Lesbarkeit nach Hans Blumenberg 311069204X, 9783110692044, 9783110692426, 9783110692518, 2020946587

Hans Blumenbergs Schriften beziehen sich auf ein breites Textkorpus, liefern aber keine Theorie des Lesens. Die Studie v

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German Pages 301 [312] Year 2020

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Table of contents :
Danksagung
Inhalt
1. Einleitung
2. Deformationskräfte
3. Ansprüche der Lesbarkeit
4. Lektüre – „Ansatz von oder zu Theorie“
5. Betreffbarkeit
6. Literatur
7. Namenregister
8. Drucknachweise
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Lesbarkeit nach Hans Blumenberg
 311069204X, 9783110692044, 9783110692426, 9783110692518, 2020946587

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Alexander Waszynski Lesbarkeit nach Hans Blumenberg

Hermaea

| Germanistische Forschungen Neue Folge Herausgegeben von Christine Lubkoll und Stephan Müller

Band 155

Alexander Waszynski

Lesbarkeit nach Hans Blumenberg |

Überarbeitete und ergänzte Fassung der Dissertation, Philosophische Fakultät der Universität Erfurt, 2018

ISBN 978-3-11-069204-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069242-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069251-8 ISSN 0440-7164 Library of Congress Control Number: 2020946587 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

| Le monde? Un texte? Maurice Blanchot

Danksagung Für wesentliche Hinweise und Gespräche danke ich Hannes Bajohr, Carolin Bohn, Jörg Dünne, Andrea Erwig, Sonja Feger, Sandra Fluhrer, Anna Förster, Michael Friedrich, Thomas Glaser, Anselm Haverkamp, Rudolf Helmstetter, Franziska Je­ kel-Twittmann, Nicole C. Karafyllis, Annina Klappert, Johannes Kleinbeck, Alex­ ander Knopf, Robert Loth, Joachim Luchterhand, Michael Mayer, D. S. Mayfield, Jens-Christoph Nehring, Anne-Katrin Nelke-Levy, Heinrich Niehues-Pröbsting, Nils Plath, Julia Prager, Antonia Purk, Nadja Rümelin, Ilka Saal, Armin Schä­ fer, Dietmar Schmidt, Hanna Sohns, Wolfgang Struck, Katrin Trüstedt, Johannes Ungelenk, Nicola Zambon und Rüdiger Zill sowie dem Erfurter literaturwissen­ schaftlichen Kolloquium. Ganz besonders gilt mein Dank Bettine Menke und Georg Christoph Tholen, deren Vertrauen, intensive Auseinandersetzung mit dem Text und konstruktive Kritik das Entstehen der Arbeit erst möglich gemacht haben. Unersetzbar bleibt die Begleitung des gesamten Projekts sowie die Durch­ sicht des Manuskripts durch Tobias Schmidt. Die Universität Erfurt hat das Vor­ haben mit einem Landesgraduiertenstipendium unterstützt. Bettina Blumenberg und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach sei für die freundliche Genehmi­ gung gedankt, Materialien aus dem Nachlass Hans Blumenbergs abdrucken zu können. Die Recherche wurde gefördert durch ein Suhrkamp- und ein MarbachStipendium. Für die konstruktive Betreuung vor Ort gebührt den MitarbeiterInnen des Deutschen Literaturarchivs Dank, insbesondere Dorit Krusche; für wertvol­ le Anregungen und die Aufnahme in die Reihe Hermaea. Neue Folge: Christine Lubkoll und Stephan Müller; für die hervorragende verlagsseitige Betreuung: Marcus Böhm und Susanne Rade; für den sorgfältigen Satz: dem Team der le-tex publishing services GmbH; für Unterstützung und Langmut: meiner Familie.

https://doi.org/10.1515/9783110692426-201

Inhalt Danksagung | VII 1

Einleitung | 1

2 2.1

2.4

Deformationskräfte | 12 Weder Theorie noch Ästhetik: Einstellungen als Aufgaben (Valéry) | 12 Ersatzverfahren: Blumenbergs Annäherungsaufsatz | 33 1946/47: Das Konzept der Rezeption als Gegenentwurf zur Destruktionsthese (Heidegger) | 52 Absolute Tropen: Im Vorfeld der Metaphorologie (Quintilian) | 74

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Ansprüche der Lesbarkeit | 89 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte | 89 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ | 125 Rivalitäten, Lesarten, Gewaltenteilung (Goethe) | 152 Möglichkeit und Kontingenz der Metapher (Leibniz) | 166

4 4.1

Lektüre – „Ansatz von oder zu Theorie“ | 179 Lesbarkeit als negative Größe in den Phänomenologischen Schriften | 179 Texten gerecht werden: Dekonstruktion und Lesbarkeit | 185 Statt eines Anfangs: Höhlenausgänge (Proust) | 196 Die Textkonstellation als Argument in Paradigmen zu einer Metaphorologie (Plotin) | 207 Lebenswelt-Lektüre (Fontane) | 222

2.2 2.3

4.2 4.3 4.4 4.5 5 5.1 5.2 5.3

Betreffbarkeit | 247 Kritik der Methode: Beschreibung des Menschen und Die ontologische Distanz | 247 Unabgegoltene Ansprüche: Das Kapitel XXII der Lesbarkeit der Welt | 254 Lesen im Plural | 276

X | Inhalt

6 6.1 6.2 6.3

Literatur | 280 Siglenverzeichnis der zitierten Schriften Hans Blumenbergs | 280 Verzeichnis der aus Hans Blumenbergs Nachlass (DLA Marbach) zitierten Materialien | 282 Weitere Literatur | 283

7

Namenregister | 296

8

Drucknachweise | 301

1 Einleitung Ziel dieser Untersuchung ist es, unter dem Stichwort der Lesbarkeit eine offenkun­ dige und zugleich latente Dynamik in Hans Blumenbergs Schriften zu erschlie­ ßen:¹ offenkundig, weil sie umfassende Lektüregänge ausstellen; latent, weil sie kaum Methodisches dazu preisgeben.² Verstreute Bemerkungen über ‚den Leser‘ dienen eher der Abgrenzung vom Projekt der Rezeptionsästhetik. Blumenbergs Monographie Die Lesbarkeit der Welt (1981),³ der das Schließen der Lücke zuge­ traut werden könnte, zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie „keine metho­ dische Abhandlung mehr“⁴ ist.⁵ Im Klappentext heißt es zwar, Metaphorologie sei „ein Verfahren“; betont wird jedoch nur die instrumentelle Seite: ein „Verfah­ ren, die Spuren“ epistemologischer „Wünsche und Ansprüche aufzufinden, die man durchaus nicht als ‚verdrängt‘ etikettieren muß, um sie interessant zu fin­ den.“ (LW, Klappentext) Nichts ist gesagt über die Art des Zugangs, über die Arbeit der Lektüre in der und als Theorie. Im Gegenteil: „Eine derart auf Nichterfüllun­ gen [. . . ] gerichtete Fragestellung hat Schwierigkeiten, sich ihrer Quellen zu versi­ chern.“ (LW, 9) Damit hebt sich der Ansatz von toposgeschichtlichen Vorläufern ab. Ginge es allein um die Fallgeschichte der Metapher vom Buch der Natur, gäbe es derlei Schwierigkeiten nicht.

1 Einen wichtigen Hinweis auf den Stellenwert des Problems der Lesbarkeit für Blumenbergs Werk hat Thomas Meyer gegeben: „Es sind die Lücken, die unausgewiesenen Voraussetzungen und die übersprungenen Stufen von Begriffs- und Ideengeschichten, die unter dem Stichwort Lesbarkeit wieder zugänglich werden.“ Thomas Meyer, „Lesbarkeit“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 171–184, hier: 174. Zu den verschie­ denen Dimensionen der Lesbarkeit im Werk – zum Lesen von Theorie, zu Stil, Schreiben und Lektüre Blumenbergs wie auch zum Stellenwert des Nachlasses – vgl. die Einleitung der Heraus­ geber (11–25, insbesondere 16–20). 2 Noch weniger zu einer „Philosophie der Philologie“: Friedrich Schlegel, Brief an Friedrich Im­ manuel Niethammer, 26. August 1797, in: ders., Werke. Kritische Ausgabe [KFSA], Band 24, hg. v. Raymond Immerwahr, München u. a. 1986, 12. 3 Textstellen aus Publikationen Hans Blumenbergs werden unter Angabe von Sigle und Seiten­ zahl zitiert. Vollständige Nachweise finden sich im Siglenverzeichnis (6.1). Nachlassmaterialien werden gesondert ausgewiesen und verzeichnet (6.2). 4 Anselm Haverkamp, „Die Technik der Rhetorik. Blumenbergs Projekt“, in: Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, aus dem Nachlass hg. v. Anselm Haverkamp, Frank­ furt am Main 2001, 435–454, hier: 437. 5 Ralf Konersmann erkennt im Projekt der Metaphorologie sogar eine „implizite Verweigerung einer universalen Methode“. Ralf Konersmann, „Vernunftarbeit. Metaphorologie als Quelle der historischen Semantik“, in: Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, hg. v. Franz Josef Wetz und Hermann Timm, Frankfurt am Main 1999, 121–141, hier: 140. https://doi.org/10.1515/9783110692426-001

2 | 1 Einleitung

Die Auseinandersetzung mit einer nicht-instrumentellen Seite des Verfahrens muss über eine „Beschreibung des Lesens“ (PhS, 401) deutlich hinausführen. Die nachfolgenden Analysen gelten dem Zusammenhang zwischen historisch wan­ delbaren Ansprüchen auf Sinnbesitz, den Bewegungen der Texte, die sie tragen, und dem, was Blumenberg wiederholt als „Autokatalyse“ von Geltungsansprü­ chen aufgewiesen hat (vgl. AE, 18; ThL, 98). Für beides, Ansprüche wie Rück­ schläge, steht das Paradigma der Lesbarkeit. Es kommt zum Tragen, wenn das In-Erscheinung-Treten stockt: „Wenn es immer das letzte Selbst ist, was sich zeigt, wird die Buchmetaphorik gegenstandslos“ (LW, 90). Bei Blumenberg ist ‚Lesbar­ keit‘ kein Begriff, der einer Prägung wie „Epochenschwelle“ (AE, 21) gleichrangig wäre. Eher handelt es sich um einen Begriff mit diagnostischer Funktion. Er er­ fasst nicht die Welthaltigkeit von Texten oder das Schriftvorkommen in der Welt, sondern bündelt Versuche, die Welt als verstehbaren Text zu denken. Die Verbindung von Welt und Lesbarkeit steckt vor allem einen phänomeno­ logischen Arbeitsbereich ab: „Die Lesbarkeit der Welt ist ohne Zweifel das Feld, das die Phänomenologie als ihr Stammland betrachtet.“⁶ Wenn etwas stets als etwas erscheint und dies, mit Bernhard Waldenfels, die grundlegende „signifika­ tive[] Differenz“⁷ ausmacht, wirft Blumenbergs Lesbarkeit der Welt die Frage nach der Möglichkeit solcher Sinnstrukturen auf. Für Waldenfels tilgt die Als-Struktur die Ansprüche des pathischen Ereignisses, indem sie sie durch etwas anderes er­ setzt.⁸ Im Folgenden wird gezeigt, dass bei Blumenberg Weisen der Depotenzie­ rung in durchaus vergleichbarer Weise aufgegriffen werden: nicht nur am Beispiel einer als lesbar vorgestellten Welt, sondern überhaupt mit Blick auf rhetorische Verfahren und Varianten des Distanzgewinns. Die elementaren und immer wieder zurückgedrängten Ansprüche sind dabei weder die des Ganzwirklichen noch die des ‚Anderen‘, sondern sie sind – ursprünglich – historisch und textuell. Diese In­ terpretation, die sich aus einer Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die Verfahren der Thesenbildung ergibt, hat Folgen für die zuletzt beinahe Konsens gewordene anthropologische Deutung von Blumenbergs Schriften, ebenso für seine Diskus­ sion der Metapher. Die Studie zur Lesbarkeit der Welt richtet sich auf das „Ganze der Erfahrbar­ keit“ (LW, 9),⁹ nicht auf das punktuelle oder singuläre Erfahren. Sie stellt die Ver­

6 Matthias Fischer, Differente Wissensfelder – Einheitlicher Vernunftraum. Über Husserls Begriff der Einstellung, München 1985, 49. 7 Bernhard Waldenfels, Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt am Main 1980, 86. 8 Vgl. Bernhard Waldenfels, Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Berlin 2015, 166; 272. 9 Die Monographie zum Scheitern der Ansprüche auf Ganzheit steht im Kontext eines Schreib­ verfahrens, das – nachdem das Rezeptionsverfahren dies bereits ausgereizt hatte – auch in der

1 Einleitung

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3

suche, die Möglichkeitsbedingung von Welterfahrung zu erfassen, als historisch labil aus. Die Idee der Lesbarkeit umfasst zwar „Zugänglichkeit“ (LW, 12), „Verfüg­ barkeit“ (LW, 10) und „intensive[] Erfahrung“ (LW, Klappentext), aber auch das Gegenteil: bloß vermitteltes Erscheinen, Delegation von Erfahrung und „Qualen [der] Auslegung“ (LW, 12). Die Schwierigkeiten, den Einsatzpunkt der Lesbarkeit der Welt zu benennen, hängen auch damit zusammen, dass die Weltbuchmeta­ pher, die das Sich-Zeigen der Phänomene stört und zugleich ermöglichen soll, ihrerseits als historisches Phänomen verstanden wird. Metaphorologie ist textu­ elle Phänomenologie, weil sie nicht das Erscheinen selbst, sondern, über lange historische Zeiträume hinweg, das stockende In-Erscheinung-Treten sprachlicher Formationen untersucht, die sich an die Stelle des Erscheinens geschoben haben. Angesichts der „‚Verborgenheit‘ der Metapher“ (PM, 14) bedarf es zu ihrem Nach­ weis einer „Technik der Texterschließung“.¹⁰ Blumenbergs Schriften setzen sich insgesamt mit ihren Gegenständen aus­ einander, indem sie deren Gegebenheitsweise als Gegenstände hinterfragen: kei­ ne Diskussion ‚der Metapher‘ ohne Diskussion dessen, was mit ‚Metaphorologie‘ gemeint sein kann, keine Auseinandersetzung mit ‚der Neuzeit‘ oder ‚dem Men­ schen‘ jenseits einer Kritik der Diskurse, die mitproduziert haben, was darunter verstanden worden ist. Hierbei ergeben sich Rückkopplungseffekte, wie Herbert Kopp-Oberstebrink gesehen hat: „Die historiographische Arbeit am historischen Material ist zugleich die am kategorialen Apparat zu dessen Erfassung und umge­ kehrt.“¹¹ Es gibt eine Tendenz, die Gegenstände komplikationsloser erfassen zu wollen. Das lässt sich am Titel der aus dem Nachlass herausgegebenen Geistesge­ schichte der Technik (2009) veranschaulichen. Die zugrundeliegenden Typoskrip­ te kennen zwar diese Wortkombination, sind aber ausführlicher betitelt: „Einige Schwierigkeiten, eine Geistesgeschichte der Technik zu schreiben“ (1966/67) oder „Methodologische Probleme einer Geistesgeschichte der Technik“ (1967). Die Ab­ schattung methodologischer Schwierigkeiten ist Folge eines themenzentrierten Zugangs; nicht ohne Ironie ist, dass sich dabei die von Blumenberg erarbeitete Konstellation – Technik verstanden als Anspruch, im Sprunge voran zu kommen (vgl. Technisierung, 34) – in der Rezeption wiederholt. Im Folgenden geht es vor

Produktion zunehmend fragmentarischer wird. Blumenberg hat etwa 10.000 Seiten solcher nur wenige Typoskriptseiten umfassenden und mit der Sigle UNF gekennzeichneten Texte verfasst, von denen noch immer ein großer Teil unveröffentlicht ist. Vgl. dazu Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, „Nachwort“, in: Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, aus dem Nachlass hg. v. Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, Berlin 2012, 271–285, hier: 282–283. 10 Meyer, Lesbarkeit, 174. 11 Herbert Kopp-Oberstebrink, „Umbesetzung“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 350–378, hier: 350.

4 | 1 Einleitung

allem um das, was übersprungen wird, wenn die Gegebenheitsweise der Themen und Begriffe unbefragt bleibt, auch die von Blumenbergs eigenen Thesen. Den Widerständen im Thematisieren entspricht die Angreifbarkeit des The­ matisierten. Etymologisch hängen ‚Thema‘ und ‚These‘ im τιϑέναι (setzen, stel­ len, legen) zusammen. Es umfasst nicht nur die Bedeutungen des Hinstellens und Festsetzens, sondern meint auch „in die Mitte legen, allgemein preisgeben“.¹² Die mit und nach Blumenberg gestellte Aufgabe besteht darin, solche Preisgaben nicht als nachträglichen Effekt, sondern als Konstituens von Setzungsbewegun­ gen zu erkennen. Der in Beschreibung des Menschen (2006) prominent ausgearbei­ tete Begriff der „Betreffbarkeit“ (BM, 833) ist dazu in seinem Bezug zum Komplex der Lesbarkeit aufzuweisen. So lässt sich ein bislang zu wenig berücksichtigtes Vorfeld der bekannten Konstellation erschließen, in der das betreffbare Mängel­ wesen den „Absolutismus der Wirklichkeit“ (AM, 9) mithilfe von Mythen und Me­ taphern (wie der vom Buch der Natur) abbaut:¹³ das der Verfahrenstechniken. Als ‚Technik der Stoffumwandlung‘ bleibt der Ausdruck ‚Verfahrenstechnik‘ innerhalb des von Blumenberg selbst gewählten Bildfelds, das in den Paradig­ men zu einer Metaphorologie (1960) über das „Halbzeug“ (PM, 33) eingeführt wird.¹⁴ Zu zeigen ist, wie Blumenberg seine Stoffe umwandelt und welche Argu­ mente sich aus diesen Umwandlungen ergeben. Zugunsten der Anbindung der Interpretation an lebenswelttheoretische Überlegungen zur „Entselbstverständ­ lichung“ (Technisierung, 48) stelle ich Analysen metaphorischer Hintergründe und materieller Dispositive, wie es z. B. hinsichtlich des Zettelkastensystems naheläge, zurück. Mit Rücksicht auf den Schlusssatz aus Blumenbergs Dankesre­ de zum Sigmund-Freud-Preis (1980) – „Nachdenklichkeit“ bedeute, „daß nichts

12 Vgl. Wilhelm Gemoll und Karl Vretska, Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, 10., völlig neu bearb. Aufl., bearb. und durchges. von Therese Aigner, München 2006, 792. 13 Vgl. dazu u. a. Odo Marquard, „Entlastung vom Absoluten: In memoriam“, in: Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, hg. v. Franz Josef Wetz und Hermann Timm, Frankfurt am Main 1999, 17–27 und Franz Josef Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, Ham­ burg 2004. Den Komplex „Absolutismus der Wirklichkeit“ ausführlich aufgearbeitet hat Andre­ as Klein, der in dieser Prägung – anknüpfend an Axel Beelmanns Studie Apologie des Sokrates (2004) – eine metaphorische Struktur erkennt: Andreas Klein, Zwischen Grenzbegriff und abso­ luter Metapher. Hans Blumenbergs Absolutismus der Wirklichkeit, Würzburg 2017, 179–196. 14 Zur literaturwissenschaftlichen Neubestimmung des Verfahrensbegriffs in Abgrenzung von rein industriell-mechanischen Kontexten vgl. grundlegend: Rüdiger Campe, „Verfahren. Kleists Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, in: Sprache und Literatur 43,2 (2012), 2–21; zum „Halbzeug“: Rüdiger Campe, „Von der Theorie der Technik zur Technik der Metapher. Blu­ menbergs systematische Eröffnung“, in: Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie, hg. v. Anselm Haverkamp und Dirk Mende, Frankfurt am Main 2009, 283–315, hier: 285–290.

1 Einleitung

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so selbstverständlich bleibt, wie es war“ (Nachdenklichkeit, 61) – soll ‚Lesbarkeit‘ vielmehr als Motivation solcher Nachdenklichkeit verstanden werden.¹⁵ Indem die Schwierigkeiten der Thematisierbarkeit bearbeitet werden, unterscheidet sich der hier verfolgte Ansatz von jüngeren Beiträgen zum Lesen als Thema.¹⁶ Nachvollzogen wird, dass und inwiefern Blumenbergs Schriften eine Ver­ schränkung von methodologischen, systematischen und historischen Fragestel­ lungen erproben, auch indem zentrale Thesen zunächst – und zuweilen nur – als Lektüren funktionieren. Für das Feld der Metaphorologie hat Rüdiger Campe hierzu einen entscheidenden Hinweis gegeben: Im Eröffnungszug der Metaphorologie [. . . ] springt das thematische Interesse, die drängende Frage der modernen Technik, auf die das Philosophieren antworten will, um in ein Verfah­ ren, durch das die Arbeit sich geduldig an ihren eigenen Zügen motiviert und orientiert: in das Verfahren der rhetorisch-technischen Lektüre.¹⁷

Solche Umschlagpunkte lassen sich an Lektüren von Autoren wie Plotin, Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Wolfgang von Goethe, Marcel Proust, Martin Heidegger, Paul Valéry und Theodor Fontane detailliert untersuchen. Insofern besteht eine Nähe zu Rüdiger Zills jüngst vorgebrachter These zur „Lesbarkeit des Denkens“.¹⁸ An eng umrissenen Passagen werden im Folgenden Lesarten entwickelt, die von Blumenbergs Ergebnissen teils abzweigen, sie fortführen oder eine gegenläufige

15 Zu ermitteln ist demnach die mit ‚Lesbarkeit‘ verbundene Affizierbarkeit: „‚Nachdenklichkeit‘ ist [. . . ] der Begriff oder vielmehr der selbsterklärende Name für das, was als Blumenbergs späte ‚skeptische Einstellung‘ zu bezeichnen ist. [. . . ] Nachdenklichkeit kommt auf, wenn man skep­ tisch genug war, um Störungen zuzulassen“. Kirk Wetters und Florian Fuchs, „Skepsis“, in: Blu­ menberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 276–290, hier: 288. 16 Hingegen besteht eine Nähe zum Konzept des ‚athematischen Lesens‘: Jürgen Paul Schwindt, „Das athematische Lesen“, in: Lektüren. Positionen zeitgenössischer Philologie, hg. v. Luisa Banki und Michael Scheffel, Trier 2017, 29–44. 17 Campe, Von der Theorie der Technik zur Technik der Metapher, 283. 18 Rüdiger Zill, Der absolute Leser. Hans Blumenberg – Eine intellektuelle Biographie, Berlin 2020, 9: „Blumenbergs Philosophie ist die eines Lesers – und das mit voller Überzeugung.“ Diese Beob­ achtung wird, hinsichtlich der philosophischen Praxis überhaupt, weiter abstrahiert: „Ein Groß­ teil der Philosophie ist in hohem Grade das Resultat von Lektüre, auch wenn sie sich stets das Selbstdenken auf die Fahne geschrieben hat.“ (9) Bedauerlicherweise kann Zills im Juni 2020 er­ schienene Monographie hier nicht mehr ausführlich ausgewertet werden. Die vorliegende Arbeit versucht, die argumentativen und systematischen Vorzeichnungen dieser Haltung, die von einer Vorordnung der Notwendigkeit der Lektüre ausgeht, in Blumenbergs Schriften zu ermitteln, un­ terscheidet sich dadurch jedoch generell von Ansätzen, die sich zunächst auf das „Denken“ oder den „Leser“ richten.

6 | 1 Einleitung

Richtung einschlagen. Diesem Vorgehen liegt die Annahme zugrunde, dass die inszenierte Vielstimmigkeit selbst als theoretischer Beitrag verstanden werden muss. Der erste Hauptteil („Deformationskräfte“) erläutert an vier Beispielen, wie Blumenbergs Texte solche Bewegungen suchen, die Gesetztes oder für gesetzt Ge­ nommenes destabilisieren. 2.1) Zu den ikonischen Elementen dieser Verunsicherungsprosa gehört Valérys objet ambigu, dem zwei Aufsätze (1964 und 1966) gewidmet sind. Dieser ‚un­ gegenständliche Gegenstand‘ impliziert nicht nur Vieldeutigkeit und einen Umbau epistemischer Dispositive;¹⁹ vielmehr wird seine Thematisierbarkeit zum Problem. An dem damit verbundenen Widerstreit zwischen theoreti­ scher und ästhetischer Einstellung lässt sich eine beiden gemeinsame Bewe­ gung einer Auf- und Preisgabe ausmachen, die sich nicht mehr mit Blumen­ bergs These zur ästhetischen Erfahrbarkeit des Unbestimmten in Deckung bringen lässt. 2.2) In „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ (1971) steht Unbestimmtheit im Mittelpunkt: Der Situationen der Unbestimmtheit ausge­ setzte Mensch ist jedoch zugleich unbestimmt hinsichtlich seiner Adressier­ barkeit. Er tritt auf als das von der Anthropologie Überdeterminierte und von der Phänomenologie Übergangene.²⁰ 2.3) Die Aufnahme philosophischer Probleme über eine methodologische An­ näherung lässt sich bis zu den Vorarbeiten zur Dissertationsschrift Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie (1947) zurückverfolgen. Gegen Martin Heideggers existenzialontologischen Alleinvertretungsanspruch hatte sie den Einwand vorgebracht, dass die De­ struktion des antiken Seinsverständnisses bereits in der mittelalterlichen Rezeptionsgeschichte am Werk sei. Dieser Einwand wird mit Blick auf Hei­ deggers methodischen Ansatz formuliert; im eigenen Methodenteil gebraucht Blumenberg den Begriff der Rezeption, um geistesgeschichtliche Umprägun­ gen zu beschreiben, die schon vor Sein und Zeit (1927) einen ursprünglichen Ansatz des Fragens gewinnen konnten. Vorbereitet wird damit die später

19 Vgl. Karin Krauthausen, „Hans Blumenbergs möglicher Valéry“, in: Zeitschrift für Kulturphi­ losophie 6 (2012), 39–63. 20 Alexander Schnell hat auf Basis eines ähnlichen Befunds und anhand der Beschreibung des Menschen einen Konvergenzpunkt zwischen transzendentaler Phänomenologie und phänome­ nologischer Anthropologie bestimmt: Alexander Schnell, Hinaus. Entwürfe zu einer phänomeno­ logischen Metaphysik und Anthropologie, Würzburg 2011, 108–121.

1 Einleitung

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mehrfach abgewandelte Argumentationsfigur zur Vorgängigkeit der Rezepti­ on²¹ bzw. Rezeptionsgeschichte.²² 2.4) Die Paradigmen zu einer Metaphorologie führen die absolute Metapher in re­ zeptionsgeschichtlicher Situation ein. Auch wenn, wie Anselm Haverkamp beobachtet hat, Quintilians Manual zur Ausbildung des Redners dabei an­ scheinend nicht im Detail wahrgenommen wird,²³ bewegt sich der Text in einer eigenartigen Nähe dazu. Ausgehend hiervon muss eher die binnen­ rhetorische Unterscheidung zwischen Katachrese und Metapher²⁴ als das Verhältnis von Begriff und Metapher beachtet werden. Die auf dieses Verhält­ nis bezogene Debatte zur möglichen Übereinkunft der Metaphorologie mit Jacques Derridas Metaphernkritik hat sich paradoxerweise zu einer konzep­ tuell geführten Auseinandersetzung entwickelt, in der ‚Textualität‘ mehr und mehr übersprungen wird.²⁵ Das, was Blumenberg über Metaphern sagt, lässt

21 Bereits 1991 ist auf die Häufung der Rezeptionsdispositive in Blumenbergs metaphorologi­ schen Schriften hingewiesen worden: „each work emphasizes the extent to which the observer and the act of observation are themselves metaphorical and constituted by the very metaphors being studied. The ambiguity of the position of the author and reader of these works and the preoccupation with the concept of the observer–whether as Betrachter, Beobachter, Zuschauer, Anschauer, or Leser–indicate the self-consciousness of Blumenberg’s attempts to describe and to create his relation to the past.“ David Adams, „Metaphors for Mankind. The Development of Hans Blumenberg’s Anthropological Metaphorology“, in: Journal of the History of Ideas 52,1 (1991), 152–166, hier: 163. 22 So in seinem Buch Matthäuspassion (1988), das auf der einen Seite die Rezeption im Sinne des Hörens stark macht, auf der anderen die Unhintergehbarkeit der Rezeptions- als Überliefe­ rungsgeschichte: „Blumenberg knows that we cannot look to the ‘original’ figure [Jesus], that we cannot go outside our own horizon, but must deal with the history of the reception of the figure.“ Bruce Krajewski, „The musical horizon of religion: Blumenberg’s Matthäuspassion“, in: History of the Human Sciences 6,4 (1993), 81–95, hier: 90. 23 Vgl. Anselm Haverkamp, „Epochenschwelle und Anachronie. Der umgangene Quintilian“, in: Prometheus gibt nicht auf. Antike Welt und modernes Leben in Hans Blumenbergs Philosophie, hg. v. Melanie Möller, Paderborn 2015, 239–258. 24 Zum katachrestischen Charakter absoluter Metaphern: Dirk Mende, Metapher – zwischen Metaphysik und Archäologie: Schelling, Heidegger, Derrida, Blumenberg, Paderborn/München 2013, 227. 25 Zur Nähe zur Dekonstruktion: Anselm Haverkamp, „Paradigma Metapher, Metapher Paradig­ ma – Zur Metakinetik hermeneutischer Horizonte (Blumenberg/Derrida, Kuhn/Foucault, Black/ White)“, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. v. Reinhart Herzog und Reinhart Ko­ selleck, München 1987, 547–560 sowie Anselm Haverkamp, Metapher. Die Ästhetik in der Rhe­ torik. Bilanz eines exemplarischen Begriffs, München 2007, 163: „Es gibt eine Ahnung von der ‚gefährlichen‘ supplementären Logik metaphorologischer Analysen, in deren Befund Metapho­ rologie und Grammatologie [. . . ] übereinkommen.“ Vgl. dazu auch Philipp Stoellger, Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religions­

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sich jedoch nicht davon trennen, wie in seinen Texten mit der Latenz von Me­ taphern umgegangen wird; auch Derridas Schriften sind zuletzt stärker über ihre Textualität erschlossen worden.²⁶ Entsprechend wird hier versucht, zu­ nächst das Diskussionsfeld überhaupt zu verlagern. Angeschlossen werden kann an jüngste Beobachtungen zur „textuelle[n] Unruhe“ in Blumenbergs Schriften, die sich der Aufgabe verschreiben, ‚Ausgeblendetes‘ aufzuarbei­ ten.²⁷ Der zweite Hauptteil („Ansprüche der Lesbarkeit“) gilt Detailanalysen der Lesbar­ keit der Welt und bereitet so eine weiterführende Untersuchung vor. 3.1) Erschlossen werden Aspekte der systematischen Anlage: zur Strukturlogik und lebenswelttheoretischen Grundlegung, zu Sammelschwerpunkten in den Zettelkästen, zu Vorläufern und Parallelen sowie zu wissenschafts- und literaturgeschichtlichen Kontexten. Angegriffen wird die Einordnung als me­ taphorologische Fallstudie, der, weil sie ihr methodisches Programm nicht offenlegt, entweder zu wenig, oder, wenn es um Welthermeneutiken oder menschliche Kontingenzbewältigung geht: zu viel zugetraut wird. Vielmehr lässt sich am Textmaterial die Zersetzung des Lesbarkeitsdispositivs nachvoll­ ziehen, das die Hoffnungen auf Sinnbesitz hatte tragen sollen. Die Ansprüche auf Lesbarkeit schlagen um in die Ansprüche der Lesbarkeit. 3.2) Das Gerüst dazu findet sich im Chiasmus „‚Die Welt als Buch, das Buch als Welt‘“ (QSE, 284). Die beidseitigen, systematisch wie historisch nachvollzieh­ baren Schwierigkeiten der Stabilisierung (als Buch; als Welt) hängen mit ei­

phänomenologischer Horizont, Tübingen 2000. Gegen eine ‚dekonstruktive Vereinnahmung‘ Blu­ menbergs spricht sich aus: Gottfried Gabriel, „Kategoriale Unterscheidungen und ‚absolute Me­ taphern‘. Zur systematischen Bedeutung der Begriffsgeschichte“, in: Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie, hg. v. Anselm Haverkamp und Dirk Mende, Frankfurt am Main 2009, 65–84, hier: 69. Hierzu kritisch: Dirk Mende, „Technisierungsgeschichten. Zum Verhältnis von Begriffsgeschichte und Metaphorologie“, in: Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie, hg. v. Anselm Haverkamp und Dirk Mende, Frankfurt am Main 2009, 85–107. Zuletzt hat Luzia Goldmann die beiden Zugängen gemeinsame These zur „unhintergehbaren Metaphorik der Sprache“ betont, in Blumenbergs his­ torischer und anthropologisch-pragmatischer Ausrichtung jedoch ein Differenzkriterium zu Der­ ridas Ansatz erkannt: Luzia Goldmann, Phänomen und Begriff der Metapher. Vorschlag zu einer Systematisierung der Theoriegeschichte, Berlin/Boston 2019, 264–265. 26 Vgl. Nils Plath, Hier und anderswo. Zum Stellenlesen bei Franz Kafka, Samuel Beckett, Theo­ dor W. Adorno und Jacques Derrida, Berlin 2017. 27 Vgl. Martin A. Hainz, „Was aber, wenn doch. . . ? Close reading zu/mit Blumenbergs Arbeit am Mythos“, in: Blumenbergs Schreibweisen. Methodische und kulturanalytische Perspektiven im Aus­ gang von Hans Blumenberg, hg. v. Wolfgang Müller-Funk und Matthias Schmidt, Würzburg 2019, 61–72, hier: 68.

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nem metaphorologischen Als zusammen, das jedoch stets neu als solches aus­ gewiesen werden muss. Dies ist Aufgabe der Lektüre. 3.3) Der Berührungspunkt zwischen Arbeit am Mythos (1979) und der Lesbarkeit der Welt liegt weniger in einem geteilten Modell menschlichen Umgangs mit der Wirklichkeit als in einer Kritik der Logik binärer Konfrontation. Beide Werke führen eine geradezu groteske Vielzahl großformatiger Entgegenset­ zungen an (Buch/Anschauung, Anschauung/Vernunft, Mensch/Welt, Welt/ Welt, Gott/Gott), deren Pole fortwährend umbesetzt werden. Das Unterlaufen der positionalen Logik lässt – wie die „Lesarten des ‚ungeheuren Spruchs‘“ (AM, 567–604) verdeutlichen – auch das Text-Leser-Verhältnis nicht unbe­ rührt. 3.4) Die Doppelbödigkeit der Texte Blumenbergs wird an der Verschiebung der Möglichkeitsbegriffe deutlich, wie sie in den Kapiteln V bis XII der Lesbar­ keitsstudie nachvollzogen wird. Der Satz, dass die „Herstellung von Lesbar­ keit [. . . ] eng mit der Interpretation des Wirklichen vom Möglichen her zusam­ menhängt“ (LW, 164), lässt sich von Leibniz’ Theorie der möglichen Welten her oder als isolierte Aussage lesen; indem im gleichen Zuge nach der Mög­ lichkeit des Aufkommens der Metaphorik gefragt ist, kann ein Möglichkeits­ begriff des Verfahrens ergänzt werden. Die mit und nach Leibniz beschreib­ bare Kontingenz gerät damit in einen Bezug zur Metapher als dem „geschicht­ lich Kontingente[n]“ (LW, 11). Der nachfolgende Hauptteil („Lektüre – ‚Ansatz von oder zu Theorie‘“) rekonstru­ iert, wie das Lesen in Blumenbergs Argumente Einzug hält und erarbeitet mit ei­ nem Seitenblick auf lektüretheoretische Positionen im Umfeld der Dekonstrukti­ on (4.2) ein Angebot, diese Bewegung genauer zu fassen. 4.1) Der 2018 in den Phänomenologischen Schriften 1981–1988 aus dem Nachlass veröffentlichte Text „Beschreibung des Lesens“ lässt die „auf Nichterfüllun­ gen des Bewußtseins gerichtete Fragestellung“ (LW, 9) aus der Lesbarkeit der Welt genauer hervortreten. Das Lesen steht, weil es sich selbst unbeobachtbar bleibt, als Modell für das Verfahren der ‚Position durch Negation‘ ein, das von Blumenberg als wesentlich für das phänomenologische Bewusstsein erkannt wird. Gleichzeitig ist Blumenbergs Text selbst als Lektüre angelegt. 4.3) Die Unmöglichkeit eines reinen Anfangs des Bewusstseins diskutiert Blu­ menberg anhand des Beginns von Prousts À la recherche du temps perdu (1913–1927). Das darin beschriebene Erwachen liest er als paradigmatisches Element für die Fragestellung in Höhlenausgänge (1989): Das ‚Hinaustreten‘ verbindet sich mit einer rückläufigen Bewegung, dennoch bleibt ein Rück­ zug in die Unbetroffenheit ausgeschlossen. Diese Dynamik aus Zurücknahme und Preisgabe lässt sich mit einer Lektürebewegung verbinden, die genau

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dort einsetzt, wo das Verhältnis von Literatur und Philosophie thematisch wird. 4.4) Zum Bestandteil des Arguments wird die bearbeitete Lektürekonstellation auch an einer herausgehobenen Stelle in den Paradigmen zu einer Meta­ phorologie. Die Struktur der absoluten Metapher finde sich, so heißt es im Paradigma X „Geometrische Symbolik und Metaphorik“, in einer Denkfigur des Neuplatonikers Plotin dargestellt. Plotins Modell steht – rezeptionsge­ schichtlich gebrochen – stellvertretend für die absolute Metapher, wobei es auf diese Stellvertretung selbst ankommt. Mit dieser These kann an neue­ re Beobachtungen zu Blumenbergs Schreibweise angeschlossen werden,²⁸ allerdings in anderer, beinahe invertierter Form: Es wird nicht die ausdrück­ lich gewordene Selbstbeobachtung des Schreibprozesses als Ausgangspunkt genommen, sondern die argumentative Rolle einzelner Lektürekonstella­ tionen vom Textmaterial her zu bestimmen versucht. Das führt zu anderen Schlussfolgerungen. Das Verfahren ist dem menschlichen Bewusstsein nicht untergeordnet; es veranschaulicht auch nicht in erster Linie dessen Funkti­ onsweise, sondern besitzt eine eigene Programmatik. 4.5) Diese Programmatik bildet einen entscheidenden Nachtrag zu einer ‚Theorie der Theorie‘, wie sie Blumenberg in seiner Wiederaufnahme der Lebenswelt­ thematik diskutiert hat. An den Glossen zu Fontane (1998) lässt sich zeigen, dass die späten, vermeintlich marginalen und anekdotischen Fragmente das Problem des Nicht-Erscheinens (ἀνέϰδοτον) derart mit dem Ansatz des Le­ sens verbinden, dass es selbst zum „Ansatz von oder zu Theorie“ (ThL, 54) wird. Der Versuch, die Annäherungen an Rhetorik und Unbegrifflichkeit aus ihrer an­ thropologischen Bindung zu lösen, ohne sie dabei an die Stelle einer prima phi­ losophia aufrücken zu lassen, wird im letzten Hauptteil („Betreffbarkeit“) weiter­ verfolgt.

28 „Wenn Blumenberg vom Eindringen kultureller Imaginationsräume in den Schreibprozess spricht, dann ist das durchaus ernst zu nehmen. So sehr er seine Texte über sein Zettelkastensys­ tem organisiert, er will damit performativ zeigen, wie das menschliche Bewusstsein funktioniert: Die Umfiktionen bringen einst Gelesenes, Gesehenes, Gewusstes zu Tage, das erst beim Beschrei­ ben, Nachdenken, Aufschreiben in unser Bewusstsein kommt. Oder anders gesagt: Blumenbergs menschliches Bewußtsein besitzt ein tiefenkulturelles Unbewusstes.“ Oliver Müller, „Über ein ‚Ärgernis‘ der phänomenologischen Anthropologie. Blumenbergs Umfiktionen am Beispiel des Sichtbarkeitstheorems“, in: Blumenbergs Schreibweisen. Methodische und kulturanalytische Per­ spektiven im Ausgang von Hans Blumenberg, hg. v. Wolfgang Müller-Funk und Matthias Schmidt, Würzburg 2019, 35–47, hier: 47.

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5.1) In Beschreibung des Menschen ist „Betreffbarkeit“ der Sichtbarkeit des Men­ schen nachgeordnet: weil der Mensch sichtbar ist, ist er betreffbar und bedarf der actio per distans.²⁹ Bevor dieses Moment zum Attribut des Menschen wer­ den kann, muss es aber als strukturelles Problem gelesen werden. Herleiten lässt sich dies über den schon früh (1950) gefundenen Begriff der „Andring­ lichkeit“ (OD, 96) und an den später in Schiffbruch mit Zuschauer diskutierten Aporien methodischer Distanznahme. Betreffbar ist zuvorderst die – insbe­ sondere phänomenologische – Methode. 5.2) Eine Analyse des „dunkle[n] Schlusssatz[es]“ der Lesbarkeit der Welt³⁰ will dann mit Blick auf das historisch Unabgegoltene den an Derridas Kritik des Erbes angelehnten Vorschlag unterbreiten, Lesbarkeit vor dem Hintergrund der vorangegangenen Lebenswelt-Kritik neu zu situieren. „Lesbares zu lesen heißt,“ schreibt Blumenberg dort, „daß der Adressat sich dem nicht verwei­ gert, was ihn betrifft oder betreffen könnte, auch wenn er nicht mehr glauben mag, er könne ‚gemeint‘ sein.“ (LW, 408–409) Die Aufgabe, bei dem anzu­ setzen, was selbstverständlich geworden, marginalisiert oder als theoretisch überwunden ausgegeben worden ist, wird im Begriff einer negativen Lesbar­ keit gefasst³¹ und von Bestimmungen abgegrenzt, die Lesbarkeit, positiv, über die Publikumswirkung eines literarischen Werks, die Leserlichkeit eines Tex­ tes oder als kulturwissenschaftliche Leitmetaphorik verstehen.

29 Im Detail hat diesen Komplex erschlossen: Oliver Müller, Sorge um die Vernunft. Hans Blu­ menbergs phänomenologische Anthropologie, Paderborn 2005; Oliver Müller, „Mensch“, in: Blu­ menberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 185–200. 30 Joachim Renn, „Die Lesbarkeit der sozialen Welt. Hans Blumenberg und die hermeneutische Situation der Soziologie“, in: Hans Blumenberg: Pädagogische Lektüren, hg. v. Frank Ragutt und Tim Zumhof, Wiesbaden 2016, 147–163, hier: 161. 31 Lesbarkeit steht damit in einem inneren Bezug zur „unausweichliche[n] Herausforderung der Nachträglichkeit“, der sich Blumenbergs Philosophie angenommen hat: Ralf Konersmann, „Zu­ letzt und verspätet. Hans Blumenbergs Beschreibung des Menschen als Kulturphilosophie“, in: Erinnerung an das Humane. Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie Hans Blumenbergs, hg. v. Michael Moxter, Tübingen 2011, 226–239, hier: 228.

2 Deformationskräfte 2.1 Weder Theorie noch Ästhetik: Einstellungen als Aufgaben (Valéry) Anhand von Paul Valérys Dialog Eupalinos ou l’Architecte (1921)¹ beschreibt Hans Blumenberg in seinem Aufsatz „Sokrates und das ‚objet ambigu‘. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegen­ standes“ (1964)² einen Grenzbereich zwischen Theorie und Ästhetik. Der Dialog umkreist einen rätselhaften Gegenstand: Sokrates blickt aus dem Hades heraus auf das eigene Leben zurück und erinnert sich eines Fundstücks, das er an einem attischen Strand einst aufgelesen, es aber – wegen der Unklarheit über dessen Herkunft, Material und kategoriale Zuordnung – wieder zurück ins Meer geworfen hatte. Gerade diese Entscheidung, lässt er seinen Dialogpartner Phaidros wissen, habe ihn zu dem Philosophen gemacht, der er gewesen sei, und nicht zu dem Künstler, der er hätte sein können.³ Für Blumenberg zeichnet sich der gefundene Gegenstand, das „objet ambigu“ (Sokrates, 88),⁴ dadurch aus, dass er unbestimmt ist „hinsichtlich seiner theoretischen oder einer ästhetischen Gegenständlichkeit bzw. Vergegenständlichung“ (Sokrates, 88–89). Die Unterscheidung zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit nimmt zugleich andere Unterscheidungen in sich auf: zwischen Theorie und Ästhetik, Philosophie und Kunst, Gegenständ­ lichkeit und Ungegenständlichkeit, Singular und Plural, Land und Meer. Dadurch vervielfachen sich die Konfliktlinien. Allerdings zeigt Valérys Dialog gerade nicht, wie solche Unterscheidungen getroffen und aufrechterhalten werden; eher stellt er die Schwierigkeiten des Differenzierens aus. Er verzögert und lässt undeut­

1 Im Folgenden wird aus der Ausgabe: Paul Valéry, Eupalinos ou l’Architecte, L’Ame et la Danse, Dialogue de l’Arbre, Paris 1944 für den französischen Text, für die deutsche Übersetzung aus der Rilke-Übertragung: Paul Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, übers. v. Rainer Maria Rilke, Leipzig 1927 zitiert. 2 Der Untertitel richtet den Fokus auf die Auseinandersetzung mit einer ‚Tradition‘. Das objet ambigu steht damit seinerseits – ehe es selbst Fragen der Rezeption aufwerfen kann – in einer Rezeptionssituation. 3 Vgl. Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 139. Der Gegenstand wird mit einer das Sub­ jekt-Werden betreffenden Kraft ausgestattet. Er bietet das, wie Blumenberg schreibt, „genaue Korrelat der Potentialität des jungen Sokrates vor der Entscheidung für die Philosophie“. Sokra­ tes, 88. 4 Zu Blumenbergs strategischer Verkürzung objet ambigu vgl. Karin Krauthausen, „Konkrete Un­ schärfe. Überlegungen zur epistemischen Qualität von Paul Valérys objet du monde le plus am­ bigu“, in: Bild / Ding / Kunst, hg. v. Gerhard Wolf und Kathrin Müller, Berlin/München 2015, 51–68. https://doi.org/10.1515/9783110692426-002

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lich werden, worüber gesprochen wird. Er inszeniert seinerseits gleich mehrere Schwellenzonen. Blumenberg folgt dieser Textbewegung und unterstreicht Mo­ mente der Verunsicherung. Dennoch lässt sich an seiner Lesart ein sistierender Zug herausarbeiten. Diesem Zug können, mit und nach Blumenberg und Valéry gleichermaßen, Momente der Dynamisierung und Pluralisierung entgegengehal­ ten werden. Ästhetische wie theoretische Einstellung lassen sich dadurch neu als Aufgaben lesen.

Konzentration auf Ambiguität Blumenberg stellt an Valérys Text heraus, dass jeder „Zug der geschilderten un­ auflösbaren Einheit der äußeren Szenerie und des inneren Lebensbefundes [. . . ] konzentrisch“ (Sokrates, 89) auf das objet ambigu zulaufe. Die Konzentration auf Sokrates wiederum hängt mit dem übergeordneten Ansatz zusammen. In der letz­ ten Anmerkung heißt es, der Text sei Teil einer vierteiligen Valéry-Studie, die da­ neben „aus den Kapiteln ‚Leonardo‘, ‚Faust‘ und ‚Monsieur Teste‘ bestehen“ (So­ krates, 111, Anm.) werde.⁵ Diese Studie hätte, wäre sie abgeschlossen worden, „vier zentrale, wenn nicht gar: die vier zentralen Figuren aus Valérys Schreibkos­ mos“⁶ thematisiert. Was den Eupalinos-Dialog betrifft, sind jedoch auch andere Gewichtungen denkbar, die etwa den Gesprächspartner Phaidros, den Architek­ ten Eupalinos oder den Schiffsbauer Tridon,⁷ das Verhältnis von Kunst und Ar­ chitektur oder die Umschrift von Platons Phaidros-Dialog zum Ausgangspunkt ei­ ner Analyse machen könnten. Auch der Fokus auf das Ästhetische ist nicht zwin­ gend. Karin Krauthausen hat vorgeschlagen, dass der aufgefundene Gegenstand

5 Zu diesen Ausarbeitungen, soweit sie vorliegen, vgl. die Rekonstruktion von Krauthausen, Hans Blumenbergs möglicher Valéry. Gemäß einer Auskunft Ferdinand Fellmanns habe Hans Robert Jauß Blumenberg aufgefordert, die Beschäftigung mit Valéry über den Aufsatzkontext hin­ aus fortzusetzen. Vgl. Ferdinand Fellmann, „‚Die Erschließung der menschlichen Lebenswelt im Medium der Literatur‘. Interview mit Ferdinand Fellmann, Münster, 31. Mai 2014“, in: Poetik und Hermeneutik im Rückblick. Interviews mit Beteiligten, hg. v. Petra Boden und Rüdiger Zill, Pader­ born 2017, 105–129, hier: 112. 6 Krauthausen, Hans Blumenbergs möglicher Valéry, 40. 7 So hat Bernhard Siegert einen mit dem Schiffsbauer verbundenen Gegenentwurf zur Episode des objet ambigu herausgearbeitet. Wesentlicher Aspekt in der mit Tridon aufgerufenen neuen Art Schiffe zu bauen sei die Implementierung von Ambiguität: „Tridon is the representative of a design method whose principle is not to pit a structure against the chaotic, but to include the ambiguous threshold between the two into the design.“ Bernhard Siegert, „Eupalinos, or The Master Shipwright: The Threshold between Land and Sea as a Design Tool“, in: Configurations 18 (2011), 421–439, hier: 426.

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nicht zuerst als ästhetisches, sondern als epistemisches Objekt gelesen werden müsse.⁸ Blumenberg bearbeitet sein Thema mit drei systematischen Schnitten: (1) über eine Diskussion des Valéryschen Antiplatonismus, (2) mit einem Fokus auf einem irreduziblen Potentialitätshorizont sowie (3) als Einordnung und Kontextualisie­ rung des Problems in Valérys Œuvre: So wichtig wie das objet ambigu für den Dia­ log, so wichtig sei der Dialog für das Gesamtwerk. In der mehrfachen und mehr­ fach betonten Zentralisierung („Alles spitzt sich zu auf [. . . ]“, Sokrates, 81; „Die Passage gipfelt in [. . . ]“, Sokrates, 84) baut Blumenbergs Aufsatz eine Spannung auf zu dem, was mit dem objet ambigu verbunden ist, nämlich eine ‚Pluralität der Aspekte‘, die wiederum an dem angespülten Gegenstand „konzentriert“ (Sokra­ tes, 94) sei. Diese Aspekte werden aber nicht nur gewährt; vielmehr ist der Gegen­ stand bereits in sich plural. Zwar geht Blumenberg wiederholt auf das Setting ein – auf das aus Platons Dialog übernommene Ufer des Ilissos und den Dialogcharakter selbst –, aber er orientiert die Analyse auf den am Fundstück abgelesenen Konflikt zwischen Kunst und Philosophie. Die konkrete Einführung des Objekts bei Valéry und die Nach­ fragen Phaidros’, die unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Umwege der Nar­ ration spielen eine nachgeordnete Rolle. Die Konzentration auf den Gegenstand ist insofern überraschend, als das mit Valéry entwickelte kunsttheoretische Argu­ ment einen Vorrang des Ungegenständlichen einschließt. Das objet ambigu steht für einen Widerstand gegen perspektivische Konzentration. Im Feld der Malerei sei, wie es ein Verweis auf die Cahiers nahelegt, die „Technik der Zentralperspek­ tive, die dem Betrachter seinen bevorzugten und normierten Zuschauerplatz an­ weist, [. . . ] Ausdruck [der] Abwehr der unendlichen Vielfalt möglicher Aspekte (I 1167).“ (Sokrates, 95) Gerade einen solchen Platz weist Blumenbergs Aufsatz sei­ nen Lesern aber zu. Er generiert einen Standpunkt, von dem aus tatsächlich alle Züge des Textes auf einen Gegenstand, dessen philosophische Gegenständlich­ keit gerade bestritten wird, zulaufen müssen. Nachdem Sokrates mit dem zurückgeworfenen Gegenstand auch die irritie­ rende Nicht-Gegenständlichkeit aus der Szenerie entfernt hatte, stellt er Phaidros, nach einer erneuten Phase des Kokettierens, sein philosophisches Differenzkrite­ rium vor: Kennzeichen der natura naturata sei die „unsichtbare Art“ und „Ord­ nung“, in der alles derart Hervorgebrachte miteinander „in geheimen Beziehun­ gen“ stehe.⁹ Davon unterscheide sich das Menschengemachte: „Die Handlungen

8 Vgl. Krauthausen, Konkrete Unschärfe. 9 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 155–156.

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des Menschen, der etwas erbaut oder der eine Sache hervorbringt, sind nicht be­ unruhigt von ‚allen‘ Eigenschaften des Stoffes, den sie behandeln, sondern nur von einigen.“¹⁰ Nicht alles, sondern nur einiges: „Der Handwerker ist überhaupt nicht fähig, sein Werk zu schaffen, ohne irgendeine Ordnung zu verletzen oder zu zerstören“.¹¹ Dieses Schema, auf das Problem Lektüre zurückgewendet, lässt an der Wahl ihres zentralen Gegenstandes vor allem handwerkliches Geschick ablesbar werden. Sie gibt sich nicht, und darf sich nicht beunruhigt geben von allen Aspekten, die untereinander in ‚geheimen Beziehungen‘ stehen mögen. Die lektüretheoretische Aufgabe, die sich als Folgerung aus der von Blumenberg vor­ geschlagenen Lesart abzeichnet, liegt darin, den Zugang weder in die absolute Interdependenz aller Aspekte (Naturalisierung) noch in eine perspektivische Ver­ engung auf einiges (Anthropologisierung) einrasten zu lassen. Die Gegebenheit eines „Mittel[s], zu unterscheiden“ [„le moyen de discerner“]¹² – zwischen Natür­ lichkeit und Künstlichkeit, Kunst und Philosophie, Land und Meer, Tod und Le­ ben, ästhetischer und theoretischer Einstellung, und schließlich auch zwischen Beunruhigung und Konzentration –, wird in Valérys Dialog nicht nur sachlich, sondern auch systematisch in Frage gestellt. Blumenberg beschreibt diese Unruhe sehr genau. Als „in der Zone zwischen Meer und Land“ aufgelesenes Fundstück sei das objet „einer unübersehbaren Vielfalt von einwirkenden Faktoren über unendliche Zeit ausgesetzt“ gewesen. Darin habe es „den paradoxen Status der vollendeten Unbestimmtheit erreicht, dem der Künstler nur auf dem Gipfel einer unendlichen Anstrengung nahezu­ kommen vermag“ (Vieldeutigkeit, 118).¹³ Valéry lasse Sokrates „das Gegeneinan­ der und Ineinander dieser Kräfte“ (Sokrates, 89) beschreiben. Das objet sei nicht nur „eingebettet“ in die „Szenerie“, sondern „das Produkt der Kräfte, die in ihr wirksam sind“ (Sokrates, 89). Gleichzeitig hält Blumenbergs Interpretation auf halbem Wege inne. Denn das objet ambigu ist auch, ließe sich ergänzen, Produkt des Gegenein­ anders und Ineinanders der Kräfte, die in Valérys Text wirksam sind. So stehen

10 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 156 [meine Hervorhebung, A.W.]. 11 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 158. 12 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 152; Valéry, Eupalinos ou l’Architecte, 83. 13 Ausgehend von dieser Formulierung muss auch mit einer Unbestimmtheit gerechnet werden, die nicht oder noch nicht vollendet ist, die also als ‚unvollendete‘ gleichermaßen Bestimmtheits­ rückstände enthielte. Die Wahl des Adjektivs legt nicht nur Vollkommenheit nahe, sondern auch einen Prozess, ein Verfertigen. Einerseits ist der Grenzwert einer ‚vollendeten Unbestimmtheit‘ mit menschlichen Mitteln nicht – oder nur annäherungsweise – zu erreichen, andererseits exis­ tiert das objet, insofern dessen Status unklar ist, überhaupt nicht jenseits der Möglichkeit einer solchen Einmischung.

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Sokrates’ Eigenschaftsbeschreibungen¹⁴ im Kontrast zur behaupteten und gra­ phisch herausgehobenen Unbeschreibbarkeit: „Sokrates: Du kannst dir vorstel­ len – – – es ist nicht beschreibbar . . . “. Die Unklarheit über das Material inspi­ riert, als „Stoff für Zweifel“,¹⁵ eine Reihe von Mutmaßungen, die wiederum zur literarischen Konstruktion des Gegenstands beitragen: „Vielleicht war das ein Kno­ chenstück von einem Fisch, in seltsamer Weise abgenutzt von dem scheuernden feinen Sand unter den Wassern. Vielleicht ein Stück Elfenbein, zugeschliffen für einen unbekannten Gebrauch“,¹⁶ vielleicht die „Frucht einer unendlichen Zeit“ oder Produkt der „ewige[n] Arbeit der Wellen“.¹⁷ Das mit Blick auf das unbestimm­ bare Material nur Gemutmaßte ist zugleich maximal bestimmend hinsichtlich des Prozesses seiner Vergegenwärtigung. Das Zweifeln selbst stellt nun den Stoff. Die­ ses Spiel mit den verschiedenen Dimensionen von Gegenständlichkeit zieht sich durch den gesamten Dialog. Sokrates: Eines Tages in meinen guten Tagen, mein lieber Phaidros, habe ich ein eigentüm­ liches Schwanken erfahren zwischen meinen Seelen. Der Zufall kam, mir das zweideutigste Ding der Welt [l’objet du monde le plus ambigu] in die Hände zu legen, und die unendlichen Überlegungen, zu denen es mich veranlaßte, konnten mich ebensogut zu dem Philosophen machen, der ich war, wie zu dem Künstler, der ich nicht gewesen bin. Phaidros: Ein Gegenstand war das, der dich in so verschiedener Art anging? [C‘est un objet qui t‘a sollicité si diversement?] Sokrates: Ja. [. . . ]¹⁸

Phaidros’ Frage ist alles andere als tumb. Sie folgert, dass am objet du monde le plus ambigu auch der Dingcharakter selbst nicht unberührt bleiben könnte. Das, ‚was in so verschiedener Art angeht‘, ist nicht dinghaft gebunden. Das „wesentli­ che Kriterium“ (Vieldeutigkeit, 118) der von Blumenberg mit und nach Valéry be­ schriebenen ästhetischen Gegenständlichkeit ist in der Tat ein kompulsives Mo­ ment. In „Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes“ (1966) wird es beschrieben als „Nötigung zum Eintreten in den Potentialitätshorizont der ästhetischen Stellungnahme“.¹⁹ Die Pluralität möglicher Aspekte wird nicht

14 Eine lange Passage setzt ein mit: „eine weiße Sache von der reinsten Weiße; geglättet, hart, zart, und leicht. Sie glänzte in der Sonne“. Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 145. 15 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 140. 16 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 146. 17 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 147. 18 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 139; Valéry, Eupalinos ou l’Architecte, 73. 19 ‚Nötigung‘ ist ein Ausdruck, den Blumenberg mit indirektem Kant-Bezug verwendet. Vgl. et­ wa den § 16 in der Kritik der praktischen Vernunft sowie die erste Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft, in der sich die ‚menschliche Vernunft‘ durch Fragen, die „niemals aufhören“, „genö­ tigt“ sieht. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg 1998, A

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außerhalb des ästhetischen Gegenstandes verortet, sondern sie ist bereits dieser Gegenstand. Die Schwierigkeiten, an Blumenbergs Aufsatz anzuschließen, liegen darin begründet, dass der ästhetische Gegenstand nicht identisch ist mit dem objet ambigu, dieses aber zugleich für ihn einzustehen scheint; sie liegen auch darin, dass Momente der Dynamisierung zwar systematisch unterstrichen, dabei aber fortwährend in das Vokabular von Gegenständlichkeit, Einstellung und Ob­ jekt zurückübersetzt werden. Phaidros’ Nachfrage kann, da sie den Dingcharakter überhaupt in Frage stellt, einen Einstieg bilden, um Blumenbergs Argumentation in Richtung der Dynamisierung weiterzuführen. Denn sie stellt durchaus heraus, dass die Pluralität ständig Gefahr laufe, aufgehoben zu werden: Diese Aspekte, deren Realisierung bzw. Vollstreckung in jedem Falle den Titel „Kommen­ tar“ tragen könnte, haben ihren Realitätsbewußtsein stiftenden Sinn aber nur und gerade in ihrer Pluralität, in der Potentialität ihrer Implikationen, einem Reichtum, dessen Mitprä­ senz sich sofort verflüchtigt, wenn eine dieser Möglichkeiten nicht mehr ästhetisch, son­ dern theoretisch realisiert und bis in die volle Explikation hinein vollzogen wird. (Vieldeu­ tigkeit, 114)

Gegenständlichkeit zielt hier auf eine Zwischensphäre: zwischen einer mögli­ chen Objektbindung und der nicht zwingend gegenstandsbezogenen Formulie­ rung dessen, was überhaupt als ästhetisches Problem verstanden werden kann. „Dies“, also die „Nötigung zum Eintreten in den Potentialitätshorizont der ästhe­ tischen Stellungnahme“, habe Valéry „in seinem Dialog ‚Eupalinos‘ dargestellt“ (Vieldeutigkeit, 118). Das „Dilemma“ der Ästhetik – damit setzt Blumenbergs Kurzessay ein – liege darin, dass der „bestimmte bzw. bestimmbare“ ästhetische Gegenstand im ästhetischen Diskurs oder Disput nicht in seiner Bestimmtheit ge­ fährdet und in die Unbestimmtheit gezogen werden dürfe, weshalb der Rezeption ein Drang zur „theoretische[n] Objektivierung“ innewohne (Vieldeutigkeit, 112, meine Hervorhebung, A.W.).

VIII. In der Vorrede zur zweiten Auflage verkehrt sich die Nötigungsrichtung: „Die Vernunft muß [. . . ] an die Natur gehen [. . . ], aber nicht in der Qualität eines Schülers [. . . ], sondern eines be­ stallten Richters, der die Zeugen nötigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.“ Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XIII. Von dieser „Verhörmetapher“, die Blumenberg zufolge aus der neuzeitlichen „Entzweiung mit der Wahrheit“ (PM, 47) entsteht, ist der Weg zur Weltbuchme­ tapher nicht mehr weit. In „Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes“ wird Kants Perspektive, allerdings die der dritten Kritik, zum Ausgangspunkt gemacht: „So hat Kant die subjektive Allgemeinheit des ästhetischen Urteils als die einzige Möglichkeit gesehen, das ästhetische Gegenstandsverhältnis davor zu bewahren, zu einer völlig unverbindlichen Relati­ on der absoluten Individualität zu werden. Diese Intention als solche muß jede Philosophie der Kunst teilen; nur ist die Frage, ob der Weg Kants der einzig mögliche ist.“ Vieldeutigkeit, 112.

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An die Stelle des in seiner Bestimmtheit unbefragten oder als bestimmt ge­ setzten Gegenstandes tritt bei Valéry das objet du monde le plus ambigu. Der Su­ perlativ zeigt eine Grenze an. Die für den Kurzessay titelgebende Vieldeutigkeit ist weder absolut noch universell. Sie ist bemessen an dem, was für weltliche Ge­ genstände möglich ist. Aber ist Vieldeutigkeit hier überhaupt das Kriterium? Rai­ ner Maria Rilkes Übersetzung lässt „das zweideutigste Ding der Welt“²⁰ angespült sein. Auch Ambiguität ist, wie es etwa William Empsons Ausbuchstabierung be­ legt,²¹ nicht frei von Ambiguität. Neben der Zwei- und Vieldeutigkeit ist eine Be­ deutungsvariante ‚Widersprüchlichkeit‘; auch ‚Undurchsichtigkeit‘ lässt sich nen­ nen. Die Erklärung zum ästhetischen Gegenstand erweist sich bereits als Arbeit am Abbau der Ambiguität der Ambiguität selbst. Versucht man aus dem Gesagten das Verhältnis von Valérys Dialog und Blu­ menbergs Lesart in eine schematische Form zu bringen, zeichnen sich zwei ge­ genläufige Bewegungen ab. Der Dialog überantwortet den Gegenstand an eine Reihe von verunklarenden Bewegungen, die paradoxerweise – etwa über die angeführten Mutmaßungen zur Art und Herkunft des Materials – zur Konstituti­ on des literarischen Objekts beitragen, und zwar derart, dass nun genau dieses Verhältnis aus Präsenz und Entzug zum ‚Gegenstand‘ einer Analyse wird. Dem­ gegenüber setzt Blumenbergs Argumentation bei der Position des Sokrates und der Unklarheit an, wie sie sich für ihn darstellt. Das Theorem erhält etwas Stati­ sches, so durch die These zur Konzentration des Dialogs in dem beschriebenen Gegenstand, die Konzentration auf die Unterscheidung zwischen theoretischer und ästhetischer Einstellung, die Arbeit am Abbau einer Ambiguität der Ambigui­ tät, schließlich die Bestimmung der Unbestimmtheit als ästhetisches Residuum und theoretisch Irreduzibles. Unbestimmtheit gerät so in den Verdacht, selbst eine theoretische Kategorie zu sein und also dem darunter Gefassten exakt zu widersprechen. Damit aber nähert sich Blumenbergs Ansatz wiederum der bei Valéry inszenierten Ambivalenz des In-Erscheinung-Tretens an.

Phaidros’ produktives Missverständnis Anhand der im Deutschen Literaturarchiv Marbach zugänglichen Typoskripte²² lässt sich nachvollziehen, dass und wie Blumenberg Momente der Verunklarung systematisch herausgehoben hat. Beispielsweise wird eine Formulierung im zwei­ ten Abschnitt – „Zustandes des Jünglings Sokrates“ – handschriftlich geändert 20 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 139. 21 Vgl. William Empson, Seven Types of Ambiguity, London 1949. 22 Für Transkriptionsprinzipien vgl. 6.2.

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in: „Potentialität des jungen Sokrates“, der Ausdruck „Fund“ in „Gebilde“ und schließlich die Beobachtung präzisiert: „daß die Zweideutigkeit des Ggefundenen Dinges genau der Unentschiedenheit seines Selbstbewußtseins vor der Entschei­ dung entsprach.“²³ Gegenüber stabilisierenden und Konkretion anzeigenden Vo­ kabeln (Zustand, Fund, Entscheidung, Ding) werden offenere (Potentialität, Ge­ bilde, Unentschiedenheit, das Gefundene) bevorzugt. Der Verlust an Konkretion geht mit einem Gewinn an Genauigkeit in Bezug auf Valérys Text einher. Denn dieser arbeitet konstant gegen die Fixierung seiner Gegenstände an. So wird der Fund über eine lange, den Moment des Aufgreifens mehrfach aufschiebende und poetisch dichte Beschreibung der Phänomene zwischen Land und Meer angekün­ digt: das Anbranden der Flut, die Rückströmungen, heftiger Gegenwind. Mit die­ ser „Grenzzone von Land und Meer“ (Sokrates, 90, Anm. 8) verbinden sich wei­ tere Zwischenbereiche, so in der doppelten Abstandnahme zu Meer und Küste:²⁴ „Nun wohl, Phaidros, die Sache war die: ich ging dicht am Ufer des Meeres, die Küste entlang, die ohne Ende schien. . . “.²⁵ Dass die Ränder dieser Zone gerade­ zu vibrieren, findet eine Parallele in Sokrates’ Zustand: „Ich ging, [. . . ] übervoll von Leben, halb trunken von meiner Jugend“;²⁶ „ein eigentümliches Schwanken“ habe er erfahren zwischen seinen „Seelen“.²⁷ Aber während dieses Herumwan­ derns, generalisiert der schattenhafte Sokrates aus seiner Erinnerung, „sinkt die menschliche Gestalt, gegenwärtig und lebendig wie sie ist, ein klein wenig mehr in den Sand ein, der sie mitzuziehen versucht“.²⁸ Valérys Darstellung greift den aufrechten Gang auf festem Grund an. Die Zone, von der Sokrates sagt, dass ihr Grenzverlauf „immer ein Gegenstand des Streites war zwischen den göttlichen Ri­ valen“, ist „Schauplatz des unheimlichsten und des unaufhörlichsten Verkehrs“

23 DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg: Text- und Materialsammlung zu Paul Valéry, Ma­ nuskript „Sokrates und das ‚objet ambigu‘. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes“, 1964, 48 Bl., HK, 20. 24 Anhand von Ludwig Wittgensteins Konfiguration ‚Sumpf und Mauer‘ hat Bettine Menke dar­ auf hingewiesen, dass, anders als es Blumenbergs Lektüre dieser Stelle in Die Sorge geht über den Fluß (1987) nahelege, eine Grenzziehung zwischen einem ‚Exacten‘ und einem ‚Unexacten‘ selbst nur von einer ‚unexacten, unbestimmten Zone‘ her gedacht werden könne. Diese Zone liege nicht einfach zwischen zwei Bereichen, sondern ermögliche erst deren Eröffnung, was die eigentliche Pointe dieser Konfiguration ausmache. Vgl. Bettine Menke, „Sumpf und Mauer. Versuche zu ei­ ner Philosophie der Unbestimmtheit“, in: Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie, hg. v. Anselm Haverkamp und Dirk Mende, Frankfurt am Main 2009, 316–338. 25 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 117. 26 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 118. 27 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 116. 28 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 143.

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[„le lieu du commerce le plus funèbre, le plus incessant“],²⁹ der angesichts der vibrierenden Grenzen nicht zu stoppen ist. Sokrates selbst steht zwischen den Zeiten: in seiner Erinnerung und in der Nachweltlichkeit des Rückblicks selbst. Auch die Phasen zwischen dem An- und Abrauschen der Gischt sind als Zwischen­ zonen dargestellt: „ein schimmernder Staub erhebt sich, man sieht weiße Reiter sich selbst überspringen, und alle diese Abgesandten des unerschöpflichen Mee­ res gehen zugrunde und tauchen wieder auf“ [„périr et reparaître“].³⁰ Diese Dyna­ mik – das Zugrundegehen und Wiederauftauchen – gibt, mit einer Formulierung aus Blumenbergs Die Lesbarkeit der Welt (1981), hartnäckiger zu denken „als die Ständigkeit, mit der anderes einfach dableibt“ (LW, Klappentext). In einer solchen Szenerie wird das objet du monde le plus ambigu aufgeworfen, um es, wie Walter Benjamin die Aura, sogleich als Verlorenes markieren zu können.³¹ Es ‚geht in so verschiedener Art an‘, weil es bloßer Effekt der Zwischenzonen ist. Sokrates’ Schilderung ersetzt die Antwort auf Phaidros’ Frage nach der Ob­ jektherkunft. Auf diese Weise stehen nicht nur die genannten Eigenschaften und Mutmaßungen, sondern auch das Schildern selbst für das unbeschreibbare Ob­ jekt ein. Blumenberg schildert wiederum diese Schilderung – auch der Aufsatz hat damit Teil an der Modulation, ja sogar an der Herstellung seines Gegenstan­ des –, zieht daraus aber andere Schlüsse. Der identifizierte ‚Gehalt‘ der Szene liegt in der Spannung zwischen einer irreduziblen Pluralität und einer zweisei­ tigen Struktur. Die „Alternative, Philosoph oder Künstler zu werden“ sei „an dem objet ambigu konzentriert als die Pluralität seiner Aspekte und die Konsequenz aus der Wahl eines bestimmten Gesichtspunktes.“ (Sokrates, 94) Sokrates’ Exis­ tenz und die des Gegenstandes werden über eine beiden gemeinsame Potentiali­ tät aufeinander bezogen. Dabei wird die ‚Pluralität der Aspekte‘, wofür Sokrates’ Mutmaßungen einstehen, durch Blumenbergs Parallelführung mit ‚Alternative‘ aber gerade reduziert. Beispielsweise erschöpft sich die Ambiguität des Gegen­ standes nicht in der Frage, ob es sich um einen natürlichen oder einen künstli­

29 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 144; Valéry, Eupalinos ou l’Architecte, 77. 30 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 142; Valéry, Eupalinos ou l’Architecte, 75. 31 Diese mögliche Pointe diskutiert Michael Makropoulos nicht, wenn er, vermittelt über Blu­ menbergs Romanaufsatz, diesen Benjamin-Bezug herstellt: „Für Blumenberg hingegen bleibt die ‚Aura‘ das entscheidende Kriterium, das die Dinge, ‚die uns Aspekte‘ der Möglichkeit ‚gewähren‘, prinzipiell von den Gegenständen unterscheidet, die ‚ihrerseits schon Aspekte darstellen‘, weil sie die ‚perspektivische Potentialität‘ weder ‚provozieren‘ noch ‚offenlassen‘, sondern als fina­ lisierte nur symbolisieren.“ Michael Markopoulos, „Blumenberg und die Ontologie des ästheti­ schen Gegenstands“, in: Permanentes Provisorium. Hans Blumenbergs Umwege, hg. v. Michael Heidgen, Matthias Koch und Christian Köhler, Paderborn 2015, 93–111, hier: 110–111.

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chen Gegenstand handelt. Vielmehr wird diese Frage innerhalb einer hochgradig dynamischen Szenerie aufgeworfen. Blumenbergs Lesart ist forciert, denn es ist nicht klar, dass Valérys Text diese Alternative in den Mittelpunkt rückt und den Hang begünstigt, daran die ästhe­ tische Seite zu betonen, wie auch Krauthausen gezeigt hat. Valérys Überlegung weist „notwendigerweise über rein ästhetische Kontexte“ hinaus.³² Anstelle der Alternative ‚Philosophie oder Kunst‘ steht, so Krauthausen, das Problem der Poie­ sis, die für Valéry „der gemeinsame Nenner von Künsten, Philosophie und Wissen­ schaften“ ist.³³ „Installiert wird eine ‚problematische‘ Entität, die ‚poietische‘ Pro­ zesse im weitesten Sinn zu initiieren vermag, also epistemisches wie ästhetisches Schaffen stimuliert und unterhält.“³⁴ Blumenberg hingegen gehe vom Ergebnis aus und blende den konkreten Umgang mit dem objet, in dem es zu einem episte­ mischen und potentiell wissenschaftlichen Verfahrensbildungen unterworfenen Ding werde, dabei aus.³⁵ Ich möchte an dieser Konstellation anderes hervorheben und nochmals das von Blumenberg eher mit einem phänomenologischen Interesse gesetzte als vor­ gefundene Verhältnis von ‚theoretischer‘ und ‚ästhetischer Einstellung‘ näher betrachten.³⁶ Wichtiger als der zugunsten des scheinbaren Gewinns einer theo­ retischen Einstellung herbeigeführte Verlust des Gegenstands ist der gleichzeitig mitgeführte Verlust der Möglichkeit einer ästhetischen Einstellung. Deren wesent­ liches Merkmal ist, dass sie nicht auf Bestimmtheit drängt, sondern „die Unbe­ stimmtheit stehen“ (Vieldeutigkeit, 119) lässt. Sokrates wird der Unbestimmtheit erst im Nachhinein gewahr. Das Übersehenhaben erweist sich als Bedingung, die ihm sein „Philosophenleben“ (Vieldeutigkeit, 118) ermöglicht hatte. Die zu­ rückgelassene Möglichkeit kehrt nach dem Verlust der Substanz der Sachen, veranschaulicht im schattenhaften Hades, wieder. Nicht die Unbestimmtheit selbst, sondern das Zurückgelassenhaben ihrer Ansprüche beschäftigt Sokra­

32 Krauthausen, Konkrete Unschärfe, 52. 33 Krauthausen, Konkrete Unschärfe, 56. Nicht „die ‚Nötigung‘ durch den ästhetischen Gegen­ stand, wie Blumenberg formuliert, sondern eine Nötigung zur Poiesis, und zwar durch einen uneinholbar fremden Gegenstand“ sei bei Valéry beschrieben. Krauthausen, Konkrete Unschär­ fe, 56. Allerdings scheint mir Blumenbergs Emphase nicht auf der Nötigung durch den physischen Gegenstand zu liegen, sondern auf der Nötigung zum Eintreten in einen Potentialitätshorizont, in dem sich der Gegenstandscharakter erst erweisen muss. Zudem fügt sich die Valéry-Lektüre durchaus in das Projekt der Aufarbeitung der „Idee des schöpferischen Menschen“ ein. Vgl. Nach­ ahmung. 34 Krauthausen, Konkrete Unschärfe, 52. 35 Vgl. Krauthausen, Konkrete Unschärfe, 63. 36 Vgl. zum Begriff der ‚Einstellung‘ bei Husserl, der hier gewiss im Hintergrund steht: Fischer, Differente Wissensfelder, 14–20.

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tes.³⁷ Den mehrfachen Verzögerungen³⁸ stehen die zwei Plötzlichkeiten entgegen, zwischen denen die Frage nach der kategorialen Zuordnung des Gegenstands „zu wachsen“ und Sokrates zu bedrängen begann: zwischen dem abrupten Rückwurf („. . . und dann auf einmal warf ich es zurück ins Meer“³⁹) und dem Versuch, die Beunruhigung abzuwenden: Sokrates: [. . . ] dann auf einmal setzte ich mich in Bewegung und ging sehr schnell landein­ wärts, wie einer, dessen Gedanken, nachdem sie lange nach allen Seiten hin und her ge­ trieben worden waren, anfangen, sich zurechtzufinden [comme quelqu’un en qui les pen­ sées, après une longue agitation dans tous les sens, semblent enfin s’orienter]; wenn sie sich dann in einer einzigen Idee zusammenfinden, bringen sie zugleich für seinen Körper den Entschluß einer bestimmten Bewegung [une décision de mouvement bien déterminé] und einer entschlossenen Haltung mit sich. Phaidros: Ich kenne das.⁴⁰

Es ist zunächst unklar, was genau Phaidros kennt. Er habe zwar stets „bewun­ dert, wie eine Idee, die aufkommt, [. . . ] uns Flügel verleiht und uns irgendwohin trägt“, aber gerade dieses „irgendwohin“ steht im Kontrast, wenn auch nicht im Widerspruch zur „décision de mouvement bien déterminé“,⁴¹ d. h. einer Be­ wegung, die in sich bestimmt, nicht mehr unruhig und schwankend ist. Was Phaidros kennt, ist nicht die Entschlossenheit und Richtungsentscheide brin­ gende Zusammennahme der Gedanken in eins, sondern der abrupte Aufbruch ohne ein Wissen um eine Richtung. Zu beachten ist ferner, dass Sokrates nicht das Subjekt der Entscheidungsfindung ist, sondern die sich sammelnden Gedan­ ken. Sokrates brach nicht als, sondern bloß wie einer auf, „dessen Gedanken

37 Die Alternative ist nicht symmetrisch, sondern sie tritt erst nachträglich als Alternative aus­ einander, und zwar derart, dass die in der Wahl zurückgedrängte Pluralität nun gleichsam als der Pol wiederkehrt, der nicht gewählt worden ist, und damit auch die ‚Bestimmtheit‘ (der Ent­ scheidung wie der theoretischen Einstellung gleichermaßen) als zur Möglichkeit zurückgestuft erscheint. Ehe Sokrates die Entscheidung selbst in Frage stellen kann, ist sie bereits – in ihrem möglichen Entscheidungsgehalt – in Frage gestellt. Die „nicht wirklich werdenden Möglichkei­ ten wirken herein als Zweifel, erzeugen Widersprüche, drängen an die Kreuzwege der Existenz“. Sokrates, 87. Das Problem liegt weniger in der Verteilung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit auf die Seiten von Philosophie und Kunst, sondern in der vorausgängigen Problematik des Ent­ scheidens. 38 Krauthausen erkennt hier ein Problem der enargeia: „Das Nebeneinander der unterschied­ lichen Verbtempora (Präsens, Imperfekt, Perfekt) in einem einzigen Satz und einer einzigen Sprechsituation macht den paradoxen Gestus des rhetorischen Vor-Augen-Stellens in der Form der Rede bewusst.“ Krauthausen, Konkrete Unschärfe, 60. 39 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 149. 40 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 153; Valéry, Eupalinos ou l’Architecte, 84. 41 Valéry, Eupalinos ou l’Architecte, 84.

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[. . . ] anfangen, sich zurechtzufinden“. Phaidros: „Man liegt fest, plötzlich fährt man los, das heißt denken.“⁴² Alles, mit Ausnahme der Plötzlichkeit, wird in Phaidros’ ‚Kenntnis‘ invertiert: Entschlossenheit in Unbestimmtheit, der allmäh­ liche Abbau der Getriebenheit in das Aufkommen einer Idee aus dem Nichts, der vermeintlich selbstbewegte Gang landeinwärts in ein fremdbewegtes Ausschif­ fen ‚irgendwohin‘. Blumenberg, die Philosophenfigur fixierend, betont hingegen die Entschlossenheit und die erfahrene Verunsicherung; er tilgt das Plötzliche:⁴³ „Sokrates aber wendet sich entschlossen von der Küste des Meeres und ihren Un­ bestimmbarkeiten ab und geht landeinwärts, mit sich die Last der Frage nach der Bestimmbarkeit des Unbestimmten tragend.“ (Sokrates, 96) Ich meine, dass sich die Belastung des Landgangs vielmehr aus der Abkehr von drängenden Ansprü­ chen ergibt. Was die Abkehr selbst betrifft, stattet schon Phaidros’ ‚Kenntnis‘ die vermeintliche Entschlossenheit mit all den Unsicherheiten aus, die den Bestand der theoretischen Einstellung gefährden: anstelle einer entschiedenen Bewegung die plötzliche Bewegtheit aus einer Vertracktheit heraus, anstelle des Nichtver­ sinkens die Möglichkeit des Schiffbruchs.⁴⁴ „Der Augenblick der Entscheidung ist, wie Kierkegaard schreibt, ein Wahn.“ Das trifft, wie Derrida schreibt, ins­ besondere auf „den Augenblick der gerechten, angemessenen Entscheidung zu, die die Zeit zerreißen und den verschiedenen Dialektiken trotzen muß. Ein Wahn (ist’s).“⁴⁵ Wenn sich Sokrates auf den Weg macht, „mit sich die Last der Frage nach der Bestimmbarkeit des Unbestimmten tragend“ (Sokrates, 96), lässt Phaidros’ präzisierendes Missverständnis, das nicht das erste dieser Art ist, ein schattenhaf­ tes Schiff ablegen. Noch im Verlassen der Krisenzone bleibt sie bestehen als eine Konfiguration „des unheimlichsten und unaufhörlichsten Verkehrs“,⁴⁶ der eben­ so unwirklich ist wie bekannt, der plötzlich einsetzt: windbewegt, unergründlich,

42 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 153. 43 Im Typoskript findet sich hierzu eine höchst aufschlussreiche Streichung: „und plötzlich warf er es zurück ins Meer“. Blumenberg, Sokrates und das ‚objet ambigu‘ (DLA Marbach, Nachlass), HK, 25. 44 Dem Augenblick des Aufbruchs korrespondiert ein anderer, der „unbekannt“ bleiben muss, aber für die Entscheidung bereits konstitutiv gewesen sein muss, nämlich der des Angespültwer­ dens (die Vorausgängigkeit der Rezeption darstellend): „Jenes Gebilde am Meeresstrand hatte seine Endgültigkeit in dem unbekannten Augenblick gefunden, in welchem es von dem aufge­ wühlten Meer aufs feste Land ausgeworfen worden war, keine Geschichte, keine Kontingenz der über es hinweggehenden Kräfte mehr erfuhr, den Anblick der Vollendung bieten konnte“. DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg: Text- und Materialsammlung zu Paul Valéry, Manuskript „VLX“, undatiert, 23 Bl., 5–6. 45 Jacques Derrida, Gesetzeskraft – der „mystische Grund der Autorität“, übers. v. Alexander Gar­ cía Düttmann, Frankfurt am Main 1991, 91. 46 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 144.

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unaufhörlich. „Vous êtes embarqué“:⁴⁷ dieses ausgerechnet Blaise Pascal, dem selbstgewählten Antagonisten Valérys, entlehnte Motto wird Blumenberg später Schiffbruch mit Zuschauer (1979) voranstellen. Hier läßt es sich anbringen als Rückseite des Landgangs der Theorie.

Die Einstellung ist eine Einstellung Im dritten Abschnitt des Valéry-Aufsatzes gibt Blumenberg ein Referat von Valérys Kritik der metaphysischen Tradition. Diese Kritik läuft über eine Zurückweisung einer antithetischen Struktur, in der sich Natur und Kunst gegenüberstehen, und „die Wertaufladung der einen Seite immer nur auf Kosten der anderen möglich“ (Sokrates, 102) sei. Der Natur-Begriff erfahre eine Umwidmung, insofern er auf das bezogen sei, was Valéry in den Cahiers als transaction mentale eingeführt hat; alles Natürliche gerate, so weiter Blumenbergs Paraphrase, in den Prozess einer anfänglichen Umformung: Der Mensch, wie Valéry ihn sieht, steht nicht der Natur gegenüber, er rivalisiert nicht mir ihr, er baut nicht seine Kulturwelt in die Naturwelt hinein oder neben sie, in Konkurrenz zu ihr, sondern sobald er sich von seinem Anfang entfernt, sobald er in seiner transaction tätig wird, hört die Natur auf, Natur zu sein, löst sie sich in den Transformationen des menschli­ chen Geistes. (Sokrates, 103)

Es gibt – so der Tenor auch der Leonardo-Essays Valérys – ⁴⁸ keine natürliche Ge­ gebenheit, alles „Anfängliche und Ursprüngliche“ (Sokrates, 104) ist vergessen.⁴⁹ Es gibt, wenn das als Natur Vorgestellte bereits eine fabrication ist, kein Jenseits der Kunst.⁵⁰ Kunst ist nicht das Gegenüber der Natur, das Argument zielt auf den Moment eines Übergangs: nicht mehr Natur, aber noch nicht Künstlichkeit. Gera­

47 Es wäre reizvoll, diese Konfiguration auf die Vertauschung zu beziehen, die Phaidros „[f]ast wie selbstverständlich“ (Sokrates, 98) vornimmt: nämlich den Auftritt des Schiffsbauers Tridon anstelle des Architekten Eupalinos. 48 Vgl. Krauthausen, Hans Blumenbergs möglicher Valéry. 49 Hierin liegt eine Parallele zum Prozess der Rezeption, wie er später in Arbeit am Mythos (1979) beschrieben wird: „Der Mythos ist immer schon in Rezeption übergegangen, und er bleibt in ihr, mit welcher Gewaltsamkeit seine Fesseln gesprengt, seine Endform festgestellt werden sollen. Wenn er nur in Gestaltungen seiner Rezeption uns vorliegt, gibt es kein Privileg bestimmter Fas­ sungen als ursprünglicher oder endgültiger.“ AM, 299. 50 Es bedarf einer gesonderten Analyse, diese Bewegung von dem abzusetzen, was Tilman Bor­ sche unter „Natur als Zeichen“ fasst: Tilman Borsche, „Kulturprodukt Natur. Eine begriffsge­ schichtliche Skizze“, in: Kultur der Zeichen, hg. v. Werner Stegmaier, Frankfurt am Main 2000, 151–166, hier: 151; Fluchtpunkt müsste Die Lesbarkeit der Welt sein.

