necessity of the conditions is primarily determined in relation to the emergence of the possibility for the reform. It is evident from Blumenberg’s analysis that the full range of conditions was both necessary and sufficient for the purpose at hand. However, what is the link between the conditions and the occurrence of the reform itself, namely, the realization of its possibility? Blumenberg is primarily concerned with the history of what enabled the reform possible, not the history of what caused it. Given the content that Blumenberg provides for the concept of possibility in this context, he also conceives of those conditions as prerequisites, albeit not necessarily sufficient ones, for the actualization of the reform. He argues that the concept of possibility involves not only creating an opportunity for expressing claims that were hitherto prohibited (e. g., Aristarchus had already espoused heliocentrism in vain). Blumenberg believes that this concept of possibility is directly connected to the question of the reaction to these claims, namely, the rise of the appropriate intellectual environment for the weakening of traditional resistance to these new ideas. While Blumenberg’s terminology obscures the line between the 154
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stage of becoming possible and the stage of actualization, this distinction is irrelevant to these particular circumstances. Nevertheless, he does differentiate between analyzing the conditions of the possibility and the processes behind its realization (the second and third parts of the book are devoted to each of these topics, respectively). The Copernican world and reform continued to evolve long after its founder’s passing. Besides the necessary conditions for their possibility, other processes helped guarantee the revolution’s success. For example, Newtonian mechanics constituted a decisive victory; and without the assistance of Laplace, Galileo, Kepler, Newton, and others, Copernicus would have been no more than a second Aristarchus. Consequently, Blumenberg broaches the topic of the trench warfare that the standard-bearers of Christian doctrine waged against the theory’s adherents for over a hundred years after Copernicus’ death. He outlines a typology of approaches and reactions to the reform, including Osiander (who took the unwarranted liberty of adding a distorting preface to Copernicus’ work), Luther, Georg Joachim Rheticus (Copernicus’ only student, who eventually grew disenchanted with his mentor’s arguments), Giordano Bruno (who sacrificed his life on the altar of his subversive beliefs), Kepler, and Galileo. For clarity’s sake, it bears noting that it would be a conceptual error to equate the inevitability of the conditions for the reform’s possibility with the reform itself. In other words, the reform was not a foregone conclusion just because the necessary circumstances were in place. Furthermore, just because the conditions for the possibility are also the conditions for success does not mean that the discussion has shifted from the question of facilitating the possibility of the Copernican world to whether it was an inevitable historical phenomenon. The next step is to highlight those elements that set Blumenberg’s research on this topic apart from the rest. To this end, I will first have to present the book’s principal, historical, theory. The theory is indeed extremely rich and is comprised of multiple arguments, each of which offers an alternative to a certain position in the literature. As already noted, the work’s goals have been organized into a layered structure that includes both historical and theoretical strata. The arguments in the central thesis express the work’s theoretical objectives, which complement the goals and hypotheses in the historical layers. Elucidating these arguments thus promises to expose the book’s innovations and enhance our understanding of all that has been said so far. A
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Blumenberg’s thesis may be divided into five propositions: The Copernican reform came into being, that is, (1) made possible, (2) by virtue of a series of complex and multifaceted relations, among them (3) succession, and (4) necessity, between the reform and (5) the extrascientific cultural background of the late Middle Ages, including all the systematic internal processes that transpired during this period. My analysis of these propositions will be arranged according to the importance that Blumenberg attributed to them (in descending order).
Proposition (1): Genesis as the emergence of possibility Blumenberg introduces a pair of changes of emphasis to the historical interpretation of the Copernican reform and world. He is troubled by the emergent historiographic trend towards Wirkungsgeschichte (»the continuing influence of the past« or »effective history«), 3 and the overemphasis on the discourse he calls Vorgeschichte (»prehistory« or »the history that leads up to something«, p. 123). The first change that Blumenberg implements is directed against this two-stage development. He seeks to integrate these historical patterns, while transferring the center of gravity from the Wirkungsgeschichte to the Vorgeschichte. The former is concerned with manifold types of influences on certain texts and authors, and the influences, in turn, of these texts and authors. This pattern is indeed highly characteristic of intellectual and literary history. Blumenberg seems to argue that the ascendancy of »prehistory« stems from its seniority over Wirkungsgeschichte, for it »conditions decisively the potential for the history of its effects« (p. 124). 4 In referring to Copernicus’ own appraisal of his theory’s impact, Blumenberg states that »the expectations that an author has in regard to his audience’s reactions are quite certainly part of the ›prehistory‹ of his work, but at one and the same time they are also part of the complex of factors conditioning the history of effects« (p. 125). Blumenberg’s second change of emphasis pertains to the »prehistory« itself. Copernicism was labeled extremely radical not on account of its central theory of heliocentrism, but due to its firm demand to 3 See Hans-Georg Gadamer, Truth and Method, translated by W. Glen-Doepel, New York: Crossroad 1988, pp. 267–274, 305–310, 324–333, 429–431. 4 I’ve greatly simplified Blumenberg’s position here.
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accept a new cosmological truth (pp. 262–263). Hence, as the analysis of the relation between Copernicus’ work and its influences reveals, most of the difficulties in adopting the reform did not pertain to the integration of heliocentrism within the canon of astronomy, but to the »background conditions« of the theory’s compatibility with the physical and metaphysical assumptions of the Aristotelian and Platonic traditions (p. 127). Put differently, the reform’s success rested on the ability and willingness of the cultural, spiritual, and intellectual environments to assimilate its claim to truth. Therefore, Blumenberg feels that it is incumbent upon scholars to describe the preconditions of Copernicus’ enterprise and its pertinent influences in a manner that does not end with the ›prehistory‹ leading from the central idea of reconstructing the planetary system to the signs of his having caused an Earth that had hither to been at rest to tremble. The task is to identify the background conditions of the assurance that enabled Copernicus to have any expectation at all that his readers would consent to the work’s full claim to truth. (p. 128, my italics)
Although one may concentrate entirely on the question of the positive manner in which the new view took form (p. 131) and take stock of the initial processes and conditions that this involved, Blumenberg does not stop here. Despite the fact that the reform can be accurately dated, he does not present it as the outcome of sets of factors that came together in Copernicus’ scientific treatise: »The history of what led up to the Copernican event – an event that is datable with all desirable precision by the appearance of De revolutionibus in 1543 – cannot be reduced to the diagram of angle composed of lines converging on this point.« (p. 124) Immediately thereafter, Blumenberg explains the scope of the prehistory, its topics, the various types of conditions, and their relevant provisions: »For this ›prehistory‹ contains not only conditions determining the reforming work itself, but also those determining its reception, and indeed even the preconditions, which the author could only surmise, of its acceptance.« (pp. 124–125, my italics) These passages attest to an important difference between the various views of Copernicism’s genesis from a historical standpoint. Historical inceptions tend to be viewed in the broader sense of the word, namely, as a confluence of occurrences, situations, or ideas that directly engender a phenomenon, event, or idea by means of possible causal ties A
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or logical relations, or at least a certain regularity (if only in the form of some contingent link). In this respect, scholars undertake to track the development from its point of departure until the final product. We are interested in identifying the budding phase or the transitions between its various stages. In sum, our aim is to discover the sources, motives, drives, and incentives that underlie the processes in question and, finally, to determine the various forms the reform assumed. Blumenberg does not deny the viability of this sense of ›genesis‹, but turns the spotlight on the opening of the possibility of a phenomenon or event – in our case, the Copernican reform and world – by means of a complex dialectic of constructing and deconstructing (p. 132). This dialectic alters the general environment to the point where it can now react favorably to a phenomenon or event that was once beyond the pale. As mentioned above, extra-scientific reactions and the prospects of acceptance serve as formative elements of the possibility of the Copernican reform. In fact, these elements are so vital to Blumenberg’s approach that they actually dictate his initial questions and the difficulties he has with the traditional history of Copernicism. Furthermore, these elements determine, among other things, the kind of Copernicism, the way how he chooses to define its objectives, demarcates the boundaries of the discussion, and clarifies the criteria for admissible evidence. Here the case can be made that the above-mentioned difference is not really a fundamental change in historiographical principles. For the sake of bolstering our argument, let us return to the central text quoted above (p. 5). In that passage, Blumenberg claims that scholars must pose the question of how some particular historical event becomes possible, whenever the history of what led to events of lasting universal import is unknown. In this sort of instances, then, the history is artificial and contrived (p. 131). If this is true, Blumenberg’s critics can claim that his shift from the question of becoming or genesis to the question of what made it possible does not rest on an argument that cuts to the very essence of the concept of history, but stems from the limitations of existing historical knowledge. This reservation, however, must be rejected; for later on in the passage, Blumenberg writes that the question of possibility is »indispensable for all knowledge of history« (ibid.). In this context, it is worth remembering the crucial role that Blumenberg ascribes to the different reactions to the Copernican reform, and the controversy over its acceptance. Blumenberg’s use of the word »knowledge« in the above-cited 158
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sentence leads us, along the circuitous route of associative thought, to a summary that best describes the uniqueness of his two changes of emphasis. These changes simulate Kant’s transcendental shift from the field of pure knowledge to historical knowledge. Just as Kant asked how knowledge is possible and poses the question, what are the a priori conditions for the very possibility of knowledge as a basic problem of the theory of knowledge, Blumenberg asks what made Copernicus possible and claimed that the fundamental question of the history of the Copernican world is the question about the conditions for its very possibility. This constitutes a question of an earlier and higher order than the question of its rise. Moreover, there is a considerable structural and methodological resemblance between Blumenberg’s study of the historical Copernican revolution and Kant’s transcendental philosophy, which Kant indeed used in order to substantiate his own Copernican revolution. Structurally speaking, Blumenberg’s transition from a discussion on a given cultural product, namely, the Copernican revolution, to the conditions behind its possibility is akin to the regressive argument of Kant’s transcendental deduction. From a methodological standpoint, just as the progressive argument of the deduction is not predicated on deductive logic in the strict sense of the word, but leads the train of thought down a valid path from one issue to another until the revelation (and simultaneously the justification) of the conditions for the possibility of a substantive unity of consciousness, so Blumenberg, too, guides us by means of a theoretical explication from one historical detail or text to the next, until unearthing the necessary historical conditions for the possibility of the epoch-spawning Copernican revolution. Towards the end of part II, Blumenberg again summarizes his proposed changes, yet this time around, his main vantage point is the theory of the history of the sciences. He realizes that revising the structural order of the preliminary historical questions is not endemic to a specific history of the Copernican world, but constitutes a broader objective for a theoretical quid pro quo from the historiographical principles of the history of the sciences. Although the discussion on the theoretical aspects of the research will be left for later, the paragraph in question elucidates the book’s intentions with respect to the changes at hand. Without mentioning Kant, Blumenberg summarizes the hierarchical relation between the »History of Copernicus’s freedom« (namely, the history of the possibility of its genesis), and the developmental history of its cause: A
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My objective was to show that in the history of philosophical thought and of its role in the foundation of modern science it cannot only be a matter of presenting the derivation and development of particular ideas and hypotheses, and of bringing to light what stimulated them, and their early forms. Instead, we need to begin one level lower, with the origin of the scope or latitude in which those new conceptions first became possible at all, and within which both the affinities that gave them an effect and the means by which to formulate them arose. That does not answer the question as to how the Copernican system arose. (p. 167, my italics)
Propositions (4) and (5): The relation between the reform and its background Blumenberg provides an alternative history to the accepted historical conceptions of the Copernican revolution. Two principal, complementary elements distinguish his version from the rest. First, unlike the traditional history, which classifies the shift exclusively as an event within the history of the sciences, Blumenberg offers an external history. Although the champions of the standard narrative agree that the reform’s impact extended well beyond the sciences, in their view there were no substantive extra-scientific preconditions. Second, those histories that do refer to non-scientific circumstances are far from exhaustive and usually only point to possible influences. In contrast, Blumenberg endeavors to write a decidedly systematic and detailed history whose raison d’être is to ascertain the Copernican revolution’s necessary extra-scientific preconditions. Yet those extra-scientific preconditions are not part and parcel of the history of science but play an important role in his overall philosophical project, i. e., his attempt to establish a philosophical anthropology which centers on the question, what is man? Blumenberg of course was not the first to broach the topic of nonscientific factors, such as philosophical and theological ideas. For instance, many scholars discussed the impact that Renaissance Neoplatonist thought may have had on Copernicus. Others suggested that he drew inspiration from the physical and cosmological innovations of late-medieval Nominalism, which bore a stronger resemblance to philosophical works than to scientific experiments. Whitehead and Kuhn took this idea even further. In stating his agreement with Whitehead, Kuhn quotes him: »Faith in the possibility of science, generated 160
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antecedently to the development of modern scientific theory, is an unconscious derivative from medieval theology.« 5 That said, and even though the ramifications of Copernicism could be felt well beyond the narrow field of science, most scholars do not question the basic assumption that all the essential preliminary factors were internal scientific ones. These interpretations limit themselves to describing the origins of a few possible ancillary ideas and to drawing lists of possible circumstantial influences, such as the religious fermentation of the Reformation, the weakening of Ptolemy’s authority as a geographer (due to the maritime expeditions which set out to discover new lands), and the necessary adjustment of the calendar. Among the various interpretations, only Whitehead identified a nonscientific factor that played a critical role in a watershed event in the history of the sciences – the rise of modern scientific theory. However, even Whitehead’s suggestion did not go far enough and is hampered by several weaknesses. For instance, it is difficult to appraise his theoretical intentions, for his hypothesis was formulated from a general perspective without any explanation or systematic development of his thought. Therefore, Whitehead’s contribution on this matter was quite negligible. With respect to Kuhn, not only does he refrain from building on Whitehead’s proposition, but it turns out that he never really followed in his footsteps: One need, however, look no further than Copernicus and the calendar to discover that external conditions [social, economic, and intellectual – as per the order that Kuhn set in the previous line] may help to transform a mere anomaly into a source of acute crisis. The same example would illustrate the way in which conditions outside the sciences may influence the range of alternatives available to the man who seeks to end a crisis by proposing one or another revolutionary reform. Explicit consideration of effects like these would not, I think, modify the main theses developed in this essay, but it would surely add an analytic dimension of first-rate importance for the understanding of scientific advance. 6 5 A. N. Whitehead, Science and the Modern World, New York: Macmillan 1925, p. 19; quoted in Thomas S. Kuhn, The Copernican Revolution: Planetary Astronomy in the Development of Western Thought, Cambridge, Masschussetts: Harvard University Press 1957, p. 122. 6 Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago: University of Chicago Press 1962, p. xii. My italics.
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Like others, Kuhn merely ascribes a subsidiary and non-crucial role to external factors. He claims that external factors are incapable of sparking a scientific crisis. They can neither create the source for a scientific crisis nor trigger the creation of such a source. Non-scientific factors are likely to take part in the process (for example, they can accelerate the pace), but are merely expendable auxiliary factors. Likewise, they neither establish nor define the range of options for the scientific revolution; at the very most, they can have an effect on this process. From his standpoint, then, Kuhn is perfectly justified in forgoing an examination of the role of external factors in scientific revolutions, for this sort of analysis lacks an inner-systematic standing and does not serve a necessary methodological need. In this respect, then, Kuhn’s position is no different than the other interpretations. 7 In contrast to those historians of science, Blumenberg, who does not confine himself to the accepted sense of the external / internal debate within the history of science, endeavors to show that the Copernican revolution was possible due to processes that were by and large external to the field of science. This is not as circular at it sounds, since from the broader perspective of Blumenberg’s project, science, as other symbolic activities, are means to human survival. These processes transpired within the broad cultural sphere of European religious, philosophical, metaphorical, and – also – scientific thought. He attempts to prove that these developments not only influenced superficial characteristics of the revolution, such as the precise timing of the publication of De revolutionibus orbium coelestium, its style, and the decision to dedicate it to the pope, but produced the necessary preconditions that made the content and the key components of the revolution possible. Blumenberg’s narrative underemphasizes those ramifications and goals that do not pertain to his own objective of providing an alternative to the standard histories of the Copernican revolution. His work enhances our understanding of the relation between science and culture and between the history of the sciences and the history of consciousness. Compared to those thinkers who advocate unilateral causation, namely, the sciences impacting culture and nothing else, Blumenberg paints a more diversified picture of bilateral causation in which science Although he says: »It is […] only with respect to the problems discussed in this essay that I take the role of external factors to be minor« (ibid., p. 167, note 4). Kuhn discusses external factors in The Copernican Revolution (see note 5), pp. 122–132, 270–271.
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and culture, along with their respective histories, are woven into one intricate whole. Blumenberg’s analysis places a highly potent argument in the hands of the adherents of the external explanation of the development of the sciences. However, the argument is far from foolproof and certainly cannot, on its own, settle this protracted debate in one fell swoop. Conversely, the fact that Blumenberg tackles a single episode in the history of the sciences does not shift the scales in favor of the ›internalists‹, as the Copernican revolution stands out among all others. In fact, only the Theory of Relativity and Quantum Mechanics are on the same level, but even a comparison with these later groundbreaking theories further underscores the Copernican revolution’s uniqueness. Whereas Relativity and Quantum Mechanics indeed constitute fundamental building blocks in a process that was already well under way, Copernicus’ theory was and remains the foundation of modern science. Copernicus has become the father figure of scientific breakthroughs, a patron saint to whom scientists, historians, and philosophers flock to pay homage and from whom they seek inspiration. This is probably the reason that Kuhn assumed that he could predicate the structural theory of scientific revolutions on the incommensurability and paradigmatic nature of Copernicus’ revolution. Against this backdrop, the supporters of the external explanation for the advancement of the sciences can lean heavily on Blumenberg’s research (whose exclusive focus on the Copernican revolution is likely to seem to them, erroneously in my opinion, as the outcome of a conscious decision to craft an approach that stands in stark contradistinction to that of Kuhn).
Propositions (2) and (3): The complex relations between the Copernican reform and its background These arguments strengthen and complement propositions (4) and (5). As noted, Blumenberg contends that the Copernican reform and world were made possible thanks to their relations with the broader intellectual context. This position is grounded on the very existence of ties with the non-scientific background and underscores their necessity. However, it still leaves ample room for the standard historical interpretation according to which the link between the Copernican revolution and the modern age and all that preceded them is put primarily in A
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negative terms: revolt, fracture, discontinuity, and the like. Blumenberg does not rule out the contribution of these adversarial relations to the genesis of the Copernican world, but believes that focusing exclusively on the negative produces an incomplete picture. Instead, he unfurls a sophisticated, multi-dimensional characterization of the relations between the pre-modern world and the Copernican reform and the modern world, whereby the reform became possible not only as a riposte to and critique of the prevalent Aristotelian-Ptolemaic scientific outlook and the Scholastic tradition, but also against the backdrop and as part of developments that informed Christian thought during the late Middle Ages. More specifically, Blumenberg offers a grand mosaic in which the character of the ›new‹ Copernican world is partially imbued with elements of the ›old world‹ identity. In so doing, he integrates the negative attitude of opposition to the pre-modern Christian world with the positive attitude of continuity. While some established Christian assumptions are rejected, others are systematically incorporated into the Copernican worldview. The shedding of some of these principal elements is the unavoidable outcome of clefts that were formed due to Christianity’s cooptation of both the spiritual and practical realms. To borrow the language of transcendental idealism, the metaphysical interest of the Christian worldview was overcome by the critical interest of the very cognitive process that Christian thinkers partook in. This image especially suits the present context, for it describes a process that made a Copernicus possible as an internal dynamic of the Christian world. In his book The Legitimacy of the Modern Age, Blumenberg indeed turns to Kant for appraising the historical process that he dubs »epochal change«. This development is clearly manifested in another development that also naturally applies to the case at hand – the progress of the sciences: An established system produces for itself the instruments with which to secure itself thoroughly and to extend the sphere of objects that it comprehends, and in the process continually refines the forms in which it is justified and applied, with the result that in this way the system itself brings to light and accentuates the data that go beyond what it is able to master and to enclose within the prescribed frame of the accepted assumptions. This is the description of a logical situation that Aristotle had already put under the heading of aporia and that Kant had discussed as the fundamental »transcendental dialectic«. In both cases the process of cognition itself forces the abandonment of its presuppositions and the introduction of new elementary as-
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sumptions, which, while they remove the situation from which there was no way out, do not require the shattering of the identity of the overall movement that gave rise to that situation. 8
Enlightening as this passage may be, we have yet to get to the bottom of the differences between Blumenberg’s alternate history and the worldview that is slated to replace the old one. Like the rest of the propositions in Blumenberg’s main thesis, the revision that he proposes consists of two stages: After expanding the context of relations that were involved in the launching of the reform, Blumenberg rates the significance of each factor by putting them in hierarchical order. Not only is the positive approach to the past added to the mix, but he deems it to be more important than the negative one. More specifically, the negative attitude is not accompanied by the positive, does not exist alongside it, and certainly it does not condition it. Resistance to the consensual view was indeed a leading factor in the reform’s genesis, but the primary impetus was the Copernican world’s inherent continuity with the late-medieval Christian world. In other words, the negative approach is dependent on the positive. The revolt and detachment would not have been possible if they did not surface from within the prevalent culture. Copernicism indeed preserved some of the characteristics of the worldview that preceded it, as the new problems that it came to solve had gradually evolved within the confines of the old worldview. This is neither the first nor the last time in the history of humankind that a phenomenon’s development calls to mind the Hegelian pattern of Aufhebung. In Blumenberg’s second and final reference to Kuhn, he encapsulates his own proposed revision. He makes it clear that his reservations concerning Kuhn’s paradigm change »relate to its neglect of continuity as a precondition of every possible discontinuity« (p. 512). According to Blumenberg, the fundamental historical principle that underpinned the inception of the Copernican world is an interepochal relation of cognitive continuity, which functions as a precondition for any epochal shift and for any possible relation that is likely to account for any shift from one world-explanatory system to the next. This diagnosis, in conjunction with arguments (4) and (5), has farreaching implications. The Copernican revolution is widely considered to be the source of modern science, and many scholars also believe that Hans Blumenberg, The Legitimacy of the Modern Age, translated by Robert M. Wallace, Cambridge/London: MIT Press 1983, p. 465. My italics.
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it engendered the modern world. Emphasizing the internal relation between science and culture (argument 5); establishing the inevitability of this relation (argument 4); stressing the rich multi-disciplined nature of the reform (argument 2); and accentuating the primacy of the positive approach of continuity (argument 3) – all this demands a reassessment of our view of the sciences in particular and our conception of modernism and rationalism in general. By dint of his interpretation of modernism, in which both the history of the sciences and the history of consciousness take a back seat to other disciplines, Blumenberg has become the first thinker to shed light on the general relation between the Copernican revolution and the origins of the modern age. In his view, these are two separate phenomena and neither is the catalyst for the other. Nevertheless, he claims that there is an indirect connection between them, as both derive, at least in part and each in its own way, from the same process, so that this link can hardly be a coincidence. I will now attempt to clarify this issue. The internalist view regards the sciences as the embodiment of modern rationalism par excellence. On this view, the sciences are a closed field of autonomous theoretical activity that has had a decisive impact on the surrounding world. Likewise, it is immune to the influences of external historical circumstances, be they cultural, social, economic, or intellectual. This view does not deny the influence of these non-scientific factors altogether, but contends that they can only have an external and non-necessary effect on the sciences. At most, it recognizes the importance of technological conditions, yet tends to present them as occupying a no-man’s land between the sciences and the external environment, while heavily leaning towards the scientific side of the fence. The evidence for this view is twofold: the practical and useful aspect of the sciences, and the fact that technological progress relies heavily on theoretical scientific research. This outlook both nourishes and is nourished by the accepted self-image and widespread public image of the sciences. In contrast, Blumenberg believes that a Copernicus could not have arisen before the late Middle Ages. If this is indeed the case, then the revolution of modern science was dependent on contingent historical experience. Moreover, this reinforces the necessity and complexity of the relation between modern science and late-medieval culture. These conclusions cast doubt on the sciences’ claim to universalism, inevitability, and atemporal-cum-ahistorical validity – namely, objectivity. 166
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These findings also necessitate changes in the characterization of rationalism. Blumenberg has no intention of offering a relativist interpretation of science that undermines its validity and takes away from its importance to modern life. Instead, he is interested in expanding the concept, which includes for him those elements that scientific rationalism tended to exclude from its picture of science as irrational, thereby relegating them to the wilderness of the historical niche. In so doing, Blumenberg turns the sciences into a cultural phenomenon, alongside other creations of the human spirit, and defrocks it of the lofty status that scientific rationalism sought to confer upon it. What is more, as a cultural phenomenon, the sciences have been an integral part of human history. Although they have reached the height of their power and influence in the modern era, scientific theories and hypotheses were put forward in earlier periods too. Notwithstanding the significant differences between the modern and non-modern sciences, scholars should reconsider their position before proclaiming that the advent of modern science marks a sharp break with the preceding epoch and is incommensurable with it. The first ›modern scientists‹ adopted assumptions that derive from previous worldviews, such as Christian theology. The concept of the sciences has since been expanded and with it our picture of scientific disciplines. Therefore, science is no longer required to define itself by sweeping negations of the past, with its partial theories and rational forms of its own. I would like to restate that my main aim in this paper was not to present in detail Blumenberg’s alternative narrative of the history of the Copernican revolution. Instead, the paper was an attempt to reconstruct the outline of what I understand to be its main philosophical argument. Such an argument does not merely endow the historical narrative with its unique features but turn the particular historical narrative into a case study that shows how it is possible to argue for the emergence of historical events and to derive from such a historical account a philosophical analysis. Events by their nature are contingent and thus one cannot argue for them in a way that transcends the limited causal historical explanation. By extracting Blumenberg’s argument from the massive detail of the historical narrative, we open up the possibility for a transcendental argument in the realm of historical explanation.
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Begriffene Geschichte: Canguilhem, Blumenberg und die Wissenschaften
Ich behaupte, die eigentliche Aufgabe der Philosophie besteht darin, die Dinge komplizierter zu machen – nicht nur für den Wissenschaftshistoriker, sondern für die Menschen überhaupt. Georges Canguilhem
Ein Gespräch hat zwischen ihnen nicht stattgefunden. 1 Warum sollte man es postum inszenieren? Der Vergleich zweier Theoretiker oder Philosophen wird leicht von einem prekären Spiel zur müßigen Angelegenheit, wenn der intellektuelle Reiz nur noch in der Entfernung zwischen den in Beziehung gesetzten Autoren liegt, weil beide nie explizit aufeinander Bezug genommen haben. Eher ließe sich da – mehr noch herantastend als schon diagnostizierend – auf die manifesten Differenzen im Werkzuschnitt der beiden verweisen: Hier »als gelehrte Wälzer getarnte Problemkrimis«, wie Odo Marquardt pointiert formuliert hat, dort keine Monographie jenseits der beiden Qualifikationsschriften, die wiederum der erste nicht einmal veröffentlicht hat. 2 Aber Dabei hatte Blumenberg sich schon früh mit französischer Literatur beschäftigt, besonders mit dem französischen Dichter-Denker Paul Valéry, vgl. Karin Krauthausen, Hans Blumenbergs möglicher Valéry, Zeitschrift für Kulturphilosophie 1 (2012), 39– 64. Der Blick nach Frankreich war die wichtigste internationale Perspektive bei den Diskussionen der von Blumenberg mitinitiierten Gruppe Poetik & Hermeneutik gewesen. Umgekehrt hatte Canguilhem sich immer offen für deutschsprachige Diskurse gezeigt und stand bis in die 1970er Jahre in Austausch mit dem Münsteraner Medizinhistoriker Karl Eduard Rothschuh. Mindestens einmal ist Canguilhem nach Münster gekommen, zu einem von Rothschuh organisierten Kongress zur Physiologiegeschichte im Jahr 1962 – also noch vor Blumenbergs Berufung dorthin. 2 Odo Marquard, Entlastung vom Absoluten. In memoriam, in: Franz Josef Wetz, Hermann Timm (Hgg.), Die Kunst des Überlebens: Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 17–27, hier S. 25. So schmal, wie die drei von ihm selbst veröffentlichten Essay-Sammlungen vermuten lassen, ist das Œuvre von Canguilhem dabei allerdings nicht, 2011 erschien der erste einer auf sechs Bände angelegten Werkausgabe, die allein für die Schriften bis 1939 über 1 000 Seiten umfasst: 1
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ungeachtet dieser formalen Differenzen bestehen bemerkenswerte Nähen etwa der Art, wie beide an fundamentalen und systematischen Fragen interessiert waren, ohne das eigene Nachdenken in ein System zu zwängen, oder in der Weise, wie sie aus Distanz zu eigener Schulenbildung umso nachhaltiger gewirkt haben. Diesen Ähnlichkeiten korrespondieren bemerkenswerte biographische Parallelen, die wenigstens angesprochen sein wollen. Im Zentrum soll hier aber das Verhältnis ihres Philosophierens zu wissenschaftlichen Diskursen stehen, um von dort her die spezifische Bezugnahme auf Wissenschaftsgeschichte zu rekonstruieren. Wenn allerdings beide Autoren für die Wissenschaftsgeschichte im Sinne einer fachlichen bzw. disziplinären Zuständigkeit reklamiert werden, fordert das unmittelbar eine Klarstellung und kritische Präzisierung, damit nicht eine Grundskepsis gegen eine solche arbeitsteilige Bewirtschaftung von Fachfragen ignoriert und unterlaufen wird, die nun tatsächlich von beiden auf bemerkenswert ähnliche Weise geteilt wurde: Weder Blumenberg noch Canguilhem haben sich als Philosophen auf Wissenschaftsgeschichte im Sinne einer Spezialisierung oder Partialexpertise verlegt, sondern ganz im Gegenteil solche Disziplinierungen entlang von Fachgebieten zum Gegenstand ihres Nachdenkens werden lassen. Eingefahrenen Denktraditionen und Arbeitsrichtungen begegneten beide kritisch-skeptisch. Mit dieser Skepsis ist meist ein Gegen-den-Strich-Bürsten der Überlieferung, oftmals eine Inversion der Denkrichtung verbunden, die sicher viel zur besonderen Faszinationskraft beider Autoren beiträgt. Canguilhem und Blumenberg gehören zu einer Gruppe beunruhigender Denker, die Zumutungen in einer Weise denken, die gelegentlich auch ihre Texte zu einer Zumutung machen. Von hier aus lässt sich eine erste Vorklärung in systematischer Richtung entwickeln. Canguilhem und Blumenberg arbeiten an einer Unruhezone im Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften, die sie beide durch ihr Philosophieren nicht zu bewältigen oder zu lösen, also letztlich zu beruhigen, sondern ganz im Gegenteil in ihrer beunruhigenden Qualität zu fassen suchen. Canguilhem formulierte in seiner medizinischen Doktorarbeit von 1943 programmatisch als Aufgabe der Philosophie »Probleme immer wieder aufzuwerfen, anstatt sie Georges Canguilhem, Écrits philosophiques et politiques: (1926–1939), hg. von JeanFrançois Braunstein, Œuvres complètes Vol. 1, Paris: Vrin 2011. A
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ad acta zu legen«. 3 Was hier im Hinblick auf die unlösbare Spannung im Begriffspaar normal/pathologisch geschrieben war, lässt sich retrospektiv als Leitmotiv seines Arbeitens herausstellen: Auch epistemologisch ist das Normale nicht ohne das Pathologische zu denken, hinter jeder Erkenntnis lauert der Irrtum. Und Blumenbergs mit jedem Buch wieder aufs Neue unternommene In-Angriff-Nehmen der philosophischen Überlieferung wird man ebenfalls ein solches Unruhepotenzial zuschreiben können, wenn er sich dabei gerade nicht deren Überwindung zum Ziel setzt, sondern das nur scheinbar bescheidenere, bestehende Selbstverständlichkeiten aufzulösen: »Nachdenklichkeit heißt: Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war.« 4
I.
Begriffen nachdenken
Der Blumenberg und Canguilhem gemeinsame Ansatzpunkt ist die Arbeit entlang und im Umfeld von Begriffen. Dabei gilt ihre Aufmerksamkeit freilich weniger der reinen Empirie historischer Bedeutungsveränderungen als vielmehr den Problemlagen, die sich in jenen artikulieren, transformieren und fortschreiben. Denn Begriffe sind für sie keine zu Definitionen geronnenen Theoriebausteine, sondern vielmehr Phänomenbeschreibungen, die Antworten auf spezifische Fragen geben und neue zu stellen erlauben. Eine »Genealogie von Begriffen« hat Canguilhem einmal entsprechend das Zentrum seiner Wissenschaftsgeschichte benannt und damit vor allem auf eine Differenz dieser Forschung zu einer Begriffsgeschichte als Abfolge theoretischer Einsichten abgehoben. 5 In vielleicht analog zu nennender Absicht ist gelegentlich Blumenbergs Metaphorologie als Gegenprojekt zur Begriffsgeschichte charakterisiert worden, was konzeptuell einen wichtigen Zug an Blumenbergs Philosophieren und seine Überführung der Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, Frankfurt am Main: Ullstein 1977, S. 16. Daran schließt sich noch folgende Erläuterung an: »Léon Brunschvicg hat einmal von der Philosophie gesagt, sie sei die Wissenschaft von den gelösten Problemen. Dieser einfachen und tiefsinnigen Definition möchten wir uns anschließen.« 4 Hans Blumenberg, Nachdenklichkeit, Jahrbuch / Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1980, 1, S. 57–61, hier S. 61. 5 Georges Canguilhem, Die Geschichte der Wissenschaften im epistemologischen Werk Gaston Bachelards, in: derselbe, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 7–21, hier S. 17. 3
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Begriffsgeschichte in Begriffe in Geschichten gut kennzeichnet, aber historisch-systematisch nur teilweise sein Interesse an Wissenschaft trifft. 6 In der hier eingenommenen Perspektive einer Verschränkung von Philosophie und Wissenschaften fällt vielmehr ein von beiden geteiltes Bemühen auf, philosophische Begriffsgeschichte und wissenschaftshistorische Theoriegenese über ihre jeweiligen Beschränkungen hinweg zu treiben, sie zueinander in Stellung und so unter Spannung zu bringen. Canguilhem legte nach dem Essay über das Normale und Pathologische eine Genealogie des Reflexbegriffs vor, die gegen die scheinbar reibungslose Funktionalität der modernen Neurophysiologie deren komplexe Geschichte mobilisierte. 7 Es sollten Studien u. a. zum Milieu-Begriff und Regulationskonzept, zum Vitalismus, zum Experimentieren in der Biologie, zu Fehler und Irrtum, zu Analogien, Modellen und Konzepten in den Lebenswissenschaften folgen. Diese Arbeiten verraten einen klaren Schwerpunkt auf der Frage nach dem Lebendigen und dessen angemessener wissenschaftlicher Beschreibung vor allem im Hinblick darauf, dass Erkenntnis des Lebendigen immer auch als eine Leistung des Lebendigen gedacht werden muss. Damit sei bereits hier tentativ avisiert, wie Canguilhems Philosophie des Lebendigen im Übergang von einer Philosophie der Biologie zur historischen Epistemologie als Bewegung anthropologischer Dezentrierung aufgefasst werden muss: Der Mensch steht bei ihm mitsamt seinem Erkennen in einer Kontinuität biologischer Aktivität; jedwede Anthropologie fällt ihrerseits noch in den Bereich einer Bioepistemologie: »Canguilhem will durch die Klärung des Wissens über das Leben und der Begriffe, die dieses Wissen artikulieren, herausfinden, wie es um den Begriff im Leben steht.« 8 Anselm Haverkamp, Das Skandalon der Metaphorologie, in: Anselm Haverkamp, Dirk Mende (Hgg.), Metaphorologie: Zur Praxis von Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 33–61; vgl. dazu Margarita Kranz’ Beitrag in diesem Band S. 231–253 sowie die beiden Teile ihrer Studie im Archiv für Begriffsgeschichte 53 (2011), 153– 226 sowie 54 (2012), 119–194. 7 Georges Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert [1955], übersetzt und eingeleitet von Henning Schmidgen, München: Fink 2008. 8 Aus Michel Foucaults Vorwort zur englischen Übersetzung von Canguilhems Le normal et le pathologique, hier zitiert nach Georges Canguilhem, Schriften in vier Bänden / Dits et écrits, Bd. 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 551–567, hier S. 564. – Dies ist zugleich der letzte Text, den Foucault vor seinem Tod noch einmal überarbeitet hat. 6
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Das klingt auf den ersten Blick nach einer doppelten Differenz zu Blumenberg, der aus der Philosophie heraus nicht nur auf verschiedene Wissenschaften, allen voran die Astronomie und die wissenschaftliche Revolution am Beginn der Neuzeit, Bezug genommen hat, sondern für den mit dem Erscheinen der Beschreibung des Menschen aus dem Nachlass inzwischen die Anthropologie regelrecht als geheimes Zentrum seines Philosophierens in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken scheint. 9 Aber erstens bleiben davon methodologische Ähnlichkeiten im begriffsgeschichtlichen Ausgreifen auf Wissenschaften unbenommen und zweitens wäre auch diese Differenz erst noch genauer zu fassen, denn gerade die Beschreibung des Menschen verdeutlicht ja, wie stark Blumenberg damals philosophische Anthropologie evolutionär im Horizont der Paläoanthropologie situierte, also letztlich transhumanistisch zu konstituieren suchte. 10 Und umgekehrt implizierte Canguilhems Einrücken der Frage nach dem Menschen in die Geschichte lebendigen Wissens zwar eine Absage an die Anthropologie, beinhaltete zugleich aber auch die Frage nach der Subjektposition. Deshalb würde weder Blumenberg noch Canguilhem einer positivistischen Humanbiologie das letzte Wort über den Menschen lassen, zumal wenn diese – wie das allzu leicht geschieht – aus einer wissenschaftlichen Binnenperspektive argumentiert, also philosophisch wie historisch unreflektiert. 11 Gerade die Differenz zwischen philosophischem Fragen und wissenschaftlichem Antworten treibt Blumenbergs wie Canguilhems Arbeiten an. Wissenschaft drängt von sich aus stets über sich hinaus, wissenschaftliche Antworten bleiben immer historisch radikal kontingent und lassen sich allenfalls teilweise aus den philosophischen Fragen herleiten, die sie umgekehrt auch nicht zu lösen oder still zu stellen vermögen.
9 Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlaß hrsg. von Manfred Sommer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006; vgl. den von Michael Moxter herausgegebenen Sammelband Erinnerung an das Humane: Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie Hans Blumenbergs, Tübingen: Mohr Siebeck 2011 sowie Rebekka A. Klein (Hg.), Auf Distanz zur Natur: philosophische und theologische Perspektiven in Hans Blumenbergs Anthropologie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. 10 Vgl. dazu den Beitrag von Barbara Merker in diesem Band S. 111–125. 11 Wie solche Theorieangebote nicht nur von Biologen verbreitet, sondern inzwischen auch z. B. von Historikern aufgegriffen werden, veranschaulicht abschreckend eindrucksvoll Daniel Lord Smail, On Deep History and the Brain, Berkeley: University of California Press 2008.