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de in der Irreversibilität des Umschlags erhält die transaction etwas Unbestimm­ tes. Diese andere, d. h. nicht symmetrische ‚Künstlichkeit‘ kann daher nicht mit einer den Status betreffenden Zuschreibung – als Kunst- oder Kulturprodukt – zu­ sammenfallen, die für eine theoretische Einstellung, wie sie Sokrates einnehmen soll, ausschlaggebend wäre. Erst dieser Gedanke lässt Blumenbergs am Gegen­ stand festhaltende Deutung verstehen, „daß es bei Valéry auch nicht die ästhe­ tische Antithese von Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit gibt“ (Sokra­ tes, 104). Der gefundene Gegenstand ist unbestimmt „hinsichtlich seiner theore­ tischen oder einer ästhetischen Gegenständlichkeit bzw. Vergegenständlichung“ (Sokrates, 88–89). Genau diese Unbestimmtheit aber setzt die „unendlichen Über­ legungen“⁵¹ in Gang, die Sokrates zum Philosophen werden ließen, obwohl sie ihn zum Künstler hätten machen können. Dennoch liegt der von Blumenberg mit Valéry fokussierte Konflikt nicht zwi­ schen unterschiedlichen Unbestimmtheitszonen, sondern zwischen Ästhetik und Theorie.⁵² Sokrates’ Aufbruch öffnet in dieser Lesart eine Differenz zwischen äs­ thetischer und theoretischer Einstellung, indem die ästhetische als das zurück­ bleibt, zu dem er nicht gelangt ist (vgl. Vieldeutigkeit, 118–119). Die zum Schluss des Valéry-Aufsatzes unternommene Konfrontation der Sphäre künstlerischer ‚Produktion‘ mit der philosophischen ‚Leistung‘ stellt eine Gemeinsamkeit her­ aus: Dem Kunstwerk wie der theoretischen Leistung liege eine gemeinsame Be­ wegung zugrunde, beide besäßen „ihre generische Identität in der Struktur der transaction“ (Sokrates, 106). Beiden Einstellungen gemein ist aber auch das SichEinstellen in die unabgegoltenen Ansprüche des jeweils Verworfenen. Für die ästhetische Einstellung kehren diese als „Nötigung zum Eintreten in den Poten­ tialitätshorizont der ästhetischen Stellungnahme“ (Vieldeutigkeit, 118) wieder. 51 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 139. In Flauberts Die Versuchung des heiligen An­ tonius (1874) findet sich eine verwandte Reflexion, mit dem Unterschied, dass für Antonius ‚Phi­ losoph‘ gerade die nicht ergriffene Option ist: „Aber meinen Brüdern hätte ich besser gedient, wenn ich einfach Priester geworden wäre. Man hilft den Armen, man teilt die Sakramente aus, man hat Einfluß auf die Familien. Auch sind nicht alle Laien verdammt, und ich hätte auch . . . beispielsweise . . . Philologe oder Philosoph werden können. Eine Himmelskugel aus Rohr stünde in meinem Zimmer“. Gustave Flaubert, Die Versuchung des heiligen Antonius, übers. v. Barbara Picht und Robert Picht, Frankfurt am Main 1966, 10. 52 Dies schlägt sich auch noch in der Präzisierung nieder, es sei schon die Frage nach dem Status des Objekts gewesen, die für die Entscheidung ausschlaggebend gewesen sei: „Der Sokrates des Dialogs ‚Eupalinos‘ hätte sich dann schon dadurch auf den falschen Weg begeben, daß er über­ haupt das objet ambigu aus seiner Unbestimmtheit herausheben wollte; er hätte also auch dann einen falschen – und das heißt hier immer ‚philosophischen‘ – Ansatz gefaßt, wenn er sich da­ für entschieden hätte, diesen Gegenstand als Kunstwerk anzusehen und genießend zu behalten. Die Frage, nicht eine der möglichen Antworten, war die festlegende Vorentscheidung.“ Sokra­ tes, 102–103.

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Zwischen den zwei Plötzlichkeiten war Sokrates, weil er „mit den Fragen über den Gegenstand begann, die nicht mehr Fragen an den Gegenstand sein konn­ ten, zum Philosophen geworden.“ (Sokrates, 97) Dies geschieht, indem Sokrates zu einem verlorenen „Mittel“ – dem „zu unterscheiden“ [„le moyen de discer­ ner“] –⁵³ greift, dessen Gegebenheit jedoch mehr als fraglich bleibt. Das Mittel nämlich „wurde gesucht, wurde gefunden, ging verloren und fand sich wieder“.⁵⁴ Insofern der Gegenstand „auch das Produkt der Kräfte“ (Sokrates, 89) ist, die in der Grenzzone auftreten, reicht der Wurf des Objekts ins Wasser nicht aus. Auch die Unbestimmtheitszone muss, um eine theoretische Einstellung gewinnen zu können, zurückgelassen werden. Eine Einstellung ist nicht so sehr ein bestimm­ tes Verhältnis, kein Standpunkt, der sich einnehmen ließe, eher eine Bewegung des Aufgebens und Zurücklassens. Eine Einstellung ist der scheiternde Versuch einer Außerkraftsetzung von Ansprüchen. Die ästhetische Einstellung tritt über­ haupt erst in Erscheinung als das, was verlassen worden ist. Sie ist selbst eine Art Rückstand in der Bewegung des Verlassens. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich schon in ihrer ‚Bestimmung‘ Rückstände dieser Bewegung finden: „Die ästhetische Einstellung läßt die Unbestimmtheit stehen, sie erreicht den ihr spezi­ fischen Genuß durch einen Verzicht, durch den Verzicht auf die theoretische Neu­ gier, die letztlich immer Eindeutigkeit der Bestimmtheit ihrer Gegenstände for­ dert und fordern muß.“ (Vieldeutigkeit, 119) Während die theoretische Einstellung die Unsicherheit über eine kategoriale Zuordnung zurücklässt, um Bestimmtheit möglich zu machen, verzichtet die ästhetische darauf. Die Wortwahl ist jedoch ir­ ritierend, denn es heißt bei Blumenberg, dass die ästhetische Einstellung die Un­ bestimmtheit ‚stehen lasse‘. Gemeint ist offenbar, dass diese durch Fragen nicht zu Fall gebracht werden soll; aber eben dieses ‚stehen lassen‘ hängt sprachlich mit ‚Einstellung‘ enger zusammen als der ‚Verzicht‘. So gibt das Grimmsche Wör­ terbuch zum Verb ‚einstellen‘ folgende Bedeutungsvariante: „da jedes stellen ein hinstellen, zur ruhe stellen, stehn oder liegen lassen ist, entfaltet sich leicht der

53 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 152; Valéry, Eupalinos ou l’Architecte, 83. 54 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 153. Krauthausen hat das Mittel als Ergebnis ei­ ner Verfahrensordnung interpretiert: „Die kontingente Erfahrung des objet du monde le plus am­ bigu wird von Sokrates unter selbst gewählten Umständen und mit einem konstruierten Analo­ gon, also als ein regelrechtes Gedankenexperiment reinszeniert, um im Vergleich beider Erfah­ rungen logische Schlüsse zu ziehen, die Antworten auf die zuvor gestellten Fragen liefern. Und in der Tat bringt dieses Vorgehen ein ‚Mittel‘ (‚le moyen‘) der Klassifikation hervor“. Krauthausen, Konkrete Unschärfe, 63. Allerdings lässt sich so noch nicht die eigentümliche Dynamik des Auf­ tauchens und Verschwindens einholen, die mit dem produktiven Gewinn zu interferieren scheint. Die eigentliche Konfrontation in dieser Episode besteht zwischen dem unregierbaren commerce und dem moyen, das als Mittel und Mittleres eine Zwischenräumlichkeit suggeriert, wo nur Da­ zwischenkommendes zu beobachten ist.

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begrif [sic] des aufgebens, aufhebens, abschaffens, sein lassens, unterwegen las­ sens“.⁵⁵ Liegt dann in der ästhetischen Einstellung auch eine Tilgung von Unbe­ stimmtheit? Wird auch dort Unbestimmtheit zurückgelassen? Blumenberg behan­ delt dieses Problem nicht ausdrücklich; vielmehr wechselt sein Zugang, wenn die­ se Frage aufkommen könnte, das Register, nämlich zum „ästhetischen Genuß“ (Vieldeutigkeit, 119).⁵⁶ Damit aber wird, paradoxerweise, die drängende Ambigui­ tät des Textes abgebaut. Genuss ist der paradigmatische Fall von Unbetroffen­ heit. Das mit der ästhetischen Einstellung verknüpfte Aushalten lässt die Ansprü­ che des ästhetischen Gegenstands ‚auf sich beruhen‘. Die Pluralität der Aspekte wird in einer durch diesen Plural unberührten Instanz, welche im Modus des Aus­ haltens genießt, gebündelt. An jenem Punkt, an dem Blumenberg einer ästheti­ schen Theorie am nächsten zu kommen scheint, findet sich eine Kapitulation vor den doch gerade gegen die Unbetroffenheit der theoretischen Einstellung abzuhe­ benden Herausforderungen. Die spätere Schiffbruch-mit-Zuschauer-Konfiguration verbindet den Genuss mit der Ansicht eines Geschehens in Distanz.⁵⁷ Der ästhe­ tische Genuss, der Sokrates durch seinen abrupten Aufbruch entgangen ist, wäre kein anderer gewesen als der einer theoretischen Distanz. Es darf nicht übersehen werden, dass es sich im Eupalinos-Dialog um ein Totengespräch handelt, denn erst so kann die paradoxe Idee einer ‚vollende­ ten Unbestimmtheit‘ thematisch werden: Es hält die „Einsicht des Sokrates in seine eigene geistige Geschichte“ noch einmal in einer „ironische[n] Schwebe“ (Sokrates, 77). Vom Hades aus gesehen ist die Differenz zwischen ‚ästhetisch‘ und ‚theoretisch‘ der Effekt einer Wiederholung. Es gibt eine Korrelation zwi­ schen der Bedrängnis durch die verworfene Möglichkeit, die dazu nötigt, die Szene noch einmal zu erzählen, ohne den Gegenstand des Anstoßes beschrei­ ben zu können, und dem, was an diesem Gegenstand „zum Eintreten in den Potentialitätshorizont“ (Vieldeutigkeit, 118) gezwungen hatte. Als Gegenstand der Erinnerung tritt er auf, wenn im Dialog die Frage nach einem ontogeneti­ schen Plural aufkommt: „Sokrates: Ich habe dir gesagt, daß ich geboren wur­ 55 Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 16 Bände in 32 Teilbänden, Leip­ zig 1854, digitale Version, bereitgestellt durch die Universität Trier unter http://woerterbuchnetz. de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB (1. Mai 2020), im Folgenden als „Grimmsches Wörter­ buch“ abgekürzt, hier: Band 3, Leipzig 1862, Sp. 310. 56 Das Auseinandertreten in Ästhetik und Theorie ist für Blumenberg ein neuzeitliches Phäno­ men: „An diesem Punkt zerbricht die Einheit des ästhetischen und des theoretischen Sehens seit der Antike; Genießen und Begreifen können, spätestens seit Kopernikus, nicht mehr in einem Akt vollzogen werden.“ Contemplator, 121. 57 Allerdings zielt der Text auf die Erosion dieser Distanz. Vgl. Alexander Waszynski, „Berühr­ barkeit. Krisen der Distanznahme bei Hans Blumenberg und Jacob Burckhardt“, in: Komparatis­ tik-online, 1 (2019), 56–78, hier: 78.

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de als Mehrere, und daß ich gestorben bin als ein Einziger“;⁵⁸ als Fundstück am Strand ist der Gegenstand Produkt der vielen Kräfte. Es ist der stets mög­ liche Plural, der keine Ruhe lässt. Diese Bedrängnis entspricht einer Verschie­ bung im Erinnern: nicht das „Heraufrufen bildhafter Reproduktionen“ ist bei Valéry gemeint, folgert Blumenberg, sondern „der nochmalige Vollzug der un­ widerruflich gefallenen Lebensentscheidung“ (Sokrates, 77). Unbestimmtheit, in diesem Sinn, ist bereits depotenziert, d. h. stehen gelassen, weil der ästheti­ schen (wie der theoretischen) Einstellung ein Moment „des aufgebens, aufhe­ bens, abschaffens“ innewohnt. Innerhalb der Entgegensetzungen ästhetisch/ theoretisch, Kunst/Philosophie lassen sich keine die Substantialität des Kunst­ werks oder die Stabilität des Betrachterstandpunkts angreifenden Ansprüche denken. Ein Ausweg könnte in der Radikalisierung gerade des Entgehens selbst liegen. Liest man beide Einstellungen, in ihrer Differenz schon Wiederholungseffekt, als anfängliche Auf- oder Preisgaben, lässt sich an dieser Bewegung des Einstellens ein Moment der Exposition – das ‚Einstellen von etwas‘ als ‚Einstellung in ande­ res‘ – abheben, das jenseits der Alternative ästhetisch–theoretisch liegen muss. Diese Einstellungen können nicht ‚gehabt‘ oder ‚erlangt‘ werden.⁵⁹ Gerade in ei­ ner gemeinsamen Entgründung, in einem gemeinsamen Rückzug – des Ästheti­ schen ins Inästhetische, der theoretischen Distanznahme in die Betreffbarkeit – kommen Ansprüche wieder und anders auf, die innerhalb des Paradigmas des Genusses in ihrer Dringlichkeit zurückgenommen wären. Die dann neu denkbare Pluralität ist keine der Aspekte oder Ansichten, in denen noch im Ästhetischen das Regime des Theoretischen aufrechterhalten ist. Genau das müsste den ästhe­ tischen Gegenstand im strengen Sinn ja auszeichnen: dass er sich als ästhetischer überhaupt nicht bestimmen lässt.

58 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 138. 59 Die mit der Figur Sokrates verknüpften Schwierigkeiten, nicht nur eine ‚philosophische‘, son­ dern überhaupt eine Einstellung zu gewinnen, heben Blumenbergs Zugang sowohl von der durch Reduktion zu erlangenden Einstellung (Husserl) als auch von einer Konstruktion Heideggers deutlich ab: Dass die Phänomenologie die „Grundhaltung“ des „lebendigen Mitgehens mit dem echten Sinn des Lebens“ habe, liege, „von der lebendigen Einstellung des Forschers aus gesehen, in der Idee der Ursprungswissenschaft, des Sicheinstellens in die lebendigen Motivationen und Tendenzen des Geistes – der élan vital, aber in einem anderen als dem mystizistisch verworre­ nen Sinne Bergsons.“ Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), in: ders., Gesamtausgabe, Band 58, hg. v. Hans-Helmuth Gander, Frankfurt am Main 1993, § 4, 23–24. Ei­ nen Ansatzpunkt bietet Blumenbergs Kritik des Lebensweltbegriffs, die darauf hinausläuft, dass sich die Möglichkeit eines intentionalen Einstellungswechsels zugunsten einer autodestruktiven Bewegung der Lebenswelt verliert. Vgl. Abschnitte 3.1 und 4.5.

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Hier ergibt sich, greift man auf eine Denkfigur des Aufsatzes „Anthropolo­ gische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ von 1971 vor, ein neues Pro­ blem. Dort heißt es, dass nach dem Ende der Gegenständlichkeit in der Kunst nur noch mit einem großen Aufwand an Rhetorik durchzusetzen sei, dass etwas als Kunstwerk akzeptiert werde (vgl. Annäherung, 121). Dieser Aufwand fällt zusam­ men mit der buchstäblichen Aufgabe der Möglichkeit der ästhetischen Einstel­ lung. Die ästhetische Einstellung muss bereits darüber entschieden haben, was unter das „Kriterium der ästhetischen Gegenständlichkeit“ überhaupt fällt. Blu­ menberg hatte deswegen die „Unübersehbarkeit“ (Vieldeutigkeit, 118) des Gegen­ stands als wesentlich angeführt; der spätere Aufsatz erhöht noch einmal die Kom­ plexität, indem nun mit der ästhetischen Unübersehbarkeit eine implizite rheto­ rische Bewegung verbunden wird. Sobald etwas als Kunstwerk akzeptiert wird, muss eine vorausgängige Unbestimmtheit bereits eingeschränkt worden sein.

Ungegenständliche Kunst, Realität als Widerstand Mit Blick auf die konkrete Auseinandersetzung mit den Künsten lässt sich die Fra­ ge nach einer über den Bereich ästhetischer Gegenständlichkeit hinausführenden Dynamisierung weiterverfolgen. Die Zurückweisung der antithetischen Struktur ist in Blumenbergs Valéry-Lektüre der wesentliche argumentative Schritt, der es ermöglicht, den ästhetischen Gegenstand ‚ungegenständlich‘ zu fassen. An­ hand von Valérys Überlegungen zur Malerei lässt sich der Vorrang des Ungegen­ ständlichen schärfer fassen. Zwar wird dem Gemälde Gegenständlichkeit zuer­ kannt – Blumenberg lässt offen, ob damit eine figurative, thematische oder ma­ terielle Gegenständlichkeit gemeint ist –, diese aber einer ‚ungegenständlichen‘ Disposition – der der Farbe – untergeordnet. Die Episode zum objet ambigu ist im Eupalinos-Dialog in die Diskussion zweier Künste eingerückt, die als zugleich ‚ungegenständlich‘ und ‚menschlich‘ vorgestellt werden. Damit gibt die Textor­ ganisation den entscheidenden Hinweis auf die asymmetrische und scheinbar paradoxe Konstruktion des Arguments: Architektur und Musik sind gegenstandslose Künste, sie benötigen nicht vermittelnde Zei­ chen und Repräsentanten, so wie der Maler, wenn er an einer Stelle seines Bildes ein Grün braucht, einen Baum malt gleichsam als Vehikel dieses Grüns, das es trägt und mit sich führt und es an diese Stelle zu bringen ermöglicht. (Sokrates, 85–86)

Zugleich eröffnen beide Künste ganz neue Erfahrungsräume. „Allein diese beiden Künste schaffen [. . . ] mehr als einen bloßen Anblick, mehr als eine Gestalt, um die man herumgehen kann, vielmehr einen Raum, in den man einzutreten vermag, eine ausschließlich menschliche und nicht auf die Natur zurückgehende selbst­

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wertige Realität“ (Sokrates, 85). In dieser Rekonstruktion steht das objet ambigu in einem ästhetisch-epistemischen Zwischenraum: zwischen dem Vorrang des Un­ gegenständlichen vor dem Gegenständlichen und der aus den Cahiers entnom­ menen Überwindung der Antithese von Kunst und Natur. Der aus der Bewegung der transaction ermittelte Vorrang der Kunst fällt zusammen mit einer ungegen­ ständlichen Disposition, in der die Auftragbarkeit der Farbe den Vorrang vor der Figur, die Erfahrung den Vorrang vor der Gestalt erhält. In dieser Perspektive er­ scheint das Gegenständliche nunmehr „als die ästhetische Versuchung, die von sich aus die Bedingungen ihrer Realisierung zu setzen tendiert“ (Sokrates, 107). „Die thematisch fixierbare Gegenständlichkeit des Kunstwerkes“ – etwa das Su­ jet der Darstellung – ist „seine Schwäche“ (Sokrates, 106).⁶⁰ Es ist hier gut zu se­ hen, dass sich die mit Valéry nachgezeichnete Zurückweisung einer reduktiven Thematisierungsleistung mit jener Bewegung verbindet, die Blumenberg in sei­ nem Annäherungsaufsatz später zur Grundlage einer Anthropologie-Kritik ma­ chen wird.⁶¹ Darin ist die thematische Gegebenheit – der Mensch als Thema einer Anthropologie – zugunsten einer noch zu leistenden Thematisierung seiner ‚Kon­ stitution‘ in Frage gestellt.⁶² Im Bereich der Kunst entspricht dieser Tendenz das Verfahren, eine irreduzible Offenheit in das Kunstwerk zu integrieren: 60 Die im Typoskript gestrichene Begründung im Nachsatz weist auf das Problem einer in Be­ stimmtheit überführbaren Unbestimmtheit hin: „weil sie die Illusion der Auflösbarkeit, der end­ lichen Unbestimmtheit erzeugt“. Blumenberg, Sokrates und das ‚objet ambigu‘ (DLA Marbach, Nachlass), HK, 43. 61 Vgl. Abschnitt 2.2. 62 Während Valéry das Versinken der menschlichen Figur, die der Sand mitzuziehen versucht, beschreibt (Valéry, Eupalinos ou l’Architecte, 75: „cependant que l’humaine statue, présente et vivante, s’enfonce un peu plus dans le sable qui l’entraîne.“), ließen sich auch die Deformationen und Auslöschungen des Figurativen in der zeitgenössischen Kunst vor diesem Hintergrund dis­ kutieren: wenn die Gemachtheit, der Farbauftrag, die Körperbewegung, der Rhythmus, die Mate­ rialität, der Linienzug oder Wärmeverteilungen zu zentralen Kriterien ästhetischer Aushandlun­ gen, mithin die Konstitutionsbedingungen des In-Erscheinung-Tretens ausgelotet werden, bis in die Nischen der Unsichtbarkeit. Cy Twombly hat die Verwandlungsszene in Leda and the Swan (1963) zugleich als materiale Verformung auf der Bildfläche ausgestellt. Pierre Bonnard verbirgt die menschliche Figur in einer Verteilung der Farbintensitäten. Robert Rauschenbergs Erased De Kooning Drawing (1953) arbeitet an den Bedingungen der Darstellung selbst. Die ‚Ununterscheid­ barkeitszonen‘ (Gilles Deleuze) zwischen Mensch und Tier, Figur und Farbe, die der von Blumen­ berg geschätzte Francis Bacon großformatig auslotet, werden zum bloßen Kräftespiel. Den für den ersten Hauptteil titelgebenden Ausdruck „Deformationskräfte“ beziehe ich aus Joseph Vogls Übersetzung des Francis-Bacon-Buchs, in dem Deleuze für Bacons Malerei eine Typologie ‚un­ sichtbarer‘ Kräfte entwirft: „Deformationskräfte“ sind Kräfte, „die sich des Körpers und des Kop­ fes der Figur bemächtigen und immer dann sichtbar werden, wenn der Kopf sein Gesicht oder der Körper seinen Organismus abschüttelt.“ Gilles Deleuze, Francis Bacon. Logik der Sensation, übers. v. Joseph Vogl, München 1995, 42. Sie werden ‚sichtbar‘, wenn die Vorordnung von Gestalt,

2.1 Weder Theorie noch Ästhetik: Einstellungen als Aufgaben (Valéry) |

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Die Hereinnahme einer Pluralität als Gleichzeitigkeit von Aspekten in das Bild selbst (Pi­ casso) bzw. die Durchbrechung der Erwartungsstruktur in der Plastik (Archipenko, Moore) bestätigen, daß der ästhetische Gegenstand dem Betrachter die Wahl des Deutungsstand­ punktes nicht mehr aufzwingen, sondern offenlassen soll, und daß er sich gerade darin zu einem neuen Realitätsgrad verdichtet. (Vieldeutigkeit, 117)

In Valérys Dialog wird der Übergang in eine Deutung als problematisch ausge­ stellt. Das objet ambigu steht in einer mehrfachen Spannung. Im sokratischen Rückblick erhält es, weil es unendliche Fragen anregt, einen ontogenetischen Plu­ ral, der zugunsten der schließlich ergriffenen Möglichkeit zurückgestimmt ist. Es ist, gemäß der Bewegung der transaction, ohnehin ein Kunstprodukt und in dieser Faktizität begegnet es auch in der Inszenierung, die der Eupalinos-Dialog aufbaut. Dass Natur immer schon Gegenstand dieser transaction ist, heißt nicht, dass es keine Erfahrung von Realität geben kann. Diese aber ist nur noch Effekt eines Wi­ derstands, nämlich gegen eine restlose Auflösung: „Die Realität der Welt beruht auf dem Widerstand, dem der Mensch begegnet, und das Korrelat dieses Wider­ standes ist die Anstrengung, in der er sich an ihm mißt.“ (Sokrates, 105) Realität ist jetzt verstanden als das ‚Ungefügige‘,⁶³ als Rest oder kontingenter Störfaktor innerhalb der transaction. Dieser Widerstand ist nicht identisch mit dem von So­ krates als ‚zurückgestoßen‘ beschriebenen „Widerstand“, den der Gegenwind auf das Gesicht legt,⁶⁴ und der überhaupt das Kräftespiel der Szenerie auszeichnet. Aber es ist auch nicht unerheblich, dass diese Schilderung als unmittelbare Re­ plik auf Phaidros’ Bitte einer ausführlicheren Erklärung und Beschreibung ‚des Dinges‘ eingeschaltet ist. Phaidros war über die vermeintliche, noch durch So­ krates’ Hinweis auf die zur Verfügung stehende Ewigkeit ergänzte Abschweifung irritiert und hatte die Konzentration auf den Gegenstand eingefordert („Phaidros: Aber das Ding“).⁶⁵ Die Pointe liegt in der Überblendung einer als Rest verstande­ nen Realität mit der überhaupt nur als Rückstand denkbaren ästhetischen Einstel­ lung. So gesehen antwortet Sokrates also sehr genau auf Phaidros’ Bitte. Er schiebt die Beschreibung des Gegenstands als Gegenstand (Form, Material, Größe) auf, um stattdessen seine spezifische, nämlich die unendliche Fragen veranlassende Funktion zu benennen, welche jedoch – als „Produkt der Kräfte“ (Sokrates, 89),

Geist, Organismus, Substanz, Mensch angegriffen ist oder, wie das „présente et vivante“ Valérys, in einen Sog gerät, der es mitzuziehen versucht und ‚außer Kraft‘ setzt. 63 Blumenbergs ‚vierter‘ Wirklichkeitsbegriff steht der logischen Form des Paradoxes nahe und orientiert „sich an der Erfahrung von Widerstand “, in der Realität als „das dem Subjekt nicht Gefügige“ verstanden ist. Wirklichkeitsbegriff, 13. Vgl. hierzu: Manfred Sommer, „Wirklichkeit“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 363–378. 64 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 141. 65 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 143.

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das das objet ‚ist‘ – aus der Szenerie interpoliert werden muss: aus der Erfahrung des physischen Widerstands, dem Schwanken der Zwischenzonen, aus der eigen­ tümlichen Bewegtheit, der Nicht-Feststellbarkeit des gesamten Schauspiels, das schließlich, als spectacle, deswegen „an diesem Ort [dem Ufer des Ilissos, A.W.] eine Art Neuheit bekommt, [. . . ] weil es für immer vorüber ist“.⁶⁶ Der Versatz des ‚nicht mehr‘ ist hier Ausgangsbedingung der Diskussion des Ästhetischen. Die Beschreibung der im Rückblick noch einmal vollzogenen und somit erneuerten Realität („Nun wohl, Phaidros, die Sache war die [. . . ]“⁶⁷) tritt ein für die Annäherung an einen nicht zu transformierenden Rest als Realität. Der Gegenstand kann „in der faktischen Welt nicht untergebracht werden“ (So­ krates, 110), er ist ortlos und lässt sich, was in Blumenbergs Lesart das wesent­ liche Differenzkriterium zur antiken Ontologie ist, nicht zuordnen. Darin allein liegt der Realitätsgehalt des objet ambigu, nicht in seinem Gegenstand-Sein und auch nicht in der Vieldeutigkeit selbst, sondern darin, dass diese irreduzibel ist: „seine Realität liegt in der Unüberwindlichkeit seiner Vieldeutigkeit, in den nicht beantworteten Fragen, die es ins Meer zurück mit sich nimmt und die doch dem landeinwärts gehenden Sokrates bedrängend nahebleiben.“ (Sokrates, 105, mei­ ne Hervorhebung, A.W.) Dieser Realitätscharakter ist auch der des ästhetischen Werks (vgl. Sokrates, 105). Das objet ambigu ist „potentiell ästhetisch“ (Sokrates, 110). Damit verschiebt Blumenberg die Bestimmung von Wirklichkeit als Widerstand in eine dem mensch­ lichen Radius gemäße Auflösung ins Ästhetische. Das Kunstwerk sucht an die Stelle der fremden Unauflösbarkeit die eigene, menschliche Unauflösbarkeit zu set­ zen, an die Stelle der einen quälenden Unbestimmtheit des aus unerforschbarer Quelle Begegnenden die beglückende, Genuß bietende Unauflösbarkeit des menschlichen Werks, dessen Realitätscharakter als Widerstand damit äquivalent dem Gegebenen, aber ohne den Stachel der theoretischen Unruhe ist. (Sokrates, 106)

Indem das Kunstwerk die Stelle der quälenden Unbestimmtheit so besetzt, dass es zwar deren Ansprüche wiederholt, in dieser Wiederholung aber das Moment einer substantiellen Gefährdung tilgt – weil der Rest der ersten in einer weiteren transaction gleichsam überformt wird –, wird das Kunstwerk zu einem rezipierba­ ren ästhetischen Gegenstand. Die Ästhetisierung entlastet von radikalen Ansprü­ chen, den „fremde[n] und damit gefährliche[n] Größe[n]“ (Sokrates, 105–106), da­ durch, dass sie eine elementarer gefasste Belastung reproduziert und exponiert. Die unerforschliche Quelle des Begegnens wird ersetzt durch ein Schauspiel, das

66 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 144. 67 Valéry, Eupalinos oder über die Architektur, 140.

2.2 Ersatzverfahren: Blumenbergs Annäherungsaufsatz |

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mutmaßlich Ähnliches darbietet, jedoch in der sicheren Distanz der Gewissheit um das Menschengemachtsein. Das Problem hinter der Frage nach dem ästhetischen Gegenstand lässt sich mit und nach Blumenberg als eine Gegenständlichkeit und thematische Zentrie­ rung negierende Unbestimmtheitszone beschreiben, in der nur eine Pluralität der Möglichkeiten stehen bleibt, die aufseiten ästhetischer Produktion zur Ver­ gegenständlichung, aufseiten der Rezeption zur Vereindeutigung tendiert – mit der Pointe, dass die zu dieser Konstruktion verleitenden Überlegungen an ei­ nem zwar auf Nachfrage in seinem Dingcharakter bestätigten, aber im Rückblick des Erzählens doch schon verworfenen Objekt ihren Ausgang nehmen. So wie in Sokrates’ Erzählung die Unbestimmtheitszone zwischen Meer und Land als Platzhalter gedient hatte, muss zugunsten des Theorems zur ästhetischen Erfah­ rung ein ästhetisch Unerfahrbares zurückgelassen, depotenziert und außer Kraft gesetzt werden.

2.2 Ersatzverfahren: Blumenbergs Annäherungsaufsatz Hans Blumenbergs Aufsatz „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ (1971) lässt sich weder dem Projekt einer anthropologischen Begrün­ dung der Rhetorik⁶⁸ noch dem einer rhetoriktheoretischen Grundlegung der An­ thropologie⁶⁹ eindeutig zuordnen. Vielmehr gibt er Gründe dafür, bereits an der Entgegensetzung dieser Positionen zu zweifeln. Blumenbergs Ansatz ist selbst nicht anthropologisch, sondern er macht sich Diskurse der Anthropologie zunut­ ze; seine Kritik ihrer zentralen Alternative (der Mensch ‚als reiches oder armes Wesen‘) hebt Momente der Destabilisierung heraus; diese dürfen aber nicht allein vom Zentralpunkt des als Mängelwesen verstandenen Menschen aus gelesen wer­ den, da sie bereits die Möglichkeit seiner Thematisierung betreffen. Andererseits bedarf ‚Rhetorik‘, in ihren modernen Ausprägungen, einer theoretischen Neufas­ sung. Das Hauptwort des Titels lautet entsprechend „Annäherung“; diese bezieht sich auf eine „Aktualität“, die näher bestimmt wird als die der offenbar zuvor als überholt verstandenen „Rhetorik“ – ein paradigmatischer Fall von ‚Lesbar­ keit‘. Der „anthropologische“ Zugang tritt damit, anstatt sie zu begründen, in den Dienst der theoretischen Approximation, die schon deswegen eine solche bleiben muss, weil es der Aufsatz erreicht, die Erreichbarkeit von Evidenz nachhaltig zu bezweifeln. 68 Vgl. etwa Josef Kopperschmidt, Wir sind nicht auf der Welt, um zu schweigen, Berlin/Boston 2018, 87–118. 69 Vgl. Haverkamp, Technik der Rhetorik.

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Der Umweg des Arguments als Ausweg aus der Antithetik Blumenbergs Text beginnt mit einer doppelten Alternative.⁷⁰ In „zahllosen defi­ nitionsähnlichen Bestimmungsversuchen“ sei der Mensch entweder „als armes oder als reiches Wesen“ verstanden worden. In den „traditionellen Grundauffassungen“ (Annäherung, 104) von Rhetorik hänge diese entweder mit dem Besitz von oder aber dem Mangel an Wahrheit zusammen. Es läßt sich leicht sehen, daß man die beiden radikalen Alternativen der Anthropologie und der Rhetorik einander eindeutig zuordnen kann. Der Mensch als das reiche Wesen ver­ fügt über seinen Besitz an Wahrheit mit den Wirkungsmitteln des rhetorischen ornatus. Der Mensch als das arme Wesen bedarf der Rhetorik als der Kunst des Scheins, die ihn mit sei­ nem Mangel an Wahrheit fertig werden läßt. (Annäherung, 105)

Rhetorik elementarer zu fassen, was zu tun Blumenbergs Rekonstruktion nahe­ legt, heißt zunächst, die Seite des Mangels so zu radikalisieren, dass Rhetorik nicht bloß eine „Kunst des Scheins“ bleibt, sondern als fundamentale Leistung verstan­ den wird. Das Aufkommen von Rhetorik – um dieses Aufkommen eher als um den Bestand ist es dem Aufsatz zu tun – wird mit „Situationen des Handlungszwanges“ (Annäherung, 116) in Verbindung gebracht. Sie zeichnen sich durch einen „Man­ gel an Evidenz“ (Annäherung, 112) aus. Blumenberg geht zwar von einer antitheti­ schen Logik aus, aber seine Argumentation macht sie sich nicht zu eigen. Insofern der „Hauptsatz aller Rhetorik“ – „das Prinzip des unzureichenden Grundes (principium rationis insufficientis)“ (Annäherung, 124) –⁷¹ als „Korrelat der Anthropolo­

70 Die Schriften zur Technik (2015) teilen diesen Zugang; auch der Valéry-Aufsatz „Sokrates und das objet ambigu“ verhandelt mit der Alternative zwischen ästhetischer und theoretischer Ein­ stellung eine Entgegensetzung, die sich ebenfalls nicht halten lässt (vgl. Abschnitt 2.1). Blumen­ berg ‚setzt‘ hier keine antithetische und polarisierende Logik. Er diagnostiziert sie, um sie ver­ werfen zu können. Anders: Birgit Recki, „Der praktische Sinn der Metapher. Eine systematische Überlegung mit Blick auf Ernst Cassirer“, in: Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, hg. v. Franz Josef Wetz und Hermann Timm, Frankfurt am Main 1999, 142–163, hier: 156. Nicht zuletzt wird eine andere und traditionsgängige Antithese, die von „Wahrheit und Wir­ kung“, mit dem Hinweis zurückgewiesen, sie sei „oberflächlich“. Annäherung, 111. Zur Aporie der Entscheidung zwischen den von Blumenberg besprochenen Alternativen vgl. Eva Geulen, „Pas­ sion in Prose“, in: Telos 158 (2012), 8–20. 71 Oliver Müller hat darauf hingewiesen, dass bereits Robert Musil, was Blumenberg nicht er­ wähne, in seinem Mann ohne Eigenschaften „den ‚Satz des unzureichenden Grundes‘ eingeführt und damit dem skeptischen Lebensgefühl der Hauptfigur Ulrich Ausdruck gegeben“ habe. Mül­ ler, Sorge um die Vernunft, 271, Anm. 48. Er verweist auf verschiedene Stellen in Blumenbergs Werk (in Genesis der kopernikanischen Welt, Schiffbruch mit Zuschauer sowie Zu den Sachen und zurück), in denen die Formulierung Verwendung findet. Müller, Sorge um die Vernunft, 271, Anm. 49.

2.2 Ersatzverfahren: Blumenbergs Annäherungsaufsatz |

35

gie eines Wesens, dem Wesentliches mangelt“ (Annäherung, 124), eingeführt wird, liegt eine Interpretation näher, die sich noch weiter von der Antithetik löst. An­ statt in diesem Aufsatz also einen Zwischenschritt einer anthropologischen Wen­ de Blumenbergs⁷² zu erkennen, muss danach gefragt werden, wo die Berührungs­ punkte zwischen ‚Rhetorik‘ und ‚Anthropologie‘ liegen. Der Aufsatz wird so nicht als Ausblick auf eine Beschreibung des der Rhetorik bedürftigen Menschen lesbar, nicht als anthropologisch-phänomenologische oder phänomenologisch-anthro­ pologische Tieferlegung kultureller Formationen, sondern als sorgfältig austarier­ te Konstellation gegenseitiger Einsprüche. Meine Analyse beschränkt sich daher auf den Versuch, einen Ansatz zu einer nicht-hierarchischen Lektüre zu liefern. Sie geht weder von einem werkimmanenten Bruch, einer Wende oder ‚Verschie­ bung‘ (Rüdiger Zill) aus, noch von einer Kontinuität der Fragestellungen.⁷³ Anselm Haverkamp hat den Aufsatz als immanente Konsequenz des Metaphoro­ logie-Projektes gelesen: Die „Anthropologische Annäherung“ indiziert keine anthropologische Wende des Autors, wie man immer wieder hört; sie zielt im Gegenteil auf die meta-rhetorische Radikalisierung des überholten metaphorologischen Projekts, nachdem dieses die Tücken der Historisierung offenbart hatte. Diese lagen in der mangelnden Historisierung der Phänomenologie und gin­ gen mit der metaphorologischen Differenzierung Hand in Hand.⁷⁴

72 Es gibt eine ganze Reihe von Positionen, die, mit guten Gründen, von einer solchen Wen­ de ausgehen. Insbesondere die einschlägige Nachlass-Veröffentlichung Beschreibung des Men­ schen (2006) stärkt diese Ansicht. Der von Rebekka A. Klein herausgegebene Band will „Blumen­ bergs Umbesetzung der rein phänomenologischen durch eine anthropologische Fragestellung“ beleuchten und den anthropologischen Ansatz „als ein heimliches Grundthema“ ausweisen. Da­ bei gerät „Blumenbergs Versuch einer deskriptiven Annäherung an das Phänomen des Menschen [. . . ] als Versuch einer kontingenten ‚Standortbestimmung des Menschseins‘“ in den Blick. Re­ bekka A. Klein, „‚Auf Distanz zur Natur‘. Eine Beschreibung des Menschen“, in: Auf Distanz zur Natur. Philosophische und theologische Perspektiven in Hans Blumenbergs Anthropologie, hg. v. Rebekka A. Klein, Würzburg 2009, 9–19, hier: 11–13. Birgit Recki hatte bereits 1999 die „Intention auf die Anthropologie als prima philosophia“ herausgestellt. Recki, Der praktische Sinn der Meta­ pher, 159. Oliver Müller hat diese Intention 2005 ausbuchstabiert und „von einer sukzessiven an­ thropologischen Wende im Werk Blumenbergs“ gesprochen: Müller, Sorge um die Vernunft, 18, zur prima philosophia: 260. Allerdings sei der Annäherungsaufsatz nur ein Zwischenschritt: „Man muß hingegen vorsichtiger erst einmal von einer Auseinandersetzung mit Gehlen reden und von einer Abgrenzung von Gehlen“. Müller, Sorge um die Vernunft, 275. 73 Dieses Argument kann sich im weiteren Gang der Arbeit auf Blumenbergs Lesbarkeit der Welt (1981) stützen; denn dort geraten die verschiedenen Stränge des Werks derart in Kontakt, dass sich eine thematische Zentrierung (Anthropologie, Epistemologie, Ideengeschichte oder Me­ taphorologie) ebenso verbietet wie eine systematische (historisierend, transzendental). Sie er­ zwingt damit einen anderen analytischen Zugang bemerkenswerterweise genau an der Werkstel­ le, die ‚Lesbarkeit‘ in den Titel hebt. 74 Haverkamp, Technik der Rhetorik, 440.

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Hier kann zwar an die Beobachtung angeschlossen werden, die Anthropologie komme „der Rhetorik an verborgener Wirkung nahe“,⁷⁵ der Zugang unterschei­ det sich jedoch darin, die Wechselseitigkeit zu betonen. Die anthropologische Annäherung springt dort ein, wo das Problem einer Bestimmung von Rheto­ rik aufkommt; umgekehrt wird ‚Rhetorik‘ zum Thema, weil anthropologische Positionen, insofern sie allein antithetisch organisiert sind, nicht tragfähig sind. Bei genauerer Betrachtung der Argumentationsstruktur verdankt sich die Not­ wendigkeit der Auseinandersetzung mit der modernen Rhetorik einem Mangel an Evidenz nicht des Menschen, sondern der Anthropologie. Auf diese beiden Unbestimmtheiten – die der vorauseilenden Praktiken und die der Instabilität philosophischer Anthropologien – reagiert der Aufsatz: nicht mit einem Bestim­ mungsversuch, sondern mit einer ausweichenden Bewegung, die das Eine an die Stelle des Anderen rücken lässt. Das Diskutierte gerät in eine Nähe zur Art und Weise, in der diese Diskussion vorangetrieben wird.⁷⁶ Es wird, um Blumenbergs Beobachtung an der modernen Rhetorik auf seine eigene Herangehensweise zurückzuwenden, „expliziert, was ohnehin schon getan wird“ – was eben zugleich bedeutet: die Technik „durch­ schaubar zu halten“ (Annäherung, 112). Die Kritik an methodologischen Voran­ nahmen wird in einer Weise vorgebracht, in der das Verfahren als Verfahren am Argument beteiligt ist. Lässt sich diese Konstruktion verteidigen (und über diesen Aufsatz hinaus als ein Merkmal von Blumenbergs Schreiben überhaupt aufwei­ sen), ist es nicht länger notwendig, in den Varianten der Unbegrifflichkeit Instru­ mente menschlicher Kontingenzbewältigung und in der Metapher zunächst ei­ ne „Überlebensstrategie“⁷⁷ zu erkennen. Die These zur Angewiesenheit des Men­ schen auf Metapher, Mythos und Figuren des Umweges bedient in der zugrunde gelegten instrumentellen Verengung letztlich die „Aporie des anthropologischen Diskurses“,⁷⁸ in dem Medien als das zu einem humanen ‚Wir‘ Hinzukommende verstanden sind – als Verlängerung der Sinne, als Mittel oder Werkzeuge der Welt­ bewältigung. Übersehen wird dabei, wie Georg Christoph Tholen in anderem Zu­ sammenhang gezeigt hat, der „transhumane“ Zwischenraum des Entstehens und Vergehens „medialer Kon-Figurationen“, der die Frage nach ‚dem Menschen‘ be­

75 Haverkamp, Technik der Rhetorik, 439. 76 Eine ähnliche Struktur lässt sich an der Einführung der absoluten Metapher in Paradigmen zu einer Metaphorologie beobachten. Vgl. Abschnitt 2.4. 77 Goldmann, Phänomen und Begriff der Metapher, 253. 78 Georg Christoph Tholen, „Mit und nach McLuhan. Bemerkungen zur Theorie der Medien jen­ seits des anthropologischen und instrumentellen Diskurses“, in: McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, hg. v. Derrick de Kerckhove, Martina Leeker und Kerstin Schmidt, Bielefeld 2008, 127–139, hier: 127.

2.2 Ersatzverfahren: Blumenbergs Annäherungsaufsatz |

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reits verschoben habe.⁷⁹ Das heißt nicht, dass sie nicht mehr zu stellen wäre – und vielleicht noch dringlicher zu stellen bleibt. Blumenbergs Interesse für die Möglichkeit des Menschen⁸⁰ zerstreut den in­ strumentell-anthropologischen Zugang. Da beide Letztbegründungen angreifen, können weder Rhetorik noch Anthropologie zu Letztbegründungsfiguren zweiter Ordnung werden.⁸¹ Ein weiteres Argument findet sich im Entwurf der absoluten Metapher, die sich gerade dadurch auszeichnet, nicht ‚instrumentell‘ gebraucht werden zu können.⁸² Anstelle einer ideengeschichtlichen oder philosophiehistorischen Verortung programmatischer Leitsätze wird deswegen ein Zugang vorgeschlagen, der zu­ nächst aufmerksam ist für strukturelle und textuelle Impulse. Er kann dort an­ setzen, wo sich der Aufsatz eines Vokabulars bedient, dem Kurt Flasch zuletzt einen ‚paramilitärischen‘ Zug unterstellt hat:⁸³ ‚Nötigung‘, ‚Zwang‘, ‚Appell‘, ‚An­ spruch‘. Anders als Flasch erkenne ich in diesen Formulierungen keinen Auto­ ritarismus, keine biographistische Verstrickung in ein „ganzes Nest maskuliner, illiberaler Rhetorik“ – „als rede der Feldwebel vor Rekruten oder der Jesuitenge­ neral vor Novizen“⁸⁴ –, sondern Indizien für die Einführung destabilisierender

79 Tholen, Mit und nach McLuhan, 128. 80 Analog dazu die Fragen nach der Möglichkeit der Metapher in Die Lesbarkeit der Welt und nach der Möglichkeit des Romans in „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“ (1964). 81 Zu Recht hat Sebastian Tränkle, was eine mögliche Vorordnung der – allerdings auch hier in ihrer anthropologischen Begründung unbefragten – Rhetorik betrifft, auf den drohenden Ef­ fekt einer Tilgung des kritischen Potentials hingewiesen: „Gerinnt der kritische Gehalt der Rede von den Umwegen zum positiven Postulat, dann besteht jedenfalls die Gefahr, dass diese als ent­ leerte Struktur selbst fetischisiert, Vermittlung hypostasiert wird, nur dieses Mal in anderer, eben ‚rhetorischer‘ oder ‚metaphorischer‘ Gestalt.“ Er kommt zu dem Schluss, dass „Blumenbergs kul­ turtheoretische Wertung der Umwege“ dominiert sei durch ein „strukturalistisches Schema“. Se­ bastian Tränkle, „Die Vernunft und ihre Umwege. Zur Rettung der Rhetorik bei Hans Blumen­ berg und Theodor W. Adorno“, in: Permanentes Provisorium. Hans Blumenbergs Umwege, hg. v. Michael Heidgen, Matthias Koch und Christian Köhler, Paderborn 2015, 123–144, hier: 141. Der diagnostizierten Gefahr einer Quasi-Substantialisierung des konstitutiven Umwegs läßt sich die Wendung des Schemas auf sich selbst entgegensetzen: eine Destruktion des thetischen Gehalts, die in Blumenbergs Argument zum Post-Substantialismus bereits enthalten ist. 82 Vgl. den Einstieg zum „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“ (Ausblick, 193). Die ra­ dikalisierte Eigendynamik unbegrifflicher Formationen steht einer auf den Menschen zugespitz­ ten Indienstnahme entgegen. Anders: Müller, Sorge um die Vernunft: „durch die Rhetorik kann sich der Mensch über seine Deutungen und metaphysisch-symbolischen Orientierungen verstän­ digen“ (261); „Der Mensch findet bei Blumenberg [. . . ] seine Entlastungsfunktion in der mit der Chiffre ‚Metapher‘ bezeichneten Kulturphilosophie“ (284). 83 Vgl. Kurt Flasch, Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland: Die Jahre 1945 bis 1966, Frank­ furt am Main 2017, 114–115. 84 Flasch, Hans Blumenberg, 114.

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Bewegungen in die Theoriebildung. Sie stehen einem Ordnungsschwund, dem zu begegnen ist, näher als patriarchalen Ordnungsrufen, die zu befolgen wären.⁸⁵ Lassen sich Blumenbergs Thesen ausgehend von solchen Verunsicherungen im Detail verkomplizieren, können auch die großformatigen Schemata auf ihre über­ zeitliche Konstanz hin befragt werden.

Geschichtlichkeit von Handlungszwang und Evidenzmangel „Evidenzmangel und Handlungszwang sind die Voraussetzungen der rhetori­ schen Situation.“ (Annäherung, 117) Birgit Recki hat beide als elementare Kenn­ zeichen der „Lage des Menschen“⁸⁶ interpretiert. Auch Oliver Müller sieht darin „die wesentlichen Merkmale der Anthropologie Blumenbergs“.⁸⁷ Der Handlungs­ zwang beschreibe „die Notwendigkeit der aktiven Kompensation der Mängelsi­ tuation“.⁸⁸ Der Evidenzmangel lässt sich als Variante von Unbestimmtheit ver­ stehen. Allerdings gibt Blumenbergs Text Hinweise darauf, dass mit dieser Aus­ gangslage eine methodologisch-kritische Dynamik verknüpft ist, die noch vor einer anthropologisch-pragmatischen Zuspitzung zu berücksichtigen ist. Dies betrifft vor allem die Geschichtlichkeit beider Momente. Das Kompositum „Handlungszwang“ steht in einer Reihe mit ähnlichen, sprachlich am ‚Wiederholungszwang‘ orientierten Bildungen, etwa mit dem im dritten Teil der Legitimität der Neuzeit eingeführten „Antwortzwang“ (PN, 92). Blumenberg erläutert dort mit Blick auf Tertullian, dass die theoretische Neugier­ de in der Spätantike nicht mehr als aus einer menschlichen Natur entspringend verstanden worden sei, sondern nunmehr als „Ergebnis der widerstandslosen Rezeption des tradierten Systems ‚unabdingbarer‘ Fragen“ (PN, 93). Der „Ant­ wortzwang [. . . ], der die Ablösung und Wiederbesetzung der vakant gewordenen

85 Ohne das an dieser Stelle im Detail diskutieren zu können, sei darauf hingewiesen, dass der „Titel des Ordnungsschwundes“, den Blumenberg in einem eminenten Aufsatz einbringt, etwas mit singulären und krisenhaften Ansprüchen zu tun hat: so soll „die Spezifizität der endmittel­ alterlichen Ordnungskrise [. . . ] gegen die spätantike“ abgehoben „und das Moment der Selbst­ behauptung in seiner Zuordnung zu dieser singulären Herausforderung“ fundiert werden. Ord­ nungsschwund, 142 [meine Hervorhebung, A.W.]. Es ist zu zeigen, inwiefern die Rekonstruktion einer derart singulären Herausforderung auch ein Effekt einer Textarbeit ist, die ihrerseits mit singulären Herausforderungen eingelassen ist. Fluchtpunkt ist der Entwurf einer textuellen Pro­ vokation, eines Anspruchs der Lesbarkeit. Darin liegt eine Dynamik, die scharf von einer „Appell­ struktur der Texte“ (Wolfgang Iser) zu unterscheiden ist. 86 Recki, Der praktische Sinn der Metapher, 157. 87 Müller, Sorge um die Vernunft, 269. 88 Müller, Sorge um die Vernunft, 268–269.

2.2 Ersatzverfahren: Blumenbergs Annäherungsaufsatz |

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Systemstellen auferlegt“ (PN, 92–93), ist auf die wiederum an einem Theorem Sig­ mund Freuds bemessene Struktur der ‚Umbesetzung‘ bezogen. Es handelt sich um eine historiographische Kategorie.⁸⁹ „Schwund“ ist der in diesem Kontext wesentliche Ausdruck.⁹⁰ Die ausgestellte Widerstandslosigkeit der tertulliani­ schen Aufnahme einer „Hypothek der vorgegebenen Fragen“ (SÄ, 77) verweist auf das seit der Kieler Dissertation bearbeitete Konzept der Rezeption, die dort einerseits als unbefragte Übernahme, andererseits als umprägende Dynamik ver­ standen ist.⁹¹ Im Annäherungsaufsatz ergänzt Blumenberg zur ‚Umbesetzung‘: „Ich habe diesen Begriff in meiner Legitimität der Neuzeit (1966) eingeführt und erläutert, aber noch nicht gesehen, daß er einen theoretischen Vorgang impli­ ziert.“ Dieser Vorgang, der nun konsequenterweise auf den anthropologisch-rhe­ torisch neu vermessenen Teilbereich ‚Geschichte‘ bezogen ist, besteht darin, dass „Durchsetzung und Bestätigung der Umbesetzung [. . . ] rhetorische Akte [sind]“ (Annäherung, 129). Damit ist ein zentraler Schnittpunkt gefunden zwischen Geis­ tesgeschichte und Rhetoriktheorie: Der ‚Antwortzwang‘ führt zu geschichtlichen Umbesetzungen, die rhetorisch realisiert werden; der ‚Handlungszwang‘ macht Rhetorik notwendig, ist aber selbst bereits historisch präformiert. Herbert Kopp-Oberstebrink hat betont, dass Blumenberg das Konzept der ‚Umbesetzung‘ einführt, um die Logik historischer Kontinuität – etwa die im prominenten Fall der Säkularisierung mitgeführte – zu durchbrechen: Es gehe darum, „eine Theoriegeschichte ohne substanzialistisch gedachte geschichtli­ che Kontinuitäten und historische Substrate zu schreiben“.⁹² Blumenberg könne jedoch nicht vermeiden, dass das Umbesetzungsmodell nun seinerseits neue Konstanz annehme: Die Verwerfung der historiographischen Substanzlogik gehe einher mit einer Verschiebung der „Konstanten und Kontinuitäten [. . . ] in die sub­ strukturierende Schicht der Fragen“,⁹³ die sich – wie bei Tertullian – als Hypothek weitertragen. Gegenüber einem derart in seinem Radius eingeschränkten ‚Antwortzwang‘ ist die spätere Prägung ‚Handlungszwang‘ nicht mehr an ein Stellensystem ge­ 89 Vgl. hierzu grundlegend: Kopp-Oberstebrink, Umbesetzung. 90 Ein Beispiel, das die rahmende Frage nach der ‚Kunst‘ in makrologischer Perspektive und an­ hand von Marcel Prousts Diktum einer Poésie de la mémoire aufgreift, findet sich in Die Legitimität der Neuzeit: „Es wäre verfehlt zu sagen, die Idee der Kunst, ihre Ernsthaftigkeit und ihre Daseins­ berechtigung, seien irgendwann hervorgegangen aus einer Umwandlung der Dogmen von der Schöpfung oder vom Gericht. Wohl aber bezeichnen diese Begriffe Ansprüche auf Sinnhaftigkeit und Endgültigkeit, die nach dem Schwund der theologischen Substanz unerfüllt geblieben und der Korrespondenz neuer Besetzungen fähig und bedürftig geworden waren.“ SÄ, 124. 91 Vgl. Abschnitt 2.3. 92 Kopp-Oberstebrink, Umbesetzung, 354. 93 Kopp-Oberstebrink, Umbesetzung, 360.

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bunden. Der Fokus richtet sich nun auf eine Kritik an der Substantialisierung dieses Zwanges wie des durch ihn Erzwungenen. Die Verbindung mit dem „Evi­ denzmangel“ ist ihrerseits zwingend, weil sie das Woher des Zwanges offenhält. Im ‚Handlungszwang‘ radikalisiert Blumenberg den pragmatischen Horizont ei­ ner responsiven Bewegung unter Abzug des systemischen Aspekts. Nur scheinbar verliert sich die Geschichtsschreibung an eine neue, nun transzendent-anthropo­ logische Superstruktur. Die mit dem Umbesetzungstheorem verbundene Dyna­ mik – nämlich die Momente der „Destruktion, Zerstörung, gar Selbstzerstörung einer spezifischen Besetzung“⁹⁴ – betrifft jetzt das Stellensystem selbst.⁹⁵ Anstatt Rhetorik einer Variante der Ornatus-Theorie zuzuordnen (was eine Form des Wahrheitsbesitzes voraussetzen müsste),⁹⁶ wird Rhetorik im Annähe­ rungsaufsatz pragmatisch gefasst.⁹⁷ Unbestimmtheit werde handelnd kompen­ siert anstatt epistemologisch reduziert. Entscheidend ist, dass die Bedingung der Möglichkeit von Handlungen bereits rhetorisch durchwirkt ist: „Handeln ist die Kompensation der ‚Unbestimmtheit‘ des Wesens Mensch, und Rhetorik ist die angestrengte Herstellung derjenigen Übereinstimmungen, die anstelle des ‚substantiellen‘ Fundus an Regulationen treten müssen, damit Handeln möglich wird.“ (Annäherung, 108) Allerdings impliziert der Handlungszwang eine dop­ pelte Aufhebung von Handlung.⁹⁸ Denn Handeln-Müssen heißt ja zunächst, dass noch nicht gehandelt wird. Das Argument zielt auf das Vorfeld des Handelns. Das Handeln wird erzwungen und zugleich als Möglichkeit eröffnet. Damit es möglich werden kann, muss es ersetzbar sein. Dies leiste die Rhetorik: Es wäre ganz einseitig und unvollständig, die Rhetorik nur als die „Notlösung“ angesichts des Mangels an Evidenz in Situationen des Handlungszwanges darzustellen. Sie ersetzt nicht nur die theoretische Orientierung für die Handlung; bedeutender ist, daß sie die Handlung selbst zu ersetzen vermag. (Annäherung, 116)

94 Kopp-Oberstebrink, Umbesetzung, 353. 95 Zweifel gegenüber der Stabilität des Stellensystems geäußert hat auch: Philipp Stoellger, „Von Cassirer zu Blumenberg. Zur Fortschreibung der Philosophie symbolischer Formen als Kulturphä­ nomenologie geschichtlicher Lebenswelten“, in: „Die Gegensätze schließen einander nicht aus, sondern verweisen aufeinander“. Ernst Cassirers Symboltheorie und die Frage nach Pluralismus und Differenz, hg. v. Wolfgang Vögele, Rehburg-Loccum 1999, 108–149, hier: 108, Anm. 107. 96 Für eine Verkomplizierung der Ornatus-Theorie vgl. Abschnitt 2.4. 97 Birgit Recki hat von einem „Primat des Praktischen“ gesprochen, aber diesen wiederum als ‚im‘ Menschen verankert vorgestellt. Vgl. Recki, Der praktische Sinn der Metapher. 98 Auch Müller betont, dass ‚Handlung‘ das in Blumenbergs Entwurf gerade ausgelassene Mo­ ment sei: „Man könnte die Situation des Menschen überspitzt und paradox als Handlungszwang ohne Handlung formulieren“. Müller, Sorge um die Vernunft, 288.

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Blumenberg spitzt das an anderer Stelle mittels einer Variation des berühmten Titels John L. Austins zu: statt How to Do Things with Words (1962): „How to do nothing with words“ (Staatstheorie, 138). Die Orientierung am Handlungsbegriff hinterlässt diesen entleert, hebt jedoch keineswegs den performativen Zug der rhetorischen Bewegung auf, weil schon der Verzicht auf Handlungen einen in die­ ser Verzögerung⁹⁹ eröffnenden, mithin politischen Zug erhält.¹⁰⁰ Der Handlungszwang „bestimmt“ (Annäherung, 113) die rhetorische Situati­ on, die zugleich eine Situation der Unbestimmtheit ist. Wie ist dieses ‚bestimmen‘ zu verstehen? Wenn es offensichtlich keinen definierenden Zug tragen kann: ver­ anlasst oder dominiert der Zwang die Situation? Worin findet dieser Zwang seine Begründung? Liegt der Notwendigkeit der Rhetorik eine anthropologische Dispo­ sition, eine humane Unzulänglichkeit, zugrunde? Oder ließe sich noch diese Un­ zulänglichkeit rhetorisch fassen? Blumenberg formuliert, was für eine anthropo­ logische Disposition spricht, zunächst sehr deutlich, dass Rhetorik „den Hand­ lungszwang des Mängelwesens als konstitutives Situationselement“ voraussetze, aber schon die Hinzufügung nach dem Thesenstrich: „ – wenn sie nicht mehr or­ natus einer Wahrheit sein kann“ (Annäherung, 113)¹⁰¹ greift diese Deutlichkeit an. Denn der Satz ist doch so zu verstehen, dass eine ‚elementarer‘ (nicht: elementar) gefasste Rhetorik den Handlungszwang dann als ihr eigenes Konstituens voraus­ setzt, wenn und insofern sie etwas anderes, nämlich Ornat einer Wahrheit, nicht mehr sein kann. Der Ausgangspunkt der rhetorischen Situation ist, liest man die Fortführung des Satzes nicht als eine für den Gedanken irrelevante Zutat, gebun­ den an etwas, das nicht mehr tragfähig ist, an die Erschöpfung eines epistemo­ logischen Dispositivs. Die Situation bleibt flexibel und erhält einen zeitlichen In­ dex. Sowohl die erzwungene Handlung als auch das Erzwingen selbst sind, ge­ rade weil sie Effekt einer Verschiebung sind, weiteren Umformungen ausgesetzt: „Dabei kann der Handlungszwang, der die rhetorische Situation bestimmt und der primär eine physische Reaktion verlangt, rhetorisch so transformiert werden, daß die erzwungene Handlung, durch consensus wiederum ‚nur‘ eine rhetorische 99 ‚Verzögerung‘ ist wesentliches Kriterium ‚moderner‘ Rhetorik: „Das vielschichtige Phänomen der Technisierung läßt sich reduzieren auf die Intention des Zeitgewinns. Rhetorik hingegen ist hinsichtlich der Temporalstruktur von Handlungen ein Inbegriff der Verzögerung. Umständlich­ keit, prozedurale Phantasie, Ritualisierung implizieren den Zweifel daran, daß die kürzeste Ver­ bindung zweier Punkte auch der humane Weg zwischen ihnen sei“. Annäherung, 121–122. Hinge­ wiesen sei hier auf den Sammelband Permanentes Provisorium. Hans Blumenbergs Umwege, hg. v. Christian Köhler, Michael Heidgen und Matthias Koch, Paderborn 2015. 100 Vgl. zu diesem Aspekt, der sich vor allem mit dem Kontext des Kalten Krieges in Verbindung bringen lässt, den aufschlussreichen Aufsatz „Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie“ von 1969. 101 Zur Struktur des ‚nicht mehr‘ im Kontext der Paradigmen zu einer Metaphorologie vgl. Ab­ schnitt 2.4.

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wird.“ (Annäherung, 113–114) Der Zwang, der, indem anderes anstelle des zu Tu­ enden kaum schon getan wird, die rhetorische Situation hervorruft, ist seinerseits variabel: Rhetorik „impliziert den Verzicht auf Zwang“ (Annäherung, 113), aber zu­ gleich generiert und moduliert Rhetorik Zwänge, die wiederum die rhetorische Si­ tuation ‚bestimmen‘. In diesem System gegenseitiger Einsprüche bleibt auch den Handelnden keine Autonomie. Der Handlungszwang selbst ist kein durch und durch „realer“ Faktor, er beruht auch auf der „Rolle“, die dem Handelnden zugeschrieben wird oder mit der er sich selbst zu definie­ ren sucht – auch das Selbstverständnis bedient sich der Metaphorik und „sich selbst gut zureden“ ist eine Wendung, die verrät, daß der interne Gebrauch von Rhetorik keine Neu­ entdeckung ist. (Annäherung, 117–118)

Der Handlungszwang, der das Aufkommen von Rhetorik bedingt, ist kein absolu­ ter, sondern er hat eine Geschichte rhetorischer Verformungen. Das, was Rheto­ rik notwendig macht, ist bereits rhetorisch durchwirkt. Rhetorik ist das, was be­ reits am Werk ist und dennoch, als der stets mögliche Umweg, aussteht. Nachdem Rhetorik ‚nicht mehr‘ als Ornat einer Wahrheit verstanden sein soll, tritt sie in ein ‚Bereits‘ und in ein ‚Noch-nicht‘ auseinander. Sie steht zugleich vor und nach dem Handlungszwang. Was das Verhältnis zum Problem der Unbestimmtheit betrifft, hat Rhetorik keinen direkt kompensatorischen Zug, da sie die Möglichkeit zu han­ deln – und erst das Handeln sei „Kompensation der ‚Unbestimmtheit‘“ (Annähe­ rung, 108) – ebenso eröffnet wie blockiert. Das heißt aber auch, dass Rhetorik ih­ rerseits unbestimmt bleiben muss. Daher ist nur eine Annäherung möglich: nicht an Rhetorik selbst, sondern an ihre Aktualität, die als zeitgebunden (die moder­ ne Rhetorik) ausgestellt wird. In der rhetorischen Situation wird Unbestimmtheit also moduliert, nicht kompensiert.¹⁰² Eine Formulierung Wolfgang Isers aufgrei­ fend, lässt sich, anstatt von einem „Unbestimmtheitsbetrag“,¹⁰³ von einem Unbe­ stimmtheitsübertrag sprechen.

Substitution der Substanzlogik durch die Logik der Substitution Für die im Annäherungsaufsatz aufgegriffene Logik der Substitution gibt Blu­ menberg ein radikales Bild, nämlich die Ersetzung des Menschenopfers durch das Tieropfer in der Geschichte von Abraham und Isaak in Gen 22 (vgl. Annä­

102 Anders Birgit Recki: „Metapher und Rhetorik als Mittel der Kompensation, so lautet Blumen­ bergs Botschaft.“ Recki, Der praktische Sinn der Metapher, 158. 103 Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literari­ scher Prosa, Konstanz 1971, 11.

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herung, 117).¹⁰⁴ Bemerkenswerterweise lässt der Aufsatz an dieser Stelle seiner­ seits ein Narrativ für ein Strukturproblem einstehen. Die Logik der Substitution entspricht hier der Logik des Textes, der diese Logik vorstellt. Allerdings hebt Blumenberg an der Erzählung lediglich den Erfolg heraus, ohne die komplexen Verantwortungsverhältnisse, das Tieropfer oder die mediale Intervention des En­ gels näher zu beleuchten. Gerade die Irreduzibilität der Ansprüche, die Jacques Derrida später in Donner la mort (1992) herausgearbeitet hat, greift einen solchen Erfolg an. Fraglich ist ferner, inwiefern sich auch in der von Blumenberg offenbar als stabil eingeschätzten Substitutionsbewegung ein destabilisierender Zug findet. Innerhalb dieser Bewegung ist zu unterscheiden zwischen einem Gegenwarts­ bezug, in dem eine „Aktualität der Rhetorik“ qua Verweis auf die Bereiche der Politik, Ökonomie oder Ästhetik veranschlagt wird, einem philosophiehistori­ schen Narrativ und einem anthropologischen Aspekt. Dem ersten Eindruck nach besteht Blumenbergs Versuch darin, das, was an der ‚modernen‘ Rhetorik zutage tritt – nämlich die „Fähigkeit, Handlungen zu ersetzen“ –, als humane Konstante auszuweisen: der Mensch bedarf der Rhetorik, die dazu befähigt dem Hand­ lungszwang durch Handlungsersatz zuvor zu kommen. „Wenn die Geschichte überhaupt etwas lehrt, so dieses, daß ohne diese Fähigkeit, Handlungen zu er­ setzen, von der Menschheit nicht mehr viel übrig wäre.“¹⁰⁵ (Annäherung, 116–117) Die Ideengeschichte hätte sich an die Möglichkeit dieser Einsicht schrittweise herangearbeitet. Es sei jedoch zugleich eine „anthropologische Verschärfung“ gewesen, die dazu geführt habe, dass Rhetorik „elementarer gefasst werden“ (Annäherung, 106) müsse. Der diagnostizierte Übergang zu einer elementareren 104 In Reading and Responsibility. Deconstruction’s Traces, Edinburgh 2010 hat Derek Attridge, mit Blick auf Jacques Derridas Donner la mort, ebenfalls einen „absolute and unavoidable de­ mand“ (69) beschrieben und in Bezug zum Problem der Lektüre gesetzt. Die ethische Obligation fasst er als Aufgabe „to do justice of a work of literature or philosophy or photography“ (2). Dies steht im Hintergrund der Überlegungen des lektüretheoretischen Exkurses in Abschnitt 4.2. Dort, wo Blumenberg die Strukturlogik der „Anthropologischen Annäherung an die Aktualität der Rhe­ torik“ erläutert, liegt zugleich die Möglichkeit, einen kritischen und posthermeneutischen Zu­ gang zum Komplex des Lesens zu gewinnen. 105 Im Hintergrund des Arguments steht eine Konfiguration, die Freud bearbeitet hat: „Freud hat im Totenmahl die Konvention der Söhne gesehen, mit der Tötung des Hordenvaters ein En­ de zu machen und statt dessen – eben etwas anderes zu tun.“ Anstatt dies näher zu erläutern, schließt Blumenberg sofort eine entsprechend gedeutete Anekdote an: „Vor der gemeinsamen Amerikareise 1909 überredete [eine nicht unerhebliche Vokabel im rhetoriktheoretischen Kon­ text, A.W.] Freud den des Schulverrats verdächtigen C. G. Jung in Bremen, zum Essen Wein zu trinken – was gegen die Grundsätze seines ersten Lehrers Bleuler verstieß –, statt ihn zu einem Akt der Unterwerfung zu bringen, im Grunde des Inhalts, nicht selbst der Vater sein zu wollen.“ Annäherung, 117.

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Rhetorik lässt sich nicht als überzeitliche Konstante verstehen. Es geht zunächst lediglich um diesen Übergang, um einen Verlust. Neben der Spannung zwischen Kontinuität und Transformation inszeniert der Aufsatz auch eine der Blickwinkel. Es ist von einer „anthropologischen Be­ gründung der rhetorischen Funktion“ (Annäherung, 119, meine Hervorhebung, A.W.) die Rede,¹⁰⁶ aber eben auch davon, eine „anthropologische Bedeutung der Rhetorik“ (Annäherung, 107, meine Hervorhebung, A.W.) sichtbar machen zu wol­ len. Der substantielle Versatz liegt in dieser Spannung zwischen einem histori­ schen und einem ahistorischen Schema. Es ist ein Versatz von Substantialität. In pragmatischer Hinsicht hatte Blumenberg diesen Befund bereits vorweggenom­ men: „Rhetorik ist die angestrengte Herstellung derjenigen Übereinstimmungen, die anstelle des ‚substantiellen‘ Fundus an Regulationen treten müssen, damit Handeln möglich wird.“ (Annäherung, 108) Der Aufsatz beginnt mit den zu ei­ ner Antithese gebündelten Quasi-Definitionen dessen, was der Mensch sei, und schlägt mit einer an Kants Transzendentalphilosophie gebildeten Beobachtung einen radikaleren Weg der Argumentation ein: Kant hat als erster der inneren Erfahrung jeden Vorgang vor der äußeren abgesprochen; wir sind uns selbst Erscheinung, sekundäre Synthesis einer primären Mannigfaltigkeit, nicht umgekehrt. Der Substantialismus der Identität ist zerstört: Identität muß realisiert werden, wird zu einer Art Leistung, und dem entspricht eine Pathologie der Identität. Die Anthropo­ logie hat nur noch eine „menschliche Natur“ zum Thema, die niemals „Natur“ gewesen ist und nie sein wird. (Annäherung, 134)

So wie Rhetorik „nicht mehr ornatus einer Wahrheit sein kann“ (Annäherung, 113), kann Anthropologie, nach Kants transzendentaler Kritik, also nicht mehr von ei­ ner natürlichen Identität ihres Gegenstandes ausgehen. Das Argument besteht darin, dass das, was sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht als Versatz von Substantialität angezeigt wird, nun zum wesentlichen Struktur­ moment der Rhetorik selbst erklärt wird. Das, was Rhetorik historisch widerfährt, ist zugleich das, was sie, wird sie elementarer gefasst, tut. Wenn das Kriterium demnach die „Substitution im Handlungszwang“ (An­ näherung, 119) ist, lässt sich eine analoge Bewegung annehmen, eine analoge Substitution nicht nur für menschliche Handlungen, sondern auch für das, was im Annäherungsaufsatz ‚Mensch‘ heißt? Blumenbergs Text bearbeitet und insze­ niert, ehe er eine These zum Mängelwesen lanciert, seinerseits eine Art Hand­ lungszwang: nämlich den diskursiven Zwang, der aus dem Verlust einer gegen­

106 Es geht an dieser Stelle um die Frage, ob der Konsens erst Produkt oder bereits Konstituens der rhetorischen Situation ist.

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standsbezogenen Anthropologie resultiert. Rhetorik tritt dann in der Tat an die Stelle der ‚substantiellen Regulationen‘. Die vielzitierte Passage, nach der sich der Mensch „nur über das, was er nicht ist, hinweg“ (Annäherung, 134) begreife, bleibt hinter der angedeuteten Radikalität zurück, weil dem, dessen Identität zerstört ist, immerhin noch bleibt, sich ‚begreifen‘ zu können. Die Spannung liegt zwischen dem einer Anthropologie nachgetragenen Entzug ihres Gegen­ stands und der auch dann noch positiven anthropologischen Diskussion des Menschen, wenn sie über einen ihm wesentlichen Mangel läuft oder insgesamt ‚negativ‘ verfährt. Vor all dem, was Blumenbergs Verfahren an Ergebnissen über den Menschen zusammen zu tragen scheint (Rhetorikanfälligkeit, Mangelhaftig­ keit, Unbestimmtheit etc.), muss es selbst gefeit sein, wenn es die Tragfähigkeit seiner Ergebnisse nicht in Zweifel gezogen sehen will. Um das Argument aufrecht zu erhalten, bedarf es einer Sicherung gegen den Durchschlag der Ergebnisse auf das Verfahren, in dem sie gefunden werden. In diesem Schema muss es sich als geradezu inhuman präsentieren: als exakt, geradlinig, ordnungsstiftend und zur Ordnung rufend. Blumenbergs Aufsatz im Ganzen invertiert diese Vorgabe. Er argumentiert nicht thetisch, nicht einmal thematisch – sondern umwegig.¹⁰⁷ Eine Anthropolo­ gie muss, sofern sie in einem phänomenologischen Sinn philosophisch sein soll, zunächst Arbeit am „Abbau von Selbstverständlichkeiten“ (Annäherung, 114, meine Hervorhebung, A.W.) leisten. Sie gibt keine direkte und geradlinige Be­ schreibung ihres Gegenstandes. Das hat Auswirkungen auf die Annäherung an das Thema. Der behauptende Textgestus wird parallel geführt mit einem Ab­ bau dessen, das unbefragt Bestand zu haben scheint. „Die erste Aussage einer Anthropologie wäre dann: es ist nicht selbstverständlich, daß der Mensch exis­ tieren kann.“ (Annäherung, 114) Der Irrealis kündigt eine Anthropologie eher an, als dass er sie bedienen würde. Vielmehr verortet sich Blumenbergs Text in der Nachfolge des Unternehmens einer Destruktion von Natürlichkeit. Eine Vorlage kann er in der Staatstheorie von Thomas Hobbes finden:

107 Rüdiger Zill hat beobachtet, dass der Annäherungsaufsatz „bei aller thematischen Gebun­ denheit“ den Eindruck hervorruft, „der Gedankengang mäandriert durch eine Gedankenwelt, die zwar reich ist, aber die geraden Wege verbannt hat.“ Rüdiger Zill, „Auch eine Kritik der rei­ nen Rationalität. Hans Blumenbergs Anti-Methodologie“, in: Permanentes Provisorium. Hans Blu­ menbergs Umwege, hg. v. Michael Heidgen, Matthias Koch und Christian Köhler, Paderborn 2015, 53–74, hier: 73. Allerdings, ließe sich ergänzen, entspricht dieses Mäandern der notwendig plura­ len Anlage des Arguments. Die Ausfächerung in die Teilbereiche ist zwingend notwendig. Zill hat diesen Zug unter dem treffenden Titel einer „Anti-Methodologie“ beschrieben und mit der Arbeit an einer „Pluralisierung der Erfahrung“ verbunden. Zill, Auch eine Kritik der reinen Rationali­ tät, 71.

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Bei Hobbes ist der Staat das erste Artefakt, das nicht die Lebenssphäre in Richtung auf eine Kulturwelt anreichert, sondern ihren tödlichen Antagonismus beseitigt. Philosophisch ist an dieser Theorie nicht primär, daß sie das Auftreten einer Institution wie des Staates – und noch dazu des absolutistischen – erklärt, sondern daß sie die vermeintliche Wesens-Bestim­ mung des Menschen als des ‚zoon politicon‘ in eine funktionale Darstellung überführt. Ich sehe keinen anderen wissenschaftlichen Weg für eine Anthropologie, als das vermeintlich ‚Natürliche‘ auf analoge Weise zu destruieren und seiner ‚Künstlichkeit‘ im Funktionssystem der menschlichen Elementarleistung ‚Leben‘ zu überführen. (Annäherung, 114–115)

Dass es eine menschliche Natur jenseits der zum Leben unabdingbaren kultür­ lichen Verfahren gibt, ist die in ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit zu destruierende Vorannahme.¹⁰⁸ Stattdessen – und hierfür treten wiederum die modellhaften Entwürfe Paul Alsbergs und Arnold Gehlens ein – wird eine funk­ tionale Darstellung gesucht, in der „zum Thema zu machen“ sei, „ob nicht die physische Existenz gerade erst das Resultat derjenigen Leistungen ist, die dem Menschen als ‚wesentlich‘ zugesprochen werden.“ (Annäherung, 114) Diese funk­ tionalen Entwürfe springen nun selbst in eine proto-rhetorische Funktion ein: nicht als Neubauten, aber auch nicht als Explikate eines ohnehin schon Bestehen­ den, sondern als Stellvertreter. Entsprechend greift der Nachsatz zur Bestimmung des Menschen, der sich über das, was er nicht ist, hinweg begreift, tiefer. The­ matisiert wird nicht bloß die „Situation“ des Menschen, „sondern schon seine Konstitution“ (Annäherung, 134–135). Blumenberg schlägt also vor, zwei Fragen miteinander zu verbinden: die nach der Möglichkeit des Menschen und die nach dem Menschen als möglichem Gegenstand einer möglichen Anthropologie. Die Möglichkeit des Menschen wird nicht aufgrund einer bis ins 20. Jahrhundert an­ dauernden Existenz besprochen, nicht also von dort in eine paläoontologische Frage zurückprojiziert,¹⁰⁹ sondern weil der Mensch gleichermaßen zum Gegen­ stand anthropologischer Bestimmungsversuche wie zum blinden Fleck der Phä­ nomenologie werden konnte. Der Mensch als Thema ist nur noch das Ergebnis einer doppelten Kritik: an einer Nicht-Thematisierung wie an der reduktiven, weil

108 Blumenberg lasse an dieser Stelle „seine eigenen dekonstruktiven Tendenzen durchschei­ nen“, so Hannes Bajohr, „Die Einheit der Welt. Hannah Arendt und Hans Blumenberg über die Anthropologie der Metapher“, in: WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2 (2015), 57–77, hier: 65. 109 Christoph Menke hat eine solche Gelingenslogik als Grundstruktur der Erfragung von Mög­ lichkeit identifiziert: „In der philosophischen Frage nach der Möglichkeit geht es darum, was vorausgesetzt werden muß, also welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Vollzug ei­ ne Erkenntnis (und nicht ein Irrtum) oder eine moralische Handlung (und nicht ein egoistischer Akt) ist – damit ein Vollzug gelingt. Diese Bedingungen ermöglichen das Gelingen, also Erkennt­ nis oder Moral.“ Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, 21–22.

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definitorisch-gegenständlichen Thematisierung, mit deren antithetischer Logik Blumenberg den Aufsatz hatte beginnen lassen. Dass der Mensch ein Wesen ist, „dem Wesentliches mangelt“ (Annäherung, 124), heißt zunächst nur, dass es nicht jenseits der Problematisierung des Thematisierens zum Thema gemacht werden kann. Es ist deswegen problematisch, im Mängelwesen eine Gehlen entlehnte „Chiffre zur Bestimmung der conditio humana“¹¹⁰ zu erkennen. Dieser Einwand lässt sich durch die Analyse einer elementarer gefassten Rhetorik, die nicht mehr am Wahrheitsparadigma orientiert ist, stützen.

Ersetzbarkeit überhaupt Der aus dem Verlust einer substantialistisch argumentierenden Anthropologie zurückgelassenen Unbestimmtheit des Menschen wird mit dem Entwurf einer elementarer gefassten Rhetorik begegnet: mäandernd, umwegig und partikular. Blumenbergs Zurückweisung einer antithetischen Struktur hängt mit einer Ver­ fahrenstechnik zusammen, die bereits vorwegnimmt, was durch sie als These vor­ gebracht wird. Das, was „ohnehin schon getan wird“, wird zur These deklariert, damit aber die Deklaration, und das heißt auch: das eigene Ohnehin-schon-Tun, als ein Athetisches ausgestellt. Diesem Anfang der 1970er Jahre erprobten Ver­ fahren war eine intensive Auseinandersetzung mit Thematisierbarkeit überhaupt vorangegangen, die seit Ende der 1950er Jahre „Metaphorologie“ hieß. Im Annä­ herungsaufsatz erhält ‚die Metapher‘ einen zwar herausgehobenen, keinesfalls aber privilegierten Platz. An ihr lässt sich die substitutive Funktion der Rhetorik darstellen. So hatte Blumenberg das Symbol als „Grenzwert der Metapher“ be­ stimmt, als „pure Ersetzbarkeit des Unverfügbaren durch das Verfügbare“ (Annä­ herung, 116). Diese Stelle ist deswegen wichtig, weil hier die „pure Ersetzbarkeit“ mit den festen Positionen des ‚Verfügbaren‘ und des ‚Unverfügbaren‘ in Konflikt gerät. Es ist nicht die „pure Ersetzbarkeit“ schlechthin, sie bespielt kein Vorfeld positionaler Bestimmungen, sondern es ist die des Unverfügbaren, welches, auch wenn es unverfügbar ist, verortbar bleibt. Deutlicher wird dies in der impliziten Umschrift der ‚signifikativen Differenz‘ (Waldenfels): [E]twas als etwas zu begreifen, unterscheidet sich radikal von dem Verfahren, etwas durch etwas anderes zu begreifen. Der metaphorische Umweg, von dem thematischen Gegenstand weg auf einen anderen zu blicken, der vorgreifend als aufschlussreich vermutet wird, nimmt das Gegebene als das Fremde, das Andere als das vertrauter und handlicher Verfügbare. (Annäherung, 116)

110 Müller, Sorge um die Vernunft, 277.

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Der Durchgang durch anderes ist an dem bemessen, was als Gegebenes für fremd genommen wird, an einem „thematischen Gegenstand“. Die Verschiebung vom ‚als‘ zum ‚durch‘ verändert zwar das Verfahren, lässt den Gegenstand aber ge­ setzt auch dann, wenn er als das Unverfügbare genommen wird. Blumenbergs er­ läuternde Ergänzung nennt jedoch sofort eine Variante, die ohne vorausgängigen Gegenstandsbezug auskommt: Am deutlichsten wird das dort, wo das Urteil mit seinem Identitätsanspruch überhaupt nicht ans Ziel kommen kann, entweder weil sein Gegenstand das Verfahren überfordert (die „Welt“, das „Leben“, die „Geschichte“, das „Bewußtsein“) oder weil der Spielraum für das Verfahren nicht ausreicht, wie in Situationen des Handlungszwanges, in denen rasche Orientierung und drastische Plausibilität vonnöten sind. (Annäherung, 116)

Anthropologie und Rhetorik kommen in Blumenbergs Darstellung darin über­ ein, dass sie als Markierungen einer stets noch zu leistenden Arbeit verstan­ den werden können. Rhetorik – und das heißt auch die Metapher „als signifi­ kantes Element der Rhetorik, an dem ihre Funktion dargestellt werden kann“ (Annäherung, 116), – tritt mehrfach auf (es wäre reduktiv, diese Vervielfachung argumentativ zu bündeln). Rhetorik tritt auf als Element innerhalb der „Konsti­ tution“ des Menschen (vgl. Annäherung, 134–135). Rhetorik erscheint im Sinne der „konstitutive[n] Angewiesenheit des Menschen auf rhetorische Handlungen“ sowie im Zuge des Problems, überhaupt über den Menschen sprechen zu kön­ nen: „Daß sie [die ‚menschliche Natur‘, A.W.], die niemals ‚Natur‘ gewesen ist und sein wird, in metaphorischen Verkleidungen auftritt [. . . ], berechtigt nicht zu der Erwartung, sie werde am Ende aller Konfessionen und aller Moralistik enthüllt vor uns liegen.“ Anscheinend wird hier die Diagnose, dass über den Menschen nicht unmetaphorisch gesprochen werden kann, parallel geführt mit einer These zu seiner Konstitution überhaupt. Neben den metaphorologisch auf­ arbeitbaren Paradigmen („– als Tier und als Maschine, als Sedimenterscheinung und als Bewußtseinsstrom, in Differenz oder in Konkurrenz zu einem Gott –“, Annäherung, 134) muss eine ‚andere‘ Metaphorizität im Vorfeld des, im Vorfeld aber auch der Rede über den Menschen veranschlagt werden. Aufzubrechen ist die Verbindung einer anthropologischen Begründung der Rhetorik mit einem anthropozentrischen Verständnis der Metapher, das sich gerade dann in seiner „Andringlichkeit“ (OD, 96) erweist, wenn, wie es Tholen für materialistisch argu­ mentierende Medientheorien beobachtet hat, das Ende des Menschen ausgerufen wird.¹¹¹ Mit der Restitution einer von Blumenberg am ‚Symbol‘ herausgehobenen

111 „Erst also wenn man Metaphern der Ähnlichkeit zwischen Mensch und Maschine mit ontolo­ gischen Bestimmungen gleichsetzt, wie es das Axiom der um Ganzheit, Selbststeuerung oder Voll­

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‚puren Ersetzbarkeit‘ geht es weder um das Ende des Menschen noch um eine Abzweigung in substitutionslogisch organisierte Metapherntheorien. Vielmehr – und dieser Eindruck erhärtet sich durch einen Blick auf den früheren Zuschnitt der Metaphorologie¹¹² – verliert sich der vermeintliche und im Entwurf einer An­ thropologie verankerte Fixpunkt an die Möglichkeit eines Ersetzens, das ohne Er­ setztes ebenso wie ohne Ersetzendes auskommen muss. Als Mittel menschlicher Weltbewältigung verstanden, dichten sich Metaphern gegen diese Dynamik ab, ohne die hintergründige Logik der Substantialität zu verlassen. Gerade diese wird im Annäherungsaufsatz aber angegriffen. Das mit Kant hergeleitete Verhältnis der „Selbstäußerlichkeit“ (Annäherung, 135), das der Mensch zu sich unterhalte, und innerhalb dessen er sich „über das, was er nicht ist, hinweg“ (Annäherung, 134) begreife, ist kein stabiles, weil die Umrisse dessen, das sich über anderes hinweg begreift, durchlässig geworden sind. In Blumenbergs Rekonstruktion wird der Ausdruck ‚Mensch‘ zu einem bloßen Operator innerhalb einer plural organisier­ ten Argumentation. An ihm lässt sich zunächst nur ein Versatz ablesen – nämlich die Substitution der Substanzlogik durch eine Logik der Substitution. Die thetischen Sätze – zum Menschen als Mängelwesen oder zur Leistung der Rhetorik – verlieren angesichts dieser Verunsicherung an Gewicht. Aus den genannten Gründen sind sie notwendig, aber zugleich, in ihrem Aussagegehalt und insofern es sich um Effekte einer multiplen Destruktion der Idee der The­ sis selbst handelt, als thetische unmöglich. Derart bleiben sie in einer, wie Blu­ menberg an anderer Stelle sagt, „ironische[n] Schwebe“ (Sokrates, 77). Auch die groß angelegte Säkularisierungskritik in Legitimität der Neuzeit findet ihren syste­ matischen Ansatz nicht bei einer vorausgeschickten Annahme epochaler Katego­ rien oder Ereignisse, sondern in einer zunächst methodologischen „Kritik gängi­ ger Muster und Denkfiguren der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschrei­ bung“.¹¹³ Blumenbergs Texte müssen in dieser Doppelung gelesen werden. Ihr ‚Worüber‘ ist stets einem ‚Woran‘, und zwar im Sinne einer Arbeit an methodo­ logischen Prämissen, überantwortet. Nicht nur für den Neuzeitkomplex gilt: „Die historiographische Arbeit am historischen Material ist zugleich die am kategoria­

ständigkeit bemühten Leibprojektion nicht umhin kann, ist es möglich, vom ‚Ende des Menschen‘ zu sprechen. Die apokalyptische Redefigur, die das ‚Wesen‘ des Menschen als ein in der univer­ sellen Rechenmaschine zu sich gekommenes, seine vormaligen Gestalten aufhebendes Wesen zu enthüllen sucht, verbirgt ihre eigene Metapher der Enthüllung, die ja – als apokalyptische – den Schleier vollständig aufheben will.“ Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien. Kulturphilo­ sophische Konturen, Frankfurt am Main 2002, 33. 112 Vgl. Abschnitt 2.4. 113 Kopp-Oberstebrink, Umbesetzung, 356.

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len Apparat zu dessen Erfassung und umgekehrt.“¹¹⁴ Die Spaltung des Ansatzes arbeitet mit an den Gegenständen – und zwar arbeitet sie gegen die mögliche ge­ genständliche Sistierung selbst an.

Preisgabe von Gegenständlichkeit Die Erprobung einer nicht-hierarchischen Interpretation des Annäherungsaufsat­ zes wirft die Frage nach der Relevanz der darin angerissenen Teilbereiche – etwa Politik, Ökonomie, Kunst – auf. Ist die Logik der Thesis problematisch geworden, kann es sich nicht um Veranschaulichungen einer übergeordneten Überlegung handeln. Vielmehr funktionieren die eingeschalteten Mikroanalysen makrologi­ scher Prozesse ihrerseits rhetorisch, weil sie erst die Ausdifferenzierung leisten können, die zum Zwecke einer nicht-reduktiven Neubestimmung von Rhetorik un­ abdingbar ist.¹¹⁵ Wenn der Aufsatz den Begriff ‚Wirklichkeit‘ aufgreift, geschieht dies folgerichtig in einer Korrelation mit dem der ‚Kunst‘: Rhetorik ist deshalb eine „Kunst“, weil sie ein Inbegriff von Schwierigkeiten mit der Wirk­ lichkeit ist und Wirklichkeit in unserer Tradition primär als „Natur“ vorverstanden war. In einer hochgradig artifiziellen Umweltwirklichkeit ist von Rhetorik so wenig wahrzunehmen, weil sie schon allgegenwärtig ist. (Annäherung, 132–133)

Die Allgegenwärtigkeit von Rhetorik erschwert ihre Wahrnehmung.¹¹⁶ Rhetorik ist eine Kunst in dem Sinn, dass sie das Konzept der Natur-Wirklichkeit herausfor­ dert. Sie ist hier weder eine Technik noch ein Artefakt, sondern „eine ‚Kunst‘“ in einfachen Anführungszeichen, nicht also ‚die‘, aber ‚eine‘, d. h. eine unbestimmte Kunst. Für die Umkehrung steht ein Satz aus Friedrich Nietzsches nachgelassenen Fragmenten: „Jede Kunst hat eine Stufe der Rhetorik.“¹¹⁷ Wie verhält sich dann

114 Kopp-Oberstebrink, Umbesetzung, 350. 115 Eine solche Doppelung greift auch für das im Hintergrund mitverhandelte Umbesetzungs­ theorem, insofern es eine übergreifende methodologisch-historiographische Rahmung ebenso wie mikrologische Dynamiken innerhalb philosophischer Binnensysteme zu beschreiben ver­ sucht. Vgl. dazu etwa die am ‚neuplatonischen System‘ vorgenommenen ‚Umbesetzungen‘ durch die Strömung der Gnosis, welche zugleich als Antwort auf Fragen verstanden werden, die über den neuplatonischen Kontext hinausgehen. Vgl. PN, 147. 116 In dieser Latenz kommt sie mit der Technisierungsbewegung überein, die Blumenberg in sei­ nen Schriften zum phänomenologischen Lebensweltbegriff herausgestellt hat. Vgl. hierzu: Cam­ pe, Von der Theorie der Technik zur Technik der Metapher und Haverkamp, Technik der Rhetorik. 117 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Anfang 1874–Frühjahr 1874, Digitale Kritische Gesamtausgabe, Werke und Briefe [eKGWB], 32[14], http://www.nietzschesource.org/ (26. April 2020), von Blumenberg zit. als „Cicerofragment“. Vgl. Annäherung, 135, Anm. 4.

2.2 Ersatzverfahren: Blumenbergs Annäherungsaufsatz |

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‚die Rhetorik‘, als ‚eine Kunst‘, zum rhetorischen Moment ‚jeder Kunst‘? Wenn Rhetorik eine Kunst ist: hat auch sie „eine Stufe der Rhetorik“? Blumenberg fasst die Konsequenz seines Entwurfs in einem Satz zusammen: „Sobald es das nicht mehr gibt, was einmal als ‚real‘ galt, werden die Substitutionen selbst ‚das Rea­ le‘.“ (Annäherung, 120) Der Satz ist Ergebnis einer vorangegangenen Beobachtung der Inversion von Flagge und Handel,¹¹⁸ die nun – anstatt mit einer näheren Aus­ führung – anhand eines weiteren Beispiels moderner Rhetorik, nämlich aus dem Bereich der Ästhetik, fortgesetzt wird. In der Ästhetik ist mit der Preisgabe aller Arten und Grade von Gegenständlichkeit das An­ gebot, etwas als Kunstwerk zu akzeptieren oder auch nur als das, was nach dem Ende der Kunst „fällig“ ist, nur noch mit einem großen Aufwand an Rhetorik durchzusetzen. Es ist nicht primär die Kommentarbedürftigkeit eines Werkes, die sich in begleitenden und nach­ kommenden Texten geltend macht, sondern seine Deklaration zum Kunst- oder Kunstnach­ folgewerk [. . . ]. (Annäherung, 120–121)

Die Preisgabe der Gegenständlichkeit in der Kunst wird parallel geführt mit dem Verlust des Stellenwerts des Realen, wobei der Schnittpunkt in der Unbefragtheit liegt. Sobald ‚nicht mehr‘ von dem ausgegangen werden kann, das schlicht ‚da‘ ist, wird die Frage nach der Anerkennung drängend. Das Problem der Kunst wird an der Stelle eines möglichen Überganges in Nicht-Kunst, in einer „Krisenzone“ (ThL, 60) aufgegriffen. Die „Deklaration zum Kunst- oder Kunstnachfolgewerk“ ist ein rhetorischer Akt. Die nicht-gegenständliche Kunst gerät in eine Analogie zum Symbol und damit zur ‚puren Ersetzbarkeit‘. Auch das ästhetische Werk forde­ re eine Anerkennung heraus (vgl. Annäherung, 120), aber streng genommen darf hier zunächst nur die Herausforderung selbst stehen, wenn die Anerkennung als ästhetisches Werk erst noch zu leisten sein soll. Im Vieldeutigkeitsaufsatz hatte Blumenberg die „Unübersehbarkeit“ des ästhetischen Anspruchs herausgearbei­ tet. Sie sei die „eigentliche ‚Qualität‘“ des ästhetischen Gegenstands, und zwar in der Weise, daß sich die ästhetische Erfahrung um ihn [um den in der Unübersehbarkeit gründenden Anspruch, A.W.] nicht drücken kann, so wie in der empirischen Realität be­ stimmte Grunderfahrungen nicht ausgelassen werden können. Das mag man akute Dring­ lichkeit, unausschlagbare Relevanz oder wie immer sonst nennen – die Nötigung zum Ein­ treten in den Potentialitätshorizont der ästhetischen Stellungnahme ist das wesentliche Kri­ terium der ästhetischen Gegenständlichkeit. (Vieldeutigkeit, 118)

118 „Ich erinnere an die klassische politische Formel, der Handel folge der Flagge; heute kann man ihn umkehren und sagen, die Flagge folge dem Handel (Staaten, die nicht einmal diplomati­ sche Beziehungen unterhalten, schließen Handelsabkommen in der Erwartung, das andere wer­ de folgen) – die Umkehrung des alten Satzes ist zugleich Ausdruck der völligen Entwertung des Symbols ‚Flagge‘, das nur noch zuletzt die Realitäten zu schmücken vermag.“ Annäherung, 120.

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An der „Unübersehbarkeit“ tritt genau das zutage, was in der „hochgradig artifi­ ziellen Umweltwirklichkeit“ (Annäherung, 132) so wenig wahrzunehmen ist: nicht ganz ‚die‘ Rhetorik selbst, aber doch ihre unausschlagbare (An-)Dringlichkeit. Die Schwierigkeit liegt darin, dass jenseits der versuchten Abgeltung dieser Forde­ rung, also jenseits einer Umwidmung in ein ‚ästhetisches Phänomen‘, von einer ästhetischen Erfahrung überhaupt nicht gesprochen werden kann. Die ästheti­ sche Erfahrung muss als ästhetische wie als Erfahrung erst gefunden werden, was immer auch heißt, bereits Zugeständnisse an die Radikalität der Ansprüche ge­ macht zu haben. Dies überschneidet sich mit der Sphäre des Politischen, insofern dort „‚Anerkennungen‘, Benennungsfragen, Verträge“ (Annäherung, 120) als die wesentlichen Elemente moderner Politik herausgestellt werden konnten. Kunst und Politik kommen in der Notwendigkeit einer hier zur ‚Deklaration‘ deklarierten rhetorischen Bewegung überein, die zur einen Seite zum Problem der „puren Ersetzbarkeit“ geöffnet ist und sich zur anderen als schiere Unausweich­ lichkeit zeigt. Diese beiden Strukturmomente – die „pure Ersetzbarkeit“ und die Unausweichlichkeit –, von denen, streng genommen, gar nicht mehr gesagt wer­ den kann, dass es sich um Momente einer Struktur handelt, gilt es, mit und nach Blumenberg, gegen die Möglichkeit einer Ästhetik, einer Rhetorik, einer Anthro­ pologie zu halten: denn diese Felder entsprechen in ihrem Anspruch auf „the­ matisch fixierbare Gegenständlichkeit“ genau der strukturellen „Schwäche“, die Blumenberg mit und nach Valérys Neuformulierung des Kunstwerks identifiziert hatte (vgl. Sokrates, 106).

2.3 1946/47: Das Konzept der Rezeption als Gegenentwurf zur Destruktionsthese (Heidegger) In seiner 2017 erschienenen Monographie widmet Kurt Flasch der Kieler Disser­ tationsschrift Hans Blumenbergs – Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie (1947)¹¹⁹ – ein umfangreiches Kapitel, in dem er eine doppelte Argumentationsstrategie herausstellt: Blumenberg beziehe, indem er Konzeptionen Martin Heideggers übernehme, klar Position gegen Ed­ mund Husserl.¹²⁰ Gleichzeitig zeige er, „daß Heidegger die Destruktion der tradi­ tionellen Ontologie ungeschichtlich“ interpretiere.¹²¹ Er versuche nachzuweisen, 119 Erstveröffentlichung: Hans Blumenberg, Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mit­ telalterlich-scholastischen Ontologie, hg. v. Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann, Berlin 2020. 120 Vgl. Flasch, Hans Blumenberg, 113. 121 Flasch, Hans Blumenberg, 155.

2.3 1946/47: Das Konzept der Rezeption (Heidegger)

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dass die mittelalterliche Ontologie die Frage nach dem Sein erstmals ‚ursprüng­ lich‘, weil auf das Sein überhaupt gerichtet, gestellt und sich damit aus der aristo­ telischen Tradition der Wesensontologie befreit habe.¹²² An dieser positiven Ein­ schätzung zeichnet sich für Flasch ein hintergründiges Existenzkonzept ab, das sich von der scholastischen existentia unterscheidet. Es sei ein genuin „christli­ ches Konzept von ‚Existenz‘“, das Blumenberg vorschwebe. Es vereinige die Idee der creatio ex nihilo mit dem Verhalten, wiederum in einer Nähe zu Heidegger, „des einzelnen ‚Daseins‘ zu sich selbst“.¹²³ Flasch skizziert dieses Konzept als implizites Postulat mit „existenzialphilosophisch-neokatholischen“¹²⁴ Umrissen, das sich, so sein Haupteinwand, auf Grundlage einer breiteren Materialbasis mög­ licherweise anders oder gar nicht in dieser Form dargestellt hätte.¹²⁵ Zwar geht Flasch ausführlich auf die titelgebende Ursprünglichkeit ein – er betont die positi­ ve Konnotation und die vortheoretisch-unbegriffliche Erfahrungsdimension –,¹²⁶ aber bemerkenswerterweise sucht er keine weiterführende Auseinandersetzung mit dem komplementären Konzept, das hier erstmals an herausgehobenem Ort in Erscheinung tritt: mit dem der Rezeption.¹²⁷ Diese gegenseitige Abhängigkeit von Ursprünglichkeit und Rezeption ist jedoch entscheidend. Sie hängt eng mit einer methodologischen Fragestellung zusammen, die hier im Detail beschrieben und für die Analyse späterer Texte fruchtbar gemacht werden soll. In Arbeit am Mythos (1979) wird die Rezeptionsbewegung später zum inte­ gralen Bestandteil des Arguments (vgl. AM, 299), in den metaphorologischen Schriften die „Rezeptionsgeschichte“ (SZ, 64) von Metaphern. Schon die Arbei­ ten zur spätantiken Epochenschwelle beziehen sich auf ein solches Modell, etwa der aufschlussreiche Aufsatz „Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik. Strukturanalysen zu einer Morphologie der Tradition“ (1959).¹²⁸ Die

122 Vgl. Flasch, Hans Blumenberg, 101. 123 Flasch, Hans Blumenberg, 126, mit Bezug auf § 5(f) [BU, 135]. 124 Flasch, Hans Blumenberg, 142. 125 Vgl. Flasch, Hans Blumenberg, 101. 126 Vgl. Flasch, Hans Blumenberg, 154. 127 Flasch weist jedoch deutlich darauf hin, dass für Blumenberg „die christliche Rezeption des Aristoteles [. . . ] ein Sündenfall“ gewesen sei. Flasch, Hans Blumenberg, 141–142. Die strukturelle Schwierigkeit tritt damit aber noch nicht zutage. 128 Darin geht Blumenberg von einer „strukturelle[n] Komplexion von Kritik und Rezeption“ aus. Kritik, 288. Die beiden Aspekte erhalten folgenden Zuschnitt: „‚Rezeption‘ bedeutet das Ein­ strömen einer ganzen Welt in die ursprüngliche Weltlosigkeit einer eschatologisch begründeten Lehre; ‚Kritik‘ bedeutet den Inbegriff der Regulationen, die diesen Strom im Dienst seiner Funk­ tionalität halten sollten“. Kritik, 270. Die Verbindung zwischen beidem ist für das Argument wich­ tig, dass, einerseits, die Dynamik der Rezeption mehr ist als die bloße Wiederaufnahme philoso­ phischer Bestände, dass aber, andererseits, eine Kritik niemals so fundamental sein kann, dass

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Karriere des Rezeptionsbegriffs – rekapituliert in einem prominenten Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie, der Blumenbergs Begriff als Teil dieses Narrativs ausweist –,¹²⁹ verstellt, dass hier anderes gemeint ist als das, was der Reader-Response-Criticism daraus gemacht hat. Dieses Andere wird in einer Aus­ einandersetzung mit Heidegger gewonnen. Anselm Haverkamp hat mit Blick auf Blumenbergs Dissertationsschrift bemerkt, dass die „Korrektur von Sein und Zeit [. . . ] in der Dekonstruktion (avant la lettre) der mittelalterlichen Ontologie als ‚Re­ zeptions‘vorgabe der Moderne“ liege.¹³⁰ Wenn es sich um eine solche Korrektur handelt, dann lässt sich diese „Dekonstruktion“ als eine Restitution der – von Heidegger – übersprungenen Ansprüche des philosophiegeschichtlichen Mate­ rials beschreiben. Dekonstruiert wird nicht die mittelalterliche Ontologie, son­ dern, und zwar in und mit ihrem Vokabular, der nivellierende und selektierende Aspekt der Destruktionsthese. Sie habe, so Blumenbergs Einwand, die Differen­ zierungen ausgelassen, die bereits in der Tradition am Werk seien. Heideggers These entspricht der paradigmatischen Konfiguration der Thesenbildung, die, um eigene Kohärenz zu erlangen, anderes verwirft. Für einen ganz anderen Kon­ text hat Georg Christoph Tholen eine solche Bewegung wie folgt beschrieben: „Das Übersprungenhaben der Differenz“ sei der „blinde[] Fleck, dem operationa­

sie absolut neu ansetze. Im Aufsatz „Epochenschwelle und Rezeption“ (1958) – getarnt als mehr­ fache Buchbesprechung – wird Rezeption zum Schlüsselkonzept einer ‚problemgeschichtlichen‘ Analyse der Spätantike. 129 Hans Robert Jauß, „Rezeption, Rezeptionsästhetik“, in: Historisches Wörterbuch der Philo­ sophie, Band 8, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel 1992, 996–1004. Auch wenn der Autor darin versucht, das Konzept noch einmal für den eigenen Ansatz zu vereinnahmen, indem er Blumenberg bescheinigt, den Begriff 1958 in die Wissenschaftsgeschichte eingebracht zu haben (vgl. Jauß, Rezeption, 998), geht es bei Blumenberg nicht um reine ‚Wirkungsgeschich­ ten‘ oder ‚den Rezipienten‘. Zuvor hatte Jauß ausführlich Bezug auf Blumenbergs Konstruktion der Epochenschwellen genommen, um die eigene „Provokation“ zu begründen. Vgl. Hans Ro­ bert Jauß, „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“, in: Rezeptionsästhe­ tik. Theorie und Praxis, hg. v. Rainer Warning, München 1979, 126–162, hier: 147. Zu diesem Ver­ hältnis vgl. Anselm Haverkamp, Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg, Berlin 2004, 33–56: Kapitel „De­ konstruktion als Provokation der Rezeptionsästhetik (Jauß und de Man)“. 130 Haverkamp, Technik der Rhetorik, 450, Anm. 13. Unter anderem im Kommentar zu den Pa­ radigmen hat Haverkamp auf die von Blumenberg gesuchte Nähe von Rezeptions- und Destrukti­ onsbegriff hingewiesen, und an dieser Verbindung den Alternativcharakter zur philosophischen Hermeneutik betont: „Die M[etaphorologie] ist eine Alternative zu dem von Gadamer entworfe­ nen ‚wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein‘ (Wahrheit und Methode 285), gegen dessen Vorver­ ständnis Blumenberg bereits in der Dissertation den Begriff der Rezeption an Heideggers Begriff der ‚Destruktion‘ orientiert hatte“. Anselm Haverkamp, „Stellenkommentar“, in: Hans Blumen­ berg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. Kommentar von Anselm Haverkamp unter Mitarbeit von Dirk Mende und Mariele Nientied, aus dem Nachlass hg. v. Hans Blumenberg, Frankfurt am Main 2013, 191–465, hier: 267.

2.3 1946/47: Das Konzept der Rezeption (Heidegger) |

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le Geschlossenheit sich verdankt.“¹³¹ Dieses Übersprungenhaben lässt sich zum Einsatzpunkt einer Reformulierung des Begriffs der Lesbarkeit machen.¹³² Dieser soll schrittweise und unter Rücksicht auf ein Modell von Geschichtlichkeit entwi­ ckelt werden, das nach Blumenberg nicht mehr zur Deckung zu bringen ist mit dem Verständnis, das Heidegger „aus der Zeitlichkeit und ursprünglich aus der eigentlichen Zeitlichkeit aufgehellt“¹³³ sein lassen will.¹³⁴

Opazität und Ursprünglichkeit Anhand der „Vorarbeiten und Materialien zur Dissertation“, so der Konvolut-Titel im Deutschen Literaturarchiv Marbach, lässt sich nachvollziehen, wie die bei Heidegger aufgenommene Ursprünglichkeit Einzug in die Anlage der Dissertati­ on hält. Damit geht es auch um eine „Strukturanalyse“ (Blumenberg) der beiden Seiten des vorangestellten Leitbegriffs: einerseits um „den inneren wesenhaften Anspruch des Philosophierens“ als welcher ‚Ursprünglichkeit‘ erläutert wird, andererseits darum, dass Ursprünglichkeit „nicht ein kurzes, unnachhaltiges Aufblitzen am Beginn, sondern ein im philosophischen Verhalten immer wieder Andrängendes und Aufgegebenes“ (BU, 44) ist. Im § 2 der Dissertation verbindet sich mit der ihrerseits rezipierten und dabei transformierten Ursprünglichkeit eine Wiederholungsstruktur; zugleich wird ‚Rezeption‘ als eine mehrdimensio­ nale und in sich gegenläufige Dynamik gefasst, der sich eine methodologische Pointe abgewinnen lässt. Ursprünglichkeit ist damit ein Problem sowohl der On­ tologie als auch eines der Herangehensweise an ontologische Fragestellungen. Die Dissertationsschrift entwirft ein neu konturiertes Konzept der Rezeption als kritische Alternative zu dem der ‚Destruktion‘ bei Heidegger, und zwar dergestalt, 131 Georg Christoph Tholen, „Platzverweis. Unmögliche Zwischenspiele von Mensch und Ma­ schine“, in: Computer als Medium, hg. v. Norbert Bolz, Friedrich A. Kittler und Georg Christoph Tholen, München 1994, 111–135, hier: 121. 132 Die eingangs genannte Idee einer begriffsgeschichtlichen ‚Stufenfolge‘ als Einsatzpunkt des Problems der Lesbarkeit ist gegenüber diesem, die Konstitution überhaupt angreifenden Problem nicht zu halten. Vgl. Kapitel 1, Anm. 1. 133 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2006, 375. Für die systematische Argumentation verwende ich im Folgenden diese Ausgabe. Randbemerkungen in Hans Blumenbergs Handexem­ plar, das in der Arbeitsbibliothek am Deutschen Literaturarchiv Marbach zugänglich ist, werden gesondert ausgewiesen. Zu Transkriptionsprinzipien: 6.2. 134 Die Verbindung einer historisch-situativen Gebundenheit mit einem der Rezeptionsge­ schichte zugeordneten Appell kehrt, wie in den nachfolgenden Kapiteln und insbesondere an der Lesbarkeit der Welt zu zeigen ist, in Blumenbergs Schriften mehrfach und in transformierter Form wieder. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, unter dem Schlagwort der ‚Lesbarkeit‘ an die Varianten dieses Wiederaufkommens heranzukommen.

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dass sie den existenzialontologischen Ansatz methodologisch wendet und in die Notwendigkeit eines historisch plural argumentierenden Verfahrens überführt. Aufschlussreich hierfür ist Blumenbergs umfassend und teilweise entschieden distanziert kommentiertes Handexemplar von Sein und Zeit (1927) in der Ausgabe von 1941. So findet sich der mit einem Ausrufungszeichen versehene Hinweis „Methode!“¹³⁵ mehrfach, etwa neben Heideggers Frage: „Verbürgt die alltägliche Gewissenserfahrung aber damit schon, daß in ihr der volle mögliche Rufgehalt der Gewissensstimme gehört ist?“ Um das Problem der Rezeption aufnehmen zu kön­ nen, soll zunächst eine einschlägig annotierte Stelle aus Sein und Zeit besprochen werden. Sie ist Teil des § 27, der, im Anschluss an den Mitseinsparagraphen 26, ‚das Man‘ zum Thema macht. Die Handschrift, die Wahl des Bleistiftes sowie die Art und Weise der Kommentierung deuten darauf hin, dass es sich um eine der beiden ersten Lesungen handeln muss, wahrscheinlich um die aus dem Oktober 1946.¹³⁶

Abb. 2.1: Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1941, § 27, 129, Handexemplar Hans Blu­ menberg, DLA Marbach, Foto: Chris Korner, 2017

Wie auf dem Bild zu sehen ist, bezieht sich die Randbemerkung auf die Passa­ ge, in der das Erschließen der Eigentlichkeit des Daseins als „Wegräumen“ und „Zerbrechen“ dessen, was dieses Erschließen zunächst und zumeist verhindert, 135 DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg, Arbeitsbibliothek, Handexemplar: Martin Hei­ degger, Sein und Zeit, Tübingen 1941, Randbemerkung zu § 59, 292. 136 DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg, Leseliste 1942–1959.

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beschrieben ist.¹³⁷ Über das Man, das eine Auslegung der Welt gemäß der Struk­ tur „was sich gehört, was man gelten läßt“¹³⁸ vorzeichne, sagt Heidegger, dass sich das Dasein darin von der Überantwortung an das eigene Sein entlaste, in­ dem es sich in den Bahnen impliziter Verhaltensvorgaben halte. Es handelt sich um eine anfängliche Verdeckungsstruktur, weil das Dasein zunächst im Man auf­ geht und „nicht es selbst“¹³⁹ ist, sich davon aber soll lösen und sich selbst zu­ wenden können. Blumenbergs Kommentar hebt die Ähnlichkeit dieser Konstruk­ tion mit den seinsgeschichtlichen Verdeckungen hervor: „Ursprünglichkeit u. Ei­ gentlichkeit verlieren hier ihre Zusammengehörigkeit. ‚Verdeckungen‘ sind nicht historische Überschichtungen einer reinen (idealen) Ursprünglichkeit, sondern die existenzi[el]le Ausgangssituation.“¹⁴⁰ Das Interesse für das Problem der Ur­ sprünglichkeit findet demnach zwei Ansätze bei Heidegger: einen bei der Eigent­ lichkeit des Daseins, dessen anfängliche Verdecktheit behauptet wird, und einen bei der von Heidegger beanspruchten Destruktionsarbeit, also die Verdeckungen der philosophischen Tradition betreffend. Im § 6 von Sein und Zeit wird die Aufga­ be formuliert, die Überlieferung derart zu bearbeiten, dass eine „Auflockerung“ und „Ablösung“ der traditionellen Ontologie den Weg zu „ursprünglichen Erfah­ rungen“ freigeben könne, in denen die ersten Seinsbestimmungen gefunden wor­ den seien.¹⁴¹ Dies ziele nicht darauf, sich der Tradition zu entledigen. Mit der Anerkennung der Geschichtlichkeit des Seins könne vielmehr eine ‚heute‘ vor­ herrschende, nämlich historisierende Tendenz im Umgang mit der traditionellen Ontologie zurückgewiesen werden.¹⁴² Paradoxerweise – und das registriert Blu­ menbergs Dissertation später genau – setzt Heideggers Vertrauen in die Geschich­ te der Ontologie aber erst bei Kant an.¹⁴³ Indem die Geschichtlichkeit zudem an

137 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 129. 138 Heidegger, Sein und Zeit, 127. 139 Heidegger, Sein und Zeit, 125. 140 Blumenberg, Handexemplar Sein und Zeit (DLA Marbach, Nachlass), Randbemerkung zu § 26, 129. Statt „existenzielle“ ist auch die Lesart „existenziale“, als Überschreibung des ‚el‘ durch ein ‚a‘, möglich. 141 „Soll für die Seinsfrage selbst die Durchsichtigkeit ihrer eigenen Geschichte gewonnen wer­ den, dann bedarf es der Auflockerung der verhärteten Tradition und der Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen. Diese Aufgabe verstehen wir als die am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprüngli­ chen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden“. Heidegger, Sein und Zeit, 22. 142 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 22–23. 143 „Der Erste und Einzige, der sich eine Strecke untersuchenden Weges in der Richtung auf die Dimension der Temporalität bewegte, bzw. sich durch den Zwang der Phänomene selbst dahin drängen ließ, ist Kant“. Heidegger, Sein und Zeit, 23.

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noch aufzuweisenden „ursprünglichen Erfahrungen“ bemessen ist, steht sie letzt­ lich in einer asymmetrischen Relation zur Frage nach dem Sein, deren Zuschnitt wiederum aus der Daseinsanalytik gefolgert wird. Ein wesentlicher und wieder­ kehrender Kritikpunkt von Blumenbergs Anmerkungen zu Sein und Zeit betrifft eine latente Hierarchisierung, eine Nachordnung des Seins hinter das Seinsver­ ständnis des Daseins, das damit zum Letztgegenstand der Untersuchung werden würde.¹⁴⁴ Gemäß der Randnotiz treten im Paragraphen zum ‚Man‘ Eigentlichkeit und Ursprünglichkeit derart auseinander, dass die „Verdeckungen und Verdunkelun­ gen“¹⁴⁵ nun selbst quasi-ursprünglich funktionieren, nämlich als „existenzi[el]le Ausgangssituation“.¹⁴⁶ Ursprünglichkeit ist kein Privileg der Eigentlichkeit, son­ dern trifft womöglich auch für ihr Gegenteil zu. Vom § 27 aus betrachtet, sind Ver­ deckungen nicht über lange geschichtliche Zeiträume aufgehäuft, sondern an­ fänglich und irreduzibel. Ursprünglichkeit, wie sie später in Blumenbergs Dis­ sertation diskutiert ist, kann nicht hinter die Anerkennung einer existenziellen und anfänglichen Verdeckung zurückfallen. Der erste Abschnitt der Dissertation führt das Problem der Ursprünglichkeit in enger Rückkopplung, gar als Paraphra­ se von Heideggers Forderung einer „Durchführung der Destruktion der ontologi­ schen Überlieferung“¹⁴⁷ ein. Ursprünglichkeit sei, so Blumenbergs ausdrückliche Anlehnung an die Formulierung im § 6 von Sein und Zeit, „bezogen auf das Heute“ (BU, 17).¹⁴⁸ Ihre Einführung sei „zugespitzt gegen den verdeckenden Vorrang“ der „Autorität“ der Tradition, nicht aber gegen die „Gegenwärtigkeit des Vergangenen in der heutigen Wirklichkeit“ (BU, 17). Als aus einem geschichtlichen Heute her­ vorgehende Forderung nimmt sie die Destruktion, deren Anspruch sie doppelt, vorweg, ohne aber den Charakter, ein „innerer Anspruch“ (BU, 18) allen Philoso­

144 „Die ganze Untersuchung betrifft das Seinsverständnis, das als letzte und in sich wahre Gegebenheit hingenommen wird und das nicht an einem Gegenüberstehenden, Anzutreffenden zu rechtfertigen ist. In dieser Absolutsetzung des Seinsverständnisses liegt die subjektivistische Grundposition. Indem dieses Seinsverständnis die ‚Substanz‘ des Daseins schlechthin ausmacht, wird das Dasein als solches letzter Gegenstand der Untersuchung. Das Dasein als ‚entdeckende Erschlossenheit‘ ist selbst ‚Wahrheit‘; dieser Wahrheitscharakter des Daseins enthebt der Not­ wendigkeit, die Gleichung Seinsverständnis = Seinssinn zu rechtfertigen [. . . ]. Sein ist das, was Dasein schon je mit sich bringt“. Blumenberg, Handexemplar Sein und Zeit (DLA Marbach, Nach­ lass), Randbemerkung zu § 45, 231. 145 Heidegger, Sein und Zeit, 129. 146 Blumenberg, Handexemplar Sein und Zeit (DLA Marbach, Nachlass), Randbemerkung zu § 26, 129. 147 Heidegger, Sein und Zeit, 26. 148 „Negierend verhält sich die Destruktion nicht zur Vergangenheit, ihre Kritik trifft das ‚Heute‘ und die herrschende Behandlung der Ontologie“. Heidegger, Sein und Zeit, 22–23.

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phierens zu sein, aufzugeben. Philosophie ist die jederzeit virulente Destruktions­ forderung. Die Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scho­ lastischen Ontologie richten sich demnach gegen den Exklusivitätsanspruch theo­ retischer Neuerungen. Blumenberg begründet die Wahl des zeitlichen Horizonts seiner Untersuchung damit, dass die mittelalterliche Ontologie gleichermaßen weit entfernt sei von den zwei Extremen, die Heideggers These umfasst: davon, den existenzialontologischen Neuansatz ursprünglich und anfänglich ‚heute‘ zu begründen, sowie von den Ursprüngen der Seinsfrage und den ursprünglichen Erfahrungen, zu denen qua Destruktion zurückzugehen sei. Durch eine Distan­ zierung von beiden Extremen und die Rückwendung auf das die Frage nach dem Sein vermeintlich maximal Verdeckende kann „das Problem der Ursprünglichkeit genauer und eindeutiger“ (BU, 20) gestellt werden. Dieses Genauere und Eindeuti­ gere hängt mit der Bewegung der Rezeption zusammen, die, wie spätere Arbeiten belegen, Eindeutigkeit zu tilgen durchaus imstande ist.

Das Hinzutreten der Rezeption An den verschiedenen Gliederungsentwürfen und Vorarbeiten zur Dissertation lässt sich nachvollziehen, wie das Konzept der Rezeption nach und nach in die Anlage der Dissertation einwandert. Der erste erhaltene und handgeschriebene Entwurf einer Gliederung ist auf August 1946 datiert:¹⁴⁹ Die Kritik der Scholastik in der Destruktion der traditionellen Ontologie bei Martin Heideg­ ger A. Die Begründung der Notwendigkeit einer Destruktion der traditionellen Ontologie B. Die Grundzüge der traditionellen Ontologie in Heideggers Sicht C. Die Einbeziehung der scholastischen Ontologie in den Gesamtbegriff der „traditionel­ len Ontologie“ D. Die tatsächliche Eigenleistung der scholastischen Ontologie im besonderen Hinblick auf Heideggers Kritik a) Sein als Vorhandensein (Abhebung gegen Descartes) b) Sein als Hergestelltes (ens creatum) c) Dasein und Wesenheit d) Analogia entis August 1946

149 DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie/Vorarbeiten und Materialien, Gliederung „Die Kritik der Scholastik in der Destruktion der traditionellen Ontologie bei Martin Heidegger“, August 1946, 1 Bl., 1.

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Die Überschrift weist die Arbeit als eine Arbeit über Heidegger aus. Die Kapitel­ überschriften zu A bis C deuten eine Rekonstruktion an. Das Kapitel D weicht davon ab. Eine „tatsächliche Eigenleistung“ wird gegen die These in Stellung ge­ bracht, die Scholastik sei in Bezug auf die Möglichkeit, die Seinsfrage ursprüng­ lich zu stellen nicht nur leistungsarm, sondern sogar hinderlich gewesen. Dieses Kapitel D ist, was sich in nachfolgenden Entwürfen deutlicher abzeichnet, das nach und nach an Umfang gewinnende und dann titelgebende Kernstück der Dis­ sertation. Im Nachlass ist ein Referat enthalten, das Blumenberg im Juli 1946 für ein Seminar bei seinem späteren Doktorvater Ludwig Landgrebe verfasst hat. Die philosophiegeschichtliche Nuancierung ist im Moment weniger entscheidend als die Schlussfolgerung: Wenn Heidegger sagt: „Der Seinssinn des ens ist für die mittelalterliche Ontologie fixiert im Verständnis des ens als ens creatum“,¹⁵⁰ so ergibt sich schon aus dem Vorhergehenden, daß diese Aussage in ihrer Allgemeinheit nicht berechtigt ist. Sicher ist die ganze Vielheit des Seienden geschaffenes Sein im christlichen Verstande, sicher ist nur das geschaffene Sein in seinem Seinssinn adäquat verstehbar – aber das darf doch nicht übersehen lassen, daß der Seinsbegriff den Unterschied von Geschaffen und Ungeschaffen, von Endlich und Unendlich noch transzendiert und unter seiner analogen Geltung befaßt. Ebenso wenig tref­ fend ist die Heideggersche Interpretation des ens creatum aus der antiken Konzeption des demiurgischen Herstellens; diese Linie hat schon Augustinus verlassen in seiner eindring­ lichen Unterscheidung von facere und creare, in der Aufhebung der Vorgegebenheit einer ewigen Materie.¹⁵¹

Blumenberg wirft Heidegger einerseits eine unzulässige Pauschalisierung vor, an­ dererseits, dass er den genuinen Beitrag der Patristik übersehen habe. Augustinus ist hier der entscheidende Referenzpunkt und erhält in der Dissertation später ein entsprechendes argumentatives Gewicht.¹⁵²

150 Heidegger, Sein und Zeit, 24. 151 DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie/Vorarbeiten und Materialien, Referat „Die Ontologie der Scholastik“, Übung Dr. Landgrebe über Heideggers „Sein und Zeit“, 10. Juli 1946, 3 Bl., 1. 152 Wiederum ist dies über den Rezeptionsbegriff organisiert. Bei Augustinus habe „das christ­ liche Bewußtsein noch die volle ursprüngliche Kraft, aus der heraus Rezeption Einschmelzung und Aneignung“ bedeutete. BU, 23. Ich kann hier nicht diskutieren, wie berechtigt die Kritik im Hinblick auf Sein und Zeit ist. Es ließe sich beispielsweise einwenden, dass Heideggers Ansatz im Ganzen durchaus deutlich auf Augustinus rekurriert, etwa im factus sum mihi ipsi terra dif­ ficultatis et sudoris nimii. Aurelius Augustinus, Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch/Deutsch, übers. v. Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart 2012, 10, XVI, 494. Allerdings fiele gerade der direkte Rückgriff, den Heidegger in § 9 anhand dieser Stelle inszeniert, aus dem Ansatz einer Arbeit an der Latenz indirekter Rezeption wieder heraus.

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Der zweite erhaltene Gliederungsentwurf gibt Hinweise darauf, dass der kri­ tische Teil deutlich ausgebaut wird:¹⁵³ Die ontolog. Leistung d. Scholastik, im Hinblick auf Heideggers Destruktion d. traditionellen Ontologie A. Heideggers kritische Position zur traditionellen Ontologie a) Begründung d. Destruktionsthese b) Kennzeichnung d. traditionellen Ontologie c) Einbeziehung d. Scholastik in den Begriff d. „traditionellen Ontologie“ B. Methodik e. Analyse ontologischer Konzeptionen C. Die tatsächliche Eigenleistung d. scholastischen Ontologie a) Die Charakteristik d. Rezeption d. antiken Ontologie b) Einbeziehung d. unweltlichen Seins c) Analogie und Univocität d) Essentia und essentia e) Vorhandenheit und Hergestelltsein November 1946

Der Titel enthält jetzt die zentrale Formulierung der „Leistung“, die im ersten Entwurf in der ‚tatsächlichen Eigenleistung‘ vorgeprägt war. Zudem geht es nicht mehr um ein Problem ‚bei Heidegger‘, sondern um den „Hinblick auf Heideggers Destruktion“. Das Kapitel A fasst weitgehend die drei ersten Kapitel des Entwurfs vom August 1946 zusammen. Als Unterpunkt des zentralen Kapitels C erscheint nun gleich zu Beginn ein Hinweis darauf, dass die Betrachtung der mittelalterli­ chen Philosophie unter dem Aspekt der Rezeption erfolgen wird: „a) Die Charak­ teristik d. Rezeption d. antiken Ontologie“. Bemerkenswert ist, dass dieser Punkt zusammen mit einem ganz neuen Kapitel auftaucht, nämlich mit dem zwischen die Heidegger-Rekonstruktion (A) und die Heidegger-Kritik (C) geschalteten Me­ thoden-Kapitel: „B. Methodik e. Analyse ontologischer Konzeptionen“. Das wirft die Frage auf, welcher konkrete Zusammenhang zwischen dieser Methodik und dem Begriff der Rezeption besteht. Hierzu ist ein längerer Entwurf, der auf De­ zember 1946 datiert ist, aufschlussreich. Es handelt sich um die erste Ausarbei­ tung des Methodenkapitels B. Darin betont Blumenberg, „daß gerade die onto­ logischen Probleme eine eigengesetzliche Deutlichkeit und Ausdrücklichkeit ge­ winnen, wo sie innerhalb eines Ganzen philosophischer Grundkonzeption [sic]

153 DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie/Vorarbeiten und Materialien, Gliederung „Die ontolog. Leistung d. Scholastik, im Hinblick auf Heideggers Destruktion d. traditionellen Ontologie“, No­ vember 1946, 1 Bl. Vermutlich ist unter Punkt C.d) das Paar ‚essentia‘ und ‚existentia‘ gemeint, dessen Auseinanderfallen bereits im Referat „Die Ontologie der Scholastik“ aufgegriffen wird.

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durch einen Umbruchs- oder Rezeptionsvorgang hindurchgehen.“¹⁵⁴ Es ist also keinesfalls selbstverständlich, dass und wie überhaupt von ontologischen Pro­ blemen gehandelt werden kann. Offenbar zeigen diese sich einer Analyse nicht jederzeit und nicht ausdrücklich, d. h. auch nicht allein in den Ausdrücken ‚Sein‘, ‚ens‘ oder ‚esse‘. Vielmehr betont Blumenberg eine ‚Eigengesetzlichkeit‘ als Effekt eines Vorganges. Wenn ontologische Probleme in diesem Sinn ausdrücklich wer­ den, werden sie es als bereits verformte; sie tragen einen irreduzibel historischen Zug. Dieser Vorgang allein ist es, der das Feld für Blumenbergs Untersuchung ab­ steckt. Das lässt sich anhand der letzten Sätze aus dem Entwurf vom Dezember 1946 verdeutlichen: Nicht die Lehrmeinungen des Mittelalters sind zu fixieren und zu differenzieren, sondern die umprägende Rezeption der Grundgedanken der antiken Seinsphilosophie durch das christ­ liche Denken der Scholastik ist zu charakterisieren und in seiner Näherungsrichtung zu den Heideggerschen Kriterien einer Destruktion der traditionellen Ontologie zu bewerten.¹⁵⁵

Hier lässt sich eine gegenläufige Bewegung fassen: Jene „umprägende Rezepti­ on“ – Umbruch und Rezeption nähern sich einander an – soll in ihrer „Nähe­ rungsrichtung“ zu Heideggers Destruktion bewertet werden. Es geht Blumenberg nicht um deren Verwerfung, sondern um den Nachweis, dass das, was Heideg­ ger fordert, annäherungsweise bereits in der Tradition am Werk ist. Indirekt würde dieser Beleg jedoch einen wesentlichen Aspekt der Destruktionsthese de­ struieren, nämlich die existenzialontologische Rückfrage als dem privilegierten Zugang zur Ursprünglichkeit der Seinsfrage. Die indirekte Destruktion der De­ struktion kündigt sich darin an, die destruierende Bewegung gewissermaßen ohne den Beweger zu erhalten. Blumenbergs eigene Heidegger-Rezeption ist ih­ rerseits als eine Verformung angelegt. Eine solche Doppelung aus These und Tätigkeit begegnet später an verschiedenen Stellen, insbesondere im Kontext der ästhetisch-metaphorologischen Schriften. Der enge Schnitt, der hier gesetzt wird, lässt Blumenbergs plurales Verfahren aus einer radikalen Kritik der Selbstveror­ tung des philosophischen Fragens hervorgehen, und das heißt, 1946/47, als Frage nach dem Ort des Anhebens von Philosophie.¹⁵⁶ Anstatt diesen Ort als den Grund

154 DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie/Vorarbeiten und Materialien, Manuskript „Zur Metho­ dik einer Untersuchung ontologischer Konzeptionen“, Dezember 1946, 14 Bl., 8. 155 Blumenberg, Manuskript „Zur Methodik einer Untersuchung ontologischer Konzeptionen“ (DLA Marbach, Nachlass), 8. 156 Allerdings betont die Dissertation deutlich und in selbstgewähltem Anschluss an die De­ struktionsforderung, dass mit dem Ursprünglichkeitstheorem „nicht unser Heute“ (BU, 17) ge­ meint sei. Für das Argument ist diese Bemerkung entscheidend, weil die Leistung der mittelal­

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der seinsgeschichtlichen Rückfrage zu bestimmen, wird die Frage nach der Eröff­ nung der Frage an die Tradition zurückgespielt. Dies ist die „‚Rezeptions‘vorgabe der Moderne“.¹⁵⁷ In einer doppelten Geste verlagert Blumenberg die Möglichkeit des Anhebens philosophischen Fragens hin zu dem, was sich „annähernd nicht in der Hand“ (AM, 9) haben lässt: zur historischen Gebundenheit und zum auto­ destruktiven Potential der Tradition. Zieht man Jacques Derridas Frage hinzu, ob nicht „der Gegensatz von ursprünglich und abgeleitet metaphysisch“ bleibe, dann schiebt der unter dem Titel der Ursprünglichkeit zu erbringende Nachweis, dass überhaupt nur ‚anderswo‘ anzusetzen und anzuheben ist, die Möglichkeit der „Frage nach der arché überhaupt“¹⁵⁸ auf. Verfolgt man die Verschiebungen in der Anlage der Dissertation – es geht hierbei weder um den Versuch, eine Entwick­ lungslinie als Selbstzweck zu verfolgen, noch darum, die Ursprünge einer These aufzudecken –, lässt sich beobachten, dass die im Methodenteil nahegelegte Verbindung von Ursprünglichkeit und Rezeption asymmetrisch organisiert ist.

Vertauschung der Plätze: Ursprünglichkeit als Methode Im Dezember 1946 wird der Ansatz, der sich in einen rekonstruierenden, einen methodischen und einen kritischen Teil gliedern lässt, weiter unterfüttert.¹⁵⁹ Im neuen Gliederungsentwurf taucht der Rezeptionsbegriff nun allerdings nicht mehr auf. Das gilt auch für die an Umfang und Detailauflösung deutlich vergrö­ ßerte Fassung vom Januar 1947. Eigentümlicherweise tritt mit dem Verschwinden des Begriffs der Rezeption der der Ursprünglichkeit hinzu, zunächst als Ergän­ zung. So notiert Blumenberg unter „II. Methodische und systematische Vorbemer­ kungen“ handschriftlich den Unterpunkt „5. Das Problem der Ursprünglichkeit“, legt dann aber mit „IIa. Die Möglichkeiten e. ursprüngl. Ontologie innerhalb d.

terlich-scholastischen Metaphysik ja gerade gegen die Unterordnung ihrer Ansprüche unter eine ausgezeichnete Zeitstelle verteidigt werden sollte. Andererseits geht es zugleich um die Restitu­ tion einer singulären Geschichtlichkeit in diesem und als dieses ‚Heute‘. Später tritt an dieser systematischen Stelle der Weltbegriff hinzu. Wenn Blumenbergs Text historisch situiert werden kann, dann muss zugleich herausgestellt werden, inwiefern er die Möglichkeit historischer Ge­ bundenheit kritisch diskutiert. 157 Haverkamp, Technik der Rhetorik, 450, Anm. 13. 158 Jacques Derrida, „Ousia und gramme“, in: ders., Randgänge der Philosophie, hg. v. Peter En­ gelmann, Wien 1999, 57–92, hier: 88. 159 Vgl. DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie/Vorarbeiten und Materialien, Gliederung „Die on­ tologische Leistung der mittelalterlichen Scholastik im Hinblick auf Heideggers Destruktion der traditionellen Ontologie“, Dezember 1946, 1 Bl.

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christl. Metaphysik“ einen neuen Teil an (vgl. Abb. 2.2).¹⁶⁰ Warum taucht der Begriff der Ursprünglichkeit in den Gliederungsentwürfen zum ersten Mal im Methodenkapitel auf, also in dem Kapitel, das zwischen den rekonstruieren­ den Teil A und den kritischen Teil C tritt? Diese Platzierung ist bemerkenswert, weil eine Einbindung in den ersten oder in den dritten Teil eher zu erwarten gewesen wäre. Für den dritten Teil spricht, dass Ursprünglichkeit das später titel­ gebende Konzept ist und im Zusammenhang mit der gegen Heidegger betonten „tatsächlichen Leistung“ der Tradition verstanden werden muss. Für den ersten Teil spricht, dass die Vokabel bei Heidegger aufgenommen wird. Sie findet sich im § 6 von Sein und Zeit:¹⁶¹ „Diese Aufgabe verstehen wir als die am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden.“¹⁶² Passend wäre also auch das Kapitel gewesen, das im ersten erhaltenen Entwurf unter dem Punkt „A.“ „Die Begründung der Notwendigkeit einer Destruktion der traditionellen Ontologie“¹⁶³ nachvollziehen wollte. Im Manuskript vom Februar 1947 heißt es hierzu, dass in der Scholastik, „bei äußerster Entfernung“ zu Heideggers eigenem „Entwurf der Ontologie“, „jene ursprünglichen Fragestellungen doch umfassend und radikal aufgenommen und durchgearbeitet worden sind“.¹⁶⁴ Die Dissertati­ onsschrift greift auf diese Spannung vor, indem zu Beginn nach dem „Problem der Ursprünglichkeit des ontologischen Ansatzes bei Martin Heidegger“ (BU, 13, meine Hervorhebung, A.W.) gefragt ist. Sie nimmt bei Heidegger das Problem auf, die Seinsfrage ‚ursprünglich‘ zu stellen, unterzieht es dann aber einer zweifachen Kritik: einmal immanent, im Hinblick auf Sein und Zeit, woran eine gegen die 160 DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie/Vorarbeiten und Materialien, Gliederung „Die Leistung der scholastischen Metaphysik im Hinblick auf den ontologischen Ansatz bei Martin Heidegger“, Januar 1947, 2 Bl, 1. In der Bestandsystematik wird dieser Gliederungsentwurf zusammen mit ei­ nem Manuskript ohne Titel (7 Bl.) geführt, dem der Arbeitstitel des Gliederungsentwurfs zugeord­ net worden ist. Allerdings scheint es sich, da die ersten Zeilen gleichlautend einsetzen, in diesem Manuskript um einen Entwurf zum ersten Unterkapitel „I. Heideggers Forderung einer Destrukti­ on der traditionellen Ontologie“ zu handeln, das auf den 4. Februar 1947 datiert ist und an dessen Ende die mit Bleistift notierte Frage gesetzt ist: „Was bedeutet Ursprünglichkeit bei Heidegger?“ Im Folgenden behalte ich die Marbacher Bezeichnung bei. 161 Zu Heideggers Ursprünglichkeitsbegriff in diesem Kontext vgl. Flasch, Hans Blumenberg, 61. 162 Heidegger, Sein und Zeit, 22. 163 Blumenberg, Gliederung August 1946 (DLA Marbach, Nachlass). 164 DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie/Vorarbeiten und Materialien, Manuskript „Die Leistung der scholastischen Metaphysik im Hinblick auf den ontologischen Ansatz bei Martin Heidegger“, 4. Februar 1947, 7 Bl., 1.

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„reine[] (ideale[]) Ursprünglichkeit“¹⁶⁵ gerichtete Bewegung aufzuweisen ist, und einmal transzendent, indem an Teilaspekten der mittelalterlich-scholastischen Ontologie gezeigt wird, dass die traditionelle Frage nach einem wesensontolo­ gisch vorverstandenen Sein aufgebrochen und damit bereits in einem radikaleren Sinn gestellt ist. Im Nachlasskonvolut ist ein neun Seiten umfassender und auf Dezember 1946 datierter Entwurf erhalten, der den Inhalt des fraglichen methodischen Zwischenkapitels umreißt. Darin ist von Ursprünglichkeit noch keine Rede – je­ denfalls nicht ausdrücklich –, wohl aber vom Begriff der Rezeption. Der Text setzt ein mit der Beobachtung, dass im Felde der Ontologie mit einer unhintergehbaren Komplizierung zu rechnen sei, nämlich mit der „zwischen Untersuchungsbasis und Untersuchungsziel“. Blumenberg bemerkt, dass die Untersuchung bereits voraussetzen müsse, was sie doch erst zu erarbeiten habe, nämlich „einen Be­ griff der Möglichkeit ontologischer Aufweisung und Aussagen“, „während an­ derseits [sic] eine solche Untersuchung selbst erst der Integration des Begriffes von Ontologie zu dienen hat.“ Die Unentscheidbarkeit zwischen Basis und Ziel wird als ein „unfest-schwebende[s] Zwischenstehen“ beschrieben, das „vielleicht überhaupt“ charakteristisch für die philosophische Arbeitsweise sei. Nun könne Ontologie an Grundsätzlichkeit gleichsam nicht überboten werden. Daraus re­ sultiere, dass nicht nur definitorische Aussagen unmöglich seien, sondern „die Möglichkeit der Aussage überhaupt infrage gestellt werden“ könne. Hier ergibt sich eine Anschlussschwierigkeit, denn eine Untersuchung wird es zwangsläufig mit Aussagen zu tun haben. Fraglich nämlich ist, welcher Art diese Aussagen dann sein können. Aufgrund der „Undefinierbarkeit des Seinsbegriffes“ können Aussagen, die in einem definitorischen Sinn bestimmen, bereits ausgeschlossen werden. Vielmehr müsse eine Interpretation „die Herausbildung, Verformung und Verdeckung, die methodische Bewußtheit oder sachbestimmte Selbstgege­ benheit“ der „Aussageweisen“ philosophischer Systeme beschreiben.¹⁶⁶ Dabei ist gemäß Blumenberg dort anzusetzen, wo die Möglichkeiten und Grenzen von Aus­ sagen überhaupt auf dem Spiel stehen. Das ontologische Problem lässt sich also nicht von seiner sprachlichen Verfasstheit her lösen. Denn das Sein habe kein Wesen. Es ermögliche vielmehr erst formale Kategorisierungen, nach denen sich ein Wesen bestimmen ließe. Das Sein selbst, so das Implikat von Heideggers on­ tisch-ontologischer Differenz, ‚ist‘ selbst nicht, kann selbst nicht sein, jedenfalls nicht in dem Sinn, in dem Seiendes ist. Zudem müsse die ‚rein grammatisch165 Blumenberg, Handexemplar Sein und Zeit (DLA Marbach, Nachlass), Randbemerkung zu § 26, 129. 166 Blumenberg, Manuskript „Zur Methodik einer Untersuchung ontologischer Konzeptionen“ (DLA Marbach, Nachlass), 1.

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logische‘ Unmöglichkeit berücksichtigt werden, die sich ergebe, wenn – gemäß der Struktur: ‚das Sein ist‘ – in der Kopula das zu Bestimmende noch einmal auftauche.¹⁶⁷ An diese Erwägungen schließt Blumenberg eine fein gegliederte Aussagenty­ pologie dieser jetzt, wenn man so will, grammatisch-ontologischen Differenz an. Im zeitgleich (Dezember 1946) entstandenen Gliederungsentwurf finden sich die auf drei Aspekte eingeschränkten Ergebnisse dieses Ansatzes im zweiten Haupt­ teil unter b) als „α) Negative Ontologie“, „β) Kontradiktorische Redeweise“ und „ɣ) Exemplarisch orientierter Aussagemodus“. Allen Modi gemein ist, dass sie ihren Gegenstand notwendigerweise verfehlen. Sie können gebündelt werden im Punkt „Typologie des Abgleitens der ontologischen Aussage“.¹⁶⁸ Anstelle von Seinsbestimmungen gibt Blumenberg eine Typologie der Seinsverfehlungen. Für die Anlage seiner Arbeit zieht er daraus den Schluss, dass es sich in diesen phi­ losophischen Regionen geradezu verbietet, nur auf die thematischen Explikate, also auf das Ausdrückliche Acht zu geben. Diesen Fehler begeht Heideggers Cha­ rakteristik der mittelalterlich-scholastischen Ontologie. Sie nimmt die direkten ontologischen Aussagen zur Kenntnis, übergeht aber die indirekten, lediglich mit­ telbar aufweisbaren Aussagemöglichkeiten. Ohne dass Heideggers Name fällt, zielt folgende Passage genau darauf: Die einzigartigen Schwierigkeiten der seinsphilosophischen Rede, die angedeutet wurden, müssen uns eindringlich davor warnen, in unserem philosophiegeschichtlichen Textmate­ rial nur auf die am jeweiligen Locus vorgefundene Darstellung der Seinsfrage oder über­ haupt nur auf ihre explizierte Artikulation einzugehen. Hier kommt es vielmehr darauf an, in das hineinzusehen, was sich aus Absicht und Ansatz explizieren sollte und konnte, aber etwa an den Widerständen der vorgeformten und vorgefundenen Terminologie abgedrängt wurde oder gescheitert ist. [. . . ] [J]ede Denkleistung birgt eine ontologische Konzeption und kann von dieser entbunden werden.¹⁶⁹

Die Ontologie bricht sich am „Textmaterial“. Sie bricht sich daran dergestalt, dass an den Texten nun nicht nur die auf das Sein gerichtete, sondern schlichtweg jede Denkleistung in ihren ontologischen Vorannahmen problematisiert werden kann. An den überlieferten Texten fächert sich die auf Seinsbegriffe zugespitzte Grundfrage auf, „weil wir in allem Verstehen und Analysieren durch die sprachli­ che Aussageform hindurch müssen, auf die allein wir angewiesen sind.“ Das als selbstverständlich hingenommene Explizite wird in die Notwendigkeit der Explika­ 167 Vgl. Blumenberg, Manuskript „Zur Methodik einer Untersuchung ontologischer Konzeptio­ nen“ (DLA Marbach, Nachlass), 5. 168 Blumenberg, Gliederung Dezember 1946 (DLA Marbach, Nachlass). 169 Blumenberg, Manuskript „Zur Methodik einer Untersuchung ontologischer Konzeptionen“ (DLA Marbach, Nachlass), 4.

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tion überführt. Als zu Explizierendes gerät es nun geradezu in eine Frontstellung gegen das bloß Explizite; es ist potentiell dessen Widerstand. Methode ist auch hier Umweg, weil an die Stelle einer gegenständlichen Fixierung eine spezifische Aufgabe tritt. Der grammatisch-ontologischen Differenz – dem sprachlichen ‚Ab­ gleiten‘ – wird mit einem Ansatz begegnet, der versucht, aus dieser Differenz Ka­ pital zu schlagen, indem er den Blick anfänglich umlenkt. Angesichts der notwen­ digen Abweichung vom Gegenstand lässt sich, was Blumenberg allerdings nicht ausdrücklich formuliert, eine maximale funktionale Passung erreichen: Die Me­ thode eignet sich das grammatisch-ontologische Abgleiten als Bewegung ihres Umgangs mit dem „philosophiegeschichtlichen Textmaterial“¹⁷⁰ an. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil sie die Bedeutung des Rezeptions­ begriffs unterstreicht. Anstelle einer Aufarbeitung expliziter ontologischer Aus­ sagen soll, so die eingangs getroffene Unterscheidung, an die „Herausbildung, Verformung und Verdeckung“¹⁷¹ von Aussagemöglichkeiten und deren Grenzen herangekommen werden. Hinzu treten nun historische Verformungen. „[A]nstelle einer statischen Konfrontierung und Vergleichung von ‚Lehrmeinungen‘ und ‚Systemsätzen‘“ müsse „eine mehr funktionale Durchführung unserer Aufgabe treten“. Gemeint ist jener „Umbruchs- oder Rezeptionsvorgang“,¹⁷² der das von Heidegger später benannte Problem bereits aufgeworfen hat. Entscheidend für den Rezeptionsbegriff ist, dass mit ihm das Moment des Umprägens verbunden wird. Es geht nicht nur, was Blumenberg in der Abgabefassung der Dissertation deutlich benennt (§ 2), um eine unmittelbare, eine direkt zitierende Wiederauf­ nahme antiker Autoritäten, sondern um ein indirektes Geschehen, das bereits statthat. Deswegen ist es unabdingbar, wie es die Gliederungsentwürfe von No­ vember und Dezember 1946 auch vorsehen, eine „Charakteristik d. Rezeption d. antiken Ontologie“¹⁷³ zu geben. Wenn dieser Punkt im Januar 1947 und zuguns­ ten der Aufnahme des Ursprünglichkeitsbegriffs aus dem Inhaltsverzeichnis ver­ schwindet, ist die Vermutung nicht abwegig, dass das Problem der Rezeption in das der Ursprünglichkeit überführt wird. Daraus erhellt sich, dass die Verdeckungs- und Freilegungsbewegung der existenzialontologisch zu ergreifenden Destruktion von den ‚Seinsstellen‘ ab­ gezogen und zur Rezeptionsgeschichte hingelenkt wird. Über ihre Umprägun­ gen soll an eine ursprüngliche ontologische Leistung herangekommen werden. 170 Blumenberg, Manuskript „Zur Methodik einer Untersuchung ontologischer Konzeptionen“ (DLA Marbach, Nachlass), 5. 171 Blumenberg, Manuskript „Zur Methodik einer Untersuchung ontologischer Konzeptionen“ (DLA Marbach, Nachlass), 1. 172 Blumenberg, Manuskript „Zur Methodik einer Untersuchung ontologischer Konzeptionen“ (DLA Marbach, Nachlass), 8. 173 Blumenberg, Gliederung November 1946 (DLA Marbach, Nachlass).

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Demgegenüber erscheint die direkte Wiederaufnahme (die der aristotelischen Ontologie) weiterhin als Verdeckungsbewegung. Beide Aspekte lassen sich jedoch nicht voneinander trennen; vielmehr ist, wie es die Bemerkung zu Heideggers § 27 fasst, die Verdeckung selbst „die existen­ zi[el]le Ausgangssituation“.¹⁷⁴ Genau genommen sind jetzt zwei Verdeckungen im Spiel: einmal die der Autorität der Tradition geschuldete und einmal die textuel­ le, die nicht zur Explikation kommen lässt. Das bedeutet, dass die Verdeckungen nicht weggeräumt werden müssen und dennoch eine Kritik der Wesensontologie beobachtet (eher als betrieben) werden kann. 6. Unser leitender Hinblick für die Herausarbeitung der ontologischen Leistung der Scho­ lastik auf die Elemente des Heideggerschen Neuansatzes wird seine Fruchtbarkeit vielleicht am deutlichsten darin erweisen können, ursprüngliche Fragestellungen und Ausgänge der Metaphysik aufzuspüren, die nicht zur vollen Explikation kommen konnten oder sich nur in begrifflichen Rudimenten durchhielten, deren primäre Sinngebung nicht mehr eingese­ hen wurde. Als verstellend und verdeckend erweist sich dabei immer wieder die Last der eigentümlichen Autoritätsgebundenheit des Mittelalters, die sich etwa im zeitweise unbe­ strittenen Rang des Aristoteles als des „Philosophus“ schlechthin ausdrückt. Einige solcher „Verschüttungen“ seien hier wenigstens noch angedeutet; zweifellos ist es vorwiegend im­ mer wieder Augustinus gewesen, der in der Kraft ursprünglichen Ansetzens und Fragens überragend ist.¹⁷⁵

Es erschließt sich nun, dass das im Januar 1947 unter „IIa.“ neu in den Zwischen­ teil aufgenommene Hauptstück „Die Möglichkeiten e. ursprüngl. Ontologie inner­ halb d. christl. Metaphysik“¹⁷⁶ (vgl. Abb. 2.2) ein genuin methodologisches ist. Blumenbergs Neufassung von Ursprünglichkeit lässt sich als Effekt einer Neu­ bewertung der Rezeptionsbewegung verstehen. Wenn – gegen Heidegger – für die mittelalterlich-scholastische Philosophie von ‚ursprünglichen Fragestellun­ gen‘ die Rede sein kann, dann zielen diese nicht direkt auf die Seinsfrage, sondern sie kommen überhaupt erst und nur innerhalb eines zugleich verdeckenden und verformenden Rezeptionsvorgangs auf, bleiben als solche aber unausdrücklich.

Umbesetzung der Destruktionsthese In der Gliederung aus dem Januar 1947 trägt das Kapitel I. die Überschrift „Hei­ deggers Forderung einer Destruktion der traditionellen Ontologie“. Dass der 174 Blumenberg, Handexemplar Sein und Zeit (DLA Marbach, Nachlass), Randbemerkung zu § 26, 129. 175 Blumenberg, Manuskript „Die Leistung der scholastischen Metaphysik im Hinblick auf den ontologischen Ansatz bei Martin Heidegger“ (DLA Marbach, Nachlass), 11. 176 Blumenberg, Gliederung Januar 1947 (DLA Marbach, Nachlass), 1.

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Ausdruck „Forderung“ darin keine Selbstverständlichkeit ist, belegt der erste Unterpunkt: „1. Die Begründung Notwendigke Forderung der Destruktionsthese“ (vgl. Abb. 2.2).¹⁷⁷ Nach einer zweifachen Streichung – von ‚Begründung‘ und ‚Not­ wendigkeit‘ – wird der Forderungscharakter dieser These betont. Demgegenüber hatte der früheste Gliederungsentwurf von August 1946 „Die Begründung der Notwendigkeit einer Destruktion der traditionellen Ontologie“¹⁷⁸ angekündigt. Die Verschiebung zum Forderungscharakter liefert einen doppelten Ertrag: mit Blick auf Heidegger lässt sich, anstatt ihre Notwendigkeit zu begründen, der An­ spruchsgehalt der Destruktionsthese herausstellen; mit Blick auf die Ursprüng­ lichkeit geht es um einen „immanente[n] Anspruch jeder philosophischen Situa­ tion“ (BU, 17–18). Vorgeschlagen wird also eine Art inklusive Ontologie, die, indem sie alle historischen wie zukünftigen Ansprüche auf ein ursprüngliches Fragen

Abb. 2.2: Gliederungsentwurf zu Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlichscholastischen Ontologie, Januar 1947 (Ausschnitt), DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg, Foto: Tanja Fengler-Veit, 2019

177 Blumenberg, Gliederung Januar 1947 (DLA Marbach, Nachlass), 1. 178 Blumenberg, Gliederung August 1946 (DLA Marbach, Nachlass).

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in sich einbegreifen will, die Privilegierung eines einzelnen Fragestandpunkts aufbricht und damit den wandelbaren Ansprüchen immer neuer Konstellatio­ nen gerecht werden muss. Dieses Auseinandertreten zwischen dem Nachvollzug von Heideggers These und dem Herausstellen ihres letztlich uneingelösten An­ spruchs schlägt sich in Blumenbergs Arbeit an den Gliederungsentwürfen nieder. Insbesondere die ersten Abschnitte werden jetzt intensiv dahingehend umge­ baut.¹⁷⁹ Im § 4 von Sein und Zeit behauptet Heidegger: „Nur wenn das philosophischforschende Fragen selbst als Seinsmöglichkeit des je existierenden Daseins exis­ tenziell ergriffen ist, besteht die Möglichkeit einer Erschließung der Existenziali­ tät der Existenz“.¹⁸⁰ Wer in diesem ‚Sinn‘ Existenzialphilosophie betreiben will, muss sich bereits von dem, was dabei gesucht wird, ergriffen zeigen. Methodisch ist das aber nur nach Heideggers Einsatz möglich. Mit Bleistift notiert Blumen­ berg neben diese Passage: „Darin liegt ein gefährliches Moment der Auslese, alle anders verlaufenden Analysen als ‚nichtexistentiell‘ vollzogen abzutun.“¹⁸¹ Der Vorbehalt zielt auf das geäußerte Pathos und den Anspruch, die ontologisch ein­ zig gültige Analyseweise und den einzig gültigen Ansatzpunkt zu liefern. Gegen diesen Alleinvertretungsanspruch stellt Blumenberg die pluralen Ansprüche der Tradition in der Dynamik ihrer ‚Umbruchs- und Rezeptionsvorgänge‘.¹⁸² Die Abga­ befassung der Dissertation ist in drei Hauptteile und acht Paragraphen unterteilt (vgl. BU, 5–6): I.

II.

Einleitung § 1. Das Problem der Ursprünglichkeit des ontologischen Ansatzes bei Martin Heideg­ ger § 2. Voraussetzungen und Möglichkeiten eines ursprünglichen Seinsverständnisses in der mittelalterlichen Scholastik Die Durchbrechung der traditionellen ontologischen Interpretationsweisen § 3. Die Interpretation des Seins als Hergestelltsein

179 Blumenberg, Gliederung Januar 1947 (DLA Marbach, Nachlass), 1. Die Streichung von „Kenn­ zeichnung“ ist nicht eindeutig; es könnte sich auch um eine Unterstreichung handeln. 180 Heidegger, Sein und Zeit, 13. 181 Blumenberg, Handexemplar Sein und Zeit (DLA Marbach, Nachlass), Randbemerkung zu § 4, 13. 182 Das implizite Auseinandertreten des Begriffs des Anspruchs – in die immanenten Ansprü­ che, die sich an einer philosophischen Situation im Sinne der Ursprünglichkeit rekonstruieren lassen, sowie in die, die diese Rekonstruktion ‚heute‘ notwendig machen, – lässt sich später und in ganz anderer Form auch in der Lesbarkeit der Welt (1981) beobachten. Wenn sich mit diesen letzteren ein Moment des Zwangs verbindet, dann kann darin kein autoritärer Zug liegen, denn Autorität war gerade das, was diese pluralen Ansprüche, analog zu Heideggers Konstruktion, verdeckt hatte. Vgl. BU, 16–19.

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§ 4. Die Interpretation des Seins als Vorhandenheit § 5. Die Interpretation des Seins als Wesenheit § 6. Die Interpretation des Seins als Gegenständlichkeit § 7. Das außertheoretische Fundament der Seinsinterpretation III. Letzte metaphysische Positionen § 8. Die Frage nach dem Sinn von Sein

An der Oberfläche der schematischen Organisation entspricht die Zuordnung von ‚Ursprünglichkeit‘ zum ersten (rekonstruierenden) Teil den Erwartungen, die sich aufgrund des Interesses an Sein und Zeit hegen ließen. Es ist hier sehr gut zu sehen, dass die Arbeit jetzt konsequent von diesem Begriff her angelegt ist: § 1 ist die in eine problemorientierte Analyse umgeschlagene Rekonstruk­ tion des bei Heidegger aufgenommenen Begriffs; § 2 trifft methodische Klärun­ gen, die – gegen Heidegger – die Möglichkeit der zentralen Frage nach einem ursprünglichen Seinsverständnis in der mittelalterlich-scholastischen Philoso­ phie erarbeiten sollen; die §§ 3–7, das ehemalige Leistungs-Kapitel und weiterhin Kern der Argumentation, zeichnen dann im Detail nach, wie unterschiedliche ontologische Grundauffassungen, von Heidegger als traditionell markiert, trans­ formiert worden sind: Den Ansatz zur Überwindung des Verständnisses „des Seins als Hergestelltsein“ (§ 3) biete Augustinus’ Konzeption einer creatio ex ni­ hilo sowie das personale Gottesmodell der augustinisch geprägten Scholastik (Bonaventura); die Vorhandenheits-Interpretation (§ 4) werde zwar nicht voll­ ends überwunden, aber doch aufgebrochen durch den Stellenwert einer sub­ jektiven Glaubenserfahrung sowie durch ein irreduzibles Moment der Unbe­ stimmtheit und Spontaneität in der Seinserkenntnis (Duns Scotus); die „Inter­ pretation des Seins als Wesenheit“ (§ 5) könne gegen eine genuin christliche und vor dem Hintergrund des Individuationsproblems konturierte Existenzer­ fahrung nicht aufrecht erhalten werden; hierbei trete nun Geschichtlichkeit hinzu. Schließlich verliert sich ein gegenständliches Seinsverständnis (§ 6) an eine konstitutive und vorausgängige Ungegenständlichkeit, die Blumenberg mit dem Weltbegriff und der bei Augustinus, Grosseteste und Bonaventura zu ei­ ner „seinskonstitutive[n] Projektion“ (BU, 156) umgebauten Illuminationslehre in Verbindung bringt. Neu hinzu gekommen ist der Rückbezug der Ergebnisse auf eine grundlegen­ de Reflexion, die schließlich, so der letzte Unterpunkt § 8d, die „Grenzen der Ur­ sprünglichkeit“ (BU, 200) erreicht. Davon, dass das Problem überhaupt erst als methodisches und auf einen differenzierten Rezeptionsvorgang bezogenes in Er­ scheinung getreten ist, lässt sich kaum noch etwas sehen. Genau das gerät in Ver­ gessenheit, wenn Ursprünglichkeit nur als „fundamentale Offenheit für das Sein in seinen Totalstrukturen“ (BU, 27) aufgefasst wird, ohne die genau darin arbei­ tende textuelle Komplizierung zu erkennen. Beide Probleme müssen vielmehr in

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einer gegenseitigen Abhängigkeit verhandelt werden. Dazwischen vermittelt die Rezeption: Das Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie läßt sich nicht angemessen aufnehmen, wenn die Rezeption der Antike durch das christliche Den­ ken nur unter dem quellenhistorischen Aspekt gesehen wird. Der Begriff der Rezeption wird dabei eingeengt auf die Entlehnung von fertigen Aussagen und Denkformen, hier aus Aristoteles, dort aus Plato, wobei über dem Nachweis des Zitates oder Einflusses die die Kontinuität des Wirklichkeitsbewußtseins tragende Funktion der Rezeption aus der Sicht verschwindet. (BU, 33–34)

In der hier eingeklammerten expliziten Rezeption überlagern sich zwei Aspekte. Sie betrifft die direkte Wiederaufnahme von antiken Philosophemen in der mit­ telalterlichen Literatur. Sie betrifft aber genauso die Möglichkeit des Zugriffs auf diese Literatur ‚heute‘. Damit verschränkt Blumenberg den phänomenologischen methodischen Zugang mit dem, was die Texte jenseits einer „quellenhistorischen“ Logik – im Doppelaspekt: der antiken Quellen für das Mittelalter, der mittelalter­ lichen Quellen für das ‚Heute‘ – schon tun. Das Verfahren bildet sich einem in dieser Anbildung transformierten Gegenstand an. Um einen Rezeptionsbegriff zu entwickeln, der nicht über die direkte Aufnahme von Belegstellen organisiert ist, bezieht sich Blumenberg auf Étienne Henri Gilson, der eine Trennung zwischen ‚direkter‘ und ‚indirekter‘ Rezeption vorgeschlagen habe.¹⁸³ Diese ‚indirekte‘ Re­ zeption trage einen „ursprünglichen“ Zug, sie vollziehe sich „in der Ungebrochen­ heit des Wirklichkeitsbezuges selbst“ und bereite erst den Boden, auf dem eine Traditions- und Schulbildung möglich werde (BU, 34). Sie ist selbst ‚ursprünglich‘ und ermöglicht zugleich ein ursprüngliches Neuansetzen. Das heißt, dass „im Umfange der indirekten Rezeption die Sprengung dieser Einheit des Horizontes schon angelegt sein“ muss (BU, 43). Das ‚von Grund auf neue‘ Philosophieren, wie es vor allem mit Augustinus verbunden wird, ist dieser Dynamik überantwortet. Sie lässt sich nicht auf einzelne philosophische Positionen reduzieren. Dennoch ist es die Tendenz zur Traditionsverfestigung, in der sich die Sprengung vorberei­

183 Blumenbergs entscheidender Beleg in Anm. 1 zu § 2 – „Etienne Gilson, Platonisme, Aris­ totélisme et Christianisme“ (BU, 32) – lässt sich nicht verifizieren. Es scheint sich um einen ‚Rezeptionsunfall‘ zu handeln: „Vermutlich stützte er sich auf eine ganzseitige Inhaltsangabe, die in der Zeitschrift Universitas I (1946), 1130, erschienen war. Sie mag wie eine Rezension wirken, doch handelt es sich um Angaben, die entweder der Verlag Presses universitaires de France oder das Institut Français geliefert hatte (vgl. ebd., 1183).“ Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann, „Nachwort der Herausgeber“, in: Hans Blumenberg, Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie, hg. v. Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann, Ber­ lin 2020, 217–229, hier: 220, Anm. 7.

2.3 1946/47: Das Konzept der Rezeption (Heidegger) | 73

tet (vgl. BU, 43). Der destruktive Zug der Rezeptionsgeschichte liegt dort, wo die größten Anstrengungen zur Regulierung ihrer Bestände unternommen werden. Der Ansatz bei der Ursprünglichkeit sucht einen doppelten Abstand: zur Fra­ ge nach den philosophiehistorischen Ursprüngen wie zur gefährlichen Exklusi­ vität eines ursprünglichen Neuansatzes der Phänomenologie ‚heute‘.¹⁸⁴ Die The­ se, dass die Seinsfrage in der mittelalterlich-scholastischen Metaphysik ursprüng­ lich gestellt worden sei, ist nur unter gleichzeitiger Anerkennung der diese Frage ermöglichenden Dynamik der Rezeption denkbar. An den Gliederungsentwürfen lässt sich präzise ablesen, wie das Problem der Ursprünglichkeit als Teil der me­ thodologischen Überlegungen aufkommt. Hierbei bedeutet die Trennung in direk­ te und indirekte Rezeption, dass vor allem auf das ontologisch Unexplizierbare zu­ rückgegangen werden muss. Der Begriff der Ursprünglichkeit, der zwischen den rekonstruierenden und den kritischen Teil tritt, muss damit in einer Zone des phi­ losophiehistorisch Mittleren, des rezeptionsgeschichtlich Indirekten und metho­ dologisch Latenten verortet werden. An ihm manifestiert sich das „unfest-schwe­ bende Zwischenstehen“¹⁸⁵ der philosophischen Arbeitsweise. In dieser Zone wird die Durchbrechung einer prima philosophia zum Thema, die, aristotelisch, einen „Grund als Ursprung“ (BU, 48) gesetzt hatte, aber durch die Schöpfungslehre her­ ausgefordert worden war. Es wird deutlich, dass es Blumenberg um den Ansatz zu dieser Durchbrechung geht. Daher ist es folgerichtig und nicht widersprüchlich, dass Ursprünglichkeit, zwischen den patristischen und scholastischen Autoren, „doch nicht recht zutage“¹⁸⁶ tritt: Die Idee der Ursprünglichkeit kann keinen festen Punkt in diesem Spannungsfeld markie­ ren; sie bleibt vielmehr der Spannung tragende immanente Anspruch selbst. Die Wesenson­ tologie kann niemals ‚endgültig‘ überwunden, die Existenzialontologie nicht vollends ‚er­ reicht‘ werden. (BU, 146)

Das hintergründige Existenzkonzept mit katholisch-existenzialistischen Umris­ sen trägt nicht und begründet auch nicht die titelgebende „Idee der Ursprüng­ lichkeit“. Der methodologische Umweg spielt die Möglichkeit der Frage nach den Ursprüngen unter dem Titel der Ursprünglichkeit vielmehr an einen Plural der Texte zurück, wo sie bereits im Ansatz destruierend, und das heißt: ursprünglich am Werk ist.

184 Vgl. zur Kritik an der mythisierenden Konstruktion: Flasch, Hans Blumenberg, 63–64. 185 Blumenberg, Manuskript „Zur Methodik einer Untersuchung ontologischer Konzeptionen“ (DLA Marbach, Nachlass), 1. 186 Flasch, Hans Blumenberg, 129.

74 | 2 Deformationskräfte

2.4 Absolute Tropen: Im Vorfeld der Metaphorologie (Quintilian) Bislang sind Hans Blumenbergs Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960) vor­ wiegend hinsichtlich ihrer Aussagen über Metaphern oder hinsichtlich der vor­ gestellten Paradigmen selbst besprochen worden. Im Folgenden wird vorgeschla­ gen, die Relevanz dieses Textes insbesondere in der Art und Weise zu erkennen, mit der er seine Thesen einführt. So wie das Verfahren der Metaphorologie an dem mitarbeitet, was als Metapher zu verstehen ist, arbeitet das Verfahren, durch das sie selbst vorgestellt wird, mit an dem, was als These zitierbar ist. Die Verhältnis­ bestimmung zur antiken Rhetorik lässt sich somit neu bewerten.

Dissens über die Rhetorik Es wäre seltsam, wenn nicht umstritten wäre, was unter ‚Rhetorik‘ zu verstehen sei. Quintilian legt die zwölf Bücher der Institutio oratoria (95 n. Chr.)¹⁸⁷ konse­ quent als Eintritt in eine diskursive Auseinandersetzung an. Gleich nach der Nen­ nung des Themas folgt der Hinweis auf eine dissensio: „Allem voran die Frage: Was ist die Rhetorik? Sie wird zwar auf verschiedene Weise definiert, jedoch liegt allen Definitionen eine doppelte Frage zugrunde: entweder nämlich besteht Mei­ nungsverschiedenheit über das Wesen der Sache selbst oder über die Formulie­ rung.“¹⁸⁸ Auf die rhetorische Frage danach, was Rhetorik sei, wird die Antwort vor­ enthalten und stattdessen bemerkt, dass es überhaupt Definitionen des Erfragten gebe. Ihnen werde entweder die Beschaffenheit der Sache selbst oder die wörtli­ che Formulierung zum Problem. Auf beiden Seiten dieser Unterscheidung gibt es Meinungsverschiedenheiten. Die Schwierigkeiten nehmen zu, wenn sich res und verbum nicht mehr ent­ sprechen, oder gar „das Zeichen [. . . ] selbst die ‚Substantialität‘ der Sache“ (Wirk­ lichkeitsbegriff, 22) annimmt. Gemessen an dem, was Blumenberg als die „klassi­ sche antirhetorische Figur ‚res, non verba!‘“ (Annäherung, 133) identifiziert hat, ist Quintilians Unterscheidung bereits Teil der definitorischen Schwierigkeit.¹⁸⁹ Der Widerstreit liegt allerdings zunächst nicht zwischen verba und res, sondern inner­

187 Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Lateinisch und deutsch, übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 2015 [im Folgenden: Quint. Inst.]. Das lateinische Original wird nur dort angegeben, wo der Wortlaut zur Argumentation herangezogen wird. 188 Quint. Inst. II 15,1. 189 Die in „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ als Gegenentwurf be­ schriebene Struktur betreibt eine indirekte Nachlese dieses Diskurses, indem sie exakt das Ant­

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halb der verba. Nach dem Durchgang durch die „berühmtesten und am meisten umstrittenen Definitionen“, die Rhetorik entweder als Überredung, Kraft, Kunst oder Wissenschaft fassen, kommt Quintilian zu dem Schluss, es sei ein verkehr­ tes und ihm fernliegendes Streben, „nichts mit denselben Worten“ definieren zu wollen, „die vorher schon jemand in Anspruch genommen“¹⁹⁰ habe. Er wolle da­ her nicht sagen, was er erfunden habe, sondern was er für richtig halte: „Die Rhe­ torik sei die Wissenschaft, gut zu reden.“¹⁹¹ Die verzögerte Antwort auf die ein­ gangs eher gefundene als selbst gestellte Frage hebt, indem sie ihren Anschluss an bereits gebrauchte verba und sich so als zitationelles Geschehen ausstellt, die Notwendigkeit dieser Verzögerung heraus. Sie liegt darin begründet, dass sich die Frage unter der Bedingung des möglichen Auseinandertretens von res und verba überhaupt nicht direkt beantworten lässt. Die Abwehr des Imperativs, alles neu und in eigenen Worten sagen zu müssen, führt in den praktischen Dissens. Das jetzt nicht mehr gänzlich Eigene ist eine Meinungsverschiedenheit unter anderen. Die Was-ist-Frage ist umgelenkt in die Geschichte umkämpfter Antwortversuche. Nicht nur über die Rhetorik im Ganzen, auch über ihre Teilgebiete wird gestrit­ ten, so über Tropen und Figuren. Es bestehe ein „unentwirrbares Ringen zwischen den Sprach- und Literaturlehrern untereinander sowie gegenüber den Philoso­ phen“¹⁹² darüber, welche Gattungen und Arten den Tropen in welchem Umfang zuzurechnen seien; ähnlich stellt sich „die Meinungsverschiedenheit der Sach­ kenner über die Frage“ dar, „was der Name ‚Figur‘ eigentlich bedeutet, wieviel Gattungen es von ihnen gibt und welche und wie viele Arten sie besitzen.“¹⁹³ Zwi­ schen der ausführlichen Diskussion der Tropen im achten und der der Figuren im neunten Buch wird die übergeordnete Unterscheidung zwischen beiden the­ matisch. Dabei betont Quintilian an der größten Differenz das Gemeinsame – es liege in der sowohl für Tropen als auch für Figuren geltenden Abwandlung ei­ nes einfachen Sachverhalts – und dort, wo „nur eine recht schmale Trennungs­

onym zu Quintilians Annäherung an die Aktualität der Rhetorik stark macht: „Der Rest, der aller Rhetorik vom teleologischen Wert des consensus als einer Bürgschaft der Natur noch geblieben ist, ist die Sicherung des Nicht-Widerspruchs, des Nicht-Zerbrechens der Konsistenz des Hinge­ nommenen, das im politischen Tagesjargon deshalb gern eine ‚Plattform‘ genannt wird.“ Annä­ herung, 418. Nach diesem Modell ist schon Quintilians Frage, vor allem aber die Überantwortung ihrer Antwort an die Meinungsverschiedenheiten ‚antirhetorisch‘; der Umweg ist wiederum ‚rhe­ torisch‘ im Sinne des Aufschubs: „Rhetorik hingegen ist hinsichtlich der Temporalstruktur von Handlungen ein Inbegriff der Verzögerung“. Annäherung, 420. 190 Quint. Inst. II 15,37. 191 Quint. Inst. II 15,38. 192 Quint. Inst. VIII 6,1. 193 Quint. Inst. IX 1,10.