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Was wäre also ein angemessenes Verständnis von Wissenschaft in der Gegenwart? Canguilhem und Blumenberg zielten beide auf eine Klärung dieser Frage jenseits der Affirmation des wissenschaftlich gerade vorherrschenden Zeitgeistes. Dabei waren sie ebenso wenig Säkularisierungskritiker wie sie säkularisierten Erlösungsphantasien folgen wollten. Im Zentrum stand vielmehr, was Blumenberg die Legitimität der Neuzeit genannt hatte, ihr Eigenrecht, ihr philosophisches Gewicht gerade angesichts der Dominanz von Wissenschaft und Technik. Beide weisen der Technik dabei eine besondere und spezifische Rolle zu, fassen sie als ein innovatives, der Wissenschaft vorgeordnetes Vermögen, das seit Beginn der Neuzeit buchstäblich neue Welten öffnet. 12 Zugleich ist damit auch ein Abstoßungspunkt zwischen ihnen benannt, weil Technik von Blumenberg als Ausdruck einer spezifisch menschlichen Fähigkeit zu innovativer Tätigkeit gefasst, aber bei Canguilhem wiederum als Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit Umwelt in einer Vorgängigkeit des Lebendigen verankert wird. 13 Einer solchen Bioepistemologie hätte Blumenberg sicher skeptisch gegenübergestanden. Wo Canguilhem Wissenschaftsgeschichte zur vitalen Genealogie von Begriffen entfaltete, entwarf Blumenberg eine Archäologie des distanzierten Menschen aus der Technik- und Anthropogenese. Die Spur dieser Differenz zwischen Canguilhem und Blumenberg lässt sich noch in ihrer Gegenläufigkeit auf ein wechselseitiges Fundierungsverhältnis von Philosophie und Historiographie zurückführen: Beide setzen bei der Historizität, bei der historischen Kontingenz von Denken und Leben an und zielen von dort auf ein nicht-teleologisches Geschichtsdenken. Gerade weil Fortschritt oft blind ist, darf ein Denken der Geschichte sich dem Fortschritt nicht blind verschreiben, selbst wenn es sich ihm verpflichtet weiß. Vielmehr muss es dessen Möglichkeiten bzw. Möglichkeitsbedingungen zu erhellen suchen. Unter dem Vgl. das Nachwort von Henning Schmidgen, Über Maschinen und Organismen bei Canguilhem, in: Georges Canguilhem, Wissenschaft, Technik, Leben: Beiträge zur historischen Epistemologie, Berlin: Merve-Verlag 2006, S. 157–178. 13 Schon der Aufsatztitel »Maschine und Organismus« zeigt diese Differenz an, denn er exponiert zwei in Canguilhems Denken zentrale Begriffe, denen Blumenberg – soweit ich sehe – keinen besonderen systematischen Ort zugesprochen hat, obwohl dieses Thema gleichwohl auch für ihn von Interesse war, vgl. den Abschnitt »Nach der Statue die Maschine« in Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 378–395 bzw. die von ihm betreute Doktorarbeit von Ahlrich Meyer, Mechanische und organische Metaphorik politischer Philosophie, Archiv für Begriffsgeschichte 13 (1969), 128–199. 12
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Horizont eines solchen radikalen historischen Apriori, in das gleichwohl Kontinuitäten und thematisch übergreifende Linien im Sinne einer Genealogie bzw. als Umbesetzungen eingetragen werden können, ließe sich also vielleicht doch das nicht stattgehabte Gespräch über den Rhein initiieren. Ein Anfang sei hiermit gemacht.
II.
Medizin als Feld konkreter philosophischer Probleme: Canguilhem
Canguilhem war seiner Ausbildung nach weder Wissenschaftler noch Wissenschaftshistoriker, sondern er hat nach Abschluss seines Studiums an der École normale supérieure parallel zu einer Tätigkeit als Philosophielehrer 1936 in Toulouse ein Medizinstudium aufgenommen. 14 Dabei ging es ihm weniger um die Erweiterung seiner Kenntnisse auf einem zweiten Gebiet oder um einen philosophischen Beitrag zu medizinischen Problemen, vielmehr sollte dieses Studium die Philosophie herausfordern, wie er in seiner medizinischen thèse erläuterte, als die er Das Normale und das Pathologische 1943 an der Universität Straßburg eingereicht hatte, wohin er 1941 als Nachfolger von Jean Cavaillès berufen worden war: Philosophie ist eine Form der Reflexion, der jeder fremde Gegenstand gut tut und der – wie wir hinzufügen möchten – jeder vertraute Gegenstand fremd sein muß. […] Was wir von der Medizin erwarteten, war eine Einführung in konkrete menschliche Probleme. […] Von der direkten Beschäftigung mit der Medizin erhofften wir uns die exakte Formulierung und die Erhellung zweier Probleme: uns interessierte damals nämlich einerseits das Verhältnis von Wissenschaft und Technik und andererseits das Problem der Normen und des Normalen. 15
Zur Verschränkung von Leben und Werk vgl. ausführlicher: Cornelius Borck, Volker Hess, Henning Schmidgen, Einleitung, in: dieselben (Hgg.), Maß und Eigensinn. Studien im Anschluß an Georges Canguilhem, München: Fink 2005, S. 7–41. 15 Canguilhem, Das Normale und das Pathologische (wie Anm. 3), S. 15. 1950 erschien Das Normale und das Pathologische in zweiter Auflage mit einem neuen Vorwort und 1966 in erweiterter Fassung mit den »Neuen Überlegungen zum Normalen und Pathologischen«. Diese Ausgabe wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, alle Zitate sind der deutschen Übersetzung entnommen. 14
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Begriffene Geschichte: Canguilhem, Blumenberg und die Wissenschaften
Zunächst aber forderten die politischen Ereignisse sein Handeln in »konkreten medizinischen Problemen« ganz unmittelbarer Art. Seine Dissertation hatte er ja bereits während der Kriegszeit eingereicht, als Straßburg von deutschen Truppen besetzt und deswegen die Universität nach Clemont-Ferrand verlagert worden war. Doch auch dort war der Lehrbetrieb keineswegs sicher vor Störungen durch die deutschen Kontrollorgane. Noch im selben Jahr 1943 durchsuchte die Gestapo die Universitätsräume, und der als Pazifist und Gegner der Deutschen hervorgetretene Canguilhem, der wegen der deutschen Bevormundung seinen Lehrerdienst in Toulouse quittiert hatte, entging nur knapp einer Verhaftung. Er schloss sich der Résistance an und leitete u. a. ein Lazarett, während sein ebenfalls in der Résistance engagierter Freund Jean Cavaillès wiederholt verhaftet und 1944 ermordet wurde. – Das war dieselbe Zeit, als Blumenberg sein Philosophiestudium nicht einmal mehr im vergleichsweise geschützten katholischen Rahmen fortsetzen konnte und sich in der Folgezeit ebenfalls vor deutschen Kontrollorganen verstecken musste. 16 Canguilhems Studie zum Normalen und Pathologischen ist vorderhand ein Beitrag zur Philosophie der Medizin, zeigt jedoch bereits sein charakteristisches Vorgehen. Im Mittelpunkt steht nicht eine pathologische Theorie, sondern der erst für die moderne Medizin entscheidende Begriff des Pathologischen bzw. dessen Aufrücken an seine zentrale Position. Dabei verfolgt Canguilhem den Begriff des Pathologischen nicht für sich genommen, sondern in dessen Relationalität zum Normalen. Bis in einzelne Bedeutungsschichten und die Verschiebungen ihrer Verwendungsweise rekonstruiert er diese Begriffe, denn sie sind die kleinsten Einheiten seiner Wissenschaftsgeschichte, durch deren genealogische Analyse diese zugleich in eine historische Epistemologie überführt werden soll. 17 Ins Zentrum rückt damit eine Spannung zwischen beiden Begriffen, die Canguilhem als »dynamische Polarität
Vgl. Cord Riechelmann, Cavaillès im Krieg, Zeitschrift für Ideengeschichte IV, 1 (2012), 46–52. Zu Blumenbergs Schicksal vgl. den Aufsatz von Ada Kadelbach in diesem Band S. 254–271. 17 Vgl. dazu Henning Schmidgen, Dreifache Dezentrierung. Canguilhem und die Begriffsgeschichte, in: Ernst Müller, Falko Schmieder (Hgg.), Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, Berlin: de Gruyter 2008, S. 149–163. 16
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des Lebens selbst« ansetzt und dessen Exploration die eigentliche philosophische Arbeit gilt. 18 Solchen Polaritäten und Spannungen galt auch fortan seine besondere Aufmerksamkeit. Gut zwanzig Jahre später bestimmte er Relationalität ganz allgemein als den besonderen Gegenstandbezug der historischen Epistemologie, die sich gerade darin von der Historizität der von ihr untersuchten Wissenschaften abhebe: Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte hat mit dem Gegenstand der Wissenschaft nichts gemein. […] Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte ist in der Tat die Geschichtlichkeit des wissenschaftlichen Diskurses, sofern sich darin ein Vorhaben ausdrückt, das von innen normiert, dabei jedoch von Zwischenfällen durchkreuzt, von Hindernissen verzögert oder abgelehnt und von Krisen, d. h. von Entscheidungs- oder Wahrheitsmomenten, unterbrochen wird. 19
1963, in einem zentralen Aufsatz anlässlich des Todes von Gaston Bachelard, brachte er diese Distanzierung auf die prägnante Formel, dass der Epistemologe »die Tatsachen als Ideen nehme, indem er sie in ein Denksystem einfügt«, während der traditionelle Wissenschaftshistoriker Ideen schlicht als Tatsachen nehme. Denn nur mit einer solchen Umkehrung könne Wissenschaftsgeschichte zur »Geschichte des Denkens im eigentlichen Sinne« werden. 20 Diesen untrennbaren Zusammenhang von Denken und Geschichte hat Canguilhem, inzwischen auf den Pariser Lehrstuhl für Philosophie und Geschichte der Wissenschaften berufen, 1963–1966 in den »Neuen Überlegungen zum Normalen und zum Pathologischen« als Verflechtung von Wissenschaft und Gesellschaft entfaltet. Nicht allein die Wahrheit oder der Irrtum wissenschaftlicher Einsichten schreiben deren Geschichte, sondern im Geflecht epistemischer, sozialer und politischer Praktiken schaffen Aussagen und Setzungen Plausibilisierungen, neue Allianzen und Interventionsformen. 21 Hier tauchten deutVgl. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische (wie Anm. 3), S. 82–85, 152– 156. 19 Georges Canguilhem, Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, in: derselbe, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie (wie Anm. 5), S. 22–37, hier S. 29 f. 20 Canguilhem, Die Geschichte der Wissenschaften (wie Anm. 5), S. 10. 21 Wie es Wissenschaftsgeschichte regelrecht zu ihrem Arbeitsprinzip erklärt hat, wenn sie wissenschaftliche Entwicklungen weder aus der Abfolge von Theorien zu rekonstruieren noch sie aus vermeintlich »externen« Faktoren historisch kontingenter, soziopolitischer Kontexte schlicht abzuleiten sucht. 18
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liche Verbindungslinien zu Michel Foucaults Diskursanalyse auf, aber anders als Foucault blieb Canguilhem bei einer Genealogie wissenschaftlicher Begriffe und gliederte diese nicht zu größeren Einheiten wie Epistemen oder Dispositiven. 22 Dahinter steht ein etwas anders geartetes Verständnis epistemischer Brüche, die Canguilhem gewissermaßen kleinteiliger ansetzt und an permanenten begrifflichen Transformationen abliest. Damit rücken Canguilhem, Foucault und Blumenberg in ein bemerkenswertes Dreiecksverhältnis wechselseitig sich verschiebender Gemeinsamkeiten und Differenzen. Canguilhem eint mit Blumenberg der Ansatz an der Begriffsgeschichte, mit Foucault die Orientierung an Diskursanalyse, während er dem Konzept von Epochenschwellen eher distanziert gegenübersteht, das wiederum Foucault mit Blumenberg verbindet, der seit der großen Studie zum Problem der Säkularisierung an Epochenschwellen orientiert blieb und z. B. mit seinem Konzept diskontinuierlicher Wirklichkeitsbegriffe Foucaults Epistemen überraschend nahe rückt. Neben der Genealogie von Begriffsschichtungen und der Geschichtlichkeit des Diskurses als Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte soll noch ein dritter Aspekt von Canguilhems historischer Epistemologie herausgearbeitet werden, ihr rekursives Zeitverhältnis aus einer Gebundenheit an die Gegenwart: »[W]eil die historische Darstellung stets die wirkliche Interessen- und Forschungsrichtung verkehrt«, hieß es bereits im Essay, kann die epistemologische Analyse auch nicht chronologisch verfahren, »denn die Reflexion wird ja gerade von den Problemen der Gegenwart herausgefordert«. 23 Canguilhem unternahm seine Untersuchungen stets ausdrücklich im Licht aktueller Den Canguilhem 1960 als Gutachter von dessen Doktorarbeit kennengelernt und dessen Ordnung der Dinge er kurz darauf positiv rezensieren sollte, vgl. Georges Canguilhem, Tod des Menschen oder Ende des Cogito?, in: Marcelo Marques (Hg.), Der Tod des Menschen im Denken des Menschen: Georges Canguilhem über Michel Foucault, Michel Foucault über Georges Canguilhem, Tübingen: edition diskord 1988, S. 17–49. 23 Canguilhem, Das Normale und das Pathologische (wie Anm. 3), S. 37. – Beim Normalen und Pathologischen waren es die vergleichsweise rezenten Beobachtungen zu Wechselwirkungen zwischen Organismus und Umwelt, wie sie Kurt Goldstein in den Mittelpunkt seiner neurologischen Theorie gestellt hatte oder wie sie zu den Leitlinien der physiologischen Klinik eines René Leriche gehörten, mit denen an die Stelle einer Aufsummierung spezifischer Organ- und Körperleistungen eine Betrachtung von deren komplexem Zusammenspiel trat, deren Leistung für Canguilhem wesentlich in der produktiven Antwort auf Herausforderungen aus der Umwelt und vor allem auf unvorhergesehene »Störungen« lag. 22
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wissenschaftlicher Auseinandersetzungen, freilich ohne dabei zurückliegende Leistungen schlicht am Maßstab rezenten medizinischen Wissens abzumessen. Vielmehr entwirft er Wissenschaftsgeschichte des Lebendigen als ein immer wieder neues Ausrichten der Erkenntnisfragen vom gegenwärtig Problematischen her im Sinne einer Kantischen Kritik des Wissens, aber als deren Wendung ins Historische. Als »Wissenschaft der stabilisierten Lebensäußerungen« sind Biologie und Physiologie nicht nur immer schon de facto historisch, sondern sie sind selbst historische Wissenschaften, nämlich Wissenschaften von der Geschichtlichkeit des Lebenden selbst. Denn »in der Biologie ist das pathos Bedingung des logos, weil es ihn erforderlich macht. […] Einzig über misslungene Anpassung, über erlittene Schlappen und Schmerzen kommt das Leben zum Bewusstsein.« 24 In solchen knapp bemessenen Verklammerungen von Leben und Logos zeigt sich Canguilhems epistemologischer Vitalismus: Derselbe Umweltbegriff, der Canguilhem zunächst auf die Normen setzende Aktivität des Lebendigen gelenkt hatte, verweist nun umstandslos auf weitere Normativitäten, auf wissenschaftliche Auseinandersetzungen, auf die Bedeutungsschichten wissenschaftlicher Begriffe und deren Transformationen, Ablagerungen und Abspaltungen. In Anlehnung an Dobzhanskys berühmtes Diktum über Biologie im Lichte der Evolutionstheorie könnte man also über Canguilhems Philosophie sagen, nichts mache Sinn außer im Lichte der Geschichtlichkeit des Lebens. 25 – Wobei dieses Licht natürlich nicht selbst der Suchscheinwerfer der Evolutionstheorie sein kann, sondern jener sich überhaupt erst dem Licht verdankt. Denn der Einsatz von Canguilhems historischer Epistemologie gilt der Rekonstruktion erkenntniskritischer Problemlagen und der Erschütterung etablierter Denkgewohnheiten – und zwar sowohl als Freilegung verschütteter Alternativen wie als Unterminierung der vermeintlich logischen Folgerichtigkeit wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts.
Canguilhem, Das Normale und das Pathologische (wie Anm. 3), S. 141. Theodosius Dobzhansky, Nothing in biology makes sense, except in the light of evolution, The American Biology Teacher 35 (1973), 125–129.
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III. Phänomenologie von Begriffen: Blumenberg Zu den wenigen Wissenschaftshistorikern, die Blumenberg wiederholt erwähnt, zählt Thomas Kuhn – der nun wiederum bei Canguilhem bemerkenswert absent bleibt. 26 Kuhns »Kettenreaktion der Erzeugung von Theorien« war für Blumenberg spätestens seit der Genesis der kopernikanischen Welt von großem Interesse. Gleichwohl kritisierte er das Modell des Paradigmenwechsels als zu schematisches »Ablösungs- und Durchsetzungsverfahren«, als ein letztlich der Grammatik entlehntes Schema und warf ihm schließlich in Arbeit am Mythos den Rückfall in eine mythische Denkfigur vor. 27 Nicht erst Kuhn, schrieb Blumenberg an anderer Stelle, sondern bereits Georg Christoph Lichtenberg habe den Paradigma-Begriff philosophisch gewendet und dabei auch schon den Bezug auf das kopernikanische System hergestellt. Die bemerkenswerte Pointe dieser spitzen Glosse lautete, dass schon Lichtenberg, aber eben nicht Kuhn den vollen philosophischen Ertrag einhole, nämlich dass Sprache die »Paradigmen«, also im ursprünglichen Wortsinne die Deklinationsbeispiele, liefere und deshalb Philosophie »Berichtigung des Sprachgebrauchs und damit Berichtigung der allgemeinsten immer schon vorhandenen Philosophie« sein müsse. 28 Diese Spur der Sprache und der Kritik des Sprachgebrauchs, die Blumenberg später meisterhaft zur kleinen Form der geistreichen Intervention in immer neuen Variationen entfalten sollte, führte ihn in einem anderen Text aus demselben Jahr 1971 weit über Kuhns Wissenschaftstheorie des Gestaltwechsels hinaus in bemerkenswerte Nähe zur Wissenschaftsforschung: In dem nicht nur für Blumenbergs Verhältnis zur Wissenschaftsgeschichte zentralen Aufsatz »Anthropologische Blumenberg hat Siegfried Unseld auf Kuhns Buch The Structure of Scientific Revolutions aufmerksam gemacht und die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung 1967 in der von gemeinsam mit Dieter Henrich, Jürgen Habermas und Jacob Taubes betreuten Reihe Theorie bei Suhrkamp veranlasst; ich danke Dorit Krusche für diesen Hinweis. Canguilhem war 1961 zwar nach Oxford zum Symposium »Structure of Scientific Change« eingeladen, wo Kuhn mit »The Function of Dogma in Scientific Research« die Kernthese seines damals fast fertigen Buchs zur Diskussion stellte, aber er konnte persönlich nicht kommen. Canguilhems Tagungsbeitrag »The Role of Analogies and Models in Biological Discovery« wurde jedoch in die Publikation aufgenommen. 27 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 185. 28 Hans Blumenberg, Paradigma, grammatisch, Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), 195–199; wiederabgedruckt in derselbe, Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart: Reclam 1981, S. 157–161, hier S. 161. 26
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Annäherung an die Aktualität der Rhetorik« konstatierte er ein allgemein mangelhaftes Verständnis dafür, daß Gremien von Wissenschaftlern in Ermangelung abschließender Evidenz ihrer Erkenntnisse ihrerseits gar nicht anders verfahren können als […] rhetorisch, nämlich auf einen faktischen consensus zielend, der nicht der consensus ihrer theoretischen Normen sein kann. 29
Was Blumenberg hier beschäftigte, war jedoch keine Soziologie von Verfahrensweisen und keine Ethnographie der Entscheidungsfindung, sondern der philosophisch bedeutsame historische Umstand, dass Wissenschaft nicht nach den Regeln ihrer abstrakt legitimierten Rationalität verfährt, ja verfahren kann, sondern Wissen in Ermangelung letztgültiger Evidenz immer nur konsensuell legitimiert. Auf den ersten Blick scheint das einer wissenschaftsphilosophischen Kapitulationserklärung nahezukommen, wenn Blumenberg hier den empirischen Befund prinzipiell mangelhafter menschlicher Erkenntnis gegen die Ansprüche formallogischer Geltungsrekonstruktionen als anthropologische Konstante ins Feld führt. Tatsächlich ist Gehlens Bestimmung des Menschen als »Mängelwesen« der zentrale Bezugspunkt dieses Aufsatzes. 30 Aber umso bemerkenswerter sind die Konsequenzen, die Blumenberg aus diesem Ausgangspunkt herleitet, die man eine epistemologische Wendung von Gehlens Anthropologie nennen könnte. 31 Das macht diesen Aufsatz zu einem Schlüsseltext für den hier verhandelten Zusammenhang von Wissenschaftsgeschichte und Philosophie, ja zum Zentraltext für Blumenbergs historische Epistemologie. Die unmittelbare Konsequenz aus der diagnostizierten Unverfügbarkeit der Wahrheit ist zunächst eine Aufwertung von Geschichte und Rhetorik: Wo Wahrheit nicht zu haben ist, tritt die Suche nach ihr an deren Stelle, und die Überzeugungskraft guter Argumente muss für den logischen Zwang endgültiger Beweise eintreten. Hieraus ergeben sich zwei weitere eminente Schlussfolgerungen, die Hans Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: derselbe, Wirklichkeiten (wie Anm. 28), S. 104–136, hier S. 125. In diesem Text schließt sich Blumenberg sogar Kuhns Redeweise von »Paradigma« zur Beschreibung dominanter Theorien an, vgl. ebd. S. 112 und 127. 30 Ebd., S. 105, bezeichnenderweise setzt Blumenberg zwar »Mängelwesen« in zitierende Anführungszeichen, nennt Gehlen jedoch nicht, sondern geht auf ihn erst zehn Seiten später und nur beiläufig in ganz anderem Zusammenhang ein. 31 Vgl. Rüdiger Campe, From the theory of technology to the technique of metaphor: Blumenberg’s opening move, Qui Parle 12 (2000), 105–126. 29
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Einsicht in die radikale historische Kontingenz aller wissenschaftlichen Wahrheiten, die immer nur »Zustimmung auf Widerruf« repräsentieren, und der Aufstieg der Rhetorik zum probaten Mittel der Politik, weil diese sich »die prinzipielle Unendlichkeit der wissenschaftlichen Rationalität nicht leisten kann«. 32 Genauso wenig wie Wissenschaft ewige Wahrheiten zu liefern vermag, weil sie an die Stelle der Eschatologie den Fortschritt gesetzt hat, ist Rhetorik falscher Schein oder bloße Ausschmückung, sondern vielmehr Werkzeug eines abgemessenen und deshalb politisch angemessenen Umgangs mit Evidenzmangel, eine »Technik, sich im Provisorium vor allen definitorischen Wahrheiten und Moralen zu arrangieren. Rhetorik schafft Institutionen wo Evidenzen fehlen.« 33 Ein solches Arrangieren im Provisorium mag nach Nachkriegszeit riechen, ihm fehlt gleichermaßen der Fortschrittsglaube moderner Technowissenschaften wie der moralische Rigorismus politischer Utopien. Es ist eine durch und durch skeptische Position, die Blumenberg hier entwirft, aber ihr Skeptizismus entspringt einer erkenntniskritischen Position, die zugleich auf die Bedingungen eines humanen Wissens und der Möglichkeit einer demokratischen Wirklichkeit reflektiert. Allein schon diese erkenntniskritische Position impliziert eine radikale Aufwertung der Geschichte inklusive einer Anerkennung der Wissenschaftssoziologie, vereint sie regelrecht zu einer sozialen und historischen (aber nicht sozial-historischen) Epistemologie. Die besondere Pointe von Blumenbergs Aufsatz aber liegt in der radikalen Umwertung des »Mängelwesens Mensch« mit seinen vermeintlichen, gleichermaßen biologisch wie wissenschaftsphilosophisch zu konstatierenden Makeln zur epistemologisch herausgehobenen Position. Was einer essentialistischen Anthropologie als unhintergehbarer Ausgangspunkt und uneinholbarer Mangel erscheint, wird in Blumenbergs epistemologischer Perspektive zur Möglichkeitsbedingung neuer Wirklichkeiten als künstliche Welten: Ich sehe keinen anderen wissenschaftlichen Weg für eine Anthropologie, als das vermeintlich ›Natürliche‹ […] zu destruieren und seiner ›Künstlichkeit‹ im Funktionssystem der menschlichen Elementarleistung ›Leben‹ zu überführen. […] Der Mangel des Menschen an spezifischen Dispositionen zu reaktivem Verhalten gegenüber der Wirklichkeit, seine Instinktarmut also, ist 32 33
Blumenberg, Anthropologische Annäherung (wie Anm. 29), S. 112 f. Ebd., S. 110. A
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der Ausgangspunkt für die anthropologische Zentralfrage, wie dieses Wesen trotz seiner biologischen Indisposition zu existieren vermag. Die Antwort läßt sich auf die Formel bringen: indem es sich nicht unmittelbar mit dieser Wirklichkeit einläßt. Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ›metaphorisch‹. 34
Die Metapher, Sprache generell, wird hier zur actio per distans par excellence. Aber nicht einmal die Sprache darf als unhintergehbarer Ankerpunkt situiert werden. Nicht die Bestimmung des Menschen als animal symbolicum trägt als ontologischer Fixpunkt einer essentialistischen Anthropologie, sondern Sprache muss selbst noch ihrer Möglichkeit nach als Resultat der radikalen Indisposition des Menschen gedacht werden. Das markiert eine bemerkenswerte Distanz zum sonst stets hoch geschätzten Ernst Cassirer, dem er hier eine »Anthropologie des ›reichen‹ Menschen« unterstellt, die auf dem Boden einer gesicherten biologischen Existenz »Schicht um Schicht das Kulturgehäuse der ›symbolischen Formen‹ emporwachsen« lasse, während Philosophie als »Abbau von Selbstverständlichkeiten« doch gerade die gesicherte physische Existenz als Kulturprodukt begreifen müsse. 35 In Ermangelung fester Tatsachen und ohne Aussicht auf die Evidenz sicheren Wissens ist Sprache wie aller Werkzeuggebrauch Distanzgewinn gegen den Absolutismus der Wirklichkeit. In wenigen Sätzen skizziert Blumenberg hier eine kleine Apologie der Künstlichkeit gegen eine Anthropologie der heroischen Überwindung des Mangels oder einer biologisch-natürlichen Selbstvergewisserung – auf dass »Kunst und Wahrheit […] identisch« würden. 36 Blumenberg entfaltet diese epistemologische Wendung der »biologischen Indisposition« des Menschen weiter zu einer Kritik an der Ideologie des wissenschaftlichen Rationalismus, der als Modus der Wirklichkeitsfeststellung zum Methodenzwang wird und den er auf einer Fluchtlinie mit dem Rigorismus von Descartes »morale provisoire« sieht. Gegen diesen Zwang positioniert er seine Erkenntniskritik, an dessen Ende nichts als Rhetorik bleibt, aber nicht als Vorgaukelung falschen Scheins, sondern als Lob der Künstlichkeit gegen den Anschein nackter Tatsachen. – Das hat zugleich eine eminent politische
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Konsequenz, nämlich in dem Anspruch, mit sprachlichen Mitteln immer wieder Raum für künstliche Selbstsetzungen zu schaffen: Sich unter dem Aspekt der Rhetorik zu verstehen heißt, sich des Handlungszwanges ebenso wie der Normentbehrung in einer endlichen Situation bewußt zu sein. Alles, was hier nicht Zwang ist, gerät zur Rhetorik, und Rhetorik impliziert den Verzicht auf Zwang. 37
Deshalb ist auch Blumenberg nicht blind für die Geschichte sozialer Prozesse und Institutionen, für die Praktiken der Normierung und Standardisierung. Aber als Philosoph widmet er ihnen im Unterschied zu Canguilhem und insbesondere Foucault erst dann seine Aufmerksamkeit, wenn sie reflexionsrelevant werden, wenn sie quasi begriffshistorisch vorfallen, wenn sie epistemische Wendemarken markieren. Solche Unterschiede sollten dabei nicht den Blick für Parallelen in struktureller Hinsicht verstellen, auf die das schon zitierte Vorwort Foucaults zu Canguilhems Le normal et le pathologique aufmerksam werden lässt. Dort hatte Foucault 1978 Canguilhem (und damit letztlich auch sich selbst) überraschenderweise in eine Kontinuität zur Phänomenologie gestellt, in dem er zwei »Modalitäten« der Phänomenologie-Rezeption in Frankreich unterschied. Auf der einen Seite habe sich die Phänomenologie »in Richtung einer Philosophie des Subjekts« entwickelt und dafür stünden die Namen Sartre und Merleau-Ponty. Auf der anderen Seite sei sie jedoch zu einer Philosophie des Begriffs und des Wissens ausgearbeitet worden und dafür stünden Cavaillès, Bachelard und Canguilhem. 38 Hier reklamierte Foucault für Canguilhem eine philosophische Richtung, der auch Blumenberg – wenngleich im Rekurs auf andere Autoren – sich verpflichtet fühlte. Hinter der vor allem politisch motivierten Absage an die vermeintlich fundamentalere Philosophie des Subjekts eines Sartre votierte Foucault hier für eine nur scheinbar rein formale oder theoretische Philosophie skeptischen Wissens als die philosophisch wie politisch überzeugendere Alternative. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass Foucault in der epistemologischen Stoßrichtung wie im Rückbezug auf Kants kritisches Programm dieselben Perspektiven aufwirft wie Blumenberg in seinem Rhetorik-Aufsatz. Vor allem im Hinblick auf diese Passage hat kürzlich Kevin 37 38
Ebd., S. 113. Foucault, Vorwort (wie Anm. 8), S. 552 f. A
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Thompson für seine Foucault-Interpretation im Anschluss an Cavaillès und Canguilhem den Ausdruck »phenomenology of concepts« vorgeschlagen. 39 Das ist in den Foucault Studies kritisiert worden, weil sich eine solche positive Bezugnahme Foucaults auf die Phänomenologie nur auf wenige indirekte, allerdings gewichtige Aussagen stützen kann. 40 Aber eine Phänomenologie der Begriffe kennzeichnet m. E. sehr genau das Blumenberg und Canguilhem gemeinsame Projekt einer offenen Geschichte menschlichen Denkens. Denn hier werden Konzepte – das unterscheidet eine Phänomenologie der Begriffe von Wissenschaftstheorie wie Begriffsgeschichte – nicht im Lichte eines erreichten Wissensstandes auf ihren Wahrheitsgehalt festgestellt, sondern gerade umgekehrt in Bezug auf die Bedingungen der Genese ihres Sinns und auf das in ihnen sedimentierte Unerledigte hin aufgeschlossen. In dieser Phänomenologie der Begriffe verschmelzen historische Rekonstruktion und phänomenologische Reduktion zu einer skeptischen Analyse, die aus den Umformungen, Verfehlungen und Abbrüchen begrifflicher Schichten den Spielraum philosophischer Künstlichkeit auslotet. Deshalb sind Begriffe hier als intrinsisch spannungsvolle Beziehungen auf Nicht-Begriffliches konzipiert, deshalb gilt Blumenbergs besondere Aufmerksamkeit dem »Fehlen der abgeschlossenen Vorstellung des Gegenstandes« 41 (von den Paradigmen zu einer Metaphorologie über die Theorie der Unbegrifflichkeit bis zu Begriffe in Geschichten), während Canguilhem Begriffe als epistemische Variante von Setzungen, von Umweltauseinandersetzungen verstand, zu denen er neben sprachlichen Akten auch soziale »Tatsachen«, Praktiken oder Institutionen zählte (wobei er Metaphern zwar aufmerksam, aber nicht gezielt terminologisch verfolgte, sondern ihnen Modelle und Analogien an die Seite stellte 42 ). Auf dem einen wie dem anderen Weg galt Kevin Thompson, Historicity and transcendentality: Foucault, Cavaillès, and the phenomenology of concept, History and Theory 47 (2008), 1–18. 40 Colin Koopman, Historical or transcendental critique in Foucault: two Kantian lineages, Foucault Studies 8 (2010), 100–121. 41 Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 9. 42 Vgl. Georges Canguilhem, The role of analogies and models in biological discovery, in: Alistair C. Crombie (Hg.), Scientific Change. Historical Studies in the Intellectual, Social and Technical Conditions for Scientific Discovery and Technical Invention, from Antiquity to the Present, London: Heineman 1963, S. 507–520; sowie derselbe, Die 39
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ihr besonderes Interesse den Um- und Abwegen, den Verirrungen und Verwirrungen, kurz: der Fehlbarkeit allen Wissens. Das meint mehr als historische oder philosophische Genauigkeit, denn es zielt auf die avisierte Umpolung der Begriffsgeschichte: Das Scheitern im Versuchen, die Fehler im Denken werden ihr zum methodischen Zugang zum Unbegrifflichen. Foucault hatte Canguilhem im selben Vorwort bekanntlich auch zum »Denker des Irrtums« erklärt, 43 und in der Tat sah Canguilhem in der Beschreibung »genetischer Irrtümer« ein philosophisch höchst relevantes Datum, weil mit diesem Konzept das Verhältnis von Erkenntnis und Gegenstand neu bestimmt worden sei: An diesem Punkt könnte man geneigt sein, uns die Verwechslung von Denken und Natur vorzuwerfen oder den Einwand zu erheben, daß hier der Natur einfach das Verfahren des Denkens unterlegt wird, daß von Irrtum nur beim Urteil die Rede sein kann … Indessen darf man nicht übersehen, daß die Informationstheorie unteilbar ist und daher ebenso für die Erkenntnis selbst wie für ihre Gegenstände, nämlich Materie oder Leben, Geltung hat. Entsprechend heißt erkennen: sich informieren, sich üben im Entziffern und Dekodieren. Deswegen gibt es auch keinen Unterschied zwischen dem Irrtum des Lebens und dem des Denkens. 44
Die Engführung, ja Gleichsetzung von Denken und Leben, die Canguilhem hier behauptet, hat kein Äquivalent mehr in Blumenbergs kritischer Begriffsphänomenologie, der – wie oben skizziert – in umgekehrter Richtung auf Künstlichkeit als Distanz von der Natur abhob. Aber bei ihm findet sich eine skeptische Entsprechung, etwa wenn es im buchstäblich erschütternden Eröffnungshorizont der Arbeit am Mythos heißt, Beherrschung der Wirklichkeit könnte einmal »als ein ausgeträumter, des Träumens nie wert gewesener Traum erscheinen«. 45 Und wenn Blumenberg noch im selben Jahr als eine Art Satyrepistemologische Funktion des ›Einzigartigen‹ in der Wissenschaft vom Leben, in: derselbe, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie (wie Anm. 5), S. 59–74. 43 »[Man muss] darin übereinkommen, dass der Irrtum die Wurzel dessen ist, was das menschliche Denken und seine Geschichte ausmacht.« Michel Foucault, Vorwort (wie Anm. 8), S. 551–567, hier S. 566. Zu Foucaults Analyse von Canguilhems Irrtumsbegriff siehe Philipp Sarasin, Die Sprache des Fehlers. Foucault liest Canguilhem (und Darwin), in: Ernst Müller, Falko Schmieder (Hgg.), Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, Berlin: de Gruyter 2008, S. 165–174. 44 Canguilhem, Das Normale und das Pathologische (wie Anm. 3), S. 193 f. 45 Blumenberg, Arbeit am Mythos (wie Anm. 27), S. 9. A
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spiel Schiffbruch mit Zuschauer hinterherschiebt, wird deutlich, dass Blumenberg vielleicht nicht der Irrtum, aber gewiss das Scheitern des »Mängelwesens« als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis gilt.
IV. Die Frage nach der Technik und der Vorsprung des Lebens Scheitern ist nicht nur Konsequenz imperfekter Erkenntniswerkzeuge im Sinne einer conditio humana, sondern ebenso Ausdruck einer Kreativität, der sich Leben wie Denken und Geschichte verdanken. Scheitern kann nur, wer etwas versucht. Pathologie gibt es nur im Bereich der belebten Natur, ihr korrespondiert die Technik in der menschlichen Welt. Hier zeigen Blumenberg wie Canguilhem wieder jene charakteristische epistemologische Wendung einer scheinbar ontologisch fixierten Anthropologie bzw. eines scheinbar essentiellen Vitalismus. Damit steht ein spezifisch philosophisches Interesse an Technik in enger Verbindung, denn Kreativität ist nur ein anderes Wort für Technik, wenn diese nicht als Selbstentfremdungs- oder Weltaneignungsinstrument, sondern als allgemeiner Begriff gefasst wird für jedwede Verfahren zur Stabilisierung des Lebens und zum Abwenden menschlichen Scheiterns. Techniken sind dann alle Strategien der Auseinandersetzungen mit der Umwelt, auch dort, wo sie noch über keine spezifisch ausgeformten Instrumente verfügen oder wo sie auf sprachlicher Ebene der rhetorischen Überzeugungsarbeit in Ermangelung finaler Evidenzen dienen. 46 Schon in einer frühen Studie zu Descartes hatte Canguilhem als dessen grundlegende Einsicht die Abhängigkeit der Wissenschaft von Technik herausgestellt, weil Technik es – anders als im gemeinhin angenommenen einseitigen Anwendungsverhältnis theoretischen Wissens zu praktisch realisierter Wirksamkeit – immer mit der unüberschaubaren Komplexität bzw. den Unzulänglichkeiten der materiellen Welt zu tun hat. 47 Wissenschaft garantiert nicht den Erfolg technischer Verfahren, sondern sie verdankt sich ihm, Technik muss also notwendigerweise als Vorgriff gefasst werden. Weil Canguilhem Medizin als Vgl. den Aufsatz von Birgit Recki in diesem Band S. 64–87. Georges Canguilhem, Descartes und die Technik [1937], in: derselbe, Wissenschaft, Technik, Leben: Beiträge zur historischen Epistemologie, hg. von Henning Schmidgen, Berlin: Merve 2006, S. 7–21.
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eine Technik am Schnittpunkt verschiedener Wissenschaften begriff, hatte der erste Teil von Das Normale und das Pathologische regelrecht in eine Zuspitzung dieser Thesen aus der Descartes-Studie geführt: Wenn nicht die kühn vorwärtsstürmende Technik, unbekümmert um die Hindernisse, die ihrer harren, beständig der eher besonnenen systematischen Wissenschaft vorgriffe, gäbe es wohl nur wenige nach Lösungen verlangende wissenschaftliche Probleme, die doch zuerst immer Fehlschläge sind, bevor sie Staunen erregen. 48
Technik wird hier zum Motor wissenschaftlicher Erkenntnis, der genau dann Wissenschaft von einer stabilen Rekonstruktion vorfindlicher Wirklichkeit auf das System Fortschritt umstellt, wenn Technik nicht mehr fertige Ideen bloß realisiert, sondern über die Anwendung des Wissens von der Natur hinausgreift, also selbst Ideen stiftet. Für den Nachfolger Gaston Bachelards stand dabei außer Frage, welche Effekte ein solcher rationalisme appliqué insbesondere auf dem Feld der Lebenswissenschaften haben werde. Schon die röntgenkristallographische Darstellung eines DNS-Strangs war ja das Ergebnis hoch artifizieller Laborkonstruktionen gewesen, von dort konnte auf zukünftige Effekte dieses Forschens geschlossen werden, wie Canguilhem 1971 in seinem Eröffnungsvortrag beim Internationalen Kongress für Wissenschaftsgeschichte in Moskau ausführte: Die Erkenntnis des Lebens hängt seither von neuen Automaten ab. Sie sind ihre Modelle und Instrumente, ihr verlängerter Arm. Wir müssen die Zusammenarbeit mit diesen Simulatoren der Funktionen menschlichen Lebens hinnehmen, wir müssen in Zukunft akzeptieren, mit ihnen zu leben, wenn wir daran festhalten wollen, besser zu wissen, worin Leben besteht. Niemals war in solchem Maße deutlich, wie sehr sich der Mensch darum bemühen muß, die naiven Objekte seiner vitalen Fragen zu verfremden, um sich die Wissenschaft zu verdienen. 49
In ähnlicher Weise hatte Blumenberg die Moderne genealogisch auf die Emanzipation der Technik von der Nachahmung der Natur zurückgeführt. 50 Mit der Anerkennung des Löffels als vorbildlosem Produkt Canguilhem, Das Normale und das Pathologische (wie Anm. 3), S. 67. Georges Canguilhem, Zur Geschichte der Wissenschaften vom Leben seit Darwin, in: derselbe, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie (wie Anm. 5), S. 134–153, hier S. 153. Zu Bachelards Konzept des rationalisme appliqué vgl. Mary Tiles, What does Bachelard mean by rationalisme appliqué? Radical Philosophy 173 (2012), 24–26. 50 Vgl. den Aufsatz von Jürgen Goldstein in diesem Band S. 25–46. 48 49
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technischer Fertigkeit sei an die Stelle der Nachfertigung vorgefundener Urbilder die Konstruktion neuer Apparate getreten, und das Ausprobieren unerwarteter, neuer Lösungen ließ an die Stelle der Betrachtung der Welt das Baconsche Bezwingen der Natur rücken. Denn erst für die Neuzeit gebe es eine »Natur, die wie ein Schrei nach dem Zügel und Zaum des Menschen ist«. 51 Damit treten jedoch Wissenschaft und Technik von einem Entsprechungs- in ein Spannungsverhältnis, denn Können lässt sich nun nicht mehr im Horizont des Erkennens halten. Fortan fällt der Technik der Primat der Innovation, der Bereitstellung des Neuen zu. Technik artikuliert sich nicht zuletzt in einem Vorsprung im Können vor der Erkenntnis. Weil sich an dieser Stelle Canguilhem und Blumenberg berühren, treten zugleich ihre Differenzen schärfer hervor. Für beide steht zwar von vornherein fest, dass die in der damaligen Technikphilosophie dominierende Dämonisierung von Technik auf einer falschen Antithese von Natur und Technik fußt, allein schon weil der moderne Naturbegriff sich erst den neuen, experimentellen Herstellungstechniken des Wissens verdankt. Auf dem Boden ihres Geschichtsdenkens taugt Technik auch ebenso wenig als Herausforderung zur Wiedervergegenwärtigung eines verschütteten ursprünglichen Seinszusammenhangs, denn sie situieren beide am Beginn der Neuzeit mit der Erfindung von Technik und Technologie eine grundlegende und über die sogenannte wissenschaftliche Revolution hinausgehende Transformation. 52 Aber was für Canguilhem eine neue epistemologische Stufe in der Relation von Begriff und Leben darstellte, ihre Ausdifferenzierung in Richtung auf Künstlichkeit, sah Blumenberg als Öffnen unvordenklicher Möglichkeitshorizonte im Medium der Sprache. Während Canguilhem an künstliche Wirklichkeiten des Lebens dachte, rekonstruierte Blumenberg eine offene Serie sprachlich vermittelter Wirklichkeitsvorstellungen aufsteigender Distanzierungskraft. Wirklichkeit sei mit der Moderne wesentlich als Unverfügbares konzipiert, das sich durch den Fortschritt der Wissenschaften hindurch einer bestimmenden Manipulation entziehe und vielmehr als Widerstand erfahren würde, womit Wirklichkeit in einem ambivalenten Spannungsverhältnis zur Technisierung gerät. Hans Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, in: derselbe, Wirklichkeiten in denen wir leben (wie Anm. 28), S. 7–54, hier S. 8. 52 Vgl. den Aufsatz von Oliver Müller in diesem Band S. 47–63. 51
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Bereits in seinem Beitrag zum Kolloquium Nachahmung und Illusion 1963 in Gießen hat Blumenberg dieses Konzept sich ausdifferenzierender Wirklichkeitsbegriffe dargelegt. 53 Diese Gründungstagung der Gruppe Poetik & Hermeneutik galt der Frage nach der Möglichkeit des Romans und entsprechend fanden Blumenbergs Ausführungen schon damals ihre entscheidende Zuspitzung im Übergang von der philosophischen Analyse von Wirklichkeitsbegriffen zu Fragen der sprachlichen Darstellung, wie er sie dann im Rhetorik-Aufsatz systematisch entfalten sollte: Mit der Neuzeit und in der Moderne radikalisiert sich der ästhetisch-rhetorische Spielraum der Darstellung jenseits – oder besser diesseits – der reinen Abbildung von Welt zur Wirklichkeit eines bloß Möglichen, dessen Grenzwert gar nicht mehr in Verhältnissen einer Entsprechung von Bild und Gegenstand, sondern ausschließlich in sich selbst, im Durchhalten der aufgestellten Regeln der Darstellung liegt. In Zeiten von Klimawandel, Ozonloch und Technowissenschaften wird man diesen Überlegungen zum Möglichkeitshorizont von Kunst auf die künstlichen Welten der modernen Wissenschaften übertragen dürfen, selbst wenn Blumenberg dafür noch keinen Anlass sah, ja den wissenschaftskritischen Dystopien seiner Zeitgenossen etwa hinsichtlich der Ökokatastrophe oder der vermeintlichen Gefahr genetischer Manipulation widersprochen hat. 54 Auf die Realität der unmittelbaren Evidenz der Antike, der das Wirkliche als Präsenz einer Idee galt und das deshalb unwidersprechlich war, folgte die Konzeption einer theologisch garantierten Realität des christlichen Mittelalters, die selbst noch Descartes’ logische Überführung des Zweifels in Gewissheit tragen konnte. Erst mit der Neuzeit sei diese Einheitlichkeit im Wirklichkeitsbegriff zerbrochen und ein Verständnis von Wirklichkeiten als Resultat ihrer sukzessiven, theoretischen wie praktischen Realisierung mittels intersubjektiver Verständigung und buchstäblicher Welt-Bildung getreten. Daraus habe sich in der Moderne ein Konzept von Wirklichkeit als etwas Widerständigem angeschlossen, dessen Realität sich nun zuvörderst daran erweise, dass sie sich dem rationalen Zugriff nicht füge, ihm Widerstand leiste und Paradoxien erzeuge, vgl. Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: Hans Robert Jauß, Nachahmung und Illusion, 2. durchgesehene Auflage, (Poetik und Hermeneutik; 1) München: Fink 1969, S. 9–27. Dieses Ordnungsschema bietet ein bislang noch weitgehend uneingelöstes Anknüpfungs- wie Auseinandersetzungspotenzial für die Wissenschaftsgeschichte von Ludwik Fleck (vgl. den Beitrag von Philipp Stoellger in diesem Band S. 196–228) bis zur Historisierung von Objektivität bei Lorraine Daston und Peter Galison. 54 Vgl. das Kapitel »Der genetische Code und seine Leser« in: Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 372–409, hier besonders S. 397 f. 53
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Müssen wir heute nicht konstatieren, dass sich Wissenschaft und Technik inzwischen ebenfalls von der Erkenntnis des Wirklichen auf eine Realisierung von Machbarkeiten verlegt haben und die neuen synthetischen Techno-Wissenschaften die Wirklichkeit mehr herstellen als abbilden? Kunst und Wissenschaft werden so zu »Werkstätten des Möglichen«, um Birgit Grieseckes wunderbaren Titel aufzugreifen. 55 Für Blumenberg erwies sich die Radikalität des Bruchs, den die Erfindung der Technik darstellt, in bzw. an ihrer historischen Kontingenz als »spontan in der Geschichte einsetzender Prozess«, der in »keiner verstehbaren Beziehung mehr zur Natur des Menschen« stehe. 56 Gerade damit sah er die Sprache zu den ihr eigenen Möglichkeiten der Künstlichkeit befreit. Canguilhem hingegen, für den Technik »eine Tätigkeit [war], die im spontanen Bestreben des Lebewesens wurzelt, die Umwelt zu beherrschen und sie nach den ihm spezifischen Werten zu organisieren«, 57 sah in der Freisetzung der Technik den entscheidenden Transformationsschritt von einer weitgehend statischen bzw. teleologisch fixierten zu einer dynamisch-reflexiven Naturphilosophie auf dem Weg zu einer offenen Biologie des Erkennens. Damit konzipierte Canguilhem allerdings keineswegs eine Anthropologie der Technik im homo faber, sondern eher eine Art Resonanzverhältnis von Technik und Lebensprozess: Der Mensch ist das durch die Wissenschaft vom Leben getrennte Lebewesen, das versucht, durch die Wissenschaft wieder mit dem Leben zusammenzukommen. […] Ist die Erfindung und Verwendung von Maschinen durch den Menschen, die technische Aktivität im Allgemeinen, nicht das, was Hegel eine List der Vernunft nennt? Die List der Vernunft besteht darin, ihre eigenen Zwecke durch die vermittelnde Tätigkeit von Objekten zu verfolgen, die ihrer eigenen Natur entsprechend aufeinander einwirken. 58
Nicht weil der Mensch seiner Natur oder Not nach Erfinder ist, gibt es die Technik, sondern weil Leben materielle Interaktion ist. Die neuzeit-
Birgit Griesecke (Hg.), Werkstätten des Möglichen 1930–1936: L. Fleck, E. Husserl, R. Musil, L. Wittgenstein, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008. 56 Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung (wie Anm. 51), S. 16. 57 Canguilhem, Das Normale und das Pathologische (wie Anm. 3), S. 156. 58 Georges Canguilhem, Aspekte des Vitalismus, in: derselbe, Die Erkenntnis des Lebens, Berlin: August 2009, S. 183–232, hier S. 222. 55
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liche Emanzipation der Technik verweist das Denken darauf, dass Technik selbst Ausdruck »vitaler Originalität« ist. 59 Damit ergibt sich hier geradezu ein Spiegelverhältnis zwischen beiden. Wo Blumenberg einen durchgehenden Prozess der theoretischen Neugierde sieht, der zwar durch Technisierung maßgeblich vorangetrieben wird, aber in die Freisetzung sprachlicher Instrumente mündet und deshalb ihr letztlich unter- bzw. nachgeordnet werden kann, sieht Canguilhem quasi-technische Erprobungen quer über das Kontinuum möglicher Lebensformen, dem das theoretische Bemühen epistemisch wie historisch immer nur nachfolgen kann. Aber auch wenn es die Grundoperationen des Lebens sind, der sich letztlich Technik und Erkenntnis verdanken, führt dieser Gedanke Canguilhem nicht zu einer Evolutionsbiologie der Technik oder evolutionären Erkenntnistheorie, denn deren Begriffe spiegeln gerade jene wissenschaftliche Einseitigkeit, gegen die sich Canguilhems Kritik richtet. Und ebenso wenig löst Canguilhem die sein Unternehmen antreibenden philosophischen Fragen in eine Molekularbiologie der Erkenntnis oder eine Neurophysiologie der Kognition auf. Vielmehr wird dagegen die Vorbildlosigkeit der Technik stark gemacht; sie fordert die Philosophie heraus und bestimmt den philosophischen Einsatz, darin stimmen Canguilhem und Blumenberg überein. Aber es erscheint mir kein nebensächliches Detail, dass der eine dabei mit Löffel und Rad das Einzelding als Beispiel wählt, während der andere anhand der Dampfmaschine ein komplexes Gefüge anführt, in dessen Verlängerung heute soziale Institutionen oder die modernen Technowissenschaften stehen. In gewisser Hinsicht betreiben beide Philosophie der Technik als eine Art produktiver Unfallforschung, wenngleich mit divergenten Fluchtlinien. Für Blumenberg steht Technik, sofern sie nicht in sprachliche Künstlichkeit überführt werden kann und in Ermangelung einer autochthonen epistemischen Dimension, letztlich unter dem Primat von Rationalisierung, Ökonomisierung und Effizienzsteigerung. Daraus resultiert als letzte Frage an die Technik die nach der Bedrohung des Menschen im Auseinandertreten von Beschleunigung und Lebensvollzug, wenn die technischen Entlastungen Menschen verdrängen, sie buchstäblich unter die Räder ihrer Beschleunigungen bringen und mit der angebotenen Unterstützung lebensweltlich überfordern. PhilosoGeorges Canguilhem, Machine et organisme, in: derselbe, Die Erkenntnis des Lebens (wie Anm. 58), hier S. 222.
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phie der Technik wird so zur Technikfolgenabschätzung, was angesichts der konkreten Probleme der Wirklichkeiten in denen wir leben und der Bedrohung des Ökosystems im globalen Maßstab keineswegs abschätzig gemeint sein kann. – In seinen späten Überlegungen zu Grenzen medizinischer Rationalität finden sich auch bei Canguilhem ungewohnt skeptische Töne angesichts einer ins Grenzenlose gesteigerten technischen Leistungsfähigkeit, aber weil Wissenschaft und Technik letztlich eine Verlängerung des Lebensprozesses bleiben, rückt bei Canguilhem an die Stelle einer Überforderung durch Technik die produktive Verfremdung.
V.
Historiographie als Epistemologie
Ähnlich wie Blumenberg in seiner geistesgeschichtlichen Durchsicht nicht auf einzelne konkrete Inhalte theoretischer Einstellungen fokussiert, sondern auf deren Problemlösungspotenzial, behauptet Canguilhem keine funktionelle oder strukturelle Identität zwischen Problem und Lösung, sondern deren wechselseitige Erhellung, nämlich dass überhaupt erst an technischen Lösungen die gestellten Fragen deutlich werden. Hier lohnt ein letzter vergleichender Blick auf ihre unterschiedlichen Analysen. Für Blumenberg wie Canguilhem markierte die Entdeckung des genetischen Codes den vorläufigen Fluchtpunkt einer Geistesgeschichte des Lebens. Für den einen artikuliert sich darin die Unhintergehbarkeit von Metaphern, für den anderen die Unhintergehbarkeit des lebendigen Forschungsprozesses. Als Techniken zur Herstellung von neuem Wissen über das Leben haben die Biowissenschaften für Canguilhem eine Vielzahl neuer Objekte und Interventionsmöglichkeiten geschaffen, mit denen Leben heute grundsätzlich anders dargestellt wird, als noch vor kurzem denkbar war. Der genetische Code verdankt sich zugleich einer Artifizialisierung des Lebens, aus der heraus sich unerwartete Fragen an dessen Formbarkeit und Verfehlbarkeit ergeben. Für Blumenberg hingegen ratifizierte der genetische Code die absolute Metapher der Lesbarkeit der Welt, weswegen er mit ihm bekanntlich sein Buch abschließen könnte. Aber beide treffen sich in der Beschreibung des Menschen als eines biologischen, auf Philosophie hin sich öffnenden und sich damit selbst erschließenden Lebewesens – gerade noch dort, wo positive Antworten entzogen bleiben bzw. die philosophische Erschließung wesent192
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lich im Entzug vermeintlich sicherer Gewissheiten liegt: »Philosophie ist werdendes Bewußtsein des Menschen von sich selbst. […] Der Mensch sucht sich in dem zu erfassen, was in seinem Leben an Antrieben, Bedingtheiten und Möglichkeiten ›lebendig‹ ist«, hatte Blumenberg angesichts der Wiedereröffnung der Gießener Philosophischen Fakultät als seine Aufgabe formuliert, aber dabei zugleich eindringlich davor gewarnt, an die Stelle des Weltbildverlustes, der als Resultat von Aufklärung und Wissenschaften schlicht zu konstatieren sei, neue Weltbilder zu kreieren. Ganz im Gegenteil bestünde die vordringliche Aufgabe darin, die Leerstellen offen zu halten, weil sie doch die genuine Aufklärungsleistung darstellten. 60 Das war die Pointe der philosophischen Beschäftigung mit der Technik als einem selbst den Wissenschaften noch problematischen Bereich, nur so macht sie die Philosophie »zur Platzanweiserin der Aufklärung«. 61 Canguilhem greift dabei wiederholt auf eine Formulierung von Dijksterhuis zurück, dass die »Geschichte der Wissenschaften nicht nur Gedächtnis der Wissenschaft, sondern auch ihr epistemologisches Labor« sei. In historiographischer Perspektive ist die Distanz bemerkenswert, die aus dieser Gegenstandsbestimmung im Hinblick auf die einschlägigen Gefechte innerhalb der Wissenschaftsgeschichte resultiert. Denn Canguilhem markiert damit eine Differenz zu internalistischen wie externalistischen Ansätzen in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, denen er gleichermaßen eine Angleichung ihres Gegenstandes an den der Wissenschaften vorwirft, wenn in ihr soziologische bzw. theoretische Kontexte als Tatsachen privilegiert werden. Demgegenüber stehen im Zentrum einer historischen Epistemologie die sekundären, kulturellen, erst durch die Wissenschaften selbst konstituierten Gegenstände, die Produkte der theoretischen Anstrengung und der Bemühung, deren Fehler zu finden. Die Epistemologie fragt nach den Mitteln des Erfolges der Erkenntnisakte und sie zielt damit nicht mehr auf eine Ontologie des Wissens, sondern wird zu einer Art »Sittenlehre«, welche Freiheiten der Wissenschaftshistoriker sich bei der Konstruktion des historischen Gegenstandes erlauben darf: »Der Historiker der Wissenschaft ist notwendig ein Historiograph der WahrHans Blumenberg, Weltbilder und Weltmodelle, Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 30 (1961), 67–75, hier S. 67. 61 Georges Canguilhem, Machine et organisme, in: derselbe, La connaissance de la vie, Paris: Vrin 2 1965, S. 129. 60
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heit. […] Solche Augenblicke des Denkens werfen ein Licht zurück auf die Vergangenheit des Denkens und der Erfahrung.«62 Damit ist der Bezug der Wissenschaftsgeschichte auf die Gegenwart, von der her sie unternommen wird, keineswegs gekappt, aber dem Präsentismus einer Wissenschaftsgeschichte, die die Vergangenheit der Wissenschaften am Maßstab gegenwärtigen Wissens bestimmt, wird ein inverses Modell entgegengesetzt, das in der Totalität der Spuren der Vergangenheit den Eigensinn wissenschaftlicher Versuche rekonstruiert. Blumenberg scheint eine ähnliche Umkehrung der Perspektive im Kopf zu haben, wenn er als typisches Vorgehen der Wissenschaftsgeschichte eine »Mediatisierung der Vergangenheit für die Gegenwart, für eine Gegenwart [… und] ihre Aktualitätsmaße, die nur das auf diese Gegenwart Durchschlagende gelten lassen« kritisiert. 63 In der Ethnographie ist seit langem nicht mehr möglich, was in der Wissenschaftsgeschichte noch gang und gäbe ist: den raum-zeitlichen Standpunkt des Betrachters zum Bezugspunkt seiner Faktenwahl und seiner Urteile zu machen. […] Die Wissenschaftsgeschichte ist fast immer dem Spott derer, die recht behalten haben, gefolgt. […] Für die Geschichte der Philosophie ist der Simplicio in Galileis Dialog über die Weltsysteme keine lustige Person mehr, sondern eine polemische Karikatur. Die Wissenschaftsgeschichte, mit ihrem Gegenstand dem Erfolg verbunden, hat erkennbar andere Mühe, den obskur Gewordenen Respekt zu erweisen. 64
Ausgerechnet in der Ethnographie sah also Blumenberg das Vorbild für eine solche Umorientierung der Wissenschaftsgeschichte, die inzwischen bekanntlich tatsächlich zum grundlegenden methodischen Handwerkszeug der Wissenschaftsgeschichte zur Reflexion auf die Standpunktgebundenheit jedweder Perspektive geworden ist. Im Horizont dieser Kritik ließe sich als methodologischer Imperativ der historischen Epistemologie formulieren, dass sie auf eine Mediatisierung der Gegenwart für das Vergangene ziele. Wissenschaftsgeschichte muss grundsätzlich rekursiv und iterativ verfahren, weil die Georges Canguilhem, Die Rolle der Epistemologie in der heutigen Historiographie der Wissenschaften, in: derselbe, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie (wie Anm. 5), S. 38–58, hier S. 48, wobei Canguilhem hier zustimmend Gaston Bachelard, Le matérialisme rationnel, Paris: Presses Universitaires de France 1953 zitiert. 63 Blumenberg, Ernst Cassirer gedenkend, in: derselbe, Wirklichkeiten in denen wir leben (wie Anm. 28), S. 170. 64 Ebd., S. 163–172, hier S. 169 f. 62
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Spuren der Vergangenheit im Licht aktueller wissenschaftlicher Entwicklungen immer wieder neu konstelliert werden müssen, um die Bewegungen und Probiersteine des Erkennens hervortreten zu lassen. Mit Canguilhem ließe sich so wohl durchaus aus Geschichte auch lernen, denn dieses Ziel dürfte der Philosophielehrer, der später über Jahrzehnte Vorsitzender des nationalen philosophischen Prüfungsausschusses war, nie aus den Augen gelassen haben. Blumenberg hingegen erklärte dies kategorisch für »sekundär gegenüber der elementaren Obligation, Menschliches nicht verloren zu geben«. 65 Das Lernen aus der Geschichte stelle nicht nur die Wissenschaftsgeschichte unter den Erfolgsdruck ihrer Anwendung, sondern verleite vielmehr dazu, einen Erfolg der Wissenschaft geschichtsphilosophisch zu veranschlagen. Weder eine Epistemologie als Historiographie der Wahrheit noch eine Begriffsgeschichte als Metaphorologie des Unbegrifflichen sind ohne geschichtsphilosophische Implikate denkbar, aber sie müssen einer radikalen Fortschrittskritik unterworfen werden. Das ist für Blumenberg die Bedingung des Glücks, »denn, daß es kein Ziel der Geschichte gibt, bewahrt uns davor, auf ein solches Ziel hin ›vorläufig‹ zu bleiben und aufgefordert zu werden, ihm als Mittel dienstbar zu sein«. 66 Die erste Aufgabe bleibt, den Gewesenen Achtung zu erweisen. Das schließt ebenso ein zu respektieren, dass das Gespräch zwischen Münster und Paris nicht stattgefunden hat, wie es eine Aufforderung ist, ihnen nachzudenken.
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Vom Denkstil zum Sprachstil Von Fleck zu Blumenberg – und zurück: Zur möglichen Horizonterweiterung der Wissenschaftsgeschichte Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, daß die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien. Wittgenstein 1 Jedem Erkennen, jedem Erkenntnissysteme, jedem sozialen Beziehungseingehen entspricht eine eigene Wirklichkeit. Dies ist der einzig gerechte Standpunkt. Wie könnte ich sonst begreifen, dass z. B. der humanistische Gebildete die Wissenschaft des Naturforschers nie vollständig versteht? Oder gar der Theologe? Soll ich, wie es leider so oft geschieht, jene für Narren halten? Fleck 2
1.
›Jedem seine eigene Wirklichkeit‹
»Daß wir in mehr als einer Welt leben« nannte Blumenberg »die Formel für Entdeckungen, die die philosophische Erregung dieses [20.] Jahrhunderts ausmachen« 3 , und das als programmatische Eröffnung seines Bändchens Wirklichkeiten in denen wir leben. Er bezog sich damit nicht auf die barocke Weltenpluralität Fontenelles, sondern im Sinne Cassirers auf die »autonom gewordenen Regionen von Wissenschaft und Künsten, Technik, Wirtschaft und Politik, Bildungssystem und Glaubensinstitutionen« 4 . Es geht dabei um die Ausdifferenzie1 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico philosophicus. Werkausgabe Band 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 371. 2 Ludwik Fleck, Zur Krise der ›Wirklichkeit‹, in: derselbe, Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 46–58, hier S. 48. 3 Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart: Reclam 1981, S. 3. 4 Ebd.
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rung symbolischer Formen (oder anders: der sozialen Systeme) – die Ludwik Fleck bereits im Blick hatte. »Jedem Erkennen, jedem Erkenntnissysteme, jedem sozialen Beziehungseingehen entspricht eine eigene Wirklichkeit.« 5 Gar ›Jedem das Seine‹ – das klingt bereits fast spätmodern. Als gälte, ›wer denkt, denkt anders‹, wenn er denn selber denkt. Aber nicht nur das Selber-Denken pluralisiert, sondern: Jedes denkende Individuum hat […] als Mitglied irgendeiner Gesellschaft seine eigene Wirklichkeit, in der und nach der es lebt. Jeder Mensch besitzt sogar viele, zum Teil einander widersprechende Wirklichkeiten: die Wirklichkeit des alltäglichen Lebens, eine berufliche, eine religiöse, eine politische und eine kleine wissenschaftliche Wirklichkeit. Und verborgen eine abergläubisch-schicksalsvolle, das eigene Ich zur Ausnahme machende, persönliche Wirklichkeit. 6
Diese Anerkennung der Wirklichkeitenpluralität teilen Fleck und Blumenberg, der eine wissenschaftstheoretisch, der andere wissenschaftsgeschichtlich motiviert. Die Alterität und Eigenlogiken von ›Erkenntnissystemen‹ und sozialen Beziehungen (um noch nicht ›Systeme‹ zu sagen) dürften so erregend sein, weil die alte Vorstellung, aus Einem entsteht das Viele und geht final zurück in das Eine, damit obsolet geworden zu sein scheint (auch wenn diese neuplatonische Identitätsphilosophie sich gleichwohl als sehr haltbar erweist – als eine neben anderen allerdings). Dass in der antiplatonistischen Emphase Nietzsche mitklingt, ist unüberhörbar. Aber anders als Nietzsche geht es Fleck und Blumenberg um die Vermeidung eines närrischen Fehlschlusses: vom Nichtverstehen auf den Narren zu schließen, den insipiens, der nichts versteht etwa von den Naturwissenschaftlern. Um die Theologen nicht für Narren zu halten, argumentiert Fleck für die Kulturrelativität von Erkenntnissystemen. Das ist so ungewöhnlich wie erstaunlich. Denn was läge näher, als den naturwissenschaftlichen Analphabeten für einen Narren zu halten – und damit die ›Alleinstellung‹ der Naturwissenschaften zu retten? Eines der Probleme dieser Entdeckung ist bei Fleck wie Blumenberg die ›Schwierigkeit‹, diese Pluralität auf »die alltägliche Realität unserer Erfahrung und Verständnisfähigkeit« 7 zu beziehen, also ein mehr oder minder ›hermeneutisches Problem‹. Luhmann hätte aus 5 6 7
Fleck, Zur Krise der ›Wirklichkeit‹ (wie Anm. 2), S. 48. Ebd. Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben (wie Anm. 3), S. 3. A
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der distanzierten Beobachterposition das wohl ein Problem der ›strukturellen Kopplung‹ genannt. Mögen Systeme mehr oder minder lose gekoppelt sein mit anderen, bleibt doch das (systemtheoretisch fast obsolete) Problem einer Rückbeziehung auf das Verstehen der Kommunizierenden. Fleck führt seine These der Pluralität der Erkenntnissysteme, weniger beobachtend als vielmehr teilnehmend, auf das Problem des ›Verstehens‹ zurück, genauer des ›nie vollständig Verstehens‹ zwischen Naturforschern, Humanisten und Theologen. Um einander nicht ›für Narren‹ zu halten, wird ein erheblicher Tribut in Kauf genommen: einem jeden das Seine zuzugestehen, seine Wirklichkeit, sein Verstehen, seine Erkenntnis. Das ist ein Zugeständnis, das bis heute unselbstverständlich ist und von manchen auf die Zeit ›nach Feyerabend‹ abgeschoben wird, als wäre das bloßer Relativismus, gegen den nur ein exhumierter Positivismus oder metaphysischer Realismus helfen könne. Diesseits solcher überschießenden Reaktionen und Regressionen ist die von Fleck wie Blumenberg oder Wittgenstein erkannte und anerkannte Pluralismusthese in Krise und Kritik geraten. Denn ›Jedem Erkennen, jedem Erkenntnissysteme, jedem sozialen Beziehungseingehen entspricht eine eigene Wirklichkeit‹ wirft die Frage nach gemeinsamen oder geteilten Bezugnahmen auf, nach Verständigung und Interaktion. Wer zu hoffen wagt, es nicht dabei der Pluralisierung allein zu belassen, wird sich an die Arbeit einer hermeneutischen und phänomenologischen Vermittlung machen, auf die Suche nach Zwischengliedern und Übergängen, um einen Grenzverkehr des Verstehens zu ermöglichen zwischen diesen sich ›autonom ausdifferenzierenden‹ Wirklichkeiten. Darauf mit einem großen Metasystem zu reagieren, sei es absolutheitstheoretisch oder hermeneutisch universal, systemtheoretisch oder semiotisch, ist zwar theoretisch möglich, vervielfältigt das Problem indes nur: Dann gibt es neben den genannten Systemen auch noch die jeweiligen Metasysteme, die Hegelianer, Semiotiker und Luhmaniacs etc. Blumenberg war demgegenüber bescheidener und diskreter – um nicht zuviel zu erwarten und entsprechende Enttäuschungen zu provozieren. Seine Distanznahme zum Neuhegelianismus der Ritterschule oder dem Universalismus ›einer‹ Version von Hermeneutik ist bezeichnend. Vorsichtig gesagt lassen sich bei ihm drei Antworten auf die reiche Mängellage der erregenden Weltenpluralisierung finden: eine ›anthropologische‹, eine ›lebenswelttheoretische‹ und eine ›geschichtsphänomenologische‹, die allesamt mit 198
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phänomenologischer, teils auch hermeneutischer 8 Methodik operieren: der Metaphorologie und ihren (Er-)Weiterungen. Die Frage, was denn der ›Mensch‹ sei, was er war, sein kann und doch ist, bildet einen Topos, einen Gemeinplatz also, an dem sich die differenten ›Regionen‹ begegnen und als solch ein Ort der Begegnung verspricht er Vermittlung. Die ›Lebenswelt‹ bildet den Horizont dieser vorwissenschaftlichen Begegnungen. Allerdings ist sie keine allen gemeinsame ›Welt von Welten‹, kein Residuum unberührter Ursprünglichkeit, sondern stets schon verlassen. Insofern ist Lebenswelt ein prekärer Topos, als ursprüngliches Verlangen, als finales ein Objekt des Begehrens und als aktuales selber pluralisiert (wenn auch teils eher noch geteilt und gemeinsam als die ausdifferenzierten Wissenschaftswelten zum Beispiel). Wenn Fleck auch jedem »sozialen Beziehungseingehen« eine eigene Wirklichkeit zuschreibt, wäre eine geteilte Lebenswelt nur begrenzt tragfähig für Vermittlungsversuche. Sozialwissenschaftler würden das vermutlich nur bekräftigen. Der Übergang von der ursprünglichen Lebenswelt in die ›Geschichte‹ verlässt die Einheit von Erwartung und Erfüllung, Wunsch und Wirklichkeit, die ursprünglich immer schon Vorvergangenheit ist. Lebenswelt ›gibt‹ es ihrerseits nur im Plural. Was bleibet aber, stiftet die Geschichte? Dann wäre Blumenbergs Phänomenologie der Geschichte (genauer: der Geschichten, in die wir und andere verstrickt sind) die Erschließung des tiefen und weiten Raumes der Begegnung derjenigen Regionen, die stets schon auseinandergetreten sind. Geschichten zu schreiben ist das Wo und Wie einer interkulturellen Verständigung ›over time and space‹ – eine durchaus fallible und labile Vermittlung ohne einen ›absoluten Begriff‹ von Geschichte 9 , aber doch am Leitfaden von kommunikativen Figuren wie der ›absoluten Metaphern‹ und ihren unbegrifflichen Verwandten: Kultur in Geschichten wie Wissenschaften in ihren Geschichten, in die auch andere verstrickt sind, bilden das liquide Medium, das Verstehen und Verständigung ermöglicht, ohne große Aufhebungen oder ewige Ursprünge zu prätendieren. Die Frage nach der Wissenschaftsgeschichte ist daher ein Aspekt der Frage nach den Wissenschaften im Konzert symbolischer Formen und der Frage nach GeSofern mit Hermeneutik nicht gleich Heidegger und Gadamer im Sinn sind, sondern für Blumenberg ›Poetik und Hermeneutik‹. 9 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Geschichte als absoluter Begriff. Der Lauf der neueren deutschen Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. 8
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schichte, d. h. auch nach dem Wie und Wozu des Geschichte-Schreibens. Hier beginnt sich Blumenbergs Phänomenologie als Beitrag zu den Diskursen der Wissenschaftsgeschichte zu zeigen. Nur, zu sagen, was sich da zeigt und bei näherem Hinsehen noch alles zeigen (zu) können, ist nicht einfach.
2.
Horizonterweiterung der Wissenschaftsgeschichte?
In wissens- wie wissenschaftsgeschichtlichen Kontexten ist Blumenbergs Œuvre bisher erstaunlich abwesend, jenseits des Horizonts, scheint es. Sei es in Berlin, Rostock oder Zürich zum Beispiel. In Kulturphilosophie, historischer Anthropologie, Geschichtstheorie bzw. -philosophie, Phänomenologie, Hermeneutik und Literaturwissenschaft wie auch in der sogenannten History of Ideas hingegen wird er intensiv rezipiert. Aber die Wissen(schaft)sgeschichtler 10 haben ihn bisher noch nicht für sich entdeckt. Die Lübecker Perspektiven führen daher in Neuland und versprechen sich davon – vermutlich nicht zu Unrecht – eine Horizonterweiterung. ›Blumenberg als Horizonterweiterung der Wissenschaftsgeschichte‹ klingt zunächst erwartungswidrig und ist von metaphorischer Struktur: der Wissenschaftsgeschichte ein philosophisches Œuvre als Erweiterung ihres Horizonts zu empfehlen. Warum sollte hier Erweiterungsbedarf bestehen und warum ausgerechnet Blumenberg? Dazu ein paar Hinweise und Anregungen zu geben, sei im Folgenden versucht, mehr nicht. Wie Blumenberg meinte: Enge der Zeit ist die Wurzel des Übels. Im Grunde geht es hier nur um die Suche nach ›einem Argument‹ oder zumindest einer nachvollziehbaren Plausibilität, warum und zu welchem Ende Blumenberg in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive wenn nicht unentbehrlich, so doch ausgesprochen hilfreich sein könnte. Im Rahmen der historischen Selbstreflexion der Naturwissenschaften florieren die Studien zur Geschichte von Naturwissenschaft und deren Techniken und Medien, in summa: zur naturwissenschaftlichen Episteme und ihrer medialen Verfasstheit. Damit wird ihre kulturgeschichtliche Dimension thematisch und daher werden kulturVgl. Achim Landwehr, Wissensgeschichte, in: Rainer Schützeichel (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz: UVK-Verlagsgesellschaft 2007, S. 801–813.
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wie geschichtswissenschaftliche und hermeneutische Perspektiven und Methoden relevant (auch wenn die im naturwissenschaftlichen Curriculum nur in glücklichen Ausnahmen präsent sind). Dass erfolgreiche Wissenschaften sich mit der Zeit ihrer selbst besinnen, ist naheliegend, allerdings tendieren sie dabei nicht selten zu Erfolgsgeschichten. Dieser Umstand intendiert auch zu einer Engführung der Perspektive auf die Naturwissenschaftsgeschichte. Anspruchsvoller wird das, wenn – wie hier in Lübeck – nicht nur zwei, sondern ›drei‹ Kulturen, und damit drei ›Kulturen‹ ins Verhältnis der Verständigung gesetzt werden sollen. 11 Damit treten zwar nicht, wie von Cassirer her oder mit Goodman zu erwarten, ein ganzes Spektrum symbolischer oder kultureller Formen nebeneinander (wie Fleck und Blumenberg notierten), sondern ›nur‹ drei. Wären doch die meist nur lose, gelegentlich gar nicht gekoppelten Wissenskulturen in ihrer aktualen Pluralität die weitergehende Themenstellung. Der Hintergrund ist bekannt: Bereits Ende der 1950er Jahre wurde von dem britischen Chemiker und Dramatiker Charles Percy Snow die Auffassung vertreten, dass Natur- und Geisteswissenschaftler weit auseinanderliegenden Kulturen 12 angehören, zwischen denen Unverständnis vorherrscht. Diese alte Klage ist von der Wirklichkeit längst überholt. 13 Mit zunehmender Ausdifferenzierung kann man gegenwärtig ebenso von drei 14 (Lepenies), fünf, hundert oder unendlichen vielen Wissenskulturen sprechen. 15 Die Ausdifferenzierung
Vgl. http://www.imgwf.uni-luebeck.de/_rubric/index.php?rubric=21: »Ausgehend von den angelsächsischen science studies, die primär die Naturwissenschaften erforschen, macht historische Wissenschaftsforschung die Wissenschaft selbst zum Gegenstand der Forschung – allerdings hier verstanden gemäß dem deutschen Sprachgebrauch als alle »drei Kulturen« (Wolf Lepenies), also Geisteswissenschaften, Gesellschaftswissenschaften und Naturwissenschaften. Historische Wissenschaftsforschung zielt dabei weniger auf Vollständigkeit als auf eine radikale Art des Fragens und Forschens, denn sobald nach der Genese von Wissen gefragt wird, muss buchstäblich dessen Disziplinierung mit in den Blick genommen werden.« 12 Vgl. Charles Percy Snow, The two Cultures, Cambridge usw.: Cambridge University Press 2001. 13 Vgl. auch Helmut Bachmaier, Ernst Peter Fischer (Hgg.), Glanz und Elend der zwei Kulturen. Über die Verträglichkeit der Natur- und Geisteswissenschaften, Konstanz: Universitäts-Verlag Konstanz 1991. 14 Vgl. Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München usw.: Hanser 1985, S. 245–264 (»Wissenschaftsfeindschaft und Dichtungsglaube als deutsche Ideologie«). 15 Vgl. zur historischen Dimension des Problems Wolfgang Detel, Claus Zittel (Hgg.), 11
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von Wissenskulturen ist ein Feld ›aktualer Infinität‹ : eine Dynamik, die ›ins Offene‹ geht. Vorherrschend ist längst »disunity«. 16 Die Stellung der Naturwissenschaften als ›maître et possesseur de la nature‹ wird damit gründlich relativiert: ins Verhältnis gesetzt zu Geist, Kultur und Gesellschaft. Und es geschieht – ohne es programmatisch zu begründen – noch mehr: Die Naturwissenschaften werden unter der Hand zu Kulturtechniken und damit zum integralen Teil einer Kultur(-wissenschafts-)geschichte. Das ist eine ›Umbesetzung‹, die nicht selten Widerstände weckt. Denn es scheint ein höchst sensibles Schwellenbewusstsein zu bestehen: In dem Moment, wo ›es kippt‹, wo die Naturwissenschaften als Kulturwissenschaften analysiert werden, ist ihr Selbstbewusstsein tangiert, eine geschützte Latenz berührt, und es regen sich wissenschaftstheoretische und -politische Immunreaktionen. Auch nur der leiseste Verdacht, in Kulturrelativismus verstrickt zu werden, weckt häufig heftiges Unbehagen an der Kulturwissenschaft. Solch eine Fremdbeschreibung weckt Selbstbehauptung und stört die Selbststeigerung. Nun gibt es nicht nur naturalistische Reduktionen, sondern auch kulturalistische. Aber die Kulturrelativität von Naturwissenschaften in ihren Geschichten zu leugnen, ist weder nötig noch wünschenswert. Damit ist keineswegs gleich ein ›(Kultur-)Relativismus‹ impliziert oder behauptet. 17 Der Spiegel titelte am 02. 10. 2010: »Und sie bewegt sich doch nicht!« : »Einige christliche Astronomen halten die Erde nach wie vor für das unbewegliche Zentrum des Universums. Im November treffen sich die Fans des geozentrischen Weltbilds in den USA – und sorgen bereits jetzt für Kopfschütteln unter Forschern.«18 Robert Sungenis, Theologe aus Buffalo im US-Bundesstaat New York, meint: »Am wahrscheinlichsten ist das Modell von Tycho Brahe«. »Die Planeten bewegen sich um die Sonne, und die Sonne bewegt sich um die Erde.«
Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit. Ideals and Cultures of Knowledge in Early Modern Europe, Berlin: Akademie Verlag 2002. 16 Peter Galison, David J. Stump (Hgg.), The Disunity of Science. Boundaries, Contexts, and Power, Stanford: Stanford University Press 1996. 17 Vgl. Reinhard Schulz, Naturwissenschaftshermeneutik. Eine Philosophie der Endlichkeit in historischer, systematischer und angewandter Hinsicht, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 18 Http://www.spiegel.de/wissenschaft/weltall/0,1518,720007,00.html.