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linie“¹⁹⁴ bestehe, z. B. in der Ironie, die Notwendigkeit, eine Trennung möglichst strikt aufrecht zu erhalten. Selbst unter den Sachkennern seien Figuren für Tropen und Tropen für Figuren gehalten worden: „Um so mehr gilt es, den Unterschied der beiden Erscheinungen deutlich zu bezeichnen.“¹⁹⁵ Die klassische, jedoch al­ lein schon wegen der Doppelung im Problem der ‚eigentlichen Bedeutung‘ des Namens ‚Figur‘ keinesfalls deutliche Differenzbestimmung lautet: Es ist also ein Tropus eine Redeweise, die von ihrer natürlichen und ursprünglichen Bedeu­ tung auf eine andere übertragen ist, um der Rede zum Schmuck zu dienen, oder, wie die Grammatiklehrer meist definieren, ein Ausdruck, der von der Stelle, bei der er eigentlich gilt, auf eine Stelle übertragen ist, wo er nicht eigentlich gilt. Eine Figur ist, wie es ja schon der Name erkennen läßt, eine Gestaltung der Rede, die abweicht von der allgemeinen und sich zunächst anbietenden Art und Weise. Deshalb werden bei den Tropen Wörter für an­ dere Wörter gesetzt [est igitur τρόπος sermo a naturali et principali significatione translatus ad aliam ornandae orationis gratia, vel, ut plerique grammatici finiunt, dictio ab eo loco, in quo propria est, translata in eum, in quo propria non est: „figura“, sicut nomine ipso patet, conformatio quaedam orationis remota a communi et primum se offerente ratione. quare in tropis ponuntur verba alia pro aliis].¹⁹⁶

An dieser Passage möchte ich nur wenige Züge herausheben: die Verbindung von Übertragung und Schmuck („translatus ad aliam ornandae orationis gratia“), das Stellensystem, das die Unterscheidung zwischen ‚eigentlich‘ und ‚nicht eigent­ lich‘ trägt („dictio ab eo loco, in quo propria est, translata in eum, in quo propria non est“), schließlich den Setzungscharakter („in tropis ponuntur verba alia pro aliis“). Alle drei Momente kehren in Blumenbergs Metaphorologie – als das, wor­ auf sie gerade keinen Bezug nimmt – wieder. Einer dieser Berührungspunkte ist die Frage nach dem katachrestischen Charakter der absoluten Metapher.

Wettstreit in der Rhetorik Die Setzung in der Übertragung hat, wie der „häufigste“, „bei weitem schönste“¹⁹⁷ und in Institutio oratoria an herausgehobener Stelle platzierte Tropus erhellt, ei­ nen kompetitiven, geradezu gewaltsamen Charakter:¹⁹⁸ „Denn die Metapher muß entweder einen freien Platz einnehmen, oder wenn sie auf einen Platz kommt, der einem anderen gehört, mehr leisten als das, was sie verdrängen will.“ [„metapho­

194 195 196 197 198

Quint. Inst. IX 1,3. Quint. Inst. IX 1,4. Quint. Inst. IX 1,4–5. Quint. Inst. VIII 6,4. Für den genauen Blick auf diese Stelle danke ich Thomas Glaser.

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ra enim aut vacantem locum occupare debet aut, si in alienum venit, plus valere eo, quod expellet.“]¹⁹⁹ Das „vacantem locum occupare“ beschreibt eine Bemäch­ tigung; es deutet darauf hin, dass der Platz, wenn auch unbesetzt, nicht unbean­ sprucht gewesen ist. Umgekehrt scheint es einen flüchtigen Moment der Koexis­ tenz zu geben, insofern das Einnehmen des Platzes mit einem Leistungswettstreit einher gehen kann. Es gibt die Metapher offenbar nur als eine verdrängende (ex­ pellere) oder als eine besetzende (occupare); das Weniger-Leisten darf, wie auch das „debet“ anzeigt, keine Option sein. Wenn diese Bewegung beschrieben wird, ist sie bereits am Werk, auch was ihre Platzierung innerhalb von Quintilians Sys­ tematik betrifft, wo sie zumindest andere Tropen bereits verdrängt hat, ehe ihre verdrängende Qualität herausgehoben wird. Zu den benachbarten Tropen zählt die Katachrese,²⁰⁰ die von allem, „was zur Art der metaphorischen Übertragung gehört, fernzuhalten“ sei: „denn um Katach­ rese handelt es sich da, wo eine Benennung fehlte, um Metapher, wo sie eine an­ dere war.“ [„discernendumque est ab hoc totum translationis istus genus, quod abusio est, ubi nomen defuit, translatio, ubi aliud fuit.“]²⁰¹ Trotz gegenteiliger Beteuerungen lässt sich die Metapher über das „vacantem locum occupare“ von einem katachrestischen Zug nicht freihalten.²⁰² Dort, wo die Nähe zwischen Meta­ pher und Katachrese am größten ist, bietet Quintilian eine Rhetorik der Differen­ zierung auf. Die Schärfe der Formulierung weist darauf hin, dass das, was der Ka­ tachrese zugeschrieben wird, den Platz der Metapher durchaus zu beanspruchen imstande ist. Die Gerundiv-Konstruktion „discernendum est“ ist hier aufschluss­ reich, weil sie etwas anzeigt, das noch zu tun und also noch nicht getan ist. Alles, „was zur Art der metaphorischen Übertragung gehört“, muss von dem, was zur Art der katachrestischen Übertragung gehört, erst noch abgesondert werden.

199 Quint. Inst. VIII 6,18. 200 Gerald Posselt hat die Nachrangigkeit gegenüber der Metapher als Kennzeichen aller we­ sentlichen Bestimmungsversuche der Katachrese ausgemacht: „Die Katachrese scheint eine Art defekter oder mangelhafter Metapher zu sein, eine Metapher, die nicht überlegt und bewußt ver­ wendet wird, sondern aus Zwang und Notwendigkeit“. Gerald Posselt, Katachrese. Rhetorik des Performativen, München 2005, 9. Allerdings findet sich bei Quintilian auch im Umriss der meta­ phora ein Moment des Zwanges: „Wir tun dies entweder, weil wir es müssen, oder weil so der Ausdruck bezeichnender oder weil er so [. . . ] schöner wird“. Quint. Inst. VIII 6,6. 201 Quint. Inst. VIII 6,35. 202 „Indem Quintilian die Definition im Perfekt formuliert [Quint. Inst. VIII 6, 35: ‚ubi nomen defuit‘, A.W.],“ indiziere er, dass eine Unterscheidung erst im Nachhinein getroffen werden kön­ ne, bemerkt Posselt. „Anders gesagt, die An- oder Abwesenheit eines eigentlichen Ausdrucks ist immer schon eine Sache der Vergangenheit. Vielleicht könnte man sogar so weit gehen zu sagen, daß die lexikalische Lücke, der Mangel eines eigenen, eigentlichen oder ursprünglichen Ausdrucks bereits die Wirkung einer retroaktiven Setzung ist.“ Posselt, Katachrese, 139.

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Latenz Quintilians Das bei Blumenberg fälschlicherweise Quintilian zugeschriebene Beispiel der la­ chenden Wiese („pratum ridet“) ist für den metaphorologischen Neuansatz ein eminenter Umschlagpunkt.²⁰³ Blumenberg beziehe, so Haverkamp, das Beispiel indirekt, vermutlich über Ernst Robert Curtius sowie vermittelt durch Immanuel Kants Illustration im § 59 der Kritik der Urteilskraft (1790). Quintilian habe er – ent­ gegen der eigenen, im Begriff der Rezeption gebündelten Grundsätze – umgan­ gen. Die gegenüber der translatio näher an den metaphorologischen Grenzbefund der Sprengmetaphorik herankommende Trope sei die transumptio oder Metalep­ sis, und zwar in Bezug auf die Selbstüberschreitung.²⁰⁴ Der Bogen um die antike Rhetorik und ihre Feingliederung²⁰⁵ hängt damit zu­ sammen, dass für Blumenberg die Schulmäßigkeit der antiken Rhetorik, für die Quintilians Manual einstehen mag, im antiken Wirklichkeitsbegriff einer „voll­ kommene[n] Kongruenz von Logos und Kosmos“ aufgeht. Es sei, so fasst es diese prominente Stelle, nicht zufällig, dass die Metapher „in die Lehre von den Orna­ menten der öffentlichen Rede“ eingeordnet worden sei. Darin sei sie „nur Mittel der Wirkung“ (PM, 12), erlange aber nicht die Reichweite, die mit der absoluten Metapher als Grundbestand der philosophischen Sprache verbunden sein soll. Gleichwohl bedarf es zu ihrem Entwurf einer Kontrastfolie. Im schulmäßigen Ver­ ständnis sei Rhetorik „nur [. . . ] eine sachgemäße Vollstreckung und Verstärkung“ der Wahrheitsqualität. Ihr werde „gar nicht das Was, sondern nur das Wie spezi­ fisch“. Nach der platonischen Abwertung sei sie „zum bloßen technischen Rüst­ zeug“ (PM, 13) geworden. Diesem Schema folgen auch weitere der zu Beginn ge­ troffenen Unterscheidungen.²⁰⁶ Blumenberg will ein neues Verständnis erst der Metapher und später der Rhetorik dadurch erlangen, dass er zunächst ein älteres benennt und als reduktiv ausweist. Erst nach diesem Schritt erfährt das Abgewer­

203 Anselm Haverkamp hat darauf hingewiesen, dass „pratum ridet“ bei Quintilian gar nicht vorkommt. Vgl. Haverkamp, Epochenschwelle und Anachronie, und die weiterführenden Hin­ weise zur Theorie- und Rezeptionsgeschichte dort. 204 „Dass die Übertragung in sich das Zeug hat zur selbst-überschreitenden Ersetzung des Über­ tragenen [. . . ]“. Haverkamp, Epochenschwelle und Anachronie, 249. 205 Es scheinen, beobachtet auch Rudolf Drux, „für die kulturgeschichtlichen Biographien be­ stimmter Metaphern, wie sie H. Blumenberg entfaltet hat, terminologische Differenzierungen im Sinne der rhetorischen Stillehre kaum eine Rolle zu spielen, so daß er beinahe alle T[ropen] un­ ter die als Elemente einer ‚Theorie der Unbegrifflichkeit‘ aufgefaßten Metaphern subsummieren kann.“ Rudolf Drux, „Tropus“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 9, hg. v. Gert Ue­ ding, Tübingen 2009, 809–830, hier: 827. 206 So gehe es darum, „den Bereich der Phantasie nicht nur als Substrat für Transformationen ins Begriffliche zu nehmen“. PM, 15.

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tete seine neuerliche Aufwertung, so die Metapher als ‚Restbestand‘ auf dem Weg zum Begriff: „Aber mehr noch: der Nachweis absoluter Metaphern würde auch jene zuerst genannten rudimentären Metaphern in einem anderen Lichte erschei­ nen lassen“ (PM, 14). Was aber, wenn das als reduktiv Ausgestellte bereits innerhalb der gefunde­ nen „authentischen Potenz der Metaphorik“ (PM, 13) insistierte? Der von Blumen­ berg forcierte Schritt über die Ornatus-Theorie hinaus ist zumindest in den Litera­ turwissenschaften zur Gewohnheit, wenn nicht Selbstverständlichkeit geworden. Ein Versuch der Restitution der dabei übersprungenen Ansprüche kann zeigen, dass, einerseits, möglicherweise bereits geschieht, was dort, um Blumenbergs ei­ gene Wendung zu gebrauchen, „theoretisch gar nicht ‚zugelassen‘ ist“ (PM, 14), und dass, andererseits, noch der Schritt darüber hinaus der Anleihen bei dem be­ darf, das verlassen wird. Es muss eine mögliche Wiederkehr des Ornaments, des Schmucks, der Systematik und der bloßen Mittelhaftigkeit geben, die gerade als Arbeit des Übersprungenen im Überspringen dezidiert keine konservativen Züge annimmt. Blumenbergs Entwurf bedient sich trotz der geschilderten Umgehung eines Vokabulars und einer argumentativen Struktur, die von Quintilian her bekannt vorkommen. Das dem ‚nicht nur‘ systematisch entgegensetzte ‚mehr‘ wird mit dem Begriff der ‚Leistung‘ verbunden. Obwohl es dem rhetorischen und Gefal­ len an der Wahrheit weckenden Kunstmittel der translatio nicht zugetraut worden sei, sei in Metaphern ein „Mehr an Aussageleistung“ immer schon erbracht wor­ den (PM, 13). Quintilians Erinnerung, dass die Metapher mehr ‚leisten‘ oder, wie Ferdinand Friedrich Baur übersetzt, „besagen“²⁰⁷ müsse als das, was sie verdrän­ ge („plus valere eo, quod expellet“), hatte dieses Problem, wenn auch in gänzlich anderem Zuschnitt, schon berührt. Strukturell betrachtet, verdrängt die absolute Metapher die nicht-absolute Metapher genau deswegen, weil sie mehr leisten soll. Absolut wird die Metapher, weil sie sich nicht – kreisschlüssig – „ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen“ (PM, 14) lässt, sondern die ihrerseits an Metaphern ablesbare „Gegenform der Heimkehrlosigkeit, der Irreversibilität, der Nicht-Kreis­ förmigkeit“ (PM, 33) ausstellt.²⁰⁸ Zum Ende der Einleitung der Paradigmen zu einer Metaphorologie ersetzt Blu­ menberg die antike translatio durch ein Übertragungsmodell aus einem ganz an­ deren Kontext: mit der von Kant im § 59 der Kritik der Urteilskraft für das „Symbol“ gefundenen Beschreibung der „Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand 207 Quint. Inst. VIII 6,18 [Marcus Fabius Quintilianus: Anleitung zur Beredtsamkeit, übers. v. Fer­ dinand Friedrich Baur, Stuttgart 1864, 708]. 208 Zur Korrelation des Aufbrechens der Kreisschemas mit dem Schema der Metapher vgl. Ab­ schnitt 4.4.

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der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschau­ ung direkt korrespondieren kann“.²⁰⁹ An die Stelle der Setzung in der tropischen Übertragung („in tropis ponuntur verba alia pro aliis“)²¹⁰ rückt nun die „Unter­ legung einer Vorstellung, die mit dem Gemeinten nur die Form der Reflexion ge­ meinsam hat, nicht aber Inhaltliches“ (PM, 15).²¹¹ An die Stelle des ‚ponere‘ rückt das ‚supponere‘, das ‚an die Stelle setzen‘²¹² meinen kann. Was aber, wenn der ganz andere Begriff hier schon der der absoluten Meta­ pher wäre? Kants „Symbol“, dessen Bezeichnung wiederum nicht übernommen werden soll (vgl. PM, 15), liefert dann sowohl die Beschreibung der Struktur als auch, weil es in der Platzierung bereits die ‚Übertragung einer Form der Reflexi­ on‘ ausstellt, die Umsetzung dieser Struktur. Kants Theorie der Unterlegung wird hier ihrerseits ganz anderem unterlegt. Zurück bleibt das ‚an die Stelle setzen‘ selbst, hier veranschaulicht als Übertragung des Symbols auf die Stelle der ver­ worfenen schulmäßigen Rhetorik und deren Eigentum der translatio. Diese Bewe­ gung lässt sich, mit Quintilian, als eine zugleich metaphorische und katachresti­ sche beschreiben. Metaphorisch ist sie, weil der besetzte Platz der einer anderen Bedeutung – nämlich der metaphora – ist, und katachrestisch, weil eine Benen­ nung weiterhin fehlen muss. Gäbe es eine angemessene Definition der absoluten Metapher, gäbe es vielleicht gar keine absolute Metaphern; und es bräuchte auch nicht die mutatio der translatio durch die ‚Übertragung der Form der Reflexion‘.

Affizierbarkeit durch Texte In der Einleitung zu den Paradigmen stellt die Institutio oratoria das implizite Mo­ dell, von dem sich Blumenbergs Ansatz so weit abhebt, dass er es schon gar nicht mehr wahrnimmt. Die Aufnahme des „pratum ridet“ geschieht in rezeptionsge­ schichtlicher Situation, nämlich an dem Punkt, an dem Kant es ebenfalls in re­ zeptionsgeschichtlicher Situation aufgreift.²¹³ Im § 59 fällt es unter die Beispiele, die „auch dem gemeinen Verstande gewöhnlich“ seien.²¹⁴ In der Zuspitzung des 209 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hg. v. Heiner F. Klemme, Hamburg 2009, B 257. 210 Quint. Inst. IX 1,5. 211 Zum Aufsatz „Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes“ in diesem Kon­ text vgl. Haverkamp, Stellenkommentar, 271. 212 Joseph M. Stowasser, Michael Petschenig und Franz Skutsch, Stowasser. Lateinisch-deut­ sches Schulwörterbuch, München 2006, 498. 213 „Wir nennen Gebäude oder Bäume majestätisch und prächtig, oder Gefilde lachend und fröh­ lich“. Kant, Kritik der Urteilskraft, B 256. Vgl. hierzu sowie zur weiteren Rezeptionsgeschichte: Haverkamp, Epochenschwelle und Anachronie sowie Haverkamp, Stellenkommentar, 268–271. 214 Kant, Kritik der Urteilskraft, B 256.

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Arguments auf das kantische Symbol wird ein Grenzbereich zweier Übertragungs­ begriffe markiert, zwischen denen Blumenberg einen dritten einbringt. Im „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“ (1979) findet sich eine längere Passage zu ‚Quintilians‘ Wiese, sie wird aber wiederum nicht im Horizont der Stillehre besprochen: Um Quintilians viel strapaziertem Beispiel zu folgen, ist es ein Unfall des glatten Ablaufs der Information, wenn die auf eine Wiese angesetzte Intention überraschend und außerhalb des Spielraums typischer Erwartung zum Prädikat überspringt, diese Wiese lache: pratum ridet. Um die Leistung des Textes scheint es geschehen zu sein, bis die ‚Entschuldigung‘ sich einstellt, keine Aufreihung der erwarteten Sachprädikate könne jemals über eine Wiese die Information vermitteln, die in dem einen Ausdruck ihres Lachens beschlossen liegt. Er hätte in keiner deskriptiven Sprache etwas zu suchen. Doch wäre es auch falsch zu sagen, dies sei bereits Dichtung in nuce, wie viele Dichter auch Wiesen haben lachen lassen mögen. (Ausblick, 194–195)

Blumenberg verortet die metaphorische Formulierung zwischen Text und Erwar­ tung.²¹⁵ Nachbarschaften zu anderen Tropen spielen vordergründig ebenso wenig eine Rolle wie die Rezeptionsgeschichte. Vielmehr geht es um die Affizierbarkeit des phänomenologischen Bewusstseins durch Texte („sofern es von Texten ‚affi­ ziert‘ wird“, Ausblick, 194). Affizierbar ist das Bewusstsein in zweifacher Weise: si­ tuativ-phänomenal und strukturell. Aus dieser Trennung ergibt sich ein logisches Problem. Blumenbergs Argument setzt folgendermaßen ein: Für die intentionale Leis­ tungsstruktur bedeute jede Metapher eine Gefährdung ihrer „Normalstimmig­ keit“. Sowohl ‚die Metapher‘ als auch ‚das Bewusstsein‘ sind hier bereits vorausge­ setzt. Letzteres bildet den Ort, von dem aus die Metapher verstanden wird – nicht als fundamentale Gefährdung, sondern als Gefährdung seiner regulären Stim­ migkeit. Gegenüber dieser Stimmigkeit ist die Metapher ein irreguläres Element, welches repariert werden kann. Innerhalb dieser Konstruktion wäre nun zu er­ warten, dass die Reparatur zu einem Rückbau der metaphorischen Unstimmigkeit führt. Die Reparatur führt aber nicht zu einem Rückbau, sondern zur „Erklä­ rung des exotischen Fremdkörpers zur ‚bloßen Metapher‘“. Dies sei „ein Akt der Selbstbehauptung: die Störung wird als Hilfe qualifiziert.“ Anscheinend rühr­ te die Störung gar nicht von ‚der Metapher‘, sondern von dem her, was Begriff nicht sein kann und zur Metapher erst erklärt werden muss. „Das zunächst de­ struktive Element wird überhaupt erst unter dem Druck des Reparaturzwangs der gefährdeten Konsistenz zur Metapher.“ (Ausblick, 194) Die zur Hilfe umge­

215 Haverkamp erkennt in dieser Passage die „Funktion der Zuwendung der Metapher zur Le­ benswelt“. Haverkamp, Stellenkommentar, 270.

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schriebene Störung stört auch weiterhin. Der Akt der Selbstbehauptung ist ein Akt der Selbsttäuschung. Die zur Metapher deklarierte Störung darf nun stören, und nur vermeintlich stört sie nicht mehr auf fundamentale, die Möglichkeit der Selbstbehauptung angreifende Weise. Wenn sie doch auf fundamentale Weise gestört haben sollte, würde das be­ deuten, dass nicht nur die anfängliche Metapher ihren Setzungscharakter ein­ büßte, sondern auch das Bewusstsein. Es muss als Ganzes auf dem Spiel ge­ standen haben, wenn sich am verübten deklarativen Akt eine Geste der Selbst­ behauptung ablesen lässt. Nicht die Metapher, aber das, was mit dem Namen ‚Metapher‘ zurückgedrängt wird, rückt dann in die Zone seiner strukturellen Affi­ zierbarkeit auf. Eine strukturelle Affizierbarkeit bedeutet nicht sofort, auch nicht sein zu können, was ja hieße, dass zunächst gewesen sein muss, sondern nur, dass sich dieses ‚Auch-nicht-sein-Können‘ nicht vollends in seine Umkehrung überführen lässt. „Die Metapher aber ist zunächst, um mit Husserl zu sprechen, ‚Widerstimmigkeit‘. Diese wäre tödlich für das seiner Identitätssorge anheimgege­ bene Bewußtsein; es muß das ständig erfolgreiche Selbstrestitutionsorgan sein.“ (Ausblick, 194) Wenn die Metapher als Widerstimmigkeit tödlich wäre für das Bewusstsein, kann sie auch als umgewidmete Störung keine große Hilfe sein. Die Verwendung des Namens ‚Metapher‘ depotenziert nicht. Sie verdeckt lediglich das Misslingen der Depotenzierung. Der Akt der Selbstbehauptung bezeugt, dass es überhaupt nichts zu behaupten gibt. Vielmehr reduziert sich nun das, was als ‚Bewusstsein‘ eingeführt worden war, auf den Vorgang der Bekräftigung seiner fortwährenden Nicht-Realisierbarkeit. Die Affizierbarkeit des Bewusstseins durch Texte meint dann mehr, oder eher: weniger als ein phänomenal beruhigtes Lesen.

Setzen, stellen, legen Mit Blick auf Quintilians Tropenkapitel fasst Patricia Parker die Bewegung der Ka­ tachrese als „Übertragung von Ausdrücken von einem Platz an einen anderen, die dann verwendet wird, wenn kein eigentliches Wort besteht.“²¹⁶ Im katachres­ tischen Zug in der Anlage der Metaphorologie zeigt sich die Hypothek der antiken Rhetorik. Im katachrestischen Zug in der Anlage der absoluten Metapher – sie springe in eine Leere ein (vgl. PM, 189) – ist aber auch das tertium comparationis erkannt worden, das eine Nähe zu dekonstruktiven Analysen rhetorischer Verfah­ ren herstellt. Dirk Mende zufolge bestehe eine unausgesprochene Einigkeit zwi­ schen Derrida und Blumenberg „über den Charakter der quasi-metaphorischen 216 Patricia Parker, „Metapher und Katachrese“, in: Die paradoxe Metapher, hg. v. Anselm Ha­ verkamp, Frankfurt am Main 1998, 312–331, hier: 312.

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‚Gründer‘-Tropen und den absoluten Metaphern: Es handelt sich um katachresti­ sche Setzungen.“²¹⁷ Dabei erschließe und konstituiere die absolute Metapher „ei­ nen unerfahrbaren Totalhorizont oder parafiguralen Gegenstand“.²¹⁸ Die Stelle in den Paradigmen lautet: „Obwohl es seit Kants Antinomien müßig ist, über das Ganze der Welt theoretische Aussagen zu machen, ist es doch keineswegs gleich­ gültig, nach den Bildern zu fahnden, die dieses als Gegenständlichkeit unerreich­ bare Ganze ‚vertretend‘ vorstellig machen.“ (PM, 29) Anders als bei Blumenberg, der zu diesem Zweck gegeneinander isolierte metaphorische Komplexe behandele, trete bei Derrida die „Manifestation der la­ tenten metonymischen Verknüpfungen einer sprachlich-kulturellen Syntax“²¹⁹ in den Vordergrund und damit die „Vernetztheit von Metaphern untereinander und in der Sprache“.²²⁰ Indem der katachrestische Charakter absoluter Meta­ phern sichtbar werde, zeige sich ihre Differenz zur und auch ihre Nachrangigkeit gegenüber metonymischen Relationen. Mit Paul de Man stellt Mende weiter heraus, dass absolute Metaphern leere und „bodenlose Setzungen“ seien, die ihren eigenen Setzungscharakter verstell­ ten.²²¹ In de Mans „The Concept of Irony“ (1977) bezieht sich die Leere der mit Jo­ hann Gottlieb Fichte und Friedrich Schlegel diskutierten Katachrese aber auf den Setzungsakt selbst, nicht auf das Wohinein dieser Setzung: „a purely empty, posi­ tional act“.²²² Die Leere des Setzungsakts ist etwas anderes als die Setzung in eine Leere. Die Leere des Setzungsakts bleibe unbegründbar und begründe doch ein System – nämlich das tropologische, in dem Merkmale oder Eigenschaften („pro­ perties“) ungehindert von einem Ort an den anderen verschoben werden können. Es sei „a result of this original act of positing“. Dieses System steht in einem mehr­ fachen Bezug zur Rhetorik: Es ist nicht nur auf Grundlage eines katachrestischen Setzungsaktes errichtet; es funktioniert, indem es das Eine durch das Andere aus­ tauschbar sein lässt, nach dem Modell der metaphorischen Substitution („based on the substitution of properties“).²²³ Schließlich kann innerhalb dieses Systems zirkulieren, was bereits in seine Gründung eingegangen ist, nämlich die Tropen selbst („the circulation of tropes, within a system of knowledge“).²²⁴ Der Bezug zu Fichte liegt darin, dass das System einen dialektischen und reflexiven Zug auf­ 217 Mende, Metapher, 227. 218 Mende, Metapher, 228. 219 Mende, Metapher, 201. 220 Mende, Metapher, 223. 221 Vgl. Mende, Metapher, 229. 222 Paul de Man, „The Concept of Irony“, in: ders., Aesthetic Ideology, hg. v. Andrzej Warminski, Minneapolis/London 1996, 163–184, hier: 173. 223 de Man, Concept of Irony, 176. 224 de Man, Concept of Irony, 174.

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nimmt. Der leere Akt, der es begründet, ist jedoch, de Man zufolge, ‚eher ein per­ formativer‘ als ein ‚kognitiver‘. Das System basiert auf einem Performativ, steht also nicht auf festem Grund. Die bei Schlegel aufgenommene Ironie hebt es auf: „The reflexive and the dialectical are the tropological system, the Fichtean system, and that is what irony undoes.“²²⁵ Quintilian hatte vor allem das ‚Wohin‘ der Setzung in den Blick genommen. Lässt sich das ‚Einspringen in eine Leere‘ noch in Deckung bringen mit dem ka­ tachrestischen Zug in der translatio? Mit dem „vacantem locum occupare“ ist ei­ ne Bewegung benannt, die auf einen Platz bezogen ist, der besetzt gewesen sein oder werden kann. Das verdeutlicht auch der Passus, in dem die Katachrese in Differenz zur Metapher bestimmt wird: „um Katachrese handelt es sich da, wo ei­ ne Benennung fehlte, um Metapher, wo sie eine andere war“.²²⁶ Eine Benennung fehlte nicht überhaupt, sondern sie fehlte an einem bestimmten, prinzipiell be­ setzbaren Ort innerhalb eines Stellensystems („ubi“). Demgegenüber bleibt das Einspringen in eine Leere unbestimmter, die Bewegung provisorischer und de­ fätistischer. Wer in eine Leere einspringt, gewinnt (besetzt, verdrängt, benennt) nicht, sondern verliert.²²⁷ Achtet man nun darauf, wie Quintilians ‚ponere‘ (‚setzen, stellen, legen‘) auf den ersten Seiten der Paradigmen – ob in direkter oder indirekter Rezeption, spielt keine Rolle – umbesetzt wird, wird der thetische Charakter der absolu­ ten Metapher fraglich. Von Kant wird die Unterlegung einer ‚Form der Reflexion‘ übernommen. Der Satz, der die Einführung der absoluten Metapher vorbereitet, nimmt seinen eigenen Setzungscharakter zurück: „Dann aber können Metaphern, zunächst rein hypothetisch, auch Grundbestände der philosophischen Sprache sein“ (PM, 14). In der ‚Leere‘ handelt es sich eher um eine Aporie: „Einer Ana­ lyse muß es ja darauf ankommen, die logische ‚Verlegenheit‘ zu ermitteln, für die die Metapher einspringt“ (PM, 13–14). Die „Verlegenheit“ ist nicht nur eine Unentschlossenheit, sondern sie schließt einen topologischen und potentiell tropologischen Vorgang ein: Das „ver in seiner bedeutung ‚hinweg‘ bewirkt ei­ ne änderung der bedeutung des stammwortes. verlegen, hinweglegen, an einen andern ort legen“.²²⁸ Das ‚ponere‘ der antiken Rhetorik wird in Blumenbergs An­ kündigung – es handelt sich um Paradigmen zu einer Metaphorologie – aus drei Richtungen unterlaufen: als Bewegung des Supponierens, als Verlegenheit der 225 de Man, Concept of Irony, 181. 226 Quint. Inst. VIII, 6, 35. 227 In „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ (1971) gibt es jedoch eine Formulierung, die das occupare deutlich wiederaufnimmt: Die Metapher sei „ein projektives Ele­ ment, das sowohl erweitert als auch den leeren Raum besetzt, ein imaginatives Verfahren, das sich im Gleichnis seine eigene Konsistenz schafft.“ Annäherung, 132. 228 Grimmsches Wörterbuch, Band 25, Leipzig 1956, Sp. 759 [meine Hervorhebung, A.W.].

2.4 Absolute Tropen: Im Vorfeld der Metaphorologie (Quintilian)

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Leere sowie in Form einer Hypothese. Zwischen dem Einspringen für (für eine Aporie und nicht für ein Wort) und Einspringen in (eine Leere und nicht an einen Platz) verliert sich die Feststellung, die mit Quintilians „ubi“ verbunden ist. Es handelt sich also weder um eine absolute Leere noch um einen freien Platz innerhalb eines Systems und auch nicht um eine Stelle oder Position. Zieht man zudem in Betracht, dass auch absolute Metaphern ‚Geschichte haben‘, und zwar „in einem radikaleren Sinn als Begriffe“, kann die Leere bereits durch Metaphern überschrieben oder sogar vorgeprägt sein. Eine Metapher kann „ersetzt bzw. ver­ treten oder durch eine genauere korrigiert werden“ (PM, 16). Es kann aber auch, wenn die metaphorische Funktion überdehnt wird, „die Allegorie in die Funktion der Metapher einspringen“ (PM, 32). Weder das, wohinein eingesprungen wird, noch das, was einspringt, hat einen eigenen Ort. Deswegen lassen sich, was die absolut genannten Metaphern betrifft, auch nur „Kriterien für deren Feststellung [. . . ] erproben“ (PM, 16). Anstelle von verortbaren Bewegungen innerhalb eines Systems von Stellen lassen sich vielmehr stellenlose, unverortbare Anstrengun­ gen verzeichnen. In der Struktur der Ersetzung handelt es sich – de Mans For­ mulierung gebrauchend – nicht um eine Zirkulation von „properties“, sondern um die Ablösung von ‚improperties‘. Dies ist für den Entwurf zu einer Metapho­ rologie entscheidend. Die berühmten „vermeintlich naiven, prinzipiell unbeant­ wortbaren Fragen“, die „wir [. . . ] nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund ge­ stellte vorfinden“ (PM, 27), können gefunden, aber nicht explizit formuliert wer­ den. Wenn somit die Leere vorgezeichnet ist durch vorfindbare Fragen, hält ein neues Stellensystem Einzug: das System der überzeitlich gestellten Fragen. Wenn Blumenberg die „Relevanz“ dieser Fragen damit begründet, daß sie als gestellte „nicht eliminierbar sind“ (PM, 27), und sie mit einer unübergehbaren „Insistenz“ (PM, 28) ausstattet, liegt allerdings eine Interpretation näher, die das Gestelltsein als insistierenden, „präsystematischen“ (PM, 19) Restbestand versteht.²²⁹ Anders lässt sich nicht erklären, warum beispielsweise, wie Blumenberg andernorts na­ helegt, „die christliche Lehre Antworten auf Fragen parat hat, die vordem nicht gestellt waren.“²³⁰ Es gibt eine Verbindung zwischen der Irreduzibilität der Fragen

229 Ähnlich ist die Konstruktion in Arbeit am Mythos: „Den philosophisch disziplinierten Spät­ lingen will es immer so scheinen, als seien über die Bewußtseinsgeschichte der Menschheit hin­ weg Fragen gestellt und daraufhin Antworten versucht worden, deren Unzulänglichkeit sie der Verdrängung durch andere Antworten auf dieselben Fragen auslieferte.“ AM, 203. Gegenüber die­ ser Tendenz zur ‚Dogmatisierung‘ betont Blumenberg, dass die mythischen ‚Geschichten‘ „eben nicht erzählt“ worden seien, „um Fragen zu beantworten, sondern um Unbehagen und Ungenü­ gen zu vertreiben, aus denen allererst Fragen sich formieren können.“ AM, 203–204. 230 So pointieren die HerausgeberInnen des Bandes zum ‚Dämonischen‘ in ihrer Einleitung: Lars Friedrich, Eva Geulen und Kirk Wetters, „Einleitung. Dämonen, Dämonologien und Dämo­

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und der Irreduzibilität der Metaphern. Sie lässt sich über die beiden gemeinsame Geschichtlichkeit herleiten. Diese Konstellation bewegt sich in den Bahnen des Modells, das sie als Struk­ turvorlage vorschlägt (Kant), entspricht aber auch der Vorgabe des Modells, das sie unbesehen verwirft (Quintilian). Der katachrestische Charakter absoluter Me­ taphern lässt sich nicht trennen von der Art und Weise der Einführung der Meta­ phorologie. Paradoxerweise ist es das Wiederaufkommen des Verworfenen – des Systems der Tropen –, das die Struktur eines tropologischen Systems, welches sich aufgrund der ‚bodenlosen Setzung‘ in der absoluten Metapher hätte ankün­ digen können, stört und unterbricht. Für das entwickelte Theorem – die absolute Metapher – springt ganz anderes ein (Kants § 59), und das, was sich derart „auf der tabula rasa des theoretisch Unerfüllbaren“ (PM, 189) entwirft, besagt nichts anderes als das, was in diesem Vorgang geschieht, nämlich zunächst eine Unter­ stellung zu sein. Dieses Verfahren erschwert die geradlinige Argumentation. Zwar kann unter­ schieden werden zwischen dem, was Blumenberg über absolute Metaphern (dass sie in eine Leere einspringen) und über Metaphorologie (dass Metaphorologie ein Verfahren ist) schreibt, und dem, was in diesem Schreiben geschieht, aber Effekt dieser Unterscheidung ist eine erneute Annäherung des Schreibens an das Be­ schriebene und des Beschriebenen an das Schreiben. Der Zusammenfall, der in einer bloßen Entsprechung läge und nach dem Modell des tropologischen Sys­ tems organisiert wäre, wird abgewehrt – zum Beispiel durch das Insistieren des­ sen, was als Beschriebenes überwunden werden sollte, aber im Schreiben weiter Wirkung zeigt.

Eine Wendung vor der Wendung Die Leere, die keine Leerstelle ist, ist kein zeitloses Nichts. In den Schlusssätzen der Paradigmen tritt sie als mehrfacher zeitlicher Versatz auf: Die absolute Metapher, so sahen wir, springt in eine Leere ein, entwirft sich auf der tabula rasa des theoretisch Unerfüllbaren; hier [in der ‚unvernünftigen Notwendigkeit‘ bei Nietz­ sche, A.W.] hat sie die Stelle des nicht mehr lebendigen absoluten Willens eingenommen. Metaphysik erwies sich uns oft als beim Wort genommene Metaphorik; der Schwund der Metaphysik ruft die Metaphorik wieder an ihren Platz. (PM, 188–189)

nisches: Machtkämpfe, Verteilungsstrategien“, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg. v. Lars Friedrich, Eva Geulen und Kirk Wetters, Paderborn 2014, 9–23, hier: 14, mit dem zentralen Hinweis, dass die ‚Systemstellen von Frage und Antwort‘ verkehrbar sein müssen.

2.4 Absolute Tropen: Im Vorfeld der Metaphorologie (Quintilian)

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Bevor die Metapher zum Zug kommt, sind bereits Verschiebungen am Werk. In­ dem sich die absolute Metapher auf einer tabula rasa entwirft, ist sie, zwischen Auslöschung und Wiederbeschreibung, ein Phänomen der Zeitlichkeit und Ma­ terialität der Schrift. Sie hat nicht die „Stelle“ des „lebendigen absoluten Wil­ lens“ eingenommen („occupare“), sondern die, die sich auftut, wenn es um ei­ nen „nicht mehr lebendigen absoluten Willen“ (PM, 189, meine Hervorhebung, A.W.) geht. Wenn sie an ihren Platz gerufen wird, verdankt sich dieser Ruf einem Schwund, einem „zustand, da etwas schwindet, allmählig sich vermindert, ver­ kleinet, verliert, vergehet“.²³¹ Das ‚nicht mehr‘ ist ihr Platz.²³² Diese Bewegung geht dem Einspringen voraus. Sie verbindet sich aber zugleich damit, insofern die Metapher nur ein, wie es in Höhlenausgänge (1989) heißt, „prekäre[s] Substitut“ (H, 781) ist. Der Schwund betrifft also auch die bereits eingesprungene Metapher. Mit Ha­ verkamps Stellenkommentar lässt sich die Bewegung als ein „Einspringen ohne Erfüllung“, das noch „als Kompensation verfehlt und im Kompensieren illuso­ risch“ bleibt, fassen.²³³ In leichter Modifikation der These von Mende kann man sagen, dass absolute Metaphern erst in diesem Scheitern einen katachrestischen Setzungscharakter annehmen, der so zu einer vorangegangenen wie kommenden Aussetzung geöffnet bleibt. Blumenbergs Postulat der Geschichtlichkeit „in einem radikaleren Sinn“ (PM, 16) lässt sich hierauf beziehen als das Zusammenspiel von Destruierbarkeit und Ablösung. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass sich diese Schwierigkeiten schon in der Einführung des theoretischen Problems der absoluten Metapher stellten. Der Überholtheit der schulmäßigen Rhetorik wurde mit der ‚Unterle­ gung einer Form der Reflexion‘ aus einem ganz anderen Gebiet begegnet. Kants § 59 fungiert bereits als „prekäre[s] Substitut“ (H, 781), um die Struktur der pre­ kären Substitution herzuleiten. Die Rede von der absoluten Metapher, der sich bestimmte Eigenschaften oder Tätigkeiten zuschreiben lassen, ist keinesfalls hin­ reichend. Der Nachweis absoluter Metaphern belastet sich mit der Schwierigkeit, dass überhaupt gar nicht klar sein kann, was überhaupt nachgewiesen werden soll. Anstelle von Belegen stehen Lektürekonstellationen. Die methodische Poin­

231 Grimmsches Wörterbuch, Band 15, Leipzig 1899, Sp. 2755 [meine Hervorhebung, A.W.]. 232 Hier wird die strukturelle Zeitlichkeit als ein Moment der Verräumlichung interpretiert; es finden sich Passagen, die demgegenüber strikter räumlich organisiert sind. So ist in Paradigma X die Rede davon, dass die Metapher „in die begreifend-begrifflich nicht erfüllbare Lücke und Leerstelle einspringt“. PM, 173. Auch hier ist die Leere jedoch kein Ort in einem Stellensystem, sondern ein unerfüllbarer Rest, der insofern einen zeitlichen Index hat, als diese Unerfüllbarkeit sich ja zunächst erweisen muss, ehe sich eine Lücke auftut. 233 Haverkamp, Stellenkommentar, 455–456.

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te liegt darin, dass die behandelten Texte keine Beweise für das Vorkommen des eingangs Behaupteten liefern, sondern an der Struktur dessen, was mit ihrer Hilfe nachzuweisen sein soll, mitarbeiten. Blumenberg ist also keineswegs sparsam, was die Ausarbeitung der absoluten Metapher betrifft, sondern enorm freigiebig. Die Wendung, das Zurückspielen des Problems an die Texte, die die Frage nach der absoluten Metapher bereits beantwortet, ohne begriffliche Antworten gege­ ben zu haben, bildet die letzte der hier nachzuvollziehenden Umwidmungen. Indem sich Blumenbergs Entwurf derart belastet, nimmt er selbst eine „Hy­ pothek der Probleme“ (SÄ, 60) auf. Mir kommt es auf diese verfahrenstechnische Wendung (τρόπος) selbst an. Es ist eine Wendung, die nicht tropologisch – im ¯ oder der Zirkulation von „properties“ – funktioniert, sondern als Sinne der motus eine Richtungsänderung, als ein „vector, a directional motion that is manifest only as a turn“.²³⁴ Haverkamp nimmt auf diese Formulierung de Mans Bezug, wenn er nach Empson und Blumenberg eine „Wendung, die noch kein Zeichen und noch kein Name ist“ als eine „nicht weiter hintergehbare [. . . ] Hypothek“ beschreibt.²³⁵ Die stets mögliche Vorausgängigkeit (vor der Figur, vor der Bezeichnung) eines solchen turn lässt sich als „tropische Fähigkeit“²³⁶ zusammenfassen; für sie gilt, was Haverkamp von Rodolphe Gaschés „Quasi-Metaphorizität“ sagt: Sie darf „nicht als Angebot eines Generalnenners mißverstanden werden, der als (metaoder quasi-)‚metaphoricity‘ allen Paradigmen der Metaphorologie zugrunde lie­ gen sollte“.²³⁷ Diese ‚tropische Fähigkeit‘ ist im Sinne einer „Anerkennung der immer schon tropischen – d. h. weder ‚eigentlichen‘ noch ‚uneigentlichen‘ – Dif­ ferentialität der Sprache“²³⁸ zu verstehen. Sie ist weniger mit dem in Verbindung zu bringen, was Blumenbergs Texte behaupten, als mit dem, was in ihnen, der Fokussierung auf den Namen ‚Metapher‘ durchaus und gegenläufig, geschieht. Sie bleiben anfällig für die Strukturlogiken des in ihnen Beschriebenen, der ent­ worfenen wie verworfenen. Die Hypothek ist nicht mehr „an der poetischen und der philosophischen Sprache“²³⁹ festzumachen, sondern schon an der Art des Zugangs zu dieser Sprache. Die Analyse darf nicht – teleologisch – bei einem ‚nicht weiter Hintergehbaren‘ enden; ‚Lesbarkeit‘, so die im Folgenden weiter ver­ folgte These, beschreibt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit solchen Hypotheken.

234 Paul de Man, „Pascal’s Allegory of Persuasion“, in: ders., Aesthetic Ideology, Minneapolis 1996, 51–69, hier: 56, zit. n. Haverkamp, Metapher, 73. 235 Haverkamp, Metapher, 73–74. 236 Haverkamp, Metapher, 62. 237 Haverkamp, Metapher, 67. 238 Tholen, Zäsur der Medien, 44. 239 Haverkamp, Metapher, 73.

3 Ansprüche der Lesbarkeit 3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte Eine umfassende Untersuchung von Hans Blumenbergs Die Lesbarkeit der Welt (1981) steht noch aus. Im Folgenden werden zunächst Grundlinien der Argumen­ tation erschlossen, daneben Schnittmengen mit anderen Arbeitszusammenhän­ gen und Vorläuferstudien benannt. Analysen einzelner Kapitel (X, XV, XXII) ver­ tiefen diesen Zugang. Um den theoretischen Ansatz des Buches zu umreißen, ist die Interpretation als metaphorologische Fallstudie ebenso zu hinterfragen wie eine anthropologische Lesart. Stattdessen kann eine Spannung herausgearbeitet werden zwischen Blumenbergs Verfahrenstechnik und dem über die Buchmeta­ phorik transportierten „Vorgriff auf das Ganze“ (LW, 68).¹

Anspruch als Prätention In Die Genesis der kopernikanischen Welt (1975) wird die beobachtete „epocha­ le ‚Energie‘“ nicht unmittelbar aus den kosmologischen Thesen des Kopernikus hergeleitet, sondern aus einem hintergründig wirksamen „Wahrheitsanspruch“; ohne diesen „wären die anthropologischen und metaphysischen Folgerungen aus der Preisgabe der Geozentrik [. . . ] kaum artikuliert worden“ (G, 308). In Der Pro­ zeß der theoretischen Neugierde (1973) thematisiert Blumenberg das Aufkommen eines neuen ‚Anspruchs auf Erkenntnis‘ ausführlich. Mithilfe einer ähnlichen Per­ spektivverschiebung sollen in der Lesbarkeit der Welt substantielle Erwartungen, und zwar in historischer Perspektive, aufgeschlossen werden. Eröffnet wird dieses Untersuchungsfeld durch die Umformung von zwei der kantischen Großfragen: „Was war es, was wir wissen wollten?“ und „Was war es, was wir erhoffen durften?“ (LW, 9) An mehreren Stellen hat Immanuel Kant den Arbeitsbereich der Philosophie durch drei² bzw. vier Fragen strukturiert, so in den Logikvorlesungen. Dort un­ terscheidet er zwischen der Philosophie nach dem „Schulbegriff“ – sie könne als einzige Wissenschaft einen systematischen Zusammenhang aller Wissenschaften stiften – und einer ‚reinen‘ Philosophie in „weltbürgerlicher Bedeutung“: Letzte­

1 Es ist eine Ironie der Publikationsgeschichte, dass das Buch zum Buch der Natur als vorab veröffentlichtes Kapitel einer umfassenden Monographie geplant war, zu der es jedoch nie ge­ kommen ist. Vgl. von Bülow/Krusche, Nachwort, 283–284. 2 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 833. https://doi.org/10.1515/9783110692426-003

90 | 3 Ansprüche der Lesbarkeit

re sei Wissenschaft „von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft“, ihr Gebiet durch die Fragen vorgegeben: „1) Was kann ich wissen? – 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch?“³ An Blumenbergs Va­ riation fällt neben dem Präteritum auf, dass sie die Fragen (2) und (4),⁴ also zur Moral und Anthropologie, ausspart und allein die Fragen zur Metaphysik (1) und Religion (3) herausgreift.⁵ Das Strukturproblem der Lesbarkeit der Welt ist, in ers­ ter Annäherung, in der historischen Interdependenz der beiden Fragekomplexe zu suchen, was sich etwa in der Konkurrenz zwischen dem ‚zweiten‘ (dem Buch der Natur) und dem ‚ersten‘ (der Bibel) manifestiert.⁶ In Blumenbergs Rückblick wird aus der Frage nach Reichweite und „Quellen des menschlichen Wissens“⁷ die nach nicht explizit tradierten Rückständen dessen, was gewusst werden soll­ te. Anstatt von der ersten Person Singular geht Blumenberg von der ersten Per­ son Plural aus. Sie zeigt weniger einen universalen Fixpunkt als Intersubjektivität über Zeit an.⁸ Die Geistesgeschichte besetzt gewissermaßen die Stelle des einzel­ nen Subjekts um. Kants Philosophie gerät damit in eine Doppelrolle. Sie dient dazu, das Unter­ suchungsfeld der Lesbarkeit der Welt abzustecken, aber sie ist auch ein Teil des­ selben. Im Mittelpunkt steht zunächst die prominente Formulierung, dass, wie Platon bemerkt habe, „unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis füh­ le, als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können“.⁹ Die für die Neufassung der ‚Ideen‘ zentrale Passa­

3 Immanuel Kant, Logik, in: ders., Werke: Akademie-Textausgabe, Band 9, hg. v. Gottlob Benja­ min Jäsche, Berlin 1987, 1–150, hier: 25. 4 Während die Bezugnahme auf die letzte Frage zumindest in Ansätzen in der Anlage der Studie entziffert werden konnte (z. B. Meyer, Lesbarkeit), gibt es noch keine Untersuchung zur ethischen Dimension der Lesbarkeit der Welt. Einen dahingehenden Versuch unternimmt Abschnitt 5.2. 5 Eine der ersten Rezensionen hat gesehen, dass im Grunde nur eine der Fragen ausdrücklich behandelt wird: „Blumenberg reicht die erste Frage, um für die Beantwortung der letzten schwarz zu sehen. Er führt, in dieser Hinsicht ganz antikischer Denker, nur den Verstehenswunsch aus.“ Caroline Neubaur, „Das Leben der Bilder und Zeichen. Eine die Wissenschaften übergreifende philosophische Summe – Hans Blumenberg ‚Die Lesbarkeit der Welt‘“, in: Die Zeit, 8. Oktober 1982, 8. Allerdings berücksichtigt diese Kritik nicht, dass das Aufkommen der Metaphorik an die Frage gebunden ist, wer den Welttext ‚verfasst‘ hat. 6 Gegen die „Konkurrenz“ der beiden Bücher betont Philipp Stoellger deren „Konvergenz“: Phil­ ipp Stoellger, „Genese als Grenze der Lesbarkeit. Über die Grenzen der Lesbarkeitsmetapher“, in: Genese und Grenzen der Lesbarkeit, hg. v. Philipp Stoellger, Würzburg 2007, 225–249, hier: 231–238. 7 Kant, Logik, 25 8 „Wir sind nicht allein die Gegenwärtigen“, so Manfred Sommers Formel für die mit dem Wir angezeigte Geschichtlichkeit: Sommer, Wirklichkeit, 364. 9 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 314.

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte | 91

ge¹⁰ gibt sehr genau Aufschluss über die Lage dieses Feldes: Wenn die Welt als Idee mit dem belegt wird, was zunächst nur den Übergang von Erscheinungen in Erfahrung strukturiert, lässt sich an der Lesbarkeitsmetaphorik ein Anspruch in Reinform isolieren: nämlich „unsere[] Erfahrungswelt“ (LW, 19) mit ‚Welt‘ über­ haupt in Deckung bringen zu wollen. Gleichzeitig wird deutlich, dass sich offen­ bar schon das Ausgangsverhältnis nicht in Begrifflichkeit auflösen lässt. Die Frage nach dem Ansatzpunkt der Studie kann daher von der Kritik der reinen Vernunft her gestellt werden (wie die nach der absoluten Metapher von der Kritik der Ur­ teilskraft her);¹¹ umgekehrt bleibt aber die Vernunft, nun als historisches Phäno­ men, von der Untersuchung nicht unbetroffen, im Gegenteil: Die Lesbarkeitsmetapher ist in der Aufklärung Leitfaden für die Geschichte der ständigen Unterwanderung einer sich als unbestechlich befindenden Vernunft durch die heimlichen Wünsche, die Welt möge mehr Bedeutung für den Menschen haben und ihm mehr zeigen, als vernünftigerweise von ihr erwartet werden darf. (LW, 199)

Die Vernunft, deren Reichweite qua Kritik beschränkt werden sollte, wird selbst als ein Maximalanspruch ersichtlich. Insofern argumentiert Blumenberg ‚mit‘ und ‚nach‘ Kant gleichermaßen. Mit ‚Lesbarkeit‘ ist die Hoffnung auf Sinnzugänglichkeit und Verfügbarkeit verbunden, die, dem Prinzip nach, auch dann noch im Spiel ist, wenn der Welt­ text als chiffriert oder unlesbar vorgestellt ist. Der Wunsch nach Sinnzugänglich­ keit steht in der Linie der ‚weit höheren Bedürfnisse der Erkenntniskraft‘. Er lasse sich „nur dem einen anderen Wunsch nach unmittelbarer Intimität vergleichen, der Gott selbst möge sich als eßbar erweisen, so daß zugleich von ihm nichts blie­ be und er doch ganz einverleibt würde: die Inkarnation als Ritual.“ (LW, 10) Dass sich die Welt als lesbar, der Gott als eßbar erweisen möge, ist die ihrerseits auf eine rhetorische Figur zurückgreifende Parallelführung auf der Ebene der Hoff­ nungen, deren Aufarbeitung die Studie gilt. In Erinnerung gerufen wird so der Unterschied von Realpräsenz und Zeichen. Die „Paradoxie von mittelbarer Mittei­ lung und unmittelbarer Wirksamkeit“ lasse sich aber, wie Bettine Menke zur Eu­ charistie herausstellt, weder in einer „Hypostasierung der Transsubstantiation“ noch mit Worten tilgen; mit der „Performanz der Gedächtnisakte“ zurück bleibe die Verwiesenheit an ein Zeichengeschehen.¹² Der Hinweis auf die Eucharistie ver­ 10 Blumenberg greift sie zu Beginn der Lesbarkeit der Welt in rezeptionsgeschichtlicher Situati­ on, im Neukantianismus, und als Beispiel für „die unverwüstliche Beanspruchbarkeit der alten Metapher“ auf, belässt es an dieser Stelle aber bei dem Hinweis auf Erfahrung. Vgl. LW, 19–20. 11 Vgl. Abschnitt 2.4. Im Nachlass finden sich Hinweise darauf, dass Blumenberg die absolute Metapher in Analogie zum Schematismus des Raumes konzipieren wollte. 12 Bettine Menke, „Eucharistie“, in: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, hg. v. Nicolas Pethes und Jens Ruchatz, Hamburg 2001, 158–159, hier: 159.

92 | 3 Ansprüche der Lesbarkeit

deutlicht nicht nur den Maßstab jener „elementare[n] Ansprüche des Menschen an die Welt“ (LW, 9), sondern greift auch auf ihre Enttäuschungen vor. Die Idee der ‚Welt als Buch‘ gerät mit der Welt der Zeichen in Konflikt. Bernhard Waldenfels hat am Ausdruck ‚Anspruch‘ die Bedeutungen ‚Appell‘ und ‚Prätention‘ unterschieden. Letzterer wird als Vorwegnahme einer Geltung erläutert: „Wie beim Thronprätendenten wird die Geltung im Anspruch vorweg­ genommen, aber noch nicht eingelöst.“¹³ Wenn Lesbarkeit in paradigmatischer Funktion auftreten kann, indem das Buch der Natur für das „Ganze der Erfahr­ barkeit“ (LW, 9) einzustehen beginnt, ist ein solches Moment, eine Prätention, im Spiel. Ein Seitenblick in die Editionsphilologie erhellt, dass dies bereits für die Lesbarkeit der Texte der Fall ist. Leitend für die Konstitution von Lesbarkeit sei, resümiert Robert-Walser-Herausgeber Bernhard Echte, eine „gewissermaßen transzendentale Erwartung eines konsistenten Sinns“.¹⁴ Jedes verstehende Lesen muss zunächst mit einem solchen Anspruch operieren, mit der Einsetzung eines Horizonts der Verstehbarkeit. Deswegen ist das Paradigma der Lesbarkeit so ge­ eignet, einen Sinnzusammenhang der Welt nahezulegen. Lesbarkeit funktioniert damit bereits ähnlich wie die Metapher selbst, die Blumenberg als „ein projek­ tives Element“ (Annäherung, 132) beschreibt. Die Erwartung einer lesbaren Welt muss auf die Erfüllung der anderen Erwartung setzen: dass eine vorausgängige Sinnstruktur angenommen werden kann. Unter der Voraussetzung, dass Lesbarkeitsmetaphoriken einen Anspruch auf „Sinnzugang“ (LW, 10) nicht nur transportieren, sondern schon an dessen Kon­ stitution beteiligt sind, lässt sich an der Rezeptionsgeschichte der Metapher able­ sen, wie sich die im Anspruch vorweggenommenen Geltungen gerade nicht einlö­ sen lassen konnten. Die Enttäuschung liegt dabei nicht in dem begründet, worauf sich der Anspruch richtet, etwa in einem unerreichbaren Weltganzen oder in einer opaken Wirklichkeit, sondern in der Umbesetzbarkeit des Mitteilungsdispositivs. Es handelt sich um ein Argument, das auf eine Destruktionsgeschichte der An­ sprüche auf Welt zielt, nicht auf die uneinholbaren Ansprüche der Welt.¹⁵ Anders 13 Bernhard Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt am Main 2007, 239. 14 Bernhard Echte, „Editorischer Bericht“, in: Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren 1926–1927, hg. v. Bernhard Echte und Werner Morlang, Frankfurt am Main 1990, 462–468, hier: 463. 15 Etwas anders wird die Problemkonstellation gefasst bei Stoellger, Genese als Grenze der Les­ barkeit, 226: „Mit der Lesbarkeitsmetapher gehen nicht selten Übererwartungen einher. Der Sinn des Lesbaren wird ‚mitübertragen‘ als Sinnerwartung an ‚die Welt‘. Lesbar gemachte Welten sind imaginäre Welten – mit der Verwechslungsgefahr von möglicher und wirklicher Welt. Daher sollte man die Metapher nicht beim Wort nehmen, weil man sonst massive Enttäuschungen provozieren könnte.“

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte | 93

pointiert Thomas Meyer: „Wenn das Lesbarmachen – auch des Unleserlichen – lediglich eine Möglichkeit darstellt, dann muss es von Beginn an mit dem Wi­ derstand der Wirklichkeit rechnen.“¹⁶ Dass Wirklichkeit einen derartigen Wider­ stand ausüben kann, ist bereits eine historische Vorannahme, die Blumenberg im vierten, dem ‚modernen‘ Wirklichkeitsbegriff zusammenfasst (vgl. Wirklichkeits­ begriff, 13–14).

Wirklichkeit im Übergang Blumenbergs Argumente zur Geschichte der vier großen Wirklichkeitsbegriffe¹⁷ und zum Plural der Wirklichkeiten¹⁸ verlören ihr kritisches Potential, wenn zu­ gleich eine davon unberührte Wirklichkeit gesetzt bliebe. In dem Moment, in dem auf Wirklichkeit, auch in dem ‚absolutistischen‘ Sinn, den Arbeit am Mythos vor­ schlägt, referiert werden kann, ist sie schon geschichtlich geworden. Deswegen setzt das erste Kapitel im Mythos-Buch ausdrücklich „[n]ach dem Absolutismus der Wirklichkeit“ (AM, 9) an. Das Unberechenbare als Wirklichkeit zu fassen, ist ein kultürlicher Akt (hinzu kommt, dass „Absolutismus“ ein durch und durch his­ torischer Begriff ist). Geschichtlich ist ‚Wirklichkeit‘ aber auch, wenn sie – wie im Aufsatz „Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff“ (1973) – als „implikati­ ves Prädikat“ (Vorbemerkungen, 3) gefasst wird, also nicht eigentlich erscheint, sondern sich nur indirekt zeigt, etwa im Verlust ihrer Selbstverständlichkeit. Manfred Sommer schlägt vor, ‚den‘ Wirklichkeitsbegriff, ‚die‘ historischen Wirklichkeitsbegriffe sowie die ‚Wirklichkeiten, in denen wir leben‘ über das ge­ meinsame Abstraktum als einen geschlossenen Komplex zu begreifen. Denn trotz der einzuräumenden Pluralität zerfalle der Wirklichkeitsbegriff nicht in eine heterogene Mannigfaltigkeit von Einstellungen oder Perspektiven. Gäbe es nicht die Wirklichkeit, so wäre gar nicht mehr erkennbar, wie und warum die vielen verschiedenen Formationen, auf die der Plural ‚Wirklichkeiten‘ sich be­ zieht, überhaupt in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden könnten.¹⁹

Dem Eindruck, Wirklichkeit sei etwas von dieser Mannigfaltigkeit Unbetroffenes, begegnet Sommer mit einer Umkehrung der Perspektive: „Es gibt sie, als die eine, nicht trotz oder jenseits der vielen Wirklichkeiten, in denen wir leben, sondern ge­

16 Meyer, Lesbarkeit, 176. 17 Vgl. die ausführlichen Darstellungen auch in den Aufsätzen Staatstheorie und Vorbemerkun­ gen. 18 Vgl. Wirklichkeiten in denen wir leben (1982). 19 Sommer, Wirklichkeit, 364.

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rade in ihnen und durch sie.“²⁰ Wenn ‚Wirklichkeit‘ in dieser Weise integrativ ist und dafür Sorge trägt, dass auch heterogene Wirklichkeitsbegriffe in „einen sinn­ vollen Zusammenhang“ gebracht werden können, lässt sich fragen, wie der Über­ gang zwischen ihnen gefasst werden muss: Muss nicht auch die Auflösung ei­ nes Wirklichkeitsbegriffs ‚Wirklichkeit‘ für sich beanspruchen können? Es kommt hinzu, dass die in der Lesbarkeit der Welt geäußerte Kritik auf die Idee eines als Wirklichkeit fassbaren sinnvollen und verstehbaren Zusammenhangs zielt. ‚Wirk­ lichkeit‘ nach Blumenberg beschreibt vielmehr die Vergeblichkeit der Versuche, solch einen integrativen Zusammenhang herzustellen. ‚Wirklichkeit‘ wäre das me­ thodisch nicht zu Depotenzierende, wäre weder monolithisch noch „das dem Sub­ jekt nicht Gefügige“ (Wirklichkeitsbegriff, 13). Mit dem Undepotenzierbaren und Insistierenden – hier zugleich als ‚Klammer‘ wandelbarer Wirklichkeitsbegriffe verstanden – ist ein zentraler Schnittpunkt gefunden zwischen Blumenbergs Me­ thodenkritik, die qua Nachtrag des in der transzendentalen Phänomenologie ver­ gessenen Menschen einen doppelten „Bruch“²¹ in das unmittelbare Weltverhält­ nis des Subjekts einführt, und der betonten Nachträglichkeit eines als ‚Nachlese‘ organisierten Verfahrens, das sich der Aufarbeitung uneingelöster epistemologi­ scher Ansprüche widmet. So überträgt die Ausgangsfrage der Lesbarkeit der Welt „Wie bietet sich Wirk­ liches uns dar? wie hat es sich einer Epoche, einem Autor dargeboten oder dar­ bieten sollen?“ (LW, 15) das systematische in ein historisches Problem, an dem es, über lange Zeiträume hinweg, an Komplexität und Schattierung gewinnt. Entscheidend ist, dass von der Prämisse einer „alte[n] Feindschaft“ „zwischen den Büchern und der Wirklichkeit“ ausgegangen wird, vom Buch als der „anti­ podischen Feindin“ der Natur (LW, 17). Es handelt sich demnach um ein Kon­ trastverfahren. Um herauszufinden, wie sich Wirkliches, in historischer Per­ spektive, dargeboten hat, wird dort angesetzt, wo das Andere des Wirklichen nicht nur insistiert, sondern sogar zu dessen Erläuterung herangezogen wird. Dies entspricht weitgehend dem Verfahren, das der Aufsatz „Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff“ vorgeschlagen hatte: Man müsse den Umweg nehmen „über das, was jeweils für unwirklich gehalten wird“ (Vorbemerkungen, 3). Damit ergibt sich eine Spannung zwischen der Aufarbeitung der Geschichte ‚implikati­ ver Prädikate‘ über das Wirklichkeits-Andere und einer ‚Wirklichkeit‘ der Über­ gänge dazwischen, die in erster Linie rezeptionsgeschichtlich in Erscheinung treten.

20 Sommer, Wirklichkeit, 366. 21 Schnell, Hinaus, 118: „nämlich des Subjekts im Verhältnis zu sich selbst und auch zur es um­ gebenden Umwelt“.

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte | 95

Viele Welten, zwei Bücher: Hinweise aus dem Nachlass Blumenbergs Zettelkästen sind nach Stichwörtern bzw. Siglen sortiert. So sind zahlreiche der etwa 500 Karteikarten im Zettelkasten 18 mit „BDN“ bzw. „Meta­ pher: Buch der Natur“ überschrieben,²² das Manuskript zur Lesbarkeit der Welt ist ebenfalls mit „BDN“ gekennzeichnet.²³ Dieses System bildet einen Kontrast zu einem noch näher zu entwickeln­ den Modell ‚latenter‘ Lesbarkeit, denn ein thematisches, an vorab festgelegten Wörtern und Begriffen orientiertes Lesen überspringt die Ansprüche, die Texte daneben noch stellen. Wenn Blumenberg in Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960) bemerkt, „daß Metaphern in ihrer hier besprochenen Funktion gar nicht in der sprachlichen Ausdruckssphäre in Erscheinung zu treten brauchen“ (PM, 24), bedarf es demgegenüber eines Lesens, das aufmerksam ist für das Nicht-Gesag­ te. Absolute Metaphern sind keine Restbestände auf dem Weg zum Begriff, aber ohne diesen Weg erreichte ihre Leistung nicht das kritische Potential, das ei­ ne Metaphorologie rechtfertigt. Ist sie gerechtfertigt, kann der Begriff wiederum keine vorgeordnete Stellung beanspruchen. Analog lässt sich ein Leseverfahren beschreiben, das einen doppelten Fokus hat: Nur indem es auf die Ausdrucks­ sphäre gerichtet bleibt, kann es für das Nicht-Gesagte offen bleiben. Entspre­ chend beschränkt sich die Aufgabe einer „metaphorologischen Paradigmatik“ darauf, „Felder abzugrenzen, innerhalb deren man absolute Metaphern vermu­ ten kann, und Kriterien für deren Feststellung zu erproben.“ (PM, 16)²⁴ Daraus ergibt sich die Schwierigkeit, dass die als Belege gesammelten Stellen zum Buch der Natur noch nicht mit dem systematischen Problem ‚Lesbarkeit der Welt‘ über­ einstimmen. Dieses lässt sich in Grundzügen bis in Blumenbergs Promotionszeit zurückverfolgen. Neben Karteikarten zu mittelalterlich-scholastischen und phä­ nomenologischen Autoren finden sich im Umfeld des Stichworts „Weltbegriff“ (K1633–K1643) auch Einträge zum später prominent aufgegriffenen Erfahrungs­

22 Vgl. DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg: Zettelkasten 18, lose Karteikarten BDN–BGG. Der Zettelkasten enthält zudem Materialien zu Begriffe in Geschichten (1998) sowie zum Aufsatz „Contemplator Caeli“ (1966), der als Teil einer Festschrift für Dimitrij Tschižewskij (s. u.) veröf­ fentlicht worden ist. 23 Vgl. zu Blumenbergs Zettelkastenverfahren: von Bülow/Krusche, Nachwort, 279–283 sowie Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, „Nachrichten an sich selbst. Der Zettelkasten von Hans Blu­ menberg“, in: Zettelkästen. Maschinen der Phantasie, hg. v. Heike Gfrereis und Ellen Strittmatter, Marbach am Neckar 2013, 113–119. 24 Das einer Metapher Wittgensteins gewidmete Fragment „Der Sumpf“, das in Die Sorge geht über den Fluß (1987) abgedruckt ist, findet zu der Schwierigkeit, ein solches Feld einzugren­ zen, die Formulierung: „Exakte Begrenzung von Inexaktheit ist hier wie anderswo unmöglich.“ SF, 110. Zu diesem Text vgl. Menke, Sumpf und Mauer.

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ganzen. Blumenberg hatte, anscheinend zum Jahreswechsel 1947/48, ein umfas­ sendes Karteikartenverzeichnis angelegt. Dabei hatte jedes bereits bearbeitete Stichwort ein Nummernspektrum erhalten, z. B. „Bonaventura“ K252–K256 oder „Ursprünglichkeit“ K1625–K1631. Die fortlaufende Nummerierung der Karteikar­ ten setzte ab 1948 ein. Gleich auf dem ersten neuen Blatt des Registers findet sich unter Nr. 1721 der Eintrag: „Term-Metapher– D.Ursprünglichk.d.metaphorischen Welthaltung“. Dass hier ‚Ursprünglichkeit‘ auftaucht, ist in zweierlei Hinsicht relevant: zum einen, weil sie den Arbeitskontext zur Philosophie der Rezeption, wie in der Dissertation entwickelt, mit der später ausgebauten These zur Unhin­ tergehbarkeit von Metaphern verbindet, zum anderen, weil bereits K1274 eine „ursprüngliche‘ Metapher“ kennt,²⁵ dort allerdings noch mit Verweis auf Bruno Snell. Ursprüngliche Metaphern im Sinne Snells lassen etwas bewusst werden; sie sind – anders als absolute Metaphern – prinzipiell in Begriffe auflösbar.²⁶ Zwi­ schen den Hauptstichwörtern „Sprache“ (später umbesetzt zu „Term-Metapher“) und „Weltbegriff“ (der Zusatz „begriff“ wird ab 1948 gestrichen bzw. weggelas­ sen) formiert sich sukzessive das Problem, das die Lesbarkeit der Welt aufgreifen wird. Verfolgt man weiter die dem Stichwort ‚Welt‘ zugeordneten Themen, fällt auf, dass ab Mitte der 1950er Jahre einerseits der Plural von ‚Welt‘, anderer­ seits die Geschichte der Kosmologie in den Vordergrund tritt: „Welt – Plura­ lität: Die minimale spezif.Differenz d.möglichen Welten“ (K3222); „Welt – Mit­ te:Verhältnis v.Geozentrismus & Anthropozentrism.“ (K3223); „Welt – Innerer Zshg.v.Heterozentrismus, Pluralität u. Unendlichkeit bei Bruno“ (K3264).²⁷ Vor der Lesbarkeit wird der Plural von ‚Welt‘ zum Thema. Blumenbergs Studie kommt immer wieder darauf zurück, etwa auf Demokrits Atomistik (vgl. LW, 22) und Leibniz’ Theorie der möglichen Welten (vgl. LW, Kapitel X).²⁸ Was das Stichwort ‚Welt‘ betrifft, formiert sich der ‚Gegenstand‘ der Lesbarkeit der Welt zwischen dem Dissertationskontext, in dem „‚Welt‘ als ursprünglichstes 25 Vgl. DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg, Verzeichnis der Karteikarten, ca. 100 Bl. Das Verzeichnis führt das vorangestellte „K“ nicht an, wohl aber wird es zum Querverweis zwischen Karteikarten genutzt. Jeder Karte ist ein „Hauptstichwort“, oft auch ein „2. Stichwort“ zugeordnet. 26 Vgl. zu dieser Unterscheidung Christoph Hubig, Kunst des Möglichen I: Technikphilosophie als Reflexion der Medialität, Bielefeld 2006, 146–147. 27 Vgl. Blumenberg, Verzeichnis der Karteikarten (DLA Marbach, Nachlass). 28 In Wirklichkeiten in denen wir leben (1982) wird die entscheidende Transformation in der Auf­ klärung verortet: „Daß mehr als eine Welt sei, war eine Formel, die seit Fontenelle die Aufklärung erregte. Noch vor dem Einsetzen kosmogonischer Entwürfe erschien dies als der kräftigste Wi­ derspruch gegen die theologische Metaphysik, die aus dem Schöpfungsbegriff die Einheit der Welt herleiten mußte und sich dabei auf Plato und Aristoteles berufen konnte, die in der Verviel­ fachung des Kosmos durch Demokrit die Zerstörung der Weltvernunft gefunden und niederge­ kämpft hatten. Als Kant durch seinen frühen Geniestreich einer ‚Naturgeschichte des Himmels‘

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte | 97

Problem der Ontologie“ (BU, 148) besprochen war, der vertieften Auseinanderset­ zung mit Husserls und Heideggers Weltbegriffen in der Habilitationsschrift Die on­ tologische Distanz (1950), dem Hinzutreten der Kosmologie mit Galileo Galilei als zentraler Figur (vgl. LW, Kapitel VII) sowie mit der Geschichte der theoretischen Neugierde für die Erforschung der Natur. Gleichzeitig bleibt die Kritik Kants – ‚Welt‘ ist nur eine Idee – herausgehobener Bezugspunkt für den unbegrifflichen Ansatz Blumenbergs.²⁹ Gegenüber dem Totalhorizont, den ‚Welt‘ anzeigt, ist ‚Na­ tur‘ ein Derivat. Indem sie jedoch als Buch, das zu „einer eigenen Erfahrung von Totalität autonomisiert“ (LW, 11) werden konnte, aufgefasst wird, deutet sich ein Rückschluss auf ein Weltganzes an. Die erste Karteikarte, die ausdrücklich die „Metapher: ‚Buch der Natur‘ I.“ erwähnt, trägt die Nr. 3609 und dürfte auf das Jahr 1956 zu datieren sein.³⁰ Es handelt sich zugleich um eine der ältesten Karteikarten des Zettelkastens 18; sie war zunächst unter dem Hauptstichwort ‚Natur‘ angelegt worden, das dann je­ doch durch „Terminologie“ ersetzt wurde.³¹ Sie enthält vier prominente Stellen zum Buch der Natur: bei Bonaventura (Breviloquium, 1257), Raimundus Sabundus (Theologia naturalis, 1434–1436) und Cusanus (Dialogus de genesi, 1447; Idiota de sapientia, 1450). Bei Raimundus handelt es sich, einem Verweis nach zu urteilen, um eine bereits deutlich zuvor wahrgenommene Stelle; sie gibt, neben Augusti­ nus’ These zur Doppelautorschaft Gottes, einen locus classicus der Lehre von den zwei Büchern (auf der Karteikarte abgekürzt und im lat. Original zitiert): Zwei Bücher sind uns von Gott gegeben, das Buch der Gesamtheit der Kreaturen oder der Natur, und das Buch der Heiligen Schrift. Das erstere ward dem Menschen von Anbeginn an gegeben, als der Inbegriff aller Dinge geschaffen wurde; denn jegliche Kreatur ist nur ein von Gottes Finger geschriebener Buchstabe und aus den vielen Kreaturen setzt sich jenes Buch zusammen, wie ein Buch aus seinen Buchstaben . . . Der Mensch aber ist Hauptbuchstabe desselben Buches. Auch ist dieses nicht wie jenes verderbt und verfälscht, sondern allen gemeinsam und verständlich.³² die Einheit des Universums wiederherstellte, gab er auch die vermittelnde Formel einer Welt von Welten.“ Einleitung, 3. 29 Vgl. hierzu die umfassende Rekonstruktion in Abschnitt 3.2. 30 Der Zettelkasten 16: Mythos, X-Z (DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg) enthält eine Statistik über die pro Jahr produzierten Karteikarten, ablesbar anhand der fortlaufenden Stempe­ lung. Während der am 1.1.1956 verzeichnete Bestand 3509 Karten umfasste, waren es zum 1.1.1957 3942 Karten. Allerdings scheint die Stempelung nicht in letzter Konsequenz Auskunft über eine chronologische Abfolge zu geben. Vermutlich sind einmal angelegte und gestempelte Karten suk­ zessive ergänzt worden. 31 Blumenberg, Zettelkasten 18 (DLA Marbach, Nachlass), K3609. 32 [Raimundus Sabundus, Theologia naturalis seu liber creaturarum, Stuttgart 1966, 35], Über­ setzung zit. n. Alfred Biese, Die Entwicklung des Naturgefühls im Mittelalter und in der Neuzeit, Leipzig 1888, 199.

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Diese Passage wird von Blumenberg dahingehend kommentiert, dass eine ‚Verfäl­ schung‘ des Welt-Textes durch „Ketzer“ unmöglich sei.³³ Raimundus steht stell­ vertretend für die Spannung zwischen einer theologisch vorgegebenen Naturauffassung und der neuzeitlichen Naturforschung.³⁴ Blumenberg führt diese Stelle in der Lesbarkeit der Welt nicht direkt, sondern vermittelt durch Wiederaufnah­ men bei Nikolaus von Kues und Michel de Montaigne ein (vgl. LW, 59). Die mit dem thematischen Fokus ‚Buch der Natur‘ gesammelten Einträge werden im Ma­ nuskript, wie es für Blumenbergs Verfahrenstechnik charakteristisch ist, rezep­ tionsgeschichtlich aufgegriffen. Der bearbeitete „Komplex ‚Lesbarkeit der Welt‘“ (LW, Klappentext) entwickelt sich aus einem Komplex der Stellenlese.³⁵ Das der Diskussion der Raimundus-Passage vorangestellte Kapitel V „Auf­ kommen und Verzögerung des zweiten der beiden Bücher“ (LW, 47) markiert den Umschlagpunkt von der Unmöglichkeit der Metaphorik vom Buch der Natur zu ihrer Karriere im 15. und 16. Jahrhundert. Dieser Umschlagpunkt wird mit Augus­ tinus und Bonaventura verbunden; beide beobachten eine Konkurrenz zweier Bü­ cher.³⁶ In einer vorläufigen Kapitelüberschrift wird die Interdependenz noch stär­ ker betont: „V Die beiden Bücher formieren sich“.³⁷ Die Fragestellung setzt beim „zweiten der beiden Bücher“ (LW, 47) an, also dort, wo der Primat des einen Bu­ ches, das schon qua Medialität „Einheit“ (LW, 18) und „Totalität“ (LW, 17) verheißt, gebrochen ist. Das zweite Buch ist an der Reichweite des ersten bemessen. Es „for­ miert sich spiegelbildlich“.³⁸ Die, wie es in Entwürfen noch heißt, „Behinderung des zweiten der beiden Bücher“³⁹ bildet wiederum die Kontrastfolie, vor der die Metapherngeschichte erst argumentative Relevanz gewinnt. Der Einstieg in das Thema ist daher kein lexikalischer, sondern ein systematisch-historischer. Blumenberg fragt danach, unter welchen Bedingungen es möglich geworden ist, überhaupt eine Zugänglich­ keit der Welt zu denken. Dahinter verbirgt sich das Interesse für einen „Anspruch[] auf unbeschränkte theoretische Neugierde“ (PN, 11). Anders als Heribert Nobis’ Artikel „Buch der Natur“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie, der mit Au­

33 Vgl. Blumenberg, Zettelkasten 18 (DLA Marbach, Nachlass), K3609. 34 „Bei Raymund von Sabunde hatte sich vorbereitet, daß der Laie eine Figur der ‚Unmittelbar­ keit‘ zur Quelle der Weisheit sein wird, noch bevor solche Unmittelbarkeit auch für den Zugang zur Glaubensquelle in Anspruch genommen ist.“ LW, 59–60. 35 Zur Verweisstruktur des Stellenlesens vgl. Plath, Hier und anderswo. 36 Vgl. Abschnitt 3.4. 37 DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg, Karteikarten zum Projekt BDN (Buch der Natur) im Manuskript: Die Lesbarkeit der Welt (Mappe 2/2), 2 Bl., 1. 38 Blumenberg, Karteikarten zum Projekt BDN (DLA Marbach, Nachlass), 1. 39 Blumenberg, Karteikarten zum Projekt BDN (DLA Marbach, Nachlass), 1.

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gustinus’ Diktum beginnt, Gott sei der Autor zweier Bücher,⁴⁰ setzt Die Lesbarkeit der Welt mit der Bemerkung ein, dass eine „Metapher von dieser Reichweite [. . . ] nicht jederzeit plausibel“ (LW, 22) gewesen sei. Wenn sich der Ausdruck „Buch der Natur“ zuerst bei Augustinus finden lässt, wie auch Blumenberg konstatiert, handelt es sich darin dennoch nicht um einen Anfangspunkt, sondern bereits um einen Effekt. Das Aufkommen hänge zusammen mit „der Rechtfertigung der Schöpfung angesichts der Erlösung, also mit der Abwehr des gnostischen Dualis­ mus“ (LW, 48).⁴¹ Als Kontrapunkt wird die antike Buchstabenmetaphorik gesetzt, die über Richard Harders Aufsatz „Die Meisterung der Schrift durch die Griechen“ (1942) eingespielt wird (vgl. LW, 37). Ein Exzerpt daraus bildet den ältesten (No­ vember 1947), noch mit dem Dissertations-Stichwort „Ursprünglichkeit“ und dem Zusatz „Die vergegenständlichende Analytik der Griechen“ versehenen Baustein im Zettelkasten zum Buch der Natur (K1627). Daran wird nochmals deutlich, dass die Buchmetapher in der Tradition der Frage nach dem ‚ursprünglichsten‘ Pro­ blem der Ontologie steht. Sie grenzt sich von der Auffassung ab, die Welt sei eine Art Summe ihrer Teile. „Schließlich ist der ‚Gegenstand‘ das Ergebnis einer analy­ tischen ‚Welt‘sicht; das Ganze wird vom Element her ‚aufgebaut‘“.⁴² Gegenständ­ lichkeit überhaupt bricht sich am Problem der Welt, dieses an den Texten.

Historiographie vs. Geschichte? Gegen Blumenbergs These ist aus philosophiehistorischer Sicht vorgebracht wor­ den, dass sie aus einer allgemeinen Interpretation der Ideengeschichte abgelei­ tet sei, auf einer selektiven Materialauswahl beruhe und Geschichte damit „into the straightjacket of apriori historiography“ zwänge.⁴³ Da sich der Typus dieser Kritik wiederholt,⁴⁴ lässt sich festhalten, dass es Blumenbergs Schriften anschei­ nend dezidiert nicht um eine rein historische Aufarbeitung geht. Sie machen sich

40 Heribert A. Nobis, „Buch der Natur“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 1, hg. v. Joachim Ritter, Darmstadt 1971, Sp. 957–959, hier: 957. 41 „[I]n a pantheistic world view there is no place for the Book of Nature, because the book and its author have become identical. The proper place for the metaphor of the Book of Nature, there­ fore, seems to lie between these two extremes – i.e. between the Gnostic denial of the world and the Pelagian identification of the world with its Creator.“ Lodi Nauta, „A Weak Chapter in the Book of Nature. Hans Blumenberg on Medieval Thought“, in: The Book of Nature in Antiquity and the Middle Ages, hg. v. Arjo Vanderjagt und Klaas van Berkel, Leuven u. a. 2005, 135–150, hier: 140–141. 42 Blumenberg, Zettelkasten 18 (DLA Marbach, Nachlass), K1627. 43 Nauta, A Weak Chapter in the Book of Nature, 149; 150. 44 Vgl. z. B. für die Dissertation: Flasch, Hans Blumenberg, 101.

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damit angreifbar durch Einwände, die auf Grundlage eines umfassenden histori­ schen Quellenstudiums formuliert werden können. In den genannten Kritiken ist durchaus gesehen worden, dass auch gar nicht beansprucht wird, einen entspre­ chenden Beitrag zu leisten. Das Andere, das stattdessen bearbeitet wird, ist daher noch genauer zu fassen. Grundsätzlich übernimmt Blumenberg für Die Lesbarkeit der Welt ein argu­ mentatives Verfahren, das sich quer durch sein Werk verfolgen lässt, so in den Fragen nach der Möglichkeit des Menschen (vgl. BM, 511), des Romans (vgl. Wirk­ lichkeitsbegriff ) oder „eines Kopernikus“ (G, 147). Ziel des Verfahrens ist die Auf­ deckung nicht einer positiven Möglichkeitsbedingung, sondern der Destruktion einer Bedingung der Unmöglichkeit. Phänomenologisch gesprochen geht es um die Geschichtlichkeit dessen, ‚was sich zeigt‘, genauer: um das, was sich dennoch zeigt, und zwar als singuläre theoretische Herausforderung. Insofern ist Meta­ phorologie durch und durch Phänomenologie. Es kommt hinzu, dass das, was sich derart zeigt, offenbar nicht vollends in Erscheinung tritt (Latenzphilosophie). Nicht zu unterschätzen ist daher Blumenbergs Ausgangsbeobachtung: „Eine der­ art auf Nichterfüllungen [. . . ] gerichtete Fragestellung hat Schwierigkeiten, sich ihrer Quellen zu versichern.“ (LW, 9) Diese Schwierigkeiten lassen sich, was die exakte Gegenstandsfixierung betrifft, nicht nur auf die Metapher, sondern auch auf andere Arbeitsgebiete Blumenbergs beziehen – etwa Ästhetik oder Technik­ philosophie. Gemäß dieser Formulierung müssen die Quellen erst als Quellen er­ wiesen werden, aber nicht im Hinblick auf ihre historische Passgenauigkeit, son­ dern im Hinblick auf – anderes eröffnende – „Nichterfüllungen“ von Erwartun­ gen. Die Kritik, dass ein historischer Sachverhalt möglichst ohne historiographi­ schen Überbau hätte dargestellt werden müssen, ist nicht tragfähig: Nimmt man Blumenbergs Ansatz ernst, kann überhaupt noch nicht ausgemacht sein, worin ein historischer Sachverhalt eigentlich besteht, ehe er in seiner metakinetischen Situation interpretiert worden ist.⁴⁵ Für Die Lesbarkeit der Welt bedeutet das, dass eine Stellenlese expliziter Schrift- oder Buchmetaphoriken des Mittelalters nicht aussagekräftig ist, solange nicht die theoretische Tragweite, etwa hinsichtlich ei­ ner angestrebten Deckung von Welt- und Erfahrungsganzem, d. h. auch die Me­ tapher als Metapher mitbeschrieben ist. Überzeugend in systematischer Hinsicht ist aber die im Zuge der genannten Kritik angestellte Beobachtung, dass Blumen­

45 In einschlägiger Formulierung für das Arbeitsgebiet: „In diesen Metaphern geht es nicht um letzte Wahrheiten, um Ontologien oder Seinsgeschichten oder Metaphysik. Vielmehr hätten wir es in ihnen mit Auslegbarem zu tun, das anderem vorausgeht, andere Sachverhalte koordiniert und verfärbt, diesseits gegenständlicher Bestimmtheit dennoch nicht die völlige Unbestimmtheit des Ganzen und seiner immer ausstehenden Möglichkeiten zuläßt.“ LW, 16.

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte | 101

bergs Studie überhaupt Ansprüche der Tradition überspringt, um ihr Argument aufbauen zu können. Genau diesen Vorwurf hatte die Dissertationsschrift gegen Heideggers Sein und Zeit erhoben, Die Lesbarkeit der Welt gegen ihre Vorläufer­ studien.

Begegnungen: Humboldt und Goethe Dem Zusammentreffen unterschiedlichster Arbeitskontexte in einem Buchprojekt entspricht Blumenbergs Aufmerksamkeit für tatsächliche Begegnungen von his­ torischer Prägnanz, etwa für die von Johann Wolfgang von Goethe und Napoleon Bonaparte; ihr ist eine umfangreiche Passage in Arbeit am Mythos (1979) gewid­ met. Wichtig für die Anlage der zwei Jahre später erschienenen Lesbarkeit der Welt dürfte eine ähnliche Begegnung gewesen sein. Unter der Sigle „NzJh“ (= Neun­ zehntes Jahrhundert) sammelte Blumenberg u. a. zahlreiche Stellen zu Alexander von Humboldt, die dann im Zettelkasten 18 weiterverarbeitet wurden. Hervorzu­ heben ist Blumenbergs detaillierte Lektüre des Kapitels „Humboldts Begegnung mit Schiller und Goethe“ aus dem ersten Band von Hanno Becks umfassender Humboldt-Biographie (1959). Beck leitet Humboldts Kosmos-Projekt aus einer his­ torischen Konstellation her, die durch die geteilte Annahme eines ‚Naturganzen‘ zusammengehalten worden sei.⁴⁶ Man suchte damals nach einem Plan, der allem zugrunde liege, und insofern sind alle diese Vorstellungen ihrer Zeit verpflichtet – auch die „idée d’une physique du monde“, die Hum­ boldt 1796, von diesen Anregungen genährt, als ein Begriff aufleuchtete, der ihn bis ans Ende seiner Tage verfolgen sollte. Humboldts „Kosmos“, der zunächst als „physique du monde“ bezeichnet wurde, wurzelte in dieser Welt des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in der Zeit des Umgangs mit Lichtenberg, Forster, Goethe und in Herderschen Veröffentlichungen.⁴⁷

Blumenbergs Aufzeichnungen lassen den Rückschluss zu, dass er Goethes Welt­ all-Roman-Projekt, dem sich die Kapitel XV und XVIII widmen, vermittelt über Becks Humboldt-Biographie aufgegriffen hat. Die zwischen Goethe und Hum­ boldt geteilte Idee eines ‚Naturganzen‘ lässt sich als Kern der Buchmetaphorik im 19. Jahrhundert sehen. In Humboldts Idee der Welt im und als Buch verbindet sich die Geschichte der Naturwissenschaften mit der Literaturgeschichte: Beck legt nahe, dass Goethes ungeschriebener Roman der Struktur nach in die Kon­

46 Vgl. Hanno Beck, Alexander von Humboldt, Band I: Von der Bildungsreise zur Forschungsreise 1769–1804, Wiesbaden 1959, 66–67. 47 Beck, Alexander von Humboldt I, 67. Der dieser Stelle zugrundeliegende Brief von Humboldt an Varnhagen von Ense vom 24. Oktober 1834 ist für Blumenbergs Rekonstruktion zentral.

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zeption des Kosmos eingegangen sein könnte. Im Kosmos-Buch die zumindest indirekte Spur des Weltall-Roman-Projekts zu entziffern, restituiert Ansprüche, die sich aus Goethes Versuch, zu einer reinen Anschauung zu gelangen, herleiten lassen.⁴⁸ Humboldt habe, so pointiert auch Blumenberg, „die Rezeption der Natur durch den Menschen von der Metapher des Romans her“ (LW, 285) gesehen. An der Umwidmung der Karteikarten – von „NzJh“ zu „BDN“ – lässt sich der Umbau einer historischen in eine systematische Fragestellung nachvollziehen, die ihrerseits historisch aufgearbeitet wird. Die im einleitenden Kapitel der Les­ barkeit der Welt diskutierte Gegnerschaft „zwischen den Büchern und der Natur­ wissenschaft“ (LW, 18) im 20. Jahrhundert zeigt sich von diesem Punkt aus als eine Geschichte wechselseitiger Verflechtungen.

Geschichte der Überlesungen (Curtius – Rothacker – Lempicki – Tschižewskij) Vor Blumenberg ist der Komplex ‚Buch der Natur‘ ausführlich aufgearbeitet wor­ den, im deutschsprachigen Raum zuerst von Ernst Robert Curtius⁴⁹ in seinem Auf­ satz „Schrift- und Buchmetaphorik in der Weltliteratur“, veröffentlicht 1942 in der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Mit seinem Hinweis, dass die moderne Literaturwissenschaft „das von Goethe ent­ worfene Programm einer historischen ‚Tropik‘ oder Metaphorik der Weltliteratur nicht aufgegriffen“ habe, will Curtius nun dieses „Programm einer Erforschung der poetischen Bildersprache“⁵⁰ durch Studien zur Herkunft von Metaphern wei­ terführen.⁵¹ Zugleich begründet er einen eigenen Topos, nämlich die Kritik an ei­ ner unzureichenden Ausschöpfung metaphorischer Angebote. Blumenberg bedient diesen Topos, wenn er seinerseits Curtius vorhält, den „Reichtum an Konnotationen“ nicht wahrgenommen zu haben, insbesondere nicht die zentrale Dialektik von Anspruch und Anspruchsenttäuschung. Für Die Lesbarkeit der Welt greift er von Curtius angeführte Stellen (darunter die später

48 Vgl. Abschnitt 3.3. 49 Zu Curtius’ Stellenwert für die internationale Literaturwissenschaft nach 1945 vgl. Hinrich C. Seeba, „Ernst Robert Curtius: Zur Kulturkritik eines Klassikers in der Wissenschaftsgeschichte“, in: Monatshefte 95,4 (2003), 531–540. 50 Ernst Robert Curtius, „Schrift- und Buchmetaphorik in der Weltliteratur“, in: Deutsche Viertel­ jahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 20 (1942), 359–411, hier: 361. Dieser Text, 1942 dem während des Nationalsozialismus nicht publizierenden Kunsthistoriker Wilhelm Worringer gewidmet, ist 1948 in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter aufgenommen worden. 51 Vermittelt über Curtius geht Goethes Programm damit – wie schon bei Kant – in einer Dop­ pelrolle in Die Lesbarkeit der Welt ein.

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte |

103

als Motto vorangestellten Zeilen aus dem Dies Irae) und Interpretationstenden­ zen (etwa zur Buchrollenmetaphorik) auf, gibt ihnen aber eine andere Wendung. So bemerkt Curtius, die metaphorische Verwendung von Schrift und Buch sei der griechischen Antike fremd gewesen, weil man das Buch nicht als heilig aufgefasst und Schrift keinen hohen Stellenwert gehabt habe – bis hin zu Platons Schriftkri­ tik im Phaidros. Erst die Buchreligion des Christentums habe dies geändert und so die Disposition für die metaphorische Karriere geschaffen. Blumenberg erkennt zwar ebenfalls eine „Sperre für die Antike“ (LW, 38), bezieht diese aber allein auf das Buch der Natur. Wo Kosmos und Logos „Korrelate“ (PM, 12) sind, ist das Ver­ trauen in die metaphorische Rede und damit auch die Konzeption eines lesbaren Naturganzen – im Unterschied zum Lesen himmlischer Zeichen – nicht möglich.⁵² Einen eigenen Ausdruckscharakter könne ‚Welt‘ erst gewinnen, wenn die plato­ nische Urbild-Abbild-Bindung aufgebrochen ist.⁵³ Überwunden werden musste aber auch die Deutungshoheit des ersten der beiden Bücher: „Das Übergewicht einer historischen Gottesoffenbarung in Buchgestalt dementiert die Möglichkeit, Gott könne sich schon in der Natur zureichend verständlich und überzeugend ausgesprochen haben.“ (LW, 33–34) Nach Blumenberg liegt die Eröffnung der Möglichkeit der Lesbarkeit der Welt in einer destruierenden Rezeptionsgeschich­ te, die den „Primat eines bestimmten Buches“ (LW, 11) angreift. Es erscheint vor diesem Hintergrund und dem genannten Sammelschwer­ punkt im 13.–15. Jahrhundert überraschend, dass Blumenberg gar nicht auf eine der prominentesten Belegstellen zum Ausdruck ‚Buch der Natur‘ eingeht, nämlich auf das 14. Jahrhundert und Konrad von Megenberg, dessen wesentlich angerei­ cherte Übersetzung von Thomas von Cantimprés Liber de natura rerum (1225–41) in späteren Drucken unter dem Titel Buch der Natur zirkulierte. Darin sei, so Curtius, erstmals die „Vorstellung von der Welt als einem Buch [. . . ] laizisiert“ worden.⁵⁴ In der Lesbarkeit der Welt wird demgegenüber gezeigt, dass schon das Aufkommen der Buchmetaphorik die Frage mit sich führt, was der Welttext dem nicht-göttlichen Leser preisgeben darf; zugänglich für den Nicht-Kleriker wird er mit Verspätung. Auf engstem Raum verdichtet findet sich diese Konstellation in der Spannung zwischen den zwei Büchern bei Raimundus und der Figur des Laien bei Cusanus. Diese Konstellation steht beispielhaft für Blumenbergs Kritik

52 „Die vollkommene Kongruenz von Logos und Kosmos schließt aus, daß die übertragene Rede etwas leisten könnte, was das ϰύριον ὄνομα [der eigentliche Ausdruck, das Hauptwort, A.W.] nicht äquivalent zuwege brächte.“ PM, 12–13. 53 „Die Welt kann erst ‚Ausdruck‘ werden, wenn die Sichtbarkeit des Unsichtbaren nicht mehr Abbildung eines Urbilds ist.“ LW, 47. 54 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen/Basel 1993, 324.

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an der Säkularisierungsthese. Das Buch der Natur reagiert auf ein theologisches Problem und gibt fortan selbst eine Problemstellung auf. Sie bleibt als solche erhalten, wird aber nach und nach anders ‚beantwortet‘. Deswegen kann eine Laizisierung letztlich nicht gelingen: weniger wegen der theologischen Herkunft, eher aufgrund des mitgetragenen Problemüberhangs. Konrads Buch wird von Blumenberg, der es über Curtius wahrgenommen haben muss, wohl auch deswe­ gen übersprungen, weil es das naturhistorische Wissen seiner Zeit versammelt, nicht aber die Welt selbst als Buch auffasst: ein Buch über die, nicht der Natur. Es steht in der Tradition der Wunderbücher und Arzneibücher.⁵⁵ Humboldts Kos­ mos setzt sich später deutlich von dieser Tradition ab (vgl. LW, 283), indem sein Anspruch über das Zusammentragen von Einzelbeobachtungen hinausgeht: „Ein Buch von der Natur muß den Eindruck wie die Natur selbst hervorbringen.“⁵⁶ Gerade mit diesem Anspruch rückt Kosmos in die Nähe der literarischen Gattung des Romans. Eine wesentliche Referenz für Curtius wie für Blumenberg bildet Erich Roth­ acker,⁵⁷ Herausgeber der Deutschen Vierteljahrsschrift ebenso wie des Archivs für Begriffsgeschichte, in dem 1960 die Paradigmen zuerst erschienen waren.⁵⁸ Curti­ us bezieht sich am Rande auf Rothackers Aufsatz „Das Problem einer Geschichte der deutschen Philosophie“ (1938), in dem der Autor eine historische Charakteris­ tik „des deutschen Geistes“ versucht.⁵⁹ In der Tendenz habe diese – jedenfalls bis zu Kant – in einer „paracelsistische[n] Naturverbundenheit“ gelegen.⁶⁰ Für das

55 Zum naturkundlichen Topos des Buchs der Natur von der Antike bis zur Renaissance vgl. The Book of Nature in Antiquity and the Middle Ages, hg. v. Arjo Vanderjagt und Klaas van Berkel, Leuven u. a. 2005; Liza Blake, „The Book of Nature and Humanity in the Middle Ages and Renais­ sance“, in: The Journal of English and Germanic Philology 115,2 (2016), 257–260. 56 Alexander von Humboldt, Brief an Varnhagen von Ense, 24. Oktober 1834, in: Briefe von Alex­ ander von Humboldt and Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827–1858, hg. v. Rosa Ludmilla Assing, Leipzig 1896, zit. n. LW, 283. 57 Zu Rothacker vgl. Volker Böhnigk, Kulturanthropologie als Rassenlehre: Nationalsozialistische Kulturphilosophie aus der Sicht des Philosophen Erich Rothacker, Würzburg 2002. 58 An der die Buchmetapher thematisierenden Stelle verweist Blumenberg in einer Fußnote auf die Seiten 321 ff. der Studie Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) von Curtius sowie auf „eine noch ungedruckte Arbeit“ von Rothacker. PM, 102, Anm. 119. 59 Erich Rothacker, „Das Problem einer Geschichte der deutschen Philosophie“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 16 (1938), 161–183, hier: 161. Beansprucht wird, einen „Komplex geistiger Artungen, Neigungen, Symbole“ herauszuarbeiten, „der für entscheidende Jahrhunderte unserer Geschichte fruchtbar war, und dessen sich der deut­ sche Geist mindestens zeitweilig auch bewußt gewesen ist.“ Rothacker, Das Problem einer Ge­ schichte der deutschen Philosophie, 164–165. 60 Dass Paracelsus (1493/4–1541) eine nicht unerhebliche Rolle in der NS-Zeit spielte, zeigt auch Georg Wilhelm Pabsts gleichnamiger Film aus dem Jahr 1943.

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte | 105

16. Jahrhundert beobachtet Rothacker überhaupt eine neue Auffassung: „Ganz allgemein ist in dieser Epoche, wenigstens bei den revolutionären Geistern, die Parole: weg von den Büchern und der Schulweisheit! Augen auf! Unmittelbare Erfahrung! Ganz allgemein ist das schöne Bild, man wolle im Buche der Natur selbst lesen.“⁶¹ Diese Formulierungen – gefunden fünf Jahre nach den Bücher­ verbrennungen, die der Parole „Wider den undeutschen Geist“ gefolgt waren, –⁶² lassen kein gesondertes Bemühen erkennen, die Assoziation, das Buch der Natur werde für die folgenreiche Abgrenzung des deutschen vom nicht-deutschen Geist instrumentalisiert, nicht aufkommen zu lassen; auch im Wiederabdruck von 1950 ist der Text ohne Änderungen übernommen. In der Lesbarkeit der Welt wird dieser historisch-politische Bezug nicht zum Thema; allerdings wird der über den Verweis auf das 16. Jahrhundert eingespiel­ te Konflikt aufgenommen. Es geht um die Idee der „Bücherwelt als Unnatur“ (LW, 17), wobei Blumenberg das Problem geradezu umkehrt, wenn er danach fragt, wann und warum dann gerade das Buch zur Metapher seiner „antipodi­ schen Feindin“ (LW, 17), der Natur, werden konnte. Rothacker ist von Blumenberg als „Denker des ständigen Überschusses“ (Nachruf, 70) und als „einer der Pioniere der [. . . ] Begriffsgeschichte“ (LW, 12) gewürdigt worden, ebenso für seinen lebenswelttheoretisch anschlussfähigen Beitrag zu einer nicht-szientifischen Weltwahrnehmung,⁶³ die sich im „Satz der Bedeutsamkeit“ gebündelt finde (vgl. LW, 13–14; ThL, 68–69). Die These zur his­ torischen Prägnanz, die Blumenberg in Arbeit am Mythos ausführlicher bespricht und kritisiert (vgl. AM, 77–79), bildet einen weiteren Bezugspunkt auch für die An­ lage der Lesbarkeitsstudie, insbesondere Rothackers „Ungenügen am Weltbegriff der Naturwissenschaften“ (LW, 13). Der Stellenwert Rothackers für Blumenberg ist jedoch auch nicht überzubewerten.⁶⁴

61 Rothacker, Das Problem einer Geschichte der deutschen Philosophie, 171. 62 Ob Rothacker, als Abteilungsleiter im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propagan­ da, dabei eine zentrale Rolle als Verbindungsmann spielte, ist umstritten. Zuletzt ist sein Beitrag als marginal eingestuft worden. Vgl. Ralph Stöwer, Erich Rothacker. Sein Leben und seine Wissen­ schaft vom Menschen, Göttingen 2012, 157. 63 Die bedeutendste Leistung Rothackers erkennt Blumenberg darin, dass er „den unaufholba­ ren Vorsprung des Lebens vor der Theorie, der Anschauung vor dem Begriff nicht nur gesehen, nicht nur an sich selbst erfahren, sondern [. . . ] ihn auch zum Thema der Theorie selbst gemacht“ habe. Nachruf, 70. 64 Kurt Flasch erkennt insgesamt „keinen bestimmenden Einfluß“ Rothackers auf Blumenberg, sondern sieht diesen eher bei Heidegger. „Rothacker [. . . ] war für ihn ein relativ umgänglicher, humorvoller Kollege. Nicht als habe Blumenberg aktive Naziprofessoren gemieden; selbst zu Carl Schmitt fand er den Weg. Heidegger und Gehlen waren bestimmend für sein Denken; Rothacker, der noch 1944 seine Universitätsrede zugunsten der nationalsozialistischen Kriegspolitik dru­

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Rothackers noch auf die 1940er Jahre zurückgehende Sammlung, die 1979 unter dem Titel Das „Buch der Natur“. Materialien und Grundsätzliches zur Meta­ pherngeschichte aus dem Nachlass erschienen war,⁶⁵ hat eine weitere Abgrenzung notwendig gemacht und den von Blumenberg ursprünglich angedachten Titel „Das Buch der Natur“ offenbar verdrängt. Ausgangspunkt für den Text ist nun wiederum Curtius’ „Stellenlese“.⁶⁶ Dem dort geprägten Topos folgend wird sie als „extremes Beispiel der Wortphilologie gegenüber der Sinn- und Sachphilologie [. . . ], der Wortgeschichte gegenüber der Bedeutungsgeschichte, Ideengeschich­ te und Geistesgeschichte“ eingestuft.⁶⁷ Bedeutungsgeschichtliche Relevanz, die ‚sinnphilologisch‘ zu erschließen ist, erlangt der metaphorische Komplex da­ durch, dass er nahelegt, dass überhaupt Sinn prozessiert werde: „Die Welt scheint einen geheimnisvollen Sinn zu bergen, den der Mensch enträtseln will“.⁶⁸ Die notwendige Vorannahme für dieses Dispositiv besteht darin, dass Sprache nicht ohne Bedeutung zu haben ist: Es gibt eben keine Worte ohne Bedeutung. Unentwegt behalten sie einen Sinn, einen Gehalt und bezeichnen „etwas“. Und den Sinn dieses „Etwas“ in jeder vorliegenden Formulierung restlos zu gewinnen ist die philologische Aufgabe. Ohne Exegese und Interpretation kein sprachliches Verständnis. Wort und Gedanke sind im Logos nicht zu trennen.⁶⁹

Gegen die Universalisierung dieser Formel lässt sich von der Literaturgeschich­ te her Einspruch erheben. Blumenberg hat dies an prominenter Stelle, nämlich im Eröffnungstext zum ersten Band der Poetik-und-Hermeneutik-Reihe, getan: Die vom modernen Roman vollzogene „Sprengung der Funktion der ‚Bedeutungsmit­ tel‘“ sei „fundierend für die Lyrik“ (Wirklichkeitsbegriff, 22, Anm. 15). Schon von dieser Beobachtung her wird deutlich, dass Blumenbergs Studie einen gänzlich anderen Angriffspunkt hat. Denn sobald gesagt werden konnte, dass das Zeichen „selbst die ‚Substantialität‘ der Sache“ (Wirklichkeitsbegriff, 22) zu gewinnen ver­

cken ließ, war es nicht.“ Flasch, Hans Blumenberg, 367–368. In Bezug auf das Theorem der Be­ deutsamkeit gewichtet Felix Heidenreich ähnlich wie Flasch: Blumenberg erarbeite einen Gegen­ entwurf zu Rothackers These und beziehe die gewichtigere Inspiration von Heidegger. Vgl. Felix Heidenreich, „Bedeutsamkeit“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 43–56, hier: 46. 65 Erich Rothacker, Das „Buch der Natur“. Materialien und Grundsätzliches zur Metaphernge­ schichte, aus dem Nachlass hg. v. Wilhelm Perpeet, Bonn 1979. 66 Rothacker, „Buch der Natur“, 13. 67 Beklagt wird zudem die technizistische Konzentration auf das Schreibzeug: „Es ist, als sei die Arbeit für das Jubiläum einer Druckerei oder einer Füllfederhalterfabrik geschrieben.“ Rothacker, „Buch der Natur“, 11. 68 Rothacker, „Buch der Natur“, 12. 69 Rothacker, „Buch der Natur“, 40.

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mag, kann „Welthermeneutik“ nur noch unerfüllbarer Anspruch sein. Für Blu­ menberg führt der Schritt, „aus der literarischen Metaphorik des Buches die mo­ numentale philosophische Aufgabe des Titels Welt als hermeneutisches Problem herauszuholen und als lösbar vorzuführen“ (LW, 15),⁷⁰ zu weit. Das bei ihm als hermeneutisch vorgestellte Problem ist nicht ‚Welt‘, sondern die Dynamik der die­ se Stelle für sich reklamierenden sprachlichen Konstellationen (nicht einzelner Wörter). Das Arbeitsgebiet ergibt sich daraus, dass die Verklammerung von Wort und Bedeutung prinzipiell gelöst wird. Nicht die als möglich erachtete Referenz auf die außersprachliche Wirklichkeit, sondern der latent gebliebene Verweis auf die Transformationen historisch distinkter Ansprüche rückt in den Mittelpunkt der Untersuchung. Dieser Vorbehalt wird von einer fundamentalen Kritik an der Methode begleitet: Rothacker, mit dem ihn die frühe „Rivalität um dieses Thema“ (LW, 13) zugleich verbunden habe, sei dem Anspruch seiner Belege und ihrer Autoren nicht minder ausgewichen als Curtius, in­ dem er sie als bloße Funde gesammelt, aus ihren Kontexten aber gänzlich isoliert hatte. Den entscheidenden Nachweis, daß auch und zumal diese Metaphern keine beliebigen und zufälligen Ab- oder Ausschweifungen ihrer Autoren waren, ließ der Meister der ‚Bedeutsam­ keit‘ auf sich beruhen. (LW, 15)

Curtius hatte der Literaturwissenschaft vorgehalten, noch keine historische Tro­ pik als Programm aufgegriffen zu haben; und Rothacker Curtius bloße „Wortphi­ lologie“ zu betreiben. Auf dem Weg zur Idee der Auslegbarkeit der Welt hätten bei­ de, so wiederum Blumenbergs Kritik, die Herausforderungen der Texte, denen die ‚monumentale Aufgabe‘ abgelesen wäre, schlicht übersprungen.⁷¹ Das Selbstver­ ständnis der Lesbarkeitsstudie liegt darin, eine unerledigt gebliebene Arbeit am Anspruch der Belege und ihrer Autoren zu leisten. Die sprachliche Verfasstheit der Ansprüche auf Sinnzugang hält ihrerseits Ansprüche bereit: einen Appell, noch einmal oder anders zu lesen. An diesem Appell lässt sich, insofern er zwingend

70 Dieser Tendenz folgt auch noch die Interpretation Kopperschmidts: „Mit den Leseschwierig­ keiten aber, die der Welt-Text bietet, wird die Welt zum ‚hermeneutischen Problem‘, vergleichbar den Situationen gestörter Kommunikation, in denen sich das Bewußtsein der hermeneutischen Aufgabe erst bildet, die Bedingungen möglicher Verständigung explizit herzustellen (etwa durch Übersetzung [. . . ]).“ Josef Kopperschmidt, „Die Eloquenz der Dinge. Rhetorikgeschichtliche An­ merkungen und Ergänzungen zu Hans Blumenbergs Die Lesbarkeit der Welt“, in: Rhetorica 3,2 (1985), 105–136, hier: 120. 71 Zu Curtius bemerkt Hinrich C. Seeba: „Curtius konnte die theoretischen Konsequenzen nicht voraussehen, weil er die Topoi aus den entlegensten Ecken der Weltliteratur zwar gesammelt, katalogisiert und archiviert, aber nicht eigentlich ausgewertet und in eine Geschichtskonzeption eingearbeitet hat, in der historischer Wandel etwas anderes als Formgeschichte ist.“ Seeba, Ernst Robert Curtius, 538.

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sein soll, ebenfalls ein Moment der Prätention benennen. Das demonstriert das letzte Kapitel XXII. Zwei einschlägige Arbeiten zum thematischen Komplex werden von Blumen­ berg nicht oder nur am Rande erwähnt, obwohl sie, wie im Nachlass erhaltene Ko­ pien nahelegen, in die Vorbereitung eingegangen sind: Sigmund von Lempickis weitsichtiger Aufsatz „Bücherwelt und wirkliche Welt. Ein Beitrag zur Wesenser­ fassung der Romantik“ (1925)⁷² und Dimitrij Tschižewskijs Kapitel „Das Buch als Symbol des Kosmos“ (1956). Lempicki hatte den Komplex ‚Buch der Natur‘ von seiner romantischen Radikalisierung her aufgegriffen. Der Umschlag vom Lesen eines Textes zum Lesen der Wirklichkeit sei ein zutiefst romantisches Phänomen, weil um 1800 das Lesen überhaupt zum Leitverfahren geworden sei: „Die Phi­ lologie ist par excellence romantische Wissenschaft und die romantische Welt­ anschauung ist die Erweiterung der philologischen Betrachtungsweise auf das Weltall.“⁷³ Die Auflösung der Grenze zwischen Buch und Welt verbleibt hier ganz auf der Ebene historischer Ansprüche. Mit Friedrich Schlegel wäre der Zwischen­ schritt in einem Ganzen zu suchen, auf das Philologie in ihrer Kleinteiligkeit oh­ nehin bezogen ist.⁷⁴ Lempicki greift durchaus auf die ‚monumentale Aufgabe‘ vor, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Die Romantiker betrachten die Welt als ein literarisches Denkmal, ihre Weltbetrachtung ist eine Art Hermeneutik. Auf dieselbe Weise wie sie das Lesen der Bücher kunstmäßig betrie­ ben haben und dies Lesen philosophisch zu fundieren suchten, ging ihr Bestreben dahin, aus dem Buch der Natur zu lesen und hinter dem Buchstaben den Geist zu erfassen.⁷⁵

Von Schlegel her betrachtet, ist der „Geist“ „hinter dem Buchstaben“ nicht Resi­ duum des Sinns, sondern ein Ort der Affizierbarkeit, wie das Athenäum-Fragment 93 andeutet: „Die Lehre vom Geist und Buchstaben ist unter andern auch darum

72 Sigmund von Lempicki, „Bücherwelt und wirkliche Welt. Ein Beitrag zur Wesenserfassung der Romantik“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 3,3 (1925), 339–386. 73 Lempicki, Bücherwelt und wirkliche Welt, 365. 74 So macht Schlegel in seiner Wilhelm-Meister-Rezension für die Rezeption des Kunstwerks gel­ tend, dass eine Reflexion über das Einzelne mit der gleichzeitigen Hingabe an das Ganze einher­ gehen müsse. „Aber nicht minder notwendig ist es, von allem Einzelnen abstrahieren zu können, das Allgemeine schwebend zu fassen, eine Masse zu überschauen, und das Ganze festzuhalten, selbst dem Verborgensten nachzuforschen und das Entlegenste zu verbinden. Wir müssen uns über unsre eigene Liebe erheben, und was wir anbeten, in Gedanken vernichten können: sonst fehlt uns, was wir auch für andre Fähigkeiten haben, der Sinn für das Weltall.“ Friedrich Schlegel, „Über Goethes Meister“ [1798], in: ders., Kritische Schriften und Fragmente [1798–1801], Band 2, hg. v. Ernst Behler und Hans Eichner, Paderborn u. a. 1988, 157–169, hier: 160. 75 Lempicki, Bücherwelt und wirkliche Welt, 376.

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte |

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so interessant, weil sie die Philosophie mit der Philologie in Berührung setzen kann.“⁷⁶ Auch fällt ‚Geist‘ bei Lempicki noch nicht mit ‚Bedeutung‘ zusammen, wie es eine als Bedeutungsgeschichte betriebene Geistesgeschichte intendiert.⁷⁷ Zwar werden die Romantiker bei Blumenberg ausführlich besprochen (Kapitel XV bis XVII), aber nicht in der gleichen Weise belastet wie Kant, der für die Disposi­ tion der Fragestellung unmittelbarer herangezogen wird. Eine argumentative An­ leihe bei den Romantikern hätte die philologische ‚Rückseite‘ der Lesbarkeit der Welt womöglich wahrnehmbarer gemacht. Ganz in der Tradition der Wiederaufnahmen der Schrift- und Buchmetapho­ riken kann Tschižewskij, der später am ersten Poetik-und-Hermeneutik-Kolloqui­ um 1963 teilgenommen hat, einen gänzlich anders gelagerten Einwand gegen das „großartige Werk des Bonner Romanisten“ vorbringen. Nicht (wie später Roth­ acker) die technische, sondern die geographische Ausrichtung irritiert ihn an Cur­ tius’ Studie: Dass dabei die grössten, Dante, Shakespeare und Goethe, zur Sprache kommen, darf uns nicht wundern. Es wundert uns aber auch nicht, dass die Slaven in dieser inhaltsreichsten Arbeiten [sic] völlig fehlen [. . . ]. Ich will dem Verfasser deshalb keinesfalls einen Vorwurf machen, sondern ich möchte vielmehr eine kleine und wahrscheinlich unvollständige Zu­ sammenstellung des slavischen Stoffes bringen, allerdings zu einem enger begrenzten The­ ma: dem Buch als Symbol des Kosmos.⁷⁸

Tschižewskij berührt einen für die Geschichte der Literaturwissenschaften im 20. und 21. Jahrhundert wesentlichen Punkt, nämlich die Frage nach den Zentris­ men, die sich schon im Zuschnitt des Untersuchungsgebiets festschreiben. Der aus Sicht des Fachwissenschaftlers gerechtfertigte Einwand verkennt eine viel­ leicht noch wichtigere „Pionierleistung“ (LW, 14): Curtius’ Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) zielte nämlich „nicht nur auf eine ‚Weltlitera­ turwissenschaft‘, sondern auf ein neues übernationales Weltbild“.⁷⁹ Während ge­ genwärtig die ersten Lehrstühle der auch daraus aufgebauten Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft schon wieder abgewickelt werden, erfährt der durch neue Verfahren digitaler Textanalyse mitbegründete Zweig der World Literature Studies derzeit starke Aufmerksamkeit. Für die Literaturwissenschaften bildet Blumenbergs Buch einen hochgradig aktuellen Schnittpunkt zwischen den 76 Friedrich Schlegel, „Athenäums-Fragmente“ [1798], in: ders., Kritische Schriften und Fragmen­ te [1798–1801], Band 2, hg. v. Ernst Behler und Hans Eichner, Paderborn u. a. 1988, hier: 113. 77 Vgl. Rothacker, „Buch der Natur“, 40–41. 78 Dimitrij Tschižewskij, „Das Buch als Symbol des Kosmos“, in: Aus zwei Welten. Beiträge zur Geschichte der slavisch-westlichen literarischen Beziehungen, hg. v. Dimitrij Tschižewskij, ’s-Gra­ venhage 1956, 85–114, hier: 86. 79 Seeba, Ernst Robert Curtius, 532.

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seit den 1920er Jahren aufgenommenen Grundsatzproblemen rhetorischer Lektü­ re, der Gefahr einer politischen Instrumentalisierung und den gegen den Kanon gerichteten Reflexen des 21. Jahrhunderts, einschließlich einer erneuerten Kon­ kurrenz zu den Natur- und Technikwissenschaften, die mittlerweile eigene Lese­ modelle anbieten.

„Die Welt als Text“ – eine falsche Prämisse der philosophischen Hermeneutik (von Kempski) Wenn, wie Matthias Fischer postuliert, ‚die Lesbarkeit der Welt‘ das eigentliche Feld der Phänomenologie ist,⁸⁰ stellt sich die Frage nach der Vorgeschichte und systematischen Fassbarkeit dieser Konfiguration. Jürgen von Kempski, den Blu­ menberg zwar gelesen, in der Lesbarkeit der Welt aber nicht hat zu Wort kommen lassen, hatte dem Problem „Welt als Text“ vier Jahre nach dem Erscheinen von Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode (1960) einen Essay gewidmet,⁸¹ der die Genese des Problems nüchtern und mit Blick auf die hermeneutische Philoso­ phie rekapituliert. Dabei setzt er es scharf von der Geschichte der Metapher vom Buch der Natur ab.⁸² Von Kempski unterscheidet verschiedene Phasen der Herme­ neutik: Nach ihrer Begründung als „Auslegungskunst“ durch Friedrich Schleier­ macher sei sie Mitte des 19. Jahrhunderts, und zwar mit Wilhelm Dilthey, in die Philosophie übergewechselt und habe dort, v. a. mit einem historiographischen Interesse, fortbestanden. Dann aber sei es zu einer fundamentalen Verlagerung des philosophischen Angriffspunktes gekommen: „Nicht mehr der Text ist – wie bei Dilthey – Gegenstand der Philosophie, sondern der Gegenstand der Philoso­ phie, der Mensch, die Welt, das Sein, wird zum ‚Text‘, den es auszulegen gilt.“ Von Kempskis Kritik zielt auf Martin Heideggers Phänomenologie (auch Karl Jaspers

80 Vgl. Fischer, Differente Wissensfelder, 49. 81 Jürgen von Kempski, Brechungen. Kritische Versuche zur Philosophie der Gegenwart, Hamburg 1964. 82 „Gewiß hat man früher oft und gern vom ‚Buche der Natur‘ gesprochen, in dem die Mensch­ heit der Neuzeit so erfolgreich zu lesen angefangen habe. Dieses ‚Buch der Natur‘ ist jedoch nichts als eine abgewandelte biblische Redeweise, sei es die vom ‚Buche des Lebens‘, von dem der Phil­ ipperbrief spricht, sei es die vom ‚Buche mit den sieben Siegeln‘ der Johannisapokalypse, welche Siegel zu erbrochen haben sich die Naturwissenschaft der Galilei und Newton, der Swammerdam und Leuwenhoek [sic] wohl zuschreiben mochte. Von philosophischer Relevanz ist diese Rede­ weise nicht. Freilich hat die Rede vom ‚Buche der Natur‘ oft auch noch einen anderen Sinn, den der Verweisung vom Bücherwissen, wie man es im Mittelalter aus dem Aristoteles nahm, auf die Erfahrung. Oder sie hat auch den Sinn, die Offenbarung Gottes nicht nur in der Schrift, sondern auch in der Natur zu suchen.“ Kempski, Brechungen, 287.

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte |

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wird genannt), historisch geht sie jedoch weiter zurück. Als Begründer der Konfi­ guration gilt ihm Friedrich Nietzsche: „Auslegung von Texten war das Handwerk, das er gelernt hatte, so wandte er’s an“.⁸³ In der Ausdehnung ihres Zuständigkeitsbereichs auf die Welt müsse der Her­ meneutik die Metapher ‚Welt als Text‘ zugrunde gelegt sein. Diese aber beinhalte die Vorannahme, dass ein Text – sofern er auslegbar sein soll – auch einen Sinn enthalte. Dann aber ergebe sich die Schwierigkeit, dass Wahrheit nicht mehr er­ rungen, sondern nur noch gefunden werden müsse. Da diese Voraussetzung un­ berücksichtigt bleibe, könne etwa gegen Heideggers Sein und Zeit vorgebracht werden, dass die Frage nach dem ‚Sinn von Sein‘ darin im Grunde gar nicht radi­ kal gestellt sei. Hermeneutik falle in einen Platonismus zurück; der überwunden geglaubten Metaphysik werde vielmehr weiter gefolgt. [D]as Gleichnis von der Welt als Text ist das eigentliche proton pseudos unserer gegenwär­ tigen Philosophie; es liegt darin eine Verdoppelung der Wahrheit und zugleich eine Abwer­ tung des traditionellen Begriffes der Wahrheit als einer Wahrheit von Urteilen, von Gedan­ ken. Diese wird zu bloßer Wiederholung einer Wahrheit, die in den Dingen selbst liegt, die der verschlüsselte Text der Welt birgt.⁸⁴

Zwar kommt von Kempski insofern mit Blumenbergs späterer Studie überein, als er auf die prinzipielle Übersehenheit des Problems ‚Welt als Text‘ hinweist, aller­ dings stellt es für ihn vor allem ein philosophisches Ärgernis dar, weniger einen heuristischen Ausgangspunkt. Blumenberg sieht die vorausgesetzte Sinnprojek­ tion ebenfalls, fasst sie aber als letztlich unhaltbaren Anspruch, dessen Aufarbei­ tung von eigenem Wert ist. Im Schema hermeneutischer Ansatzpunkte verbleibt Blumenberg gewissermaßen auf der Stufe der „Philosophiegeschichtsschreibung und Geistesgeschichte“,⁸⁵ um von dort aus die Verlagerung zur Konfiguration ‚Welt als Buch‘ – auf den mit dem Medium verbundenen Ganzheitsanspruch kommt es an – in ihrer historischen und systematischen Tiefe zu erschließen. Die implizite Hypothese lautet, dass gerade eine „seinskonstitutive[] Projektion“ (BU, 156) wie diese epistemische Horizonte aufschließen kann.

Ausgang aus der Lebenswelt – Schwellen zur Theorie Eines der möglichen ‚Lebensweltmissverständnisse‘ in Bezug auf die Lesbarkeits­ studie besteht darin, den Hinweis auf den „lebensweltliche[n] Rückbezug auf ver­ 83 Kempski, Brechungen, 287. 84 Kempski, Brechungen, 293. 85 Kempski, Brechungen, 287.

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traute Erfahrungstypik“ (LW, 409) mit dem alltäglichen Umgang mit Schriftstü­ cken zu erklären. Mit Blick auf Blumenbergs kritische Wiederaufnahme des Hus­ serlschen Lebensweltbegriffs, d. h. seine Betonung der Selbstverständlichkeit als Vorfeld von ‚Theorie‘, lassen sich drei untereinander verknüpfte Bewegungen be­ nennen: (1) Die Lesbarkeit der Welt möchte in Abgrenzung von ihren toposgeschichtli­ chen Vorläufern belegen, dass das Aufkommen der Metaphorik vom Buch der Natur historisch „nicht selbstverständlich“ (LW, 22) gewesen ist; rein lebens­ welttheoretisch betrachtet, ist damit die Schwelle zur Theoriebildung mar­ kiert. Gleichzeitig greift der Nachweis des „Fortbestand[s]“ (LW, 122) der Me­ taphorik, auch gegenüber wiederholten Versuchen begrifflicher Begründung, das Argument zur Neubildung lebensweltlicher Selbstverständlichkeit auf. Blumenbergs u. a. in Höhlenausgänge (1989) erprobte ‚Schwellenkunde‘ (Wal­ ter Benjamin) gilt auch hier der kritischen Zone „zwischen zwei Unmöglich­ keiten“ (VF, 65): Die mittels des metaphorologischen Verfahrens beobachtete Dynamik des wiederholten Aufkommens und Absinkens liegt zwischen den Polen Theorie und Nicht-Theorie, die beide, in Reinform, keinen Bestand ha­ ben können. Beide liegen nicht in einem äußeren Entschluss begründet, son­ dern folgen dem Prinzip der „immanenten Destruktion“ des jeweils Anderen. (2) Der historischen Aufarbeitung entspricht ein Verfahren der „rhetorisch-tech­ nischen Lektüre“,⁸⁶ das die Metapher aus ihrer Marginalisierung löst und als das philosophisch Übersehene zum Thema macht: „Das ‚Übersehen‘ ist das Korrelat der Charakteristik von Lebenswelt als Selbstverständlichkeit“ (ThL, 168).⁸⁷ Insofern ist das historische Aufkommen mit den Verfahrens­ techniken, die es aufzeigen, eng verbunden. (3) Bei Edmund Husserl stellt die Lebenswelt das in der Formalisierung der objektiven Wissenschaften übersprungene Sinnesfundament. Auf den letz­ ten Seiten der Lesbarkeit der Welt greift Blumenberg dieses Argument auf: Wissenschaft zerstöre „unausweichlich den Fundus ihrer Rechtfertigungen“ (LW, 408). Von hier aus stellt sich die Rolle der Metapher anders dar. Sie tritt nicht bloß „als das geschichtlich Kontingente“ (LW, 11) in Erscheinung, noch als absolute ist sie Rückstand: „Es sind die Lücken, die unausgewiesenen Voraussetzungen und die übersprungenen Stufen von Begriffs- und Ideenge­ schichten, die unter dem Stichwort Lesbarkeit wieder zugänglich werden.“⁸⁸ Thomas Meyers treffende Bemerkung lässt sich demnach lebenswelttheore­ tisch erweitern. 86 Campe, Von der Theorie der Technik zur Technik der Metapher, 283. 87 Paradigmatisch hierfür ist von Kempskis Einschätzung. Vgl. Anm. 82 in diesem Abschnitt. 88 Meyer, Lesbarkeit, 174.

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte | 113

Paradigma, metaphorisch Offenbar spielen Nähen zu anderen metaphorischen Registern in Blumenbergs Lesbarkeit der Welt keine große Rolle.⁸⁹ Innerhalb des Registers lässt sich eine kri­ tische Perspektive gewinnen, etwa mit Blick auf die Ausrichtung der Metaphern­ geschichte.⁹⁰ Von dieser Geschichte her drängt sich der Eindruck auf, es handele sich um eine Fallstudie. Der theoretische Ertrag ist dann eher gering, weil sich in der Lesbarkeit der Welt kaum methodische Klärungen finden, die über die Theo­ rie der Unbegrifflichkeit (2004) hinausführen.⁹¹ Blumenbergs Buch lässt sich zwi­ schen dem formulierten Ziel des Zugriffs auf Maximalansprüche und der eher ge­ ringfügigen Fortführung des zugrundeliegenden eigenen theoretischen Projekts verorten. Der zweite Aspekt stellt sich anders dar, wenn anders gerahmt wird: Blumenbergs Buch dokumentiere „die Auflösung der rein begrifflichen früheren Metaphorologie in eine metaphorische Anthropologie. Mehr aber noch nicht.“⁹² Die anthropologische und die rhetoriktheoretische Herangehensweise teilen drei Vorannahmen: sie adressieren die Studie als ein Ganzes; sie fragen, inner­ halb unterschiedlicher Rahmensetzungen, nach ihrer Leistung; sie gehen ferner davon aus, dass der metaphorische Komplex der Lesbarkeit – in methodischer, systematischer oder thematischer Hinsicht – ein Zentrum bildet. Die Relevanz mi­ krologischer textueller Komplikationen tritt damit ebenso zurück wie die Möglich­ keit, übergreifende Strukturlogiken beschreiben zu können. Beides dient einer

89 Das kann damit zusammenhängen, dass die Studie von Anfang im Verbund mit anderen Pa­ radigmen wie Schiffbruch mit Zuschauer geplant war. Vgl. von Bülow/Krusche, Nachwort. 90 Beispielsweise bindet Philipp Stoellger den Lesbarkeitskomplex noch enger, als es in der Les­ barkeit der Welt der Fall ist, an einen theologischen Diskurs zurück. Er arbeitet heraus, inwiefern Lesbarkeit noch und wieder als Metapher verwendbar sei, nämlich insbesondere in ihrem frag­ mentarischen Charakter. Im Hintergrund steht die Frage, was mit einem derart neusituierten Pa­ radigma zu gewinnen sei: „An den Grenzen der Lesbarkeit zeigen sich allerdings die Grenzen einer Ordnung, der Ordnung des Wirklichen und des Möglichen. Die eigentümliche Leistung der Lesbarkeit (gegenüber der individuellen Imagination etwa) scheint darin zu bestehen, nicht nur im Raum der Möglichkeiten zu bleiben, sondern als reale Möglichkeit (Lesbarkeit) zwischen Mög­ lichkeit und Wirklichkeit zu spielen und Übergänge zu eröffnen, die in der Lektüre vollzogen werden können.“ Stoellger, Genese als Grenze der Lesbarkeit, 238–239. Der Wirklichkeitscharak­ ter wird hier privilegiert. Um demgegenüber einen methodisch-kritischen Begriff von Lesbarkeit nach Blumenberg gewinnen zu können, muss die Metapher der Lesbarkeit in diesem letztlich hermeneutischen Sinn eingeklammert werden. 91 „Das Projekt der Metaphorologie kam [nach den „Beobachtungen an Metaphern“, A.W.] zum Stillstand; es zog in der Lesbarkeit der Welt eine Vielfalt von Miscellanea nach sich, aber so vie­ le grundlegende Merksätze man daraus gewinnen mag, es ist keine methodische Abhandlung mehr.“ Haverkamp, Technik der Rhetorik, 437. 92 Meyer, Lesbarkeit, 171.

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konstellativen Lektüre, wie sie hier vorgeschlagen wird, als Ansatz, um das Zu­ sammentreten ganz unterschiedlicher Problembereiche in den Blick nehmen zu können. Anselm Haverkamp hat betont, dass Metaphorologie „allein in der Form von Paradigmen gegeben“ ist, und zwar insofern „diese eine Fragestellung und analytische Arbeitsweise [. . . ] exemplifizieren.“⁹³ Im Abschnitt „Paradigma, gram­ matisch“⁹⁴ des Aufsatzes „Beobachtungen an Metaphern“ (1971) unterscheidet Blumenberg zwischen dem wissenschaftlichen Paradigma, das Thomas S. Kuhn als historisch wandelbaren Komplex epistemischer Vorannahmen eingeführt hat, und dem dafür modellhaften linguistischen Paradigma im Sinne des grammati­ schen Schulbeispiels. In diesem Sinn sei es von Georg Christoph Lichtenberg metaphorisch verwendet worden, und zwar für die Wissenschaftsgeschichte. So solle man etwa nach dem Paradigma des kopernikanischen Systems „alle übrigen Entdeckungen deklinieren“.⁹⁵ Blumenbergs stark verdichtetes Referat läuft darauf hinaus, dass sich mit Lichtenberg der Vorrang des Sprachlichen im wissenschaftsgeschichtlichen Sinn von Paradigma restituieren lässt. Dieser Vorrang wird verknüpft mit Lichtenbergs These zur sprachlichen Situation von Philosophie. Sie trete als „Berichtigung des Sprachgebrauchs“ auf, wobei die­ ser Sprachgebrauch bereits eine Variante von Philosophie sei (Paradigma, 175). Den Paradigmen zu einer Metaphorologie wird mit diesem Rekurs die Möglichkeit nachgetragen, dass es sich nur ‚gleichsam‘ um Paradigmen handelt: weder um Komplexe wissenschaftlicher Prämissen noch um Schulbeispiele im Sinne einer Anleitung. Es gibt, gemäß dieser Skizze, keinen unmetaphorischen Zugang zu ei­ ner Metaphorologie. Am Schluss des Abschnitts wird eine Gegenprobe gegeben, die eine Einordnung der Lesbarkeit der Welt nochmals erschwert: Bedenkt man, wie häufig in dem metaphorischen Komplex ‚Buch der Natur‘ die Metaphorik der Wörter, Silben und Buchstaben und die der offenen und chiffrierten Semantik ist, so fällt von Lichtenbergs Metaphorik her – also am Ende dieser Tradition – erst auf, daß es für jenes ‚Buch der Natur‘ keine Metapher der Syntax und Formenlehre gegeben hatte. Die Wahrnehmung dessen, was es nicht gibt, ist die schwerste. (Paradigma, 175–176)

Das Paradigma-als-Metapher tritt dem metaphorischen Komplex des Buchs der Natur zur Seite; zu den späteren ‚Paradigmen zu einer Metaphorologie‘ zählt also auch das Paradigma ‚Paradigma‘. Die Überblendung von Gegenstand und Verfah­ ren ist hier ausgereizt. 93 Haverkamp, Stellenkommentar, 116. 94 Gesondert veröffentlicht in Ästhetische und metaphorologische Schriften (2001). 95 Gottlieb Gamauf, Erinnerungen aus Lichtenbergs Vorlesungen, Band 1, Wien/Triest 1808, 36, zit. n. Paradigma, 173.

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte | 115

Ist, wie die Stellung in „Beobachtungen an Metaphern“ nahelegt, mit dem Re­ kurs auf Lichtenberg tatsächlich ein methodologischer Kommentar gegeben, wird fraglich, ob sich auch ein methodologischer Gehalt der von Augustinus bis Schrö­ dinger verfolgten Schrift- und Lesbarkeitsmetaphoriken ermitteln lässt. Nicht nur die Sprache rückt vor die Prämissen, nicht nur ist der Umschlag zur Geistesge­ schichte aus dem Partikularen heraus organisiert, sondern dieses Partikulare steht in einer Reihe mit anderen Partikularitäten, die wiederum in methodische Funktion rücken können. Die Rückwendung einer allgemeinen Theorie der Wissenschaftsgeschichte auf eine sprachliche Konstellation entspricht dieser Bewegung. Etwas umwegig lässt sich so ein weiteres Moment am Paradigmabegriff einholen, nämlich, mit einer Formulierung Giorgio Agambens, das Fortschreiten „von einem Besonderen zu einem anderen Besonderen“.⁹⁶ Nun ist aber gar nicht klar, wie genau dieses Besondere jeweils abzugrenzen ist, wo und in welcher Form ‚die Metapher vom Buch der Natur‘ überhaupt zu finden ist. Die Programmschrift benennt diese Unklarheit mit der selbst gestellten Aufgabe „Felder abzugrenzen, innerhalb de­ ren man absolute Metaphern vermuten kann“ (PM, 16). Der mit dem projektiven Charakter von Metaphern verbundene „Mut zur Vermutung“ (PM, 17) lässt sich von dem Verfahren, das sie nachweisen will, nicht trennen. Dass es sich nicht nur um Funde von Wortkombinationen handeln kann, belegen die vielfältigen Konfigurationen, die, wie Gottfried Wilhelm Leibniz’ Imagination einer Univer­ salbibliothek, von dieser Formel abweichen. Es stellt sich dann die Frage nach dem jeweiligen Aufkommen des Besonderen, das in der Tat so organisiert ist, dass es im Hervortreten bereits „zu einem anderen Besonderen“⁹⁷ umschlagen kann. Blumenbergs Ansatz gilt der Relation zwischen ‚Aufkommen‘ und ‚Aufweis‘, zwi­ schen ‚sich zeigen‘ und ‚etwas zeigen‘. Ähnlich dem ‚Paradigma‘ nimmt ‚Lesbarkeit‘ eine Doppelrolle ein: Man muss lesen, um das Paradigma der Lesbarkeit genau zu umreißen. Eine ähnliche Inter­ aktion von Gegenstand und Verfahren zeichnete sich, was diesen Kontext betrifft, bereits im Hinblick auf Kant und Goethe ab; der Annäherungsaufsatz von 1971 hatte diese Technik, Gegenstand und Verfahren zu überblenden, perfektioniert.⁹⁸

96 „Das Paradigma ist eine Erkenntnisform, die weder induktiv, noch deduktiv, sondern ana­ logisch ist, somit von einem Besonderen zu einem anderen Besonderen fortschreitet. [. . . ] Ein Paradigma entsteht, wenn ein Element seine Zugehörigkeit zu einem Ensemble aussetzt und zu­ gleich exhibiert, mit der Folge, dass es unmöglich ist, den Charakter des Beispiels und den der Besonderheit in ihm zu unterscheiden.“ Giorgio Agamben, Signatura rerum: zur Methode, übers. v. Anton Schütz, Frankfurt am Main 2009, 37. 97 Agamben, Signatura rerum, 37. 98 Vgl. Abschnitt 2.2.

116 | 3 Ansprüche der Lesbarkeit

Eine an Blumenberg anschließende Reformulierung von ‚Lesbarkeit‘ muss diese Beobachtung ernst nehmen.

„Mensch“ und „Welt“ In seiner Einführung in Blumenbergs Philosophie bestimmt Franz Josef Wetz den Berührungspunkt zwischen der Lesbarkeit der Welt und Arbeit am Mythos als Interesse an der depotenzierenden Leistung kultureller Formationen.⁹⁹ Die Welt­ buchmetapher erweise sich „als ein Medium, mittels dessen die Menschen in der abendländischen Geschichte den Absolutismus der Wirklichkeit auf Distanz halten.“¹⁰⁰ ‚Lesbarkeit‘ wird, dieses Modell weiterführend, zum „Paradigma einer philosophischen Anthropologie“,¹⁰¹ die Weltbuchmetapher relevant als Instru­ ment menschlicher Kontingenzbewältigung.¹⁰² In Bezug auf den theoretischen

99 Ein früherer Beleg für dieses Modell findet sich bei: Marquard, Entlastung vom Absoluten, 21: „Blumenbergs Buch über die ‚Lesbarkeit der Welt‘ macht dies geltend: die Menschen entlasten sich von der absoluten Wirklichkeit durch die distanzierende Umwandlung zum buchähnlichen Pensum von Lektüren mit dem Buch der Bücher im Hintergrund, so daß noch unsere avancier­ testen Naturwissenschaftler – etwa, wo sie den ‚genetischen Code‘ entschlüsseln – Philologen und Exegeten bleiben.“. Ähnlich Angus Nicholls: „The implicit findings of Beschreibung des Men­ schen, if not the finer details of its palaeoanthropological underpinnings, reappear in Arbeit am Mythos, in which the primal scene of hominisation is associated with what Blumenberg calls Absolutismus der Wirklichkeit – the sense in which our pre-human ancestors were simply over­ whelmed by a threatening environment to which they had no automatic or instinctive responses. Myth is in turn seen as the human attempt to cope with the anxiety associated with this purpor­ ted biological nonviability through the use of orienting images and narrative structures. In per­ forming this orienting function, myth also demonstrated its inherent rationality.“ Angus Nicholls, „The Goethe Complex: Hans Blumenberg on Das Dämonische“, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg. v. Lars Friedrich, Eva Geulen und Kirk Wetters, Paderborn 2014, 97–119, hier: 113. 100 Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, 119. 101 Meyer, Lesbarkeit, 183. 102 „Chronologisch wird in 22 Kapiteln – von der Bibel bis zum genetischen Code – der gleich­ zeitig totale und unabweisbare Selbstanspruch des Menschen dargestellt, dass es möglich und notwendig ist, die ganze Welt in einem oder nur sehr wenigen Büchern zu fassen. Blumenberg beschreibt damit das fatale Missverhältnis zwischen den sich ständig erweiternden Möglichkei­ ten des Menschen, über die Welt und den Weltraum verfügen zu können, und den Versuchen, die neu geschaffenen Räume sich wieder anzueignen.“ Meyer, Lesbarkeit, 171. Meyer stellt die mit der Studie eingeräumte „Alleinherrschaft von Kontingenz“ heraus, „die Texte immer wieder zu tilgen“ versuchten. Er betont: „Nicht um die Texte geht es bei der Lesbarkeit, sondern um den Menschen, der im Prozess des Lesbarmachens immer wieder nur sich selbst begegnet.“ Meyer, Lesbarkeit, 182. Folgte man dieser Einschätzung, ließen die angestellten Analysen die Ansprüche

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte | 117

Ansatzpunkt der Lesbarkeit der Welt verliert diese Interpretation etwas an Ge­ wicht, wenn man berücksichtigt, dass, wie Rüdiger Zill ausgeführt hat, absolute Metaphern „selbst nicht absolutistisch“ sind.¹⁰³ Daran anschließend lässt sich zeigen, dass die multiperspektivische Anlage der Lesbarkeitsstudie nicht auf eine zweiseitige Dynamik zu reduzieren ist, in der der Mensch einer ihm unerreich­ baren Wirklichkeit ausgesetzt ist. Zwar zieht sich seit der Dissertationsschrift die Frage nach der „Weise, in der der Mensch von Wirklichkeit berührt, betroffen, in sie verflochten ist“ (BU, 36) durch Blumenbergs Werk, aber diese Frage wird von Anfang an im Zusammenhang des philosophischen Grundproblems gestellt: „wie sich nämlich ‚Tradition‘ und Möglichkeit, je im eigenen geschichtlichen Horizont von Grund auf neu zu philosophieren, zusammenfinden“ (BU, 43). Die Berüh­ rung durch Wirklichkeit ist ebenso rezeptionsgeschichtlich vorgeformt wie die Versuche, sie auf Abstand zu halten; wenn der Mensch mit ihr verflochten ist, ist er einer historischen Dynamik doch viel eher ausgesetzt als dass er sie sich zu seiner Entlastung dienstbar machen könnte. Ein ähnlicher Einwand ließe sich für das Kontingenztheorem vorbringen. In seinem Artikel im Handwörterbuch Die Religion in Geschichte und Gegenwart (1959) erläutert Blumenberg die Geschichte der Kontingenz in einer Mittelstellung zwischen explizitem und implizitem Begriff, stellt für die Epochenschwelle der frühen Neuzeit die neue Verbindung mit dem Zufälligen heraus,¹⁰⁴ was wiederum zu Gegenbewegungen geführt habe: „Mit Beginn der Neuzeit sucht man nach einem Ausweg aus der Überwältigung durch das Welt- und Selbstbewußtsein der K[ontingenz].“ (Kontingenz, Sp. 1794) Großflächige Versuche der Kontingenzbe­ wältigung rufen neue Arten der Kontingenz hervor, prominent etwa bei Leibniz; Kontingenz ist irreduzibel, aber nicht überzeitlich gegeben. Die in der Lesbar­ keit der Welt untersuchten Anläufe befeuern durchaus, was sie zu bewältigen vorgeben.

der verhandelten Texte, mehr oder weniger direkt, in die übergeordnete Frage nach den „Verhält­ nisse[n] des Menschen mit der Welt“ (LW, 9) zurücklaufen. Vgl. auch: Thomas Meyer, „‚Lesbar­ keit‘ und ‚Sichtbarkeit‘. Zu Hans Blumenbergs Versuch, seine Moderne zu retten“, in: Erinnerung an das Humane. Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie Hans Blumenbergs, hg. v. Micha­ el Moxter, Tübingen 2011, 72–85. 103 Zill, Auch eine Kritik der reinen Rationalität, 64. 104 Mit einem Argument, das in der Struktur Blumenbergs Argumentationsweise zugleich na­ hekommt, hat Jürgen Goldstein eine Korrektur vorgeschlagen: „Blumenberg erliegt der Versu­ chung, den nominalistischen Kontingenzbegriff mit dem Akzent der neuzeitlichen Zufälligkeit zu konnotieren, und er übersieht, daß der Aufwertung der göttlichen Freiheit eine Aufwertung der humanen Freiheit entspricht.“ Jürgen Goldstein, Kontingenz und Rationalität bei Descartes. Eine Studie zur Genese des Cartesianismus, Hamburg 2007, 79.

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Die von Blumenberg immer wieder umkreiste Instabilität des Menschen zum stabilen Fixpunkt der Interpretation seiner Philosophie zu machen, ist, in der Perspektive einer negativen Anthropologie,¹⁰⁵ durchaus kein Widerspruch; aller­ dings muss sich das Bild verschieben, wenn auch die kalkulierte methodologi­ sche Instabilität anerkannt wird, mit der diese Überlegungen in seinen Texten eingeführt werden. Die Aufmerksamkeit dafür erlaubt womöglich eine Umkeh­ rung der Interpretationsrichtung: Blumenbergs These zur Instabilität menschli­ cher Existenz könnte womöglich weitaus weniger am Modell des Mängelwesens als an den Schwierigkeiten seiner philosophischen Adressierung selbst bemessen sein. Was sich im Ergebnis kaum zu unterscheiden scheint, wäre zugleich fun­ damental verschieden, da nicht die Anwendung kultureller Formationen in einer ‚Beschreibung des Menschen‘ aufginge, sondern das seiner eigenen methodologi­ schen Schwierigkeiten bewusste philosophische Verfahren bereits für das Modell dieser Beschreibung einstehen würde. Wetz stützt seine These mit einem direkten Verweis auf eine prominente Stelle im Annäherungsaufsatz: „Im metaphorischen Umgang mit der Welt be­ herrscht das menschliche Dasein ‚die ihm genuin tödliche Wirklichkeit, indem es sie vertreten läßt; es sieht von dem weg, was ihm unheimlich ist, auf das, was ihm vertraut ist.‘“¹⁰⁶ Diese Konstruktion überdeckt, dass das Subjekt des Satzes hier seinerseits in Vertretung auftritt. In dem zitierten Aufsatz ist es nicht „das menschliche Dasein“, das die ihm tödliche Wirklichkeit vertreten lässt, sondern das „animal symbolicum“: „Das animal symbolicum beherrscht die ihm genuin tödliche Wirklichkeit, indem es sie vertreten läßt“ (Annäherung, 116). Nun mag Ernst Cassirer diese Gleichsetzung nahegelegt haben;¹⁰⁷ am Punkt ihrer Wie­ deraufnahme ist der Satz jedoch Teil einer Kritik.¹⁰⁸ Blumenberg kritisiert, dass 105 Hannes Bajohr erkennt in Blumenbergs ‚negativer Anthropologie‘ einen „kontingenzbeja­ henden Antiessentialismus“, den sie mit Hannah Arendts Philosophie teile: Bajohr, Die Einheit der Welt, hier: 62. „Eine Anthropologie ist negativ, wenn sie sich einer Definition des ‚Wesens des Menschen‘ enthält, aber darauf besteht sich dennoch mit ihm zu befassen.“ Blumenbergs Kon­ zeption der Metapher führt er auf diesen negativ-anthropologischen Komplex zurück und betont dabei ihre pragmatische Funktion. Ohne die Plausibilität dieser Verbindung abzustreiten, lässt sich zeigen, dass ‚Metapher‘ und ‚Anthropologie‘ noch in anderer Weise zusammenhängen, näm­ lich über ein geteiltes methodologisches Problem (vgl. Abschnitte 2.2 und 5.1), das im Zentrum der hier verfolgten Reformulierung von ‚Lesbarkeit‘ steht. 106 Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, 119 mit Bezug auf Annäherung, 116. 107 Vgl. zu Cassirer und Blumenberg Christian Polke, „Symbol, Metapher, Kultur. Beschreibun­ gen des Menschen bei Ernst Cassirer und Hans Blumenberg“, in: Auf Distanz zur Natur. Philo­ sophische und theologische Perspektiven in Hans Blumenbergs Anthropologie, hg. v. Rebekka A. Klein, Würzburg 2009, 42–57 sowie Recki, Der praktische Sinn der Metapher. 108 Es handelt sich um Beispiel für das von Blumenberg schon früh bemerkte Potential einer ‚umprägenden Rezeption‘. Vgl. Abschnitt 2.3.

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte | 119

Cassirers Theorie darauf verzichte zu erklären, „weshalb die ‚symbolischen For­ men‘ gesetzt werden.“ (Annäherung, 114) Sie sei einer Anthropologie zuzuordnen, die in der Antithese zwischen dem Menschen als dem armen und dem reichen Wesen bereits von letzterem ausgehe, der Mensch gewissermaßen schon gesetzt sei. Diese Antithese will Blumenbergs Aufsatz aber unterlaufen, indem er die Sei­ te des armen Wesens so radikalisiert, dass dessen Wesenhaftigkeit auf dem Spiel steht. Es müsse vielmehr gefragt werden, wie der Mensch überhaupt möglich sei (vgl. Annäherung, 114; BM, 511). An der fraglichen Stelle tritt das animal symboli­ cum auf, um einen Grenzwert zu markieren. Dieser Grenzwert lässt sich aus dem vorangegangenen Satz ermitteln. Darin wird die „pure Ersetzbarkeit des Unver­ fügbaren durch das Verfügbare“ (Annäherung, 116) als Umschlag der Metapher ins Symbol eingeführt. Gäbe es ein reines animal symbolicum, gebildet nach dem Prinzip der ‚puren Ersetzbarkeit‘, wäre ihm die Wirklichkeit nur deswegen töd­ lich, weil sie nicht selbst Symbol sein könnte. Als das, was sich der symbolischen Ordnung entzieht, ist sie ‚unheimlich‘ und ‚unverfügbar‘. Die Pointe liegt darin, dass die Wirklichkeit dieser Vertretung nicht mit der des Vertretenen zusammenfallen kann. Zudem betont Blumenberg den Mög­ lichkeitscharakter: die ‚Ersetzbarkeit‘, die „Fähigkeit, Handlungen zu ersetzen“. Wenn ohne dieses Vermögen „von der Menschheit nicht mehr viel übrig wäre“ (Annäherung, 116–117), muss eine andere Konstruktion angenommen werden als die eines Wesens, das seine symbolischen Formen kontinuierlich ausspielt, um die eigene Unbetroffenheit zu erhalten. Vielmehr wird die Abwendung ei­ ner kollektiven Inexistenz durch ein Prinzip gewährleistet, das seinerseits nicht gänzlich realisierbar ist, denn der symbolische Grenzwert der Beherrschung des Unverfügbaren bleibt unerreichbar. Daher kann die Funktion der Rhetorik mit ihrem „Hauptsatz“ des „principium rationis insufficientis“ (Annäherung, 124) – bemessen am Einbrechen von Kontingenz in Leibniz’ Satz vom zureichenden Grund – nur an der Metapher und nicht am Symbol dargestellt werden (vgl. An­ näherung, 116). Daher ist Rhetorik ebenso wenig ein Mittel wie der Mensch in Verfügung über dieses Mittel. Es geht in all dem darum, „das vermeintlich ‚Natür­ liche‘ [. . . ] zu destruieren“ (Annäherung, 115) und aufzuweisen, dass „es ist nicht selbstverständlich [ist], daß der Mensch existieren kann“ (Annäherung, 114). Soll ein anthropologischer Bezug der Lesbarkeit der Welt benannt werden, dann ist er eher in dem Versuch zu sehen, das Aufkommen der Metaphorik vom Buch der Natur „als das geschichtlich Kontingente erkennbar“ (LW, 11) zu ma­ chen. Blumenbergs Zugang produziert eine strukturelle Affinität zwischen der Nicht-Selbstverständlichkeit des Aufkommens einer Metapher und der NichtSelbstverständlichkeit des In-Erscheinung-Tretens des Menschen, von dem ge­ sagt wird, dass nicht „erst seine Situation, sondern schon seine Konstitution [. . . ] potentiell metaphorisch“ (Annäherung, 135) sei. Wenn schon die Konstitution des

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Menschen „potentiell metaphorisch“ ist, hat sie bereits Teil an jener Kontingenz, die doch mittels Metaphern soll abgebaut werden können. Das heißt, dass Kon­ tingenz nicht begegnet, sondern bereits die Möglichkeit der Begegnung betrifft.

Lesbarkeit 1981/heute: Anachronismen Die Lesbarkeit der Welt, das Buch, das die Buch-Metapher – und mit ihr die „gro­ ßen Verführungen zur Totalität“ (LW, 18) – zum Gegenstand macht, ist erschie­ nen, als IBM den ersten Personalcomputer herausbrachte, die Idee des Buches seit ungefähr fünfzehn und die Gutenberg-Galaxis seit knapp zwanzig Jahren ver­ abschiedet waren. ‚Lesbarkeit‘ zieht schon 1981 den Verdacht auf sich, eine un­ zeitgemäße und überwundene Größe zu sein.¹⁰⁹ Dies gilt insbesondere für die Konkurrenz mit den empirischen Wissenschaften, die für Blumenbergs Herange­ hensweise ein entscheidender Faktor ist: Das Spannende an diesem Kapitel einer Metaphorologie ist, daß es immer von dem ersten Eindruck eines hoffnungslosen Anachronismus ausgehen wird. Denn nicht nur zwischen den Büchern und der Wirklichkeit besteht eine alte Feindschaft, sondern auch zwischen den Büchern und der Naturwissenschaft eine jüngere. Das Pathos des Experiments ist gegen den Hort der Bibliotheken gerichtet, insistiert auf der Frische der Erfahrung im Blick durch Fernrohr und Mikroskop, auf Thermometer und Barometer. (LW, 18)

Schon als Gegenstand der Abhandlung wird Lesbarkeit als das Problem aufge­ nommen, das dennoch insistiert. Noch im Vorfeld der Frage nach dem Stellen­ wert der Metapher lässt sich eine Bewegung beschreiben, die, mit Bezug auf den Komplex der Technisierung, „sozusagen ‚im Sprunge‘ vorankommen“ (Technisie­ rung, 34) will, und dabei aber, wie Jacques Derrida formuliert, den „Preis, der in jedem Fall dafür zu bezahlen ist, daß es zu einem Fortschritt kommt“,¹¹⁰ nicht entrichtet. Ein ähnlicher Verdacht, wie ihn Blumenberg 1981 gehegt hat, drängt sich nicht erst mit Blick auf die Natur- und Lebenswissenschaften, sondern bereits angesichts gegenwärtiger Entwicklungen in den Literatur-, Kultur- und Medien­ theorien auf. Verstanden als Versprechen auf hermeneutische Zugänglichkeit scheint ‚Lesbarkeit‘ obsolet geworden zu sein. 109 Vorangegangen war die Blüte der Idee der Rezeptionsästhetik. Zum Lesen als „Paradigma“ der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren vgl. Oliver Jahraus, „Literaturwissenschaftliche Theorien des Lesens“, in: Grundthemen der Lite­ raturwissenschaft: Lesen, hg. v. Rolf Parr und Alexander Honold, Berlin/Boston 2018, 123–139. 110 Jacques Derrida und Élisabeth Roudinesco, Woraus wird Morgen gemacht sein? Ein Dialog, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Stuttgart 2006, 29.

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte | 121

Ohne diese Verschiebung im Detail nachzeichnen zu können, seien wenigs­ tens einige Stichpunkte genannt, zunächst aus dem Bereich des Umgangs mit Tex­ ten, dem der Ausdruck der Sache nach – weil ‚lesbar‘ ein Surrogat des 17. Jahrhun­ derts für ‚leslich‘ ist –¹¹¹ am nächsten zu stehen scheint. In der gegenwärtigen Edi­ tionsphilologie gilt eine auf lineare Lesbarkeit hin gearbeitete Ausgabe mitunter als textkritisch nicht mehr tragfähig, da Widersprüche, Dissonanzen, Streichun­ gen oder Materialitäten darin nicht adäquat eingeholt werden können. So erläu­ tert Roland Reuß den Neuansatz der Historisch-Kritischen Franz Kafka-Ausgabe wie folgt: „Wer Kafka mag, hängt auch an den Zügen, der Graphik seiner Hand­ schrift. Und wer sich mit Kafka auseinandersetzt, will wissen, ‚was geschrieben steht‘. Hierzu benötigt er nicht einen sogenannten ‚Lesetext‘, sondern neben dem Faksimile eine minutiöse Transkription der Handschrift“.¹¹² Eine stärker über die Intermedialität argumentierende Kritik bringt Claus Zittel an, wenn er überlegt, „wie der Textbegriff zu verändern wäre, wenn gezeigt werden kann“, dass auch „Bilder und Textgestalt konstitutiv an der Formierung von epistemischen Diskur­ sen beteiligt sind.“¹¹³ In den kulturwissenschaftlich ausgerichteten Medienwissenschaften ist ‚Les­ barkeit‘ zu einem Kontrastbegriff herangereift. Aus der Perspektive der Kultur­ technikforschung lässt sich beispielsweise einwenden, dass im Paradigma des Lesens ein Intelligibilismus weitergetragen werde und vorausgängige, rekur­ siv organisierte Praktiken, Netzwerke und Infrastrukturen übersprungen wür­ den. Friedrich Kittler, Stichwortgeber für den Begriff der Kulturtechniken, hat, wenn auch mit einem anderen Interesse, die „Techniken bildender Künste“ ge­ gen die „schlichte Tätigkeit des Lesens“¹¹⁴ gewendet. Als intelligibles Tun ist Lesen, obwohl forschungsgeschichtlich den Kulturtechniken der ersten Genera­ 111 Grimmsches Wörterbuch, Band 12, Leipzig 1885, Sp. 771–772: „lesbar, adj. neueres, im 17. jahrh. aufgekommenes wort für das ältere leslich legibilis (s. d.): lesbar legibilis, lectu facilis Stie­ ler 1166; in bezug auf deutlichkeit der schrift: die schriftzüge sind gut lesbar; das ist ein kaum lesbarer druck; eine noch immer lesbare inschrift; bildlich: seine gesinnungen, sein character werden in groszen zügen lesbar. Garve Anm. zum 1. buche von Cic. de off. (1783) 142; in bezug auf den inhalt eines schriftstückes: das buch ist in einem sehr lesbaren deutsch geschrieben; ein werk, das wegen seines unfläthigen inhalts nicht lesbar ist; in der that hat unsere juristische li­ teratur nicht viele werke in deutscher sprache aufzuweisen, die so wie dieses durch gute klare darstellung als wirklich lesbare bücher genannt zu werden verdienen. Savigny kl. schriften 4, 203.“ 112 Roland Reuß, „Lesen, was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Kafka-Ausgabe“, in: Franz Kafka, Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Einleitung, hg. v. Roland Reuß, Basel/Frankfurt am Main 1995, 9–21, hier: 17. 113 Claus Zittel, Projektbeschreibung auf: http://www.textologie.eu/Profil--Zittel.html (3. De­ zember 2017). 114 Friedrich Kittler, Optische Medien, Berlin 1999, 49.

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tion zuzurechnen, faktisch eine Kulturtechnik zweiten Grades. Vermehrt wird deswegen eine bedingungssensible Erweiterung philologischer Verfahren einge­ fordert.¹¹⁵ Phänomenologischer ausgerichtete Theorien des Medialen, etwa von Dieter Mersch, stellen das „Ereignis des Dass“ vor jede Ordnungsgerinnung, für die ‚Lesbarkeit‘ dann steht. Gegenüber den Kategorien der zeichendurchsetz­ ten Anschauung, die „dem Verstehen oder dem ‚Lesen‘ den Vorzug schenken“, sei „die Erfahrung des Fremden oder vielmehr: das Fremdwerden der Erfah­ rung selbst“ zu betonen.¹¹⁶ Die Nähe dieses Ansatzes zu Bernhard Waldenfels’ Philosophie der Responsivität erhellt einen weiteren Bezug. In Antwortregister (1994) ist ‚Lesen‘ ein am Dispositiv der Rede, mithin an dem des kommunikati­ ven Handelns, orientierter Zwischenschritt der Argumentation auf ihrem Weg zur Vorausgängigkeit der Antwort.¹¹⁷ In stark voneinander abweichender Weise nehmen einige der genannten Au­ toren Bezug auf Schriften Jacques Derridas. Dort findet sich, beispielsweise in Der ununterbrochene Dialog (2004), das Programm einer doppelten Gegenlektüre, die sich anhand einer Zeile Paul Celans mit dem Problem der Unlesbarkeit konfron­ tiert und dabei den (hier: Hans-Georg Gadamers) hermeneutischen Anspruch von innen her aufzubrechen versucht. Mit einer etwas anderen Stoßrichtung, aber, was sich auch an der Wahl der identischen Textstelle zeigt, nicht unverwandt, hat Werner Hamacher die Beobachtung zur Unbeobachtbarkeit des Lesens bei Paul de Man folgendermaßen zugespitzt: „Die Allegorien des Lesens, die de Man in der Li­ teratur entziffert, sind immer auch Allegorien der Unlesbarkeit.“¹¹⁸ Wenn in den Literaturwissenschaften derzeit von einem „Curious Return of Reading“ die Rede ist,¹¹⁹ ist damit keine Erneuerung der Rezeptionsästhetik ge­ meint; markiert wird ein Überschuss, den solche Theorien produziert haben, die sich, auch unter dem Druck der Konkurrenz mit den Natur- und Lebenswissen­ schaften, gegen den Imperativ des close reading in Stellung gebracht hatten. So werden mit den Mitteln des distant, surface oder hyper reading Anordnungen, Transfers und Prozesse erfasst, die sich mit denen des literary criticism nicht ein­

115 Vgl. Harun Maye, „Medien des Lesens“, in: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen, hg. v. Rolf Parr und Alexander Honold, Berlin/Boston 2018, 103–122 sowie den Band Medienphi­ lologie. Konturen eines Paradigmas, hg. v. Friedrich Balke und Rupert Gaderer, Göttingen 2017. 116 Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zur einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2002, 28. 117 Vgl. Waldenfels, Antwortregister, 289. 118 Werner Hamacher, „Unlesbarkeit“, in: Paul de Man, Allegorien des Lesens, hg. v. Werner Ha­ macher, Frankfurt am Main 1988, 7–28, hier: 22. 119 Die Formulierung stammt von Myles Oldershaw: Programmheft zum Annual Meeting of the American Comparative Literature Association, Utrecht 2017, 166.

3.1 Die Lesbarkeit der Welt – Kontexte |

123

holen lassen. Ist ‚Lesen‘ eine der frühen Metaphern für ein elektromagnetisches Verfahren der Hardware, fordert das seither verfeinerte Repertoire der Bildgebung nun seinerseits den Humanismus des bildspendenden Bereichs heraus.¹²⁰ Aber gerade im panoptischen Gestus dieser Zugänge wachsen die Ansprüche des Par­ tikularen, was wiederum neue Kategorien der Beschreibung erforderlich macht. ‚Lesbarkeit‘ erscheint als obsolet; doch die scheinbare Obsoleszenz führt zu Gegenbewegungen. Reading kann nun heißen, anders oder überhaupt Ande­ res zu lesen, andere Ansprüche als die des hermeneutisch Entzifferbaren oder sinnvoll Strukturierten wahrzunehmen: Medialitäten, Satzzeichen, Streichun­ gen, aber eben auch, unter Inkaufnahme des Verlusts des Textbegriffs, „‘the great unread’“.¹²¹ Es kann auch heißen, bei der Grenze des Textes nicht Halt zu machen und mit den analytischen Ansätzen der kritischen Lektüre kulturelle Formationen in den Blick zu nehmen,¹²² was wiederum Widerstand bei denjeni­ gen hervorgerufen hat, die an einem eigentlichen Sinn von ‚lesen‘ festhalten zu müssen meinen.¹²³ Einen ganz anders gelagerten Diskurs hat Benjamin Schaper in seiner Studie zur Poetik und Politik der Lesbarkeit in der deutschen Literatur (2017) aufgearbei­ tet.¹²⁴ Schaper zeigt, inwiefern bis auf Aristoteles’ Poetik und Quintilians Institutio Oratoria zurückgehende Imperative zur klaren Gestaltung des Verhältnisses zwi­ schen Inhalt und ästhetischer Form, zu Unterhaltungsfunktion und Wirkungsori­ entierung Einzug in die poetologischen Programme der Gegenwartsliteratur ge­ halten haben. Der zugrunde gelegte Lesbarkeitsbegriff gewinnt gegenüber dem bloßen Hinweis, ein Text sei gut lesbar, an Komplexität; gleichwohl handelt es sich um einen positiven, auf Semantik und Machart eines literarischen Werks ver­

120 Vgl. zu einer „Metaphorologie der Medien“ grundlegend: Tholen, Zäsur der Medien. 121 So Morettis prominente Bezugnahme auf Margaret Cohen: Franco Moretti, „Conjectures on World Literature“, in: Debating World Literature, hg. v. Christopher Prendergast, London/New York 2004, 148–162, hier: 149. 122 Vgl. Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, hg. v. Gerhard Neumann und Sigrid Weigel, München 2000. 123 Gegen die Annahme der Möglichkeit einer ‚Lesbarkeit der Kultur‘ ist vorgebracht worden, dass der Übergriff auf das Nicht-im-strengen-Sinn-Lesbare eine vorkritische Verletzung der Gren­ ze zwischen Begriff und Metapher impliziert: Klaus Weimar, „Das Wort lesen, seine Bedeutung und sein Gebrauch als Metapher“, in: Genese und Grenzen der Lesbarkeit, hg. v. Philipp Stoellger, Würzburg 2007, 21–34. Ein ähnliches Argument steht auch im Hintergrund der Kritik von Jürgen von Kempski (s. o.). Nun lässt sich die Tragfähigkeit der Annahme einer solchen Grenze deutlich subtiler kritisieren, als es mit dem Hinweis darauf geschehen würde, es sei ohnehin alles Meta­ pher. 124 Benjamin Schaper, Poetik und Politik der Lesbarkeit in der deutschen Literatur, Heidelberg 2017.

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engten Begriff: Lesbarkeit, in diesem Sinn, ist ein Konstrukt, das eine wirkungsäs­ thetische Funktion erfüllen soll. Ein negativer Zugang hingegen zielt auf das, was zugunsten des Gewinns eines positiven Gehalts zurückgelassen werden muss. Der Einsatzpunkt von Blumenbergs Studie lässt sich nun genauer fassen: Auch sie geht davon aus, dass mit dem Paradigma der Lesbarkeit, positiv, eine Idee der Zugänglichkeit verbunden werden kann; zugleich stellt sie an Schrift­ metaphoriken heraus, dass es sich, was die Übertragung auf das Text-Andere der Natur betrifft, um eine bloße Hoffnung handelt. Es besteht zunächst auch gar kein Widerspruch zwischen der Annahme, ein literarisches Werk könne auf gute Lesbarkeit hin gearbeitet sein, und der Beobachtung, die Welt sei als solch ein gut lesbares Buch zu verstehen versucht worden; Schwierigkeiten ergeben sich erst, wenn man auf den metaphorologischen Zugang selbst achtet. Schaper zitiert zum Ende seiner Untersuchung einen Beitrag von Benedict Wells, in dem sich der Grundsatz der Lesbarkeit auf engstem Raum formuliert finde, nämlich als der einer Literatur, die „einfach, klar und präzise“¹²⁵ verfasst sei. Blumenbergs Paradigmen zu einer Metaphorologie setzen mit der Beobachtung ein, dass, in der Geschichte der Philosophie, dem von Descartes ausgesprochenen Anspruch ter­ minologischer „Klarheit und Bestimmheit“ (PM, 11) nicht gefolgt werden konnte. Metaphorologie arbeitet das fortgesetzte Abweichen von dieser Regel auf und das Paradigma der Lesbarkeit ist hierzu, nur scheinbar paradoxerweise, eine der zentralen Anlaufstellen. Es kommt auf, wenn das Ideal des Klaren und Präzi­ sen weder erfüllt noch aufgegeben werden kann. Deswegen sind die innerhalb der Konfiguration beobachtbaren Komplikationen von Lesbarkeit, die bis zum „leere[n] Weltbuch“ (LW, 300) führen, nicht bloß von empirischem Interesse. Vielmehr stellt die immanente Destruktion einer metaphorischen Konfigurati­ on die Destruktion auch der Ansprüche aus, die dazu geführt haben, sie erneut aufzurufen.¹²⁶ Im Anschluss an diese Beobachtungen soll unter dem Stichwort der Lesbar­ keit ein Insistieren beschrieben werden, das zwischen dem Obsoleten und dem Ir­ reduziblen liegt. Es ist kein ursprüngliches Recht, das wiederherzustellen bleibt; aber der Komplex der Ursprünglichkeit, wie von Blumenberg in seiner Disserta­ tionsschrift bearbeitet,¹²⁷ bleibt Teil der Fragestellung. Sie ist verwandt mit einer ganzen Reihe von Problemlagen, so etwa mit Blumenbergs These zur Überwin­ dung der Gnosis in der frühen Neuzeit und der einhergehenden Technisierung der Wissenschaften. 125 Benedict Wells, „Und, wie geht die Geschichte weiter? Sag schon!“, in: Du, September 2012, 34–37, hier: 36, zit. n. Schaper, Poetik und Politik der Lesbarkeit, 240. 126 Vgl. zu diesem Problem auch: Waszynski, Berührbarkeit. 127 Vgl. Abschnitt 2.3.

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ |

125

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ Die Welt als Buch: Das könnte, wollte man es angeben, so etwas wie ein Mini­ malsujet der Lesbarkeit der Welt (1981) sein. Gleichzeitig wäre es damit unzurei­ chend bestimmt. In einem Brief an Siegfried Unseld nennt Hans Blumenberg als Gegenstand der im Anschluss an Schiffbruch mit Zuschauer (1979) neu geplanten Abhandlung das Thema „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“.¹²⁸ Der Vertau­ schung der Plätze ist die Goethe-Analyse in Kapitel XV gewidmet. Goethes Plan eines Romans über das Weltall bezeichne „den Umschlag von der Welt, die ein metaphorisches Buch ist, zu dem Buch, das eine metaphorische Welt sein wird.“ (LW, 223) In der Anlage der Lesbarkeitsstudie gibt es eine doppelte Wendung: zum einen die Aufnahme des Weltbegriffs dort, wo bereits etwas anderes als ‚Welt‘ im Spiel ist, zum anderen die Verkehrung dieser Zuschreibung, sodass ‚Welt‘ in me­ taphorischer Verwendung auftritt.¹²⁹ Auf eine solche, allerdings historisch anders kontextualisierte Umkehrung innerhalb der Metapherngeschichte¹³⁰ hatten bereits frühere Studien, die Blu­ menberg kannte, hingewiesen: Zu einem Satz des ukrainischen Schriftstellers Iwan Franko (1856–1916) – „Die Bücher sind die Tiefe des Meeres, wer in sie bis zum Boden untertaucht, der bringt wunderbare Perlen herauf, wenn er auch große Mühe hat“ –¹³¹ schreibt Dimitrij Tschižewskij: „Das ist aber eine Umkeh­ rung des besprochenen Buchsymbols: Bücher sind eine Welt, nicht die Welt ein Buch!“¹³² Diese Art der Materialaufbereitung hat Tschižewskij weiterverfolgt, so im Aufsatz „Umkehrung der dichterischen Metaphern, Topoi und anderer Stilmit­

128 Hans Blumenberg, Brief an Siegfried Unseld, 7. Juli 1979 (DLA Marbach, Nachlass), zit. n. von Bülow/Krusche, Nachwort, 284. Zum Ende des Metaphorologieprojekts aus publikationshis­ torischer Perspektive vgl. Rüdiger Zill, „Nackte Wahrheiten – Zur Metaphorologie der Theorie der Unbegrifflichkeit bei Hans Blumenberg“, in: Blumenbergs Schreibweisen. Methodische und kul­ turanalytische Perspektiven im Ausgang von Hans Blumenberg, hg. v. Wolfgang Müller-Funk und Matthias Schmidt, Würzburg 2019, 15–34. 129 Es handelt sich in dieser geschichtlichen Fragestellung um ein Erbe der aristotelischen Me­ tapherntheorie und der Idee systematischer Umkehrbarkeit von Metaphern. 130 Blumenberg verwendet immer wieder solche Figuren der Umkehrung, etwa, in einer Fest­ schrift für Tschižewskij, mit Bezug auf die Zuschauerposition: „Die Umkehrung der Zuschauer­ relation hat, indem sie die menschliche Geschichte als einen Gott ‚interessierenden‘ Gegenstand implizierte, die Gegenständlichkeit der Geschichte überhaupt erhöht und dem menschlichen In­ teresse vermittelt. Die Erneuerung der Formel vom contemplator caeli in der Renaissance war so etwas wie die Rückforderung eines Rechtes des Menschen.“ Contemplator, 121. 131 Iwan Franko, Vybrani poezij, 1951, 157, Übersetzung zit. n. Tschižewskij, Das Buch als Symbol des Kosmos, 109. 132 Tschižewskij, Das Buch als Symbol des Kosmos, 109.