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Die Erde stehe reglos im All und bilde dessen Zentrum. 19 Das wird wohl bei fast jedem Zeitgenossen bestenfalls ein irritiertes Lächeln provozieren, ähnlich den Vorstellungen, das kopernikanische Weltbild sei ein ›eurozentrisches‹, nur im Westen erfundenes und bloß dort gültiges Modell, das allen anderen aufzuerlegen ›Kolonialismus‹ sei. Worüber man nicht reden muss, darüber kann man schweigen. Nur demonstriert der postmoderne Prämodernismus amerikanischer Gralshüter eines mythischen Weltbildes ebenso wie der konfessorische Antimodernismus ein Problem, mit dem weniger leicht fertig zu werden ist. Es lässt sich tentativ bestimmen als unglückliches Bewusstsein einer irreführenden Alternative: Essentialismus versus Relativismus, getarnt als Alternative von Realismus oder Relativismus. Wer und was nicht die ›Essenz‹ der Dinge bestimme mit (möglichst externem) Realismus, sei ›nur Deutung‹ und fröne dem Kulturrelativismus. Dass diese Alternative philosophisch so vielfach widerlegt und verwunden wurde, ist der Erwähnung kaum bedürftig. Die neuere Philosophie der Zeichen (Simon, Abel, Stegmaier et al.) hat das nochmals gezeigt. Nur ist bemerkenswert, dass sich diese Alternative ›dennoch‹ hält und das Denken und Handeln (nicht nur) von Naturwissenschaften bestimmt. Sie ist eine Denkgewohnheit mit anscheinend hohem Orientierungswert, der sich länger hält, als sie in kritischem Licht besehen haltbar ist. ›Ein Bild hält uns gefangen‹ – könnte man sagen, mit der Folgefrage, wie es dazu kommen konnte und ob vielleicht andere Bilder aus dieser Gefangenschaft befreien könnten. Solche Verspannungen und Befangenheiten zu bemerken und kulturphänomenologisch zu untersuchen, ist im Sinne Blumenbergs so nötig wie wünschenswert. Damit geht es um ›mehr‹ als um die Arbeit am Mythos am Ort der Wissenschaften: Es geht um die gravierende Frage des Verhältnisses von Genesis und Geltung. Denn auf dieser Differenz werden fast alle Philosophen beharren: Geltung sei nicht auf Genesis reduzibel. Daher gilt manchen die Genealogie – Nietzsches oder seiner Nachfolger und Wiedergänger – als philosophisch ruinös (wenn nicht sogar als nihilistisch). Die Opposition ›reine Geltung versus bloße Genesis‹ (und deren Verwandte: Systematik versus Historie) markiert eine Differenz, an der Selbstbehauptung und -beharrung naturwissenschaftlicher wie
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philosophischer Geltungsansprüche ›hängen‹. Wer hier nicht scharf unterscheidet, verletzt eine Voraussetzung, die zu teilen geradezu konfessorische Funktion zu haben scheint. Nur, so klärend diese Differenz ist, sie hat selber eine Geschichte und ist nicht ›zeitlos gültig‹. Wer gravierende Geltungsanspruchskonflikte zu verstehen sucht, kann das nicht ohne Rückgang auf die Geschichten, in denen sie entstanden sind. Auf einer kategorialen Differenz zu bestehen, kann von solcher Erinnerungsarbeit nicht suspendieren. Hier vermag eine genetische Phänomenologie wie die Blumenbergs merklich feiner zu unterscheiden. Unbestritten, dass es Geltungsansprüche gibt, die nicht bloß zeitweilig gelten, ist doch ›die Genesis von Geltung‹(-sansprüchen) für deren Geltung nicht irrelevant. Im Gegenteil: Eine bestimmte Genesis verbürgt die Geltung, sowohl in der Gesetzgebung (Legislative) wie in der Gesetz›findung‹ der Naturwissenschaften. Wenn beispielsweise eine Hintergrundmythologie bemüht wird, um Naturgesetze platonisierend aufzuladen mit mathemato-philosophischen Mitteln, wird das nur noch deutlicher: Es bedarf der narrativen Epizyklen wie der methodischen Präparation der Erkenntnis, um solche Geltung zu produzieren, die als unfraglich gilt – solange sie nicht valabel bestritten wird. Theologen sind mit dem Problem der Genesis von Geltung recht vertraut. Wenn Gott Mensch ward, ist die Geltung dieses Bekenntnisses abhängig von einer bestimmten Genesis (einer ersten und einer zweiten, Gen 1 und Joh 1). 20 Erst in der Genesis ›wird‹ und wird immer ›geworden sein‹, was gilt. Daher ist die Historie auch keine Hilfswissenschaft von nachrangiger Bedeutung, sondern sie hat es mit dem ›Wie‹ und ›Woher‹ der Wahrheit zu tun. Der Wahrheitsbegriff kann nicht a- oder antihistorisch konzipiert werden, sondern Wahrheit ist und bleibt geschichtlich. Denn Wahrheitsansprüche sind nie ort- oder zeitlos. Die Emphase ›ewiger‹ Wahrheiten ist der klassische Ausdruck einer platonisierenden Tradition, im Unterschied zur jüdisch-christlichen. Als wäre Mathematik die Sprache der Ewigkeit in allen möglichen Welten.
In jüdisch-theologischer Perspektive steht es m. E. nicht grundsätzlich anders: Denn Gottes Geschichte mit seinem Volk (daher sein Mitsein als Name Gottes) ist Bundesgeschichte – und Bund ›ist‹ Geschichte, Gott daher geschichtlicher Bundes›partner‹.
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3.
Natur- als Geisteswissenschaft – und Geistesgeschichte der Naturwissenschaft?
Zum Verstehen und Beschreiben der Genesis solcher Geltungsansprüche muss man nicht eine Wissenschaftsrevolutionstheorie bemühen (wie Th. S. Kuhn), es geht auch diskreter: so wie Blumenberg Geschichte strukturell als Prozess funktionaler Relationen versteht, deren Positionen umbesetzt werden können – und auch müssen, sofern Vakanzen auf Dauer schwer erträglich sind. Diese nüchterne (von Cassirer inspirierte) Hintergrundschematik schützt vor zu plausiblen Intuitionen, wenn etwa mit ›lebensweltlicher Evidenz‹ vertreten würde, dass doch die Sonne im Osten auf- und im Westen untergehe und sich deshalb durchaus um die Erde drehe. Eben so nicht. Solch eine Phänomenologie des ›naiven Blicks‹ wäre allzu leicht mit dem Problem fertig. Hier wäre es naheliegend und angebracht, Blumenbergs im engeren Sinne naturwissenschaftsgeschichtliche Studien heranzuziehen: Die kopernikanische Wende (1965), Die Genesis der kopernikanischen Welt (1975), Die Legitimität der Neuzeit (1966), Die Lesbarkeit der Welt (1982) 21 und jüngst die Geistesgeschichte der Technik (2009). Diese materialen Exempla ›sind‹ ausgedehnte Studien zur Wissenschaftsgeschichte in kulturgeschichtlichem Horizont. Das ist evident. Insofern bietet Blumenbergs Œuvre Gründe genug, um ihn in den Kanon der Wissenschaftsgeschichtsschreibung aufzunehmen. Das wäre eine materiale Erweiterung, aber doch noch keine Horizonterweiterung. Denn dazu müsste man anderes und anders sehen, auch dasselbe anders als bisher. »Geschichte der Technik wird auch und vor allem die Geschichte des Heraustretens der Technik aus der Geschichte sein müssen.« 22 Solche gelegentlich enigmatisch klingenden Irritationen sind Blumenbergs Spezialität, vielleicht in der Hoffnung darauf, dass sie Nachdenklichkeit provozieren – bis dahin, daß sich die Fortschreibung im medienphilosophischen Sinne einstellt: eine Technikgeschichte des Geistes. Aber was heißt ein ›Heraustreten aus der Geschichte‹ ? Technik als humane Thesis, meist mit Gerätschaften im Gefolge, ist doch Vgl. im Anschluss: Christina Brandt, Metapher und Experiment. Von der Virusforschung zum genetischen Code, Göttingen: Wallstein 2004. 22 Hans Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 13. 21
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per se nicht ›jenseits‹ der Geschichte, sondern deren kulturtechnische Gestaltung. Zudem ist unabsehbar, wie diese ›reale Universalie‹ namens Geschichte je sollte entrinnbar sein können. Nichts ist geschichtlich gebundener und vergänglicher und innovativer als Technik, sollte man meinen. Sollte es in Blumenbergs Wendung dann um ein ›prätendiertes‹ Heraustreten gehen, um einen Denk- und Technikstil, dessen Geste über die Geschichte hinausweist, wie im Endzeitversprechen endlich fehlerfreier Betriebssysteme? Um das Versprechen des ›ultimativen‹ Gerätes? Um das der instantanen, zeitlosen, ›immediaten‹ Kommunikation aller mit allen? Um Beschleunigung über die Lichtgeschwindigkeit hinaus? Um ›reibungslose‹, zeitverlustlose Erledigung aller Arbeit und Mühsal? Das könnte man das Versprechen ›finaler Lebenswelt‹ nennen, in der die stets schon verlassene, ursprüngliche Lebenswelt transfiguriert wiederkehrte: die Einheit von Wunsch und Wirklichkeit – als Figur des Imaginären. Solchen Prätentionen folgt Blumenbergs Geschichtsschreibung(sprogrammatik) kaum. Heißt es doch in demselben Zusammenhang: »Geschichte der Technik muß doch verständlich machen, aus welchen Antrieben die Organisation einer neuen Realität hervorgegangen ist […]« 23 , statt sich nur auf Selbstdeutungen der Technik(er) zu beziehen. Diese Antriebe seien lebensweltlich verankert, so dass deren Hermeneutik »die Motivationen eines auf Technik zielenden und von Technik getragenen Lebensstils faßbar werden« 24 lassen. Das wäre der pragmatistische Schwellenwert, dem sich Blumenberg tentativ nähert: vom Lebensstil zum Denkstil zum Schreibstil – ›und zurück‹ zum Lebensstil 25 reicht der Horizont von Blumenbergs phänomenologischen Meditationen und hermeneutischen Exerzitien. Das ist, wenn überhaupt, vermutlich die maximale Horizonterweiterung möglicher Wissenschaftsgeschichte. Der Rekurs auf einen Motivationshintergrund namens Lebensstil als sozial- und kulturanthropologische Grundierung ist bezeichnend für seinen philosophischen Anspruch 26
Ebd. Ebd. 25 Nur notiert sei hier die merkliche Nähe zu Ricœurs Geschichtsschreibungstheorie der Präfiguration, Konfiguration und Refiguration in der Lektüre; vgl. Paul Ricœur, Zeit und Erzählung III. Die erzählte Zeit, München: Fink 2007. 26 Daher ergibt sich hier eine Nähe zur historischen Anthropologie; vgl. Jakob Tanner, Historische Anthropologie. Zur Einführung, Hamburg: Junius 2008. 23 24
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gegenüber schlankeren Geschichtsschreibungen, die sich auf arg nüchterne Beschreibungen beschränken: und sie ist bezeichnend für seine konfliktive Nähe zu ausladenderen Geschichtsphilosophien. 27 Ganz klar wird damit immer noch nicht, was das ›Heraustreten der Technik aus der Geschichte‹ heißen könnte. Seine Beispiele wie Erfindung, Naturgesetz oder Mensch tragen das nicht wirklich, geben aber zwei Hinweise: Sowohl die ›Erfindung‹, deutlicher noch als das ›Naturgesetz‹, sind prätentiöse oder zumindest anspruchsvolle, nicht nur formale Anzeigen in Form von Figuren, die nicht historisch reduzibel zu sein beanspruchen. Erfindung und Naturgesetz wirken daher am Ort der Wissenschaftsgeschichtsschreibung oder Technikgeschichte wie Errata, Figuren des Außerordentlichen der ›Geistesgeschichte‹. Es sind kleine Verwandte der Offenbarung, des Einbruchs des Metahistorischen – auch wenn dieser Anspruch näherer Hinblicknahme selten standhalten dürfte. Der Anspruch auf ›ewig wahre Erkenntnis‹ der ›zeitlosen Gesetze der Natur‹, kultur-, gesellschafts- und zeitindifferent, wirkt gleichsam ›apotropäisch‹, als Geste der Abwehr gegen die Geister der Kulturgeschichte, die nach Kulturgeschichtsschreibung von Naturwissenschaft und Technik rufen. Wer auf ›reine Geltung‹ aus ist, wird die Genesis für gestrig halten, für alte Geschichten, die bestenfalls unterhalten, wenn nicht ablenken vom ›Wesentlichen‹. Auch so kann man irren. Ludwik Fleck notierte 1936: »Die Theorie des Erkennens als der Wissenschaft über Denkstile, ihre geschichtliche und soziologische Entwicklung, betrachtet die Wahrheit als aktuelle Etappe der Veränderungen eines Denkstils.« 28 ›Wahrheit als Etappe‹ könnte eine Wendung Blumenbergs sein. Ist sie doch ein metaphorisch prägnanter Ausdruck für die unvergessliche Genesis von Wahrheit – die ›in Geschichten‹, etwa in Reisegeschichten erzählt und verständlich wird. Insofern ist das ›Heraustreten aus der Geschichte‹ eine Geste, die ihre Geschichten und Varianten kennt, die im Sinne Blumenbergs zu finden wären, zur Not auch zu erfinden, auf dass sie geschrieben werden. Technik prätendiert mehr, als nur vorübergehend und vergänglich zu sein, so könnte man Wie gegen Hegel und die Ritterschule oder gegen Heidegger, wie seit seiner Dissertation zum Problem der Ursprünglichkeit und seiner Habilitation zur Ontologischen Distanz – beides Versuche, im Anschluss an Husserl und Landgrebe phänomenologisch Geschichte zu verstehen, ohne dabei schlicht an Heidegger anzuschließen. 28 Ludwik Fleck, Das Problem einer Theorie des Erkennens, in: derselbe, Erfahrung und Tatsache (wie Anm. 2), S. 84–127, hier S. 125. 27
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vermuten. Sie ›verspricht‹ etwas, Apple sei Dank. Und darin erinnert sie an die religiösen Techniken, Ewigkeit und Unsterblichkeit zu verleihen: Theotechnik als Heilsversprechen. Von solchem Pathos scheinen die kleinen Innovationen fern, aber die Resonanzen der Gesten des Versprechens bleiben, wie auch immer man sich zu ihnen verhalten mag. Blumenbergs Studien wie die Ansätze zu einer ›Geistesgeschichte der Technik‹ dürften aktuellen Wissenschaftsgeschichtlern als etwas zu geistig erscheinen, vielleicht auch als zu geistlich oder geistreich: zuviel Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte, zu wenig ›material‹, ›konkret‹ und praxisnah. Es sind nicht die Naturwissenschaftspraktiken, die Blumenberg bearbeitet, sondern die leitenden Vorstellungen (das Symbolische und das Imaginäre), deren Variationsreichtum, ihr Wirkungspotential und ihre Rezeptions- und Wirkungsgeschichten. Seine Studien könnten einem Naturwissenschaftler wie einem Wissenschaftshistoriker daher ephemer erscheinen, peripher, wenn nicht nebensächlich oder gar sophistisch, wenn sie die Nebensachen zur Hauptsache machen. Das liegt vermutlich nicht nur an den seltsamen Randphänomenen und Marginalien, an denen er teils indirekt, teils konjektural die valente Hintergrundmetaphorik von Wissenschaftspraktiken erschließt, sondern an seinem Methodos, seinen listigen Verfahrensweisen: Wissenschaft auf lebensweltliche Vorstellungsformen und damit formgeschichtlich auf ihren Sitz im Leben zurückzuführen (nicht zu reduzieren, sondern rückzubinden an ihre motivierende Horizontintentionalität). Phänomenologisch beschrieben zu werden, ist ähnlich befremdlich (und potentiell erhellend), wie wenn ein Franzose über die deutsche Einigung schreiben würde oder umgekehrt ein Deutscher über die französische Revolution. Die ›eigene‹ Geschichte aus ›fremder‹ Perspektive erzählt zu bekommen, ist befremdend, bis dahin, dass man dieses Ansinnen a limine abweist. Wissenschafts›politisch‹ ist damit eine (m. E. nicht wirklich) kritische Frage im Spiel: Naturwissenschaft ›als Kulturtechnik‹ zu beschreiben. Solange man damit nicht beansprucht, Naturwissenschaft zu treiben, ist das unproblematisch. Dann bleibt es bei einer supplementären Perspektive, etwa Wissenschaft ›mit Stil‹. Nur würde dergleichen in naturwissenschaftlichen Kontexten von manchen als Wissenschaft ›am Stil‹ verstanden, für Wissenschaftler mit literarischen Neigungen, die an den Kamin gehören, nicht ins Labor oder in Nature. 208
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Was aber, wenn damit die Naturwissenschaft selber erweitert wird – mit der Folge, dass sie zu einem wissenschaftlich vertretbaren Selbstverständnis auch kulturwissenschaftlicher wie historischer und hermeneutischer Kompetenzen und Bildung bedürfte? Es wäre beunruhigend, weil der eingespielte Horizont mit seinen Denkgewohnheiten fraglich und überschritten würde. Das lässt sich vielleicht akzeptabler variieren: ›Naturwissenschaften sind wissenschaftsgeschichtlich gesehen Geisteswissenschaften mit besonderem Gegenstand‹ : Naturdingen und Tieren, auch der Natur, die wir sind. So jedenfalls deutet es Blumenberg an, wenn er die Technikgeschichte als Geistesgeschichte zu beschreiben vorschlägt: »Ob und wie aus einem bestimmten neuen Verständnis der Wirklichkeit und der Stellung des Menschen innerhalb dieser Wirklichkeit technischer Wille entsteht, wird Thema einer Geistesgeschichte der Technik sein müssen.« 29 So erscheinen Naturwissenschaften als Kultur- und Geisteswissenschaften – und das könnte beunruhigend wirken im besten Sinne.
4.
Imaginäre Anfangsgründe der Anthropologie
Das Beunruhigungspotential von Blumenbergs phänomenologischer Art und Weise der Geschichtsschreibung, auch der Naturwissenschaften und Technik, gründet in einer Horizontdifferenz mit entsprechendem Horizonterweiterungspotential, oder schlichter gesagt: mit Wirkungspotential. Ob dieses Potential aktualisiert wird, liegt bei den Lesern – auch bei den naturwissenschaftlich Gebildeten unter den möglichen Verächtern von Phänomenologie und Hermeneutik. Blumenbergs ›Horizont‹ ist der eines Kulturphilosophen, dem die Naturwissenschaften als Kulturtechniken erscheinen, die als Geistesgeschichte philosophisch interessant werden. Das liegt an seiner recht speziellen ›Perspektive‹ eines Phänomenologen, der weder transzendentaltheoretisch Konstitutionstheorie betreibt, noch schlicht ›mundan‹ Laborpraktiken beschreibt, sondern Horizontverschiebungen und Perspektivenwandel umschreibt. Daher sind seine Methoden metonymisch als metaphorologisch zu bestimmen oder im weiteren Sinne als Phänomenologie der Unbegrifflichkeit in der Vielfalt ihrer Formen und Varianten. Dazu gehört ein seltsamer Sinn fürs Abgelegene, Marginale, 29
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Anekdotische, das sich bei näherer Betrachtung als signifikant und symptomatisch erweisen kann. Ob das gelingt, ist stets Sache der Findigkeit des Schreibenden, aber auch der Verführbarkeit des Lesers und seiner Mitarbeit. Dabei geht Blumenberg soweit, Möglichkeiten zu ersinnen, die nie wirklich geworden sind (fast als hätte er Benjamins Eschatologie im Sinn), und dabei nach den ›kulturgeschichtlichen Möglichkeits- oder Unmöglichkeitsbedingungen‹ bestimmter Wirklichkeiten zu fragen. Das könnte man ›transzendentalhistorisch‹ nennen, wär es nicht schlichter zu begreifen: als Frage nach den historischen Kontexten und Bedingungen für diese oder jene Entdeckung und Erfindung. Das ›Worumwillen‹ solcher Phänomenologie der Geschichten ist nolens volens nur zu ›abduzieren‹, vermutungsweise zu (er-)finden. Hier kann man verschiedener Ansicht sein, ob er in möglichst nüchterner Historikerdistanz sauber zu sagen sucht, was geschehen ist und sein könnte, oder ob er mehr, etwa ›analytische‹ und ›therapeutische‹ Absichten verfolgt (mit Freud und Wittgenstein). Letzteres scheint, wie latent auch immer, doch plausibel: etwa als Entwöhnung von Überansprüchen, als Einübung in eine prekäre Mängellage oder als Deeskalation von Prätentionen. Solche Vermutungen umschreiben Blumenbergs besonderen Möglichkeitssinn, seine Phänomenologie der Geschichten in ihrem Denk-, Sprach- und Schreibstil. Anders als Fleck in dieser Hinsicht ist Blumenbergs Denkstil in besonderem vom Konjunktiv geprägt, von Konjekturen, Vermutungen und phantasievollen Erwägungen. Das überschreitet die Grenzen reiner historischer Vernunft – und ist darin eine Horizontüberschreitung, die Bekanntes neu sehen lässt und gelegentlich auch Unbekanntes und Unwirkliches. Blumenbergs literarische Qualitäten sind bekannt, aber sie sind nicht ›nur‹ Stil, gar Manier, sondern wesentlich für seine philosophische Arbeit. 30 Wenn denn Denken einen Stil ›hat‹, wie Fleck meinte, und wenn Denken ›als Sprechen‹ gedacht wird und daher stets sprechend gedacht wird, ist das in der Tradition der Sprachphilosophie zu verstehen: ›als Sprachdenken‹ (mit Hamann, Humboldt und Herder oder im 20. Jh. mit Rosenzweig). Der Denkstil zeigt sich daher im Sprachstil, und wenn er denn Schrift wird, im Schreibstil. Für Historiker ist das weniger ungewöhnlich als vielleicht für NaturwissenschaftVgl. Philipp Stoellger, Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, Tübingen: Mohr Siebeck 2000, S. 325 ff.
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ler. Wie man schreibt, so denkt man – und wer anspruchsvoll schreibt, denkt möglicherweise anspruchsvoller als der, der seine Gedanken an Power Point entlang vorträgt? Schrift und Schreiben als ›Arbeit an der Schrift‹ werden zur Art und Weise der Gedankenführung in der Gestaltung des Wie der Wahrheit, was dem Aufmerksamen nicht weniger wesentlich erscheinen dürfte als eine genaue und elegante mathematische Berechnung. Humanwissenschaftlern (wie Medizinern und Psychologen) ist das vertraut, aber einem theoretischen Physiker oder Ingenieur? Hier scheiden sich Horizonte oder Wissenskulturen. Dabei ist zwar durchaus fraglich, ob Schreiben und Schrift das einzige Medium sind, in dem die von Blumenberg offerierte hermeneutische Vermittlung möglich werden kann. 31 Aber dies auf eine phänomenologisch pointierte Weise und in produktiver Differenz zu Heidegger und Gadamer entfaltet zu haben, ist sein Beitrag zur Geistesgeschichte – auch der der Naturwissenschaften und Technik. In Perspektive, Horizont, Methoden, Worumwillen und Sprach- wie Schreibstil liegen die feinen Unterschiede Blumenbergs: die von ihm eröffneten Möglichkeiten einer Horizonterweiterung der Wissenschaftsgeschichte. Das lässt sich an einem Beispiel zeigen: an seiner ›imaginären Anthropologie‹. Blumenbergs ›Schlüsseltext‹ über »Nachdenklichkeit« beginnt mit einem riskanten Horizontausgriff von mythischer Weite: Alles Leben strebt danach, seine Antworten auf die Fragen, die sich ihm stellen, unverweilt und unbedenklich zu geben. […] Der Mensch allein leistet sich die entgegengesetzte Tendenz. Er ist das Wesen, das zögert. […]. Die riskante Unentschiedenheit vor der Alternative: Flucht oder Angriff mag der erste in keiner Ausgrabung jemals nachweisbare Schritt zur Kultur als einem Verzicht auf die raschen Lösungen, die kürzesten Wege gewesen sein. 32
Die These ist so listig wie prägnant: Zögern sei der Ursprung der Kultur. Denn im Zögern entsteht die Nachdenklichkeit, die – so die Konjektur – der Ursprung des Imaginären ist, des Sinns fürs Mögliche und sogar fürs Unmögliche. An dieser Grenze zwischen möglich und unmöglich geht es um die Grenzen ›unserer‹ Welt – oder um die Weltenpluralisierung in wirkliche, mögliche und unmögliche. Die Verschiebung dieser Differenz ist Die Frage der Bildlichkeit wäre eigens zu erörtern – und würde vom Denk- über den Sprach- in den Bildstil führen. 32 Hans Blumenberg, Nachdenklichkeit, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch (1980), 57–61, hier S. 57. 31
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die Geschichte des Horizontwandels, der eine Welt von einer späteren unterscheidet. Für die Geschichte der Technik als Ermöglichung des bisher Unmöglichen und dessen Verwirklichung ist das evident. Und das Pathos entsprechenden Weltenwandels ist den Naturwissenschaften in der Geschichte der Neuzeit nicht fremd. Um keine Missverständnisse zu provozieren: das ist genauso legitim wie die ›neuzeitliche Selbstbehauptung‹ (sofern man sie noch kritisch von Selbststeigerung unterscheiden kann). Nur ist der Sprach- und Schreibstil nicht äußerlich, sondern ›symptomatisch‹ für den Denkstil (auch für den der Leser). In der Wissenschaftsrhetorik und -dramatik, -epik wie -lyrik zeigt sich mehr, als vielleicht gewusst und gewollt.
5.
Zum Beispiel: Weltbildfunktion der Naturwissenschaft?
Ein nur zu aktuelles Beispiel dafür ist die Deutungsmacht der Naturwissenschaften in Rhetorik und Medialität, aber auch ihrer Rezeption. Ist doch derzeit anscheinend kein anderer Wissenschaftszweig derart übergrün und viel beachtet. Die Berliner »Junge Akademie« hat ihre einschlägigen Arbeitsergebnisse publiziert in Zur Deutungsmacht der Biowissenschaften. Die Frage nach der neuen Deutungsmacht – was immer genau das sein mag – der Biowissenschaften richtet sich nicht auf Deutungsansprüche, die in Wissenschaftsdiskursen immer erhoben werden, auch nicht auf die Inszenierung der Biowissenschaften (wie in der Presse), sondern auf die Rezipienten bzw. die »affirmative Rezeption biowissenschaftlicher Deutungsangebote«, wodurch deren Erklärungen zu »letzten Erklärungen« würden. Bedingung dafür seien »ein Bedürfnis nach Orientierung(swissen), die Enttäuschung durch andere, ältere Angebote […] sowie die Erklärungserfolge der Biowissenschaften auf ihrem traditionellen Terrain«. 33 Für entscheidend hält Hüttemann, »dass biowissenschaftliche Erklärungen als ultimative Erklärungen aufgefasst werden. Sie müssen erstens nicht weiter hinterfragt werden und schlagen zweitens alternative Erklärungen aus dem Feld«, 34 wie psychologische oder geisteswissenschaftliche. Die rheAndreas Hüttemann, Natürlich? Zur Deutungsmacht der Biowissenschaften. Einleitung, in: derselbe (Hg.), Zur Deutungsmacht der Biowissenschaften, Paderborn: Mentis 2008, S. 7–15, hier S. 9. 34 Ebd., S. 10. 33
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torische Frage »Gibt es diese Deutungsmacht wirklich?« 35 findet die Antwort: »Kurzum, es gibt eine neue Deutungsmacht der Biowissenschaften, die mit dem Selbstverständnis von Psychologie und Geisteswissenschaften kollidiert.« 36 Bei Themen wie Seele, Identität, Gefühle, Schönheit oder Gender, Symbolisierungen und ästhetische Urteile 37 ergeben sich Konflikte mit ›nicht biowissenschaftlichen Deutungen‹. Im Blick auf Themen wie Schuld, Didaktik, Schönheit, Kultur oder der Natur des Menschen arbeiten die Beiträge an den Grenzen der naturalistischen Reduktion der Biowissenschaften, z. B. indem Christoph Halbig den kulturell normativen Raum als ›zweite Natur‹ des Menschen expliziert, der den Deutungsansprüchen der Biowissenschaften »grundsätzlich entzogen« 38 sei. Dazu rekurriert Halbig auf naturalistisch reduktionsresistente Phänomene: 39 »für den Menschen selbst konstitutive Leistungen wie Intentionalität, Normativität, Erleben verfließender Zeit, Wertorientierung usf.«, 40 allerdings nicht um sie »dualistisch« der Reduktionsperspektive entgegenzusetzen, sondern (gegen Sellars 41 ) mit dem »Versuch einer Versöhnung zwischen wissenschaftlichem Weltbild und unserem alltäglichen Selbstverständnis« 42 bzw. des scientific image of man mit dem manifest image. Der Vorschlag lässt sich begreifen als Versuch, einen Deutungsmachtkonflikt zu befrieden, und zwar mit den Mitteln einer kategorialen Differenz (erste/zweite Natur des Menschen), letztlich zur rationalen Selbstbehauptung (im Sinn Hans Blumenbergs) einer philosophischen Anthropologie (der Natur, »die der Mensch selber ist« 43 , im Sinne Husserls?). Das Verfahren ist die philosophisch traditionelle Begriffsarbeit. Das Ziel geht aber über das Verfahren hinaus, sofern es um einen Deutungsmachtkonflikt geht, in dem es um die Deutung dessen geht, was der Mensch ist und was die Natur. Es geht also um die vierte Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. 37 So die Beispiele von Hüttemann, ebd., S. 10 f. 38 Ebd., S. 15; Vgl. Christoph Halbig, Welche Natur? Naturen, Naturalismus und die Natürlichkeit des Menschen, in: Hüttemann, Zur Deutungsmacht in den Biowissenschaften (wie Anm. 33), S. 177–196, hier S. 187 ff. 39 Vgl. ebd., S. 190. 40 Ebd., S. 194. 41 Vgl. Wilfrid Sellars, Philosophy and the scientific image of man, in: derselbe, Science, Perception and Reality, Atascadero, California: Ridgeview Publishing 1991, S. 1–40. 42 Halbig, Welche Natur? (wie Anm. 38), S. 188. 43 Vgl. ebd., S. 195. 35 36
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metaphysikaffine Frage Kants ›Was ist der Mensch?‹, um eine (über-)komplexe Größe, die als reduktionsresistent gegenüber dem Deutungsanspruch der Biowissenschaften erwiesen wird. In Blumenbergs Perspektive ist die Auseinandersetzung mit den Biowissenschaften eine Frage der »Weltbilder und Weltmodelle« 44 . Denn philosophisch bemerkenswert und kritikbedürftig werden die Naturwissenschaften dann besonders, wenn sie mehr prätendieren als diese oder jene Erklärung, wenn sie ›Dasein deuten‹, oder mit Blumenberg: Wenn sie Erwartungen wecken, die nur Enttäuschungen provozieren können, etwa endlich das Gehirn zu erklären. Bei Fleck bereits kam die ›Weltanschaulichkeit‹ der Naturwissenschaften in den Blick, die einen der vielen Punkte trifft, an dem die phänomenologische Differenz zwischen Heidegger und Blumenberg aufbrach. Heidegger hatte in dem Aufsatz »Die Zeit des Weltbildes« von 1938 das Weltbild als Instrument technisch wissenschaftlicher Zurichtung kritisiert, als Mittel der Neuzeit im Geiste der Metaphysik. Die ›Vorstellung‹ sei daher das Anzeichen der Vergegenständlichung des Seins als Seiendes: »Daß die Welt zum Bild wird, ist ein und derselbe Vorgang mit dem, daß der Mensch innerhalb des Seienden zum Subjectum wird«. 45 Dass naturwissenschaftliche Dispositive im Zeichen naturalistischer Reduktion den Menschen zum Subjectum machen, ist für Foucaults Wissenschaftspolitikgeschichtsschreibung ein gängiges Deutungsmuster. Aber Heidegger belässt es nicht dabei: »Sobald die Welt zum Bilde wird, begreift sich die Stellung des Menschen als Weltanschauung. […] Dies bedeutet: Das Seiende gilt erst als seiend, sofern es und soweit es in dieses Leben ein- und zurückbezogen, d. h. er-lebt und Er-lebnis wird.« 46 Das damit gesetzte Immanenzprinzip sollte unverächtlich sein – zumindest wenn man nicht Heideggers leicht apokalyptische Vision teilt: Weil diese Stellung sich als Weltanschauung sichert, gliedert und ausspricht, wird das neuzeitliche Verhältnis zum Seienden in seiner entscheidenden Entfaltung zur Auseinandersetzung von Weltanschauungen […]. Für diesen Kampf der Weltanschauungen […] setzt der Mensch die uneingeschränkte
Vgl. Hans Blumenberg, Weltbilder und Weltmodelle, Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 30 (1961), 67–75. 45 Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: derselbe, Gesamtausgabe. Band 5: Holzwege, Frankfurt am Main: Klostermann 1950, S. 75–113, hier S. 92. 46 Ebd., S. 93 f. 44
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Gewalt der Berechnung, der Planung und der Züchtung aller Dinge ins Spiel. 47
Vom dunklen Pathos einmal abgesehen, geht es hier um Deutungsmachtkonflikte, allerdings mit der kritischen Implikation, ob die Naturwissenschaften denn wissen und wollen, was sie tun, wenn sie Weltbilder entwerfen und als Heilsvisionen offerieren. Blumenberg wandte sich 1961, Heidegger so verwandt wie kritisch, vehement gegen derartige Weltbildprätentionen wissenschaftlicher Weltmodelle. Unter ›Weltmodell‹ verstehe ich die von dem jeweiligen Stand der Naturwissenschaften abhängige und die Gesamtheit ihrer Aussagen berücksichtigende Totalvorstellung der empirischen Wirklichkeit. Als ›Weltbild‹ bezeichne ich denjenigen Inbegriff der Wirklichkeit, in dem und durch den der Mensch sich selbst versteht, seine Wertungen und Handlungsziele orientiert, seine Möglichkeiten und Notwendigkeiten erfaßt und sich in seinen wesentlichen Bedürfnissen entwirft. Das Weltbild hat ›praktische Kraft‹, wie Kant gesagt hätte. 48
Gegen Heidegger wird so – de facto mit Fleck – die Weltbildhaltigkeit der Naturwissenschaften verständlich gemacht. Sofern die »Zuordnung des Weltmodells zum Weltbild abgerissen« sei, so dass »das ›Weltmodell‹ die Stelle des ›Weltbildes‹ besetzte« 49 , ging deren ›pragmatische‹ Funktion und lebensweltliche Rückbindung verloren. Wenn das Kopernikanische System »als Weltmodell doch nur von sehr partieller Reichweite sich durchsetzte und der Mensch nun in diesem Modell nach seiner bildhaften Orientierung für sein kosmisches Selbstbewußtsein suchte« 50 – wurde es prekär. Wenn dann Philosophen »begannen, den Naturforschern über die Schulter zu spähen, um an ihren Modellen metaphysische Leitbilder zu gewinnen«, spricht Blumenberg vom »Versagen der Philosophie« 51 . Die »Vakanz der Weltbildfunktion« 52 führt – angesichts des humanen horror vacui – zu Problemen der UnBesetzung, mit nicht ungefährlichen Umbesetzungen. 53
Ebd., S. 94. Blumenberg, Weltbilder und Weltmodelle (wie Anm. 44), S. 69. 49 Ebd., S. 70 f. 50 Ebd., S. 71. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Vgl. Vanessa Albus, Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert, Würzburg: Königshause & Neumann 2001. 47 48
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Frank Schirrmacher hat das Problem folgendermaßen exemplifiziert: Wir werden das selbständige Denken verlernen, weil wir nicht mehr wissen, was wichtig ist und was nicht. Und wir werden uns in fast allen Bereichen der autoritären Herrschaft der Maschinen unterwerfen. Denn das Denken wandert buchstäblich nach außen; es verlässt unser Inneres und spielt sich auf digitalen Plattformen ab. Das Gefühl, dass das Leben mathematisch vorbestimmt ist und sich am eigenen Schicksal nichts mehr ändern wird, ist einer der dokumentierten Effekte der Informationsüberflutung […]. Kurzum: Ich werde aufgefressen. 54
Das kann man für Übertreibung halten, aber es trifft einen Punkt: die freiwillige oder unfreiwillige Delegation des Denkens birgt ein ungeheures Fremdbestimmungspotential. Nur – wie darauf antworten? Die Pluralisierung der Weltbilder – die eingangs genannte ›philosophische Jahrhunderterregung‹ (durch Naturwissenschaften wie Historie) – führte zum irreversiblen Weltbildverlust: »die Erneuerung des Weltbildes ist eine Forderung, die die Philosophie auf gar keinen Fall erfüllen sollte, und die Ersetzung des Weltbildes durch Weltmodelle ist eine Versuchung, der die Naturwissenschaft ebenso wenig erliegen sollte«. 55 Kann diese Negation alles sein? Wäre eine Weltbildvakanz auf Dauer erträglich? 56 Auch »die Philosophie wird […] in Zukunft kein neues Weltbild entwerfen«, 57 behauptete Blumenberg (als kritisches Regulativ vermutlich), schlicht weil das nicht ihre Aufgabe sei. Sofern sie das einst tat oder wieder prätendiert, argumentiert Blumenberg dagegen für eine Epoché: »Im Schwinden der Weltbilder […] bleibt nur noch eine, als formaler Horizont aller Übersetzbarkeiten gesichtslose Welt möglich […]. Die Geschichte kennt keine Wiederkehr.« 58 Die neue ›Deutungsmacht der Biowissenschaften‹ scheint ein Symptom zu sein für die Unerträglichkeit der Vakanz und die Unwiderstehlichkeit, eine Wissenschaft in die Funktion eines nachmythischen und nachmetaphysischen Weltbildproduzenten zu versetzen. Wird die mediale Insze54 Frank Schirrmacher, Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen, München: Karl Blessing Verlag 2009, S. 15. 55 Blumenberg, Weltbilder und Weltmodelle (wie Anm. 44), S. 72. 56 Ebd., S. 75. 57 Ebd., S. 71. 58 Ebd., S. 73.
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nierung der Biowissenschaften als endlich und definitiv szientifisches Weltbild zur Demonstration der Macht des Sichtbaren wie der Bilder, wer könnte dem widerstehen? Blumenberg meinte: Freilich, der Weltbildverlust ist eine schmerzvolle Amputation, denn der Mensch hat das unausrottbare Bedürfnis, auf seine letzten und umfassendsten Fragen Antwort zu beanspruchen. Aber gerade hier wird Philosophie in einem radikalen Sinne dem Menschen die Hörigkeit gegenüber seinen Bedürfnissen verwehren müssen. 59
Dieses Blumenbergsche ›Bilderverbot‹ richtete sich ebenso gegen die Weltbildfunktion der Naturwissenschaften wie gegen die Forderung nach ›großen Weltbildentwürfen‹ besonders in Gestalt der Fundamentalontologie (»Die Zeit des Weltbildes«). Blumenbergs Kollege Hans Jonas war in dieser Hinsicht genauso kritisch, aber weniger zurückhaltend. In Organismus und Freiheit 60 wollte er nicht weniger als Ansätze zu einer philosophischen Biologie bieten, und dazu wagt er bedenklich generelle Behauptungen. In Abgrenzung zur Lebensphilosophie und ihrem ›Panvitalismus‹ meint er: »Neuzeitliches Denken […] befindet sich in der genau umgekehrten theoretischen Lage: das Natürliche und Verständliche ist der Tod, problematisch ist das Leben.« 61 Das erinnert an Blumenbergs übertragenen Gebrauch des Entropieprinzips, dass Leben, vor allem ›kulturelles‹ Leben, als Ausnahme erweist und daher die Erde im Blick vom All aus als ›kosmische Oase‹ erscheint. 62 Jonas riskiert ex negativo indes mehr, anscheinend eine Art Gegenbesetzung zum naturwissenschaftlichen Wissensbegriff: »Der Wissensbegriff [der neuzeitlichen Naturwissenschaft] bestimmt den Naturbegriff. Das bedeutet aber, daß das Leblose das Wißbare par excellence, der Erklärungsgrund von allem geworden ist und damit auch zum anerkannten Seinsgrund von allem wurde.« 63 Daher sei anders als in der jüdisch-christlichen Tradition die Fragen »nicht mehr, wie ist der Tod, sondern wie ist das Leben in die Welt, die leblose, gekommen?« 64 Die metaphysische Grundfrage des cur aliEbd., S. 75. Hans Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1973. 61 Ebd., S. 22. 62 Vgl. Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 793 f. 63 Jonas, Organismus und Freiheit (wie Anm. 60), S. 22. 64 Ebd., S. 23. 59 60
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quid potius quam nihil meldet sich hier im Hintergrund. Nur wird sie bei Jonas (in Erinnerung an Heidegger, nicht ohne Kritik) beinahe ›daseinsanalytisch‹ umbesetzt: »Unser Denken heute steht unter der ontologischen Dominanz des Todes.« 65 Die merkliche Spitze dessen ist, dass auch Heidegger somit in den Horizont des neuzeitlichen Wissensbegriffs gestellt wird mit seiner ›Dominanz des Todes‹. Und so wie Jonas Heideggers Philosophie eine gnoseogene Potenz oder eine Nähe zur Gnosis attestiert hatte, gelte für dieses ›unser Denken‹ : Die ganze Welt wird Sema, »nur mit dem Unterschiede, daß das Grab inzwischen leer geworden ist […] in einem Universum, das nach dem Bilde des Leichnams geformt ist«. 66 Was Jonas hier riskiert, ist nicht weniger als eine Wissenschaftsgeschichtsphilosophie, die der Heideggerschen Verfallsvision doch wieder erstaunlich nahe steht. So schematisiert Jonas die Geschichte der Philosophien des Lebens in die Phasen Panvitalismus, Soma-SemaDualismus, Zerfall in neue Monismen, Materialismus und Idealismus und formuliert selber das Ziel einer postdualistischen Lebensphilosophie. Der »Leib« steht für »die latente Krise jeder bekannten Ontologie«, und sei »das Kriterium ›jeder künftigen, die als Wissenschaft wird auftreten können‹ […] – er ist das Memento der immer noch ungelösten Frage der Ontologie, was das Sein ist«. 67 Die Problemstellung einer nicht-reduktionistischen und anti-dualistischen Ontologie ist so plausibel wie spätestens seit Nietzsche gängig, dem doch der Leib als die ›große Vernunft‹ galt. Mit dem Problem steht Jonas auch Cassirer und mit ihm Blumenberg näher als seinem einstigen Lehrer Heidegger (oder Bultmann). Nur ist alles andere als klar, wie ein neuer Humanismus (ohne Neuhumanismus zu werden) dieses Problem soll ›lösen‹ können. Nochmals Jonas: Vielleicht ist in einem richtig verstandenen Sinne der Mensch doch das Maß aller Dinge […] Die ontologische Berechtigung zu dieser Frage liegt in dem Umstand, daß der lebendige Leib das Urbild des Konkreten ist und, sofern es mein Leib ist, in seiner Unmittelbarkeit von Innerlichkeit und Äußerlichkeit in Einem das einzige vollgegebene Konkrete der Erfahrung überhaupt. 68
Ebd., S. 25. Ebd., S. 28. Die christentumskritische Spitze darin dürfte merklich sein: dass die an der Pointe der Christologie vorbei geht, indes auch. 67 Ebd., S. 33. 68 Ebd., S. 39. 65 66
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Hier klingt nicht nur eine Mikro-Makrokosmos-Tradition an, sondern mehr noch die Husserlsche Phänomenologie des Leibes, wie sie bei Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels als Phänomenologie des Leibes und der Leiblichkeit ausgeführt wurde. Dem folgt Jonas nicht, aber die Konvergenz ist ersichtlich. Nur bleibt die ›philosophische Biologie‹ bei Jonas in einer Weise ontologisch generell, dass die Phänomene es demgegenüber schwer haben dürften – anders als bei Blumenberg.
6.
Entdualisierte Anthropologie
Meinte Jonas: Der »Homo pictor […] bezeichnet den Punkt, an dem homo faber und homo sapiens verbunden sind – ja, in dem sie sich als ein und derselbe erweisen«, 69 wird das Piktoriale und Imaginäre der Anthropologie bei Blumenberg phänomenologisch entfaltet, metonymisch und metaphorisch. Die Beschreibung des Menschen ist das extensive Zeugnis dafür, dessen Anfangsgründe sich aber bereits in der imaginativen Anthropologie des ›zögernden Wesen‹ zeigen, dem Schlüsseltext über Nachdenklichkeit. Das spezifisch ›humane Denken‹ hat Blumenberg zufolge seinen Ursprung nicht in der Funktion von Flucht oder Angriff, von Selbstbehauptung und Fremdvernichtung, sondern in einer Dysfunktion, dem Zögern und den Umwegen, die es für den Zögernden bedeutet. Schlicht gesagt: Kultur ist die Komplikation, die sich durch die Instinktreduktion ergeben hat, durch die Unterbrechung der Reflexbögen. Oder Kultur ist wesentlich Umweg, Medialität und Indirektheit statt unmittelbarer Reaktion auf Reize. Daher ist Kultur auch Technik, Technik des Umgangs mit der Enge der Zeit bei mangelnder Unmittelbarkeit. Zögern und Nachdenklichkeit sind alles Mögliche, nur nicht unmittelbar ›zielführend‹ – wie es Wissenschaftsprojekte heute sein sollen. Flucht oder Angriff, das kennt jedes Tier und (wirklich?) nichts sonst, mit dem leiblichen Sinn von Fressen oder Gefressenwerden. Die Alternative regiert in Ökonomie, Politik, Medien, Wissenschaft und auch nur zu oft im Kulturbetrieb. Das ist die Alternative, die bei Carl Schmitt ›Freund oder Feind‹ heißt. Dem Fremden, dem Konkurrenten gegenüber gibt es vor allem Angriff – und wenn man nicht weiter weiß, Flucht. Für starke Staaten ist das keine Frage. Die kennen nur Fressen, 69
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Expansion, Steigerung. Dass dabei der Rest der Welt auf der Strecke bleibt, ist bekannt. Das Glück des Einen ist das Unglück des Anderen. Animalisch, wenn nicht viehisch. Mit Kultur hat das wenig zu tun, auch mit politischer Kultur nicht. 70 – Ist es in Wissenschaftskontexten viel anders? Selbstbehauptung und -steigerung um (fast) jeden Preis? Wissenschaften, die in Erfolgsgeschichten verstrickt sind, könnten das für fraglos halten – und jede Fraglichkeit hier für dysfunktional, wenn nicht für gefährlichen Unsinn. Dagegen ›sitzt‹ Blumenbergs These: Der Mensch ›wird‹ erst menschlich, wenn er zögert, d. h. wenn er sich der Alternative von Flucht oder Angriff entzieht und verweigert. An dieser Schlüsselstelle seiner Anthropogenese wagt Blumenberg ein Stück ›imaginärer Anthropologie‹, die dort zu vermuten wagt, wo keine ›harten Fakten‹ gegeben sind (was sich später indes noch etwas anders darstellen wird). Zum Zögern sei es überhaupt erst durch einen Wechsel des Lebensraumes gekommen: »Ein Wechsel des Biotops oder eine Veränderung von Flora und Fauna durch Klimaschwankungen könnte die Eindeutigkeit und Vertrautheit von Umweltdaten für Verhalten getrübt, verformt, entstellt haben.« 71 Der Verlust an Normalstimmigkeit mit der Umwelt, der Natur, ließe einen Lebensformwandel unvermeidlich werden. Aber vor dieser neuen Anpassung steht die elementare Unstimmigkeit von Selbst und Welt, gewissermaßen die Urform der rhetorischen Situation von Evidenzmangel und Handlungszwang. Blumenbergs fabula de homine imaginiert als Wesensbestimmung des Menschen einen üblicherweise als Instinktreduktion apostrophierten Mangel: eine genuine Unentschiedenheit, das Zögern gegenüber dem Absolutismus äußerer Anforderungen durch die Umwelt. Diese Anforderungen, Blumenbergs Absolutismus der Wirklichkeit, verschärft sich in spezifischer Weise durch einen fundamentalen Horizontwandel, wenn die Umwelt eine andere wird: wie im Übergang vom Urwald in die Steppe. Das Zögern ist die erste aktionslose Antwort auf den Handlungszwang: Ein Evidenzmangel, der nicht überspielt oder übersprungen wird, sondern in dem zu ›verweilen‹ erst die conditio humana zutage treten lässt. Man wird wohl fragen, ob diese Unentschiedenheit in der Situa70 Vgl. Karl Rohe, Politik. Begriffe und Wirklichkeiten. Eine Einführung in das politische Denken, Stuttgart usw.: Kohlhammer 1994. 71 Blumenberg, Nachdenklichkeit (wie Anm. 32), S. 57.
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tion des Handlungszwanges, die Unentschiedenheit von Flucht oder Angriff, geeignet sei, gerade als Spezifikum des Menschen zu dienen. Ist doch diese Alternative auch Tieren vertraut. Und gibt es auch ein Zögern der Tiere, dann, so wäre die Folge, gäbe es Kultur diesseits des Menschen. Diesem Problem geht Blumenberg nicht weiter nach, aber gesteht man ein Zögern auch den Tieren zu, hätte das die Hypothese einer Kultur der Tiere zur Folge, und es würde mit dem naturalen Grund des Zögerns eine Art Natürlichkeit der Kultur hervortreten. Kultur wäre so verstanden nicht die bloße Gegenbesetzung zur Natur und auch nicht bloß ein Produkt menschlichen Geistes, sondern eine naturale ›Selbstverständlichkeit‹, eine Unvermeidlichkeit bei Unterbrechung der Reflexbögen. Natur und Kultur bilden dann nicht einen opaken Hiat, sondern eine differenzierte Kontinuität im Übergang. Zögern ist von Natur aus induziert und doch selber bereits der Anfang der Kultur. Es ist das Ende der naturalen Normalstimmigkeit von Reiz und Reaktion, von Handlungszwang und Instinkthandeln, und ineins der Anfang sich dehnender Intentionalität, die auf Normalstimmigkeit aus ist, ohne sie einfach zu sein oder zu haben. Anders gesagt ist der Ausgang aus der natürlichen Lebenswelt der Eingang in die kulturellen Lebenswelten in ihren Geschichten. Was könnte das bedeuten – angesichts des naturalistischen Menschenbildes, das von Evolutions-, Verhaltens- wie Neurowissenschaften promoted wird? Wenn alles am Menschen der Funktion von Selbstbehauptung und -steigerung diene, wenn Verstehen heißt, den evolutionären Vorteil daran identifizieren? Entweder ist Zögern dann in diesem Sinne als vorteilhaft zu verstehen oder aber es wäre eine Umwertung des Dysfunktionalen, des Schwachen (gegen Nietzsche). Und was impliziert Blumenbergs ›Denkstil‹ für Wissenschaften, die das Denken ›auf kürzestem Wege‹ für den alternativlosen Königsweg halten? Nur eine ›Irritation‹ oder aber ein ›Wink‹, eine Denkgeste, die den Nachdenklichen auf Umwege lockt, auf denen anderes zu entdecken ist, als immer schon entdeckt worden war. Der Text über »Nachdenklichkeit« zeigt in besonderer Weise, wie ein Denkstil beschrieben, darin vollzogen und ›als Schreibstil‹ manifest werden kann: Die Phänomenalität des Denkstils ›ist‹ der Schreibstil dieses Textes – der die offene Frage nach dem Lektürestil zuspielt. Wo liegt der Ursprung des Glücks im Unglück, der Unglücksvermeidung namens Kultur? Wann kam es zum Zögern und warum? Bei den Prähominiden in Tansania? Blumenberg meinte, das Zögern sei der A
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»in keiner Ausgrabung jemals nachweisbare Schritt zur Kultur«. 72 Indes fand 1976 die Anthropologin Mary Douglas Nicol Leakey 1976 in der Olduvai-Schlucht im Laetoli-Becken von Nordtansania Fußspuren zweier aufrecht und nebeneinander laufender Prähominiden, eines groß- und eines kleinfüßigen. Dass sich diese Spuren erhalten haben, ist schon außergewöhnlich. Die Vulkanasche eines nahegelegenen Kraters (Dasiman) war durch Regengüsse zur plastischen Masse geworden und hatte kurz vor der Erstarrung unter anderem auch diese Spuren konserviert, und das vermutlich 3,5 Millionen Jahre lang. Es handelt sich um die (bisher frühesten) Zeugnisse des aufrechten Gangs. Das wäre schon bemerkenswert. Denn der wird gern uns, dem Homo sapiens, vorbehalten (trotz der Pinguine). Aber eigentlich interessant daran ist etwas anderes: Die fünfzig Meter lange Fährte der Prähominiden lasse »an einer Stelle ein Anhalten und Umwenden erkennen« 73 , als wären sie auf der Flucht gewesen und einer hätte sich umgewendet. Diese Spur wurde von Mary Leakey als ›Zögern‹ gedeutet. 74 Und die Moral von der Geschicht’: Die Prähominiden respektive die Australopiteci waren auf dem Weg zum ›zögernden‹ Wesen. Ob sie im Zögern auch schon nachdenklich wurden? Nachdenklichkeit hinterlässt selten Spuren. Sie ist daher ein ›erschlossenes‹ Phänomen, dessen Phänomenalität stets ambig ist. Ein Gesicht kann nachdenklich ausschauen, ohne dass dessen Dahinter dem entspräche, und umgekehrt. Fußspuren sind daher ein alles andere als klarer Beleg für das, was man darin sehen möchte. Hier zeigt sich das Konjekturale, die Vermutungsweise von Blumenbergs liminaler Wissenschaftsgeschichte: eine Retrojektion, die zureichender Gründe auf ewig ermangeln wird. Falls denn schon Prähominiden zögerten, entstand jedenfalls ›humane‹ Kultur diesseits der Hominiden. Das hätte brisante Folgen für das Kulturverständnis, da die traditionelle Natur-Kultur-Differenz ins Wanken gerät. Tieren oder Prähominiden Kultur zuzugestehen, erscheint traditionell als contradictio in adjecto. Aber warum eigentlich nicht? Zumal die Primatenforschung hier längst Raum greift und alles nur irgend Mögliche unseren Artgenossen zuschreibt. Dass Beschrei-
Ebd. Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 847. 74 Vgl. ebd., S. 486 f. Vgl. Mary D. Leakey, Pliocene footprints in the Laetoli Beds at Laetoli, Northern Tanzania, Nature 278 (1979), 317–323. 72 73
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bung zuschreibungsanfällig ist (wenn sie denn etwas anderes wären), dürfte phänomenologischen Einspruch oder zumindest Zurückhaltung provozieren im Rückblick. Sind die Oblomows unter den Tieren, die Faultiere und Pandas etwa, Meister des Zögerns? 75 Ein ganzes Leben im Zustand des Nichtstuns, des permanenten Zögerns, Zauderns und Haderns (falls denn etwas zu entscheiden wäre, während man auf dem Baum herumhängt)? Nun, das kann auch zur Regression führen. Das wäre auf die Dauer weder menschlich (wirklich nicht?), noch besonders nachdenklich zu nennen. Die Menschen ›dürfen‹ Zögern, sie müssen nicht. Die menschliche Lizenz zum Zögern kennt wohl doch ein anderes Zögern als das in der animalischen Situation von Flucht oder Angriff. Es ist daher zweierlei Zögern zu unterscheiden: das natürliche Zögern im Entscheidungsnotstand und das kulturell ›mögliche‹ Zögern (jenseits der bedrängenden Alternative von Flucht oder Angriff). Nur das zweite scheint als metaphorisches definiens des Menschen zu taugen. Das notgedrungene Zögern wäre somit wesentlich vom unnötigen und freizügigen Zögern zu unterscheiden, das müßig sein darf, mit dem Risiko müßig in einem schlechten Sinne zu werden. Später wird Blumenberg der Rückzug in die Höhlen eine Umweltreduktion bedeuten, die ein nicht mehr erzwungenes Zögern, sondern ein dauerhaftes Zögern durch Umweltferne ermöglicht: ein Zögern zweiter Ordnung. Verlegenheit ist nicht nur in theoretischen Zusammenhängen solch eine Befindlichkeit, in der ein notgedrungenes Zögern aufkommt, das zur Nachdenklichkeit zwingt. Die Nachdenklichkeit braucht ihrerseits aber Distanz von der Not dieses Augenblicks, da in der Not vor allem gedacht wird zur erfolgreichen Überwindung derselben. Verlegenheit ist das Andere der Überlegenheit, die Situation des Schwachen, der sich nach anderen Wegen umschauen muss. Eine starke Theorie erweist ihre Stärke in der Regel auch darin, dass sie nicht in Verlegenheit gerät, sondern weiß und gelöst hat, was der schwachen hingegen Probleme bereitet. Diese Stärke kann darin eskalieren, dass eine Theorie zu erklärungskräftig wird, aber schon diesseits dieser Eskalation ist eine starke Theorie insofern der Anfang der Barbarei, als sie die Situation der Nachdenklichkeit erfolgreich zu vermeiden vermag. Starke Theorien verbreiten zuviel Fraglosigkeit und Unbefragbarkeit und unter-
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Vgl. Joseph Vogl, Über das Zaudern, Zürich/Berlin: diaphanes 2007. A
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drücken Zweifel und Zögern, die Umwege und neue Perspektiven finden könnten.
7.
Schreibstil und Methode
Wie und zu welchem Ende ist Blumenberg für die Wissen(schaft)sgeschichte interessant, wenn nicht gar unentbehrlich – wenn er derart ›spekulativ‹ vorgeht, dass ihn versehentlich die Archäologie und Paläoanthropologie später einholen? Erinnert das nicht an Cusanus’ spekulative Auflösung der Geozentrik, die später von Kopernikus erst ›wissenschaftlich‹ begründet wurde? Es hat einen Zug ins Vorwissenschaftliche, Imaginative und ›Ungesicherte‹, was Blumenberg treibt. Seine Metaphorologie und deren Weiterungen, seine memoriale und imaginative Anthropologie, seine Geschichtsschreibung mit der (selbsterteilten) Lizenz zur imaginativen Variation – überschreiten die nicht die Grenzen reiner wissenschaftlicher Vernunft, auch die der historischen? Das kann man meinen und damit Blumenberg am Höhlenfeuer philosophieren sehen oder ihn in die unterhaltsamen Nachtschattenseiten der Wissenschaften versetzen beim Kamingespräch. Nur – nicht erst Rheinbergers und Knorr-Cetinas 76 Studien, sondern zuvor schon Blumenbergs Arbeit an wissenschaftlichen Marginalien zeigen, dass ›dort‹ der Sitz im Leben wissenschaftlicher Wagnisse und Horizontvorgriff ist. Daher sucht seine Lebensweltphänomenologie die verborgenen Antriebe von Wissenschaft und Technik aus der Lebenswelt. Und Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Experiment, Differenz, Schrift: zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg an der Lahn: Basilisken-Presse 1992; derselbe, Wissenschaft zwischen Labor und Öffentlichkeit, in: Helga Nowotny, Martina Weiss (Hgg.), Jahrbuch 2000 des Collegium Helvedicum der ETH Zürich, Zürich: vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich 2000, S. 159–176; Karin Knorr-Cetina, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. Englischer Originaltitel: Epistemic Cultures. How the Sciences Make Knowledge, 1999 (Ludwik-Fleck-Preis für das beste Buch in der Wissenschaftsforschung); dieselbe, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984; dieselbe, The rise of a culture of life, EMBO Reports 6 (2005), 76–80. Georges Canguilhem, Die epistemologische Funktion des ›Einzigartigen‹ in der Wissenschaft vom Leben, in: derselbe, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, herausgegeben von Wolf Lepenies, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 59–74. 76
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das Ergebnis ist – tentativ gesagt – eine Hermeneutik der feinen Differenzen, der Varianzen, Schwellen und Hintergründe der Wissenschaften. Seine Art zu sehen, seine Art zu denken, seine Art zu sagen, was er sieht und denkt, bis in seine Art zu schreiben, ist daher nicht ›nur‹ marginal. Sie ist eine, wenn auch gelegentlich idiosynkratische, Arbeit an den Formen und Figuren indirekter Mitteilung (im Sinne Kierkegaards). 77 Mit seinem Sinn für die Sinnlichkeit des Sinns, für die Medialität des Wissens und seine Geschichtlichkeit ist er ein Jäger und Sammler symbolischer und symptomatischer Ausdrucksphänomene für das, was wir wissen wollten und zu hoffen wagten. Ein derartiger Denk- und Sprachstil von Kulturgeschichtsschreibung dürfte strittig sein, wenn ›übliche‹ Weisen der Wissenschaftsgeschichte mit derjenigen Blumenbergs konfrontiert werden. Geschichte des Wissens ist in der Regel an ›Realien‹ interessiert, sei es die Technikgeschichte, die Mediengeschichte oder an Körpergeschichte wie am säuberlich gewürfelten Hirn Einsteins. Dieser programmatische ›Realismus‹ (dessen epistemischer und ontologischer Status nicht immer geklärt scheint) ist erweiterungsfähig. Hier zeigt Blumenberg einen besonderen Sinn für die symbolischen und imaginären Dimensionen von Geschichte. Denn die Realien sind interessant nicht ›als Realien‹, sondern in ihren Wirkungspotentialen und Rezeptionsvarianten, das heißt in ihrer Deutungsmacht und Wirksamkeit. ›Wirkungspotentiale‹ gibt es nicht nur in Meßapparaturen, sondern auch in Mythen, Metaphern und ihren Verwandten. Zur Verdeutlichung dessen, dürfte es der hier angesonnenen Horizonterweiterung der Wissenschaftsgeschichtsschreibung dienlich sein, die Eigenarten von Blumenbergs Methodenstil exemplarisch zu entfalten. Sein ›Geschichtsschreibungsstil‹ weist mancherlei Besonderheiten auf (wie das Miteinander von memoria und imaginatio). Eine derselben zeigt sich in der Legitimität der Neuzeit: Um die ›Schwelle‹ der Neuzeit zu bestimmen, wählt er zwei Positionen, eine ex ante (Cusanus) und eine ex post (Bruno). Damit wird nicht ›der Anfang‹, ›der Neuzeit‹ mit ›der Figur‹ (etwa Descartes) fokussiert und emphatisch ausgezeichnet, sondern es wird im Stile der Leibnizschen wie Newtonschen Infinitesimalrechnung ein oberer und ein unterer Vgl. dazu Pierre Bühler, Liebe und Dialektik der Mitteilung, in: Ingolf U. Dalferth (Hg.), Ethik der Liebe. Studien zu Kierkegaards ›Taten der Liebe‹, Tübingen: Mohr Siebeck 2002, S. 71–88.
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Grenzwert kalkuliert, zwischen dem ›infinitesimal‹ bestimmt eine Schwelle überschritten wurde, ohne dass die exakt zu identifizieren wäre. Man könnte schlichter sagen, es wird ›gemittelt‹, aber das träfe nicht. Eher wird integral und differenzial kalkuliert und konjiziert. Nun schreibt Blumenberg alles andere als more mathematico, aber diese Art, eine Schwelle zu vermessen oder einen Schwellenwert indirekt zu bestimmen, scheint mir durchaus mathematisch inspiriert zu sein – und für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung erwägenswert. Etwas anders angelegt ist sein Verfahren, wie es die Genesis der kopernikanischen Welt ausführt. Auf dem Hintergrund von Poetik und Hermeneutik könnte man (mit H. R. Jauss) sagen, es wird die Rezeptionsgeschichte der ›kopernikanischen Wende‹ geschrieben oder mit Gadamers Hermeneutik ›die Wirkungsgeschichte‹. Es geschieht allerdings mehr: Zu Blumenbergs Geschichtsschreibung gehört stets der retrospektive wie der prospektive Horizont (was an Kosellecks Erfahrungsund Erwartungshorizont erinnert). Wie schon die Schwellenkalkulation ex ante und ex post wird hier gleichsam modaltheoretisch Geschichte geschrieben: Erstens wird retrospektiv die Ermöglichungsgeschichte (eines Begriffs, einer Metapher, einer Entdeckung) sondiert. Das könnte leicht zur Retrojektion einer Teleologie führen. Das wäre aber nicht die Pointe. Es geht vielmehr darum, Bedingungen zu suchen und zu sammeln, unter denen erst diese oder jene Prägung möglich wurde und dann auch wahrscheinlich. Medientheoretisch gesagt geht es um die Genesis der Wahrscheinlichkeit eines Unwahrscheinlichen. Davon ausgehend schreibt er nicht nur Wirkungs- oder Rezeptionsgeschichte, sondern eine ›Variationsgeschichte‹ : wie eine Prägung oder Figur im Laufe der Geschichte vielfach variiert wurde. Die phänomenologische Methode imaginativer Variation wird hier für die Geschichtsschreibung aufgenommen, indem sie zur historischen Variation wird (memorial und imaginativ) gelegentlich über die Fakta hinaus in Form der Fikta, die Ungesagtes, unwirklich Gebliebenes, also das Wirkliche im Lichte des Möglichen verstehen. Wie also ›Geschichte schreiben‹ ? Blumenbergs der Geschichtsschreibung der Narratologie von Schapp bis Ricœur nahestehende Antwort wäre einerseits: Wissenschaften ›in Geschichten‹. Nicht die Geschichte der Wissenschaft, sondern kleinformatige Exempla und Anekdoten, die – so die hermeneutische Wette – signifikant und symptomatisch sein mögen. Die formal elaborierte Antwort wäre andererseits im Anschluss an Cassirers ›Von der Substanz zur Funktion‹ : 226
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Geschichte nicht als Transformationsprozess von Konstanten oder Substanzen zu begreifen, sondern von Funktionen, Relationen, Positionen – Umbesetzung statt Umsetzung. Geschichtenschreibung im Zeichen von Differenz, genauer: von ›labilen Konstanten‹ (wie Metaphern) und ›stabilen Variablen‹ (wie unabweisbaren Fragen), könnte man das nennen. Im Hintergrund liegt die Diskussion der 60er bis 90er Jahre des 20. Jahrhunderts. 78 wie mit Differenz und Kontinuität als Problem der Geschichtsschreibung umzugehen sei. Wer anthropologische Konstanten oder substantielle Kontinuitäten voraussetzt, hat wenig Probleme, Einheit und Zusammenhang zu bestimmen: sei es Gott, Geist oder Begriff. Blumenbergs Konzession an diese Unvermeidlichkeit liegt im Horizont der Anthropologie (nicht aber der ›anthropologischen Konstanten‹ !). Vermutlich ist seine Geschichtsschreibung so ›sensibel‹, weil sie vor allem mit scharfem Sinn für feine Differenzen und Varianzen Geschichten zu beobachten wie zu beschreiben versteht, ohne ›immer nur das Eine‹ wiederzufinden. Geschichten auch zu schreiben, wird dann zur Aufgabe der ›Gestaltung‹ einer Phänomenologie der Geschichten. Der Schreibstil wird zur Ausgestaltung des Denkstils, mit all den literarisch qualifizierten Arten und Weisen Blumenbergs. Metaphorologie und deren Erweiterungen durch die vielen Formen der Unbegrifflichkeit sind hermeneutisch-phänomenologische Messmethoden für Mikro- und Makrohistorie: für kleine, feine Verschiebungen und Verdichtungen im Horizont langfristiger Kontinuitäten. Aber es sind nicht nur ›Mess‹-, sondern auch ›Darstellungs‹- und ›Schreib‹methoden, die nolens volens auf entsprechend mitspielende Leser angewiesen bleiben. Ob der Lektürestil auch zum entsprechenden Denkstil führt, ist ein offenes Experiment dieser phänomenologischen Art der Geschichtsschreibung. Sofern Geschichte eine eigene ›symbolische Form‹ wäre, eine irreduzible Form des Wissens (aber wohl auch des Ethos und Pathos), ist die Frage, was für ›Erkenntnis‹ denn damit zu gewinnen sei. Was heißt historische Synthesis bzw. Synthesis in historicis im Sinne Blumenbergs? Sie ist in jedem Fall Thesis: Geschichte wird gemacht, von Vico über Ricœur bis zu White. Auch wenn Blumenberg stets zur Geste feiner Historikerdistanz neigt, ist seine Geschichtsschreibungspraxis durchgängig narrativ, imaginativ, literarisch anspruchsvoll und darin 78 Vgl. Hans Ebeling, Neue Subjektivität. Die Selbstbehauptung der Vernunft, Würzburg: Königshausen & Neumann 1990.
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der historiographischen Tropologie verwandt. Geschichtenschreibung ist memoriale Kulturtechnik, in der imaginative Konjekturen mitgesetzt werden. Sie wird geschrieben und hat daher literarische Dimension, wie Ricœur in Zeit und Erzählung ausführte. Ihre Form des Wissens ist nicht nur aktive, sondern auch passive Synthesis: Assoziation, Affekt, Konnotation, Allusion und ähnliche Unbegrifflichkeiten. ›Randphänomene‹ scheinen oft relevanter, als das ›Oberflächendesign‹ von Wissenschaften verrät. Insofern ist Blumenberg eher an Symptomen als an etablierten Symbolen orientiert: an dem, was sich zeigt (auch versehentlich), nicht nur an dem, was intentional gezeigt wird. Was Rheinberger 79 als Entdeckung vorführte, die Nachtschattenseiten der Wissenschaft in den Labortagebüchern, ist bei Blumenberg schon seit längerem im Fokus der Aufmerksamkeit gewesen: Randnotizen, Randbemerkungen, ›Hintergründe‹ der offiziellen Darstellungen bis in die Intimitäten von tradierten (oder erfundenen, erdachten) Bemerkungen. Signifikanz, Indirektheit, Umwege und Symptomatik sind Suchformeln für das, was Blumenberg ›lebensweltliche Antriebe‹ der Wissenschaften nennt: für die valenten, latenten und bewegenden ›Gründe‹ (pragmatischer Art?), die die Wissenschaft am Leben halten. Wie meinte Blumenberg: »was menschlich ist, drängt zur Sprache hin, und was noch nicht Sprache geworden ist oder werden kann, ist Dunkles, Ungeklärtes, Triebhaftes oder Automatisches. Sprachwerdung ist Humanisierung, und das gilt auch und gerade für die Wissenschaften und ihr theoretisches Verhalten.« 80 Das lässt für die Wissenschaftsgeschichte noch einiges zu wünschen übrig, zum Glück.
Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Wissenschaft zwischen Labor und Öffentlichkeit (wie Anm. 76), S. 159–176; derselbe, Wissenschaftsgeschichte und experimentelle Praxis, Nachrichtenblatt der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaften und Technik 49 (1999), 198–210; derselbe, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen: Wallstein 2002; Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner, Experimentalsysteme, in: dieselben (Hgg.), Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin: Akademie Verlag 1993, S. 7–27. 80 Blumenberg, Weltbilder und Weltmodelle (wie Anm. 44), S. 68. Dass damit Bild und Zahl(-werdung) deutlich unterschätzt werden, dass vielleicht darin eine Grenze des ›Sprachstils‹ liegt und mit ihm des ›Sprachdenkens‹, sei nur angemerkt. Die ›Sprachkultur‹ der Naturwissenschaften würde sich dieser ›Teleologie‹ kaum anschließen. 79
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Blumenbergs Begriffsgeschichte Vom Anfang und Ende aller Dienstbarkeiten
In welchem Verhältnis die Metaphorologie zur Begriffsgeschichte steht, subsidiär, in Absetzung oder Überbietung, ist in den letzten Jahren wieder und wieder erörtert worden. 1 Die einschlägigen Sätze aus der Einleitung zu den frühen Paradigmen zu einer Metaphorologie und die späteren zur »Unbegrifflichkeit« sind so oft zitiert und Wort für Wort analysiert worden, dass es kaum noch Interpretationsvarianten zur Metaphorologie geben dürfte, die nicht schon geäußert worden sind. Über das Feld der Begriffsgeschichte der 1950er und 1960er Jahre scheint jedoch wohl auch wegen der bislang äußerst spärlichen Quellenlage ein Schleier ausgebreitet zu sein, der mitunter zu befremdlichen Ungenauigkeiten, zu Fehleinschätzungen und anachronistischen Konstruktionen von Blumenbergs Einstellung zur Begriffsgeschichte geführt hat. Mittlerweile ist das Umfeld, in dem 1958 die Paradigmen vorgetragen und diskutiert wurden, dokumentiert. 2 Auch Erich Rothackers in die Weimarer Republik zurückreichendes und 1949 wiederbelebtes Projekt eines begriffsgeschichtlichen Wörterbuchs ist in seinen Entwürfen Frank Beck Lassen, »Metaphorically speaking« – Begriffsgeschichte and Hans Blumenberg’s Metaphorologie, in: Riccardo Pozzo, Marco Sgarbi (Hgg.), Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte, (Archiv für Begriffsgeschichte; Sonderheft 7) Hamburg: Meiner 2010, S. 53–70; ferner die Beiträge von Gottfried Gabriel, Anselm Haverkamp, Dirk Mende und Barbara Merker sowie auch die Einleitungsbeiträge der Herausgeber, in: Dirk Mende, Anselm Haverkamp (Hgg.), Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008; Rüdiger Zill, »Substrukturen des Denkens«. Grenzen und Perspektiven einer Metapherngeschichte nach Hans Blumenberg, in: Hans Erich Bödeker (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen: Wallstein 2002, S. 211–258, hier S. 221–229. 2 Margarita Kranz, Begriffsgeschichte institutionell. Die Senatskommission für Begriffsgeschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1956–1966). Darstellung und Dokumente, Archiv für Begriffsgeschichte 53 (2011), 153–226, darin Hans Blumenberg, Thesen zu einer Metaphorologie (1958) sowie derselbe, Protokoll der Diskussion zum Vortrag »Paradigmen zu einer Metaphorologie« (1958), S. 186–193. 1
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publiziert 3 und kann nicht mehr mit dem späteren, seit Mitte der 1960er Jahre unabhängig von Rothackers Vorhaben in die Öffentlichkeit tretenden Projekt Joachim Ritters und seines Schülerkreises, der Neuauflage von Rudolf Eislers Wörterbuch der philosophischen Begriffe, verwechselt werden. Tatsächlich war die begriffsgeschichtliche Forschung in der Zeit der Profilierung von Blumenbergs Paradigmen geradezu ausschließlich mit dem Namen Rothacker und seinem interdisziplinär weithin beachteten, 1955 begründeten Archiv für Begriffsgeschichte verbunden, das – sicherlich auch ein Anlass zu Irrtümern – den Untertitel Bausteine zu einem Historischen Wörterbuch der Philosophie führte. Blumenberg verfolgte Rothackers begriffsgeschichtliches Projekt mit allergrößtem Interesse. 4 Hans-Georg Gadamer und Joachim Ritter äußerten sich erst viele Jahre später zur Begriffsgeschichte: Durchaus in Absetzung von Rothackers historistischem Ansatz sahen sie die Begriffsgeschichte als Philosophie bzw. aus der Gegenwart legitimiert. 5 Obwohl Blumenberg diese Auffassung sicherlich nicht teilte, bezog er auch später nie explizit Stellung dagegen. Im folgenden wird, unter Einbeziehung von Korrespondenz aus den Archiven, Blumenbergs Einstellung zur Begriffsgeschichte bis zu den 1970er Jahren dargestellt, und zwar zunächst (I.) sein affirmatives Verhältnis zu Rothacker und dem Archiv für Begriffsgeschichte, sodann (II.) seine eigenen Positionierungen und Reflexionen auf begriffsgeschichtliches Arbeiten und schließlich (III.) seine Bewegung vom interesselosen Zuschauer zum kritischen Beobachter des begriffsMargarita Kranz, Begriffsgeschichte institutionell – Teil II. Die Kommission für Philosophie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz unter den Vorsitzenden Erich Rothacker und Hans Blumenberg (1949–1974), Archiv für Begriffsgeschichte 54 (2012), 119–194; S. 166 ff. sind die Dokumente aus dem Nachlass Rothackers wiedergegeben. 4 Die Nähe Blumenbergs zu Rothacker wird selten registriert. Vgl. jedoch Philipp Stoellger, Metapher und Lebenswelt: Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, Tübingen: Mohr Siebeck 2000, S. 96 f., der die Fäden nennt, die Blumenberg von Rothacker aufnimmt oder die beide verbinden. 5 Joachim Ritter, Zur Neufassung des »Eisler«. Leitgedanken und Grundsätze eines Historischen Wörterbuchs der Philosophie, Zeitschrift für Philosophische Forschung 18 (1964), 704–708; identisch mit derselbe, Leitgedanken und Grundsätze des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), 75–80; HansGeorg Gadamer, Begriffsgeschichte als Philosophie, Archiv für Begriffsgeschichte 14 (1970), 137–151, Nachdruck in: derselbe, Gesammelte Werke, Bd. 2, Tübingen: Mohr 1986, S. 77–91. 3
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geschichtlichen Wörterbuchs, das ab Mitte der 1960er Jahre in die wissenschaftliche Öffentlichkeit trat: Joachim Ritters Historisches Wörterbuch der Philosophie.