126 | 3 Ansprüche der Lesbarkeit

tel“ (1961).¹³³ Ernst Robert Curtius geht bis in die Frühe Neuzeit zurück: „Eine ele­ gante Umkehrung des topos ‚Buch der Welt‘ gab der berühmte Epigrammatiker John Owen (1563?–1622). Er nannte (I 3) sein Buch eine Welt: Hic liber est mundus; homines sunt, Hoskine, versus; / Invenies paucos hic, ut in orbe, bonos.“¹³⁴ Die be­ reits in Schiffbruch mit Zuschauer erprobte Analytik der über lange historische Zeiträume hinweg vollzogenen Umkehrung einer Metaphorik trifft im Material zum Buch der Natur auf fruchtbaren Boden. Im Unterschied zu Tschižewskij und Curtius wird dieser Vorgang stärker theoretisch belastet. Wenn sich Ansprüche auf Zugänglichkeit der Welt oder Erfahrbarkeit des Daseins in einer bestimmten Metaphorik zeigen – was lässt sich dann für die Einlösung solcher Ansprüche erhoffen, wenn das Hilfsangebot ein Eigenleben entwickelt, sich aus der mut­ maßlich ursprünglichen Verwendung löst und sogar in das Gegenteil verkehrt? Mit dem Grundgerüst dieser in der Lesbarkeit der Welt nicht eigens hervorge­ hobenen Beobachtungen zum metaphorologischen Interesse für historische Um­ schlagpunkte lässt sich auch eine zentrale These des Romanaufsatzes von 1964 verbinden: Der Roman beanspruche selbst eine Welt zu sein und liefere so „die Idee der Konkurrenz des Künstlers mit der vorgefundenen Welt“ (Wirklichkeits­ begriff, 18).¹³⁵ Historisch – werkgenetisch verhält es sich umgekehrt – nimmt die Konkurrenz des Romans zur Welt die Konkurrenz des Buchs der Natur zum Buch der Bücher auf. Mit der von Blumenberg erst um 1800 veranschlagten Umkehrung steht der Roman-als-Welt (Goethe – Humboldt) in Konkurrenz sowohl zur ‚wirk­ lichen Welt‘ (Kapitel XVIII „Ein Buch von der Natur wie ein Buch der Natur“) als auch, verspätet, zum ersten der beiden Bücher. Die „alte Feindschaft“ „[z]wischen den Büchern und der Wirklichkeit“ (LW, 17) macht die Formel für das Gefüge der Wirklichkeitsbegriffe interessant.¹³⁶ Die Geschichte der Verbindung von Buch und

133 Dimitrij Tschižewskij, „Umkehrung der dichterischen Metaphern, Topoi und anderer Stilmit­ tel“, in: Die Welt der Slaven 6 (1961), 337–354. 134 Curtius, Europäische Literatur, 326. 135 Auch hier ist es nicht die Welt an sich, sondern die „vorgefundene Welt“, auf die Bezug ge­ nommen wird. 136 In seinem Vortrag „Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff“ (1973) hatte Blumenberg eine derartige Konstruktion bereits unter einem historischen Blickwinkel besprochen. An das, was ge­ schichtlich als ‚wirklich‘ verstanden worden sei, komme man nur über das heran, was als unwirk­ lich ausgeschlossen worden sei. Positiver formuliert: „vom höchst Allgemeinen spricht es sich am besten, indem man von ihm ‚absieht‘, auf etwas anderes oder das ganz andere hinsieht.“ Und weiter: „Wenn man von einer so allgemeinen Sache wie der ‚Welt‘ und dem ‚Leben‘ einigermaßen sinnvolle Aussagen machen will, geht es gleichfalls nur im Absehen von dem zu großen Subjekt und in der Wahl eines Leitschemas.“ Vorbemerkungen, 4. Im Romanaufsatz manifestiert sich die Interdependenz der vier Wirklichkeitsbegriffe am Anspruch des modernen Romans, selbst eine Welt zu sein. Vgl. Wirklichkeitsbegriff, 18.

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ |

127

Natur ist die Geschichte einer mehrfachen Unzulässigkeit. Sie schließt auch die Konkurrenz des Buchs der Natur „nicht nur zur Autorität der Bibel, sondern auch zu Aristoteles“ (LW, 18) ein. Fraglich ist, inwiefern dies noch das Konkurrieren des einen mit dem anderen sein kann, wenn die Stellen vertauscht werden können, dieser Tausch sogar zum Gegenstand der Abhandlung erklärt wird. Es kommt hin­ zu, dass es sich nicht um einen Tausch symmetrischer Relata handelt. So ist „die Welt“ nicht als das Buch, sondern als ein Buch vorgestellt, sodass also mindestens Buch gegen Buch stehen kann; umgekehrt beansprucht „das Buch“, eine (zweite) Welt zu sein. Diese Bewegung des Platztausches lässt sich auf eine Dynamik be­ ziehen, die weder in einer ‚Ideengeschichte rhetorischer Figuren‘ (Werner Hama­ cher) noch in einer anthropologischen Begründung aufgeht. Im Positionswechsel der Relata muss der Vorgang dieses Wechsels selbst thematisch werden. Denn die „vorausgesetzte[] Adäquanz“ zwischen den Polen ist, wie Georg Christoph Tho­ len am Begriffspaar ‚Realität und Fiktion‘ herausgestellt hat, ein „Zirkelschluß“, weil dabei die „Austauschbarkeit und Ablösbarkeit“, als Bedingung allen Austau­ sches, unbefragt bleibt.¹³⁷ Über einen Rückgriff auf Blumenbergs unveröffentlichte Habilitationsschrift wird im Folgenden seine frühe Kritik am phänomenologischen Weltbegriff skiz­ ziert und auf die Diskussion der Lesbarkeitsmetaphorik bezogen. Mit der Theorie der Unbegrifflichkeit (2007) lässt sich zeigen, wie diese Anlage erweitert wird: ei­ nerseits durch das Aufgreifen der kantischen Vernunftbegriffe, andererseits über eine Verschränkung von Unbestimmtheit und Geschichte. Während mit diesen Hinweisen die Ränder der Formel („die Welt als“; „als Welt“) beleuchtet werden können, thematisiert ein nächster Schritt die Funktion des gedoppelten ‚als‘. Dar­ über lässt sich das Problem der Geschichtlichkeit von Welt erneut aufgreifen, dies­ mal jedoch unter dem Aspekt einer Destruktionsgeschichte ihres ontologischen Gehalts. In Verbindung mit der Aufmerksamkeit für das Buch schlägt die von Blu­ menberg angekündigte Aufarbeitung epistemologischer Hoffnungen um in die am Material ablesbare Zersetzung des Lesbarkeitsdispositivs, das diese Hoffnungen tragen sollte.

Die Welt zwischen Horizont und Geschichte Der dritte Hauptteil von Blumenbergs Habilitationsschrift Die ontologische Di­ stanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls (1950)¹³⁸ 137 Tholen, Platzverweis, 117. 138 Er trägt die Überschrift: „Gegenständigkeit und Inständigkeit als Termini der ontologischen Distanz“. OD, 95.

128 | 3 Ansprüche der Lesbarkeit

greift phänomenologische Positionen zum ‚Welt‘-Begriff auf.¹³⁹ Daran sollen, was ausdrücklich nicht um einer „bloßen Kritik der Phänomenologie“ Willen gesche­ he, verschiedene „Krisenpunkte“ (OD, 173) herausgestellt werden. Einer dieser Krisenpunkte ist die Nähe der phänomenologischen Begriffe von Horizont und Welt. Dieser Zugang ist vermittelt über einen dritten Begriff: Geschichte. Ontolo­ gisch könne Geschichte nicht schlichtweg Gegenstand sein, dem sich methodisch oder ‚museal-antiquarisch‘ (OD, 142) begegnen ließe, sondern das Geschichtliche betreffe, wenn auch unbemerkt, jeden methodischen Zugriff: Was das „Wesen“ des Geschichtlichen in seiner Geschichtlichkeit ausmacht, das ist diese ungewärtigte Betroffenheit, die die wissenschaftliche Historie mit ihrem Anspruch theore­ tischer Gegenständigkeit in dem Bewußtsein ihrer eigenen und unausschlagbaren, also ge­ schickhaften Inständigkeit in der Geschichte erfährt. (OD, 96)

Ein anderes Wort, das mit dieser „Inständigkeit“ verbunden wird, ist „Andring­ lichkeit“ (OD, 96). Blumenberg spricht von einem „‚Hineinreichen‘ der Geschicht­ lichkeit in die ontologische Fundamentalsphäre“ des Seins und bezieht genau diese Konstruktion auf ‚Welt‘: „Der ontologische Titel des wesentlich geschichtlich gegenwärtigen Seins ist ‚Welt‘.“ (OD, 128) Versuche, diese Geschichtlichkeit sys­ tematisch zu tilgen, sind zum Scheitern verurteilt. Blumenberg arbeitet heraus, wie sich Geschichtlichkeit als Andringlichkeit des vermeintlich „Undenkwürdi­ gen“ mit Husserls Horizontbegriff fassen lässt, kommt aber zu dem Schluss, dass es gerade dieses Moment ist, das „von den Grundlagen des Gesamtsystems her als­ bald überwältigt“ (OD, 173) wird: „‚Welt‘ aus der unbewältigten Andringlichkeit in theoretische Strukturübersicht zu transponieren und so als Selbstand gewähren­ den Besitz des Geistes zu gewinnen, ist das innerste Ziel des phänomenologischen Denkens“ (OD, 172), also eine Philosophie der Unbetroffenheit. In den §§ 6–7 wird dargelegt, an welcher systematischen Stelle Raum für den Gedanken irreduzibler historischer Ansprüche gewesen wäre. Um diese Stelle zu bestimmen, wird zunächst gezeigt, wo er nicht aufkommt, aber hätte vermutet werden können – nämlich in einer Verbindung mit ‚Welt‘. Husserls Prägung, auf die sich Blumenberg in diesem Zusammenhang konzentriert, ist ‚Welt als geistige Leistung‘ (vgl. OD, 143). Mit der These zum Ego als dem transzendentalen Grund von Welt lasse sich zwar der Wirklichkeitsglaube außer Kraft setzen, aber der phä­ nomenologische Wiedergewinn von ‚Welt‘ bleibe einer besitzergreifenden Geste der Distanznahme verpflichtet, einem „über sich verfügende[n] Stellung-nehmen,

139 Verwiesen sei auf die erste ausführliche und systematische Erschließung der frühen Arbeiten durch Kurt Flasch, der auch dieses Kapitel kritisch diskutiert: Flasch, Hans Blumenberg, 161–204.

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ | 129

Einstellungen-wählen, modifizieren“ (OD, 145).¹⁴⁰ Trotz der epoché des Faktischen bleibe Welt in diesem Zuschnitt gegenständlich.¹⁴¹ Blumenberg meint nun, dass tiefer anzusetzen und nach der Notwendigkeit solcher Reduktion zu fragen sei: Mag es nun mit der Legitimität und Facilität dieser Reduktion bestellt sein wie es will – wo­ her überhaupt der Antrieb, die Nötigung, sie zu vollziehen, ja das Überhaupt-in-den-Blickkommen ihrer Möglichkeit? [. . . ] Wenn der „Weltglaube“ das „durch alle Natürlichkeit un­ merklich hindurchgehende universale ‚Vorurteil‘ der Welterfahrung“ ist, wie kommt er als so Umfassendes zu einer Auffälligkeit, die ihn dem Willen der Inhibierung doch allererst aussetzt? (OD, 144)

Die Antwort wird mit dem an Heidegger angelehnten Konzept der Inständigkeit gegeben, zugleich aber weiter nach dessen möglicher Begründbarkeit in Husserls Phänomenologie gesucht. Diese Möglichkeit findet sich in der Genese des Kon­ zepts des Horizonts. Hierfür geht Blumenberg auf die Formale und transzenden­ tale Logik (1929) zurück und hebt die Situationsgebundenheit heraus, die sich aus der Differenz zwischen ‚objektiven‘ und lageabhängigen ‚okkasionellen Aus­ drücken‘ ergibt. Horizont ist hier „Situationshorizont“;¹⁴² gleichzeitig erlaube der Begriff, „die Okkasionalität nicht als bloße Komplexion eidetisch-gegenständli­ cher Momente zu begreifen; er ist gleichsam die phänomenologische ‚Klammer‘ zwischen den Bereichen des Eidetisch-Notwendigen und des Situationell-Fakti­ schen.“ (OD, 161) Erfasst werden soll ein bestimmtes Eingelassensein, bevor es in einem Horizontbegriff aufgeht, der auf die Möglichkeit unendlicher Aktualisie­ rung abhebt und Erfahrung abschließend umgreift. „‚Welt‘ als universaler Hori­ zont der Erfahrung, der in typischer Konstruktion systematisch ‚vorgestellt‘ wer­ den kann, steht im Modus der Übersicht und ist darin in einem weitesten Sinne gegenständlich.“ (OD, 170) Das zweite Element, das Blumenberg sowohl an Husserls Horizont- wie Welt­ begriff produktiv machen will, ist das einer neuen Art der Ganzheit. „Welt“ ist ein Ganzes, das nicht aus Gegenständen als ihren Stücken oder Teilen gefügt oder Produkt ihres bloßen Zusammengefundenhabens ist und nicht etwa ein „Gehäuse“ solchen Zusammenseins, sondern als Sinneinheit auch die Fundierung, die gegenständliche Inhalte erst als solche sein läßt. (OD, 163) 140 Blumenbergs ausführliche Kritik des Konzepts der Lebenswelt, wie sie in der Nachlassver­ öffentlichung Theorie der Lebenswelt (2004) zugänglich geworden ist, wird genau das Moment des Nicht-selbst-wählen-Könnens gegen Husserl herausstellen. Dieser Nexus ist von eminenter Bedeutung, als sich darin eine systematische ‚Autodestruktion‘ der Lebenswelt mit einer histori­ schen ‚Inständigkeit‘, wie sie am Weltbegriff wieder restituiert wird, verschränkt. 141 Vgl. hierzu auch die Kritik der Dissertationsschrift (Abschnitt 2.3). 142 Vgl. Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, Halle an der Saale 1929, 177.

130 | 3 Ansprüche der Lesbarkeit

Dieses neue Verständnis des Ganzen ist für Blumenberg deswegen wichtig, weil sich darüber Geschichtlichkeit anders denken lässt, nämlich als „das Ganze eines geschichtlichen Sinnes, der sich in Gegenständlichem manifestiert, aber nicht aus ihm konstituiert.“ (OD, 164) Das Ganze hat hier eine unterbrechende Funktion in Bezug auf den methodisch-gegenständlichen Zugriff. Genau dieser Aspekt müsse mit dem Weltbegriff wieder verbunden werden, um Geschichte in der ‚ontologi­ schen Fundamentalsphäre‘ verorten zu können. ‚Welt‘ lässt sich nicht festhalten, kann nicht ‚gehabt‘ werden; vielmehr ist ‚Welt‘ dasjenige, in dem das Anheben des philosophischen Fragens singulären historischen Situationen ausgesetzt ist. Für Blumenberg ist deswegen überhaupt nur von einem In-Frage-gestellt-Sein auszu­ gehen, nie also der volle Anfang des Fragens zu gewinnen.¹⁴³ ‚Welt‘ ist der frühe Name für das, was singulär angeht und betrifft, und zwar im vollen Sinne eines Ganzen, über das nicht verfügt werden kann. Damit hat die prominente Frage zu tun, die zu Beginn der Lesbarkeit der Welt den Untersuchungsrahmen absteckt: „Welches war die Welt, die man haben zu können glaubte?“ (LW, 10) An die Stelle der Andringlichkeit tritt das Sich-Geben einer Welt, das wiederum seine eigene Geschichte entwickelt.

Welt, Natur, Wissenschaft Der Rückgang auf die Habilitationsschrift ist deswegen so wichtig, weil sich im Hintergrund der ausgestellten Konfrontation ‚Mensch gegen Wirklichkeit‘ ein tie­ ferliegendes phänomenologisches Strukturproblem ausmachen lässt, das bereits in die ‚Theorie der Unbegrifflichkeit‘ hinüberführt. Während Husserls Schriften einerseits einen wesentlichen Teil des Problem­ gerüsts der Weltproblematik stellen, bieten sie andererseits eine der frühesten Fundstellen für das Paradigma ‚Buch der Natur‘. Im Paradigma VI der Paradig­ men zu einer Metaphorologie (1960) hatte Blumenberg die Maschinen-Metapher der Buch-Metapher gegenübergestellt und diese Konfrontation der Hintergrund­ metaphoriken aus zwei Passagen aus dem Krisis-Kontext bezogen. Beide zielten „nicht mehr auf Sinn und Struktur der Welt als Realität, sondern auf Sinn und Struktur der Welt als Wissenschaft.“ (PM, 108) Beobachtbar wird die Zurücknah­ me eines Geltungsanspruchs von weiterhin maximaler Reichweite. In einer Bei­ lage Husserls tritt die Buchmetapher als teleologisches Gedankenspiel auf, näm­

143 „Wir hatten gezeigt“, fasst Blumenberg sein Programm zusammen, „daß philosophische Selbstverantwortung nur dann den Anspruch der Radikalität erfüllt, wenn sie sich als Fragenstellende aus dem Grunde ihres In-Frage-gestellt-seins versteht und dieses ‚Pathos‘ nicht aus­ schlägt.“ OD, 152. Zur Herleitung des Pathos-Konzepts mit Søren Kierkegaard vgl. OD, 114.

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ | 131

lich „daß alle Werke der Wissenschaft zu einem einheitlichen Gesamtwerk, dem theoretischen System (der Lehre des idealen Lehrbuches) ‚zusammengeschlos­ sen werden‘.“¹⁴⁴ Blumenberg kommentiert: „Das ‚ideale Lehrbuch‘ als Telos und Integral der unendlichen Anstrengung der Wissenschaft – das ist wahrhaft eine ironische Transkription des vom Schöpfer-Autor urverfaßten ‚Buches der Natur‘.“ (PM, 109) In der Lesbarkeit der Welt werden diese Formulierungen nicht aufgegrif­ fen, aber sie prägen den Gang der Untersuchung insofern vor, als die ironische Variante der Buchmetaphorik genau jenen Vorbehalt transportiert, den die Ha­ bilitationsschrift kritisch diskutiert hatte: den Vorzug einer theoretischen Syste­ matik, die anderes integriert anstatt ein geschichtlich Ungewärtigtes anzuerken­ nen. Eine solche Integration sei, so die Fortführung der Stelle zum ‚innersten Ziel des phänomenologischen Denkens‘, „ein Ziel, das dem wissenschaftlichen Geist der Neuzeit zutiefst innewohnt und dem Wort Husserls Recht gibt, die Phänome­ nologie sei ‚gleichsam die geheime Sehnsucht der ganzen neuzeitlichen Philoso­ phie‘.“ (OD, 172)¹⁴⁵ Husserls Kritik der modernen Naturwissenschaften wird dem­ nach auf das phänomenologische Verfahren zurückgewendet. Der Nachweis ei­ ner Destruktionsgeschichte des Anspruchs auf Totalität, wie er mit dem Medium Buch verbunden wird (vgl. LW, 17), ist zugleich Arbeit am Fundamentalproblem der ‚Geschichtlichkeit von Welt‘. Es handelt sich daher nicht um eine beiläufige Bemerkung, wenn Blumen­ berg, in seiner Referenz an Erich Rothacker zu Beginn der Lesbarkeit der Welt, ein „Ungenügen am Weltbegriff der Naturwissenschaften“ (LW, 13) zitiert.¹⁴⁶ Die Welt-Natur-Differenz ist eine der großen Verhandlungslinien der Lesbarkeit der Welt. Blumenberg hatte dieses Verhältnis u. a. in seinem Aufsatz „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“ (1963) mittels einer derivati­ ven Struktur erläutert: Die Intentionalität des Bewußtseins erfüllt sich in letzter Instanz in dem umfassendsten Ho­ rizont aller Horizonte, in der „Welt“ als der regulierenden Polidee aller möglichen Erfahrung, dem System, das alle Möglichkeiten der Erfahrung in letzter Einstimmigkeit hält und in­ nerhalb dessen sich die Erfahrungsgegebenheiten erst als reale bestätigen können. So wie Husserl in seinen frühesten Analysen die Sinnesdaten des Sensualismus als von dem ge­ genständlichen Untergrunde nicht abtrennbare Merkmale beschrieben hatte, die nur durch einen als „Pointierung“ bezeichneten Akt vergegenständlicht worden seien, so wird in der 144 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä­ nomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, in: ders., Husserliana [Hua], Band VI, hg. v. Walter Biemel, Den Haag 1954, Beilage XVII zu § 33ff, 459–460, hier: 460. 145 Mit Verweis auf: Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenolo­ gischen Philosophie, in: ders., Husserliana [Hua], Band III/1, hg. v. Karl Schuhmann, Den Haag 1976, 118. 146 Vgl. zur Rothacker-Rezeption Abschnitt 3.1.

132 | 3 Ansprüche der Lesbarkeit

„Welt“ als dem Horizont aller Horizonte das Gegenständliche seinerseits in einem der Poin­ tierung analogen Akt isoliert und herausgehoben. Auch „Natur“ [. . . ] ist das Ergebnis sol­ cher Pointierung, ist also ein abgeleiteter und mit Welt nicht gleichursprünglicher, schon verengter Gegenstandshorizont. (Technisierung, 19–20)

Der Akt der Pointierung benennt ein ableitendes, zuspitzendes Herausheben. Hier wird eine Analogie gebildet: So wie Sinnesdaten erst als Sinnesdaten abgehoben werden müssten, so muss Gegenständliches erst als Gegenständliches herausge­ stellt werden. In dieser Konstruktion fällt ‚Natur‘ weder mit dem ‚gegenständli­ chen Untergrund‘ noch mit ‚Gegenständlichkeit‘ zusammen. Blumenberg merkt lediglich an, dass ‚Natur‘ auch Ergebnis einer solchen Zuspitzung sei: „ein abge­ leiteter und mit Welt nicht gleichursprünglicher, schon verengter Gegenstandsho­ rizont.“ ‚Welt‘ ist hier der umfassendste Horizont, demgegenüber Natur, Gegen­ ständlichkeit und Sinnesdaten Verengungen darstellen. ‚Welt‘ steht in Relation zu Natur wie Erfahrung, entspricht dem Untergrund der Sinnesdaten, umgreift als ‚Horizont der Horizonte‘ die Möglichkeit von Erfahrung und geht dabei gegen­ ständlichen Verengungen voraus. Das erste Kapitel der Lesbarkeitsstudie ist mit „Eine Metapher für das Ganze der Erfahrbarkeit“ überschrieben. Dieser Titel läßt sich als Frage danach verste­ hen, wie das, was Erfahrung in letzter Instanz umgreift, seinerseits als erfahrbar vorgestellt worden ist. Nun tritt die Fragestellung aber sofort auseinander. Sie löst sich aus dem Modell eines Horizonts der Horizonte und wird deutlich unspezi­ fischer gefasst. Als ein Untersuchungsgegenstand wird jetzt der „Wunsch“ ange­ führt, „die Welt möge sich in anderer Weise als der der bloßen Wahrnehmung und sogar der exakten Vorhersagbarkeit ihrer Erscheinungen zugänglich erweisen: im Aggregatzustand der ‚Lesbarkeit‘ als ein Ganzes von Natur, Leben und Geschichte sinnspendend sich erschließen“ (LW, 10). Während ‚Welt‘ in phänomenologischer Perspektive als das Ganze der nicht eigens wahrgenommenen oder wahrnehm­ baren Mitgegebenheit verstanden werden kann, verändert sich dieser Zugang in der Aufarbeitung des Wunsches, im Paradigma der Lesbarkeit eine eigentlichere als die bloße Wahrnehmungs-Welt erreichen zu können. Diese eigentlichere wäre aber wiederum eine phänomenologische Welt, weil sie andere Ganzheiten („Na­ tur, Leben und Geschichte“) so umgreift, dass diese nicht als bloße Teile verstan­ den sein dürfen. Dass sie zum zugänglichen Objekt gemacht werden soll, zieht sich den Einwand zu, den Blumenberg gegen Husserls Weltbegriff angeführt hat­ te. Entscheidend ist, dass dieses Ganze lediglich als Anspruch und nicht als Struk­ turvorgabe gedacht ist. Das Ganze ist reine Prätention. Folgt man dieser Fährte, erhält man eine Dynamik, die sich aus der Unvereinbarkeit der Wunsch-Welt, wel­ cher Zugänglichkeit abzuringen ist, mit der Horizont-Welt, welche unzugänglich bleibt, ergibt. Nun aber geraten die mit der Wunsch-Welt verknüpften Ansprüche

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ | 133

selbst unter den Vorbehalt eines anderen Weltbegriffs, der sich wiederum, was Husserls Werkentwicklung betrifft, aus einer Art Tieferlegung der Welt-als-Hori­ zont ergeben hatte, nämlich der Lebenswelt. „Wo versteckt sich, was Erwartung gewesen war, vielleicht noch ist oder gar werden könnte?“ (LW, 9). Das Verfahren, das diese Erwartungen aufschließen will, trägt sich in eine genau austarierte Kon­ stellation unterschiedlicher Weltbegriffe ein. Der im Paradigma der Lesbarkeit lie­ genden Spannung zwischen Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit von ‚Welt‘ tritt die Spannung zwischen Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit lebensweltlich se­ dimentierter Ansprüche ‚auf‘ Welt zur Seite.¹⁴⁷

Welt als . . . Das Untersuchungsfeld ist durch eine Vielzahl an Fragestellungen strukturiert. So bringt die Zugehörigkeit von ‚Welt‘ zu den reinen Vernunftbegriffen einen wei­ teren Aspekt ein. Als Idee im Sinne der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants entzieht sich ‚Welt‘ der Wahrnehmung nicht als uneinsehbare Mitgegeben­ heit, sondern weil sie überhaupt nicht in die Anschauung zu bringen ist.¹⁴⁸ Es ge­ hört zu den wesentlichen Strukturkonflikten der Lesbarkeit der Welt, dass, wie in der Spannung zwischen Husserls ‚idealem Lehrbuch‘ und dem Weltbegriff, Kants Schriften ihrerseits einer kritischen Stellenlese unterzogen werden können. Sie liefern einen Aspekt des systematischen Problems und das Material zu dessen Be­ arbeitung. Mit dem Fokus auf den Ideen richtet sich Blumenbergs Vorbehalt auf ein Zentrum der Transzendentalphilosophie. Es ist wichtig zu sehen, dass Kants Formulierungsvariante, „daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können“,¹⁴⁹ zu Beginn des Abschnitts „Von den Ideen über­ haupt“, dem ersten der Transzendentalen Dialektik, steht, also gerade an dem herausgehobenen Ort, der Platons Ideen-Begriff aufnimmt und in den eigenen Entwurf überführt. Blumenberg kommentiert diesen Passus in Kapitel XIII als Teil der Karriere, die die „Unentbehrlichkeit“ der Metapher überhaupt, die sie im Speziellen aber in

147 Gegenüber den Erfahrungen, die im alltäglich-lebensweltlichen Umgang mit Buch und Schrift gemacht werden, ist dies der entscheidendere Aspekt der Lebensweltproblematik. 148 Thomas Khurana hat allerdings vorgeschlagen, das Problem des Vernunftbegriffs Welt durchaus intrinsisch mit einem anschaulichen Moment in Verbindung zu bringen – und zwar über den Bildbegriff: Thomas Khurana, „Idee der Welt. Zum Verhältnis von Welt und Bild nach Kant“, in: Soziale Systeme 18 (2012), 94–118. 149 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 314, B 370–371.

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ihrer „Unentbehrlichkeit im orientierenden Hintergrund von Kants Erfahrungsbe­ griff“ (LW, 190) vollzogen habe.¹⁵⁰ In den von Anselm Haverkamp zur Theorie der Unbegrifflichkeit (2007) zu­ sammengefassten Texten, die dem Vorlesungsmanuskript zur Buchmetaphorik aus dem WS 1978/79 unmittelbar vorausgehen, stellt Blumenberg mit Kants Ver­ nunftbegriffen aber auch generell die Unvermeidbarkeit der Metaphernbildung heraus, thematisiert in sprachtheoretischer Perspektive die Schwierigkeiten, die in der Zuschreibung ‚. . . als Welt‘ liegen, und erläutert dann in Rücksicht auf die Prägung ‚Kosmos‘ eine ideengeschichtliche Dimension. Die Metaphernbildung zu ‚Welt‘ greift er gemeinsam mit zwei anderen Großbegriffen auf, nämlich ‚Sein‘ und ‚Geschichte‘ (vgl. ThU, 65–74). Bereits in der Habilitationsschrift bildete diese Tri­ as das Untersuchungsfeld. In Theorie der Unbegrifflichkeit beginnt die Argumentation mit einer These zur absoluten Metapher. Diese zeichne sich dadurch aus, nicht in Begrifflichkeit übertragbar zu sein: Die Resistenz einer Metapher gegenüber ihrer Auflösung in homogene, dem Kontext wider­ standslos integrierte Aussagemittel hängt zwar auch von Kühnheit der Metapher (wie Wein­ rich es genannt hat) ab, aber noch mehr von der Schwäche der Kontextdetermination, also in philosophischer Ausdrucksweise: von der Idealität des reinen Vernunftbegriffs, in dessen Prädikatensystem die Metapher auftritt. (ThU, 65)¹⁵¹

150 „Von der gefährlichen Höhe der Idee her betrachtet, deren Korrelat einmal die Anschau­ ung war und wieder werden sollte, nimmt sich die Differenz von Buchstabieren und Lesen un­ erheblich aus, da doch beides auf ‚bloße Erscheinungen‘ geht. Während alsbald die Kategorien ganz und ausschließlich im Dienst des Übergangs vom Buchstabieren zum Lesen stehen wer­ den, wie es die Formel der ‚Prolegomena‘ umbesetzt.“ LW, 192. Diese Formel lautete: „Sie [die reinen Verstandesbegriffe] dienen gleichsam nur, Erscheinungen zu buchstabiren, um sie als Er­ fahrung lesen zu können“. Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: ders., Werke: Akademie-Textausgabe, Band 4, hg. v. Benno Erdmann, Berlin 1978, 253–383, hier: 312. Blumenberg hebt die wesentliche Differenzmar­ kierung hervor zwischen „der psychologischen Erklärung der empirischen Kausalität als gere­ gelter Abfolge von Erscheinungen und der ihrer notwendigen Verknüpfung zur Identität einer Erfahrung durch reine Verstandesbegriffe, deren reiner Gebrauch zugleich ausgeschlossen sein soll“. LW, 190. 151 Der vermeintlich stabile Grund der „Aussagemittel“ wird in der Lesbarkeit der Welt angegrif­ fen. Blumenberg thematisiert das Ineinandergreifen der „Aussagemittel eines Autors“ hinsicht­ lich der Frage, in welcher Weise diese „sich gegenseitig stützen und erhellen oder auch stören“. LW, 15. In einer Variation heißt es: „Die großen Umkehrungen, wie die des Rousseau, hätten kei­ ne Ausdrucksmittel, wenn sie nicht stabilisierte ikonische Institutionen vorfänden, an denen sie sich vergreifen können.“ LW, 32. Irritierend sind beide Ausdrücke, weil sich dahinter ein kom­ munikationslogisches Modell vermuten lässt, in dem die Mittel instrumentell, als einer ohne sie gefundenen Aussage dienlich oder zum bloßen Zweck des Ausdrucks verstanden wären, wie man

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ | 135

Syntaktisch wird die „Schwäche der Kontextdetermination“ mit der „Idealität des reinen Vernunftbegriffs“ parallel geführt. Bereits der frühe Zuschnitt der Meta­ phorologie (1960) war auf § 59 der Kritik der Urteilskraft (1790) und die Verstandes­ begriffe zurückgegangen.¹⁵² Sie rücken im unbegrifflichen Neuansatz nun erneut in den Fokus. Kants Bestimmung lautet: Der Begriff ist entweder ein empirischer oder reiner Begriff, und der reine Begriff, so fern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen Bilde der Sinnlichkeit) heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee, oder der Vernunftbegriff.¹⁵³

Von diesen Vernunftbegriffen sagt Kant, dass sie keinen „angemessenen Ge­ brauch in concreto“¹⁵⁴ hätten, mithin überhaupt nicht in einer Relation zur Er­

etwa sagen kann: „Die neutestamentlichen Autoren benutzen das Aussagemittel der Legende“. Herbert Braun, Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, Tübingen 1971, 285. Zugleich müsse die ‚Botschaft‘ von den erzählten Legenden entkoppelt sein. Nach diesem Modell ließen sich auch Metapher, Mythos, Anekdote oder Begriff als Aussagemittel auffassen; vor dem Hintergrund von Blumenbergs ‚Theorie der Unbegrifflichkeit‘ käme eine instrumentelle Veren­ gung allerdings einer Zurücknahme der These gleich. Das Konzept begegnet in den Paradigmen bereits auf der zweiten Seite. Dort heißt es mit Blick auf die Tradition der antiken Rhetorik: „Die Metapher vermag hier nicht die Kapazität der Aus­ sagemittel zu bereichern; sie ist nur Mittel der Wirkung der Aussage, ihres Angreifens und An­ kommens bei ihren politischen und forensischen Adressaten.“ PM, 12. Aussagemittel sind keine Wirkungsmittel. Sie erzeugen eigenständige und nicht miteinander zu verrechnende Beiträge. Entsprechend lässt sich ihr Verhältnis zueinander nicht an Äquivalenzen bemessen. Von einer Vielzahl auszugehen, bestreitet zugleich die mögliche Isolierung und Privilegierung eines die­ ser Mittel, etwa das der Begrifflichkeit. Dass diese Mittel „sich gegenseitig stützen und erhellen oder auch stören“ (LW, 15) können, ist hier deswegen das zentrale Problem, weil es hinter die Aussagenebene zurückgeht. Denkbar ist, dass eine Metapher einen dunklen Begriff erhellt; es ist aber ebenso vorstellbar, dass ein Begriff eine Anekdote stützt, eine Metapher einen Begriff stört – und zwar nicht hinsichtlich des Gemeinten, sondern hinsichtlich der Art des Meinens, um eine Unterscheidung von Walter Benjamin zu bemühen. ‚Aussagemittel‘ sind keine zuverlässi­ gen Vermittlungsinstanzen. Sie sind ebenso anfällig wie sie mehr ‚leisten‘ als zum Zwecke einer Aussage vorgesehen, etwa indem sie andere Mittel in Zweifel ziehen. Zu sagen, dass ein Mittel ein anderes stützen kann, sagt zugleich, dass dieses potentiell stützungsbedürftig ist. Indem ver­ schiedene Aussagemittel sich gegenseitig stützen, erhellen oder stören können, fechten sie nicht nur einander an, sondern – das lässt sich aus der Unverrechenbarkeit der Aussagewerte folgern – zugleich die Überordnung der Aussage selbst. An ihnen lässt sich nachvollziehen, dass und wie darin fortwährend Einsprüche gegen den Geltungsanspruch von Aussagen erhoben werden. In­ sofern ist den Aussagemitteln der Terminus ‚Rechtsmittel‘ näher verwandt: als Mittel, die sich gegen eine richterliche Entscheidung einlegen lassen: Revision, Berufung, Beschwerde. 152 Vgl. Abschnitt 2.4. 153 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 320, B 377. 154 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 323, B 380.

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fahrung stehen können. Auch wenn sie damit jeder möglichen Anschauung ent­ zogen scheinen, seien sie „wenigstens als Aufgaben [. . . ] notwendig“.¹⁵⁵ Selbst wenn man hier nicht sofort den mehrfachen Sinn des Wortes hören möchte (‚Auf­ gabe‘ verstanden als Verzicht, Preisgabe, Resignation, Verschickung), ist es für die Anlage der Lesbarkeitsstudie wichtig, dass die Ideen, als Überstieg der Er­ fahrung, eher mit einem operativen Impuls denn mit einer erreichbaren Fülle assoziiert sind. Ihr einziger Nutzen liege darin, „den Verstand in die Richtung zu bringen, darin sein Gebrauch, indem er aufs äußerste erweitert, zugleich mit sich selbst durchgehends einstimmig gemacht wird.“¹⁵⁶ Den Verstand – über eine „aufs äußerste“ gerichtete Bewegung – mit sich in Einstimmigkeit zu bringen, kann jedoch nur um den Preis des Gegenständlichkeitsverlusts geschehen. Die „Schwäche der Kontextdetermination“ (ThU, 65) liegt also nicht in der Schwäche, nicht alles determinierend abdecken zu können. Vielmehr muss jeder Bestim­ mungsversuch fehlgehen. Insofern ist das Aufkommen von Unbegrifflichkeit in Kants reinen Vernunftbegriffen vorgeprägt. Unbegrifflichkeit entsteht zwischen Notwendigkeit und Unmöglichkeit. In Blumenbergs Neuansatz wird das Andrän­ gen von Anschaulichkeit über ihre Unmöglichkeit gedacht. Viel schwieriger liegt diese ganze Problematik [der Unterlegung einer Anschauung] bei den Begriffen, die von der Vernunft hervorgebracht werden und mit deren Hilfe sie ihre Forde­ rungen an den Verstand als das Organ der Begriffe für Erfahrung und aus Erfahrung richtet (also der Kategorien und der empirischen Begriffe). Diese Begriffe der Vernunft werden bei Kant Ideen genannt. Auch für sie einen nachweisbaren Gegenstandsbezug zu fordern, also ihre „objektive Realität“ in theoretischer Funktion nachzuweisen, hieße nach Kant, etwas Unmögliches zu begehren, „weil ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen ge­ geben werden kann.“ (ThU, 55)¹⁵⁷

Reflexe dieser Schwierigkeit finden sich in der Lesbarkeit der Welt, wenn, wie in der Entwicklung der Fragestellung aus der antiken Verhinderung der Weltbuch­ metapher (vgl. LW, Kapitel III und IV), die Bedingungen der Unmöglichkeit des Aufkommens der Lesbarkeitsmetaphorik nachvollzogen werden. ‚Welt‘ ist ein Ver­ nunftbegriff, ist dabei aber, in einem empirischen Sinn, gerade nicht. „[D]as ab­ solute Ganze aller Erscheinungen ist nur eine Idee“.¹⁵⁸ Es ist nur eine Idee, was aber „keineswegs“ heißen soll, dass wir sie „für überflüssig und nichtig anzuse­ 155 Vgl. die komplementäre Formulierung: Transzendentale Ideen seien „durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben“. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 327, B 384 [meine Hervorhebung, A.W.]. Zum Komplex der ‚Aufgaben‘ im Zusammenhang einer Neubestimmung von ‚Lesbarkeit‘ vgl. Abschnitte 2.1 und 5.2. 156 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 323, B 380. 157 Kant, Kritik der Urteilskraft, B 254. 158 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 328, B 384.

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ | 137

hen haben.“ Auch wenn dadurch kein Objekt bestimmt werden könne, so könn­ ten die Ideen „doch im Grunde und unbemerkt dem Verstande zum Kanon seines ausgebreiteten und einhelligen Gebrauchs dienen.“¹⁵⁹ In der kantischen Variante der Welt als „Inbegriff aller Erscheinungen“¹⁶⁰ tritt die Erfahrungsdimension zugunsten einer Öffnung zur Kosmologie zurück.¹⁶¹ Auch wenn die Ideen nicht direkt mit Erfahrung in Kontakt kommen können, tun sie es, vermittelt über den Verstand, auf indirekte Weise. Bei Husserl wiederum wird ‚Welt‘ als umgreifender Horizont von Erfahrung gedacht. Für Blumenbergs Argument in Theorie der Unbegrifflichkeit steht weniger die Differenz der beiden Weltbegriffe im Vordergrund als die Gemeinsamkeit im Aspekt unerreichbarer Totalität.¹⁶² Vielleicht lässt sich sagen, dass Blumenberg mit Kant das Prinzip in seiner Möglichkeit, mit Husserl hingegen die Notwendigkeit der Realisierung dieses Prinzips metaphorischer Überschreibung konturiert: „Aber gerade inso­ fern sie [die Welt] eine Idee der Totalität möglicher Erfahrung, also nicht der Begriff eines Gegenstandes der Erfahrung, geworden ist, wird sie der metapho­ rischen ‚Fremdbestimmung‘ zugänglich.“ (ThU, 72) Die Struktur einer solchen „Fremdbestimmung“ erläutert Blumenberg, bereits mit Blick auf Heidegger, am ‚Sein‘:¹⁶³ „Ein Satz also, der mit dem Subjekt ‚Das Sein‘ beginnt, läßt nicht nur mit Sicherheit Metaphern erwarten, sondern auch solche, deren Kontextresistenz un­ überwindbar erscheint. Solche Metaphern nennen wir absolute Metaphern.“ Die an der Idealität der Vernunftbegriffe abgelesene „Schwäche der Kontextdetermi­ nation“ wird hier in eine prädikative Logik übertragen, in der ein Abstraktum wie ‚Sein‘ eine Bestimmung einfordert, die sich nicht geben lässt. Absolute Me­ taphern erscheinen nun, umgekehrt, als kontextresistent, weil sie sich nicht mit dem in Deckung bringen lassen, dessen Mangel sie erst notwendig gemacht hat. Weder lässt sich ‚Sein‘ auf eine Prädikation verrechnen, noch kann eine Metapher auf einen Ausgangswert rückübertragen werden; sie wäre zunächst nichts weiter als ein Widerstand. Blumenberg kündigt an, „diese Überlegung noch einen Schritt weiter trei­ ben“ zu wollen. Es lasse sich fragen, „ob denn überhaupt ein Subjekt vom Typus der hochgradigen Abstrakta wie Sein, Welt, Geschichte usw., nötig sei, ob man nicht die Unbestimmtheit derart bis zum äußersten treiben könne, daß in der Aus­ drucksschicht überhaupt kein Subjekt mehr vorhanden ist.“ (ThU, 65) Die Passa­

159 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 328, B 385 [meine Hervorhebung, A.W.]. 160 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 334, B 391. 161 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 334, B 391. 162 „Also ist der transzendentale Vernunftbegriff kein anderer, als der von der Totalität der Be­ dingungen zu einem gegebenen Bedingten.“ Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 322, B 379. 163 Ich klammere den Nachbarbegriff „Geschichte“ nur für einen Moment aus.

138 | 3 Ansprüche der Lesbarkeit

ge legt nicht sofort offen, was eine Überdehnung der Unbestimmtheit zur Folge hätte: eine subjektlose Unbestimmtheit oder Unbestimmtheit überhaupt, d. h. oh­ ne jeglichen Subjektbezug. Insofern hier die „Ausdrucksschicht“ den Rahmen bil­ det, ist vorentschieden, dass nicht Unbestimmtheit in einem absoluten, sondern Unbestimmtheit in einem sprachlichen Sinn das Thema ist. Die Überdehnung der Idealität hinterlässt eine sprachliche Vakanz. Ich möchte vorschlagen, diese Figur schrittweise mit einer Bewegung in Verbindung zu bringen, die Blumenberg für die Dynamiken der Geistesgeschichte überhaupt veranschlagt hat. Mit dem Ausdruck „Ausdrucksschicht“ geht es nicht darum, dass in der Sprache etwas ausgedrückt wird, das andernorts schon gefunden wäre, son­ dern darum, dass bestimmte Ausdrücke etwas besetzen, das – qua Unbestimmt­ heit – unbesetzbar bleiben muss, also um eine „Unbesetzbarkeit des Unbesetzten“ (ThU, 63–64). Offenbar ist mit dieser Schicht nicht nur ein prädikatives Stellensys­ tem, sondern zugleich – an das ‚occupare‘ und ‚expellere‘ Quintilians erinnernde Wörter wie ‚besetzen‘, ‚aufrücken‘ (ThU, 67) oder ‚annektieren‘ (ThU, 66)¹⁶⁴ deu­ ten darauf hin – eine aggressive sprachliche Dynamik gedacht, in der klaffende Unbestimmtheitszonen fortwährend, gleichwohl in unzulänglicher Weise, über­ schrieben und überschreibbar gehalten werden. Sie werden, um das deutlich und mit einer Vokabel Wolfgang Isers zu sagen, nicht ‚aufgefüllt‘.¹⁶⁵ Innerhalb dieser Schicht gerät die prädikative Struktur in Konflikt mit der möglichen Ra­ dikalisierung von Unbestimmtheit. Fraglich bleibt, ob diese Topologie gänzlich überwunden werden kann. ‚Welt‘ würde dann das Problem der Unbestimmtheit bereits in sich tragen. Die Theorie der Unbegrifflichkeit greift ‚Welt‘ in einer doppelten Spannung auf: zum einen zwischen Ausdruck und Begriff, zum anderen zwischen Begriff und Idee. Die beobachtete „Inkongruenz von Sprache und Begriff “ (ThU, 65) führt zu einer Öffnung, über die potentiell unbegriffliche Ausdrücke in die Funktion von Begrifflichkeit ‚hineinwachsen‘ können. Zur anderen Seite hin bleibt der Begriff mangelhaft: „Der Begriff vermag nicht alles, was die Vernunft verlangt.“ (ThU, 11) Die Zwischenlage zwischen dem Anspruch der Vernunft und der Eigendymanik der Sprache bleibt unzugänglich. Die hiermit verknüpfte Überlegung, „ob denn überhaupt ein Subjekt vom Typus der hochgradigen Abstrakta wie Sein, Welt, Ge­ schichte usw., nötig sei“ (ThU, 65), war in einer leicht variierten Überlegung schon zuvor Thema geworden: Selbst wenn ich zur Zustimmung geneigt wäre, man solle Sätze über ‚die Welt‘ fortan lie­ ber überhaupt nicht mehr bilden und gebrauchen, wäre ich doch sehr unsicher, ob diesem Verbot jemals Erfolg beschieden sein könnte. [. . . ] Wer auf ‚die Welt‘ verzichtet hat, wird viel­ 164 Vgl. Abschnitt 2.4. 165 Vgl. Iser, Appellstruktur der Texte, 15.

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ |

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leicht ins Zögern geraten, wenn man ihm zumutet, bei gleichen Bedingungen auch auf den Ausdruck ‚die Freiheit‘ zu verzichten. (ThU, 38)

Die Pointe lebt von der Kopplung des Ausdrucks an die Idealität. Das Interessan­ te an diesem Gedankenspiel ist, dass ‚Welt‘ als Idee in ihrer sprachlichen Apore­ tik ausgestellt wird, sich aber als Ausdruck, weil ansonsten auch der Freiheits­ begriff in Gefahr geriete, behaupten muss. Der Unverzichtbarkeit des Ausdrucks entspricht einerseits die Unersetzbarkeit des damit angezeigten Problems¹⁶⁶ und andererseits die Unmöglichkeit einer genauen Bestimmung. Blumenberg bearbei­ tet diese Schwierigkeit weiter, wenn er ‚Welt‘ sogleich ein Stück ihrer Idealität nimmt: „Vielleicht ist ‚Welt‘ ein Grenzbegriff, ‚Freiheit‘ jedenfalls ist eine Idee.“ (ThU, 39) Der ‚Grenzbegriff‘ schränkt bei Kant die „Anmaßung der Sinnlichkeit“¹⁶⁷ ein. Vielleicht ein Grenzbegriff, also auch nur vielleicht eine Einschränkung der Anmaßung: Anscheinend zeichnet ‚Welt‘ sich dadurch aus, sich nicht eindeutig si­ tuieren zu lassen und gerade das schränkt die Einschränkung ein. Entsprechend ist ‚Welt‘ prädestiniert für eine Analyse der Schnittstellen und Unschärfen in und zwischen diesen Momenten. Weder die Idee noch der Begriff behalten die Ober­ hand. Die „Idee kann nicht das Primäre sein, die solide Arbeit der Begrifflichkeit kann nicht ausgespart und übersprungen werden. [. . . ] Aber auch in der Ebene des Begriffs selbst kann die Solidität nicht am Anfang stehen.“ (ThU, 46) In der Kaskade Idee – Begriff – Ausdruck – Metapher ist ‚Welt‘ der Modellfall, weil dar­ an das Gleiten im Vorfeld einer möglichen Zuweisung zu einer dieser Instanzen ablesbar wird. Gerade insofern ‚Welt‘ als „eine Idee der Totalität möglicher Erfahrung“ und nicht als Begriff „eines Gegenstandes der Erfahrung“ verstanden ist, wird sie „der metaphorischen ‚Fremdbestimmung‘ zugänglich“ (ThU, 72). Ähnliches gilt auch „für die Geschichte solcher Begriffe wie Kosmos, Universum, [. . . ] Wahrheit usw.“ (ThU, 65) Diese Geschichte arbeitet in dem weiter, was bei Kant ‚Kosmologie‘ heißt und der Idee der Welt näher steht als die Erfahrungsdimension. In der aggressi­ ven Dynamik der ‚Ausdrucksschicht‘ drängt immer anderes in die stellenlose Zo­ ne ‚Welt‘ – sogar das Wort ‚Welt‘ selbst – ohne diese Unbestimmtheit adäquat oder auch nur kurzfristig kompensieren zu können. Hieran lässt sich vielmehr eine ge­ nuine Kompensationsunfähigkeit ablesen.¹⁶⁸ Noch vor der Möglichkeit, einer un­ bestimmbaren Wirklichkeit rhetorisch zu begegnen, führt ein Parcours durch die 166 „Die Welt ist so unersetzlich, könnte man mit einer kleinen Subreption sagen, daß auch die vermeinten oder selbstbeförderten Verwalter von ‚Weltbegriffen‘ nur zerstören, was sie nicht ha­ ben.“ MS, 50–51. 167 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 255, B 311. 168 Mit Verweis auf Kants Vernunftbegriffe hat Hannes Bajohr einen wesentlichen Aspekt des „Absolutismus der Wirklichkeit“ bei Blumenberg dahingehend bestimmt, dass es sich um die

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Unbestimmbarkeiten der ‚sprachlichen Wirklichkeit der Philosophie‘ (so titelt ei­ ner der frühesten Aufsätze Blumenbergs).¹⁶⁹

. . . als Welt Über einen Umweg wird der Wiedereintritt von Welt in die Unbestimmtheitszone beobachtbar, die geschaffen würde, wenn näherhin kein Subjekt vom Typus ‚Welt‘ möglich wäre. Dieser Umweg führt über das Pronomen ‚es‘. Entlang von Hermann Ammanns Beitrag „Zum deutschen Impersonale“ (1929), der in Theorie der Unbe­ grifflichkeit ausführlich und nur von wenigen Kommentaren unterbrochen zitiert wird, tritt der Unterschied zwischen Subjektlosigkeit und Subjekt hervor. In einer Mittellage zwischen Linguistik und Phänomenologie bespricht Ammann subjekt­ lose Sätze wie „mich friert“ neben Impersonalien nutzenden Konstruktionen: „es regnet“, „es hat mich“ oder „es dämmert“. Während die subjektlosen Sätze auf ein betreffbares und personales Subjekt zulaufen, gleichzeitig aber ein „Affiziertwer­ den ohne jedes Hereinspielen eines irgendwie als seiend gedachten Affiziens“¹⁷⁰ anzeigen, steht das „Es-Subjekt“¹⁷¹ umgekehrt für eine Wesenhaftigkeit in der Er­ scheinung: „Das Es [. . . ] gibt sich als seiend nur in der Erscheinung und durch die Erscheinung kund, es ist das immanente Subjekt der Erscheinung.“¹⁷² Gefunden ist damit bereits, was Blumenberg wiederum eher berührt als ausführt, eine erste Zu­ rücknahme von Unbestimmtheit, insofern ihr, worin eine Formulierung aus Kants § 59 der Kritik der Urteilskraft mitschwingt, „gleichsam ein einheitliches Subjekt untergeschoben“¹⁷³ ist. Denn insofern etwas Unzugängliches mit dem Pronomen belegt wird und in diesem Sinne als dieses ‚es‘ fassbar wird, ist es nicht mehr gänzlich bestimmungslos. In dieser Eigenschaft liegt es „vor der Trennung mythi­ scher und metaphorischer Besetzung der Stelle unbestimmter Subjekte“ (ThU, 67), ist Impuls für Unbegrifflichkeit. Ammann interpretiert dieses Es zum Weltbegriff

„Unmöglichkeit“ handelt, „eine Anschauung für einen reinen Vernunftbegriff zu geben, der für die Totalität des Wirklichen steht.“ Bajohr, Die Einheit der Welt, 67. Dieser Interpretation kann hier gefolgt werden, insbesondere weil sich daran das Scheitern der Depotenzierung abzeichnet. Vgl. Abschnitt 3.3. 169 Vgl. dazu und zum früh bearbeiteten Thema der egestas verborum: Hannes Bajohr, „Ein An­ fang mit der Sprache. Hans Blumenbergs erste philosophische Veröffentlichung“, in: ZfL Blog, 13. August 2018, https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/08/13/ (30. April 2020). 170 Hermann Ammann, „Zum deutschen Impersonale“, in: Jahrbuch für Philosophie und phäno­ menologische Forschung 10 (1929), 1–25, hier: 20. 171 Ammann, Zum deutschen Impersonale, 3. 172 Ammann, Zum deutschen Impersonale, 11. 173 Ammann, Zum deutschen Impersonale, 14.

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ |

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hin: „im wesentlichen ist es das immer gegenwärtige Antlitz der Welt, das hier als Subjekt zu denken ist.“¹⁷⁴ Mit dem unbestimmten Subjekt ist das Abstraktum ‚Welt‘ auf Distanz gehalten. Wenn es damit erneut verbunden wird, tritt es in den Horizont von Unbegrifflichkeit und wird seinerseits für Fremdbestimmungen zu­ gänglich. „Diese unbestimmte Allgemeinheit des Lebensraumes im weitesten Sin­ ne, als Welt, nimmt am ehesten die metaphorischen Bestimmungen in sich auf, die sich mit einem elementaren Mißtrauen oder Vertrauen verbinden.“ (ThU, 68) Diese systematischen Erwägungen finden eine historische Radikalisierung. Das sprachphilosophische Problem wechselt in ein ideengeschichtliches über: Es war für die europäische Entwicklung von entscheidender Bedeutung, daß die Griechen an die Stelle des Welt-Subjekts ein Attribut aufrücken ließen, welches ihr ganzes Weltver­ trauen enthielt und sich in dem Wort ‚Kosmos‘ ausdrückte. [. . . ] Entscheidend ist nun aber, daß dieses einzelne Substantiv an die Stelle der Unfähigkeit der Griechen trat, die Gesamt­ heit des Universums mit einem einzigen Ausdruck zu bezeichnen; am ehesten kam dieser Totalität der Ausdruck Uranos (gleich Himmel) nahe oder die Dualität Himmel und Erde. Ei­ ne rekonstruierte Übergangsstufe wäre ein Satz vom Typus „alles ist ein Kosmos“ oder gar „es ist ein Kosmos“. Damit war nicht nur eine Subjektbesetzung gefunden, also nicht nur ein Name, sondern auch eine noch lange mitgehörte metaphorische Vorgabe. (ThU, 68–69)

Blumenberg entwirft eine weitere Reihe mit unsicheren Zwischenschritten. ‚Kos­ mos‘ rückt in die stellenlose Zone einer nicht aussagbaren Welt, des ‚immanen­ ten Subjekts der Erscheinung‘. Ehe sich die metaphorische Vorgabe hören lässt (Schmuck, Kopfputz, Zaumzeug), steht ‚Kosmos‘ schon in unbegrifflicher Situa­ tion. Während also ‚Kosmos‘ in systematischer Perspektive „die Stelle des WeltSubjekts“ (ThU, 68) überschreibt, kehrt sich dieses Verhältnis in historischer Per­ spektive um, allerdings nur in dem etwas engen Sinn, „die Gesamtheit des Univer­ sums mit einem einzigen Ausdruck“ (ThU, 68–69) bezeichnen zu wollen. Für das Grundproblem einer „bestimmten Unbestimmtheit“ (LW, 16), das zum Thema der Lesbarkeit der Welt ausgelobt wird, findet sich hier die Skizze. Die Theorie der Un­ begrifflichkeit beschreibt also auch, dass und wie „Welt selbst [. . . ] zur Metapher“ (ThU, 69) werden konnte. Dass anderes an seine Stelle tritt und schon früh getre­ ten ist, kommt dem Weltbegriff nicht von Außen zu, sondern liegt bereits in ihm begründet. Noch vor der Analyse der beiden Tendenzen der Metaphorik der Les­ barkeit („Die Welt als Buch, das Buch als Welt“), funktioniert ‚Welt‘ quasi-katach­ restisch. Es sind also nicht nur die Metaphernbildungen zu ‚Welt‘, die beschrieben werden müssen, sondern schon das ‚als Welt‘ hat Teil an dieser Problematik. Vor diesem Hintergrund erhält ein Satz aus den Paradigmen zu einer Metaphorologie größeres Gewicht: „Obwohl es seit Kants Antinomien müßig ist, über das Ganze der Welt theoretische Aussagen zu machen, ist es doch keineswegs gleichgültig, 174 Ammann, Zum deutschen Impersonale, 22.

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nach den Bildern zu fahnden, die dieses als Gegenständlichkeit unerreichbare Ganze ‚vertretend‘ vorstellig machen.“ (PM, 29)

Das metaphorologische ‚Als‘ In Sein und Zeit unterscheidet Martin Heidegger zwischen dem ursprünglichen „existenzial-hermeneutischen ‚Als‘“ und dem „apophantischen ‚Als‘ der Aussage“ als dessen Derivat.¹⁷⁵ Bei Heidegger ist das vorbegriffliche, nicht-propositionale, hermeneutisch-existenziale Verstehen dem aussagemäßigen Verstehen, in dem etwas als etwas verstanden ist, vorgeordnet. In Blumenbergs Schriften tritt ein (als solches so nicht benanntes) metaphorologisches ‚Als‘ hinzu, das auf die bei­ den Angebote Rücksicht nimmt, sie aber letztlich unterläuft. Zwar ist auch hier die Bindung an den propositionalen Gehalt von Aussagen gekappt, aber dies ge­ schieht, ohne das Ergebnis in einer anderen Verstehenskonzeption aufgehen zu lassen. Für Blumenberg interessant ist nicht die Einzelaussage selbst, sondern das, was sich dem eigenen Verfahren in einer Textkonstellation von Aussagen als hintergründig strukturierendes Paradigma zeigen kann: daß Metaphern [. . . ] gar nicht in der sprachlichen Ausdruckssphäre in Erscheinung treten zu brauchen; aber ein Zusammenhang von Aussagen schließt sich plötzlich zu einer Sinn­ einheit zusammen, wenn man hypothetisch die metaphorische Leitvorstellung erschließen kann, an der diese Aussagen ‚abgelesen‘ sein können. (PM, 24)

Das metaphorologische ‚Als‘ muss als solches erst ermittelt werden, ohne dass es sich begrifflich erfassen oder phänomenologisch zur Gänze aufweisen ließe. Es mag sich wie das existenzial-hermeneutische ‚Als‘ Heideggers verborgen halten, aber der Rahmen, in dem es gesucht werden kann, ist gerade nicht die Welt als Sinnganzes, in dem daseinsmäßig hermeneutisch-existenzial verstanden wird, sondern es sind die Texte. Die Welt als . . . : Die Strukturformel etwa für Heideggers Bestimmungen der Welt als „Bewandtnisganzheit“¹⁷⁶ oder als „das ereignende Spiegel-Spiel“¹⁷⁷ 175 „So kann die Aussage ihre ontologische Herkunft aus der verstehenden Auslegung nicht ver­ leugnen. Das ursprüngliche ‚Als‘ der umsichtig verstehenden Auslegung (ἑρμηνεία) nennen wir das existenzial-hermeneutische ‚Als‘ im Unterschied zum apophantischen ‚Als‘ der Aussage.“ Hei­ degger, Sein und Zeit, 158. Die ursprüngliche verstehende Auslegung, die der Aussagelogik vor­ angeht, erläutert Heidegger über den Gebrauch, dies bemerkenswerterweise am diskurspoliti­ schen Brachialbeispiel der Verwendung eines Hammers. 176 Heidegger, Sein und Zeit, 87. 177 Martin Heidegger, „Das Ding“ (1950), in: ders., Gesamtausgabe, Band 7, hg. v. Friedrich-Wil­ helm von Herrmann, Frankfurt am Main 2000, 165–188, hier: 181.

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ | 143

schlägt bei Blumenberg um in die Markierung eines metaphorologischen Ver­ dachts. Die Welt als Buch: in größtmöglicher Lakonik ist damit ein Arbeitsprogramm umrissen, in dem zu zeigen ist, dass und wie und in welchen historischen Kon­ stellationen die „Verbindung“¹⁷⁸ zweier Unvereinbarkeiten erzwungen worden ist. Die Buchmetapher ist daher kein selbstverständlich gegebener Ausgangs­ punkt für Interpretationen. Die Schwierigkeit liegt schon im Nachvollzug des Aufkommens einer Metaphorik, im Nachweis ihres Nicht-Ankommens wie NichtVerschwindens. Deswegen kann Blumenberg sagen, dass sie keine determinie­ rende oder normierende Kraft hat,¹⁷⁹ sondern dass sie lediglich „anderem voraus­ geht, andere Sachverhalte koordiniert und verfärbt, diesseits gegenständlicher Bestimmtheit dennoch nicht die völlige Unbestimmtheit des Ganzen und seiner immer ausstehenden Möglichkeiten zuläßt.“ (LW, 16) . . . als Welt: Fraglich wird dann, wie sich dieser Zugang über die Rezepti­ onsgeschichte zur historischen Dynamik der ‚Bestimmungen‘ einer völligen „Un­ bestimmtheit des Ganzen“ verhält (als Es, Kosmos, Schöpfung, Welt . . . ). Denn die Formel x als Welt hat teil an der grundlegenden „metaphorischen Ambiguität des ‚als‘“.¹⁸⁰ Zwischen diesen Bewegungen verliert sich der Begriffscharakter von ‚Welt‘ zugunsten einer gleichermaßen historischen wie sprachlichen Dynamik. Jacques Derrida hat den Verlust der Orientierung am Begriff auf andere Wei­ se, nämlich über den Nachweis einer differentiellen Struktur in seinem Innern, hergeleitet. Das, was den Begriff in letzter Instanz stabilisieren soll – das Sein – ist seinerseits von dem betroffen, was es als Uneigentlichkeit auf Abstand halten will. Die Frage nach dem ‚Als‘ muss dann, wie Georg Christoph Tholen erläutert, noch grundlegender gefasst werden: Das Sein als solches, als eigentliches, das Heimat des Begriffs sein soll, ist in seiner De­ finition selbst von diesem differentiellen, das Sein aufschiebenden ‚Als-ob‘ der Metapher durchzogen, etwa in der platonischen Bestimmung des Seins als ‚Eidos‘ usw. Der Gebrauch der Metaphorik, ihr ‚usueller‘ Status, wohnt der Sprache der Metaphysik notwendigerweise inne. Will man nun – so Derridas Schlußfolgerung – weder bloß metaphorisch noch me­ taphysisch über das Sein sprechen, bedarf es einer weiteren, supplementierenden „Meta­

178 „Zwischen den Büchern und der Wirklichkeit ist eine alte Feindschaft gesetzt. [. . . ] Um so erstaunlicher, wenn das Buch doch zur Metapher der Natur selbst werden konnte, seiner antipo­ dischen Feindin, die zu derealisieren es bestimmt zu sein schien. Desto gewichtiger, desto zwin­ gender müssen die Antriebe sein, die diese Verbindung von Buch und Natur hergestellt haben.“ LW, 17. 179 Vgl. zu dieser These: Theodoros Konstantakopoulos, Zur Normativität des Unbegrifflichen: die Metapher und ihre „Hintergründe“ vor und bei Hans Blumenberg, Berlin 2014. 180 Tholen, Zäsur der Medien, 57.

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phern-Faltung“, eines Entzugs der Metaphysik, das heißt: eines Entzugs des Entzugs des Seins.¹⁸¹

Bei Blumenberg ist von einem solchen Entzug des Entzugs nicht die Rede, zu un­ terschiedlich bleiben, bei aller Affinität ihrer Befunde, beide Zugänge.¹⁸² Dennoch hilft die mit Derrida und Tholen gefundene Radikalisierung, die doppelte Bewe­ gung bei Blumenberg schärfer zu fassen. Im gleichen Maße wie die begriffliche Geltung von ‚Welt‘ abgetragen wird, verliert sich die Stabilität der Metapher, dem prominentesten Fall von Unbegrifflichkeit. Anstelle einer Sistierung einer meta­ phorischen Bewegung stellt Blumenberg ihr Insistieren heraus. Der Schwierigkeit, die Welt als Welt zu erfassen, geht die Unmöglichkeit voraus, das Andrängende als Metapher auszuweisen. Wenn das Verfahren nicht mehr mit der Projektion von Sinnzugänglichkeit arbeiten kann, verschiebt sich der Zuschnitt des Projekts. Nun tritt die lektüretheoretische Frage, an welcher Stelle überhaupt anzusetzen sei, zum Argument hinzu. Wenn „[d]ie Welt als Welt aber [. . . ] das Grundproblem der Ontologie [ist]“ (BU, 146), bleibt dieses Grundproblem einem Konvolut von Texten überantwortet. Dass die Frage nach einem ‚Sein‘ der Welt ihrerseits von dem betroffen ist, was sie als Unbestimmtheit zu umgreifen sucht, schlägt sich in Blumenbergs frü­ hem Text zur Metaphorologie in einer komplexen Zitatinszenierung nieder. Rüdi­ ger Campe hat darauf hingewiesen: „Schon die Frage [. . . ] – ‚Was die Welt eigent­ lich sei‘ – taucht mitsamt dem Hinweis, daß Metaphern auf sie antworten, Wort für Wort aus einem Komplex von Zitaten auf.“¹⁸³ Was die Welt eigentlich sei – diese am wenigsten entscheidbare Frage ist doch zugleich die nie unentscheidbare und daher immer entschiedene Frage. Daß sie ‚Kosmos‘ sei, war eine der konstitutiven Entscheidungen unserer geistigen Geschichte, eine in ihrem Ursinn trotz

181 Tholen, Zäsur der Medien, 57. 182 Dirk Mende hat Derridas und Blumenbergs Überlegungen im Detail miteinander konfron­ tiert. Beide verbinde, „daß sich ihre Metapherntheorien zu dem Projekt einer diskursanalytischen Archäologie ausfalten.“ Über die Grundthese der Metaphorologie, „daß Begrifflichkeit auf einem metaphorischen Untergrund operiert“, berührten sie sich auch in der Hinsicht, „daß Blumen­ bergs absolute Metapher und Derridas ‚Gründer‘-Tropen dasselbe Phänomen beschreiben, aller­ dings mit bemerkenswert unterschiedlicher Gewichtung: Während Blumenberg oft einzelne Me­ taphern untersucht, hebt Derrida immer wieder die Vernetztheit von Metaphern untereinander und in der Sprache hervor.“ Mende, Metapher, 222–223. Hier erkennt Mende jedoch eine deutli­ che Differenz, die er mit Bezug auf Anselm Haverkamps Ansatz erläutert: „Derridas und Haver­ kamps Metapherntheorien kommen im Interesse an einem ‚proto-grammatischen‘ Zustand von Sprache für die Metapherntheorie überein, das es, meine ich, bei Blumenberg nicht gibt“. Mende, Metapher, 205–206. 183 Campe, Von der Theorie der Technik zur Technik der Metapher, 286.

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ | 145

früher Nominalisierung immer wieder mitgehörte Metapher, fortgesponnen in der Welt-Polis und im Welt-Lebewesen, im Welt-Theater und im Welt-Uhrwerk. (PM, 30–31)

Es kommt hier auf den Raum zwischen dem „am wenigsten“ Entscheidbaren und dem „nie“ Unentscheidbaren an. Im Verhältnis zu den Fragen, die sich stellen lassen, ist die Welt-Frage diejenige, deren Entscheidung am wenigsten möglich ist. Gleichzeitig kann sie nicht nicht entschieden werden. Die getroffenen Ent­ scheidungen sind Entscheidungen unter der Bedingung maximal erschwerter Entscheidbarkeit. Am Immer-entschieden-Sein zeigt sich ein katachrestischer Zug ohne positive Qualität. In Blumenbergs Argument betrifft diese Einsicht be­ reits die im Konjunktiv gehaltene Frage. Sie wird nicht gestellt und auch nicht als überhaupt zu stellende aufgegriffen, sondern sie wird, in mehrfacher Schich­ tung, zitiert.¹⁸⁴ Die Stelle, auf die sich Blumenberg bezieht, findet sich bei Walter Bröcker, der eine ebenso lakonische wie ironische Großcharakteristik der Philo­ sophie Heideggers gibt: Was die Welt eigentlich sei, – nicht das, was man gewöhnlich dafür hält, sondern die eigent­ liche, die wahre, die ganze, die heile Welt, die keineswegs vor aller Augen steht, sondern höchst verborgen, vielleicht heute gar nicht da, ja vielleicht noch nie dagewesen, sondern erst etwas Zukünftiges ist, – das ist die eigentlich bewegende Frage in Heideggers Denken. In den späten Schriften beantwortet er diese Frage, indem er die Welt bestimmt als ‚das er­ eignende Spiegel-Spiel der Einfalt von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen‘. Und reine Dichterworte sprechen nun die Antworten auf die Frage, was denn diese vier seien . . . ¹⁸⁵

In dieser mehrfachen Schichtung rückt die Frage nach einem Sein der Welt in Distanz, gewinnt aber als Textphänomen an Dringlichkeit. Wenn ‚Welt‘ bereits quasi-metaphorisch funktioniert (. . . als Welt), die wechselnden Zuschreibungen (Welt als . . . ) aber erst, wie im paradigmatischen Falle der Buchmetapher, als Me­ taphern im Sinne der Metaphorologie aufgewiesen werden müssen, lässt sich kei­ ne dieser Stellen (Welt, Metapher, Buch) zum Fixpunkt machen, von dem aus an­ dere Bewegungen in den Blick gerieten. So wie Husserl die Buchmetapher von der Realität ab- und stattdessen auf das Wissenschaftsganze bezieht, so spielt Blu­ menberg das Problem der Welt zurück an die Überlieferung. Und wenn ‚Welt‘, mit Husserl, weiterhin der Vorbehalt von Erfahrung ist („innerhalb dessen sich die

184 Die Begründung hierfür lautet: „Eine Frage wie ‚Was ist die Welt?‘ ist ja in ihrem ebenso un­ genauen wie hypertrophen Anspruch kein Ausgang für einen theoretischen Diskurs; wohl aber kommt hier ein implikatives Wissensbedürfnis zum Vorschein, das sich im Wie eines Verhaltens auf das Was eines umfassenden und tragenden Ganzen angewiesen weiß und sein Sich-einrich­ ten zu orientieren sucht.“ PM, 29. 185 Walter Bröcker, Dialektik – Positivismus – Mythologie, Frankfurt am Main 1958, 35.

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Erfahrungsgegebenheiten erst als reale bestätigen können“), dann wird, mit Blu­ menberg, Textualität zum Vorbehalt von ‚Welt‘.¹⁸⁶

Welt-Geschichte In Kapitel V der Lesbarkeitsstudie bespricht Blumenberg das „Aufkommen“ der Weltbuchmetaphorik anhand der beiden Genesis-Kommentare von Augustinus und Bonaventura (vgl. LW, 47–57). Auch die Erzählung von der Entstehung der Welt tritt in einer Lektürekonstellation auf; sie dient dazu, einer verzögerten, auf­ geschobenen Entstehung der ‚Welt als Buch‘ nachzugehen. Darin werde zum ers­ ten Mal ein ‚Ausdruckswert‘ von Welt – der ‚weltlichen‘ Welt des Christentums – fassbar. In diesem Verfahren berührt sich also, was nicht unerheblich ist, eine Transformation in der ‚Ausdrucksschicht‘ der Texte mit dem Gewinn eines ‚Aus­ drucksgehalts‘ von Welt. Die Buchmetapher markiert somit den ersten Schritt zu einem neuen Mitteilungsparadigma. Der Ausdrucksgehalt von ‚Welt‘ und damit die Möglichkeit der Metapher hängen an der Destruktion eines vorausgängigen Schemas, das diesen Schritt verhindert. „Die Welt kann erst ‚Ausdruck‘ werden, wenn die Sichtbarkeit des Unsichtbaren nicht mehr Abbildung eines Urbilds ist.“ Dies werde „erst am Ende des Mittelalters durch das Paradox der coincidentia op­ positorum vollends ausgeschlossen“ (LW, 47). Das Problem der Lesbarkeit der Welt baut sich auf im Übergang vom griechischen Kosmos zur modernen Welt,¹⁸⁷ der nicht mehr, im christlichen Sinn, weltlichen Welt des „Hier-auf-Erden“,¹⁸⁸ das ge­ gen eine gnostische Bedrohung verteidigt werden sollte.¹⁸⁹ Beobachtbar wird die Etablierung eines Mitteilungsdispositivs zuerst an Bonaventuras Diktum, die Welt gebe nicht alles, aber vieles kund, was dann in den schrittweisen Abbau des Dis­ positivs überführt wird: Verrätselung, Aufkommen von Unlesbarkeit, Entleerung des Buches, Infragestellung der Mitteilungsfunktion überhaupt. 186 An dieser Stelle treten die toposgeschichtlichen Ansätze in das Untersuchungsfeld, denen Blumenberg wesentliche Anstöße verdanken konnte. Vgl. Abschnitt 3.1. 187 Elizabeth Brient hat Blumenbergs Position in der Legitimität der Neuzeit konzise zusammen­ gefasst: „[I]t was the transformation of the ancient cosmos into a mute world of facticity in the theological speculation of late medieval nominalism which prepared the way for the emergence of the new science and the new cosmology.“ Elizabeth Brient, The Immanence of the Infinite. Hans Blumenberg and the Threshold of Modernity, Washington, D.C. 2002, 99. 188 Jean-Luc Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, übers. v. Anette Hoffmann, Zürich/Berlin 2003, 41. 189 „Wenn es richtig ist, daß die Metapher vom Buch der Welt oder der Natur etwas zu tun hat mit der Rechtfertigung der Schöpfung angesichts der Erlösung, also mit der Abwehr des gnostischen Dualismus und seiner einen und einzigen absoluten Heilsquelle, dann müßte die Metapher fast naturwüchsig aus der Rhetorik Augustins zu erwarten sein. Und dem ist so.“ LW, 48.

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ |

147

An der Formel „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ lassen sich zwei zen­ trale Momente herausstellen, ein sprachliches und ein geschichtliches. Die Pha­ sen einer solchen Welt-Geschichte stehen bereits in rhetorischer Situation („Die ‚Umbesetzungen‘, aus denen Geschichte besteht, werden rhetorisch vollzogen“, Annäherung, 121). Die Lesbarkeit der Welt bringt den zähen Prozess der Stabilisie­ rung und des Verlusts eines Ausdruckswertes der Welt mit einer unbegrifflichen Sprachdynamik in Verbindung: hier die Fraglichkeit dessen, was mit ‚Welt‘ über­ haupt mitgeteilt sein kann, dort die historisch aufarbeitbare Frage, was es jeweils gewesen ist, das sich in der Welt und als Welt hatte mitteilen sollen. Mit dieser Bewegung geht eine andere einher, die den Gang der Überlegun­ gen etwas deutlicher lenkt: die entlang der Idee der Totalität realisierte Verkettung von Metapher, Welt und Buch. ‚Welt‘ ist „Idee der Totalität möglicher Erfahrung“ (ThU, 72), „ungegenständliche Totalität“ (ThU, 73). Metaphern machen das „als Gegenständlichkeit unerreichbare Ganze ‚vertretend‘ vorstellig“ (PM, 29). Die für Blumenbergs spätere Studie wesentliche Eigenschaft des Buches als Medium ist, „daß es Herstellung von Totalität leistet“ (LW, 17).¹⁹⁰ Diese Verbindung greift das metaphorologisch-kritische Verfahren auf, um sie systematisch abzutragen: An­ statt die wechselnden Ausprägungen des Buchs der Natur in die „Kohärenz einer Geschichte“¹⁹¹ zu zwingen, zerstreut Die Lesbarkeit der Welt die anstoßgebende Allianz der Totalitäten, und arbeitet so, als Text, bereits gegen ihren Gegenstand an. Eine der möglichen Querverbindungen zwischen den eingangs aufgewor­ fenen Fragen betraf das Verhältnis der Destruktionsgeschichte der Buchmeta­ pher zur Geschichtlichkeit von Welt. Um an einen destruktiven Gehalt dieser Geschichtlichkeit herankommen zu können, möchte ich einen knappen Blick auf den ersten Teil von Jean-Luc Nancys Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisie­ rung (2003) werfen. Darin ist ein ‚kurzer metaphysischer Exkurs‘ eingeschaltet, der ausdrücklich auf Blumenbergs These zur frühen Neuzeit Bezug nimmt. Um zum „‚Subjekt‘ ihrer eigenen ‚Weltweite‘ [mondialité] – oder ‚Globalisierung‘“¹⁹² werden zu können, muss sich, so Nancys Argument, ‚die Welt‘ aus jeglicher Sub­ ordination (etwa als Vorstellung, Objekt oder mängelbehaftete Schöpfung) gelöst haben, ohne jedoch im strengen Sinn autark zu werden. 190 Dagegen lag der Fokus in den Paradigmen gänzlich und in einer beinah erschreckenden Ver­ einfachung auf der Mitteilungsebene: „Daß ein Buch einen sich mitteilenden Inhalt hat, selbst wenn er in einer chiffrierten Sprache geschrieben und nur potentiell lesbar sein sollte, ist von der Grundvorstellung unablösbar: der Autor muß etwas mitzuteilen haben und mitteilen wollen, sei es auch nur an die Eingeweihten, und er braucht dazu Leser, die an diesen Mitteilungen interes­ siert sind bzw. sie lesen wollen.“ PM, 102. 191 Hamacher, Unlesbarkeit, 23. 192 Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, 30.

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Der Globalisierung [mondialisation] ist eine „Verweltlichung“ [mondanisation] vorausgegan­ gen. Das heißt, daß die „weltliche“ Welt des Christentums, eine erschaffene und gefallene, vom Heil getrennte und zur Transfiguration aufgerufene Welt, zur Stätte des Seins und/oder des Seienden insgesamt werden mußte und die andere Welt in sich auflöste.¹⁹³

Die Welt selbst wird zur Stätte der Totalität des Seienden. Keine außerhalb ihrer selbst liegende Instanz kann diese Seinsganzheit tragen. Entsprechend fasst Nan­ cy die späteren Gottesbegriffe von Leibniz und Spinoza als maximal immanente. Als „innerer Grund der allgemeinen Ordnung der Dinge“,¹⁹⁴ so die für beide ver­ wendete Formulierung, ist Gott kein außerhalb der Welt liegendes Prinzip, kei­ ne „andere Welt“ jenseits dieser Welt. Mit Blumenberg betont Nancy nun, dass dieser Prozess ausdrücklich nicht als Säkularisierung zu verstehen sei: „Was die ‚Säkularisierung‘ anbelangt und die Notwendigkeit, diesem Modell das modello­ se Denken einer (Il-)Legitimation der modernen Welt gegenüberzustellen, kann ich nur auf Hans Blumenberg verweisen, der mir in diesem Bereich der unbeding­ te Ausgangspunkt zu bleiben scheint.“¹⁹⁵ Die in Klammern hinzugefügte Vorsilbe kündigt zugleich eine Abzweigung an. Die gegenüber der Säkularisierungsthese zu verteidigende Legitimität der Neuzeit ist noch nicht identisch mit der „Legitima­ tion“ der modernen, sich selbst genügenden Welt. Gerade die Begründbarkeit der Welt aus sich selbst heraus bleibt das drängende Problem. Ohne eine Ursache, ei­ nen Rahmen oder einen Sinn vorordnen zu können, wird die Welt zu einem „Fak­ tum ohne Grund noch Zweck“,¹⁹⁶ das in seiner reinen Selbstbezüglichkeit diesen ‚Bezug‘, als Bezug auf etwas, auf sich selbst als etwas Selbiges, dennoch nicht her­ stellen kann.¹⁹⁷ Das Grundlose besetzt die Stelle des unhaltbar gewordenen Grun­ des. Diese Verschiebung wird als eine historische Verlagerung („déplacement“)¹⁹⁸ ausgearbeitet, in die nun sowohl die Bewegung der Verweltlichung als auch die – historisch spätere – Bewegung der Globalisierung eingehen:

193 Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, 35. 194 Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, 34. 195 Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, 36, Anm. 17. 196 Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, 36. 197 „Wenn eine Welt ihrem Wesen nach weder die Vorstellung eines Universums (Kosmos) noch die eines Hier-auf-Erden (erniedrigte, ja vom Christentum verdammte Welt) ist, sondern – jenseits jeglicher Vorstellung eines ethos oder habitus – der Überschuß einer Haltung ist, durch die sie sich selbst hält, sich formiert und sich in sich selbst exponiert, sich auf sich bezieht, ohne sich auf irgendein gegebenes Prinzip oder irgendeinen feststehenden Zweck zu beziehen, dann gilt es, geradewegs auf das Prinzip einer solchen Prinzipienlosigkeit zuzugehen. Dies muß das ‚Grund­ lose‘ [sans raison] der Welt genannt werden, oder aber ihre Begründungslosigkeit [absence de fondement].“ Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, 41. 198 Jean-Luc Nancy, La création du monde ou la mondialisation, Paris 2002, 56.

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ | 149

wenn die Verweltlichung (die Enttheologisierung) den Wert verlagert – ihn immanent macht –, bevor die Globalisierung die Produktion des Wertes verlagert – indem sie ihn universell macht –, dann verlagern beide zusammen die „Schöpfung“ in den „Un-Grund“ [„non-raison“] der Welt. Und diese Verlagerung ist keine Transposition, keine „Säkulari­ sierung“ des onto-theologischen oder metaphysisch-christlichen Schemas: Sie ist dessen Dekonstruktion, dessen Entleerung, und sie eröffnet einen anderen Spiel- (und Gefah­ ren-)raum, den wir gerade erst betreten.¹⁹⁹

Nancys Analyse vermag, gerade auch in ihrem kritischen Anschluss an Blumen­ berg, an den Verschiebungen der Auffassungen von ‚Welt‘, bis hin zur „kapita­ listische[n] Version des Grund-losen [la version capitaliste du sans-raison]“,²⁰⁰ sichtbar zu machen, dass die „Verlagerung (déplacement)“ selbst schon „Dekon­ struktion“, „Entleerung“ ist. Fraglich ist dann, wie sich diese ‚Entleerung‘ zu dem verhält, was Blumenberg als „Autodestruktion“ (ThL, 103) geistesgeschichtlicher Maximalansprüche fasst. Mit den Verweisen auf Nancy und Derrida sollten Tendenzen herausgear­ beitet werden, die ‚Welt‘ destabilisieren, ohne das Wort oder das Problem ver­ schwinden zu lassen.²⁰¹ Sich damit behelfen zu wollen, auf den Ausdruck ‚Welt‘ gänzlich oder mit dem Hinweis auf ein zugunsten historisch-empirischer Präzi­ sion abzulegendes metaphysisches Erbe zu verzichten, generiert unter der Hand einen ahistorischen Standpunkt, dessen Aporie unter dem hier noch näher zu entwickelnden Begriff negativer Lesbarkeit wieder zugänglich wird. ‚Welt‘ ist, nach Blumenberg, prekär und diesen ‚Status‘ teilt ‚Welt‘ mit ‚Metapher‘. Die „metaphorische Ambiguität des ‚als‘“,²⁰² der ‚Un-Grund‘ der und die Textuali­ tät als Vorbehalt von ‚Welt‘ – diese Momente sind Extremwerte dieser Tendenzen. Die „an jede geschichtliche Epoche“ herantragbare Frage, die im ersten Kapi­ tel der Lesbarkeit der Welt formuliert wird – „Welches war die Welt, die man haben zu können glaubte?“ (LW, 10) – erhält ihr ganzes Gewicht erst vor dem Hin­ tergrund einer systematischen Destruktion von ‚Welt‘ und ihres ontologischen Gehalts.

199 Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, 48. 200 Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, 50; Nancy, La création du mon­ de, 58. 201 Einen interessanten Vorschlag zur Affinität der die ontologischen ‚Mängel‘ betonenden Pro­ gramme Blumenbergs und Nancys unterbreitet: Luca Viglialoro, „Aus der Distanz. Paradigmen einer Schreibanthropologie bei Blumenberg und Nancy“, in: Blumenbergs Schreibweisen. Metho­ dische und kulturanalytische Perspektiven im Ausgang von Hans Blumenberg, hg. v. Wolfgang Mül­ ler-Funk und Matthias Schmidt, Würzburg 2019, 125–144. 202 Tholen, Zäsur der Medien, 57.

150 | 3 Ansprüche der Lesbarkeit

. . . als Buch Im „Vorgriff auf das Ganze“ (LW, 68) treffen sich Metapher, Welt und Buch.²⁰³ Inso­ fern das Buch „Herstellung von Totalität“ (LW, 17) leistet, eignet es sich als „Meta­ pher für das Ganze der Erfahrbarkeit“ (LW, 9). „Die Kraft, Disparates, weit Ausein­ anderliegendes, Widerstrebendes, Fremdes und Vertrautes am Ende als Einheit zu begreifen oder zumindest als einheitlich begriffen vorzugeben, ist dem Buch, woran auch immer es sie exekutiert, wesentlich.“ (LW, 17–18) In der Lesbarkeit der Welt wird die Tendenz des Mediums auf Totalität, Einheitlichkeit und Ganzheit mit der Metapher verbunden. Allerdings teilt sich die metaphorische Bewegung, auf die die Totalstruktur ‚Welt‘ angewiesen ist, in eine systematische, historische und methodologische. Um die Momente der Re-Integration und Vereinheitlichung aufrecht zu erhal­ ten, das, was Blumenberg die „Kraft einer idealen Einheit“ nennt, muss sich das metaphorische Register noch einmal ausdifferenzieren, sich in entlegene Ausprä­ gungen und Umbauten zurückziehen. Dies findet sich in der Lesbarkeitsstudie über den Numerus von ‚Welt‘ und von ‚Buch‘ reflektiert, wie es sich etwa mit Leib­ niz’ Gedankenexperiment der Universalbibliothek diskutieren lässt. So wird die Tendenz zur binnenmetaphorischen Ausfächerung in mehrere Bücher in den Sta­ dien ihrer Abschwächung nachgezeichnet, als scheiternde Versuche, einem „ur­ sprünglichen Plural“ (LW, 105) entgegenzuwirken und so doch noch eine Total­ struktur, ein Ganzes, zu entwerfen, zu erhalten oder wiederzugewinnen. Nun wird die Voraussetzung für die Möglichkeit des Aufkommens der Buch­ metapher in einem Konzept veranschlagt, das Singular und Plural verbindet. „Der Kollektivsingular des heiligen Buches als Einheit aus den auch erst spät mit dem ägyptischen Fremdwort biblos bezeichneten ‚heiligen Büchern‘, ist sprachliche Voraussetzung für alles Spätere“, bemerkt Blumenberg zu Beginn, „für das Buch als Metapher einer Totalität, sei es die der Natur oder die der Geschichte“ (LW, 23). 203 In „Beobachtungen an Metaphern“ (1971) ist genau diese Struktur als eine vorgängige er­ läutert worden: „Nun mag es sein, daß Metaphorik den Vorgriff und Übergriff des Zuviel-Ver­ sprechens rhetorisch überdehnt; aber die Struktur von Vorgriff und Übergriff schafft sie nicht, sondern sie tritt in sie ein.“ Beobachtungen, 169–170. Dieser Hinweis ist wichtig, um der analy­ tischen Zentrierung auf ‚die Metapher‘ entgegenarbeiten zu können. So wie das „pratum ridet“ zunächst den Übergang zwischen zwei Übertragungsmodellen markiert hatte (vgl. Abschnitt 2.4), muss auch ‚die absolute Metapher‘ in einem dynamischen Feld verortet werden, in welchem sie ihre Stabilität als ein Theorem notwendig verliert. Es muss weiter diskutiert werden, inwiefern es sich in diesen Dynamiken noch um die des Bewusstseins, mit dem Blumenberg die Logik des Vorgriffs verbindet, handeln kann. „Die Vorgriffsstruktur des Bewußtseins wird manifest als ge­ störte, im Grenzfall als ins Leere gehende.“ ThL, 179. Es kommt hinzu, dass die Verwendung von ‚Vorgriff‘ in der Metaphorologie nicht an Husserl, sondern an Heidegger orientiert ist, vgl. Haver­ kamp, Stellenkommentar, 336.