I. Als Autor und aufmerksamer Leser der renommierten Monatsschrift Studium Generale. Zeitschrift für die Einheit der Wissenschaften im Zusammenhang ihrer Begriffsbildungen und Forschungsmethoden wird Erich Rothacker Hans Blumenberg mit dessen seit 1951 fast jährlich dort erscheinenden Beiträgen bereits zur Kenntnis genommen haben, als dieser ihm seinen Mimesis-Aufsatz aus dem Mai-Heft 1957 »mit Bezug auf das Archiv für Begriffsgeschichte« schickte. 6 Es kennzeichnet die Interessenlage und eigene Positionierung Blumenbergs, für das erste Jahrzehnt seines wissenschaftlichen Arbeitens nicht ein Fachorgan für Philosophie als Hauptpublikationsort gewählt zu haben, 7 ja nicht einmal eine allgemein geisteswissenschaftlich ausgerichtete, sondern eine interdisziplinäre Zeitschrift mit hohem Anspruch und namhaften Autoren. An diesen Rändern der Philosophie, in den disziplinären Intermundien, war auch das von Rothacker 1955 begründete Archiv für Begriffsgeschichte. Bausteine zu einem Historischen Wörterbuch der Philosophie angesiedelt, das Blumenberg seit seinem ersten Band aufmerksam verfolgte. Für Rothacker ist die Mimesis-Abhandlung Blumenbergs »ein Musterbeispiel dessen, was ich suche und meine, wenn ich sage, dass ein perfektes Wörterbuch der Begriffs-und Problemgeschichte erst die Grundlage liefern werde für das, was man Geistesgeschichte nennt«. 8 Blumenberg sei der richtige Mann, »die ganzen Grundbegriffe der griechischen Geisteswissenschaften heraus-
Hans Blumenberg, »Nachahmung der Natur«. Zur Vorgeschichte der Idee des Schöpferischen Menschen, Studium Generale 10, 5 (1957), 266–283. Im Juli-Heft desselben Jahres erscheint Blumenbergs Studie »Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung«, S. 432–447. 7 Im Fachorgan Philosophische Rundschau publizierte Blumenberg seit 1954 Rezensionen, für den katholischen Hochland. Zeitschrift für alle Gebiete des Wissens und der schönen Künste schrieb er gegen Honorar Besprechungen englischsprachiger Literatur. 8 Rothacker an Blumenberg, Brief vom 31. 1. 1958. Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Hss.-Abt., Nachlass Rothacker, Ro I, Korrespondenz Blumenberg (Durchschlag). 6
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zuarbeiten«, schrieb Rothacker und lud ihn nachdrücklich zur Mitarbeit ein. Blumenberg antwortete postwendend: Kiel-Kitzeberg, den 7. Februar 1958 9 Sehr verehrter Herr R o t h a c k e r, für Ihren Brief habe ich Ihnen sehr zu danken. Man wird mit Reaktionen auf das, was man hinausschickt, in unserem Fache nicht eben verwöhnt. Ihre Zustimmung und die daraus folgende Einladung zur Mitarbeit am Archiv für Begriffsgeschichte sind mir schon deshalb wichtig, weil ich von Anfang an für dieses Unternehmen aus meiner eigenen Arbeitsweise heraus Interesse hatte. Freilich haben mich auch, wie ich gestehen muss, die ersten Publikationen entmutigt [am Rand: !], mich meinerseits um Mitarbeit zu bewerben; eine so abgeschlossen und definitiv auftretende Arbeit wie der Kosmos-Band, 10 dessen Leistung ich bewundere, ermuntert ja nicht gerade dazu, mit eigenem Material hier und da in Lücken einzuspringen, nachzutragen, »Bausteine« zu liefern. Ich finde es – rein feststellend, ohne kritisieren zu wollen – charakteristisch für unsere Situation, daß ein so klar auf summierende und integrierende Arbeit angewiesenes Unternehmen am Ende eben doch aus erratischen Individualleistungen bestehen wird. Ich traue es mir nicht zu, einen Artikel, der mit dem Kosmos-Band in Vergleich treten könnte, zu liefern. [am Rand: NB] Was aber nützt es, Detailarbeit zu machen, wenn nicht gute Aussicht besteht, mit korrespondierenden Beiträgen zusammenzutreffen? Trotzdem, Sie haben mir jetzt einen neuen Impuls gegeben, und ich werde mitmachen. Ich werde aber, sofern Sie es gestatten, fragmentarischer und mit sichtbarer Aussparung der Lücken arbeiten, als das bisher im ARCHIV geschehen ist. Um zu sagen, was ich liefern kann, darf ich ein Wort über meine Arbeitsvorhaben einschalten. Am weitesten gefördert habe ich eine Darstellung der geistesgeschichtlichen Zusammenhänge der kopernikanischen Kosmologie; da »Kosmos« bereits abgerahmt ist, würde hier allenfalls ein Beitrag über »Hypothesis« herausspringen, in weiterer Sicht einer über »Telos, Teleologie«. Die Kopernikus-Arbeit ist aber ihrerseits nur ein Ableger eines Planes, den ich nun seit zehn Jahren im Auge habe und dem ich unbescheidenerweise den Arbeitstitel einer »Geistesgeschichte der Technik« gegeben habe (was herauskommt, wird dann schon bescheidener firmieren!). In diesen Plan gehört auch der Mimesis-Aufsatz, neben anderem, was ich drucken ließ (übrigens auch die Arbeit über Lichtmetaphorik). Hier wäre ich Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Hss.-Abt., Nachlass Rothacker, Ro I, Korrespondenz Blumenberg. Unterstreichungen und Randnotizen im Original stammen von Rothacker. Bettina Blumenberg sei für die Erlaubnis der Wiedergabe dieses Briefes und weiterer Zitate aus der Korrespondenz gedankt. 10 Walther Kranz, Kosmos, Archiv für Begriffsgeschichte 2 (1957). 9
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auch zu begriffsgeschichtlichen Lieferungen disponiert. Gerade da, wo Sie meiner Mimesis-Arbeit mit Recht ankreiden, daß sie noch nicht ganz klar herausgearbeitet habe, nämlich bei dem Thesis-Physis-Komplex, da bin ich, wie ich glaube, inzwischen erheblich weitergekommen, indem ich (anläßlich meiner gerade laufenden Plato-Vorlesung) die Sophistik gerade aufs Korn genommen habe. Einer Begriffsgeschichte von »techne, ars etc.« sehe ich mich zwar noch nicht nahe, aber doch so weit genähert, daß ich weiß, wo und was zu suchen ist; vorher wäre das Material zu »Arbeit, Erfindung, Herstellung« auszubreiten. Nach intimerer Fühlungnahme habe ich Materialien aus den Bereichen »curiositas, novitas, utilitas« begonnen. Aber mein eigentlicher methodischer »Fund« war die Hinzunahme des metaphorischen [am Rand: !] zum terminologischen Ausdrucksfeld; ich habe das zu Anfang des Mimesis Aufsatzes kurz angedeutet. Zum Beispiel ist die Bevorzugung mechanischer vor organischen Metaphern ein wichtiges geistesgeschichtliches Indiz, dem ich nachgehe. Der Höhlen-Exkurs aus dem Lichtmetaphern-Aufsatz ist inzwischen auf ein Vielfaches des dort vorgelegten Materials angeschwollen. Ich arbeite hier mit meinem Schüler Günter Gawlick zusammen, der jetzt Assistent in Köln ist und von dem ich glaube, daß er dem ARCHIV nützlich sein könnte (Dissertation über Ciceros Rezeption von Skepsis und Stoa, in der ein reiches terminologisches Material ausgebreitet ist – Kiel 1956). Hoffentlich habe ich nun nicht den Eindruck erweckt, ich wolle das ARCHIV schon morgen »vollschreiben«. [doch! am Rand]. Aber ich mußte doch andeuten, was überhaupt von mir erwartet werden könnte. Tatsächlich schreibe ich langsam und wenig [am Rand: NB!], (Weshalb mir ein sicheres Ende als »wissenschaftlicher Rat« bevorsteht), es ist also nichts zu befürchten. Ihrem Wunsche, über schon veröffentlichte Arbeiten zu referieren, steht der Umstand entgegen, daß in jedem Falle so viel neues Material aufgelaufen ist, daß ich mit einem bloßen Referat hinter meinem Arbeitsstand weit zurückbleiben würde. Der Mimesis-Artikel würde heute auf weite Strecken ganz anders aussehen müssen; es soll daraus ja eines der zentralen Kapitel der o. a. »Mammut-Untersuchung« werden. Beim Überlesen, sehr verehrter Herr Rothacker, stelle ich fest, daß ich den Eindruck des Größenwahns bei Ihnen nicht verfehlen kann, falls die ironischen Zwischentöne bei Ihnen kein Ohr finden sollten. Aber, wenn mich meine Erinnerung an Sie aus dem Jahre 1948 [am Rand: ?] nicht trügt, haben Sie Humor. Nehmen Sie ihn bitte zur Hand. Mit aufrichtiger Empfehlung Ihr sehr ergebener Hans Blumenberg
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Die Bereitschaft Blumenbergs zur Mitarbeit am begriffsgeschichtlichen Projekt ging einher mit dem Mut zur »Lücke« und der realistischen Einschätzung seiner eigenen beschränkten Möglichkeiten sowie der Einsicht, dass angesichts der Bewältigung immensen Materials brauchbare Ergebnisse eine Koordination vieler Forscher voraussetzten. Genau diese Aufgabe hatte Rothacker seit Jahrzehnten im Auge. Für Rothacker war Blumenberg in der Weite seines philosophiegeschichtlichen Horizontes, der Fragestellungen und der Aufmerksamkeit für die Bandbreite der Ausdrucksmöglichkeiten geistesgeschichtlicher Formationen geradezu ein Hoffnungsträger für sein im Rahmen der Mainzer Akademie wieder aufgenommenes Projekt eines begriffsgeschichtlichen Wörterbuchs. Rothackers Blick auf den ›Untergrund‹ des Begriffs traf sich mit Blumenbergs Blickrichtung. Metaphorische Ausdrucksweisen waren schon in Rothackers Konzept von Begriffsgeschichte ausdrücklich eingeschlossen und von seiner Grundüberzeugung getragen, theoretisches Bewusstsein und dessen sprachliche Artikulation verdanke sich dem vor- und außerwissenschaftlichen Leben. 11 Geistesgeschichtliche Bewegungen könne man nicht terminologisch verengt verstehen, sondern man müsse Terminologiegeschichte mit Metaphernanalysen verbinden, hatte Rothacker schon im Zusammenhang mit seiner Vorstellung des Wörterbuchprojektes 1927 in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Aby Warburg in Hamburg gefordert. 12 Zum Topos ›Buch der Natur‹ hatte Rothacker in grundsätzlicher Kritik am Ansatz von Ernst Robert Curtius weitausholende Sammlungen angelegt und 1946 zum Geburtstag Paul Kluckhohns, seines Herausgeberkollegen der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, vorgetragen, von der Veröffentlichung in der Festschrift aber dann doch abgesehen. Dass diese metapherngeschichtliche Darstellung nach ihrer posthumen Publikation 13 Blumenberg nur enttäuschte, wie er im Einleitungskapitel seiner eigenen Aufbereitung dieVgl. Rothackers letztes Buch, das eine Zusammenfassung seiner lebenslangen begriffsgeschichtlichen Bemühungen sein sollte: Erich Rothacker, Genealogie des menschlichen Bewußtseins. Posthum herausgegeben und eingeleitet von Wilhelm Perpeet, Bonn: Bouvier 1966. 12 Dazu ausführlicher Kranz, Akademie (wie Anm. 3). 13 Erich Rothacker, Das »Buch der Natur«. Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte. Aus dem Nachlaß herausgegeben und bearbeitet von Wilhelm Perpeet, Bonn: Bouvier 1979. 11
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ser Metapher ungewohnt ausführlich darlegt, 14 ist angesichts der kaum in weiteren Fragestellungen eingebetteten Sammlung nicht kontextualisierter Materialien wenig verwunderlich. In der ironisch-distanziert konstatierten »Rivalität um dieses Thema« wird deutlich, dass Blumenberg lange, wenn auch noch nicht bei Abfassung der Paradigmen, Rothackers Metaphern-Interessen als selbstverständlichen Teil von dessen begriffsgeschichtlichem Projekt ansehen konnte und »Bedeutsames« von ihm diesbezüglich erwartet hatte. Rothacker drängte nach der ersten Korrespondenz mit Blumenberg im Jahre 1958 Gadamer, zu der ersten Tagung der von ihnen beiden neu begründeten Senatskommission für Begriffsgeschichte der DFG Blumenberg einzuladen, weil von dem jungen Gelehrten »Gutes zu erwarten« sei. Für diese kurzfristig improvisierte Tagung, auf der Blumenberg die Metaphorologie der Paradigmen vortrug, gab es keinerlei Vorgaben, gegen die Blumenberg sich hätte absetzen können. Im Gegenteil, der metaphorologische Vortrag war der erste und blieb in diesem Arbeitszusammenhang der einzige programmatische zur Begriffsgeschichte. 15 Rothacker bot mit unverhohlener Begeisterung (»Ihr Studium Generale Aufsatz und Ihr Vortrag waren das Beste, was mir in den letzten Jahren auf philosophiegeschichtlichem Gebiet begegnet ist.« 16 ) sein Archiv für Begriffsgeschichte als Publikationsforum an. Blumenberg bezog das stattliche Honorar von 640 DM – eine äußerst willkommene Einnahmequelle für den unbesoldeten außerplanmäßigen Professor – und erhielt die ungewöhnliche Zusage für Sonderdrucke in eigener Bindung. Gadamer arbeitete seinen Vortrag für dieselbe Tagung über ›Common Sense‹ zu einem begriffsgeschichtlichen Kapitel in Wahrheit und Methode aus, das dann gleichzeitig mit den Paradigmen erschien.17 Sieht man von Rothackers knapp gehaltenen unprogrammatischen Ankündigungen eines begriffsgeschichtlichen Wörterbuchs ab, so muss man Blumenbergs Vorstellung der Metaphorologie als erstes theoretisches Programm der Begriffsgeschichte der Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981 [2 1983], S. 12–15, hier S. 13 f. 15 Vgl. dazu Darstellung und Dokumente bei Kranz, Senatskommission (wie Anm. 2). 16 Brief von Rothacker an Blumenberg vom 3. 9. 1958, Nachlass Rothacker, ULB Bonn, Hss. Abt. Ro I. 17 »1960 wird so zum Stichjahr für das Einsetzen der begriffsgeschichtlichen Bewegung.« Hans-Ulrich Gumbrecht, Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München: Wilhelm Fink 2006, S. 13, Anm. 5. 14
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Nachkriegszeit ansehen. Blumenbergs spätere Aussage, die Metaphorologie sei »im Dienst der Begriffsgeschichte« entstanden, ist nicht nur systematisch, sondern durch den institutionellen Rahmen der Entstehung wörtlich gemeint. 18 In der an den Vortrag Blumenbergs anschließenden Diskussion in dem kleinen Arbeitskreis 19 gab es keine grundsätzlichen Demarkationen gegenüber einer möglicherweise anders verstandenen Begriffsgeschichte; doch der Ansatz der Metaphorologie blieb für das begriffsgeschichtliche Arbeiten der Folgezeit, bei den folgenden Tagungen der Senatskommission für Begriffsgeschichte unter Blumenbergs engagierter Beteiligung und auch in Blumenbergs eigenen Arbeitszusammenhängen dieser Zeit, weitgehend folgenlos. Metaphorische Ausdrucksweisen oder die Bildlichkeit in der Etymologie von Begriffen wurden berücksichtigt, wenn es sich ergab, doch man griff dabei auf keine methodologische Reflexion zurück. Blumenbergs Metaphorologie verhallte im begriffsgeschichtlichen Arbeitskontext wie auch bei ihm selbst über ein Jahrzehnt ohne Resonanz. Die philosophische Begriffsgeschichte der 1960er Jahre operierte in der Aufarbeitung historischer Materialien ohne eine Theorie recht freihändig in der Linie der Vorgaben Rothackers, mit denen Blumenberg übereinstimmte. Will man jenseits von Blumenbergs eigenen Äußerungen in den Paradigmen seine Metaphorologie zur Begriffsgeschichte in Beziehung setzen, muss man dieses beidseitige theoretische Vakuum der 1960er Jahre zur Kenntnis nehmen, das nicht in der Philosophie, sondern in der Geschichtswissenschaft durch das begriffsgeschichtliche Unternehmen von Werner Conze und Reinhart Koselleck (Geschichtliche Grundbegriffe) aufgebrochen wurde. Das Verhältnis zwischen Rothacker und Blumenberg ging in der gegenseitigen großen Sympathie über eine kollegiale Wertschätzung deutlich hinaus, wie der freimütige Briefwechsel zeigt. Rothackers Betreiben verdankte Blumenberg seine Mitgliedschaft in der Mainzer Akademie, in die er 1960 aufgenommen wurde (in Konkurrenz zu Joachim Ritter, der erst drei Jahre später gewählt wurde). Umgekehrt Hans Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: derselbe, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 86. Anselm Haverkamp in Mende, Haverkamp, Metaphorologie (wie Anm. 1), S. 241 unterstellt Blumenberg zu Unrecht, dass er »nachträglich das alte Vorhaben umstandslos (als wäre es gescheitert) der Begriffsgeschichte zuordnet«. 19 Protokoll abgedruckt bei Kranz, Senatskommission (wie Anm. 2), S. 189–193. 18
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konnte Rothacker sich der Loyalität seines Protegés über den Tod hinaus sicher sein: Blumenberg übernahm 1965 dessen Kommissionsvorsitz und in dieser Funktion beinahe ein Jahrzehnt lang eine institutionelle Verantwortung für das Archiv für Begriffsgeschichte. Es dürfte unter den pflichtschuldigen Würdigungen auf ein verstorbenes Mitglied der Akademie wohl keine geben, die mit solch feinsinniger Empathie nicht nur dem Wissenschaftler, sondern der ganzen Persönlichkeit gerecht wird wie Blumenbergs Nachruf auf Erich Rothacker. 20
II. Bis in die 1970er Jahre hinein bezeichnet Blumenberg in seinen Schriften und seiner Korrespondenz seine Studien immer wieder als »begriffsgeschichtlich«; es gibt nicht die geringsten Anzeichen dafür, den Gebrauch dieses Wortes anders zu verstehen, als er im Blick auf das Archiv für Begriffsgeschichte üblich war, nämlich als philologisch-historischer Aufweis historisch sich wandelnder Semantiken von Terminologien in problemgeschichtlicher Perspektivierung. Die ersten Bücher Blumenbergs durchziehen, en passant oder argumentativ zentral, eine Fülle von Bemerkungen zu Bedeutungsverschiebungen, Bedeutungsnuancen oder Etymologien. Der Darstellung einer zweifachen Umwertung des Begriffs ›Neugier‹ wird in Die Legitimität der Neuzeit ein eigener Teil, in der zweiten Auflage ein eigener Band in der Analyse des Epochenumbruchs der Moderne gewidmet. Die Begriffsgeschichte kann man mit gutem Recht als das wichtigste methodische Hilfsmittel von Blumenbergs geschichtsphilosophischen Beweisführungen ansehen. Blumenbergs institutionelle Funktion an der Mainzer Akademie als Nachfolger Rothackers führte zu einer teilnehmenden Mitgestaltung am Archiv für Begriffsgeschichte. 21 Bis zu seinem Rücktritt 1974 machte er Vorschläge zu Themen, zu Beiträgern und zu Rezensionen, ließ sich auch unabhängig vom alljährlichen Bericht für das Jahrbuch
Hans Blumenberg, Nachruf auf Erich Rothacker, gehalten am 29. 4. 1966, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Stuttgart: Steiner 1966, S. 70–76. Zu den institutionellen Vorgängen im Zusammenhang der Akademie vgl. Kranz, Akademie (wie Anm. 3). 21 Dazu ausführlicher Kranz, Akademie (wie Anm. 3). 20
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die Planung jedes Bandes vorlegen und sah den fertigen Umbruch korrigierend durch. Art, Umfang und Dauer dieses Engagements lassen es kaum zu, es ausschließlich als pflichtschuldig anzusehen, wenngleich Blumenberg rückblickend, nach seinem Abschied von der Begriffsgeschichte, es selbst gelegentlich so erscheinen ließ. Wenn man neben der Förderung der methodologischen Diskussion in diesem Rahmen eine Richtung des eigenen Anliegens seiner Bemühungen ausmachen kann, dann ist es die Einbeziehung der Naturwissenschaften in die begriffsgeschichtliche Arbeit. Nie – auch nicht nach ausdrücklichen Aufforderungen – wird von ihm die Metaphorologie weiter thematisiert; seine eigenen Interessen waren von anderen Themen als der Metaphorologie absorbiert. Der durchgängige Briefkontakt mit dem verantwortlichen Schriftleiter und späteren Herausgeber des Archivs, Karlfried Gründer (der später Ritter als Herausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie nachfolgen sollte), gibt, zumal in der Anfangszeit der Neugestaltung nach Rothackers Tod Mitte der 1960er Jahre, einen Blick frei auf Blumenbergs eigene Positionierung und seine begriffsgeschichtliche Arbeitstechnik. Gründer regte für die Neugestaltung des Archivs in expliziter Anknüpfung an die Publikation der Paradigmen im selben Organ methodologische Diskussionen an, in denen unterschiedliche Positionen einander gegenübergestellt werden sollten, damit sich, angesichts bislang fehlender genauer Umrisse von ›Begriffsgeschichte‹, perspektivisch ein Verständnis ihrer Verfahrensweise herausbilden konnte. Gründer glaubte vom Hörensagen aus der Senatskommission der DFG entgegengesetzte Positionen zwischen problem- und wortgeschichtlichen Ansätzen, so zwischen dem Romanisten Fritz Schalk und Blumenberg, ausmachen zu können. Blumenberg sollte deshalb einen Beitrag zu »Begriffsgeschichte als Problemgeschichte« schreiben, dem wiederum ein Beitrag von Fritz Schalk »Begriffsgeschichte als Wortgeschichte« gegenübergestellt werden sollte. 22 Blumenberg wandte sich in seiner Antwort an Gründer (24. August 1966) nicht nur gegen die Festlegung seiner Arbeiten als »problemgeschichtliche« sondern auch gegen eine derartige Entgegensetzung: Soweit meine begriffsgeschichtlichen Arbeiten als Handbuchartikel erschienen sind, scheint es mir selbst so, daß sie die Identifizierung mit der ProblemDer Briefwechsel zwischen Karlfried Gründer und Hans Blumenberg befindet sich im Redaktionsarchiv des Archivs für Begriffsgeschichte.
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geschichte bestätigen. Aber bei diesen unseligen Arbeiten schließt schon die Enge des vorgeschriebenen Raums ein mehr zur Wortgeschichte tendierendes Verfahren wegen seiner raumfressenden Bedürfnisse aus. Ich glaube also nicht, daß etwa meine RGG-Artikel repräsentativ sind für das, was mir vorschwebt. Dem Ideal des Verfahrens nach stehe ich eigentlich auf der Seite von Herrn Schalk; es wäre schön, wenn es mit dem Nachweis des Auftretens bestimmter Ausdrücke wenigstens als dem Leitfaden der Arbeit ginge. Aber die historischen Dokumente, die uns verfügbar sind, sind nun einmal nicht so. Jeder, der anhand eines einigermaßen guten Index für einen Autor begriffsgeschichtliches Material sammelt, bemerkt das sehr schnell. Eine an der Wortgeschichte orientierte Begriffsgeschichte kommt sehr bald in die Verlegenheit einer erschreckenden Diskontinuität, deren Lücken das Postulat doch wohl auch der Begriffsgeschichte, Zusammenhänge und Wandlungen zugänglich und verstehbar zu machen, unerfüllbar werden lassen. Ich werde im Spätherbst im Zusammenhang meines Buches über die ›Legitimität der Neuzeit‹ eine sehr umfangreiche Begriffsgeschichte von curiositas vorlegen; zu keinem anderen begriffsgeschichtlichen Unternehmen habe ich solange und intensiv Materialien angesammelt, und doch glaube ich, daß ohne die Orientierung an der Begriffsgeschichte und eine Projektion des Materials auf die Ebene der Begriffsgeschichte der Anspruch, den ich mir gestellt habe, noch hoffnungsloser unerfüllt geblieben wäre.
Blumenberg sieht das Dilemma klar: Für die Beantwortung einer umfassenden philosophiehistorischen Fragestellung (wie die der ›Moderne‹) gibt eine begriffsgeschichtlich orientierte Engführung einen hilfreichen Leitfaden an die Hand, ohne den man sich im Dickicht hoffnungslos verlöre. Ein wortgeschichtliches Vorgehen erschwert jedoch durch Heterogenität einerseits und die Lückenhaftigkeit des Materials andererseits die eindeutige Profilierung einer Antwort. Mit anderen Worten: Die Kluft zwischen dem – idealiter vollständig – erhobenen Sprachbefund in seiner semantischen Diversität und Mannigfaltigkeit und der intendierten linearen philosophiehistorischen »Narratio« ist schwer überbrückbar. 23 Blumenberg selbst dokumentiert dies im Umgang mit seinem Material für ›curiositas‹, das er für seine Theorie der Epochenschwelle zur Moderne nutzbar machte. (Die Anregung dazu gab nach seinem eigenen Bekunden eine Äußerung Rothackers.) Der Prozess der theoretischen Neugierde zeigt, wie er in dieser Schwierigkeit laviert, d. h. In den Paradigmen, zu Beginn des III. Kapitels, war das Problem thematisiert; die Lösung wurde in einer Verschränkung von »Längsschnitten« und »Querschnitten« gesehen.
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wie er aquarellartig ein Profil widerstrebender Bedeutungen mit einem großen Pinselstrich ›verwischt‹ oder aber auch den aquarellierten Schemen mit dem feinen Federstrich präziser Philologie an einigen Stellen klare und deutliche Konturen einschreibt: Die begriffliche Engführung von ›curiositas‹ auf die Bedeutung ›theoretische Neugierde‹ erlaubte ihm beispielsweise schon für die Antike ein Ausblenden des negativ konnotierten sozialen Verhaltens und die These einer mit Augustinus einsetzenden »Umprägung«. Die Beweisführung erfordert ihren Preis in der Selektion des Materials, das, anders gewichtet oder differenziert, auch andere Ergebnisse bekräftigen würde. 24 Aufschlussreich ist die Erklärung, mit der Blumenberg wenige Jahre nach Veröffentlichung der Legitimität der Neuzeit »der Begriffsgeschichte«, also der begriffsgeschichtlichen Forschung im Archiv für Begriffsgeschichte, weitere Materialien zu ›Neugier‹ »zurückgab«: Der Begriffsgeschichte bleiben Materialien zurückzugeben, die unter den Kriterien einer geschichtsphilosophischen Erörterung beiseite gelassen werden konnten. Die Begriffsgeschichte ist eine Hilfsdisziplin, die in den Konfigurationen ihres Materials zwar ständig Fragestellungen entstehen läßt, aber gerade nicht in diesen aufgeht oder durch sie vorgreifend definiert werden kann. Insofern stellen die folgenden Supplemente zu curiositas auch eine Reduktion des Themas auf seine begriffsgeschichtliche Dienstbarkeit dar. 25
Die Begründung für die Auslassung von Material zu Maupertuis, Alexander von Humboldt und Feuerbach lässt in ihrem leicht manierierten Ausdruck offen, ob es sich um die Rechtfertigung eines Versäumnisses handelt, das jetzt in reduzierter Form, ohne die geschichtsphilosophische Perspektivierung, nachgeholt wird, oder ob die nachgetragenen Ausführungen bewusst im Buch »beiseite gelassen« worden waren, weil sie nicht »aufgingen« in der Antwort auf die Fragestellung der Legitimität der Neuzeit, und nun als Restetafel weiterer Bedienung (»begriffsgeschichtliche Dienstbarkeit«) zur Verfügung gestellt werden. Als die Neuauflage des Buches anstand, »passte« das der BegriffsDas zeigen neuere Forschungen auch in Kritik an Blumenberg: Neil Kenny, Curiosity in Early Modern Europe. Word histories, (Wolfenbütteler Forschungen; 81) Wiesbaden: Harrassowitz 1998. Derselbe, The Uses of Curiosity in Early Modern France and Germany, Oxford: Oxford University Press 2004. Richard Newhauser, Towards a history of human curiosity: A prolegomenon to its medieval phase, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), 559–579. 25 Hans Blumenberg, Neugierde und Wissenstrieb. Supplemente zu curiositas, Archiv für Begriffsgeschichte 14 (1970), 7–40, hier S. 7. 24
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geschichte zurückgegebene Material dann jedenfalls doch so gut, dass es textlich gänzlich unverändert – von einigen Übersetzungen lateinischer Zitate abgesehen – in den alten Text mit seiner Fragestellung an den entsprechenden chronologischen Stellen eingegliedert werden konnte. 26 Auch Blumenberg ist die Zirkularität der begriffsgeschichtlichen Fundierung einer geschichtsphilosophischen Narratio nicht entgangen, die als ›Herrin‹ über die Dienstbarkeit der Begriffsgeschichte verfügt, verwirft oder annimmt, wie es eben »passt«. Er hat dieses Dilemma jeder Historiographie jedoch kaum in Richtung auf einen methodologisch reflektierten Umgang mit begriffsgeschichtlichen Materialien weiter analysiert. Wenn Blumenbergs eigenes begriffsgeschichtliches Arbeiten nach den Paradigmen, in der Zeit der Entstehung seiner beiden ersten großen Bücher, durch ein Problem belastet ist, dann ist es das des historiographischen Verlaufsprofils, und nicht das der Inklusion einer Metaphorologie in die Begriffsgeschichte oder deren Abgrenzungen von einander. Die Begriffsgeschichte ist, für Blumenberg wie für Rothacker selbstverständlich, eine philosophiehistorische Hilfswissenschaft; sie ist nützlich und dienstbar beim Erfassen historischer Formationen und ihrer Wandlungen und gehört zur Hermeneutik von »Weltbildern«. Das Problem dieser Dienstbarkeit zwischen Ancilla und Serva padrona markiert die Differenz zwischen positivistisch-historistischer Aufdeckung von Begriffssemantiken und einem interessegeleiteten »geschichtsphilosophischen« Blick. Blumenberg hat dieses methodologische Problem in seinen eigenen Arbeiten mit der ihm eigenen Darstellungsform übersprungen und damit auf seine Weise gelöst. Die reine Dienstbarkeit der Begriffsgeschichte zeigt sich jedoch idealiter in der Form eines Lexikons, das das geordnete Material jedweder weiteren Fragestellung zur Verfügung stellt. Ein Lexikon für Begriffsgeschichte wäre die Erfüllung ihrer Dienstbarkeit.
26 Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit, 3. Teil, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 219–230 und 254–267 sind die Kapitel II–IV aus Blumenberg, curiositas (wie Anm. 25).
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III. Bis 1971 ist für Blumenberg der Referenzrahmen von ›Begriffsgeschichte‹ der von Rothacker im Archiv für Begriffsgeschichte etablierte und in dessen Sinne weiter gepflegte. 27 »Mit dem Erscheinen des ersten Bandes des ›Historischen Wörterbuchs der Philosophie‹ hat sich die Situation für die begriffsgeschichtliche Forschung verändert.« 28 Mit diesem Satz unmittelbar nach Erscheinen des Werkes leitet Blumenberg nicht etwa eine Eloge auf eine neue hoffnungsvolle Ära für die Begriffsgeschichte ein, sondern die allenfalls höflich verkappte Kritik, dass dergleichen Erwartungen bei dem neuen Wörterbuch unerfüllt bleiben. Seitdem Joachim Ritter 1964 die Leitgedanken des Projektes einer Überarbeitung des Eislerschen Wörterbuchs veröffentlicht hatte – ein erweiterter Separatdruck dieser programmatischen Überlegungen mit einem zweiten Teil zur Auswahl und Gestaltung der Artikel wurde in einer aufwändigen Mappe vom Schwabe Verlag den hundertfachen Einladungen für Autoren beigelegt –, hatte das neue Flaggschiff der Begriffsgeschichte Fahrt aufgenommen. 29 Blumenberg hatte eine Mitwirkung mit Hinweis auf seine eigenen künftigen Projekte abgelehnt, obwohl die Liste der ihm angetragenen Artikel ausschließlich seinen eigenen Forschungen angepasst war (z. B. ›Nachahmung der Natur‹, ›Mimesis‹, ›Kopernikanische Wende‹, aber auch ›Metapher‹ und ›Metaphorologie‹, ›Technik‹ und ›Technologie‹, ›Höhlengleichnis‹ und ›Die Dichter lügen‹) und den Autoren am Schluss der Leitgedanken in der Autorenmappe ausdrücklich zugestanden wird, dass sie »verantwortlich je aus dem Zusammenhang ihrer eigenen Fragestellung und Forschung in diese [sc. Artikel] einbringen, was ihnen jeweils sachlich und geschichtlich wesentlich ist«. 30 Seine Materialien zu ›Neugier‹ stelle er Karlfried Gründer nimmt die Rothackerschen Vorgaben in seinem »Bericht« bei der Übernahme des Archivs für Begriffsgeschichte auf: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Stuttgart: Steiner 1967, S. 74–79. 28 Hans Blumenberg, Beobachtungen an Metaphern, Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), 161–214. 29 Ritter, Neufassung /Leitgedanken (wie Anm. 5). 30 Genau dies kritisiert später Blumenbergs Schüler Manfred Sommer im Hinblick auf viele Artikel des ersten Bandes des Historischen Wörterbuchs der Philosophie: Manfred Sommer, Kritische Anmerkungen zu Theorie und Praxis begriffsgeschichtlicher Forschung, Archiv für Begriffsgeschichte 16 (1972), 227–244, hier S. 230. 27
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gerne zur Ausbeutung für einen Artikel zur Verfügung. 31 Auch als Gründer ihn später für den Artikel ›Gott‹ (8 Seiten), der doch auch das unthematische Ziel seiner Arbeiten sei, zu gewinnen suchte, lehnte er mit denselben Gründen ab: Die jahrelange Arbeit an den von mir für die RGG übernommenen Artikeln empfinde ich noch heute als dunkle Erinnerung an eine meine Arbeitskraft lange absorbierende und die Freiheit für andere Unternehmungen behindernde Aufgabe. […] Die Ermunterung zum Verzicht auf Perfektion hätte mich bei der Vorbereitung der RGG-Artikel noch getröstet; aber es gibt wohl eine Altersgrenze, an der man beginnt, nicht mehr daran zu glauben, daß man bestimmte Fragen im Vorläufigen lassen könne, weil man sie ohnehin noch einmal aufnehmen würde. Man beginnt seine Jahre ökonomisch zu verwalten, ohnehin unter der Hypothese, daß es noch ›einige‹ sein könnten. […]. Aber wenn ich sage, daß gerade diese Arbeit [sc. Art. ›Gott‹] das letzte wäre, was ich jetzt machen kann und will, so bedeutet dies: erstens nicht als Handbuchartikel unter den Qualen der Opfer des Prokrustes, und zweitens zwanzig Jahre später, wenn es mir vielleicht gelungen ist, die jetzt noch unthematischen Motive, von denen Sie sprechen, thematisiert zu haben. 32
Blumenbergs Absage, am Historischen Wörterbuch der Philosophie selbst mitzuwirken, war höflich arbeitsökonomisch formuliert. Die nachvollziehbare Prioritätensetzung milderte das härtere Urteil ab, dass die Arbeit am Wörterbuch Zeitverschwendung sei. Aus seiner Skepsis gegenüber dem gesamten Unternehmen hatte Blumenberg nie einen Hehl gemacht und nach eigenem Bekunden auch den Kollegen Ritter selbst eindringlich davon abzuhalten versucht, die Arbeitsund Lebensenergien für ein derartiges Projekt zu vergeuden, das unmöglich zum Abschluss zu bringen sei. 33 Auch nach Erscheinen der ersten Bände hielt Blumenberg an der Überzeugung fest, das Lexikonprojekt sei zum Scheitern verurteilt – kein anderes Wort wird vom ihm in diesem Zusammenhang häufiger benutzt. Vor dem vorausgesagten »Scheitern« des Lexikons suchte Blumenberg sich auch institutionell 31 Brief Blumenbergs an Ritter vom 18. 1. 1965 (Kopie im Redaktionsarchiv des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, FU Berlin). Die Einladung Ritters vom 15. 8. 1964 wird zitiert bei Kranz, Akademie (wie Anm. 3), S. 155, Anm. 161. Der Artikel »Neugierde« ist tatsächlich als eine Zusammenfassung der Monographie Blumenbergs von dem Gießener Germanistik-Studenten Götz Müller verfasst worden und später für den Druck (1984) durch einen redaktionellen Teil ergänzt worden. 32 Blumenberg an Gründer, Brief vom 24. August 1966. Redaktionsarchiv Archiv für Begriffsgeschichte. 33 Zitiert bei Kranz, Akademie (wie Anm. 3), S. 156.
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innerhalb der Mainzer Akademie abzuschirmen, indem er vor einer 1973/74 bevorstehenden Einbindung des bislang durch die DFG geförderten Unternehmens unter das Dach der Akademie und damit der von ihm geleiteten »Kommission für Philosophie« auf jeden Fall sichergestellt haben wollte, selbst in keinerlei Verantwortung für dieses Projekt einbezogen zu werden. 34 Ritter hatte in seinen »Leitgedanken« von 1964 die Paradigmen Blumenbergs in der anticartesianischen Wendung ihres Einleitungskapitels vereinnahmend zitiert; für eine eigene Erwähnung von Metaphern oder eines Verzichts auf diese hatte er offensichtlich keine Veranlassung gesehen. 35 Artikel zu Metaphern oder Begriffen mit metaphorischem Hof sind in der Realisierungszeit zwischen 1965 und 1970 für das gesamte Alphabet erarbeitet worden und später auch zum großen Teil erschienen. 36 Im »Vorwort« zum Werk von 1971 – einer zweckentsprechenden Bearbeitung der »Leitgedanken« – ist im programmatischen ersten Teil die Erwähnung Blumenbergs entfallen; im neugestalteten zweiten Teil zu Artikelart und Artikelanlage und nicht etwa im ersten Teil im systematischen Zusammenhang der Begründung, welche Termini aufgenommen werden sollten, 37 ist in einem eigenen Absatz mit ausschließlichem Bezug auf Blumenberg zu lesen, man habe nach reiflicher Überlegung, aus der Einsicht heraus, dass das Wörterbuch auf diesem Felde »überfordert« wäre, auf die Berücksichtigung von Metaphern verzichtet, um sich nicht mit »unzureichenden Improvisationen« begnügen zu müssen. 38 Diese Äußerung ist Diese Vorgänge sind dargestellt bei Kranz, Akademie (wie Anm. 3). Ritter, Neufassung (wie Anm. 5), S. 706; derselbe, Leitgedanken (wie Anm. 5), S. 78. 36 Stoellger, Metapher (wie Anm. 4) bemerkt, wie viele andere auch, dass der »Verzicht de facto mitnichten durchgehalten wurde«, und listet S. 98 akribisch alle Artikel auf, die nach seinem (weiten) Verständnis als Metaphern gelten. 37 »Der Herausgeberkreis ist davon ausgegangen, daß eine zu enge Begrenzung nicht wünschenswert sei, auch wenn er sich so gelegentlich dem Einwand aussetzen mag, den Kreis dessen, was philosophisch bedeutsam ist, zu weit gefaßt zu haben.« So sind asiatische Begriffe aufgenommen, die »künftig in einer globalen Philosophie eine Rolle spielen könnten«. Joachim Ritter, Vorwort, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel: Schwabe 1971, S. VI f. 38 Ebd., S. VIII. Bezeichnenderweise meinte auch Reinhart Koselleck, nach dem Abschluss seines eigenen begriffsgeschichtlichen Lexikons der Geschichtswissenschaft zwanzig Jahre später, eine Einbeziehung von Blumenbergs metaphorologischem Ansatz hätte das Werk »überfordert«: Reinhart Koselleck, Vorwort, in: Otto Brunner (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S. VIII. 34 35
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der wohl am häufigsten zitierte und missverstandene Satz aus Ritters Vorwort. Aber auch wenn bei der Planung der Nomenklatur selbstverständlich Metaphern, und zwar absolute, lebendige und tote, einbezogen waren und entsprechende Artikel geschrieben und auch gedruckt wurden und allenfalls auf eine große Anzahl ursprünglich vorgesehene Stichwörter ›verzichtet‹ wurde, so spielte doch Blumenbergs spezifischer Ansatz zu metaphorologischen Analysen bei den Überlegungen zur Konzeption des Wörterbuchs keine tragende Rolle – im Gegensatz zu Gadamers zeitgleich erschienener Hermeneutik 39 – und war in konkreten Artikeln bei der relativ freien Gestaltung durch einzelne Autoren auch nicht einfachhin einzubeziehen. Ritters Bemerkung zu Blumenberg erinnert nicht nach einem Jahrzehnt an eine wichtige konzeptionelle Entscheidung zu Beginn des Projektes, die vorher in den »Leitgedanken« versehentlich unerwähnt blieb, sondern entschuldigt im Nachhinein mit Pragmatismus und »Überforderung« den gänzlichen Verzicht auf das Angebot der Dienste der Metaphorologie für die Begriffsgeschichte. Die Frage ist weniger, warum diese Dienste bei der Realisierung des Wörterbuchs nicht zu brauchen waren – die Antwort ist pragmatisch evident, und Blumenberg stimmt dem vorbehaltlos zu –, sondern vielmehr, warum Ritter dieses erst sieben Jahre nach den »Leitgedanken«, zum Zeitpunkt der Drucklegung, bei der (vermeintlich kurz bevorstehenden) Fertigstellung des Projektes, in seinem Vorwort erwähnte. In der Zwischenzeit hatte sich weder die Metaphorologie in den Vordergrund begriffsgeschichtlicher Arbeit geschoben noch auch Blumenberg selbst Ansätze zu einer Wiederbelebung derselben gezeigt. Aber Blumenberg hatte sich zwischenzeitlich energisch dem Ritterschen Projekt verweigert, in dem es ihm freigestanden hätte, in seinem Sinne metaphorologisch zu arbeiten. Ritter musste deutlich geworden sein, dass sich Blumenberg mit seinem Ansatz in den Paradigmen für das Wörterbuch nicht einfach vereinnahmen ließ, aber auch nicht einfach übergangen werden konnte. Blumenberg stand – auch wenn er durch seine Arbeitsweise ein Außenseiter in der Philosophiegeschichtsforschung war – seit 1965 selbst im Regiezentrum der begriffsgeschichtlichen Forschung als Kommissionsvorsitzender in der Mainzer Akademie und war durch das Archiv für Begriffsgeschichte mit dem Arbeitsfeld Ritters und Gründers eng verwoben und zudem seit 1970 in Münster, wo das Wörter39
Vgl. dazu auch Lassen, Metaphorically speaking (wie Anm. 1), S. 58 f. A
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buch entstand, als Ritters Nachfolger anwesend. Die Sätze Ritters im »Vorwort« mit der erstmaligen Erwähnung von Blumenbergs metaphorologischem Ansatz richten sich in ihrer diplomatischen Klugheit an den, auf dessen Wohlwollen man für den weiteren Fortgang institutionell angewiesen sein wird; sie sind als Reverenz zu lesen, aber auch als würdigende Wiedergutmachung oder zumindest Schadensbegrenzung für die Mißachtung eines Ansatzes, der für ein derartiges Wörterbuch nicht zum Tragen kommen konnte. 40 Blumenberg, auch von anderen Verbeugungen vor ihm in dem Band unbeeindruckt, 41 spiegelt ironisch die »Entscheidung« der Herausgeber, ist aber auf diese Exposition seiner Metaphorologie in dem neuen begriffsgeschichtlichen Werk mit einer neuen Selbstpositionierung herausgefordert. Nur auf die Rechtfertigung Ritters, ›keine‹ Metaphern in die Nomenklatur aufgenommen zu haben, reagiert er lapidar mit einem Satz: Der Grund für den Verzicht auf Metaphern leuchte ihm ein und er habe keine Kritik dagegen vorzubringen. Bei der Planung des Wörterbuchs, das die Dienstbarkeit der Metaphorologie in der Konzeption ignorierte, war Blumenberg bewusst Zuschauer geblieben: »Der Zuschauer ist definiert durch die Kunst, sich herauszuhalten. Deshalb genießt er die Anstrengung der dramatisch-szenischen Akteure, ihn hereinzuziehen: als vergebliche.« 42 Als das Wörterbuch mit dem ersten Band vorlag, in dem er mit seiner Position als ein mit guten Gründen Exkludierter angeführt wurde, äußerte er sich aus exzentrischer, aber nicht unbetroffener Position zum einzigen Mal als kritischer Beobachter. 43 Die Verschiebungen Ritters von den »Leitgedanken« (1964) zum »Vorwort« (1971) bedeuteten eine Marginalisierung des inzwischen verstorbenen Rothacker und eine Aufwertung Gadamers und Blumenbergs, obwohl der »Sachstand«, also die veröffentlichten Äußerungen zur Begriffsgeschichte, unverändert geblieben ist. 41 Das Stichwort »Anthropodizee« (Autor: H. J. Sandkühler) dient ausschließlich dem ausführlichen Referat der Thesen von Blumenbergs frisch erschienenem Buch Die Legitimität der Neuzeit. Damit war Blumenberg als einziger seiner Generation mit einem eigenen Stichwort im ersten Band des Historischen Wörterbuchs der Philosophie präsent. Auch sein erstes Buch von 1965 und die meisten seiner Aufsätze werden schon im ersten Band ausgiebig angeführt; sein Name ist weitaus häufiger genannt als der Ritters oder die der Mitherausgeber, Gadamers oder Rothackers. 42 Hans Blumenberg, Wie man Zuschauer wird, in: derselbe: Ein mögliches Selbstverständnis: Aus dem Nachlaß, Stuttgart: Reclam 1997, S. 93. 43 »Lokalisierung des Beobachters« ist die Überschrift der Kurzkritik am Wörterbuch und der daran anschließenden Wiederaufnahme der metaphorologischen Reflexionen, also quasi die ›Einleitung‹ zu den »Beobachtungen«, deren erste mit Schiffbruch mit Zuschauer textlich anschließt. So ergibt sich noch die zusätzliche Pointe, dass der kriti40
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Blumenbergs Kritik am ersten Band des Historischen Wörterbuchs der Philosophie zielt erstaunlicherweise überhaupt nicht auf Metaphorisches, sondern einzig darauf, dass es einen begriffsgeschichtlichen Anspruch nicht erfüllt. 44 Wenn die Begriffsgeschichte in der Aufwertung des Geschichtlichen als das Gegenprogramm zum cartesianischen Ideal der eindeutigen Terminologie gedacht ist, dann ist das Rittersche Wörterbuch nach Blumenberg zu wenig begriffsgeschichtlich geworden und zu ›cartesianisch‹ geblieben. Dies mochte der Pragmatik eines allgemeinen philosophischen Wörterbuchs geschuldet sein, das in großem Umfang auch die »Artikel einer thetisch-konstruktiven Begrifflichkeit« berücksichtigen musste. Doch spitz fragt Blumenberg nach dem Kriterium, nach dem die Begriffe, »für deren Funktion die Herauslösung aus der Geschichte konstitutiv ist« (so das Zitat Ritters aus dem »Vorwort« zum Werk), von denen zu unterscheiden sind, für die eine historische Darstellung »für das Verständnis eines Begriffes notwendig und konstitutiv sei«. »Die Beweislast für den Ertrag ist ungleich verteilt, und sie scheint ungünstig für den historischen Aspekt zu liegen.« 45 Schon rein quantitativ ist für Blumenberg der begriffsgeschichtliche Ertrag dieses Wörterbuchs enttäuschend. Ein Lexikon, dessen Aufgabe es explizit nicht ist, »zwischen einer ›cartesianischen‹ und einer geschichtlichen Philosophie Stellung zu nehmen«, 46 zeigt damit selbst die Überforderung durch die Begriffsgeschichte an. In einer Schärfe, die kaum ein anderer Rezensent des neuen Nachschlagewerkes an den Tag legte, moniert Blumenberg aber auch qualitativ die Beliebigkeit eines begriffsgeschichtlichen Artikels, die er ausgerechnet im Artikel »Begriffsgeschichte« – übrigens überhaupt der erste historische Überblick dieser Art, der ausgiebig die aktuelle Lage referiert und Blumenbergs Einlassungen bis hin zu seinen Akademieberichten berücksichtigt – besonders scharfzüngig geißelte: »Zwischen den Grenzwerten des ›Sub‹(sidiarischen) und des ›Inter‹(disziplinären), der Inkompetenz und der Allkompetenz wird eine Durchfahrt angepeilt, für die beinahe jeder andere Artikel den Vorschlag einer Kurskorrektur impliziert.« 47 Wohl kaum ein begriffsgeschichtlicher Artikel sche Beobachter des Wörterbuchs am sicheren Gestade als Zuschauer eines Dramas des Scheiterns assoziiert werden kann. 44 Blumenberg, Beobachtungen (wie Anm. 28), S. 161–163. 45 Ebd., S. 162 f. 46 Ritter, Vorwort (wie Anm. 37), S. VII; derselbe, Leitgedanken (wie Anm. 5), S. 4. 47 Blumenberg, Beobachtungen (wie Anm. 28), S. 163, Anm. A
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des Wörterbuchs wäre von diesem Urteil ausgenommen. Man darf vermuten, dass Blumenberg, der besessene Leser und Zitatensammler, für die ihn interessierenden Stichworte reichhaltigeres Material zur Verfügung hatte als die knappen Artikel der ersten Bände des Werkes bieten konnten. Doch von der Kritik an den »Peilungen« der Autoren wären seine eigenen geschichtsphilosophischen Erzählungen auch kaum ausgenommen gewesen. Die »Frage nach den Maßstäben, die durch das Werk gesetzt werden«, beantwortet Blumenberg lapidar und vernichtend: »Es ist zu hoffen, daß das Archiv für Begriffsgeschichte einen Teil der Diskussionen auffangen und darbieten kann, die sich an der Fülle des Materials, an der Konzeption, an der Methodik, am Gelungenen und etwa Mißlungenen, am Dargebotenen wie am Ausgelassenen entzünden wird.« 48 Das neue Werk hatte für ihn keinen Wert. Nutzbar blieben für ihn allenfalls ausgiebige begriffsgeschichtliche Analysen, Querschnitte und Längsschnitte, wie es das Archiv mit seinen freien Darstellungsmöglichkeiten bot. Blumenberg misst das Wörterbuch quantitativ und qualitativ an einem Anspruch, den zu erfüllen es eigentlich gar nicht angetreten war. Ritter selbst hatte gar nicht das ehrgeizige Ziel verfolgt, ein begriffsgeschichtliches Wörterbuch zu realisieren, sondern vielmehr das Projekt pragmatisch heruntergestuft: Mit dem Titel des Wörterbuchs soll von vorneherein das Mißverständnis abgewehrt werden, als könne es – zumal bei dem jetzigen Stand der Forschung – beanspruchen, unmittelbar als ein Instrument begriffsgeschichtlicher Forschung zu gelten und so als ein ›begriffsgeschichtliches‹ Wörterbuch aufzutreten. Damit würde es überfordert. 49
Nicht nur für die Metaphern, sondern auch für die Begriffe und deren Geschichte ist das Wörterbuch »überfordert« und hat »unzureichende Improvisationen« zu bieten. Es ist die Frage, ob das »ideale« begriffsgeschichtliche Wörterbuch Rothackers, das er im »Geleitwort« des Archivs für Begriffsgeschichte aufgerufen hat, nicht auch mit seinem Anspruch überfordert gewesen wäre. Die Rittersche Realisierung im Historischen Wörterbuch der Philosophie zeigt jedenfalls, dass die lexikalisch präsentierte begriffsgeschichtliche Aufarbeitung ihr eigenes
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Ebd., S. 161. Ritter, Vorwort (wie Anm. 37), S. VII; derselbe, Leitgedanken (wie Anm. 5), S. 4.
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›cartesianisches‹ Korsett nicht öffnen konnte. Denn die Begriffsgeschichte hat sich nur schwer freimachen können von der ständigen Bedrückung durch den Sachverhalt, daß die meisten ihrer geschichtlichen Quellen und Belege nicht die Formalität der klaren und eindeutigen Bestimmtheit erreicht haben. Mit anderen Worten: sie kann sich von einer uneingestandenen Vorliebe für das cartesische Ideal und dessen Nachfolger kaum lösen. 50
Die begriffsgeschichtliche Arbeit mit einer metaphorologischen Unterabteilung steht für Blumenberg nicht mehr, wie ein Jahrzehnt zuvor, für einen geschichtlichen Aufbruch aus cartesianischen Engen, sondern sie selbst wird überführt, in der Nachzeichnung historischer Profile cartesianischen Prinzipien verhaftet bleiben zu müssen, insofern historische Wandlungen immer nur an eindeutigen Begrifflichkeiten gezeigt werden können. Die Metaphorologie wird jetzt, und wirklich erst jetzt, als Ersatzprogramm eingeführt für das, was Begriffsgeschichte in Blumenbergs Augen an sich nicht leistet und nicht leisten kann. Die Begriffsgeschichte, wie sie sich in Ritters Lexikon präsentiert, konnte die Dienste der Metaphorologie nicht integrieren. So befreit sich die Metaphorologie aus dem alten Dienstverhältnis und wird mit eigenem Arbeitsauftrag selbstständig. Die Metaphorologie hatte sich nie gegen die Begriffsgeschichte gerichtet. Sie wird von Blumenberg bezeichnenderweise erst dann wieder ausdrücklich belebt, als ihre Übergehbarkeit im neuen begriffsgeschichtlichen Vorzeigeprojekt namentlich manifest geworden ist. Nach dem Erscheinen des ersten Bandes des Wörterbuchs beginnt Blumenberg »mit einer auf Fortsetzung angelegten Reihe von Beobachtungen an Metaphern, die das vor mehr als zehn Jahren in Band VI des Archivs eingeleitete Unternehmen einer Metaphorologie wieder aufnehmen«. 51
Blumenberg, Beobachtungen (wie Anm. 28), S. 163. So Blumenberg selbst (»der Berichterstatter«) in seinem »Bericht« für das Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Stuttgart: Steiner 1971, S. 158. Im Nachlass Blumenbergs findet sich mit der Abkürzung BMT (Beobachtungen an Metaphern) eine große Anzahl von Mappen mit Materialien zu einzelnen Metaphern, die in die 1960er Jahre zurückreichen. Das Buch: Hans Blumenberg, Quelle, Ströme, Eisberge. Beobachtungen an Metaphern, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012, ist aus diesen Mappen publiziert. Noch am 1. 8. 1973 ging Blumenberg von weiteren Folgen von »Beobachtungen« aus und signalisiert der Redaktion des Archivs: »Die einzelnen Folgen dieser Reihe können von mir nach Bedarf zusammengestellt werden. Ich
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Diesen Beobachtungen, die kein zusammenhängender Aufsatz sind, 52 stellte Blumenberg die Kurzkritik des Ritterschen Wörterbuchs voran, zu der ihm die von Ritter in seinem Vorwort vorgelegten »grundsatztheoretischen Überlegungen zum Stand und zum Spannungsfeld der gegenwärtigen begriffsgeschichtlichen Forschung« den »Ansatz« gaben. 53 Mit der Anknüpfung an seine Ausführungen in den Paradigmen geht die Klarstellung gegenüber Ritter einher, dass sein früherer Vorschlag einer »Ausweitung der begriffsgeschichtlichen Forschung in die Metaphorologie nicht nur als Erweiterung um ein spezifisches Kapitel anzusehen ist, dessen Auslassung Entlastung von einer risikoreichen Zusatzaufgabe bedeutet«. Vielmehr führe die Metaphorologie an die »genetische Struktur der Begriffsbildung« heran, »in der zwar die Forderung der Eindeutigkeit nicht erfüllt wird, die aber die Eindeutigkeit des Resultats als Verarmung an imaginativem Hintergrund und an lebensweltlichen Leitfäden erkennen läßt«. 54 Bislang hatte Blumenberg mit dem Konzept der Dienstbarkeit der Metaphorologie für die Begriffsgeschichte die Anwendung oder Nutzung von metaphorischem Material bei konkreten philosophiehistorischen Analysen und das theoretische Programm nicht deutlich geschieden. 55 Jetzt scheint mit der Modifikation des eigenen metaphorologischen Ansatzes auf »die Rückführbarkeit des konstruktiven Instrumentariums auf die lebensweltliche Konstitution« eine Metaphorologie als Theorie angedeutet zu sein, bei der Dienstbarkeit im Rahmen konkreter begriffsgeschichtlicher Arbeiten keine Rolle mehr spielt. Sie weist voraus auf den dann einige Jahre später ausgeführten »Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit«, in dem in expliziter Abwendung von der metaphorologischen Dienstbarkeit in den Paradigmen Blumenberg konstatiert, »man könnte sagen, die Blickrichtung habe sich umgekehrt«. 56 Eine neue Theorie jenseits der Begriffshabe im Augenblick zwei neue Abschnitte fertig liegen, die zusammen elf Ms. Seiten ausmachen. Von Zeit zu Zeit würde weiteres dazukommen.« 52 In der Korrekturanweisung zu den Druckfahnen vermerkt Blumenberg als besonders hervorgehobenen Punkt: »Die Zwischenüberschriften in kleinerem Schriftgrad: es handelt sich nicht um Kapitel, sondern »Beobachtungen«. Redaktionsarchiv des Archivs für Begriffsgeschichte. 53 Blumenberg, Bericht (wie Anm. 51). 54 Blumenberg, Beobachtungen (wie Anm. 28), S. 163. 55 Vgl. Lassen, Metaphorically speaking (wie Anm. 1), S. 53 f. 56 Blumenberg, Ausblick (wie Anm. 18), S. 77.
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geschichte, nicht mehr ein Anwendungsprogramm innerhalb ihrer, wird anvisiert. Ein Buchprojekt mit dem Arbeitstitel Metaphorologie, das die neue Ausrichtung auf die »Unbegrifflichkeit« explizieren sollte, wurde mit dem Suhrkamp-Verlag geplant, aber auch nach mehreren Anläufen und Modifikationen nicht verwirklicht. 57 Die Metaphorologie als »Theorie der Unbegrifflichkeit« wollte Blumenberg aus den Diensten der Begriffsgeschichte befreit sehen, sie sollte emanzipiert sein, aber als eigene Domäne hat er selbst sie nie gefestigt. Die Dienste der Begriffsgeschichte selbst verloren auch für weitere »Problemgeschichten« ihre Bedeutung. Für die nach den 1970er Jahren erscheinenden Bücher und späteren zunehmend anthropologisch ausgerichteten Arbeiten Blumenbergs spielt die Begriffsgeschichte, die ihm immerhin zwei Jahrzehnte lang als wichtigstes Hilfsmittel für große philosophiehistorische Erzählungen gedient hatte, kaum mehr eine Rolle, auch wenn die Karteikästen mit den alten begriffsgeschichtlichen Materialien nicht gänzlich ungenutzt blieben. Blumenbergs Abschied von der Begriffsgeschichte war mit der Kritik am Wörterbuch und den Beobachtungen an Metaphern eingeläutet worden und wurde mit dem Rücktritt von seinem Amt in der Verantwortung für das Archiv für Begriffsgeschichte wenige Jahre später institutionell besiegelt. 58 Mit reichlich Ironie blickte Blumenberg auf die Zeiten zurück, als die Begriffsgeschichte seine eigene »Phantasie zum Ausblick auf eine weltumspannende neue Disziplin fortriß«. 59 Diese Disziplin hatte sich in ihrer Dienstbarkeit für ihn erschöpft.
Vgl. Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, Nachwort, in: Blumenberg, Quelle (wie Anm. 51), S. 282 f. Petra Gehring zeigt in ihrer Rezension zu dem Buch (FAZ vom 23. 8. 2012, S. 30) und den darin enthaltenen »Beobachtungen«, warum es sich hier wohl nicht um motivgebundene Materialsammlungen handle, »sondern um eine experimentelle Studie über die möglichen Varianzen von Metaphorik […]. Oder gar eine Studie über metaphorologische Methodologie.« 58 Zu den Hintergründen vgl. Kranz, Akademie (wie Anm. 3). 59 Blumenberg an Gründer, Brief vom 9. 11. 1973. Redaktionsarchiv Archiv für Begriffsgeschichte. 57
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»Mißachtung« und »Versöhnungsversuch« Hans Blumenberg und Lübeck*
Zum 70. Geburtstag nannte ihn Die Zeit »den gelehrtesten Kopf in unserem Lande«. Hans Jonas antwortete auf die Frage, welchen gegenwärtigen Philosophen er für bedeutend halte: »Hans Blumenberg«. Und nach seinem Tode, bei der Gedenkfeier am 28. August 1996 in der Lübecker St. Petrikirche, ergänzte Odo Marquard: Er war »als Philosoph zugleich ein bedeutender Schriftsteller. Er hatte nicht nur die Gabe, auf sensibelste Weise Probleme zu sehen, sondern er vermochte sie auch auf spannendste Weise zu explizieren«. 1 In der Tat entzündet Blumenberg eine ungeheure Lese- und Denklust. Seine Leser erleben die Wahrheit seines Aphorismus, den die Hansestadt Lübeck 2006 anlässlich des zehnten Todestags auf Vorschlag der Familie am Geburtshaus in der Fleischhauerstraße anbringen ließ: »Nachdenklichkeit heißt: Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war.« Das gilt auch und besonders für das Verhältnis von Hans Blumenberg zu seiner Vaterstadt und – vice versa – für das Verhältnis der Stadt zu ihm. Und im Nachdenken über diese ambivalente Beziehung taucht immer wieder und wie von selbst ein dritter Name auf: Thomas Mann. Es ist schwer, den Menschen Hans Blumenberg zu verstehen; vor allem deshalb, weil er in jungen und auch noch in späteren Jahren tiefe Verletzungen erlitten hat und offensichtlich erst spät – und nur mit wenigen Freunden – darüber sprechen konnte. Dennoch soll versucht werden, Blumenbergs Gedanken und Gefühle im Blick auf Lübeck nachzuempfinden, mit der von ihm immer gewünschten Distanz und Diskretion, mit Respekt und möglichst ohne Spekulationen. * Gekürzte Fassung eines im Rahmen des Symposiums »Hans Blumenberg – Geschichte(n) des Wissens« am 15. 10. 2010 in der St. Petri-Kirche Lübeck gehaltenen öffentlichen Vortrags. 1 Vgl. Odo Marquard, Entlastung vom Absoluten. In Memoriam Hans Blumenberg, Lübeckische Blätter. Zeitschrift der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit 14 (1996), 217–220, hier S. 217 und 219.
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»Mißachtung« und »Versöhnungsversuch« – Hans Blumenberg und Lübeck
Grundlage dafür sind – neben Äußerungen, die er Freunden gegenüber machte – Dokumente aus der Akte, die seit Anfang der 1990er Jahre bei der Hansestadt Lübeck geführt wird. Michael Bouteiller war damals Bürgermeister, Ulrich Meyenborg Kultursenator und ich die Leiterin des Amtes für Kultur. Deshalb berichte ich hier auch als Zeitzeugin und Chronistin.
Versuch einer Annäherung Wir wurden zuweilen gefragt, warum die Stadt erst so spät an ihren großen Sohn herangetreten sei. Die Antwort ist vielleicht nicht befriedigend, aber ehrlich. Weder von politischer noch von amtlicher Seite war bis dahin jemand auf die Idee gekommen, mit dem in Lübeck geborenen und aufgewachsenen Philosophen Kontakt aufzunehmen, geschweige denn eine Ehrung auszusprechen. Auch aus dem Bereich des Kulturlebens kam kein Anstoß. Niemand schien ein Bewusstsein dafür zu haben, dass diese berühmte, aber dennoch vielen nicht bekannte Persönlichkeit des deutschen Geisteslebens ein Lübecker war. Von den Ängsten und Verlusten, mit denen er das nationalsozialistische Terrorregime erlebt und überlebt hatte; von den Demütigungen, denen er vor allem 1939 beim Abitur, aber auch noch 25 und 50 Jahre danach in unserer Stadt ausgesetzt war – von alledem wusste das offizielle Lübeck nichts. Erst als ein inzwischen verstorbener Klassenkamerad Blumenbergs, der in Hamburg lebte und seit dem 40. Jahrestag des Abiturs wieder mit ihm in Kontakt stand, ihn für eine Ehrung vorschlug, kam in Lübeck etwas in Bewegung. Der Entschluss, dem Sohn der Stadt Hochachtung und Dank für sein Werk sowie Anteilnahme an seinem Lebensschicksal auszusprechen, war bald gefasst. Nur in welcher Form? Und wie sich dem Emeritus nähern, der sich in »seine ganz private Höhle – in seine Schreibhöhle in Altenberge im Münsterland – zurückgezogen und sozusagen die Klingel am Höhleneingang abgestellt« 2 hatte? Der erste Gedanke war, ihn – ähnlich wie Thomas Mann 1926 – für eine Festansprache zur 850-Jahr-Feier der Hansestadt Lübeck und/
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oder für die Eröffnung des Buddenbrookhauses im Festjahr 1993 zu gewinnen. Aber es schien uns unangemessen, bei der nach fünf Jahrzehnten ersten offiziellen Kontaktaufnahme seitens der Vaterstadt gleich mit einer Bitte an ihn heranzutreten. Nachträglich dürfen wir sicher sein, dass ihn beides gefreut und auch geehrt hätte, nicht nur weil er auf ein Zeichen aus Lübeck wartete, sondern auch und besonders wegen seiner Nähe zu Thomas Mann, »den er für so etwas wie einen größeren Bruder hielt« 3 . Ob er gekommen wäre, steht auf einem anderen Blatt. Aber er hätte die aufrichtige Geste der Stadt bereits zwei Jahre eher spüren können. Stattdessen wurde mit aller Diskretion die Verleihung der Ehrenbürgerwürde vorbereitet. Denn eines war klar: Eine Auszeichnung unterhalb der höchsten Ehrung, die Lübeck zu vergeben hat, kam nicht in Frage. Nicht wissend, ob er bei dem zwiespältigen Verhältnis zu seiner Heimatstadt die Ehrenbürgerwürde überhaupt würde annehmen können, luden wir ihn am 8. Februar 1995 zunächst als unseren Ehrengast nach Lübeck ein: Sehr verehrter Herr Professor Dr. Blumenberg, eigentlich bedurfte es keines besonderen Anlasses, die längst überfällige Einladung der Hansestadt Lübeck an den Sohn dieser Stadt, der aufgrund großer Leistungen nationales und internationales Ansehen genießt, auszusprechen. Mit Scham denken wir daran, daß Sie in Ihrer Vaterstadt geächtet waren, und es bedrückt uns, daß wir und unsere Amtsvorgänger nicht schon eher die Initiative ergriffen haben, Sie von Herzen zu bitten, der Hansestadt Lübeck als unser Ehrengast einen Besuch abzustatten. Im Namen von Senat und Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck sprechen wir diese Einladung nun offiziell aus und würden uns glücklich schätzen, Sie und Ihre Frau in unserer Stadt, wann immer Sie mögen, begrüßen zu dürfen. 4
Weiter schrieben wir, dass es uns besonders freuen würde, wenn er die Einladung noch 1995 annehmen könnte, im Jahr seines 75. Geburtstags, zugleich 50 Jahre nach seiner ganz persönlichen Rettung durch das Kriegsende, gewissermaßen seiner zweiten Geburt. Der Brief endet mit dem Wunsch:
Eckhard Nordhofen, Zum Tode des Philosophen Hans Blumenberg, Die Zeit 16 (12. 4. 1996). 4 Faksimile des Schreibens der Hansestadt Lübeck vom 8. 2. 1995 in: Lübeckische Blätter 14 (1996), 214. Ich danke der Hansestadt Lübeck und den Erben von Hans Blumenberg, aus dem Briefwechsel zitieren und faksimilieren zu dürfen. 3
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[…] auch und gerade, wenn dieses Gedenkjahr alte Wunden aufreißen sollte, bitten wir Sie von Herzen, die aufrichtig gemeinte Einladung […] anzunehmen und uns mit Ihrem Besuch, zunächst aber mit Ihrer Antwort zu beehren und zu erfreuen.
Seine Antwort erhielten wir gut fünf Wochen später, am 20. März 1995: Herr Bürgermeister, Herr Senator, Ihren mich ehrenden Brief vom 8. Februar habe ich mit Bewegung aus der Hand gelegt. Die Verzögerung meiner Antwort mögen Sie in den Schwierigkeiten begründet sehen, die ich im Verhältnis zu meiner Vaterstadt habe. Schließlich hat auch die Stadt ein halbes Jahrhundert seit ihrer Befreiung gezögert, ehe sie anders als ärgerlich mir entgegengekommen ist. Ich weiß die humane Geste Ihres Briefes umso mehr zu schätzen, als mein letzter Besuch 1964, zum 25. Jahrestag des Abiturs am Katharineum, als ich jedem die Hand zu geben bereit war, glücklos mit meiner Abreise noch am späten Abend endete. Ein einziger Betreiber jener »Welle der Empörung« vom März 1939 drückte mir sein Bedauern aus; ich lud ihn zum Essen in den Ratskeller ein. Zum 50. Jahrestag desselben Anlasses bin ich, im Einvernehmen mit den verbliebenen Freunden, nicht gekommen, worüber sich eben die entrüsteten, die 1964 gar nicht erst kommen wollten, wenn ich käme. 1989 hielt German Förster, den ich immer sehr geschätzt habe, die Ansprache für den »goldenen« Jahrgang, wobei er wohl mich apostrophierte, indem er sagte, einer der Überlebenden habe es bis in den Brockhaus gebracht. Sicher gut gemeint – aber wozu soll ich mich solchen Verlegenheiten aussetzen? 5
Da wurde nun schwarz auf weiß bestätigt, was uns vertraulich von Schulfreunden mitgeteilt worden war: Der überragende, von vielen geschätzte und bewunderte Klassenprimus, der Jahrgangsbeste von ganz Schleswig-Holstein – Lübeck war zwei Jahre zuvor in die preußische Provinz eingegliedert worden –, dieser Primus omnium wurde auf Betreiben der Parallelklasse mit ihrem nationalsozialistischen Klassenlehrer bei der Abiturientenentlassungsfeier öffentlich gedemütigt. Die von Blumenberg verfasste Rede durfte nur von einem Klassenkameraden verlesen werden. Das Prädikatszeugnis, das ihm verwehrt werden sollte, wurde ihm schließlich doch noch ausgehändigt, aber ohne den üblichen Handschlag des Direktors. Eine »Welle der Empörung«, wie Blumenberg das für ihn und uns Unfassbare in seinem Schreiben an die Antwort von Hans Blumenberg undatiert, Eingang 20. 3. 1995, Faksimile in: Lübeckische Blätter 14 (1996), 215.
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Stadt bezeichnete, war über den 18-Jährigen hereingebrochen und hatte ihm den Boden unter den Füßen weggerissen.
Leben in Lübeck Warum diese entwürdigende Behandlung? Aus einem einzigen Grund: Blumenbergs Mutter Ella (* 3. 11. 1883 in Rosenberg/Oberschlesien), geb. Schreier, verw. Nicolas, war Jüdin. Bei ihrer Trauung am 6. 9. 1919 in der katholischen St. Hedwigskathedrale Berlin mit dem Lübecker Kunsthändler und Verleger J. Carl Blumenberg war sie als evangelischlutherisch gemeldet, ebenso bei der Geburt des ersten Sohnes Hans am 13. Juli 1920 in Lübeck. Später muss sie konvertiert sein, denn am 19. Juni 1939 ist sie als Mitglied der katholischen Herz-Jesu-Gemeinde eingetragen. 6 Zwar überlebte sie den Nationalsozialismus und dessen Rassenwahn, starb aber bereits am 11. November 1945 im Eppendorfer Krankenhaus und wurde acht Tage später auf dem Vorwerker Friedhof bestattet. Da ihre Angehörigen in Theresienstadt ermordet wurden, hatten Hans Blumenberg und seine Kinder nach 1945 alle Verwandten mütterlicher- bzw. großmütterlicherseits durch den Holocaust verloren. Wegen der jüdischen Herkunft seiner Mutter galt der katholisch erzogene Blumenberg nach den Nürnberger Rassegesetzen ebenfalls als jüdisch. Im Schaukasten des »Stürmer«, an dem sein täglicher Schulweg vorbeiführte, musste er lesen, dass Menschen wie er kein Recht zu leben hätten und wie »Ungeziefer« beseitigt werden müssten. 7 Verachtung und Hass müssen ihm beim Abitur entgegengeschlagen sein – wohl auch angeheizt durch den Neid, dass ausgerechnet er allen seines Jahrgangs weit überlegen war. Der Hochbegabte durfte auch nicht an einer Universität studieren, sondern begann sein Studium an Katholischen Hochschulen in Paderborn und St. Georgen bei Frankfurt am Main. Doch nach drei Semestern wurde ihm auch dieses verwehrt. Zwei Jahre lang studierte er priFür die mir am 19. 4. 1996 mitgeteilten biographischen Daten danke ich Herrn Dr. Burkard Sauermost. 7 Mitteilung von Blumenbergs Klassenkameraden Hermann Fischer-Hübner im Sommer 1996. 6
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vat und arbeitete im väterlichen Kunstverlag, der nach der Zerstörung des Elternhauses in der Hansestraße nach Bargteheide verlegt worden war. Ab April 1943 gab ihm Dr. Heinrich Dräger eine im wörtlichen Sinne lebensrettende Beschäftigung in seinem so genannten kriegsbedeutenden Betrieb. Er machte ihn zum Chefeinkäufer und erklärte ihn für unabkömmlich. Blumenberg blieb ihm zeitlebens dankbar dafür. Davon zeugt auch ein bewegender Brief vom 8. Dezember 1945 an Heinrich Dräger, der mit den Worten endet: Rückblickend fasse ich all dies nur deshalb noch einmal zusammen, um Ihnen zu sagen, daß Sie mit Ihrer Haltung im Sinne undoktrinärer Menschlichkeit ein niederdrückendes Schicksal leichter tragbar gemacht haben. Dafür darf ich Sie heute meiner aufrichtigen Dankbarkeit und Ergebenheit versichern […]. 8
Ab Mitte Februar 1945 konnte auch Dräger nicht mehr verhindern, dass sein noch nicht einmal 25-jähriger Schützling in das »Sonderlager« Zerbst der berüchtigten Organisation Todt abgestellt wurde. Nach mehreren Wochen konnte Blumenberg sich befreien und nach Lübeck durchschlagen, wo er bis Kriegsende bei der evangelischen Familie Heinck Unterschlupf fand. Die Gestapo suchte ihn vergeblich. Im Juli 1945 wurde die im Jahr zuvor bereits heimlich vor einem Priester versprochene Ehe mit der Tochter Ursula standesamtlich vollzogen. Dräger beschäftigte ihn erneut und unterstützte ihn auch, als er im WS 1945/46 sein Studium in Hamburg und Kiel aufnahm. Ende 1947 wurde er 27-jährig – und bereits Vater von zwei Kindern – zum Dr. phil. promoviert. Drei Jahre später habilitierte er sich ebenfalls in Kiel. Dem kurzen Lebenslauf, den der Doktorand Ende 1947 für seine Promotion verfasste, sind die massiven Behinderungen, die ihm bei seiner akademischen Ausbildung in den Weg gestellt wurden, nicht oder nur sehr indirekt zu entnehmen. Obwohl Blumenberg die geraubten Jahre durch seine Begabung und seinen Fleiß längst kompensiert hatte, meinte er, durch Mehrarbeit und Wachzeiten die »acht verlorenen Jahre« aufholen zu müssen – so
Welf Böttcher, Martin Thoemmes, Heinrich Dräger. Eine Biographie, Neumüster: Wachholtz 2011, S. 85. In dem Kapitel »Behauptung im NS-Staat« wird der geradlinige und mutige Einsatz von Heinrich Dräger für die Beschäftigten, die ihre »arische Abstammung nicht nachweisen konnten«, ausführlich gewürdigt, S. 73–114, insbesondere 78–89.
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Abb. 1: Lebenslauf zu der Dissertation von Hans Blumenberg, Philosophische Fakultät Kiel 1947
äußerte er sich jedenfalls noch 1980 gegenüber Odo Marquard. 9 Er setzte die knappe »Lebenszeit« in Beziehung zur »Weltzeit« und rückte damit die Endlichkeit als Sterblichkeit in das Zentrum seiner Philosophie. Während der ersten beruflichen Tätigkeiten an den Universitäten Kiel und Hamburg hatte er noch regelmäßig Kontakte zu seiner Heimatstadt, obwohl seine Eltern Lübeck nach der Ausbombung verlassen hatten. Aber seine Schwiegermutter Heinck betrieb in der Hüxstraße ein Schuhgeschäft; drei seiner vier Kinder kamen auf Wunsch des 9
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Marquard, Entlastung vom Absoluten (wie Anm. 1), S. 220.
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Vaters in Lübeck zur Welt und besuchten die Großmutter regelmäßig in den Ferien.