3.2 „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ | 151

Die erste Bewegung im Vorfeld der Metaphernprägung ist die Re-Integration einer Vielheit in eine Einheit. Im Kollektivsingular ist das Viele derart gebündelt, dass die Bruchstellen zwischen und in Texten überformt werden. Die aufwändigen Bi­ belkodizes des vierten und fünften Jahrhunderts – die Zeit des Aufkommens der Weltbuchmetapher – illustrieren dies. Während der Kollektivsingular als „sprachliche Voraussetzung“ eingeführt wird, nennt Blumenberg zwei gewichtige „Antriebe“, die die Metapher vom Buch der Natur ermöglicht haben: neben der „kulturelle[n] Idee des Buches“ (LW, 10) als Idee der „Herstellung von Totalität“ (LW, 17) ist dies vor allem eine doppel­ te Rivalität: mit der „Welterfahrung“ (LW, 11) sowie die nachträgliche Konkurrenz mit der Bibel, „mit dem einen Buch, seiner Autorität, seiner Ausschließlichkeit, seinem Bestehen auf Inspiration“ (LW, 17).²⁰⁴ Die Einordnung unter die ‚Antriebe‘ ist entscheidend, weil die Konkurrenz nicht als nachrangig, sondern als konsti­ tutiv ausgewiesen wird. Die Tendenz auf Einheitlichkeit des Buches wäre in der Bibel, als dem Buch der Bücher, mindestens gedoppelt. Aber in ihrem absoluten Anspruch ist zugleich jede Möglichkeit der Metaphernbildung erstickt: „Der Abso­ lutismus des Buches verhindert dessen metaphorischen Gebrauch für die Welt.“ (LW, 34) Das Paradox liegt darin, dass zwar der mit dem Medium Buch verbundene Anspruch auf Einheitlichkeit und Totalität wesentlich ist, zugleich aber diese Ten­ denz nicht vergrößert werden darf zu einer Totalstruktur, in dem auch nur einem Buch, als dem Buch der Bücher, die Deutungshoheit über alles überantwortet wäre. Ließe sich alles hinreichend und vollständig aus einer Quelle entnehmen, bräuchte es keine Metaphern. Folglich lässt sich die in der Buchmetapher entwor­ fene Totalität nicht jenseits dieser Differenz denken. Die Konkurrenzsituation im Innern der Metapher geht ihrem Vorgriff, mithin der Imagination ihres Gelingens, voraus. Es bleibt das Verhältnis zu klären zwischen dieser zunächst virtuellen Doppelung in zwei Bücher und dem, was in den ersten drei Kapiteln der Lesbar­ keitsstudie in mehrfacher Hinsicht als Pluralität erscheint. Schließlich wird das Problem des Buches, im Zeitraum des Aufkommens des ‚zweiten Buches‘ noch unter dem Eindruck des Absolutismus des Buches, bis zur „Apokalypse des Bu­ ches“ ausbuchstabiert, zu dessen „Untergangsprophet“ Stéphane Mallarmé von Benjamin stilisiert wird (vgl. LW, 317). Zu Beginn seiner Grammatologie (1967) setzt Jacques Derrida gegen die Tota­ litätsimplikation der „Idee des Buches“²⁰⁵, in Kombination mit der „Totalität jener 204 „Die den Primat eines bestimmten Buches virtuell anfechtende, ablösende, seine Stelle be­ setzende Erfahrung ist folglich ein Phänomen kultureller Spätzeit.“ LW, 11. 205 Jacques Derrida, Grammatologie, übers. v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt am Main 1983, 35.

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großen [. . . ] Epoche“,²⁰⁶ deren Ende verzeichnet wird, das Konzept einer écriture, die schrittweise aus einer reduktiven Bestimmung von Schrift gelöst wird. Die Idee des Buches ist die Idee einer endlichen oder unendlichen Totalität des Signifikan­ ten; diese Totalität kann eine Totalität nur sein, wenn vor ihr eine schon konstituierte To­ talität des Signifikats besteht, die deren Einschreibung und deren Zeichen überwacht und die als ideale von ihr unabhängig ist. Die Idee des Buches, die immer auf eine natürliche Totalität verweist, ist dem Sinn der Schrift zutiefst fremd.²⁰⁷

Blumenbergs Lesbarkeit der Welt lässt sich nicht in Deckung bringen mit Derridas grammatologischem Programm; aber die Studie teilt die Kritik der als Anspruch vorauslaufenden und im Medium Buch gebündelten Totalitäten; vor allem teilt sie die Aufarbeitung des innerhalb dieser Ansprüche Insistierenden: nicht die einer archi-écriture oder strukturellen Unlesbarkeit,²⁰⁸ sondern, in einem noch weiter zu erläuternden Sinn, der Lesbarkeit selbst.

3.3 Rivalitäten, Lesarten, Gewaltenteilung (Goethe) Anstatt den Berührungspunkt zwischen Arbeit am Mythos (1979) und Die Les­ barkeit der Welt (1981) in einem stabilen Modell menschlicher Wirklichkeitsver­ hältnisse zu suchen, lässt sich die hinter einer solchen Annahme stehende binä­ re Logik hinterfragen. Dies geschieht im Folgenden anhand einer knappen Re­ konstruktion der in beiden Büchern zentralen Goethe-Lektüre. Beide beziehen sich auf eine geradezu groteske Vielzahl großformatiger Entgegensetzungen: An­ schauung gegen Buch, Vernunft gegen Anschauung, Welt gegen Welt, Gott gegen Gott. Aus Johann Wolfgang von Goethes Prometheus-Fragment kann Hans Blu­ menberg die agonistische Formel des „Eins gegen eins!“²⁰⁹ übernehmen. Er zeigt, wie das zum Zweck der Entgegensetzung jeweils Ausgeschlossene in den Versu­ chen der Stabilisierung wiederkehrt, geradezu in sie hereinbricht. Goethes ‚un­ geheurer Spruch‘ im zwanzigsten Buch aus Dichtung und Wahrheit (1811–1831) – 206 Derrida, Grammatologie, 27. 207 Derrida, Grammatologie, 35. 208 Zum komplexen Unlesbarkeitsbegriff der Dekonstruktion vgl. Eckhard Schumacher, Die Iro­ nie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man, Frankfurt am Main 2000, 330–337. 209 Johann Wolfgang Goethe, Prometheus, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaf­ fens [MA], Band 1/1, hg. v. Karl Richter, München 2006, 229–231, hier: 229, Z.4. Diese Struktur lässt sich auch in früheren Schriften Blumenbergs erkennen, namentlich im Annäherungsaufsatz, der in einer rhetoriktheoretischen Neufassung des Ästhetischen auf die Formel „Kunst gegen Kunst“ zurückgreift. Vgl. Annäherung, 121.

3.3 Rivalitäten, Lesarten, Gewaltenteilung (Goethe) |

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„nemo contra deum nisi deus ipse“²¹⁰ –, auf den Blumenberg, indem er ihn dem Bauprinzip des „Eins gegen eins!“ zuordnet, umfassend eingeht, steht in unmit­ telbarem Kontext mit Goethes Beschreibung des Dämonischen. Über diese Ver­ bindung lässt sich eine strukturelle Rivalität bestimmen, die positionale Logiken unterläuft. Es kann nicht mehr die bloße Konfrontation des Einen mit dem An­ deren sein, auf die Blumenbergs Lektüren am Ende zulaufen; vielmehr wird das Modell der Zweiseitigkeit selbst instabil. Dies hat Auswirkungen für eine implizite Theorie der Gewaltenteilung, wie sie sich in Arbeit am Mythos findet.

Anschauen und Lesen Während die Weltbuchmetapher die Ansprüche der Wirklichkeit abschwächt, weil sie Unzugängliches als Zugängliches ausgibt, verstärkt sie zugleich mögli­ che Verunsicherungen. Dem Goethe-Kapitel XV geht eine Beschreibung der Buchund Schriftmetaphoriken in der deutschen Aufklärung voran. Nicht nur, dass überhaupt ‚auf Metaphern ausgewichen‘ wird, ist hier entscheidend, sondern die Spezifik eines Registers, das „theoretisch gar nicht ‚zugelassen‘ ist“ (PM, 14). Blumenberg fasst zusammen: „Die Lesbarkeitsmetapher ist in der Aufklärung Leitfaden für die Geschichte der ständigen Unterwanderung einer sich als unbe­ stechlich befindenden Vernunft durch die heimlichen Wünsche, die Welt möge mehr Bedeutung für den Menschen haben und ihm mehr zeigen, als vernünfti­ gerweise von ihr erwartet werden darf.“ (LW, 199) Das Verfahren setzt bei dem Wiederaufkommen des Unzulässigen an. Am Insistieren einer metaphorischen Konfiguration zeigen sich programmatisch nivellierte, historisch aber irreduzible Ansprüche. Goethes Idee einer reinen Anschauung fügt sich in diese Linie einer Unterwanderung der Vernunft ein; gleichzeitig vermag sie nicht, sich gegen eine solche Unterwanderung – durch anschauungsferne Varianten der Schriftlich­ keit – abzusichern. Um dies herauszuarbeiten, baut Blumenberg verschiedene Spannungsfelder auf, die sich mit der Grundspannung zwischen Welt und Buch verbinden. Eines dieser Spannungsfelder liegt zwischen Goethes frühem Naturbegriff – Natur sei indirekt, über die bloße „Zurückweisung der Bücher“ (LW, 217) verstan­ den – und dem erst während der Italienischen Reise gefundenen Begriff von Na­ tur: „das ruhend Ansichtige, organisch Entfaltete, landschaftlich Ausgebreitete“ (LW, 218). Für das Vorfeld des Naturbegriffs der Italienischen Reise lassen sich weitere Kontexte benennen, in denen ‚Anschauung‘ mit ‚Schrift‘ in Berührung 210 Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens [MA], Band 16, hg. v. Peter Sprengel, München 2006, 822.

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kommt: zunächst Goethes Algebrastudien, über die er in Briefen an Charlotte von Stein berichtet. Hier ist der „Kontrast zur Anschauung“ (LW, 215) maßgeblich. In dieser Hinsicht ist die mühselig zu erlernende algebraische Methode für Goethe ein Umweg. Blumenberg beobachtet, wie der aufgebaute Kontrast dann aber para­ doxerweise innerhalb des Registers der Schrift umschlägt, nämlich in die „Gegen­ metaphorik“ (LW, 215). Das Unzulässige und Ausgeschlossene ist nun das Medium des Umschlags in die neue Konzeption einer vermeintlich amedialen Anschau­ ung. Goethe schreibt noch vor der Abfahrt nach Italien: „Wie lesbar mir das Buch der Natur wird kann ich dir nicht ausdrücken, mein langes Buchstabiren hat mir ge­ holfen, ietzt rückts auf einmal, und meine stille Freude ist unaussprechlich.“²¹¹ Aus Italien lässt Goethe wissen, er sei fähig geworden, „das Buch der Natur gleich­ sam vom Blatte zu lesen.“²¹² Blumenberg zeigt, wie die Buchmetaphorik inner­ halb dessen arbeitet, was als reinste Anschauung durch seine Unverträglichkeit mit ihr gekennzeichnet sein müsste. Allerdings legt er einen Zusammenhang na­ he zwischen dem algebraischen „Buchstabiren“ und dem Lesbarwerden der Na­ tur.²¹³ Die Heterogenität der Algebrastudien unterstreicht den rhetoriktheoreti­ schen Sachverhalt, dass hier auf „das ganz Andere“ (Annäherung, 116) zurück­ gegriffen wird; näher liegt jedoch der Bezug zu einer Kritik des taxonomischen Systems Carl von Linnés, dem Goethe die Anschauung morphologischer Formen entgegensetzt. Das Lesbarwerden der Natur wäre dann schlicht an der Erfahrung der ebenfalls mühsamen Linné-Lektüre bemessen: „denn ich muß wohl, ich habe kein ander Buch.“²¹⁴

Welt gegen Welt Mit Blick auf das gesamte Narrativ der Studie markiert das Goethe-Kapitel eine Zäsur, denn es geht um den „Umschlag von der Welt, die ein metaphorisches

211 Goethe, Brief an Charlotte von Stein, 15. Juni 1786, zit. n. LW, 215. 212 Goethe, Brief an die Herzogin Luise, 22. Dezember 1786, zit. n. LW, 216. 213 „Erkennbar an dieser Erfahrung des Unzuträglichen formiert, hat sich schon Mitte Juni in Ilmenau die Gegenmetaphorik durchgesetzt“. LW, 215. 214 Johann Wolfgang Goethe, Brief an Charlotte von Stein, 9. November 1785, zit. n.: Ders., Sämt­ liche Werke nach Epochen seines Schaffens [MA], Band 2/2, hg. v. Hannelore Schlaffer et al., Mün­ chen 2006, 869. Vgl. auch den weiterführenden Kommentar dort. Goethe glaube, „‚die Wahrheit‘ durch die Anschauung morphologischer Formen unmittelbar ‚ablesen‘ zu können.“ Diese Wahr­ heitshypothese ist es jedoch, die im metaphorologischen Zugang in Frage gestellt ist. Es kommt hinzu, dass Goethe die Lesbarkeitsmetaphorik auf den Aspekt des Entgegenkommens zuspitzt: „Es zwingt sich mir alles auf, ich sinne nicht mehr drüber, es kommt mir alles entgegen“. Goethe an Charlotte von Stein, 9./10. Juli 1786, zit. n. LW, 216.

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Buch ist, zu dem Buch, das eine metaphorische Welt sein wird“ (LW, 223). Die­ ser „Umschlag“ liegt noch vor der Italienischen Reise, nämlich in dem seit Be­ ginn der 1780er Jahre – für die Geschichte der Vernunft ein wichtiger Zeitpunkt – nachweisbaren Projekt Goethes, einen „Roman über das Weltall“ zu schreiben.²¹⁵ Der Plan steht im Kontext erster geologischer Studien. Er solle, so der in einem Brief an Charlotte von Stein geäußerte Anspruch, nichts weniger als „die Erdent­ wicklung schildern“.²¹⁶ Neben einigen ankündigenden Briefstellen liegen aller­ dings nur wenige, in der Münchner Ausgabe mit „Granit I“ und „Granit II“ über­ schriebene Seiten vor, die sich diesem Projekt zuordnen lassen.²¹⁷ Da die Lesbar­ keit der Welt ‚Ansprüche‘ und ‚Erwartungen‘, vor allem aber die „Zurücknahme großer Erwartungen“ (LW, 230) beschreiben will, ist diese Konstellation nahezu ideal. Der Anspruch auf Einheit und Welthaltigkeit des Lesbaren wird manifest inmitten einer Vielzahl an Rivalitäten: zwischen den Paradigmen (Bücher ge­ gen Natur, Lesbarkeit gegen Anschauung), zwischen alternativen Modellen (zu den von Blumenberg diskutierten Bezugspunkten gehören Friedrich Schillers Kant-Rezeption, Alexander von Humboldts Kosmos-Buch und Heinrich Heines Kritik des Goetheschen Anschauungsmodells), zwischen den Phasen von Goe­ thes Werkentwicklung selbst, letztlich auch zwischen Klassik und Romantik. Über den Aspekt der Ganzheit verschränkt das Weltall-Roman-Projekt einen na­ turgeschichtlichen und einen poetologischen bzw. gattungsgeschichtlichen Dis­ kurs. Es gehe darum, „über die Geognosie im Erzählton zu schreiben, vor allem aber, in Einem Alles zu geben“ (LW, 224). In seinem frühen Romanaufsatz hatte Blumenberg als zentrale Charakteristik des Romans dessen Anspruch ausgemacht, selbst eine Welt zu sein: es ist „die Idee der Konkurrenz [. . . ] mit der vorgefundenen Welt“, die „künstlerische[] Er­ schaffung weltebenbürtiger Werke“ (Wirklichkeitsbegriff, 18). Blumenberg spricht

215 Annette Graczyk erläutert das Weltall-Roman-Projekt als ein zunächst in Briefform geplan­ tes Vorhaben, „eine in ihrer Weite wie in ihren Einzelheiten ausgeschrittene und in Augenschein genommene Totalität literarisch anschaulich zu gestalten“. Sie betont die tableauhafte Anlage, in der diese vor allem naturgeschichtliche Gesamtschau organisiert sein sollte. Der hierfür ver­ wendete Romanbegriff stehe dabei für etwas ein, das selbst noch gar keine Darstellungsform aus­ gebildet habe, gleichzeitig aber an Buffons Histoire naturelle, der Goethe zuschreibt, sie sei als Roman verfasst, orientiert sein sollte. Vgl. Annette Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2004, 192–193. Zur Konkurrenz mit Alexander von Humboldt vgl. Abschnitt 3.1. 216 Johann Wolfgang Goethe, Brief an Charlotte von Stein, 10. September 1780, zit. n.: Ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens [MA], Band 2/2, hg. v. Hannelore Schlaffer et al., München 2006, 892. 217 Vgl. Graczyk, Das literarische Tableau, 189.

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von einer „immanent wahnfähige[n] Tendenz der Gattung“ (LW, 233), in der sich bereits der Übergang zur Frühromantik zeige.²¹⁸ Diese Tendenz verbindet sich mit den genannten Rivalitäten, insofern diese, mehr oder weniger direkt, auf den Grundkonflikt der beiden Bücher²¹⁹ bezogen sind. In Goethes Projekt spitzen sich diese Konflikte zu: „Nach der fraglichen Lesbarkeit in dem einen Buch dort ist nun die Kraftprobe fällig, die in der Darstellbarkeit des Ganzen in einem Stück hier liegen mußte.“ (LW, 223)

Neptunismus gegen Vulkanismus Die beiden bislang angedeuteten Stränge – das Problem der reinen Anschauung und der Anspruch, die Erdentwicklung als ganze zu schildern – geraten über ei­ nen weiteren Streitfall in Kontakt. Denn die Texte über den Granit nehmen Partei für den Neptunismus, der nach Goethes Korrespondenzpartner Abraham Gottlob Werner besagt, dass alle Festigkeit der Erde aus einem Urmeer hervorgegangen sei. Die Gesteinsart des Granits ist Inbegriff einer gemäßigten neptunischen Kris­ tallisation, nicht Produkt vulkanischer Eruptivität und Gewalt.²²⁰ Diese Allmäh­ lichkeit will Goethe als ‚stumme Lehre‘ fassen. Er setzt sie scharf ab gegen einen metaphysischen Anspruch auf Zugang zum Anfang überhaupt: Da dem Menschen nur solche Wirkungen in die Augen fallen, welche durch große Bewegun­ gen und Gewaltsamkeit der Kräfte entstehen, so ist er jederzeit geneigt zu glauben daß die Natur heftige Mittel gebraucht um große Dinge hervorzubringen ob er sich gleich täglich an derselben eines andern belehren könnte. So haben uns die Poeten ein streitendes uneinig tobendes Chaos vorgebildet. [. . . ] Mein Geist hat keine Flügel, um sich in jene Uranfänge hervorzuschwingen. Ich stehe auf dem Granit fest, und frage ihn ob er uns einigen Anlaß geben wolle zu denken wie die Masse woraus er entstanden beschaffen gewesen.²²¹

Goethes Parteinahme sucht die mit Spekulationen aufgeladene Ungewissheit über die Uranfänge durch die Gewissheit über den festen Stand auf einem in sei­ nen Spalten und Rissen lesbaren Urgebirge zu ersetzen. In der an die Stelle der

218 In Theorie der Unbegrifflichkeit (2004) wird der ‚romantische‘ Zug mit Friedrich Schlegel ver­ bunden: „Jedes Werk der Poesie sei ‚eine kleine Welt‘ – das ist ein hochromantischer Satz Fried­ rich Schlegels.“ ThU, 69. 219 Vgl. Abschnitt 3.1. 220 Vgl. hierzu die aufschlussreiche Skizze: Johann Wolfgang Goethe, „Epochen der Gesteinsbil­ dung“, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens [MA], Band 2/2, hg. v. Hannelore Schlaffer et al., München 2006, 509–511. 221 Johann Wolfgang Goethe, „‚Granit I‘“, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaf­ fens [MA], Band 2/2, hg. v. Hannelore Schlaffer et al., München 2006, 487–488, hier: 488.

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Uranfänge gesetzten, durch Kristallisationsphänomene aber gleichsam mit ihnen korrespondierenden Gesteinsart finden die metaphorologisch zentralen Aspekte der Projektion und Totalität zusammen: „Die erste Epoche des Granits ist einfach und allgemein über die ganze Welt.“²²² Aus dem Blickwinkel von Blumenbergs Überlegungen zur Rhetorik gerät, was von ihm allerdings nicht weiter ausgeführt wird, die Massivität des Granits nun in die komische Rolle, das gegenüber den Weltanfängen „vertrauter und handlicher Verfügbare“ (Annäherung, 116) zu sein. Im Grunde genommen erfüllen schon die wenigen Seiten des Granittextes vor allem den auf das noch ausstehende Romanprojekt bezogenen Anspruch: „in Einem Alles zu geben“ und den „Plural der Bücher“ zu negieren (LW, 224). Mit­ hin reicht ein einzelner Aussagesatz: „Der ganze Bau unserer Erde ist aus der Kristallisation zu erklären.“²²³ Mit Blumenberg muss Goethes Idee der Anschauung aus einer mehrfachen Ablehnungsbewegung verstanden werden: der Mediatisierung, der Pluralisie­ rung wie der Plötzlichkeit des Vulkanismus. Sie sei „ohne seine unablässige Arbeit am Abbau des Vulkanismus“ – und damit auch ohne den ungeschriebe­ nen Roman – „nicht zu fassen“ (LW, 226). Den Neptunismus des Granitkontextes erläutert Blumenberg in Arbeit am Mythos als Versuch, mit dem „Verfall des Weltvertrauens“ (AM, 477) umzugehen, den der Satz vom zureichenden Grund durch das Erdbeben von Lissabon 1755 erfahren hatte.²²⁴ Aber das zum Zweck der Neugründung auf Granit Ausgeschlossene kehrt wieder: als Delegation von Erfahrung, als Abmilderung der Frontstellung zum Vulkanismus, als plötzlicher Wassereinbruch in das Bergwerk in Ilmenau.

Vernunft gegen Anschauung „Die Erfahrung von Ilmenau gehörte zu den Grenzsetzungen der Vernunft am En­ de des Jahrhunderts“ (LW, 227). Es könne, zitiert Blumenberg, „keine Geologie ge­ ben, denn die Vernunft hat hier nichts zu tun.“ Nur das Organische sei redend, das Anorganische jedoch stumm. Es gebe keinen logos, kein Sprechen über das Sprachlose. Die Idee der Anschauung sei „nicht der Triumph der Vernunft, son­ dern ihre Ohnmacht“ (LW, 227). Auch im Mythos-Buch steht die Wiederaufnah­ me von Goethe im Kontext der Diskussion eines Problemüberhangs. So hatte Blu­

222 Goethe, Epochen der Gesteinsbildung, 510. 223 Goethe, Epochen der Gesteinsbildung, 511. 224 Gleichzeitig steht der gesamte Widerstreit der beiden Gestaltungsmächte seinerseits in einer Konkurrenzsituation: nämlich der Aufklärung zum Schöpfungsbericht der Bibel. Die Diskussion des geologisch Tragenden steht in einer Situation geistesgeschichtlicher Instabilität.

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menberg auf die Kontingenz in der Selbstsetzung der reinen Vernunft hingewie­ sen und ihre Geschichtlichkeit als das „ungelöste Hauptproblem der Aufklärung“ (AM, 415) identifiziert. Hinzu tritt nun Goethes Beschreibung der Region, „wo die Vernunft nicht hinreichte und wo man doch die Unvernunft nicht wollte walten las­ sen.“²²⁵ Das Ausgreifen der Vernunft auf das Vernunft-Andere macht sie angreif­ bar. Die Überdehnung des Anspruchs der Vernunft begründet sich hier aus der Abwehr ihres potentiellen Gegenteils, als immanente Destruktion der Prätention aus einem Versuch der Prävention. Das in der Lesbarkeit der Welt besprochene Ideal reiner Anschauung soll die Stelle einer ohnmächtigen Vernunft besetzen. Aber dieses Ideal ist selbst anderem exponiert. Es ist dies schon deswegen, weil es, wie Blumenberg zeigt, überhaupt nur im Kontakt mit dem Auszuschließenden Kontur annimmt. Auch die projektierte Romanwelt der Granit-Fragmente steht an der Schwelle zu ei­ nem Wirklichkeitsbegriff des Nicht-Gefügigen, Kontingenten. „Die ästhetische Eigenwelt ließ sich nicht mehr freihalten von den Einbrüchen der ihr fremden Realität.“ (AM, 543) Mit dem Hinweis auf den ‚vierten‘ Wirklichkeitsbegriff lässt sich plausibilisieren, dass der Einbruch einer fremden Realität nicht der einer absolut-fremden Realität ist, sondern einer ihr – der ästhetischen Eigenwelt – fremden Realität. In „Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff“ (1974) wird die­ ser Bezug eingeleitet mit der Frage, „ob nicht erst das, was die Konsistenz des Wirklichkeitsbewußtseins zu durchbrechen vermöchte, das in einem strengeren Sinne Wirkliche wäre.“ (Vorbemerkungen, 9)

Mythos gegen Wirklichkeit Ist die Arbeit am Abbau des ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘ auf der einen Seite die „Arbeit am Mythos als eine große und lastende Anstrengung der Generatio­ nen“ (AM, 368), und gilt, auf der anderen Seite, dass die „Arbeit am Mythos“ die „Arbeit des Mythos“ sichtbar mache (AM, 133), impliziert das eine geschichtlich kontingente Eigendynamik innerhalb des Versuchs, „die Übermacht ins Bild zu setzen“ (AM, 368). Blumenberg beschreibt zwar eine „im Mythos schon angelegte und sich immer wieder selbst antreibende Depotenzierung dessen, was noch hin­ ter dem Mythos als das selbst Unmythische, weil Bildlose und Gesichtslose eben­ so wie Wortlose steht: das Unheimliche, Unvertraute – die Wirklichkeit als Ab­ solutismus.“ (AM, 369) Aber dieses Hinter-dem-Mythos-Stehen lässt sich auf ver­ schiedene Weisen lesen: Es kann die antagonistische Wirklichkeit sein, die immer

225 Goethe, Brief an Carl Friedrich Zelter, 19. März 1827, zit. n. AM, 436–437.

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noch drohend hinter dem Mythos lauert, obwohl er sie ein für allemal entmach­ ten wollte; es kann sich aber auch um dasjenige handeln, das noch hinter dem Mythos liegt und also tatsächlich, wie das erste Kapitel titelt, ‚nach dem Abso­ lutismus der Wirklichkeit‘ zu veranschlagen wäre: als mögliche Umkehrung des Mythos, als unbeherrschbarer Umschlag des Mythos in sein Anderes. Mit dieser zweiten Variante gewinnt die „sich immer selbst antreibende Depotenzierung“ an Plausibilität. Die beschriebene „Wirklichkeit als Absolutismus“ (AM, 369) ist dann nicht das vom Mythos mehr oder weniger gut zurückdrängbare Ganz-Wirk­ liche, sondern das von ihm überhaupt nicht Zurückdrängbare: eine Art zweiter Absolutismus der Wirklichkeit, der mit Wirklichkeit nicht mehr viel zu tun hat.

Platzverlust im Platztausch Im vierten Teil von Arbeit am Mythos steht Goethes Prometheus (1773) zunächst in rezeptionsgeschichtlicher Situation (die Bewegung der Rezeption ist ‚Arbeit des Mythos‘). Die Rezeption verformt das Thema, indem die mythische Konfrontation Zeus–Prometheus eine poetologische Funktion erhält. Der Dichter rückt an die Stelle des Herausforderers auf. Blumenberg zeichnet einerseits die inszenierte Antwortsituation nach: Gott wolle, so scheine es, nicht haben, dass er, Goethe, Autor werden solle.²²⁶ „Um dennoch tun zu können, was Gott nicht will,“ gebe „es nur ein schlüssiges Konzept: selbst ein Gott zu werden.“ (AM, 441) Anderer­ seits müsse die hintergründige Verschiebung theologischer Prämissen gesehen werden: „Die Unbekümmertheit des Gottes um den Menschen ist die Prämisse für die Selbstermächtigung und Selbstbestätigung des schöpferischen Poeten.“ (AM, 457) In rezeptionsgeschichtlicher Situation steht aber noch diese Lektüre der Promethie, weil sie konsequent vom späteren Rückblick der Selbstrezeption in Dichtung und Wahrheit her eingeordnet wird. Mit jedem analytischen Schritt verliert die großformatige Anmaßung an Gewicht. Einerseits lassen sich verschie­ dene destabilisierende Bewegungen mit Goethes Gedicht verbinden, andererseits zeigt Blumenberg, wie diese vom Versuch vereinnahmt werden, neue Unbetreff­ barkeit zu erlangen. Goethes Gedicht steht, wie das Weltall-Roman-Projekt, in der gemeinsamen Linie einer ‚Unterminierung der Aufklärung‘. Von hier aus erklärt sich die in Dichtung und Wahrheit gefundene Formulierung, die Prome­ theus-Hymne sei ‚Zündkraut einer Explosion‘ gewesen. Goethe beschreibe die „Wirkung des mythischen Poems als das Hervorbrechen eines der Rationalität des Jahrhunderts und den Absichten ihrer vornehmsten Vertreter unbekannten

226 Vgl. Goethe, Brief an Ernst Theodor Langer, 17. Januar 1769, zit. n. AM, 441.

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und von ihnen ungewärtigten Untergrunds.“ (AM, 452) Goethes Promethie för­ dert zutage, was der Aufklärung latent geblieben war, lässt sich aber ihrerseits als Versuch verstehen, in und aus der Instabilität neue Stabilität zu erreichen. So sei der Trotz der mythischen Figur rückblickend „ganz verwandelt in eine Gebärde der Anstrengung, unerschütterlichen Grund zu gewinnen.“ (AM, 478) Indizi­ en für den Versuch, neue Unantastbarkeit zu stiften, findet Blumenberg schon in den Figurationen von Hütte, Erde, Herd im Gedicht selbst:²²⁷ „alle Heraus­ forderungen ‚nach oben‘ dienen der Vergewisserung dessen, was unbetreffbar bleibt.“ (AM, 493) Während Die Lesbarkeit der Welt das Problem einer unbe­ troffenen reinen Anschauung diskutiert, steht in Arbeit am Mythos der Versuch im Vordergrund, eine „substantielle Unantastbarkeit des Menschen“ (AM, 469) zu denken. Die mit Goethe weiter verfolgte Umarbeitung der Promethie ist ein hervorste­ chendes Beispiel für die von Blumenberg schon früh beobachtete Verschränkung von Transformation und Destruktion.²²⁸ Mit ‚dem Abschied von Prometheus‘ wer­ de es ernst, heißt es in dem Kapitel, das Goethes Begegnungen mit Napoleon, dem „dämonischen Partner seiner Selbstkonstitution“ (AM, 526), aufarbeitet.²²⁹ Die im „Eins gegen eins!“ vorgeprägte Konstellation des ‚ungeheuren Spruchs‘ nimmt ei­ ne neue Wendung. Goethe rühme sich, dem „Blick des Imperators [beim Treffen in Erfurt 1808, A.W.] standgehalten zu haben“ (AM, 509). Angesichts der Konfron­ tation mythischen Ausmaßes sei die Bedeutung des Inhalts des Treffens neben­ sächlich gewesen (vgl. AM, 537). Für die Umbesetzungsgeschichte ist wichtiger, dass Goethes „Ende der Selbstfiguration in Prometheus“ (AM, 574) mit einer Über­ schreibung dieser Figuration an das Gegenüber einhergeht: „Prometheus wird Napoleon“ (AM, 504). Diese schlägt mit Napoleons Untergang noch einmal um. Die Verbannung wird zur prometheushaften „Anschmiedung an den Felsen von St. Helena“ (AM, 567). Napoleons Untergang und Goethes Rückzug in die Resigna­ tion hängen hier, rein strukturell betrachtet, zusammen.

227 Die erste Strophe endet mit den Zeilen: „Mußt mir meine Erde / Doch lassen stehn.“ Goethe, Prometheus, hier: 230, Z 6–7. 228 Vgl. Abschnitt 2.3. 229 Goethes Bezug zu Napoleon steht für Blumenberg in einer Linie mit dem Weltall-RomanProjekt: „Die ‚Abhandlung über den Granit‘ und der Neptunismus seiner Geologie bildeten die Formen, durch Anschauung des gewachsenen Bodens mit dem Verfall des Weltvertrauens nach Voltaires Hohn über Leibniz und Pope fertig zu werden. Schließlich ist es keine Spekulation mehr, in ähnlicher Weise Goethes Blick auf Napoleon, ein Vierteljahrhundert nach dem ersten Beben der Halsbandaffäre, als die elementare Erfahrung eines neuen festen politischen Bodens zu be­ greifen, wie schrecklich ihm später auch der Preis erscheinen mochte, um den diese Festigkeit zu haben gewesen war.“ AM, 477.

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Das frühe Pathos des ästhetischen Titanen hatte auf der Implikation beruht, ein Gott könne es mit einem Gott aufnehmen, wie Prometheus mit Zeus. Dem gegenüber wird der ‚unge­ heure Spruch‘ zur letzten Formel der Resignation werden, sobald man ihn im Irrealis der Melancholie liest: Nur ein Gott hätte es mit einem Gott aufnehmen können. (AM, 488)

Blumenberg verfolgt diese Konfiguration noch einen Schritt weiter und lässt sie, vermittelt über den polytheistischen Zug bei Goethe, auf eine Theorie der Gewal­ tenteilung hinauslaufen.

Zerstreuungen des „Eins gegen eins!“ An dem strukturellen Platztausch entscheidend ist die Verbindung mit dem Dä­ monischen. Als ein „nicht eindeutig bestimmbare[s] Zwischenreich“ (AM, 521) bleibt das Dämonische unverortbar, unterläuft Monismen, Dualismen und Plura­ lismen gleichermaßen.²³⁰ „Wer sich in der Moderne für die latente Anwesenheit überwunden geglaub­ ter, verdrängter, vergessener oder auch erst noch heraufziehender Mächte interes­ siert, kann auf dämonische Dienste kaum verzichten.“²³¹ Im Voranstehenden wur­ de nachvollzogen, dass die konfrontative Logik jeweils am nicht Bewältigbaren umschlägt und dadurch unhaltbar wird. Es ist daher von besonderem Interesse, dass jetzt dieses von Goethe so genannte ‚Element‘ in Blumenbergs Fokus gerät. In Dichtung und Wahrheit wird der ‚ungeheure Spruch‘ („nemo contra deum nisi deus ipse“) – vorläufiger Kulminationspunkt des „Eins gegen eins!“ – als Konse­ quenz der Einlassungen zum Dämonischen eingeführt. Ich möchte die Konstella­ tion dieser Einführung wiedergeben, um von dort aus die Frage nach einer Über­ windung der konfrontativen Logik verschärfen zu können. Goethe gibt folgende Beschreibung des Dämonischen: Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig, nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltätig, nicht englisch, denn es ließ oft Schaden­ freude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge, es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles was uns begrenzt schien für dasselbe durchdring­ bar, es schien mit den notwendigen Elementen unsres Daseins willkürlich zu schalten, es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen.²³²

230 Zur „grotesk-komische[n] Seite“, die sich hier und insbesondere in der von Blumenberg rekonstruierten Staffelung des Verhältnisses Goethe-Napoleon abzeichnet. Vgl. Friedrich/Geu­ len/Wetters, Einleitung, 20–21. 231 Friedrich/Geulen/Wetters, Einleitung, 17–18. 232 Goethe, Dichtung und Wahrheit, 820.

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Von Lars Friedrich, Eva Geulen und Kirk Wetters, in ihrer Einleitung zum Sammel­ band Das Dämonische (2014), ist darauf hingewiesen worden, dass die ‚Kategorie‘ des Dämonischen²³³ mit einer Reduktion des Plurals, der von einem Diskurs über Dämonen nicht zu trennen ist, einhergeht. Goethe habe „aus den vielen Dämo­ nen ein Dämonisches“ gemacht.²³⁴ Worauf sich mit Goethe hingegen bestehen lasse, sei die Bindung des hier in sauberer Mehrdeutigkeit gehaltenen Dämoni­ schen an den „Umgang mit Kontingenz, als unerwartetes Erbe“. Es gehe darin um „ungewollte Hypotheken [. . . ] und vor allem um ungewisse Gegenwart und offene Zukunft.“²³⁵ Das Dämonische steht bei Goethe in einer Relation mit dem ‚Ungeheuren, Unfaßlichen‘, ‚Furchtbaren‘, mit dem nicht Vernunftgemäßen und potentiell Körperlichen. Diese Attribute sind in Dichtung und Wahrheit auf eine Dynamik aus Trennung und Kopplung bezogen: „Dieses Wesen, das zwischen al­ le übrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu verbinden schien, nannte ich dämonisch“.²³⁶ Verbindet sich das, was derart interveniert, verbindet und trennt, mit einem Menschen, könne es „eine ungeheure Kraft“, „eine unglaubliche Ge­ walt“ entfalten. Solchen Menschen begegne nur selten ihresgleichen; vielmehr sei ihr Kampf gegen das gesamte Universum, ihren einzigen ebenbürtigen Kon­ trahenten, gerichtet: „aus solchen Bemerkungen mag wohl jener sonderbare aber ungeheure Spruch entstanden sein, nemo contra deum nisi deus ipse“,²³⁷ dessen Grundformel in Arbeit am Mythos mit „Gegen einen Gott nur ein Gott“, dem Titel des gesamten vierten Teils bei Blumenberg, wiedergegeben ist. Zugleich sieht sich diese Formel mit einer Fülle unterschiedlicher Übersetzungen, Akzentuierungen und Interpretationen konfrontiert. Goethe lässt offen, woher er diesen Spruch bezieht. Schon die Zeitform der Spekulation („aus solchen Bemerkungen mag . . . entstanden sein“) bindet die enorme Konfrontation ‚Gott gegen Gott‘ an die Sphäre des Dämonischen zurück. Im Wort ‚Bemerkungen‘ überlagern sich verschiedene Bedeutungen: Es kann ‚kur­

233 Ausgehend von Blumenbergs Lektüre hat das Dämonische keinen konzeptuellen, sondern einen mythischen Charakter, der sich weder wesenslogisch noch kategorial binden lässt: „There is, in fact, no such thing as das Dämonische as such; there are merely areas of life and human experience that are not to be clarified in conceptual terms alone.“ Nicholls, The Goethe Com­ plex, 104–105. Nicholls macht plausibel, dass der Name des Dämonischen insofern in mythischer Funktion auftritt, als er sich auf das bezieht, was Blumenberg als den ‚ungelösten Rest‘ der Er­ fahrung identifiziert. Vgl. AM, 437. „Das Dämonische is therefore neither a thing nor an essence (Wesen), it is neither good nor evil – it is only a rhetorical tool which refers to those aspects of experience that exceed conceptual expression.“ Nicholls, The Goethe Complex, 106. 234 Friedrich/Geulen/Wetters, Einleitung, 17. 235 Friedrich/Geulen/Wetters, Einleitung, 19. 236 Goethe, Dichtung und Wahrheit, 820. 237 Goethe, Dichtung und Wahrheit, 822.

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ze Äußerungen‘ meinen, ‚schriftliche Anmerkungen‘, aber auch eine ‚Wahrneh­ mung, Entdeckung‘. Es ist nicht nur unklar, an welchem Ort der Spruch aufzufin­ den ist, sondern auch welchem Register er zugehört, ob dem der Äußerung, der Verschriftlichung oder der Wahrnehmung. Der Spruch selbst ist ‚sonderbar‘ – d. h. „ab-, ausgesondert, einzeln, für einen einzelnen fall verwirklicht“²³⁸ – und ‚un­ geheuer‘ – „unheimlich, ungeheim, ungemein, elend, fremd, wild, unkund“.²³⁹ Warum jedoch dieses ‚aber‘ („aber ungeheure“)? Offenbar gibt es partikulare Fäl­ le, die nicht ungeheuer sind. Hier wäre das Sonderbare ein Spezifisches, das viel­ leicht Wunder nimmt, aber nicht substantiell beunruhigt und keine Bedrohung darstellt. Das Bindewort ‚aber‘ trennt oder sondert ein ungeheures Sonderbares von einem geheuren Sonderbaren. Noch bevor er einen Götterkonflikt inszeniert, ist der Spruch als Spruch sonderbar, ungeheuer. Er teilt die dem Dämonischen zu­ geschriebenen Attribute, aus deren Bemerkungen er hervorgegangen sein mag. Wäre die Herkunft des Spruches zu klären, verlöre er sein Ungeheures.²⁴⁰ Die Ver­ suche, dieser Tendenz mit einer Provenienzbestimmung zu begegnen, schlagen um in politische Theologie.²⁴¹ Blumenberg geht zwar ausführlich darauf ein, dass Goethe die Herkunft dieses Spruches kaschiert, stellt jedoch nicht heraus, dass das Ungeheure daran einerseits von dieser Ortlosigkeit, andererseits von der Ope­ ration des Sonderns lebt. Als herkunftsloser, weder systematisch noch bei Goe­ the noch in der Tradition dingfest zu machender ist der Spruch niemandem zu­ zuschreiben, ist zugleich einmalig (ein Spruch ist „einmaliges Sprechen“²⁴²) und

238 Grimmsches Wörterbuch, Band 16, Leipzig 1905, Sp. 1576. 239 Grimmsches Wörterbuch, Band 24, Leipzig 1936, Sp. 692. Es ist zudem zu unterscheiden zwi­ schen ‚ungeheuer‘ und ‚ungeheuerlich‘. Handelte es sich um einen ‚ungeheuerlichen‘ Spruch, wäre am Götterkonflikt der Aspekt der Anmaßung betont. 240 Blumenberg hingegen erklärt die Frage nach der „fremden oder fernen Herkunft des Spru­ ches, sei sie gnostisch oder pietistisch, mystisch oder spinozistisch“ für „irrelevant“, schon „ih­ rer Berechtigung nach unverständlich“. „Wenn der Spruch aus solchen Bemerkungen entstanden war, wie sie seiner pointierten Anführung an diesem Punkt der Selbstdarstellung vorausgehen – wer sonst sollte sie gemacht haben, da sie doch unverwechselbar die Einzigkeit der Lebenserfah­ rung Goethes ausmachen?“ AM, 569–570. Die These, Goethe habe den Spruch erfunden, werfe jedoch sofort die Frage auf: „Ist es so selbstverständlich, daß der Spruch Goethe als ‚ungeheuer‘ erscheint?“ AM, 577, Anm. 15. Goethe habe die Ambiguität kalkuliert: „Es entspricht im Gegenteil Goethes Zulassungen wie Absichten, die Adressaten seiner Aussprüche, im weitesten Sinn sein Publikum, vor deren Vieldeutigkeit gerade dort unaufgeklärt stehenzulassen, wo für ihn Wesent­ liches mitgeteilt werden sollte.“ AM, 577. Obwohl Blumenberg die Doppelung des ‚Ungeheuren‘ in dem kurzen Passus aus Dichtung und Wahrheit nicht entgeht, übergeht er die strukturellen Implikationen dieser Doppelung. 241 Vgl. zu diesem sehr konkreten Kontext den Abschnitt „Blumenberg contra Carl Schmitt“ bei Nicholls, The Goethe Complex, 108. 242 Grimmsches Wörterbuch, Band 17, Leipzig 1919, Sp. 165.

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beliebig oft teil- und tradierbar. Niemand spricht durch diesen Spruch, dessen Quasi-Subjekt ‚niemand‘ („nemo“) ist. Folgt „nisi“, wie hier, auf eine Negation, meint es ‚als, außer‘. Die ins ‚nur‘ zusammenziehbare Konstruktion ‚niemand . . . außer . . . ‘ ist der paradigmatische Fall eines Absonderns. Der „sonderbare, aber ungeheure Spruch“ sondert aber nicht aus einer Fülle, sondern aus einer Leere. Das „aber ungeheure“ scheint sich auf ein bloßes Sondern zu beziehen, das keine Umrisse oder Zusammenhänge kennen kann, weil es bei der Negation ansetzt. Die Passage im 20. Buch von Dichtung und Wahrheit erhält etwas Ausufern­ des. Das Dämonische bei Goethe ist nicht erst als Dämonisches „‚fundamentally excessive‘“²⁴³. Dieses Exzessive kommt ihm bereits in seiner textuellen Einfüh­ rung zu. Dann ist es in der Tat so, dass das dämonische Element nur in einem absoluten Ganzen, dem Universum, seinen Widerpart finden kann. Das von Blu­ menberg bis in das Prometheus-Fragment zurückverfolgte Bauprinzip des Spru­ ches nimmt hier eine Dynamik an, die der Zusammennahme in eins noch vor ei­ ner möglichen Konfrontation des einen mit dem anderen zuwiderläuft. Die mit dem Dämonischen beschreibbare Konfliktlinie liegt zunächst zwischen dem, was alle Teile in sich versammelt, und dem, was dazwischentritt, nur im Sondern ver­ bindet.

Lesarten, Gewaltenteilung Das abschließende Kapitel des vierten, des Goethe-Teils von Arbeit am Mythos geht auf die Rezeptionsgeschichte des ‚ungeheuren Spruches‘ ein. Es ist die paradigmatische mythische Konfiguration. Anstelle einer Spekulation über die Ursprünge steht die Vielzahl der Wiederaufnahmen. Schon Goethes Erfindung des Spruches, wenn es eine war, ist Effekt einer Rezeption. Verformt wird, so Blumenberg, nicht eine Urfassung, sondern etwas anderes, nämlich die Empha­ se göttlicher Einheit: „Nur polytheistisch wird aus dem Irrealis des ‚ungeheuren Spruchs‘ ein Potentialis. Das ist gegenüber Spinoza der mythische Zug an Goethes Umformung, sein vorchristlicher, faszinierender, aber geschichtlich eben ganz unerreichbarer Anachronismus.“ (AM, 592) Blumenberg entwickelt aus dieser Umformung eine „Grundformel“ des mythischen Verfahrens: „Der Polytheismus, der ästhetisch alles möglich macht, das reine Prinzip der Metamorphose, ersetzt die spinozistische Gleichgültigkeit durch die Gewaltenteilung, durch das ständige Aufgebot von Gott gegen Gott. Darf der Spruch nicht mehr spinozistisch im Irrealis gelesen werden, so ist er die Grundformel des Mythos in allen seinen Figuratio­

243 Nicholls, The Goethe Complex, 100.

3.3 Rivalitäten, Lesarten, Gewaltenteilung (Goethe) | 165

nen.“ (AM, 597) Nun wird, an die Überlegungen zur Zerstreuung des „Eins gegen eins!“ anknüpfend, hieraus aber nicht klar, ob das Prinzip der Gewaltenteilung oder die Setzung der vielen Götter den Vorrang erhält. Das Problem ist einfach, aber gravierend: In der Präferenz des Prinzips wäre noch jeder einzelne Gott der Gewaltenteilung ausgesetzt, könnte also gar keinen eigenen Platz unter anderen Göttern beanspruchen. Diese Bewegung fällt nicht mit der von Blumenberg zu­ rückgewiesenen „Entzweiung Gottes mit sich selbst“ (AM, 597) zusammen, weil hier das ‚mit sich selbst‘ gegenüber der Entzweiung den Vorrang behält. Die Lö­ sung, die in Arbeit am Mythos vorgeschlagen ist und von dort aus in zahlreiche Interpretationen Einzug gehalten hat, verlagert den Schauplatz von der Sphäre der Götter in den Radius des Menschen – in etwa also der Abwendung folgend, die Goethe unmittelbar an das „nemo contra deum nisi deus ipse“ angeschlossen hat: „Von diesen höheren Betrachtungen, kehre ich wieder in mein kleines Leben zurück“.²⁴⁴ Blumenberg identifiziert im Prinzip der Gewaltenteilung das „Ursche­ ma der Entängstigung des Menschen vor allen ihm unbegreiflichen Gewalten“ (AM, 597). Gemäß der oben – gleichermaßen mit und nach Blumenberg – vorge­ schlagenen Zurückweisung des vorausgesetzten Schemas der Zweiseitigkeit lässt sich allerdings noch eine andere Pointe herausarbeiten. Anzusetzen ist dazu noch einmal beim ‚ungeheuren Spruch‘ sowie bei dem, was Blumenberg seinerseits auf dessen Einführung folgen lässt. Es sind, so der Kapiteltitel, „Lesarten des ‚ungeheuren Spruchs‘“ (AM, 567). Das Kapitel verteilt die in diesem Spruch wirksame „unglaubliche Gewalt“²⁴⁵ auf seine Wiederauf­ nahmen. Die Diskussion des Polytheismus wird geführt unter der Bedingung ei­ nes Pluralismus der Lesarten. So wie sich der Mensch mithilfe des Prinzips der Gewaltenteilung vor den „ihm unbegreiflichen Gewalten“ (AM, 597) entängstigt, treten Lesarten an, die unbegriff lichen Gewalten zu depotenzieren, die Goethes Spruch buchstäblich herbei zitiert. Das „nicht eindeutig bestimmbare Zwischen­ reich[]“ (AM, 521) des Dämonischen, bereits in Ambiguität eingeführt, bricht sich im Spruch Bahn als Prinzip bloßen Sonderns oder Teilens. Es ist die Umkehrung der Gewaltenteilung: nicht Depotenzierung, sondern Potenzierung der ‚unglaubli­ chen Gewalt‘ und ‚ungeheuren Kraft‘, im Teilen von nichts.²⁴⁶ Lektüretheoretisch

244 Goethe, Dichtung und Wahrheit, 822. 245 Goethe, Dichtung und Wahrheit, 822. 246 Es wäre reizvoll, diese Bemerkungen mit einen Satz von Jean-Luc Nancy zu verbinden: „Es gibt keine Gegenwart, die nicht [. . . ] der (Mit-)Teilung ausgesetzt wäre“. Jean-Luc Nancy, „Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des ‚Kommunismus‘ zur Gemeinschaftlichkeit der ‚Existenz‘“, in: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, hg. v. Joseph Vogl, Frankfurt am Main 1994, 167–204, hier: 185, zit. n. Georg Christoph Tholen, Überschneidun­ gen. Konturen einer Theorie der Medialität, München 1999, 27; Nancys Satz steht dort im Kon­

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bedeutet das, dass nicht die Vielzahl der Einzellektüren entscheidend ist, son­ dern ein (nicht: ihr) vorheriges Auseinandertreten. Es ist diese Pluralisierung vor dem Plural, der sich in jedem Versuch, eine Lesart zu begründen, weiterträgt und verstärkt.

3.4 Möglichkeit und Kontingenz der Metapher (Leibniz) Hans Blumenbergs Die Lesbarkeit der Welt (1981) verfolgt, wie ein theoretisch Un­ zulässiges zwar „als das geschichtlich Kontingente“ (LW, 11), aber dennoch nicht zufällig hervortritt. Damit steht die Argumentation in einer Reihe ähnlicher Zu­ gänge, wie beispielsweise in Die Genesis der kopernikanischen Welt (1975). Dort wird die „Eröffnung der Möglichkeit eines Kopernikus“ aus einer inneren Auflösung der Absicherungen, durch die diese Eröffnung verhindert war, erläutert: Vielmehr war es [. . . ] die Liquidation dieses Systems von innen her – und das muß gerade heißen: aus dem Zentrum seiner theologischen Motivationen heraus –, die aus der Unmög­ lichkeit eines mittelalterlichen Kopernikus dessen Möglichkeit machte. Dieser Prozeß der Einräumung eines Spielraums durch Lockerung der Systemstruktur, durch Akzentuierung spezifischer Theologumena, ist zu beschreiben. (G, 171)

Insofern philosophische Nachdenklichkeit heißen soll, dass „nicht alles so selbst­ verständlich [bleibt], wie es war“ (Nachdenklichkeit, 61), bearbeitet der Nachweis des theoretisch Unzulässigen in seiner nicht-selbstverständlichen Wiederkehr ei­ ne der Grundfragen der Phänomenologie Blumenbergs.²⁴⁷ Diskutieren lässt sich dies anhand des Kapitels X „Weltchronik oder Weltformel“, in dem Gottfried Wil­ helm Leibniz’ Apokatastasis-Fragment (postum 1921) und der Schlussmythos aus seiner Theodizee (1710) ausführlich rekonstruiert werden.

Hiatus der Lesbarkeit An Blumenbergs frühem Kontingenz-Artikel fällt die geistesgeschichtliche Par­ allelkonstruktion zur Lesbarkeit der Welt auf: ein Einstieg mit Augustinus, ein Sprung mit der franziskanischen Scholastik, dann die Radikalisierung mit Leib­ niz (vgl. Kontingenz). Blumenberg generalisiert, dass die „Herstellung von Lesbar­ keit“ ein Phänomen sei, „das eng mit der Interpretation des Wirklichen vom Mög­

text des programmatischen Entwurfs von „Medialität als Mit-Teilung“. Tholen, Überschneidun­ gen, 23–28. 247 Zu einer Rekonstruktion vgl. auch Abschnitt 3.1.

3.4 Möglichkeit und Kontingenz der Metapher (Leibniz) | 167

lichen her“ (LW, 164) zusammenhänge. Die historischen Verschiebungen der Mög­ lichkeitsbegriffe sind von der Möglichkeitsimplikation des Wortes ‚Lesbarkeit‘ zu trennen. Es ist zu untersuchen, inwiefern der Anspruch auf Lesbarkeit der Welt mit der Veränderung des Verständnisses davon, was überhaupt als möglich ange­ sehen worden ist, zusammenhängt. Blumenbergs These ist, dass erst mit dem Gedanken, die wirkliche Welt erschöpfe nicht alle Möglichkeiten und könne daher einen Ausdrucksgehalt an­ nehmen, die Weltbuchmetapher möglich geworden sei. Bedingung sei ein Mittei­ lungsdispositiv, in dem Gott in der Welt vieles, aber nicht alles preisgebe. „Dieser noch gemäßigte Voluntarismus der Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit wird sich alsbald so verschärfen, daß das Wirkliche zu einer Partikel der Unend­ lichkeit des Möglichen wird. Dieser Hiatus gibt der Metapher vom Buch der Natur ihren Spielraum.“ (LW, 56) Es dürfte daher naheliegen, so der Einstieg in das Kapi­ tel X, solcher Metaphorik auch und gerade dort zu begegnen, wo die Welt, wie bei Leibniz, einen besonders gegenüber dem Möglichen ausgezeichneten Stellenwert erhalte. Gezeigt wird aber zuerst das Gegenteil: der kategorische Ausschluss aller Les­ barkeitsmetaphorik in einer nach dem principium rationis sufficientis strukturier­ ten Welt.²⁴⁸ Sämtliche Aspekte dieser Welt lassen sich aus einer vorweltlichen Sphäre herleiten, in der ein „deus calculans“ aus den unendlichen Möglichkeiten die Möglichkeit der einen Welt ‚abliest‘ (LW, 144). Für Blumenberg ist dieses Ab­ lesen ein technischer Akt, der aufgrund reiner Evidenzen eine Welt hervorbringt. In ihr ist nichts Undeutliches zu verstehen gegeben. Im Ablesen ist die Möglich­ keit von Lesbarkeit auf Distanz gehalten. Leibniz’ Satz vom zureichenden Grund verhalte sich überhaupt „destruktiv [. . . ] in bezug auf den Fortbestand aller Meta­ phorik der Lesbarkeit.“ (LW, 122) Leibniz’ Anwendung einer „neue[n] Systematik von Möglichkeit und Wirk­ lichkeit“ auf die „Herstellung des Universums“ leistet in Blumenbergs Rekon­ struktion zweierlei: Zum einen werde die Idee abgewehrt, die Welt könne die „Absorption des göttlichen Wesens“ sein und darin bloße „Selbstdarstellung der unendlichen Macht als Unendlichkeit“ (LW, 123–124). Dies wäre dann der Fall, wenn die Möglichkeiten Gottes mit dem zusammenfielen, was als Welt hervor­ gebracht wäre. Zum anderen werde der Voluntarismus derart ins Unermessliche

248 „Daß die wirkliche Welt den Horizont der Möglichkeiten nicht ausschöpft, wäre Vorausset­ zung für ihren Ausdruckswert gewesen, hätte ihr das Charakteristische einer Machart, den Spu­ renwert auf ihren Urheber, dessen Stil und Handschrift hin geben können. Doch als beste der möglichen Welten hat sie dafür den Spielraum der Variation verloren“. LW, 124. Die Verkehrung des Satzes vom zureichenden Grund in das principium rationis insufficientis ist wesentlicher Bau­ stein der „Anthropologischen Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“. Vgl. Abschnitt 2.2.

168 | 3 Ansprüche der Lesbarkeit

gesteigert, dass die Konstruktion des eifersüchtigen Schöpfergottes, der nur vie­ les, aber nicht alles „von seinen Schätzen“ preisgebe,²⁴⁹ regelrecht überdehnt werde. In Leibniz’ Metaphysischer Abhandlung (1686) lässt Gott „das allgemeine Sys­ tem der Erscheinungen“ realisieren, „das er zur Bekundung seines Ruhmes her­ vorzubringen für gut befand“.²⁵⁰ Dieses „allgemeine System“ ist aus unendlichen Möglichkeiten ausgewählt, aber der Prozess dieser Auswahl darf, so wiederum Blumenbergs Hervorhebung, keine voluntaristischen Züge mehr tragen. Es soll ein rein ableitender Akt sein. Der bei Bonaventura „noch gemäßigte Voluntaris­ mus“ (LW, 56) wird bei Leibniz gleichermaßen radikalisiert wie rationalistisch ein­ geebnet. Gegenüber Bonaventuras Gott verliere sich der mögliche Ausdrucksge­ halt zugunsten einer totalen ‚Kundmachung‘, die nicht mehr „etwas Bestimmtes zu verstehen geben will“, sondern nurmehr auf den Ruhm (gloire) Gottes bezogen sei (LW, 56). In dieser Verschärfung öffne sich aber der metaphorologisch relevan­ te Spielraum: Freigesetzt werde die Idee einer Lesbarkeit jenseits dessen, was ein personaler Gott mitzuteilen habe. Weder Bonaventura noch Leibniz verleihen der Metapher diesen Spielraum. Was diesen öffnet, liegt in einem Sprung („Hiatus“). Im Vokabular der Prähistorik bezeichnet ‚Hiatus‘ einen Zeitraum ohne Funde, eine Fundlücke. Mit der Eröff­ nung seiner Möglichkeit wird das Phänomen im strengen Sinn indemonstrabel. Die Leibniz-Welt ist für Blumenbergs Zugang gut geeignet, weil neben den Deduk­ tionen eines deus calculans Metaphern, die eine darüber hinausgehende Bedeu­ tung versprechen, in der Theorie nicht auftreten dürfen, sie es aber dennoch tun, wenn auch ihr Nachweis problematisch bleibt.²⁵¹

249 Vgl. Bonaventuras Antwort auf die Frage „utrum a primo efficiente debuerit, vel potuerit esse rerum multitudo“: „propter immensitatis manifestationem multa de suis thesauris profert, non omina, quia effectus non potest aequari virtuti ipsius primae causae.“ [„Um seine Unermess­ lichkeit zu offenbaren, bringt er vieles von seinen Schätzen hervor, jedoch nicht alles, denn die Wirkung kann nie dem Wert der ersten Ursache gleichkommen.“] Bonaventura, Liber II. Sen­ tentiarum, dist. I, pars 2, art. 1, qu. 1, concl., in: Opera omnia: Commentaria in quatuor libros sententiarum Magistri Petri Lombardi, Tomus 2, Florenz 1882, 40. Übers. v. Hanna Sohns. 250 Gottfried Wilhelm Leibniz, Metaphysische Abhandlung, XIX., in: ders., Philosophische Schrif­ ten, Band 1, hg. v. Hans Heinz Holz, Darmstadt 2013, 93. 251 Rüdiger Campe hat auf die Kontextbindung des Materials aufmerksam gemacht, die genau auf dieser Linie zu verorten ist: „Metaphorologisch von Belang ist ein sprachlicher Ausdruck dann, wenn er Anschauung in einem sprachlichen Zusammenhang bietet, der durch seine Ar­ mut an Anschauung oder sogar eine entschiedene Verweigerung von Anschauung die Suche nach Anschaulichkeit auf jenen Ausdruck und sein Potential an Anschauung – und das heißt an Me­ taphorizität – lenkt.“ Campe, Von der Theorie der Technik zur Technik der Metapher, 311. Mit Rücksicht auf die spätere Umarbeitung des Projekts in eine Theorie der Unbegrifflichkeit weist

3.4 Möglichkeit und Kontingenz der Metapher (Leibniz) | 169

Fortbestehen im Rudiment An mehreren Stellen ist im Leibniz-Kapitel der Lesbarkeit der Welt davon die Rede, dass die Metaphorik ‚fortbestehe‘. Für das, was Blumenberg ‚absolute Metaphern‘ nennt, scheint gar kein anderer Existenzmodus in Frage zu kommen; streng ge­ nommen ‚gibt‘ es überhaupt keine absoluten Metaphern. Die Programmschrift trennt zwischen absoluten und rudimentären Metaphern. Rudimentäre Meta­ phern seien solche, die sich als ‚Restbestände‘ „auf dem Wege vom Mythos zum Logos“ (PM, 14) prinzipiell ‚in Begrifflichkeit‘ auflösen ließen. Demgegenüber sind absolute Metaphern terminologisch unauflösbar und können – in diesem Sinn – keine Restbestände sein. Gleichwohl, und dafür findet sich im Leib­ niz-Kapitel ein starker Beleg, heißt das nicht, dass sie nicht auch rudimentär sind. „Die Metaphorik der Lesbarkeit müßte, das ist von vornherein absehbar, ganz und gar verändert werden, um von ihr in einer Leibniz-Welt noch Ansät­ ze oder Reste zu finden. Diese sperrt sich kraft ihrer Über-Qualität gegen jede literale Funktionalisierung: Sie ist zu viel, um auch noch etwas zu bedeuten.“ (LW, 125–126) Was hier mit ‚Ansätzen oder Resten‘ beschrieben ist, lässt sich im Begriff des Rudiments genau auffangen, als etwas, was „sich aus einer früheren Epoche [. . . ] als Rest erhalten hat“, das „unvollständig“ und „nur [noch] als An­ lage, im Ansatz, andeutungsweise vorhanden“ ist.²⁵² Leibniz’„Grundvorstellung“ sei „destruktiv [. . . ] in bezug auf den Fortbestand aller Metaphorik der Lesbarkeit“ (LW, 122). Die Verschärfung der Differenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, die die Möglichkeit der Lesbarkeit der Welt eröffnet, verhält sich negierend in Be­ zug auf das, was sie eröffnet. Verändert werden muss die Lesbarkeitsmetaphorik nicht deswegen, weil sie bereits eine Gestalt angenommen hätte, sondern weil sie überhaupt nur in solchen Transformationen Gestalt annehmen kann.

„Zwischen zwei Unvorstellbarkeiten“: Universalbibliothek und Weltformel Selbst ein Restbestand der Leibniz-Welt ist das 1921 zum ersten Mal veröffentlich­ te Apokatastasis-Fragment, in dem Leibniz das Gedankenexperiment einer Uni­ versalchronik der Geschichte anstellt. Das Kapitel X der Lesbarkeit der Welt gilt vor allem diesem Fragment, in dem Leibniz der Idee einer Protokollierbarkeit al­ ler Weltvorgänge die einer auf ein einziges Blatt Papier passenden Formelsamm­

er jedoch darauf hin, dass der Aktcharakter und das Mehr einer Aussageleistung ihrerseits re­ flektiert werden können, wodurch der darstellungstheoretische und linguistische Diskurs noch einmal überstiegen wird. 252 Duden, Band 5: Fremdwörterbuch, Berlin 1999, 718.

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lung gegenüberstellt. Diese „Kontraposition“ zwischen „Weltchronik oder Welt­ formel“, zwischen Geschichtsschreibung und Deduktion, Phänomenalismus und Rationalismus mache, so Blumenberg, die „Pointe des Fragments“ (LW, 144) aus. Das Fragment steht für eine zentrale Spannung in der Lesbarkeit der Welt, weil das Ideal der buchmäßigen Zugänglichkeit aller Weltvorgänge gegen eine Formel ausgespielt wird, die, obwohl nach ihrer eigenen Lesbarkeit gefragt werden kann, ein hermeneutisches Lesen ausschließt. Blumenberg bezeichnet den ersten Pol des Gedankenexperiments als imagi­ näre „kombinatorische Universalbibliothek“ (LW, 133). Indem die Bibliothek hier „Herstellung von Totalität“ (LW, 17) leisten soll, gerät sie in eine Nähe zur ‚kultu­ rellen Idee des Buches‘, die für die Metaphorik der Lesbarkeit der Welt ausschla­ gebend ist. Im Fragment selbst ist von einer Bibliothek jedoch nicht die Rede, nur von einer kombinatorisch ermittelbaren Zahl aller „möglichen Bücher begrenzten Umfangs“ [„omnium Librorum possibilium determinatam magnitudinem“]. Leib­ niz nennt diese Zahl N. Sie umfasse nicht nur „sinnvolle“, sondern auch „sinn­ lose“, d. h. zufällig und willkürlich aus Einzelbuchstaben zusammengesetzte Bü­ cher.²⁵³ Die sinnvollen Bücher sind in der Minderheit; sie stehen inmitten der Mas­ se des Unlesbaren.²⁵⁴ Noch schmaler ist das Intervall derjenigen Werke, die den Geschichtsverlauf eines Jahres annalistisch und zureichend abbildeten.²⁵⁵ Blu­

¯ 253 Gottfried Wilhelm Leibniz, „Apokatastasis (panton)“, in: Leibniz als Geschichtsphilosoph, hg. v. Max Ettlinger, München 1921, 27–34, hier: 27. 254 In einer Bibliothek, die in der Lage wäre diese N Bücher zu umfassen, wäre „das Lesbare und erst recht das Zutreffende bis zur Minimalität eingekeilt [. . . ] ins Sinnlose und Unzutreffende“. LW, 143. In ähnlicher Weise beschreibt Blumenberg an anderer Stelle das Verhältnis Mensch– Universum: nämlich über eine „Betrachtung des Verhältnisses des Menschen zum Universum als einer quantitativ bedeutungsvollen Proportion, in der der Mensch sich immer wieder davor zu retten sucht, das Nichts gegenüber dem Unendlichen zu sein.“ Contemplator, 117. 255 Behauptet wird, die Zahl aller möglichen Bücher begrenzten Umfangs sei endlich. Endlich ist sie aufgrund zweier Voraussetzungen: zum einen ist ein Buch in sich begrenzt, es vermag nur eine endliche Anzahl an Zeichen zu umfassen; zum anderen ist auch die Anzahl der Buchstaben des Alphabets, aus denen sich ein Buch zusammensetzen muss, endlich. Die Zahl der Zeichen, die ein Buch maximal umfassen kann, kann willkürlich gewählt werden. Entscheidend ist, dass es sich um eine endliche Zahl handelt (sonst wäre es dem Buchformat nicht angemessen). Leibniz legt für ein Buch begrenzten Umfangs die Anzahl der Buchstaben mit 100.000.000 fest. Für eine Seite veranschlagt er – er wählt ein unhandliches Folioformat – 100 Zeilen zu je 100 Buchstaben, sodass sich eine Seitenzahl von 10.000 ergibt. Ein Buch begrenzten Umfangs besteht seiner Prä­ misse gemäß aus nicht mehr als diesen 10.000 Seiten à 10.000 Buchstaben. Nimmt man die zweite Voraussetzung hinzu, so ist die Zahl der möglichen Bücher begrenzten Umfangs insgesamt eben­ so endlich, da sich mit den Buchstaben des Alphabets nur eine bestimmte, grundsätzlich aber ermittelbare Anzahl von Buchstabenkombinationen, die den Rahmen von 100.000.000 Zeichen nicht übersteigen, erzeugen lässt. Diese endliche Zahl möglicher Bücher begrenzten Umfangs

3.4 Möglichkeit und Kontingenz der Metapher (Leibniz) | 171

menbergs Ergänzung der Bibliothek ist naheliegend, denn Leibniz setzt bei der Materialität der vorgestellten Folianten an. So wie das Buch die Beschränkung der Zeichen veranschaulicht, so macht die Imagination der Universalbibliothek End­ lichkeit und Abgeschlossenheit der ungeheuren Menge N vorstellbar. Der Kollek­ tivsingular der Bibel als Buch der Bücher hat hier, in der imaginären Aufstellung „aller möglichen Bücher begrenzten Umfangs“, seine neuzeitliche Umwidmung erfahren. Was den Fortbestand der Buchmetapher sichert, ist die Preisgabe ihres we­ sentlichen Kriteriums. Anstelle einer Einheit steht nun eine Ausfächerung, die ei­ ner Geschichtlichkeit und nicht mehr einer Wirklichkeit Rechnung trägt.²⁵⁶ Die „Einheit auch des Buchs der Natur“ werde „fragwürdig“ (LW, 128). Blumenberg beobachtet, wie der Verlust der Einheit aufgefangen werden soll, indem „Natur und Geschichte auf die Grenzvorstellung eines Gesamtprotokolls der Welt tendie­ ren.“ (LW, 128–129) Während der deus calculans immerhin abliest, braucht die Universalbibliothek überhaupt keine Nutzer. „An ihr soll demonstriert werden, daß jede Wirklichkeit nur ein enger Ausschnitt aus dem Universum der Möglich­ keiten ist“ (LW, 134). Leibniz diskutiert dabei die Frage, ob sich die Geschichte als wiederholbar erweisen könne. Er sucht zu beweisen, „daß irgendwann einmal die früheren öffentlichen Geschichtsverläufe genau sich wiederholen“ [„aliquando priores Historias publicas exacte redire“].²⁵⁷ Das Beweisverfahren beruht auf ei­ ner für Blumenbergs These entscheidenden Vorannahme: dass die Frage nach der Wiederholbarkeit des Geschichtsverlaufs als eine der Geschichtsschreibung ge­ stellt wird. „Mehr als ein Geschichtsschreiber beschreiben kann ist die Geschich­ te selbst nicht.“ (LW, 133) Nur in dieser Form werde ihm „der Geschichtsprozeß,

heißt N (eine rein phonetische Pointe). Die überwältigende Masse solcher Folianten enthält nur sinnlose Buchstabenverkettungen (unberücksichtigt bleiben Leer- und Satzzeichen bzw. Wort­ grenzen, was der gesamten Spekulation noch eine andere Wendung geben müsste). Es sollen sich unter diesen wenigen gehaltvollen Büchern aber auch solche finden, die jeweils genau den Geschichtsverlauf einer begrenzten Zeitspanne, Leibniz setzt ein Jahr, beschreiben. Diesen weni­ gen, die Zahl N nicht übersteigenden annalistischen Darstellungen der Geschichte stünden also jeweils 100.000.000 Buchstaben zur Verfügung, um die öffentliche Weltjahresgeschichte zu ver­ zeichnen. Dies sei jedoch genug um das Geschehene hinreichend zu beschreiben. 256 Die Begründung für diese Pluralisierung und Temporalisierung erläutert Blumenberg wie folgt: Wenn alles in allem liege, dies aber nicht jederzeit deutlich werde, „ist nur die Zeit und mit ihr die Geschichte die Dimension, in der Gewinn an Wahrheit erlangt werden kann“. Das Buch der Natur „müßte in ebenso vielen Fassungen gedacht werden, wie es individuelle Weltaspekte gibt, und für jeden dieser Aspekte wäre es dann immer zugleich das Buch der Geschichte des Subjekts, das ihn innehat und repräsentiert. Die Individualisierung des Substanzbegriffs bezeichnet die Nahtstelle zwischen ‚Buch der Natur‘ und ‚Buch der Geschichte‘.“ LW, 128. 257 Leibniz, Apokatastasis, 28.

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als Folge aufschreibbarer Ereignisse, faßbar“ (LW, 130). Leibniz holt entsprechend weit, mit einer am Buchwesen gebildeten Spekulation aus. Als wiederholbar er­ weise sich der öffentliche Geschichtsverlauf, weil es nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Zahl der Jahre, die das „Menschengeschlecht [. . . ] in seinem ge­ genwärtigen Zustand“ insgesamt fortbestehe, größer sei als die endliche Zahl N, also früher oder später ein Geschichtsverlauf eintreten müsse, der bereits dage­ wesen sei, zunächst ein Jahr,²⁵⁸ theoretisch aber auch „ein ganzes Jahrhundert, schließlich ein ganzes Jahrtausend“ (LW, 136). Die zugrunde gelegte Figur des N+1 gerät in einen Konflikt mit der Unterschei­ dung, die Leibniz zwischen der öffentlichen und der privaten Geschichte macht. Die öffentlichen Verläufe ließen sich hinreichend („sufficientis“) beschreiben, die privaten dafür im Detail („minutatim describendum“). Entsprechend anders ge­ staltet sich das Verhältnis von Beschreibungsaufwand und Geschehen.²⁵⁹ Der Jahresbiographie eines Individuums wird zwar ebensoviel Raum gege­ ben wie der öffentlichen Weltjahresgeschichte, doch sei, so Blumenberg, nur die öffentliche Geschichte „unter dem Gesichtspunkt der Handlung“ verstanden. Sie schaffe darstellbare „eidetische Komplexe sinnstrukturierter Zusammenhänge.“ (LW, 136–137) Der Gehalt der Geschichte könne so erfasst werden, wohingegen die Beschreibung individueller Lebensläufe zwar vollständiger, aber nicht in gleichem Maße sinnstiftend sei. „Darauf wird sogar noch beruhen, daß Leib­ niz schließlich der realen Geschichte trotz aller kombinatorischen Vorspiele die Wiederholungsfähigkeit abspricht.“ (LW, 137) Gegenüber dem metaphysischen Ideal der Zureichendheit sei das der Vollständigkeit nachrangig (vgl. LW, 139). Genau für diese Differenz steht das Medium Buch ein. Es repräsentiere „den Un­ terschied von Abbildung und Beschreibung; es markiert den ‚Ort‘, an dem die Wirklichkeit einer auswählenden, abwägenden, wertenden und gestaltgeben­ den Verfahrensweise unterzogen wird, statt sich als Datensumme darzustellen.“ (LW, 137) Blumenberg bezieht diesen Gedanken nun auf einen inneren Wider­ streit des leibnizianischen Systems: Wenn Leibniz’ „Theorie der Weltgeschichte 258 Leibniz, Apokatastasis, 28. 259 Es müssten, kalkuliert Leibniz, „zur Beschreibung jeder beliebigen Lebensstunde jedes beliebigen Menschen 10 000 Buchstaben ausreichen, also eine Seite von 100 Zeilen, jede zu 100 Buchstaben berechnet“. Gehe man von einer Weltbevölkerung von einer Milliarde Menschen aus – „eine Zahl, von der das Menschengeschlecht aber noch weit entfernt“ (Leibniz, Apokata­ stasis, 29) sei –, könne man eine „annalistische Geschichte des ganzen Menschengeschlechts bis in alle Einzelheiten“ erhalten, die insgesamt nicht mehr als 100.000.000.000.000.000 Buchsta­ ben umfassen würde. Es wären zwar für die privaten weitaus mehr Bände erforderlich als für die öffentlichen Ereignisse, aber der Beweisgang kann der gleiche bleiben. Irgendeinmal komme ein Zeitpunkt, „in welchem das Leben der Einzelpersonen ein volles Jahr hindurch unter genau den gleichen Umständen wiederkehrt.“ Leibniz, Apokatastasis, 30.

3.4 Möglichkeit und Kontingenz der Metapher (Leibniz) | 173

identisch wäre mit seiner Logik der Monade“, „hätte er die Imagination der Bi­ bliothek nicht wählen können“ (LW, 137). Denn das deterministische Programm einer Monade bedeute eine rein logische und nicht kausal verkettete Entfaltung ihrer Anlagen, Buch und Bibliothek stünden demgegenüber für eine nach Kausa­ litäten strukturierende Bündelung ein, die deswegen aber auch immer, gemessen am Ideal der Vollständigkeit, ungenau bleiben müsse. Die Annahme einer wach­ senden Vielzahl der Bücher ermögliche es, das latente Anhäufen kleinster, mikro­ geschichtlicher Veränderungen zu denken. Es bleibe dem „entfeinerten Zugriff der Historie“ unmerklich, habe aber das Potential, in den Fortgang der Makroge­ schichte einzutreten (LW, 140). Es gehe um die bloße Möglichkeit, dass sich aus solcher Unbestimmtheit heraus eine „allmähliche[] Verbesserung des Weltzu­ standes“ (LW, 142) anbahnen könne, noch nicht um tatsächliche geschichtliche Vorgänge. Solche „unverzichtbare[] Ungenauigkeit“ (LW, 139) soll, so Blumen­ berg, den Widerstreit zwischen einer phänomenalistischen Historiographie und einer rationalistischen universalen Deduktion auflösen. In ihrer ‚hochgradigen Anschaulichkeit‘ sage sie, „was gerade nicht mehr geleistet werden kann: die aus der Unzulässigkeit der Leere deduzierte Überfülle und Unmerklichkeit der Unterschiede, die sich in Büchern nicht mehr beschreiben ließen [quae nullis libris describi possint]“ (LW, 141). Aber sie leiste das auf paradoxe Weise: „[z]wischen zwei Unvorstellbarkeiten“ (LW, 144). Die Möglichkeit eines Nachvollzugs des Vor­ gestellten ist durch die doppelte Unvorstellbarkeit des Gedankenexperiments blockiert.

Wiederkehr des Unzulässigen Blumenberg zeigt das Wiederaufkommen und Fortbestehen der Lesbarkeit an einem Fragment, in dem der lateinische Text mit dem griechischen Titel Αποϰατάστασις (πάντων) überschrieben ist. Während der Herausgeber nahelie­ gend mit ‚Wiederherstellung‘ übersetzt, hält der Bedeutungsumfang drei weitere Aspekte bereit, die sich als anschlussfähig an das bislang Erarbeitete erweisen können: nämlich „Rückversetzung in die frühere Stellung“ und „Wiederkehr der­ selben Konstellation“.²⁶⁰ Die lateinischen Variationen im Text, entweder mit ‚re­ dire‘ („exacte redire“) oder ‚revolvere‘ („post revolutiones“) gebildet, vermögen diese Gleichzeitigkeit nicht abzubilden. Nahegelegt ist hierbei eher die Rück­ kehr eines Zustands als das neuerliche Auftreten einer Konstellation (wie sich etwa im ‚res redierunt‘ der ‚alte Zustand‘ wiederherstellen würde). Sofern man

260 Gemoll und Vretska, Gemoll, 107.

174 | 3 Ansprüche der Lesbarkeit

die theologische Karriere des Begriffs ‚apokatastasis‘ – Wiederherstellung des Zustands vor dem Sündenfall und postapokalyptische Wiederherstellung aller Dinge (nach Apg 3,21) – auf Abstand hält, vermag der griechische Ausdruck eine Wiederkehr ohne Rückkehr des identischen Zustands oder in einen Anfangszu­ stand anzuzeigen.²⁶¹ Es kehrt vielmehr eine ‚Konstellation‘ oder ‚Stellung‘ wieder, die keinen eigenen Gehalt hat, sondern ein „leeres Schema“²⁶² ist. Dass sich die Geschichte trotz allem als unwiederholbar erweist, kommt in Leibniz’ Fragment über die historiographisch ‚unmerklichen Veränderungen‘ zum Tragen. Im ‚un­ vermuteten Vorrat‘ „unterhalb der Erscheinungsebene“ „akkumulieren sich die Differenzen schließlich doch zum Fortgang des Ganzen“ (LW, 140).²⁶³ In der bes­ ten aller möglichen Welten dürfe es keine Wiederholung geben, sonst bliebe der Fortgang, der eine Entwicklung zum Besseren sein muss und daher Diffe­ renzierung erfordert, verwehrt. Gleichzeitig entziehe sich dieser „‚Untergrund‘“ dem Zugriff der Kombinatorik (LW, 141). Die Wiederholbarkeit der Geschichte ist unkalkulierbar. Das Fragment berücksichtigt sowohl ein diskontinuierliches als auch ein regressives Moment: „daß die Dinge allmählich und manchmal sogar sprungweise zum Besseren fortschreiten müssen“,²⁶⁴ „daß wir zuweilen einen Schritt rückwärts machen, um dann mit um so stärkerem Anlauf vorwärts zu springen.“²⁶⁵ Blumenberg diskutiert vor allem die Antizipierbarkeit solcher Ereignisse. Die Schwierigkeit der historischen Vorhersage trete „zwangsläufig“ auf, „wenn man sich von der Geschichtsschreibung der imaginären Folianten entfernt und dem Besitz der Weltformel nähert“ (LW, 145). In der absoluten, nicht bei einem Aus­ gangszustand ansetzenden, sondern dem Prinzip des zureichenden Grundes fol­ 261 Für die Abwendung einer Philosophie, die die Anfangsgründe befestigen will, und die Hin­ wendung zur Geschichte steht Leibniz für Blumenberg ein: „von der neuzeitlichen Vorentschei­ dung ab, in der Philosophie müsse man alles ab ovo beginnen. Es mag strittig sein, ob man ihn mit Friedrich Meinecke an die Anfänge eines sehr global gefaßten ‚Historismus‘ setzen darf; aber den wichtigsten und erfolgreichsten Widerspruch gegen die Denker eines absoluten Anfangs im Verzicht auf alles Bisherige, wie Descartes und Francis Bacon, hat sicher er erhoben und in die Metapher gefaßt, man müsse die Arbeiten aller Zeiten und Völker in einer öffentlichen Schatzkam­ mer vereinigen.“ LW, 121. 262 Die Prägung stammt von: Anselm Haverkamp, „Das unerklärliche ‚Sein‘ der Unbegrifflichkeit. Der Ort der Metapher nach Blumenberg – Versuch eines Kommentars“, in: Unbegrifflichkeit. Ein Paradigma der Moderne, hg. v. Almut Todorow, Ulrike Landfester und Christian Sinn, Tübingen 2004, 249–257, hier: 254–255. 263 „Es ist dieser ‚Untergrund‘ unendlicher Realität und mangelnder eidetischer Bestimmtheit, der der Rede von der Wiederkunft des Gleichen in der Geschichte die präzise Anwendung, der Kombinatorik die objektive Geltung verwehrt.“ LW, 141. 264 Leibniz, Apokatastasis, 32. 265 Leibniz, Apokatastasis, 33.

3.4 Möglichkeit und Kontingenz der Metapher (Leibniz) | 175

genden Berechenbarkeit aller Weltzustände ließen sich diese Einzelzustände nur so weit in den Blick nehmen, als die gegenwärtige Welt diese kraft ihrer Unüber­ bietbarkeit geworden sei (vgl. LW, 145). Der Ausschluss der absoluten Prognose wie auch der Möglichkeit der Wiederholbarkeit des Weltlaufs lasse für die Zu­ kunftsschau nur eine ‚Wahrscheinlichkeit‘ übrig. Wo der Herausgeber mit „zur Vorausschau mancher Zukunftsgeschehnisse mit gewissem Wahrscheinlichkeits­ grade“²⁶⁶ übersetzt, lässt Blumenberg den entscheidenden Halbsatz im Original stehen: „ad praevidendum quaedam futura contingentia certo verisimilitudinis gradu“.²⁶⁷ Die Differenz liegt zwischen ‚Geschehnis‘ und ‚Kontingenz‘. Indem „fu­ tura contingentia“ mit „Zukunftsgeschehnissen“ übersetzt wird, wird das Kon­ tingenzproblem, wie es sich Leibniz stellt und von Blumenberg später analysiert wird, nicht nur sprachlich, sondern auch sachlich verdeckt. Den „Höhepunkt“ der Auswegsuche aus dem Problem der Kontingenz markiert Blumenberg zufolge „Leibniz’ Frage, warum überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts sei“ (Kontin­ genz, 1794). Dahinter steht eine Transformation der Möglichkeitsbegriffe. Joseph Vogl beschreibt diese neue Konstellation wie folgt: So sehr [. . . ] jedes Ereignis notwendig und auf eine Ursache bezogen ist und als bedingtes seine eigene Zufälligkeit ausschließt, so sehr ist es doch zufällig in einem Beziehungsge­ flecht, das sich aus den divergierenden, konvergenten oder sich überschneidenden Ereig­ nisketten konstituiert und den Namen des Weltlaufs verdient. [. . . ] Zufällig und kontingent ist, was nicht unbedingt notwendig und dessen Gegenteil nicht unmöglich ist; und entspre­ chend ist möglich, was nicht notwendigerweise nicht ist. Die bloße Möglichkeit bildet also den Hintergrund, vor dem sich die Kontingenz, das zur Existenz gelangende Möglichsein, abhebt, und umgekehrt ist alles, was existiert, vom Saum der unendlichen Möglichkeiten seines Andersseins umgeben. Jedes Ereignis steht damit in einem unendlichen Beziehungs­ gefüge, das sowohl die Relationen zu den anderen – kontingenten – Begebenheiten als auch diejenigen betrifft, die es zu seinen eigenen, nicht realisierten Möglichkeiten unter­ hält.²⁶⁸

Mit dieser Erläuterung lässt sich Blumenbergs Interesse an Leibniz im Kontext ei­ ner Geschichte der Kontingenzbewältigung verstehen.²⁶⁹ Im dazu herangezoge­ nen Apokatastasis-Fragment steht „contingentia“ für die Abweichung von einer exakten Wiederkehr und in Kontrast zum Wahrscheinlichen. Blumenbergs Ana­ lyse schließt mit der Diagnose, dass sich die „Ausschaltung der geschichtlichen Kontingenz durch den Begriff der Wahrscheinlichkeit“ zwar mit dem Prinzip des

266 Leibniz, Apokatastasis, 33. 267 Leibniz, Apokatastasis, 32; LW, 145. 268 Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002, 141–142. 269 So etwa: Meyer, Lesbarkeit, 172.