Leben mit Lübeck – fern von Lübeck Mit dem Ruf 1965 nach Gießen auf eine ordentliche Professur endet seine Biographie nördlich der Elbe und damit auch in Lübeck. Wenigstens äußerlich. Innerlich scheint ihm die Hansestadt in all seinen ambivalenten Erinnerungen weiterhin präsent gewesen zu sein – zumindest in seinen späteren Lebensjahren, wie Briefe an die wenigen gebliebenen und wiederentdeckten Freunde bezeugen. Auch sein Interesse an Thomas Mann hatte nicht nur literarische, sondern zugleich biografische Gründe. In den letzten Lebenswochen las er die von Inge Jens edierten Tagebücher, deren zehnter und letzter Band gerade erschienen war. Mindestens zwei seiner letzten Briefe gingen an Adressaten in Lübeck. Und an der Innenseite der Tür seines Kleiderschranks fand man den Lübecker Stadtplan! Ähnlich wie Mann beäugte auch er seine Vaterstadt lebenslang aus der Ferne. Mit einem gravierenden Unterschied: Thomas Mann wurde nach Erscheinen von Buddenbrooks zwar als Literat und Nestbeschmutzer beschimpft – nach seiner berühmten Rede im BBC zur Bombardierung Lübecks 1942 sogar als Vaterlandsverräter –, aber bereits als 50-Jähriger offiziell nach Lübeck eingeladen: 1926 zur 700-Jahr-Feier der Reichsfreiheit und 1931 zum 400-jährigen Schuljubiläum des Katharineums. 1955, kurz vor seinem Tode, wurde der 80-Jährige zum Ehrenbürger ernannt. Das alles wusste Hans Blumenberg. Ihn selbst aber hatte man in dieser Stadt seelisch verletzt. Auch wenn die Kränkungen der Nachkriegszeit nicht vom offiziellen Lübeck ausgingen, so war da doch die städtische Nicht-Beachtung! Schließlich war er bereits fast 75, als die Stadt mit ihrem berühmten Sohn zum ersten Mal Kontakt aufnahm. Unabhängig von unseren Überlegungen, Blumenberg bereits 1993 zur 850-Jahr-Feier mit der Eröffnung des Buddenbrookhauses einzuladen, hatte Pastor Günter Harig ihn im Namen des Kuratoriums der Kulturkirche St. Petri zu Beginn des Jubiläumsjahrs gebeten, die Vortragsreihe »Was ist Lebenssinn?« in St. Petri zu eröffnen. In seiner Antwort vom 23. März 1993 versuchte Blumenberg dem Petripastor verständlich zu machen, weshalb er »der ›Versuchung‹, in diesem neuA
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erstandenen Raum sprechen zu dürfen, nicht nachzugehen [vermochte]«, obwohl »die ›Eleganz‹ des Innenraums über ein halbes Jahrhundert hinweg lebendige Erinnerung geblieben« war: Am Rande muß ich dazu erwähnen, daß ich den Untergang Lübecks in der Palmsonntagnacht 1942 in der Innenstadt »erlebt« habe. Ich gestehe freimütig – was ich zum Ärger Lübecker ›Freunde‹ gesagt und geschrieben habe –, daß mir das Fanal der Wendung des Krieges damals wichtiger war als das vermeintlich endgültige Verstummen der Lübecker Orgeln. 10
Blumenberg sagt dem Petrikuratorium ab, mit folgender Begründung: Ich traue meiner Widerstandskraft die emotionale Belastung einfach nicht zu. Ich habe meine Vaterstadt seit Jahrzehnten gemieden (Beerdigungen alter Freunde ausgenommen: Autobahn – Friedhof – Autobahn), und ich werde das Risiko des Aufreißens alter Wunden nicht eingehen. Nicht nur alter Wunden: zum 50. Jahrestag des Abiturs am Katharineum bin ich nicht gefahren, weil sich unnötiger Verdruß abzeichnete. Nun kann ich keine Kehrtwendung machen. Das alles wird Ihnen womöglich als Altersstarrsinn erscheinen; ich kann dieses Odium nicht abwehren und bedauere tiefer, als ich Ihnen ausdrücken kann, den Verzicht auf eine der »großen« Stunden meines Lebens.
Der Brief endet mit dem Satz: »Ich werbe mit meiner Offenheit um Ihr Verständnis und um Vertraulichkeit.« Pastor Harig hielt sich an die erbetene Vertraulichkeit. So erfuhren wir erst zwei Jahre später durch Blumenbergs Antwort auf unsere Einladung von der Existenz dieses Briefes; der Wortlaut wurde uns erst nach dem Tode des Verfassers bekannt. Besonders der vorletzte Satz macht nachdenklich, kann er doch auch als Andeutung eines geheimen Wunsches gedeutet werden: »Ich muß zufrieden mit dem sein, was mir in der übrigen Welt an Anerkennungen meiner Arbeit zuteil geworden ist.« Blumenbergs Verhältnis zu Lübeck, das Schwanken, das Wollen und Nicht-Können werden in dem weniger offiziellen Schreiben an St. Petri ebenso spürbar wie in seiner zwei Jahre später verfassten Antwort an die Stadt. Diese endet mit den Worten: »Ich setze nun auf Ihr Verständnis, wenn ich Ihre Einladung annehme, zu deren Realisierung
Hans Blumenberg an Pastor Günter Harig im Antwortschreiben vom 23. 3. 1993, das ich freundlicherweise einsehen durfte. Hier zeigt sich eine weitere Verbindung zu Thomas Mann und dessen in Lübeck mit Empörung aufgenommener Rundfunkansprache.
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Abb. 2: Schluss des Briefes von Hans Blumenberg an den Bürgermeister und den Kultursenator der Hansestadt Lübeck vom 20. 3. 1995 (Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum/Buddenbrookhaus, Lübeck)
aber keine Zusage mache. Dieses Ausweichen erfüllt mich mit Trauer.« 11 Trauer erfüllte auch uns. Aber nun gaben wir die Hoffnung nicht auf. Denn die Formulierung, eine Einladung einerseits anzunehmen, zu deren Realisierung andererseits aber keine Zusage zu machen, verstanden wir eben auch nicht als Absage. Wir wussten, dass wir einen langen Atem benötigen würden, und schrieben am 3. Mai 1995 anlässlich des Gedenkens an die Befreiung Lübecks einen zweiten und zum 75. Geburtstag am 13. Juli 1995 einen dritten Brief. Blumenbergs erhoffte, wenn auch nicht unbedingt erwartete Antwort auf die beiden Briefe kam, 14 Tage vor seinem Tod, in überraschender, aber für ihn wohl charakteristischer Form. Er richtete sein Schreiben dieses Mal nicht an die politische Stadtspitze, Bürgermeister und Kultursenator, sondern an mich als die Leiterin der Kulturverwaltung, also gewissermaßen eine Etage tiefer an die Arbeitsebene. Warum? Wir hatten ihm im Mai 1995 den Katalog zur ersten Dauerausstellung im Buddenbrookhaus beigelegt. Diesen hatte er – wie es seine Art war und sein Interesse an Thomas Mann und Lübeck belegt – gründlich studiert und zwei Fakten vermisst, die notwendigerweise in der Ausstellung hätten erwähnt werden müssen: 11
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Abb. 3: Brief vom 13. 3. 1996 von Hans Blumenberg an die Leiterin des Amtes für Kultur der Hansestadt Lübeck (Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum/ Buddenbrookhaus, Lübeck)
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Versehentlich war bei unserem zweiten Brief statt des üblichen Senatsbogens ein Briefkopf gewählt worden, in dem mein Diktatzeichen »Ka« erschien. So beginnt sein Brief mit der Erklärung, wieso es ihm möglich sei, sich unmittelbar an mich als die zuständige Fachbeamtin zu wenden. Blumenberg-Kenner meinen, es sei charakteristisch für ihn, dass er sich die Mühe gemacht habe, meinen Namen ausfindig zu machen. Im dritten Absatz erinnert Blumenberg daran, dass Thomas Mann 1931, fünf Jahre nach seinem Besuch zur 700-Jahr-Feier mit der berühmte Rede »Lübeck als geistige Lebensform« erneut in Lübeck war und zum 400. Gründungstag des Katharineums, »seiner ungeliebten Schule«, auf Einladung von Direktor Georg Rosenthal die politische Rede »An die Jugend (der Welt)« gehalten hat. Hans Blumenberg, der die Rede des Nobelpreisträgers als Sextaner miterlebte, vermisst die Erwähnung dieses Besuchs in der Ausstellung 65 Jahre später, »weil doch auch dies schon oder wieder eine der ›Versöhnungen‹ war«. Recherchen des gegenwärtigen Schulleiters Thomas Schmittinger ergaben, dass die am Absatzende erwähnten Schwierigkeiten in der Erinnerung des Redaktionsausschusses von 1981 rein kommunikativer Art gewesen sein sollen. Dennoch ist Blumenbergs Darstellung bezeichnend. In seiner Wahrnehmung wurde sein Text »An Georg Rosenthal erinnernd« 12 »mißachtet«, und es sei »schwierig [gewesen], diesen Beitrag in die Festschrift zu bringen«. Auch eine subjektive Wahrnehmung ist eine Wahrheit und Realität – ein Gedanke, der in
Hans Blumenberg, An Georg Rosenthal erinnernd, in: Bund der Freunde des Katharineums (Hg.), Katharineum zu Lübeck. Festschrift zum 450jährigen Bestehen, Lübeck: Bund der Freunde des Katharineums 1981, S. 55–57. Der von Blumenberg verehrte, durch seine Publikationen überregional anerkannte Altphilologe und Reformpädagoge Dr. Georg Rosenthal (1874–1934) war seit 1918 Direktor des Katharineums. Nachdem der deutsch-national gesinnte Humanist schon früh antisemitischen Diffamierungen ausgesetzt war, wurde er auf Betreiben nationalsozialistischer Gegner nach Ostern 1933 beurlaubt und im Juli entlassen. Er starb im März 1934 als gebrochener Mann, elf Jahre vor der Hinrichtung seines Schwiegersohns Julius Leber. Vgl. Jan Zimmermann, »Ich hatte allerlei auf dem Herzen, was ich der Jugend bei dieser Gelegenheit sagen möchte«. Thomas Manns Teilnahme an der 400-Jahrfeier des Katharineums zu Lübeck im September 1931, in: Britta Dittmann, Thomas Rütten, Hans Wißkirchen, Jan Zimmermann (Hgg.), »Ihr sehr ergebener Thomas Mann«. Autographen aus dem Archiv des Buddenbrookhauses, (Aus dem Archiv des Buddenbrookhauses; 1) Lübeck: Schmidt-Römhild 2006, S. 133–197, hier: 135–139. 12
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Blumenbergs Denken ebenfalls eine Rolle spielt: »Menschen sehen nie dasselbe.« 13 Im letzten Absatz des Briefes moniert Blumenberg die unvollständige Darstellung des Abstimmungsvorgangs bei der Verleihung der Ehrenbürgerschaft 1955 an Thomas Mann. Denn das ›einstimmige‹ Ergebnis sei nur zustande gekommen, weil drei Fraktionen der Abstimmung ferngeblieben seien. Abschließend erwähnt Blumenberg Thomas Manns Bereitschaft, sich »– wie fast immer durch Ehrungen – gern trösten und ›alles nun ausgelöscht‹ sein [zu lassen], was zwischen der Vaterstadt und ihm gestanden hatte«. Bei aller Präzision und Sachlichkeit in Blumenbergs Schreiben spüren wir: hier will uns der Verfasser auf einer anderen Ebene noch mehr mitteilen. Vordergründig geht es um zwei Kritikpunkte in der Ausstellung und den Wunsch einer wahrheitsgemäßen und vollständigen Darstellung historischer Tatsachen, die ihm wichtig sind. Es geht um »Mißachtung« und »Versöhnung« bei Thomas Mann. Dahinter aber erkennen wir Blumenberg selbst und seine eigenen schicksalhaften Erfahrungen mit Missachtung und – im Gegensatz zu Thomas Mann – einer zwar eingeleiteten, aber noch nicht vollzogenen Versöhnung. Mir scheint es, als taste sich der nun ehrenvoll Angesprochene vorsichtig heran, um auf der Arbeitsebene auszutesten, wie weit seine Vaterstadt hinreichend sensibilisiert und reif sei für eine Aussöhnung. Wir kennen diese Methode aus Blumenbergs philosophisch-literarischem Werk, und ich werde gleich noch auf ein Kabinettstück seiner Verschlüsselungstechnik zurückkommen. Erstaunlich ist nur, dass er diese Technik selbst in dem Schreiben an eine Behörde, an eine Kulturbeamtin anwendet. Jede Formulierung, jedes einzelne Wort, jedes Satzzeichen ist bewusst gesetzt und hat einen Sinn. So hat er das Wort »notwendig« im letzten Satz als einziges im ganzen Brief durch Unterstreichung hervorgehoben. Notwendig ist für ihn nicht nur die vollständige Darstellung des Bürgerschaftsverhaltens bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Thomas Mann, notwendig – im Wortsinn – ist auch die grundlegende Veränderung des »Lokalgeistes«, sollte und wollte er die angenommene Einladung der Stadt jemals realisieren können. Am 28. März 1996, zwei Wochen nach dem Verfassen dieses Briefes, starb Hans Blumenberg. Eckhard Nordhofen, Schüler des Philo13
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Hans Blumenberg, Löwen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001 [2 2010], S. 111.
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sophen und profunder Kenner seines Werks, den wir bezüglich der geplanten Ehrenbürgerschaft ins Vertrauen gezogen hatten, würdigte in seinem Nachruf in der Zeit den »vorsichtigen Versuch« der Hansestadt Lübeck, »dem gekränkten Sohn der Stadt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen« 14 , und das »Verdienst, daß H. B. in seinen letzten Lebenstagen seine Heimatstadt mit besseren Gedanken bedenken konnte« 15 . Tröstlich waren auch die Worte von Ursula Blumenberg, die von der »Ergriffenheit« berichtete, »mit der mein Mann reagierte, als er erfuhr, daß in seiner Vaterstadt in guter Weise an ihn gedacht wird«. 16 Inzwischen wird Hans Blumenberg in Lübeck auch mit seinem philosophischen und literarischen Werk öffentlich wahrgenommen. Zu seinem 10. Todestag 2006 fand in seiner alten Schule eine Blumenberg-Woche statt, und das 2010 zum 90. Geburtstag in seiner Vaterstadt veranstaltete internationale Blumenberg-Symposium wurde auch von etlichen Lübeckern besucht. Die im letzten Brief konkret geäußerten Wünsche Blumenbergs wurden posthum erfüllt – in der ständigen Ausstellung und in der ebenso akribischen wie atemberaubenden Untersuchung von Jan Zimmermann über den letzten Lübeckbesuch Thomas Manns vor der Emigration. 17 Dieser steht nach Auswertung der erst 2002 entdeckten acht Briefe Manns an Georg Rosenthal 18 nun in einem vollkommen neuen Licht. Manns Rede »An die Jugend« 19 in St. Katharinen, in der er vehement für die Demokratie von Weimar eintrat, war in Lübeck auf Widerspruch und Empörung gestoßen. 1931 waren große Teile der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr nur deutsch-national gesinnt, sondern bereits mit nationalsozialistischem Gedankengut infiziert. Jedenfalls provozierte Manns Festrede eine antidemokratische Tischrede des angesehenen Bildhauers Fritz Behn – ebenfalls Katharineer wie auch Reichsjustizminister a. D. Professor Gustav Radbruch, der ostentativ Nordhofen, Zum Tode des Philosophen Hans Blumenberg (wie Anm. 3). Persönlicher Brief von Eckhard Nordhofen vom 10. 4. 1996 an die Verf. 16 Persönlicher Brief von Ursula Blumenberg vom 29. 7. 1996 an die Verf. Ursula Blumenberg starb am 6. Juli 2011, eine Woche vor dem 90. Geburtstag ihres Mannes, in Grömitz. 17 Zimmermann, »Ich hatte allerlei auf dem Herzen« (wie Anm. 12). 18 Die Briefe an Georg Rosenthal, kommentiert von Britta Dittmann, in: Dittmann, Rütten, Wißkirchen, Zimmermann, Autographen (wie Anm. 12), S. 171–188. 19 Thomas Mann, Ansprache an die Jugend, in: Dittmann, Rütten, Wißkirchen, Zimmermann, Autographen (wie Anm. 12), S. 189–197. 14 15
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den Saal verließ. Katia und Thomas Mann, die im Hotel geblieben waren, hörten von dem Eklat und begegneten Behn am Abend entsprechend frostig. 20 Blumenberg konnte 1996 all diese Hintergründe noch nicht kennen. Spätestens seit den 2006 veröffentlichten Details wissen wir, wie berechtigt sein Wunsch gewesen war, Manns ›Heimkehr‹ nach Lübeck 1931 und den ziemlich missglückten ›Versöhnungsversuch‹ in die Ausstellung aufzunehmen.
Tonio Krögers Löwen Als Zeichen des Dankes übereignete die Familie Blumenberg der Hansestadt Lübeck 1996 das originale Typoskript eines Textes, der sich in besonderer Weise mit seiner Geburtsstadt Lübeck und Thomas Mann befaßt und der in seiner Vielschichtigkeit auch eine sehr persönliche Botschaft trägt. ›Tonio Krögers Löwen‹ ist ein unveröffentlichter Text aus dem Nachlass, den wir in das Jahr 1993 datieren und der ein weiteres Mal zeigt, wie sehr sich mein Vater in seiner letzten Lebenszeit mit seiner Vaterstadt auseinandergesetzt hat. Ich bin beglückt, die Urschrift nun dort zu wissen. 21
2001 wurde der Text als letzter von 32 Miniaturen zum Thema »Löwen«, die Hans Blumenberg über Jahre und Jahrzehnte verfasst und gesammelt hat, veröffentlicht. 22 Der Band war schnell vergriffen, wurde aber zum 90. Geburtstag mit einem Nachwort von Martin Meyer wieder aufgelegt. Blumenbergs umfangreicher Nachlass ging zu Recht an das Deutsche Literaturarchiv nach Marbach. Aber die Urschrift von »Tonio Krögers Löwen« kam nach Lübeck, in die Vaterstadt von Hans Blumenberg – und Thomas Mann. Sie hat ihren bleibenden Platz im Fritz Behn (1878–1970) und seinen Bewunderern ist es offensichtlich bis zu seinem Tode und darüber hinaus gelungen, seine Nähe zum Nationalsozialismus so zu verbergen bzw. zu bagatellisieren, dass ihm nicht einmal ein akribischer Rechercheur wie Hans Blumenberg auf die Spur gekommen ist. Für Lübeck ist es dringend erforderlich, Behns Rolle im Dritten Reich aufzuarbeiten. Der Aufsatz von Klaus W. Jonas, Der Bildhauer Fritz Behn, in: Rolf Saltzwedel (Hg.), Der Wagen. Ein Lübeckisches Jahrbuch, Lübeck: Hansisches Verlagskontor 2000, S. 190–214, leistet dies leider noch nicht. 21 Brief von Bettina Blumenberg vom 18. 9. 1996 an das Amt für Kultur der Hansestadt Lübeck. 22 Blumenberg, Löwen (wie Anm. 13), S. 108–117. 20
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Abb. 4: Typoskript »Tonio Krögers Löwen« (1. Seite) (Heinrich-und-ThomasMann-Zentrum/Buddenbrookhaus, Lübeck) A
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Archiv des Buddenbrookhauses gefunden, wo sie zusammen mit dem Briefwechsel der forschenden Nachwelt zur Verfügung steht. 23 Sprachlich ist der Text nicht schwer – stilistisch glänzend, voller Eleganz, Humor, Esprit und Ironie. Aber inhaltlich ist er verschlüsselt und keineswegs eindimensional zu verstehen. Wie wir bereits in dem letzten hintergründigen Brief von Blumenberg gesehen haben, wird das Eigentliche auf der Metaebene gesagt. In dem Löwentext handelt es sich gleichsam um ein mehrfach übermaltes Bild. Die oberste Malschicht zeigt die literarische Kunstfigur Tonio Kröger, unter der – unverkennbar für den Leser der Novelle und von Blumenberg fein herausgearbeitet – sein Schöpfer zum Vorschein kommt, Thomas Mann. Die Aufdeckung autobiographischer Bezüge in den frühen Künstlernovellen Thomas Manns ist natürlich nicht neu. Das Besondere aber ist, dass Blumenberg an dieser Stelle noch einen anderen Künstler einführt, einen ebenfalls »flüchtigen Sohn der Stadt«, den Bildhauer Fritz Behn. Dieser wird gleichsam als nächste Malschicht aufgedeckt und uns mit den Augen Thomas Manns im Jahre 1913 vorgestellt. 24 Damit erweitert sich die Galerie der von der Vaterstadt verkannten »flüchtigen« Söhne und »Leidensgenossen der heimatstädtischen Mißachtung« 25 : Tonio Kröger, Thomas Mann, Fritz Behn. Doch damit nicht genug: Unter allen Farbschichten, auf dem Malgrund sozusagen, hält sich der Autor selbst verborgen. Für etwas mehr als eine Buchseite tritt er an die Oberfläche. Er wechselt plötzlich in die Ich-Form, um sich danach in der dritten Person wieder bedeckt zu halten: Zwar lagen vor diesem die Löwen, doch ging Tonio nun zwischen ihnen hindurch […]. Auch wenn die einst gefürchteten Löwen nun dem Gast wie zu Füßen lagen: Ich kannte sie gut, und ich weiß, wie sie sich zu ›Mutproben‹ eigneten. Jahrelang führte mich mein Schulweg an ihnen vorbei. Wenn ich sie nicht fürchtete, wie der kleine Tonio es getan hatte, so nicht, weil mein Kindesmut größer gewesen wäre. […] Eine Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Hans Blumenberg und der Hansestadt Lübeck sowie der Urschrift des Textes »Tonio Krögers Löwen« ist in der Reihe »Aus dem Archiv des Buddenbrookhauses« vorgesehen – zusammen mit einer erweiterten Fassung dieses Beitrags und einer ausführlichen Interpretation des Löwentextes. 24 Blumenberg, Löwen (wie Anm. 13), S. 113–114. 25 Ebd., S. 113. 23
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»Mißachtung« und »Versöhnungsversuch« – Hans Blumenberg und Lübeck
Denn kaum hatte sich die von Tonio Kröger ungeliebte Stadt aus den Trümmern wieder erhoben – der Autor des Tonio Kröger hatte beigetragen zur Rettung des Sieben-Türme-Bildes –, waren die Löwen wieder da. 26
Die Unsichtbarkeit ist ein wichtiges Motiv in Blumenbergs Gedankenwelt. Sichtbarkeit bedeutet bei ihm auch Verwundbarkeit. Die kunstvolle Schichtentechnik, die wir in seinem letzten Brief an uns und in »Tonio Krögers Löwen« so eindrücklich entdecken können, liegt in seiner Biographie begründet. Nur weil er sich verbergen konnte, hat er die »Jahre des Ungeistes« 27 überlebt. Es ist entlastend zu wissen, dass der aufrichtige Versöhnungsversuch seiner Vaterstadt Hans Blumenberg nach dem jahrzehntelangen Trauma der erlittenen Missachtung noch erreicht hat. 28
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Ebd., S. 109–111. Blumenberg, An Rosenthal erinnernd (wie Anm. 12), S. 57. Vgl. Schreiben von Ursula Blumenberg (wie Anm. 16). A
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Zettelka¨sten Der Nachlass von Hans Blumenberg befindet seit 2002 im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und umfasst etwa 200 Archivkästen mit handschriftlichem Material sowie 1 435 Bücher aus seiner Arbeitsbibliothek. Der Philosoph arbeitete nach einem selbst entwickelten System, in dem der Zettelkasten, der allein 32 Archivkästen füllt, eine zentrale Rolle spielte. Seine erste KarteikartenSammlung, die auf den Beginn der 1940er Jahre zurückgeht, verbrannte im Krieg. Mit dem bis heute erhaltenen Zettelkasten begann Hans Blumenberg spätestens 1947.
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»Aufkla¨rung« Hans Blumenberg bewahrte seine ca. 30 000 Karteikarten in Holzkästen auf, die er in einem feuersicheren Stahlschrank einschloss. Heute befinden sie sich im DLA Marbach und sind dort für die Forschung zugänglich.
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Reiz-Reaktions-Schema In einem Vorlesungsmanuskript zur Anthropologie veranschaulicht Blumenberg den Gedanken der spezifisch menschlichen »Latenz der Reaktion«, der actio per distans, mit Hilfe eines Regelkreises (vgl. Beschreibung des Menschen, S. 554–562). Da es sich um ein allgemeines anthropologisches Modell handelt, muss es sich auch auf den Autor selbst anwenden lassen. Als Rezeptor war Blumenberg Leser, als Effektor Autor. Seine Umwelt bestand vor allem aus Artefakten, nämlich aus Texten, deren unüberschaubare Vielzahl beängstigen konnte. Der Übermacht des bereits von anderen Gedachten begegnete er mit einer Verzögerungstechnik, mit Denkpausen, die er zum Beschreiben und Sortieren von Karteikarten nutzte. Bei Blumenberg haben nahezu alle Akte der Lektüre, der Interpretation und der Ordnung im Zettelkasten materielle Gestalt angenommen.
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Lektu¨rebuch Der Prozess der Aneignung begann jeweils mit der Lektüre von Büchern, Aufsätzen oder Zeitungsausschnitten. Schon im Akt der Rezeption zeigt sich der spätere Autor Blumenberg als Virtuose; er liest die unterschiedlichsten Bücher neben- und nacheinander. In einem schwarzen Notizbuch protokollierte Hans Blumenberg minutiös, wann er welche Bücher gelesen oder welche Filme er im Fernsehen gesehen hatte. So sah er beispielsweise am 27. Juni 1977 im Fernsehen Strindbergs Vater, einen Tag später beendete er die Lektüre von Heideggers Marburger Vorlesung »Grundprobleme der Phänomenologie«.
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Lesekarte: Georg Simmel, Soziologie Sorgfältig unterstrich Hans Blumenberg für ihn bedeutsame Stellen in Büchern mit Lineal und Stiften. Unterschiedliche Farben und Stifte deuten auf mehrfache Lektüre hin. Schon während des Lesens legte er individuelle Sachregister auf gelben Karteikarten an, die in den Büchern verblieben. Sie zeigen, dass er weniger an der Gesamtaussage von Büchern als vielmehr an bestimmten, von ihm gewählten Themen und Begriffen interessiert war. Beim Lesen von Simmels Soziologie reichte sein Themenspektrum von philosophischen Konzepten – Leben, Intersubjektivität, Negation – bis zu Metaphern und Bildern wie Quelle, Boden oder Insel. Bei jeder Lektüre spannt er das Netz seiner »Lebensthemen« aus. A
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Bibliographie Nicht nur über die Rezeptionsseite, sondern auch über seine Produktionsseite gab Blumenberg sich schriftlich Rechenschaft: In einem eigenen Buch notierte, nummerierte und datierte er, ebenfalls über Jahrzehnte hinweg, seine Publikationen. Aufgenommen wurden Schriften, die er für substantiell hielt. Ausgespart blieben eine Reihe von Rezensionen und kleinen Artikeln, die Blumenberg in den 1950er Jahren unter Pseudonym veröffentlicht hatte.
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Vortragsliste 1946–1984 / Liste der Vorlesungen und Seminare 1948–1985 Neben den Veröffentlichungen führte Hans Blumenberg auch Buch über seine Vorträge, seine Vorlesungen und Seminare. Im Sommersemester 1979, nach der Arbeit am Mythos, bot Hans Blumenberg eine Vorlesung zu »Goethes ungeheurem Spruch« an, gleichzeitig damit eine Vorlesung zu Problemen der Phänomenologie und zum Werk von Maurice Merleau-Ponty.
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Karteikarte »Faust nach Goethe« Anhand der Nummer kann diese Karte auf das Frühjahr 1947 datiert werden. Die drei roten Striche am rechten oberen Rand markieren, dass sie bereits für ein Projekt verwendet wurde. Auf der Rückseite der Karteikarte, in der linken oberen Ecke, notierte Hans Blumenberg gegebenenfalls, für welche Projekte er eine Karte bereits verwendet hatte. Die Karte 501 ist dreifach gekennzeichnet: Im Oktober 1949 benutzte er sie für seinen Vortrag »Paul Valérys Vergegenwärtigung des Faust« über Valérys Mon Faust. Im August 1975 fand sie Eingang in einen Text mit der Abkürzung »LAM«, der in Die Genesis der kopernikanischen Welt einging, und ein drittes Mal im März 1979 für das Kapitel X von Arbeit am Mythos.
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Nemo contra deum Bis in die 1950er Jahre schrieb Hans Blumenberg die Karteikarten mit der Hand, später benutzte er dafür die Schreibmaschine; in den 1970er und 1980er Jahren diktierte er die Kartentexte seiner Sekretärin mit Hilfe eines Diktiergeräts, der »Stenorette«. Um unnötige Schreibarbeit zu vermeiden, erfand Hans Blumenberg Siglen für die Titel seiner Texte. NCD steht für »Nemo contra deum«, den Anfang des Mottos des Vierten Teils von Goethes Dichtung und Wahrheit: »Nemo contra deum nisi deus ipse.«
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Verzeichnisse der Karteikarten Die Karten wurden mit einem Rollstempel in der Folge ihrer Entstehung nummeriert und später unter inhaltlichen Gesichtspunkten unterschiedlichen Kästen und Reitern zugeordnet. Um auf die jeweiligen Karten und Nummern zurückgreifen zu können, wurden die Karten mit einem kurzen inhaltlichen Stichpunkt in eine gesonderte Liste eingetragen. Hier fand offenbar auch die »Verwaltung« des Zettelkastens statt, denn Karten, die aus dem Kasten entfernt wurden, wurden auch aus der Liste gestrichen. Die Karte 501 blieb zur späteren Verwendung im Kasten. A
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Statistisches Neben den Listen der Karteikarten gab sich Hans Blumenberg auch über die Quantitäten der jährlichen Zuwächse im Zettelkasten Rechenschaft. Anhand der zu diesem Zweck angelegten Karte ist es möglich, einzelne Karteikarten relativ genau zu datieren, man kann sich damit auch ein Bild der Produktivität des Autors in den einzelnen Jahren machen.
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Manuskriptschuber Buchmanuskripte, die nahezu fertig waren, oder Text- bzw. Materialsammlungen für besonders wichtige Projekte bewahrte Hans Blumenberg in blauen, roten oder orangfarbenen Leinenschubern auf. Diese stammten noch aus dem Besitz seines Vaters und tragen das Signet des Kunstverlags J. C. Blumenberg: einen Mann mit Trompete.
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Vero¨ffentlichungsnachweise Blumenbergs Fähigkeit zur rhetorisch pointierten Formulierung fand in der Kürze der Karteikarten wie auch im Kurzessay ein ideales Medium. Doch der Autor sah auch die Gefahr der Zerstreuung und Fragmentarisierung. In den 1980er und 1990er Jahren erschienen neben großen Werken eine ganze Reihe kleinerer Texte in Zeitschriften wie Akzente und in Tageszeitungen, vor allem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung. Die erste Auswahl aus dem großen Fundus kleiner Texte erschien 1987 unter dem Titel Die Sorge geht über den Fluss in Buchform.
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Ausgesonderte Karteikarten Karteikarten, die der Autor »aus dem Verkehr« ziehen wollte, um sich selbst an einer weiteren Verwendung zu hindern, wickelte er in Papier oder Umschläge ein. Die Pakete kennzeichnete er mit einer Sigle für das entsprechende Thema wie »Thomas« für Thomas von Aquin, »cur« für curiositas und dem Vermerk »erl. KK«. Die Zahl der aussortierten Karten entspricht ungefähr derjenigen, die im »aktiven« Zettelkasten verblieben.
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Kurzessay Neben seinen Buchprojekten und seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor wendete sich Blumenberg zunehmend kleineren essayistischen Formen zu. Im Nachlass ist ein fast 10 000 Seiten umfassenden Konvolut mit Kurzessays erhalten, die oft nur eine Seite lang sind. Blumenberg nannte sie »UNF«, was sowohl für »Unfertiges« als auch – wie er selbst einmal behauptete – für »Unerlaubte Fragmente« stehen könnte.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Cornelius Borck ist Direktor des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck und seit Sommer 2011 Sprecher des Zentrums für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck. Studium der Medizin und Philosophie, 2003 Habilitation für Medizin und Wissenschaftsgeschichte. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsgeschichte, Hirnforschung zwischen Medientechnik und Neurophilosophie, Mensch-Maschine-Verhältnisse in Kunst und Wissenschaft, Ästhetik und Epistemologie des Experiments. Ulrich von Bu¨low, nach dem Germanistik-Studium in Leipzig Lektor im Hinstorff Verlag Rostock, seit 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Literaturarchiv Marbach, seit 2006 Leiter der Abteilung Archiv. Autor von Aufsätzen und Büchern u. a. über Franz Fühmann, Arthur Schnitzler, W. G. Sebald und Peter Handke. Herausgeber von Texten u. a. von Rainer Maria Rilke, Erich Kästner, Karl Löwith, Martin Heidegger, Joachim Ritter und Hans Blumenberg. Alberto Fragio earned his PhD in Philosophy (2007) from the Universidad Autonoma of Madrid and in Culture Sciences (2011) from the Scuola Internazionale di Alti Studi di Modena (Italy). He is currently a Gerda Henkel Stiftung postdoctoral researcher (Marie Curie Fellowship M4HUMAN programme) at the Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck, with a research project on Hans Blumenberg’s metaphorology of cosmos and history of astronomy. Ju¨rgen Goldstein, Professor für Philosophie, lehrt an der Universität Koblenz-Landau. Studium in Münster, Dissertation: Nominalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham; Habilitation an der UniverA
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Zu den Autorinnen und Autoren
sität Bonn: Kontingenz und Rationalität. Eine Studie zur Genese des Cartesianismus. Zuletzt erschienene Monographien: Perspektiven des politischen Denkens. Sechs Portraits, Weilerswist 2012; Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsgeschichte, Berlin 2013. Pini Ifergan teaches philosophy at Bar-Ilan University, Israel. He is the author of The Tragedy in Ethical Life: Hegel’s Philosophy and the Spirit of Modernity (in Hebrew) 2010. He is the editor of the Hebrew version of Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher (2006) which includes an essay in which he introduces Blumenberg’s thoughts to the philosophical community in Israel. He has written and published several articles on the philosophy of Hans Blumenberg. His forthcoming Book Autonomy, Alienation, and the Ethical Life: The Jena Lectures 1803–1806 will be published in 2014 at Palgrave Macmillan London. Ada Kadelbach studierte Schulmusik, Musikwissenschaft, Amerikanistik und Anglistik in Mainz, Bristol und Lawrence/Kansas. 1972 wurde sie mit einer Studie zur Verpflanzung, Bewahrung und Umformung europäischer Kirchenliedtradition in Nordamerika promoviert. Nach Berufstätigkeit als Philologin, Journalistin, Musikschulleiterin und Referentin für Literatur, Musik, Museen im schleswig-holsteinischen Kultusministerium leitete sie von 1991 bis zum Eintritt in den Ruhestand 2003 das Amt für Kultur der Hansestadt Lübeck. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kultur-, Literatur- und Musikgeschichte Lübecks sowie zu ihrem eigentlichen Forschungsgebiet, der interdisziplinären Kirchenlied- und Gesangbuchforschung. Seit 1991 Mitherausgeberin des Jahrbuchs für Liturgik und Hymnologie. Margarita Kranz studierte in Würzburg und Tübingen Philosophie, Gräzistik, Germanistik, Musikwissenschaft und promovierte 1986 über Platons Spätdialoge. Sie war Redaktionsleiterin und später Mitherausgeberin beim Historischen Wörterbuch der Philosophie bis zum Abschluss des Werkes. Veröffentlichungen vor allem zur antiken Philosophie und jüngeren Wissenschaftsgeschichte. Dorit Krusche studierte Germanistik und Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitet seit 2003 als Mitarbeiterin der Abteilung Archiv im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Von 290
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Zu den Autorinnen und Autoren
2008 bis 2010 ordnete und verzeichnete sie den Nachlass von Hans Blumenberg. Publikationen u.a. zu Ricarda Huch, Gottfried Benn, Rudolf Borchardt, Ina Seidel und Karl Otten. Barbara Merker, Professorin für Philosophie in Frankfurt/M. Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte in Münster, Dissertation: Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Zu Heideggers Transformation der Philosophie Husserls; Habilitation: Wünsche und Bedürfnisse und ihr Zusammenhang mit dem Glück. Lehrstuhlvertretungen in Erfurt und Bremen. Forschungsinteressen: Praktische Philosophie, Theoretische Philosophie (v. a. Phänomenologie, Theorien der Intentionalität), Theorie der Emotionen, Kulturphilosophie. Oliver Mu¨ller studierte Philosophie und Neuere Deutsche Literatur in Heidelberg, Hamburg, Venedig und an der Humboldt-Universität zu Berlin, promovierte über Hans Blumenbergs phänomenologische Anthropologie. 2012 wurde er an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg habilitiert. Seit 2005 leitet er am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Freiburg verschiedene Projekte zu philosophischen und ethischen Fragen aktueller Medizintechnologien (BMBF, DFG) und Projekte zur künstlerischen Reflexion von Technisierungsprozessen (Kulturstiftung des Bundes, EU). Seit 2012 ist er »Principal Investigator« im Freiburger Exzellenzcluster »BrainLinks-BrainTools«. Birgit Recki hat in Düsseldorf und Münster Philosophie und Soziologie studiert. Nach ihrer Promotion 1984 und Habilitation 1995 ist sie seit 1997 Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg und hat dort von 1997 bis 2009 die Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle geleitet. Ihre Arbeitsgebiete: Ethik, Ästhetik, Kulturphilosophie/Anthropologie. Forschungsschwerpunkte liegen historisch im 18. Jh. (Kant; Aufklärung) und in der zeitgenössischen Philosophie (Neukantianismus; Kritische Theorie der Gesellschaft), systematisch auf Grundlegungsproblemen der Ethik (Freiheit, Verantwortung, Kriterien moralischen Handelns, die Rolle der Gefühle in der moralischen Orientierung); ungeschriebenen Ethiken des 20. Jh.; Ethik & Ästhetik; Grundlegungsproblemen der Ästhetik; Theorie der ästhetischen Erfahrung; Ästhetik des Kinos; Theorie der Kultur.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Philipp Stoellger, Studium der evangelischen Theologie und Philosophie, promoviert mit der Arbeit Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, Tübingen 2000, habilitiert mit der Arbeit Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer categoria non grata, Tübingen 2010. Seit 2007 Ordinarius für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock, Vorsteher des Instituts für Bildtheorie (ifi) der Universität Rostock, Vorsitzender der Gesellschaft für interdisziplinäre Bildwissenschaft (GIB), Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs 1887: Deutungsmacht: Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten. Forschungsgebiete: Anthropologie und Christologie; Hermeneutik, Religionsphilosophie und Bildwissenschaft. Ru¨diger Zill studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie in Berlin und London. 1994 Promotion in Berlin mit der Arbeit Meßkünstler und Rossebändiger. Zur Funktion von Modellen und Metaphern in philosophischen Affekttheorien. Arbeitet als wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum, Potsdam. Forschungsinteressen: Geschichte und Theorie der Emotionen; Metaphern- und Begriffsgeschichte; Bildtheorie und Ästhetik.
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Dank
Die Beiträge dieses Bandes gehen auf die Tagung Hans Blumenberg – Geschichte(n) des Wissens zurück, die als gemeinsame Veranstaltung vom Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck und dem Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum/Buddenbrookhaus vom 14. bis 17. Oktober 2010 in Lübeck in Kooperation mit dem St. Petri-Kuratorium und dem Theater Lübeck stattgefunden hat. Im Namen aller Organisatoren danke ich den Lübecker Stiftungen für die großzügige Förderung, die auch die Drucklegung der nun versammelten Aufsätze ermöglicht hat. Mein besonderer Dank gilt Frau Bettina Blumenberg für ihr persönliches Interesse und die wohlwollende Begleitung dieses Projekts durch alle seine Phasen sowie für die Erlaubnis, noch nicht publizierte Archivalien aus dem Nachlass ihres Vaters zu verwenden. Im Namen der Autorinnen und Autoren danke ich ebenfalls dem Deutschen Literaturarchiv Marbach für den Zugang zum Nachlass von Hans Blumenberg und das Entgegenkommen, hier im Buch einen Blick in diesen Nachlass zu gestatten. Ein solches Buch braucht zu seiner Realisierung viele helfende Hände und mitdenkende Köpfe. An erster Stelle danke ich allen Autorinnen und Autoren, die ihre Vorträge meist in grundlegend überarbeiteter und erweiterter Form für den Druck zur Verfügung gestellt haben. Frau Friederike Borngräber und Frau Angela Mötsch danke ich für die sorgfältige Durchsicht der Manuskripte und deren Einrichtung für den Druck, Frau Leena Kozhuppakalam und Herrn Lukas Trabert für die vorzügliche Betreuung des Bandes seitens des Verlags.
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