176 | 3 Ansprüche der Lesbarkeit

zureichenden Grundes in Einklang bringen lasse,²⁷⁰ nicht aber mit dem Prinzip der Vereinfachung, wie im Falle einer auf ein Stück Papier gebrachten Weltfor­ mel. Leibniz trage dem Rechnung, indem er die „neuen Theoreme, die noch gefun­ den werden sollen, im Umfange bis ins Unendliche wachsen“ lasse, sei es auch, „um den eschatologischen Preis der Überschreitung der Geschichte als einer menschli­ chen“ (LW, 146).²⁷¹ Das wäre die vollständige Destruktion der ‚Lesbarkeit der Welt‘. Doch so wie im unendlichen Anhäufen von „Theoremata purae scientiae“²⁷² für eine Metaphorik der Lesbarkeit kein Raum gelassen wäre, sie aber in dieser Be­ wegung mit umso größerer Insistenz fortbestehen müsste, so bleibe im Versuch, eine kontigente Zukunft qua Wahrscheinlichkeit vorauszuberechnen, umso hart­ näckiger bestehen, was zurückgedrängt werden sollte. Was die Leibniz-Welt zur „Halbjahrhundertidee“ (LW, 121) macht, ist eine qua Vernunft nicht aussteuerba­ re Kontingenz: „Die Vernunftwelt erwies sich als widerlegbar durch Lissabon 1755, obwohl kein Einzelfaktum sie sollte widerlegen können.“ (LW, 124) Die Frage nach dem Einräumen, Bewältigen und Fortbestehen von Kontingenz rahmt das X. Ka­ pitel von Blumenbergs Studie. Joseph Vogl erkennt im 17. Jahrhundert eine „zugespitzte Zweideutigkeit zwi­ schen kontingentem Zusammentreffen und bedingtem Faktum“, die „ein Denken zufälliger Ereignisse begründet und zugleich den Begriff eines reinen Zufalls selbst annulliert oder blockiert.“²⁷³ Vor diesem Hintergrund lässt sich Blumen­ bergs Aufnahme des Schlussmythos in Leibniz’ Theodizee verstehen. Darin prä­ sentiert sich die Theorie der besten aller möglichen Welten als komplex ver­ schachtelte Erzählung.²⁷⁴ Für Vogl ist dieses Narrativ bereits eine Variante einer Aussteuerung:²⁷⁵ „Der Zufall wird bei Leibniz im Modus des Kontingenten ge­ dacht, dieses aber – wie sein Verhältnis zum Möglichen – durch die Theorie der möglichen Welten reguliert.“²⁷⁶ Damit solle „die Möglichkeit reiner, d. h. grundlo­ ser Zufälligkeit“ ausgeschlossen sein.²⁷⁷ Man kann nun zwei Arten der Kontingenz unterscheiden: eine ereignismäßige ‚contingentia‘, die, vom „Arsenal der mög­ lichen Welten“ (LW, 148) aus gesehen, als begründet erscheint, sowie eine nicht 270 Und zwar sofern „nur das Wahrscheinliche unter Einbeziehung jener Rückschritte des An­ laufs zum Fortsprung die Tendenz der Verbesserung enthält.“ LW, 146. 271 Mit Verweis auf: Leibniz, Apokatastasis, 33. 272 Leibniz, Apokatastasis, 32. 273 Vogl, Kalkül und Leidenschaft, 141. 274 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee, Hamburg 1968, 401–411. 275 Für Vogl verbirgt sich hinter der Theorie der möglichen Welten – ungeachtet der von Leibniz vorgebrachten Lösung des Prinzips vom zureichenden Grund – ein Darstellungsproblem, dem sich nur noch poetologisch begegnen lässt. 276 Vogl, Kalkül und Leidenschaft, 145. 277 Vogl, Kalkül und Leidenschaft, 159.

3.4 Möglichkeit und Kontingenz der Metapher (Leibniz) | 177

zu begründende, grundlose und unkalkulierbare Kontingenz. Eine umfassende Erschließung dieser grundlosen Kontingenz gelinge erst, so Vogl, der Moderne. Es ist Blumenbergs Unterscheidung zwischen dem Dass und dem Wie der Existenz, die den Begriff grundloser Kontingenz dennoch auf die Theorie der besten aller möglichen Welten beziehbar werden lässt: Die Vernunftwelt erwies sich als widerlegbar durch Lissabon 1755, obwohl kein Einzelfaktum sie sollte widerlegen können. Ihr Mangel an Resistenz aber war ihr Verlust an Gesicht, an Abdrücken von einer Hand – denn die Vernunft hinterläßt keine Spur. Stillschweigend war mitverstanden, daß die beste der möglichen Welten nicht nur rechtfertigt, wie sie beschaf­ fen ist, sondern auch, daß sie besteht. Dies versteht sich nicht von selbst. Noch die beste der möglichen Welten könnte so beschaffen sein, daß selbst ihre Existenz nicht zu vertreten gewesen wäre. Verträglichkeit ihrer Elemente untereinander muß noch nicht Zuträglichkeit für eines derselben sein; etwa in Ansehung des Menschen. Insofern sie also dennoch und überhaupt existiert, behält sie [. . . ] ihre Kontingenz. Als einziges ihrer Prädikate bleibt Exis­ tenz nicht-rational. (LW, 124)

Im Dennoch ihrer Existenz bleibt die beste der möglichen Welten Kontingenz aus­ gesetzt. Das Hervorbringen oder Hervortreten dieser Welt bleibt unkalkulierbar und muss sich dem Berechnungsradius eines deus calculans entziehen. In jedem Akt der Deduktion bleibt der Aktcharakter die innere Gefährdung. Gerade im Ver­ such der Depotenzierung von Kontingenz wird Kontingenz zum unbewältigbaren Problem. Der Schlussmythos der Theodizee, in dem die Theorie der möglichen Welten als begehbare Pyramide illustriert ist, gibt der Imagination der Universalbiblio­ thek eine neue Wendung. Im „Arsenal der möglichen Welten“ wird deren jeweilige Totalität und Verwiesenheit aufeinander vom Medium Buch verbürgt („un grand volume d‘écriture dans cet appartement“).²⁷⁸ Der Geschlossenheit der Form nach wird eine ‚Annäherung ans unendlich Kleine‘ in Gang gesetzt.²⁷⁹ Die Buchmeta­ phorik hat die Seiten gewechselt. Sie ‚koordiniert‘ und ‚verfärbt‘ nun selbst die Theorie der möglichen Welten. Ihr Wiederaufkommen hängt indirekt mit dem mittels dieser Theorie entworfenen Möglichkeitsbegriff zusammen. Als „das ge­ schichtlich Kontingente“ (LW, 11) steht die unzulässigerweise wiederkehrende metaphorische Konstellation in Verbindung mit dem, was mit ihrer Hilfe ausge­ schlossen werden sollte. Wenn, wie Vogl herausstellt, „Tableau bzw. Diagramm [. . . ] den Grenzwert dessen dar[stellen], was in der diskreten Ordnung der Schrift

278 Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, in: ders., Philosophische Schriften, Band II/1, hg. v. Herbert Herring, Darmstadt 2013, 264. 279 Vgl. Vogl, Kalkül und Leidenschaft, 144.

178 | 3 Ansprüche der Lesbarkeit

und der Bücher (nicht) repräsentierbar ist“,²⁸⁰ dann ist die Konsequenz von Blu­ menbergs Lesart, dass die diagrammatische Aufhebung der unverzichtbaren Un­ genauigkeit jenen „Hiatus“ (LW, 56) bedingt, der den metaphorischen Spielraum öffnet. Innerhalb eines instrumentellen Metaphernverständnisses dienen das Buch der Natur und seine Varianten dem Eindämmen des Unberechenbaren. Der Nachweis der Metaphorik läuft in die entgegengesetzte Richtung. Kontingenz und Metapher insistieren gemeinsam als eng aufeinander bezogene Unzulässigkeiten. Nicht die Metapher selbst, sondern der immanente „Prozeß der Einräumung ei­ nes Spielraums durch Lockerung der Systemstruktur“ ist daher „zu beschreiben“ (G, 171).

280 Vogl, Kalkül und Leidenschaft, 144.

4 Lektüre – „Ansatz von oder zu Theorie“ 4.1 Lesbarkeit als negative Größe in den Phänomenologischen Schriften An den kurzen, erstmals im Herbst 2018 in den Phänomenologischen Schriften 1981–1988 publizierten Text „Beschreibung des Lesens“ (PhS, 401–404) lässt sich die Frage richten, wer das Lesen darin eigentlich beschreibt. Wäre es Hans Blumenberg, irritierte zum einen, dass es sich um die Variation einer Passage aus Kapitel XIII der Lesbarkeit der Welt (1981) – „Das Hamburger Buch der Natur und sein Königsberger Reflex“ – handelt, zum anderen, dass die vermeintliche Beschreibung des Lesens im Dienste einer ganz anderen Beschreibung, näm­ lich des phänomenologischen Bewusstseins, steht. Nicht zuletzt wird über eine Beobachtung Ludwig Wittgensteins die Beschreibbarkeit des Vorgangs des Le­ sens eher befragt als behauptet.¹ Blumenbergs Nachlasstext inszeniert vielmehr einen Schnittpunkt zwischen der in der Aufklärung grassierenden Lesbarkeits­ metaphorik und einem bewusstseinskonstitutiven Vorgang. Als „Leitfaden für die Geschichte der ständigen Unterwanderung einer sich als unbestechlich befinden­ den Vernunft“ (LW, 199) wird die Metaphorik mit dem „unerläßlichen ‚Eingriff‘ der Negation“ (LW, 187) innerhalb des Bewusstseins verbunden. Die Lektürekon­ stellation ist komplex: Blumenberg liest Immanuel Kant, der Hermann Samuel Reimarus’ Überlegungen zum Lesen erwähnt, welche von Edmund Husserl, so die Kritik, wiederum nicht gelesen worden seien, aber – qua Kant – hätten ge­ lesen werden müssen, um die Frage zu beantworten, weshalb die notwendigen und als negativ indizierten „Vorleistungen“ für den positiven intentionalen Akt „dunkel und unbemerkt“ (PhS, 402) vor sich gingen. Mit anderen Worten: Man muss lesen – und zwar über das Lesen –, um ein Analogon zu gewinnen, daran die entscheidende Leistung – nämlich „Handlungen negativer Art als Vorausset­ zungen positiver“ (PhS, 402) – aufweisbar wird. Eine positive „Beschreibung des Lesens“ könnte dies nicht leisten.

1 Dies betrifft zum einen die Frage, wie sich nachvollziehen lässt, was im Lesen geschieht, zum anderen, grundsätzlicher, die Beschreibung einer Sache in Distanz. Vgl. Ludwig Wittgen­ stein, Philosophische Untersuchungen, Schriften 1, Frankfurt am Main 1960, 368–370, zit. n. PhS, 403–404. https://doi.org/10.1515/9783110692426-004

180 | 4 Lektüre – „Ansatz von oder zu Theorie“

Position durch und in Negation Diskutiert Blumenberg das Lesen damit in Relation zu einem Bewusstsein, das zwar in seinem Funktionieren dunkel, in seiner Gegebenheit aber unbefragt bleibt? Gemäß der These Nicola Zambons, Herausgeber der Phänomenologischen Schriften, bildet die Bewusstseinsstruktur den Dreh- und Angelpunkt in Blu­ menbergs kritischer Nachlese der Phänomenologie. Ähnlich der hier verfolgten Argumentationslinie erkennt Zambon in den Thesen etwa zur Anthropologie eine tieferliegende Struktur: „Vermag der Mensch aus der Distanz, d. h. mittels Begrif­ fen und Symbolen, Bildern und Zeichen, Namen und Artefakten zu agieren, so ist dies nur deshalb möglich, weil die Urform der Distanz die Intentionalität ist.“² Diese Konstruktion muss jedoch aus zwei Richtungen befragt werden: in Bezug, erstens, auf die seit den frühen Schriften immer wieder betonte Geschichtlichkeit der Phänomenologie – ihren Einsatz und ihre Bruchstellen betreffend –, und, zweitens, in Bezug auf die methodologischen Schwierigkeiten der Adressierung. Beide Zugänge lassen sich mit dem Komplex der Lesbarkeit in Verbindung brin­ gen. Daraus ergibt sich die Folgerung, dass Blumenbergs Ansatzpunkt nicht bei der Intentionalität selbst, sondern an ihren Rändern zu suchen ist. In „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“ (1979) geht Blumenberg auf die Affizierbarkeit des Bewusstseins durch Texte ein (vgl. Ausblick, 194). Das Erstaunliche an der Passage dort ist, dass sie den Eindruck erweckt, es ginge um den Eintritt des Gelesenen in die intentionale Leistungsstruktur, dann aber – ver­ mittels des ‚Störfaktors‘ Metapher – zu der (nicht vollends ausformulierten) These gelangt, dass sich das Bewusstsein selbst erst in der Behauptung gegenüber der­ artigen Störungen als solches konstituiert. Die Affizierbarkeit durch Texte meint dann mehr, oder eher: weniger als ein phänomenal einholbares Lesen.³ Von hier aus betrachtet, geraten die „Handlungen negativer Art“ (PhS, 402) in eine Nä­ he zur Metapher als Störung von Normalstimmigkeit. Beides liegt im Vorfeld der Intentionalität. Das von Blumenberg mit Kants Schrift „Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen“ (1763) an Husserl herangetra­ gene Argument lautet, dass es negative Akte geben müsse, die eine Vorstellung aufheben, um einer anderen Platz einzuräumen (vgl. PhS, 402). Kants Einwand lautete, dass negative Größen gerade nicht als Negationen, sondern als etwas „an sich selbst wahrhaftig Positives“ zu verstehen seien, das nur „dem andern entge­

2 Nicola Zambon, Das Nachleuchten der Sterne. Konstellationen der Moderne bei Hans Blumen­ berg, Paderborn 2017, 166. 3 Vgl. Abschnitt 2.4.

4.1 Lesbarkeit als negative Größe in den Phänomenologischen Schriften |

181

gengesetzt“ sei.⁴ Als innere Tätigkeit könne die Entgegen-Setzung durchaus dun­ kel bleiben. Blumenbergs „Beschreibung des Lesens“ legt nahe, dass der Prozess des Lesens in ähnlicher Weise abläuft wie der Bewusstseinsvorgang selbst: durch eine ungewärtigte innere Tätigkeit, die sich mithilfe von Kants negativen Größen zumindest dem Prinzip nach ermitteln lässt. Insofern das Bewusstsein durch Tex­ te betreffbar ist und das Lesen notwendigerweise dieses Verhältnis herstellt, über­ nimmt es eine doppelte Funktion. Das Lesen öffnet das Bewusstsein zu anderem, das, wie die Metapher, dessen „Normalstimmigkeit“ von außen bedrohen mag, aber zugleich bildet es eine Analogie der innersten Funktionsweise der intentio­ nalen Struktur. Das Lesen, die Metapher und das Bewusstsein finden derart zu einer Konstellation zusammen, die womöglich für Blumenbergs Schreiben insge­ samt relevant ist. Gäbe es unter den drei Texten keine Verbindung – der „Ausblick“ (1979) leitet unmittelbar von Schiffbruch mit Zuschauer zur Lesbarkeit der Welt über, von der die „Beschreibung des Lesens“ ihren Ausgang nimmt –, läge es nahe, von hetero­ genen Kontexten auszugehen; sie überschnitten sich im Ausdruck, aber nicht im Gemeinten: ‚Lesen‘ wäre als Rezeption und Interpretation, als Metapher oder als Vorgang und Fähigkeit verstanden. Als Vorgang impliziert das Lesen für Blumen­ berg, dass Gegebenes fortwährend zurücktreten können muss, um Raum für die Verknüpfung mit Nachfolgendem zu schaffen. Auch an anderer Stelle wird dieser immanente Rückbau, der zugunsten des Aufbaus oder der Erweiterung eines po­ sitiven Gehalts notwendig ist, entsprechend umrissen: „Es muß Präsenz aufgeho­ ben werden können, um Erweiterung durch Präsenz zu ermöglichen. Wir könnten nicht den einfachsten Lesebuchtext lesen, hätten wir nicht dieses ‚Verfahren‘ der Position durch Negation – und damit erst der Expansion.“ (VS, 87) „Negation“ steht hier näher an Kants negativen Größen als an der Verneinung. Ein ähnliches Verfahren wird für die retentionale Seite des Bewusstseins veranschlagt.⁵ Damit es überhaupt zu Vorstellungen kommen kann, muss es die Möglichkeit der Aufhebung von Vorstellungen geben. Gleichzeitig insistiert das Aufgehobene, da der Ablauf der Vorstellungen nicht aus diskreten Schnitten be­ steht. Dieses innere Strukturgesetz entspricht nicht genau dem äußeren, das der „Ausblick“ thematisiert. Dort wird die Affizierbarkeit des Bewusstseins durch

4 Immanuel Kant, „Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen“, in: ders., Werke in zehn Bänden, Band 2, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, 779–819, hier: 781. 5 Es geht um die Aufhebung eines jeweils Vorherigen: „Urimpressionen können nicht bleiben, was sie sind, wenn sie in die Retention übergehen. Sonst könnten neue Urimpressionen nicht an ihre Stelle treten, wäre Affektion des Bewußtseins und Konstitution seiner Zeitlichkeit unmög­ lich.“ PhS, 401.

182 | 4 Lektüre – „Ansatz von oder zu Theorie“

Texte durchaus radikal verstanden, nämlich als Bedrohung der intentionalen Leistungsstruktur selbst. Es geht nicht allein um das immanente Verfahren der Position durch Negation, sondern um die Möglichkeit der Position noch dieses Verfahrens, um die Selbstbehauptung des Bewusstseins.⁶ Bezeichnenderweise bereitet nicht das Lesen überhaupt diese Schwierigkeit, sondern ein „destrukti­ ve[s] Element“ (Ausblick, 194) im Gelesenen, nämlich die Metapher. Zwar fehlt ihr – anders als dem Begriff – die Leistung der Negation, mit der die „höchste Stufe der Abstraktion“ (ThU, 77) zusammenhänge, doch in Bezug auf die ‚Normalstim­ migkeit‘ des Bewusstseins übernimmt sie genau diese Funktion. „Die Metapher aber ist zunächst, um mit Husserl zu sprechen, ‚Widerstimmigkeit‘. Diese wäre tödlich für das seiner Identitätssorge anheimgegebene Bewußtsein; es muß das ständig erfolgreiche Selbstrestitutionsorgan sein.“ (Ausblick, 194) Der Anlass zur Selbstrestitution ist nicht auf die Metapher beschränkt (es gibt andere Formen der Widerstimmigkeit), aber an ihrem Beispiel lässt sich das Verfahren nicht der Position durch, sondern aus Negation darstellen. Dass überhaupt anderes her­ angezogen wird, um ein Verfahren des Bewusstseins zu beschreiben, entspricht einer Struktur, die aus dem Aufsatz „Anthropologische Annäherung an die Aktua­ lität der Rhetorik“ (1971) als rhetorische bekannt ist. Das sich in seinen Abläufen unzugängliche Bewusstsein soll indirekt, über den Umweg des Lesens, in den Blick geraten. Gerade aufgrund der Unverfügbarkeit seines inneren Verfahrens erscheint das Lesen als das „handlicher Verfügbare“ (Annäherung, 116). Das spezielle Problem, das die „Beschreibung des Lesens“ aufwirft, ist je­ doch noch einmal komplexer, denn auch das Lesen wird über einen Umweg in die Analogiebildung eingespeist. Es steht unter Zitationsvorbehalt und zugleich unter dem Vorbehalt der Metaphorologie. In seiner Affizierbarkeit durch Texte er­ reicht das Bewusstsein mit der Metapher die Schwelle zur Nichtexistenz. Wenn sein Strukturgesetz anhand des Lesens umrissen wird, dieses Lesen aber in dop­ pelter rhetorischer Situation auftritt – als das handlicher verfügbare Unverfügbare sowie als Element der Geschichte der Lesbarkeitsmetaphorik –, führt die Analo­ gie auch eine entsprechende ‚Widerstimmigkeit‘ mit sich, zumal, um das Lesen als Vorgang zu beschreiben, auf das Lesen im Sinne der Rezeption zurückgegangen wird. Es muss schon gelesen worden sein, ehe sich das Lesen beschreiben lässt. Ähnlich wie Blumenbergs Annäherung an das Problem ‚Welt‘⁷ lässt sich auch die gemeinsame Aufnahme von Lesen und Bewusstsein als Konstellation einer ge­ genseitigen Destabilisierung verstehen. Die Emphase des Umwegs wird in einem

6 Eine Variation dieser Problemstellung findet sich zu Beginn von Höhlenausgänge. Vgl. Ab­ schnitt 4.3. 7 Vgl. Abschnitte 3.1 und 3.2.

4.1 Lesbarkeit als negative Größe in den Phänomenologischen Schriften | 183

Verfahren gefunden, das nicht sofort mäandert, sondern konsequent an den sys­ tematischen Rändern, in rhetorischer und zitationeller Situation ansetzt.

Verfahrensthesen Die „Beschreibung des Lesens“ ist paradox angelegt. Nur in indirekter Beschrei­ bung kann die dem Lesen inhärente Unverfügbarkeit aufgewiesen werden; aber bevor dieser innere Vorgang als unverfügbarer thematisch werden kann, wird es das Lesen selbst. Im ‚Beschreiben‘ entzieht es sich, vergleichbar der Lebenswelt, die im Moment ihrer Bestimmung aufhören würde zu existieren.⁸ Blumenberg kombiniert zwei verwandte Zugänge, die das Problem trotzdem erfassen sollen: zum einen, mit Bezug auf das Thema des Textes, den Vorschlag zur Verlangsa­ mung des Vorgangs, um einen Einstellungswechsel zu erlangen; zum anderen – verfahrenstechnisch – die die Adressierung des gesamten Themenfeldes verzö­ gernden Verweise auf Kant (für die negativen Größen), Reimarus (für den inneren Vorgang des Lesen) und Wittgenstein (für die Verlangsamung eines nur in Distanz beschreibbaren Vorgangs). Gegenüber der beschleunigenden „Technisierung“ verbindet Blumenberg Rhetorik mit „Verzögerung“ (Annäherung, 121–122).⁹ Rhetorik, in diesem Sinn, ist nicht Ornament der Rede, sondern deren vorausgängiges Strukturprinzip; für die Fälle, in denen einer Sache nicht habhaft zu werden ist, beschreibt Rheto­ rik einen Umweg. Im Text wird damit als These vorgebracht – man müsse den Vorgang zugunsten eines Einstellungswechsels verlangsamen –, was von diesem auf einer anderen Ebene – als Verzögerung der Thematisierung qua Zitation – „ohnehin schon getan wird“ (Annäherung, 112). Die Methodologie steht nicht im Dienst der Thesenbildung; vielmehr erweist sich die Thesenbildung als Effekt einer kalkuliert scheiternden Methodologie. Es handelt sich, wie sie etwa auch im Annäherungsaufsatz von 1971, in Höhlenausgänge und den Paradigmen ausge­ stellt werden, um Verfahrensthesen. Zu verorten sind sie zwischen den expliziten ‚Merksätzen‘ (Anselm Haverkamp) und dem aus Zettelkästen zusammengestellten Korpus. Sie bringen Argumente eigenen Rechts hervor, die übersprungen würden, wenn allein das Gesagte oder zitierte Autoren lediglich als Stichwortgeber in den Blick genommen würden.

8 Vgl. Abschnitt 4.5. 9 Diese Beschleunigung ist, da ihr Modell die Formel und nicht die soziale, räumliche oder im strengen Sinn technische Akzeleration ist, anderer Art als die von Hartmut Rosa als Signatur der Moderne identifizierte. Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005.

184 | 4 Lektüre – „Ansatz von oder zu Theorie“

Dass das Verfahren zurücktreten muss, um Platz für den verhandelbaren Ge­ halt zu machen, gilt für Lesen und Schreiben gleichermaßen. Blumenbergs Schrif­ ten fordern dazu auf, dieses Zurücktreten selbst nachzuvollziehen. Den ‚dunklen Schlussatz‘ (Joachim Renn) der Lesbarkeit der Welt variierend, lässt sich sagen: Lesbares zu lesen heißt, dass man sich den Ansprüchen dessen nicht verweigert, was im Geschriebenen aufgehoben sein muss. Sind es vorangegangene Lektüren, aus denen sich das Verfahren speist, so muss das Lesen selbst gelesen werden; Kants Verweis auf Reimarus und Blumenbergs Verweis auf Kant markieren diese Schwierigkeit. Hier liegt – und deswegen wird in der vorliegenden Arbeit ‚Lesbar­ keit‘ und nicht ‚Unlesbarkeit‘ als ausschlaggebende negative Größe vorgeschla­ gen – ein zentraler Unterschied zu solchen Theoriemodellen, die sich auf die Be­ hauptung eines überhaupt unzugänglichen Bereichs zurückziehen. Eine entspre­ chende Letztbegründungsformel, die auch dann eine solche bliebe, wenn sie z. B. als Entgründung formuliert wäre, tilgt den im Auseinandertreten der Ansprüche lesbaren Imperativ zur fortgesetzten Analyse. Wenn die Setzungslogik mit dem Verweis auf ihre Möglichkeitsbedingungen kritisiert wird, muss der Setzungscha­ rakter noch dieses Verweises befrag- und beschreibbar bleiben. Der Imperativ zur Beschreibung ist im Imperativ zur Lektüre vorgeformt. Die „Beschreibung des Lesens“ zielt auf das Unverfügbare im Vorgang des Lesens, um daran den Bewusstseinsprozess darzustellen. Dazu ist die Art dieser Unverfügbarkeit genau zu fassen. Implizit schlägt Blumenberg als Lösung vor, die Beweislast an das eigene Verfahren zu delegieren, da es eine solche Unverfügbar­ keit ausstellt, indem es hinter das Geschriebene zurücktritt. Er liefert damit eine Beschreibung, die sensibel ist für die exzessive, über lange historische Zeiträume und an mikrologischen Textkonstellationen nachverfolgbare Arbeit¹⁰ an dem, was keine absolute Geltung erlangt hat. Deswegen verfolgt Die Lesbarkeit der Welt eine „auf Nichterfüllungen des Bewußtseins gerichtete Fragestellung“ (LW, 9). Lesbar­ keit kann als das zugunsten einer Position Übersprungene verstanden werden, dessen Ansprüche fortbestehen. Genau diese Konstellation stellt Blumenberg – in indirekter Evidenz – an der Metaphorik der Lesbarkeit aus: Sie halte gegenwär­ tig, „was in Verlust geraten sein kann“ (LW, Klappentext). Lesbarkeit beschreibt dann keine Möglichkeit im vollen, positiven Sinn: dass sich etwas ohne weite­ res lesen lässt. Wie Samuel Weber an „Benjamins -barkeiten“ gezeigt hat, kann das Suffix auch so verstanden werden, dass zwar ein Raum der Virtualität eröff­ net wird, die vollständige Realisierung aber unmöglich bleibt.¹¹ Für die hier zu 10 Daraus ergibt sich das Programm einer Textkonstellationsforschung, die die an Autornamen bemessene Konstellationsforschung unterläuft. 11 Vgl. Samuel Weber, „Virtualität der Medien“, in: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, hg. v. Sigrid Schade und Georg Christoph Tholen, München 1999, 35–49.

4.2 Texten gerecht werden: Dekonstruktion und Lesbarkeit |

185

umreißende negative oder latente Lesbarkeit ist diese Präzisierung, weil nur so das Argument zur fortgesetzten Auseinandersetzung tragfähig bleibt, unabding­ bar. Die Konstellation aus den Phänomenologischen Schriften umkehrend ließe sich sagen, dass es um das Insistieren der Retention geht – allerdings mit dem wesentlichen Zusatz, dass sich das Modell, in dem Protention und Retention einen Zusammenhang bilden, wiederum als anfällig für das Problem der Lek­ türe erweist. Offenbar liegt der Einsatzpunkt der Metaphorologie tiefer als in einer Katalogisierung geistesgeschichtlich virulenter Metaphern. Die Auszeich­ nung als ‚zunächst destruktive Elemente‘, die erst mit der Selbstreparatur des Bewusstseins zu Metaphern werden, verweist auf ein Vorfeld, in dem das meta­ phorologische ‚Als‘ erst gewonnen werden muss¹² – qua Lektüre.

4.2 Texten gerecht werden: Dekonstruktion und Lesbarkeit Man kann nicht nur nach dem Vorfeld der Begriffsbildung, sondern auch nach dem des Lesens fragen. Die Frage zielt dann auf den Ansatz, nicht erst auf den Akt des Lesens. Zu dem, was, in dieser Hinsicht, lesen ‚heißt‘, hat die dekonstruktive Literaturtheorie nuancierte Angebote erarbeitet. Sie lassen sich anhand zweier Paradigmen aufgreifen, die sich – wenn auch in anderer Weise – bei Hans Blu­ menberg wiederfinden: 1. Lesen als Antwort auf die Eigenheit eines Textes, 2. Le­ sen als Verfahren, die rhetorische Struktur eines Textes offenzulegen. Während ein positiver Begriff von Lesbarkeit philologisch Leserlichkeit und hermeneutisch Verstehbarkeit umfasst, hängt eine latente oder negative Lesbarkeit (nicht: Unles­ barkeit), wie sie hier auf Grundlage von Blumenbergs Schriften umrissen werden soll, enger mit dem Imperativ zu lesen zusammen. Sie erlaubt zugleich eine Kri­ tik an den vorgestellten Positionen, indem sie die Bindung an den einzelnen Text löst.

Lesen als Antworten J. Hillis Miller hat mit The Ethics of Reading (1987) einen Entwurf vorgelegt, das Lesen als Antwort auf die singulären Ansprüche eines Textes zu verstehen. Millers Nähe zur Dekonstruktion nimmt Jacques Derrida wiederum zum Ausgangspunkt, den Stellenwert des Lesens für die Dekonstruktion neu zu vermessen. In seinem

12 Vgl. Abschnitt 3.2.

186 | 4 Lektüre – „Ansatz von oder zu Theorie“

Vortrag „Justices“ – postum im Sammelband Provocations to Reading (2005) ab­ gedruckt – bemerkt er: „Contrary to the persistent rumor, Miller did not convert, one fine day, to deconstruction. The latter is already at work beginning with his first book. One has just to read.“¹³ Der Satz „One has just to read“ fällt nur schein­ bar nebenbei. Dass man ‚nur‘ lesen muss, meint: Man muss dekonstruktiv lesen, um zu sehen, dass schon die frühen Texte Millers dekonstruktiv verfahren. Dem möglichen Einwand, es werde etwas an die Texte herangetragen, das danach in ihnen wiedergefunden werde (hermeneutischer Zirkel), versucht Derrida zu be­ gegnen, indem er seinen Zugang durch das zu Untersuchende vorprägen lässt. Er versucht, den frühen mit dem späten Miller zu lesen. Zu Millers späteren Grund­ annahmen gehört, dass sich das Lesen nicht als Gegenstand behandeln, sondern als Problem nur in exemplarischen Lektüren¹⁴ entfalten lässt: „there is no doing, in this region of the conduct of life, without examples“.¹⁵ Derridas Interesse richtet sich folgerichtig auf ein Beispiel, nämlich auf das Beispiel ‚J. Hillis Miller‘. Diese Konstellation soll es erlauben, beispielhafte Lektüre und Gerechtigkeit miteinan­ der zu verbinden. Die ‚Ethik des Lesens‘ ist bei Miller an das Antworten gebunden: als „re­ sponse[] to an ethical demand made by the texts“.¹⁶ Es antwortet jeweils ein ‚Ich‘ („I must“¹⁷), das sich dem einzelnen Text gegenübersieht. Mit einem solchen ‚Ich‘ verbindet Derrida die Verantwortungsübernahme schlechthin: „The one who says ‘je,’ ‘I’ is responsible for it here, as always. Moreover, responsibility always seems to return to someone who says ‘je,’ ‘I.’“¹⁸ Mit dem Satz „One has just to read.“ wird dieses Ich jedoch in ein „anyone whatsoever“¹⁹ umgesetzt; die Ansprüche sind

13 Jacques Derrida, „Justices“, in: Provocations to Reading. J. Hillis Miller and the Democracy to Come, hg. v. Barbara L. Cohen und Dragan Kujundžić, New York 2005, 228–262, hier: 244. Der Erstabdruck des Textes ist in der englischen Übersetzung von Peggy Kamuf erschienen. 14 ‚Lektüre‘ steht hier für eine spezifische Praxis v. a. rhetorisch-kritischen Lesens ein. Es wäre jedoch nicht viel gewonnen, wollte man gänzlich auf das Verb ‚lesen‘ verzichten und sich statt­ dessen allein auf avancierte Bildungen mit dem Lektüre-Nominativ beschränken. Im Verb ‚lesen‘ muss es einen Horizont geben, in dem der darüber angezeigte Prozess nicht sofort auf eine Ord­ nung des Semantischen zielt. Ein Teil der hier auftretenden Schwierigkeit rührt zudem daher, dass ‚reading‘ im angloamerikanischen Sprachgebrauch ‚das Lesen‘, einen ‚Leseprozess‘, aber eben auch ‚Lektüre‘ meinen kann. Auch wenn es unbefriedigend ist, muss das terminologische Problem zu einem Gutteil auch an die Textdiskussion selbst zurückgespielt werden. 15 J. Hillis Miller, The Ethics of Reading: Kant, de Man, Eliot, Trollope, James, and Benjamin, New York u. a. 1987, 2. 16 Miller, The Ethics of Reading, 102. 17 Miller, The Ethics of Reading, 8. 18 Derrida, Justices, 228. 19 Derrida, Justices, 253.

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jetzt ungebunden, sollen aber weiterhin zwingend bleiben. Unübersetzbar bleibt das Spiel mit den Bedeutungsvarianten von „just“. Als Adverb meint es ‚nur‘ oder ‚bloß‘, als Adjektiv ‚gerecht‘, ‚angemessen‘. Derrida verwendet die adverbiale Bedeutung – man muss bloß lesen –, um einen Bezug zur adjektivischen herzu­ stellen: Gesucht ist offenbar eine dem Text dadurch gerecht werdende Lektüre, dass sie bloße Lektüre ist. Éamonn Dunne hat ein solches Verfahren, Paul de Mans „mere reading“²⁰ aufgreifend und zugleich an Miller anschließend, treffend „just reading“ ge­ nannt.²¹ Derrida nähert sich diesem Verfahren über Gedichte von Gerard Manley Hopkins, denen der frühe Miller Analysen gewidmet hat. Im Zentrum dieser An­ näherung steht eine ungewöhnliche Prägung: „Hopkins does not name only the just; he also uses the word justice, but otherwise than as a noun. He has the magnificent audacity of an unusual verbal form: to justice, justicing, the act of doing justice, of justifying justice, of putting justice to work“.²² Derridas Titel „Justices“ spielt also mit verschiedenen Bedeutungsvarianten: den ‚Richtern‘, mit dem Plural von ‚Gerechtigkeit‘ (gibt es mehr als eine Gerechtigkeit?) und der dritten Person Singular von „to justice“.²³ Letzteres lässt sich unzweifelhaft auf Miller selbst beziehen: ‚Miller justices‘. Das von Derrida gesuchte Verfahren liegt zwischen „to justice“ und „to read“. Bindeglied ist das Beispiel: „To read a text, to respond to the injunction of its singularity, is always to bind and bend one­ self to an example.“²⁴ In der Parallelführung von ‚to read‘ und ‚to respond‘ liegt eine unscheinbare Doppelung des Textbegriffs: „text“ ist Akkusativobjekt, Ge­ genstand des Lesens, zugleich auch Possessivpronomen zu „singularity“, sodass 20 Rodolphe Gasché erkennt im ‚mere reading‘ einen ‚negativen‘ Zug und betont zugleich das ‚Am-Werk-Sein‘ der Sprache selbst: „Two readings must intertwine to form mere reading. Mere reading takes place as a nonsymmetrical undoing of one (the grammatical) by the other (the rhetorical). It is a ‘negative process’, that is, a process in which nothing is gained, but in whose occurrence the workings of language reveal themselves in so far as they are at work.“ Rodolphe Gasché, „The Fallout of Reading“, in: ders., The Wild Card of Reading. On Paul de Man, Cambridge, MA/London 1998, 114–148, hier: 147. 21 Éamonn Dunne, J. Hillis Miller and the Possibilities of Reading: Literature After Deconstruction, New York 2010, 100. 22 Derrida, Justices, 230. „To justice would be to produce justice, cause it to prevail, make it come about, as an event, but without instrumentalizing it in a transitive fashion, without objectifying it, but rather making it proceed from itself even as one keeps it close itself, to what one is, namely just, closest to what one thinks, says, does, shows, and manifests.“ Derrida, Justices, 231. Das Verb steht in einer Reihe mit anderen Neologismen Hopkins: ‚scape/inscape‘ und ‚selftaste‘. 23 Zum vieldiskutierten Satz Derridas „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit“ vgl. Elisabeth Weber, „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit“, in: Mnema: Derrida zum Andenken, hg. v. Hans-Joachim Lenger und Georg Christoph Tholen, Bielefeld 2007, 93–100. 24 Derrida, Justices, 253.

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sich die nun ergebende Forderung („injunction“) ebenfalls auf „text“ bezieht. Insofern „to read“ und „to respond“ syntaktisch parallel stehen, nimmt das „to read. . . “ auf, was ihm erst noch zum Gegenstand („. . . a text“) werden muss. Die Differenz ist minimal. Sie liegt zwischen einem Text, der zum Gegenstand einer Lektüre wird, und diesem Text (einem Text in seiner Singularität, d. h. aber wie­ derum: nicht nur diesem Text im Sinne eines einzelnen Gegenstands),²⁵ der diese Lektüre bereits notwendig gemacht hat. Derridas Satzkonstruktion vermeidet es, diesen einen Text als Ursache oder Ausgangspunkt für die Lektürebewegung zu setzen. Anstatt, wie der Satzbau nahelegt, eine Antwort darauf zu geben, was es heißt zu lesen („to read . . . is to. . . “), richtet sich die Frage sogleich auf das, was lesen ‚heißt‘. Es bedeutet, sich dem Exemplarischen so zu verpflichten („to bind oneself“), dass sich daraus eine Veränderung ergibt („to bend oneself“). Das dem Exemplarischen unterworfene und so ‚gebeugte‘ „one-self “ konkurriert mit der Instanz des Lesers, in der sich der Vollzug des Lesens bündeln ließe. Die Spannung zwischen singulärer Verantwortung und Zerstreuung in ein „anyone whatsoever“ lässt sich mit Derrida in die vorgängige Frage nach der Konstitution möglicher Selbstheit (ipseity) angesichts einer partikularen textuellen Herausfor­ derung überführen. Sie wird zu einem „untiring and permant urge to answer“²⁶ gesteigert, einem „Antwortzwang“ (PN, 92), der noch keine festen Adressaten hat. Hier liegt der Unterschied zu dem, was Wolfang Iser in Appellstruktur der Tex­ te (1971) und mit dem Konzept des ‚impliziten Lesers‘ als rezeptionsästhetisches Dispositiv eingeführt hat. „Der Leser wird die Leerstellen dauernd auffüllen“,²⁷ so Isers Formel für die Festigung der Leserposition mit jeder neuen Unbestimmt­

25 Instruktiv sind hier die Überlegungen von Roland Barthes und Barbara Johnson, die die ‚Ein­ zigkeit‘ eines Textes differenztheoretisch bestimmen: „Natürlich ist seine Einmaligkeit [differ­ ence] nicht eine ausgefüllte, auf nichts zu reduzierende Qualität (wie bei der mythischen Sicht literarischer Schöpfung), sie ist nicht das, was die Individualität eines jeden Textes ausmacht, nicht das, was diesen benennt, bezeichnet, paraphrasiert und abschließt. Im Gegenteil, es ist eine Einmaligkeit, die nicht abnimmt und sich im Hinblick auf das Unendliche der Texte, der Sprachen, der Systeme artikuliert: eine Differenz, von der jeder Text die Wiederkehr ist.“ Roland Barthes, S/Z, übers. v. Jürgen Hoch, Frankfurt am Main 1987, 7. Barbara Johnsons Kommentar unterstreicht die Bewegung des Differierens zu und in sich selbst: „Mit anderen Worten: Die Dif­ ferenz eines Textes liegt nicht in seiner Einzigartigkeit, seiner speziellen Identität. Sie liegt in der Art und Weise, in der er von sich selbst abweicht, von sich selbst differiert. Und diese Differenz wird nur in einem Akt des Wiederlesens wahrgenommen.“ Barbara Johnson, „Die kritische Dif­ ferenz: BartheS/BalZac“, in: Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, hg. v. Aleida Assmann, Frankfurt am Main 1996, 142–155, hier: 143. 26 Derrida, Justices, 255. 27 Iser, Appellstruktur der Texte, 15.

4.2 Texten gerecht werden: Dekonstruktion und Lesbarkeit |

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heitsstelle. Das Lesen als sich selbst stützende Arbeit an der Vervollständigung eines Werks ist von anderer Art als ein Lesen, das sich den Ansprüchen des einzel­ nen Textes beugt und sich dadurch verändert. Es wechselt, in der dekonstruktiven Fassung, vom Akt, den jemand vollzieht, zu einem Ereignis, das zur Verantwor­ tung zieht. In den Worten Dunnes wird das Lesen zum „ungovernable, performa­ tive event“, zu einer „im-possible invention, [. . . ] which always and ever exceeds the government of any institution or overarching rationale“.²⁸ Dunnes Zuspitzung ist jedoch zugleich ein Beispiel dafür, wie schwierig der Anschluss an dekonstruktive Ansätze geworden ist. Denn es droht die Gefahr, die im Vollzug erarbeiteten Angebote als thematische zu wiederholen, dabei aber kaum mehr zu alterieren. Vom kleinteilig nachweisenden Aufbrechen teleologi­ scher Argumentationen wird zu einer Argumentationsart gewechselt, die gerade dadurch teleologische Züge annimmt, dass sie auf die großräumige These zur Un­ haltbarkeit des Teleologischen hinführt. Es bildet sich eine Art dekonstruktiver Zirkel heraus – die Untersuchung endet dort, wo sie begonnen hatte, bestreitet aber zugleich, dies könne der Fall sein –, aus dem der dekonstruktive Zweifel weicht. Gerade gemäß der mit Miller und Derrida erarbeiteten Prämissen lässt sich nicht mehr formulieren, dass sich das Lesen als Ereignis dem Zugriff der In­ stitutionen schlicht entzieht und keinem Rational unterworfen ist. Dafür lassen sich zwei, vielleicht allzu einfache Gründe anführen: (1) In der Nachfolge der De­ konstruktion muss die in Varianten vorgebrachte Kritik am „overarching rationa­ le“ noch einmal in Frage gestellt werden.²⁹ (2) Wenn Institutionen eine textuelle, mithin rhetorische Seite haben, dann muss für sie das Gleiche wie für Texte oder Werke gelten: Auch ihnen ist gerecht zu werden. Das heißt gerade nicht und viel­ leicht sogar noch viel weniger, als es im Abstreiten institutioneller Macht der Fall wäre, sich ihnen zu unterwerfen.³⁰ Der Versuch, den Begriff der Lesbarkeit mit und nach Blumenberg als einen negativen neu zu konturieren, zielt auf das, was übersprungen wird, wenn sich Positionen verfestigen, so im Prozess der Schulenbildung. Das Problem kommt auf, wenn die Strukturkritik der Institution selbst zur Institution wird. In der hier versuchten Neufassung soll also weder für eine bruchlose Weiterführung noch für das Verwerfen der Ansprüche der Dekonstruktion argumentiert werden. Im Unterschied zur, aber nicht unter Ausschluss der Emphase der Unlesbarkeit wird bestritten, dass es mit dem Hinweis auf Momente von Entzug, Differenz oder Tex­

28 Dunne, J. Hillis Miller and the Possibilities of Reading, ix–x. 29 Blumenbergs „principium rationis insufficientis“ (Annäherung, 124) kann dazu ein interessan­ ter Ausgangspunkt sein. 30 Vgl. J. Hillis Miller, „Die Festlegung des Gesetzes in der Literatur – am Beispiel Kleists“, in: Kleist lesen, hg. v. Nikolaus Müller-Schöll und Marianne Schuller, Bielefeld 2003, 181–208.

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tualität sein Bewenden haben kann. Ein lektüretheoretischer Aufriss hat seinen Vorteil darin, dass sich zunächst das textuell Unabgegoltene in den Blick nehmen lässt. Schrittweise ist dabei die Bindung an den Text wieder zu lösen, um Unab­ gegoltenheit noch weiter fassen zu können. Die Struktur von Blumenbergs Lesbarkeit der Welt ist durch zwei Umschlag­ punkte gekennzeichnet: von der ‚Welt als Buch‘ zum ‚Buch als Welt‘ sowie von den ‚Ansprüchen auf Lesbarkeit‘ zu den ‚Ansprüchen der Lesbarkeit‘ (im genitivus su­ biectivus).³¹ Deswegen soll zur Beschreibung des Forderungscharakters im Lesen am „schillernden Ausdruck ‚Anspruch‘“³² festgehalten werden, obwohl Blumen­ bergs Texte im „Handlungszwang“ (Annäherung, 117), „Antwortzwang“ (PN, 92) oder in der „Nötigung zum Eintreten in den Potentialitätshorizont“ (Vieldeutig­ keit, 118) ein weiter ausdifferenziertes Vokabular bereitstellen. Der Ausdruck ‚An­ spruch‘ vermag in sich den Übergang von der Prätention zum Appell³³ aufzuneh­ men. Beide Umschlagpunkte machen eine nähere Beschreibung der Verbindung von Anspruch und Text notwendig. Derridas Miller-Lektüre ist dafür geeignet, weil sie einerseits auf das Vorfeld des Lesens zielt und dieses Lesen andererseits, in Rücksicht auf The Ethics of Reading, als ein Antworten versteht. Um den ‚Ap­ pellcharakter‘ (Iser) des Textes zu beschreiben, entlehnt Derrida aus der juridi­ schen Sprache das Wort „injunction“.³⁴ Eine „injunction“ ist ein Rechtsmittel, ei­ ne „authoritative admonition or order“.³⁵ Es handelt sich um eine Anordnung oder Verfügung, die sich darauf richtet, etwas unterlassen oder etwas tun zu müssen, oder das eine unterlassen und das andere stattdessen tun zu müssen – abhän­ gig vom Einzelfall. Es handelt sich um eine Vorschrift in geschriebener Form, die hier, in Derridas Beispiel, ihre Form nicht mehr nur durch den einzelnen Text erhält. Unter dem Titel Reading and Responsibility. Deconstruction’s Traces (2010) hat Derek Attridge das Lesen in den Zusammenhang einer poststrukturalistisch ge­ prägten Diskussion des Ethischen gestellt. Die Untersuchung beruft sich insbe­ sondere auf Derridas Schrift Donner la mort (1992), die am Beispiel der biblischen Isaak-Geschichte unabgeltbare und zugleich absolute Forderungen diskutiert hat­ te. Mit Derrida unterscheidet Attridge zwischen einer kodifizierbaren Ethik und dem Konzept der Responsibilität und bezieht das Unerfüllbare auf das Lesen:

31 32 33 34 35

Vgl. Abschnitte 3.1 und 3.2. Waldenfels, Antwortregister, 193. Vgl. zu dieser Unterscheidung: Waldenfels, Antwortregister, 239. Derrida, Justices, 253. The Concise Oxford Dictionary, Oxford 1976, 556.

4.2 Texten gerecht werden: Dekonstruktion und Lesbarkeit |

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[R]esponsibility is not a simple ethical concept; it makes impossible demands, and is never­ theless – or consequently, rather – urgent and exigent [. . . ]. Responsibility in reading (which includes responsibility to its author, whether known or not) involves a fidelity to the singu­ larity of a work, that which marks it as distinctive and of importance; yet in order to register that singularity one has to respond with an answering singularity, not with a mere extension or copy of what one has before one, and so with a degree of infidelity.³⁶

Fixpunkt bleibt bei Attridge das Werk; ausgehend von Donner la mort ließe sich jedoch auch anders gewichten: Die Verantwortlichkeit dem einen gegenüber geht damit einher, dass anderes vernachlässigt wird. Die dann zu benennenden An­ sprüche liegen nicht im Werkcharakter, sondern dort, wo im Versuch, einem Text oder einer Stelle gerecht zu werden, andere Texte und andere Stellen übergangen sind. Mit Blick auf die Wiederaufnahme des Begriffs der Lesbarkeit: Wiederum fallen nicht schlichtweg alle Texte in diesen Einzugsbereich. Die Ansprüche der Lesbarkeit sind relational – sie liegen im Trivialen, Abgetanen, Veralteten, Unzu­ lässigen, weniger Bedeutsamen, Übersehenen. In Bernhard Waldenfels’ Philosophie der Responsivität ist der ‚Anspruch‘ so zu verstehen, dass er „dem Antworten selbst zu entnehmen [ist] als das, worauf die Antwort geht und wem sie gilt“.³⁷ Demgegenüber werden die pluralen Ansprü­ che hier als das verstanden, dem die Antwort gerade nicht gilt, aber gelten müss­ te. Um ein naheliegendes Beispiel zu geben: Das Verwerfen eines positiven Les­ barkeitsbegriffs zugunsten einer Neukonturierung negativer Lesbarkeit erzwingt die Wiederaufnahme eben dieses Verworfenen: Was genau hieß es, dass etwas bloß lesbar, leserlich ist? Dass sich etwas lesen lässt, ist nicht selbstverständlich; handelt es sich um tradierte Schriften, ist der Apparat zu ihrer Sicherung mit zu berücksichtigen; mehr noch: Auch Verfall und Herstellung von Lesbarem lassen sich lesen. Der Plural der Ansprüche ist weder am einzelnen Text noch an der Vielzahl der Texte bemessen und lässt sich auch nicht als Element der Text-LeserRelation verstehen. Noch bei Waldenfels bleibt ein solcher Rahmen als herme­ neutisches Dispositiv gesetzt: „In welchem Sinn ‚fragt‘ der Text und ‚antwortet‘ der Interpret [sic]?“³⁸ Mit der Fragestellung „what does it mean to do justice of a work of literature or philosophy or photography?“³⁹ umgeht Attridge – ähnlich wie Miller, Derrida und Dunne⁴⁰ – die Annahme eines autarken Rezipienten. Stattdessen wird eine Rela­

36 Attridge, Reading and Responsibility, 4. 37 Waldenfels, Antwortregister, 193. 38 Waldenfels, Antwortregister, 128. 39 Attridge, Reading and Responsibility, 2. 40 „How can a reader do justice to Kleist’s ‘Der Findling’? How can we read it justly or just read it?“ J. Hillis Miller, Versions of Pygmalion, Cambridge, MA/London 1990, 96–97. Ähnlich Dunne:

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tion zwischen „work“ und „reading“ hergestellt. Beschrieben werden eine Ver­ pflichtung und eine ereignishafte Begegnung: „events of reading responding as responsibly as possible to the event of the text, answerable to the uniqueness of the text and thus producing their own uniqueness.“⁴¹ Zwar unterläuft der her­ ausgehobene Ereignischarakter die Stabilität auf beiden Seiten, aber es trägt sich eben die Zweiseitigkeit selbst als Rahmen mit und steht so der Ereignishaftigkeit entgegen. Hier liegt der Einsatzpunkt für eine Kritik am hermeneutischen Disposi­ tiv, wie sie sich im Anschluss an Blumenberg entwickeln lässt. Die bei Blumenberg im – nicht ausgearbeiteten – Komplex der Lesbarkeit angedeutete Philosophie der Responsivität setzt ‚tiefer‘ an: bei der Instabilität historisch wandelbarer Disposi­ tive. Aus ihr ergibt sich die Herausforderung, der lesend zu begegnen ist. Bei Miller und Derrida werden die dem Lesen vorausgängigen Ansprüche in einem gebeugten Modalverb aufgenommen: „this ethical ‘I must’“ (Miller), „die­ ses man muss“ (Derrida). Derrida hat ein solches ‚Müssen‘ zum Ausgangspunkt gleich mehrerer Vorträge macht, etwa in Gesetzeskraft (1991) oder in Wie nicht sprechen (1989). Es erweist sich dort jeweils als das ‚Vor‘ des Vortrags und der Re­ de: „eine einzigartige Vorgängigkeit des Müssens – ein Müssen vor dem ersten Wort“.⁴² Derridas Textanfänge legen nahe, dass ihnen bereits vorausliegt, was in ihnen erst auseinander zu legen bleibt. Diese Vorausgängigkeit macht eine Ana­ lyse ebenso notwendig wie sie sie verunmöglicht. Verunmöglicht deswegen, weil erst die Lektüre exponiert, was es gewesen sein könnte, das sie selbst notwendig, damit zugleich aber auch unzureichend gemacht hat. Daran lässt sich anschlie­ ßen, was Derrida zum Ende seiner Miller-Lektüre als Dynamik des ‚Darüber-hin­ aus‘ beschrieben hat: [T]he responsibility of the response exceeds on the one hand the presumed interior of a purely internal reading, such as the interior of a text or of an academic institution. On the other hand, it exceeds the limits of an ethics in the direction of politics, the social, or the juridical. [. . . ] The Ethics of Reading exceeds the ethics of reading; it overflows both mere reading and morality in a narrowly conventional sense. It goes “further” than a mere ethics of reading [. . . ].⁴³ „What does it mean to do justice in our readings? Can one ever be a just reader?“ Dunne, J. Hillis Miller and the Possibilities of Reading, 100. 41 Attridge, Reading and Responsibility, 28. 42 Jacques Derrida, Wie nicht sprechen. Verneinungen, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 1989, 9. Bzw.: „ich muß Sie auf Englisch anreden (C’est ici un devoir, je dois m’adresser à vous en anglais [. . . ])“ (Derrida, Gesetzeskraft, 7), „weil man mich dazu verpflichtet, weil man für mich eine Art Pflicht oder Notwendigkeit daraus macht, eine Bedingung, die mir von einer Art symbo­ lischer Kraft oder von so etwas wie einer Gesetzeskraft auferlegt wird, in einer Situation, die ich nicht kontrolliere. Eine Art polemos zeichnet bereits die Anpassung an eine Sprache, ihre Aneig­ nung aus“. Derrida, Gesetzeskraft, 9–10. 43 Derrida, Justices, 260.

4.2 Texten gerecht werden: Dekonstruktion und Lesbarkeit |

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Das Problem der Gerechtigkeit liegt im Lesen in dem Maße, wie es nicht nur über sich selbst, sondern auch über eine Ethik des Lesens hinausweist.⁴⁴ Zum Ver­ gleich: Auch im Umfeld von Barbara Johnsons Prägung der „critical difference“ ist der Lektüreakt nicht gesetzt. Er verdankt sich einer Differenzierung, die struktu­ riert, aber auch aufhebt und derart auf anderes verweist: „this type of ‘difference’ as it structures and undermines the act of reading.“⁴⁵ Das, was an einer Ethik des Lesens über diese hinaus reicht, lässt sich mit Johnson als das fassen, was diese zugleich notwendig macht. Mit diesen Hinweisen ist ein Schnittpunkt gefunden zwischen dem Projekt ei­ ner ‚Ethik des Lesens‘ und einem negativen oder latenten Lesbarkeitsbegriff, näm­ lich ein Insistieren über den Text hinausreichender Ansprüche bei gleichzeitiger Infragestellung des Aktcharakters des Lesens.

Prosopopoiia – Lesen als Gegenlesen Der Versuch, die Ansprüche der Lesbarkeit an eine einzelne Stelle, einen Text oder ein Werk zurückzubinden, liefe Gefahr, die Operation zu wiederholen, die schon dem verstehenden Lesen zugrundeliegt. Lesbarkeit wäre so verstanden, als habe der Text eine Stimme, um Ansprüche zu artikulieren. Er träte auf als „Adres­ sant“.⁴⁶ Damit fiele der Untersuchungsgegenstand in den Bereich der rhetori­

44 David Martyn hat in diesem Zusammenhang das Problem der ‚Unlesbarkeit‘ hervorgehoben und von einer „Ethik der Unlesbarkeit“ gesprochen. Vgl. David Martyn, „Unmögliche Notwendig­ keit (Die Ethik des Lesens)“, in: Literaturwissenschaft, hg. v. Jürgen Fohrmann und Harro Müller, München 1995, 311–329, hier: 329. Der Versuch einer Neufassung von ‚Lesbarkeit‘ soll diese Te­ leologie der Unlesbarkeit aufbrechen, ohne hinter die Einsichten der dekonstruktiven Theorie­ bildung zurückzufallen. 45 Barbara Johnson, The Critical Difference. Essays in the Contemporary Rhetoric, Baltimore/Lon­ don 1985, x. 46 Waldenfels’ Mahnung, dass man den Text nicht schlichtweg zum Akteur erheben könne, ist hier zu berücksichtigen: „Der Text, zumal wenn er von den Intentionen eines Autors abgelöst ist, kann nicht als ‚Adressant‘ einer Frage auftreten, wenn man den Text nicht mythologisieren will.“ Waldenfels, Antwortregister, 127. So wird in Johnsons Lacan-Lektüre der Leser in und mit Edgar Allan Poe’s The Purloined Letter in der Tat zu einem Effekt einer Adressierung durch den Text: „the reader is in fact one of its effects. The text’s ‘truth’ puts the status of the reader in question, ‘performs’ him as its ‘address.’“ Johnson, The Critical Difference, 143–144. Bei genauerer Betrachtung ist es aber nicht der Text selbst, sondern dessen ‚Wahrheit‘, die hier ‚Adressant‘ ist. Johnson macht zudem deutlich, dass dieses Spiel nicht zwischen zwei Partnern zu verorten ist: „Difference is not engendered in the space between identities; it is what makes all totalization of the identity of a self or the meaning of a text impossible. It is this type of textual difference that informs the process of deconstructive criticism.“ Johnson, The Critical Difference, 4–5.

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schen Figur der Prosopopoiia. „Die Prosopopoiia ist jene rhetorische Figur, durch die – den Texten – eine Stimme und ein ‚sprechendes Gesicht‘ gegeben wird, das für dessen Lesbarkeit einsteht“, so Bettine Menke. Positive wie hermeneutische Lesbarkeit gehen auf eine Bewegung zurück, die Lesbarkeit metaphorisch als Stimme einsetzt. Das ist die Vorannahme, die „das verstehende Lesen“ leitet.⁴⁷ Gesucht ist aber eine Lesbarkeit, die schon deswegen nicht eingesetzt werden kann, weil sie im Rücken des Setzens zu verorten ist. Das Stimme-Verleihen funktioniert katachrestisch. Es gibt das von ihm Ein­ gesetzte als das bereits Dagewesene aus. Der Setzungsakt selbst wird kaschiert.⁴⁸ Indem sich dies in der Figur der Prosopopoiia mitausstellt, erlaubt sie allerdings eine ‚zweite‘ Lesbarkeit: nämlich die des Verfehlens. „Die Prosopopoiia vermag (nur) die Figur zu sein, die diese Arbitrarität (und damit eine Inkonsistenz aller Fi­ guration) ebenso verstellt, wie diese eben dadurch, das heißt: in der Verfehltheit, in der Verstellung exponiert wird.“⁴⁹ Es handelt sich eher um eine, wie Blumen­ berg mit Blick auf Sigmund Freud formuliert: „sekundäre Mitlesbarkeit“ als um „ursprüngliche Lesbarkeit“ (LW, 342). Das im Setzen Verfehlte zu lesen, erfordert andere Techniken als eine Entzifferung von Sinnstrukturen im Gesetzten. In Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka (2000) arbeitet Menke die doppelsinnige „Aufgabe des Lesens“⁵⁰ anhand einer Analyse von Kafkas Erzählung Der Bau (1923) aus. Dieser wie auch andere Texte Kafkas unternähmen „die Lektüre der ‚romantischen‘ Schemata der Stimme mit einer Systematik, die diese als Symptome lesbar machen.“⁵¹ Indem der Text sei­ ne eigene Möglichkeitsbedingung in sich einzubegreifen versucht, stellt er sein Scheitern daran aus. Er stellt sein Scheitern aus und in dieser Exposition verliert der ‚Ort‘ möglicher Lektüren an Stabilität: „Das heißt [. . . ] dem Leser nicht nur einen unkomfortablen Platz, sondern ihm einen paradoxalen Ort oder Nicht-Ort zuweisen.“⁵² Das Lesbare als das Mitlesbare ist nur um den Preis des Verlusts ei­ nes Dispositivs zu erhalten. Lektüre ist Distanz der Texte zu sich selbst – so wie in Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers“ die Übersetzung für die Be­ wegung einsteht, in dem ein Werk über sich selbst hinausgreift. Sie ist es aber vor

47 Bettine Menke, „Prosopopoiia. Die Stimme des Textes – die Figur des ‚sprechenden Ge­ sichts‘“, in: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft (DFG-Symposion 1995), hg. v. Gerhard Neumann, Stuttgart 1997, 226–251, hier: 227. 48 Vgl. Menke, Prosopopoiia. Die Stimme des Textes, 230. 49 Menke, Prosopopoiia. Die Stimme des Textes, 232. 50 Bettine Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, Mün­ chen 2000, 29. 51 Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text, 15. 52 Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text, 77.

4.2 Texten gerecht werden: Dekonstruktion und Lesbarkeit |

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allem in dem Maße, in dem diese Lektüre das stets noch Ausstehende gegenüber bereits vollzogenen Lektüren ist. Verwandt ist dieser Ansatz mit der von Paul de Man in Allegories of Reading (1979) formulierten Kritik, die nicht zuletzt bei der Thematisierbarkeit des Lesens selbst angesetzt hatte.⁵³ Die Einsicht, dass sich Texte rhetorischen Operationen verdanken, mündet in die Anerkennung einer unadressierbaren Unlesbarkeit ein, wie Werner Hamacher zusammenfasst: Wenn de Man vom Text als einer Allegorie der Unlesbarkeit spricht, so dürfte das auch so zu lesen sein, daß erst diese Unlesbarkeit, nämlich die Verifikations- und VerallgemeinerungsUnfähigkeit des Textes dazu zwingt, ihn in immer anderen Weisen, immer als irreduzibel anderen und, a limine, immer als Unlesbaren zu lesen. Der Imperativ, unter dem die Litera­ turwissenschaft steht, ist nicht der der Kommunikation, sondern der der Mit-Teilung. Er ist Imperativ nur als partitiver. Nur unter seinem Gebot ist sie fähig, an der Literatur Anteil zu haben, ohne der Illusion zu verfallen, sie könnte sie je als ganze und als sie selbst erfassen.⁵⁴

Hier ist es die Unlesbarkeit des einzelnen Textes, die zu lesen „zwingt“, und zwar derart, dass diese Unlesbarkeit in immer anderer Weise zum Tragen kommt. Ha­ macher bestimmt sie als eine Art Residuum, das verhindert, dass sich ein Text unter eine allgemeine Formel bringen oder als wahr ausweisen lässt. Die Ver­ klammerung von Lesen und Unlesbarkeit führt zu einer Streuung des Textes, die als „Mit-Teilung“ gefasst wird. Anstatt das Lesen in ein Kommunikationsdispo­ sitiv einzubinden oder hermeneutisch – Hamachers Sammlungstitel Entferntes Verstehen ist sprechend – aufzufassen, verbindet es sich mit der Verfasstheit der Texte selbst. Mit Menke lässt sich gleichwohl sagen: Die Verallgemeinerungsunfä­ higkeit als solche bleibt lesbar, allerdings nicht dem verstehenden, sondern dem rhetorisch aufmerksamen Lesen. Genau besehen, wird die in Relation zur posi­ tiv-hermeneutischen Lesbarkeit bestimmte Unlesbarkeit zum vordringlichen Ge­ genstand der Lektüre. Es bedarf dazu einer Technik, den Imperativ, unter dem die Literaturwissenschaft gemäß Hamacher als ganze steht, derart zu bearbeiten, dass deren Gegenstände in ihrem Verfahren wenn nicht problematisch, so doch pluralisiert werden. Während das verstehende Lesen die rhetorische Verfasstheit überspringt, der die dekonstruktive Lektüre gilt, liegt der Ansatz nach Blumen­ berg allerdings bei dem, das noch in der Emphase der Unlesbarkeit übersprun­ gen wäre. Im Unterschied zur Pluralisierung des einzelnen Textes ist hier – dem Ganzheitsbestreben der Metaphorik vom Buch der Natur entgegengesetzt – dem Plural nicht nur der Texte, sondern auch dem der Theoreme gerecht zu werden. 53 Vgl. Paul de Man, „Lesen (Proust)“, in: ders., Allegorien des Lesens, hg. v. Werner Hamacher, Frankfurt am Main 1988, 91–117. 54 Werner Hamacher, „Lectio. De Mans Imperativ“, in: ders., Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt am Main 1998, 151–195, hier: 178.

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4.3 Statt eines Anfangs: Höhlenausgänge (Proust) Der kurze Text „Erinnerung an den Anfang“, mit dem Hans Blumenbergs Spät­ werk Höhlenausgänge (1989) beginnt, setzt eine Vielzahl von Anfängen zueinan­ der in Beziehung: einen Anfang der Zeit, den von Bewusstsein, einer Welt, eines Lebens, einer Epoche, der Phänomenologie, eines und des Romans. Der Essay läuft auf Platons Höhlengleichnis zu und nennt damit, in leichter Verzögerung, einen Ausgangspunkt der gesamten Untersuchung. Im siebten Buch der Politeia gebraucht Platons Sokrates das Denkbild der Höhle zur Erläuterung des Anstiegs, der „zum Sein“ führen und „für die wahre Philosophie“ erklärt werden soll.⁵⁵ Der ausgerufene Anfang der wahren Philosophie fällt zusammen mit der Erkenntnis des Anfangs selbst: „Nun ist aber die dialektische Methode die einzige, die [. . . ] zum Anfang selbst vordringt, um diesen völlig sicher zu stellen; sie zieht das in Wahrheit in einem wahren Brei von Barbarei vergrabene Auge der Seele mit sanf­ tem Druck ans Licht hervor und führt es aufwärts.“⁵⁶ Diese Allianz von Anfang und Aufstieg ist Gegenstand der metaphorologischen Untersuchung. In einem mehrfachen Umweg stellt sie die Paradoxie allen Anfangens heraus. Blumenbergs ‚Arbeit am Höhlenmythos‘⁵⁷ beschreibt insgesamt die umgearbeiteten, umgewen­ deten oder übersehenen Implikationen jener „Aus- und Aufstiegsgeschichte zum Ganzwirklichen hin“ (H, 19). Eine wesentliche Pointe des zehn Jahre vor Höhlen­ ausgänge erschienenen Buches Arbeit am Mythos (1979) lag darin, dass der My­ thos nur in seiner Umarbeitungsgeschichte besteht, dass an ihm nichts Ursprüng­ liches ist (vgl. AM, 299). Für das Höhlengleichnis gilt das gleichermaßen. An ihm ist, obwohl es für einen Anfang einstehen soll und den Beginn einer Traditions­ kette markiert, nichts Anfängliches: „Platos Höhlenparabel [steht] nicht an einem Anfang, sondern inmitten der Zeit – wie inmitten des ‚Staates‘.“ (H, 41) Dieser Hin­ weis ist entscheidend, um Blumenbergs eigenes Verfahren näher beschreiben zu können.

55 Platon, Der Staat, in: ders., Sämtliche Dialoge, Band V, hg. v. Otto Apelt, Hamburg 2004, 7, 521c. Blumenberg spricht von einem „didaktische[n] Paradestück für philosophische Veranschauli­ chung“. H, 85. 56 Platon, Der Staat, 7, 533c-533d. 57 Vgl. Robert Buch, „Höhle“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 115–130, hier: 115–116. Mit Blick auf das zweite Kapitel des zweiten Teils von Arbeit am Mythos versteht er das Höhlengleichnis als „eine Art Grundmythos“, „der für die Tradition so unverzichtbar wie unauflösbar geworden ist, der unendliche Variationen, Fort- und Umschreibungen generiert, ohne sich je erschöpfen zu lassen“. Buch, Höhle, 115.

4.3 Statt eines Anfangs: Höhlenausgänge (Proust) | 197

Rezeptionsgeschichte des Anfangs Blumenberg greift die Parabel in seinem Einstiegsessay auf, indem er auf eine spä­ te Wiederaufnahme eingeht, die in prominenter Weise das Problem des Anfangs thematisiert und zugleich als Anfang ausstellt, nämlich Marcel Prousts À la re­ cherche du temps perdu (1913–1927):⁵⁸ „Der Anfang der ‚Recherche‘ ist, daß wir keinen Anfang haben können und dennoch auf ihn zu verzichten nicht imstande sind.“ (H, 14) Die bei Platon beschriebene (von Blumenberg hier aber nicht er­ wähnte) Ankündigung des Anfangs der wahren Philosophie verliert sich darin: nicht allein deswegen, weil es eines Gleichnisses bedarf, sondern weil es seiner mythischen Struktur nach gegen die Fixierungsbewegung, die es inszenieren soll, gerichtet ist. Die Frage nach dem reinen Anfang wird an die Rezeptionsgeschichte zurückgespielt, die keineswegs eine ‚direkte‘ sein muss.⁵⁹ Im Folgenden wird be­ schrieben, wie sich dieser Ansatz als Einsatz des Lesens darstellt.⁶⁰ Der impliziten These zum Vorrang der Rezeption, die an der Stelle der Frage nach dem Anfang der Philosophie steht, entspricht – auf der Ebene des Verfahrens – die Lektüre. Sie wird als mitgeführtes, aber nirgends offengelegtes Moment zu einem Teil des Ge­ sagten. Sie ist theoretisches Komplement zu dem, was Blumenberg für die Struk­ tur des Mythos veranschlagt hat: nämlich immer schon in Rezeption übergegangen zu sein.⁶¹ Auch für diesen Übergang steht der Schwellenraum der ‚Höhlenausgän­ ge‘ ein. Der Beginn von Blumenbergs Buch gibt weiterhin ein Beispiel dafür, wie ein Argument aus einer Textkonstellation heraus entwickelt wird. Denn entlang der Auseinandersetzung mit Platon wird Prousts Romanbeginn auf die Phänomeno­ logie Husserls bezogen.⁶² Hergestellt wird dieses Verhältnis über die ‚Erinnerung‘. 58 Zum „umgedrehten Platonismus“ in Prousts Roman vgl. Henning Teschke, Proust und Benja­ min. Unwillkürliche Erinnerung und dialektisches Bild, Würzburg 2000, 62–66. 59 Vgl. zur ‚direkten‘ und ‚indirekten‘ Rezeption Abschnitt 2.3. 60 Auch insofern ist die Auswahl nicht zufällig – zum subtilen Geflecht der Leseerzählungen in Prousts Roman vgl. Robert Stockhammer, Leseerzählungen. Alternativen zum hermeneutischen Verfahren, Stuttgart 1991, 229–290. 61 Damit soll an eine Beobachtung Rüdiger Campes angeschlossen werden: In der Metaphoro­ logie aufgegriffene Großfragen tauchen mitunter gänzlich „aus einem Komplex von Zitaten auf“. Campe, Von der Theorie der Technik zur Technik der Metapher, 286. 62 Der Platon-Bezug ist relevant im Kontext der kritischen Umarbeitung der Phänomenologie: „Durch die Phänomenologie hindurch zieht sich eine Spirale der Aneignung und Überwindung des Platonismus, und sie setzt sich über Husserl hinaus bei Heidegger fort. Davon ist Blumen­ bergs Platonrezeption und -kritik mitbestimmt“. Heinrich Niehues-Pröbsting, „Platonverlesun­ gen. Eigenschatten – Lächerlichkeiten“, in: Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, hg. v. Franz Josef Wetz und Hermann Timm, Frankfurt am Main 1999, 341–368, hier: 342.

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Erinnerung, so die zum Ende des Aufsatzes angedeutete und später ausgebau­ te These, sei gerade dasjenige, „was Plato [. . . ] in seinem Höhlenmonument [. . . ] vergessen haben sollte“ (H, 19). Prousts Nachtrag, der das Anfangen sofort in eine Rückwendung überführt, wird als Vorwegnahme des ‚Anfangs‘ der phänomeno­ logischen Methode gelesen. Es gehört zu den Rätseln der Gleichzeitigkeit bei Ausschluß aller Arten von ‚Einflüssen‘, daß dieser Anfang der ‚Recherche‘ ein Stück Phänomenologie sein könnte, ja in der Verbindung von Gegenwart und Erinnerung als Gegenwartsrückgewinn den Typus der phänomenolo­ gischen Meditation vorwegnimmt, der ohne bestimmte konstruktive Vorgaben nicht aus­ kommt. (H, 16)

Mit diesem mutmaßlichen Vorgriff tritt das Verhältnis von Literatur und Philoso­ phie in den Vordergrund.⁶³ Prousts Romananfang nimmt etwas vorweg und hat so an dem, was er vorwegnimmt, teil, auch wenn es keine ‚direkte‘ Rezeptionslinie gibt. Fraglich ist, ob Literatur gegenüber philosophischen Problemen bloß dar­ stellende Funktion hat oder ob es einen wechselseitigen Bezug gibt. Blumenbergs Problemsteigerungsprosa führt über diese Darstellungsdimension hinaus, indem sie mit einer mehrfachen Überlagerung arbeitet: von Phänomenologie, Platonis­ mus, Romangeschichte und Metaphorologie. Zu Beginn von Höhlenausgänge wird zunächst „das Verhältnis von Erkenntnis zu ihrer figurativen Verfasstheit“⁶⁴ the­ matisch, ein Verhältnis, das die gesamte Theorie der Unbegrifflichkeit Blumen­ bergs bewegt und hier aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird: in Bezug auf Höhlenmetaphorik und Höhlengleichnis (bei Proust und Platon), aber auch hinsichtlich der literarischen Gattung des Romans. Es wird zudem das paradoxe Angefangenhaben als Problem der Selbstvergegenwärtigung des phänomenologi­ schen Bewusstseins ausgewiesen. Zwischen beidem bildet Prousts Romanbeginn eine Art Umschlagstelle. An ihm lässt sich die Unzugänglichkeit zeigen, die dem Anfangen als „Dilemma“ (H, 11) erhalten bleibt.

63 Eva Horn, Bettine Menke und Christoph Menke beschreiben das Verhältnis von Literatur und Philosophie als eines der gegenseitigen Eintragungen: „Vielmehr ist der Berührungsraum, zu dem die Grenzlinie – im und als Zwischenraum – sich hat ausdehnen müssen, nicht nur zwischen den Entitäten aufzufinden, sondern bereits jeweils innerhalb dieser Einheiten aufzuweisen. Er ist der Raum, der eröffnet wird, um ‚differenziert‘ zu werden und indem er differenziert wird“. Eva Horn, Bettine Menke und Christoph Menke, „Einleitung“, in: Literatur als Philosophie – Philoso­ phie als Literatur, hg. v. Eva Horn, Bettine Menke und Christoph Menke, München 2005, 7–15, hier: 8. Daraus folge eine wesentliche „Asymmetrie in der Verbindung von Philosophie und Literatur“. Sie entfalte sich „in dem Streit, den sie jeweils in sich miteinander führen; in dem Streit mit dem je Anderen, der sie beide sind“ (11). 64 Horn/B. Menke/C. Menke, Literatur als Philosophie, 9.

4.3 Statt eines Anfangs: Höhlenausgänge (Proust) | 199

Dilemmatische Substitution Als Entscheidungszwang zwischen zwei gleichermaßen unangenehmen Prämis­ sen zeigt ein Dilemma eine Zweiteilung an. Blumenbergs Text umgeht die klas­ sische Ypsilon-Struktur, indem er – mit Blick auf die Zeitlichkeit des Bewusst­ seins – den reinen Anfang als undenk- und unerlebbar fasst. Das Dilemma des Anfangs besteht darin, dass anstatt eines Anfangs ein Dilemma steht. Zwar kön­ ne man ein Wissen über Entstehungsbedingungen erlangen, aber einen reinen Anfang zu denken erweise sich als unmöglich. „Einen Anfang der Zeit können wir nicht denken. Er läge schon in der Zeit.“ (H, 11) Das Bewusstsein kann sich auch nicht selbst als anfangend erleben, „nicht einmal beim alltäglichen Erwachen aus dem Schlaf“ (H, 11), wie es bereits mit einem Seitenblick auf Proust heißt. Der Undenkbarkeit eines Anfangs der Zeit korrespondiert die Unerlebbarkeit eines Anfangs von Bewusstsein. Es handelt sich dabei weniger um unscharfe Grenz­ bestimmungen. Vielmehr soll die Idee der einen Anfang markierenden Grenze ih­ rerseits aufgehoben werden. Dies ist der Aspekt, in dem sich Anfang und Ende berühren, ohne zusammen zu fallen. Sie sind – qua Undenkbarkeit – durch ihre Unbegrenztheit bestimmt, jeweils un-endlich. Das entspricht der für den Mythos beobachteten Struktur: „Anfang und Ende sind auch darin symmetrisch, daß sie sich erweisbarer Faßbarkeit entziehen.“ (AM, 299) Blumenbergs erster Abschnitt arbeitet diese Art der Unendlichkeit heraus, entgrenzt also den Anfang, insofern er ein Ende ist – etwa als terminus a quo. Die Unendlichkeit stiftet die Verbin­ dung von Zeit und Bewusstsein, ohne dabei selbst faktisch zu sein: „Nun ist der Sachverhalt, der Zeit und Bewußtsein verschweißt und das eine nur durch das andere sein läßt – der ihrer beidseitigen Unbegrenztheit als der nackten Undenk­ barkeit ihrer Anfänge und Endigungen –, nichts, was sich als Faktum bezeich­ nen und relativieren ließe.“ (H, 12, meine Hervorhebung, A.W.) Diese kontra-fak­ tische Bewegung ist gegen die Wissensanhäufung gerichtet, indem die Stelle des Anfangs unbestimmt bleibt und, in dieser Entgrenzung, entterminologisiert wird. Die metaphorologische Überlegung des Essays hat mit dem Entscheidungszwang zwischen lückenhaftem Wissen und Subjektivität angesichts einer solchen Unbe­ grenztheit zu tun: Dieses Dilemma ist von der Art, daß es nach Mitteln der Substitution für das Undenkbare, der Nachhilfen fürs Unglaubliche, der Surrogate für die blasse Äußerlichkeit des Wissens verlangt. Es ist das Reich der absoluten Metaphorik im Zentrum, in der Kapitale, wo sich entscheidet, ob es überhaupt eine Chance für ein wenig mehr als das Wißbare gibt [. . . ]. (H, 11)

Die Metapher ist stoffliches Surrogat für die Wissensordnung und systematischer Ersatz für das Undenkbare. Das, was nach Ersatz „verlangt“, kann jedoch nicht

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völlig vertreten, sondern nur als Dilemma ausgestellt werden. Die Metapher folgt ihrerseits einer Logik des Umwegs. Im Aufsatz „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ (1971) heißt es: „Der metaphorische Umweg, von dem thematischen Gegenstand weg auf einen anderen zu blicken, der vorgreifend als aufschlußreich vermutet wird, nimmt das Gegebene als das Fremde, das Andere als das vertrauter und handlicher Verfügbare.“ (Annäherung, 116) Der Höhlenaus­ gangstext radikalisiert das. Er gibt keine Mittel mehr, den thematischen Gegen­ stand überhaupt in den Blick zu nehmen. Spitzt man die bis hierhin angestellten Überlegungen zu, dann stehen Metaphern nicht anstelle von Anfängen, sondern stattdessen – und zwar innerhalb eines Dilemmas, das die Stelle des Anfangs in Zweifel zieht, verschiebt (umso wichtiger die Frage nach dem Aufkommen der Me­ tapher selbst).

Der Romananfang und der Anfang der Gattung Für die Verbindung von Zeit und Bewusstsein gibt Blumenberg eine Zeitspanne an, in der sie „‚geschichtlich‘ in Erscheinung“ (H, 12) getreten sei: die Epoche der Neuzeit. Damit werden vor allem die Arbeitskontexte aus Die Legitimität der Neuzeit (zuerst 1966) und Die Genesis der kopernikanischen Welt (1975) aufgeru­ fen. Ohne die in diesen Zusammenhängen besprochene Problematik des unmög­ lichen Anfangs angemessen diskutieren zu können, greife ich nur einen Aspekt heraus, der für die Konstellation in Höhlenausgänge zentral ist. Im ersten Teil der Legitimität der Neuzeit wird das „Attribut“ der Unendlichkeit gegen die Säkulari­ sierungsthese verteidigt (vgl. SÄ, 90–102). Das ist hier relevant, insofern darin ein spezifisch neues Verständnis von Unendlichkeit gefunden wird: „Das Unendliche ist, nicht zuletzt auch durch die Vorbereitung der mittelalterlichen Mystik, eher ein Abgrund als die Erhabenheit, zu der es werden sollte“ (SÄ, 94, meine Hervor­ hebung, A.W.), „eher ein Prädikat der Unbestimmtheit als der erfüllenden Digni­ tät, eher Ausdruck der Enttäuschung als der Anmaßung.“ (SÄ, 100) Eine Enttäu­ schung dieser Art liegt auch in der mit dem Unendlichen verbundenen „Öffnung“ (H, 12) in Höhlenausgänge. Als „Epoche des unbeschränkten, weil wesensmäßig zeitlichen Bewußt­ seins“ stelle sich der Neuzeit eine eigene Schwierigkeit, nämlich „aus dem Laby­ rinth der Unvereinbarkeit von objektivem Wissen und subjektiver Selbstevidenz“ herausfinden zu müssen (H, 12). Blumenbergs These ist, dass nun die gesamte, im Entstehen begriffene Gattung des Romans einspringt, gewissermaßen in me­ taphorischer Funktion. Erläutern lässt sich dies vor dem Hintergrund der These des Romanaufsatzes von 1964: dass sich die Möglichkeit der Gattung des Ro­ mans einem bestimmten, historisch wiederum als neuzeitlich ausgezeichneten

4.3 Statt eines Anfangs: Höhlenausgänge (Proust) | 201

Wirklichkeitsbegriff verdanke.⁶⁵ Blumenberg skizziert darin vier Wirklichkeits­ begriffe, die zwar grob bestimmten Epochen zugeordnet, zugleich aber nicht als starre Abfolge, eher im Sinne ihrer metakinetischen Interdependenz zu verstehen sind.⁶⁶ Der erste, mit der Antike verbundene und von Platon her entwickelte Wirk­ lichkeitsbegriff einer „momentanen Evidenz“ (Wirklichkeitsbegriff, 10) habe das Aufkommen des Romans eher blockiert als begünstigt. Das gilt auch für den mit­ telalterlichen einer in Gott „garantierte[n] Realität“ (Wirklichkeitsbegriff, 11) und ändert sich erst mit einer weiteren Transformation der Möglichkeitsbedingun­ gen. Der dritte, prozessual und anti-mimetisch organisierte Wirklichkeitsbegriff der „offenen Konsistenz“ ist an die Vorstellung der „Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes“ gebunden,⁶⁷ tendiert aber bereits in Richtung eines vierten, der logischen Form des Paradoxes nahestehenden Begriffs, der „sich an der Erfahrung von Widerstand,“ orientiert und Realität als „das dem Subjekt nicht Gefügige“ (Wirklichkeitsbegriff, 13) versteht. Nicht weil er die neuzeitliche Aporie aufzulösen imstande wäre, rückt der Ro­ man in den „Rang einer epochalen Leitfigur von ‚offener Konsistenz‘“ (H, 12), son­ dern weil er das Dilemma verkörpert, „als endlicher Text die Vorstellung eines unendlichen Kontextes [. . . ] evozieren“ (Wirklichkeitsbegriff, 22) zu müssen.⁶⁸ Es kommt darauf an, dass sich an der ästhetischen Form etwas mit darbietet – ohne

65 In der im ersten „Poetik und Hermeneutik“-Band abgedruckten Diskussion hat Blumenberg das Konzept des ‚Wirklichkeitsbegriffs‘ zusammengefasst als ein nur indirekt greifbares „durch­ gehendes Strukturmerkmal“ der „fundierenden historischen Gegebenheiten“. „Diskussionsbe­ richt: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. Kunst und Natur in der idealistischen Ästhetik“, in: Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963, hg. v. Hans Robert Jauß, München 1964, 219–227, hier: 226. Es wird damit in die Nähe zur Lebensweltthematik gerückt. Zum Ende von Höhlenausgänge wird das Konzept noch einmal aufgegriffen und als „implikati­ ves Prädikat“ bestimmt, das sich je unterschiedlich materialisieren kann (H, 806); so auch in Vorbemerkungen. Es zeichnet sich vor allem dadurch aus, seinerseits einer latenten historischen Dynamik unterworfen zu sein; vgl. zu diesem Komplex: Sommer, Wirklichkeit. 66 Auf den tableauartigen Zuschnitt und die Interdependenz dieser vier Wirklichkeitsbegriffe hat Andreas Mahler hingewiesen: „‚Realität‘ in der ‚Postmoderne’? – Überlegungen zu Hans Blu­ menbergs viertem Wirklichkeitsbegriff“, in: Comparatio 8 (2016), 181–196. 67 Dabei trägt sich in jedes Resultat dessen Unabschließbarkeit ein, „als niemals endgültig und absolut zugestandene Konsistenz, die immer noch auf jede Zukunft angewiesen ist, in der Ele­ mente auftreten können, die die bisherige Konsistenz zersprengen und das bis dahin als wirklich Anerkannte in die Irrealität verweisen könnten.“ (Wirklichkeitsbegriff, 12–13) Mit der gesuchten Schließung einer in sich kohärenten Struktur ist zugleich deren Öffnung bezeichnet. Der 25 Jahre später veröffentlichte Text „Erinnerung an den Anfang“ bildet hierzu den Gegenschuss, indem er eine Entgrenzung auch des Anfangs nachträgt. 68 „Die potentielle Unendlichkeit des Romans ist zugleich seine aus dem Wirklichkeitsbegriff be­ zogene Idealität und das ästhetische Ärgernis“. Wirklichkeitsbegriff, 21.

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vollends in Erscheinung zu treten –, das Einspruch gegen die Möglichkeit dieser Darbietung einlegt, gerade darin aber anstoßgebend ist.⁶⁹ Die Möglichkeitsbedin­ gung des Romans ist zugleich die Bedingung seiner Unmöglichkeit. „Jeder Roman ist folglich, sofern er sich der Tendenz seiner Gattung als einer neuzeitlichen nicht zu verweigern vorgibt, ein Roman von der Entstehung oder von den Schwierigkei­ ten, wenn nicht sogar vom Scheitern des Romans.“ (H, 13) Blumenberg legt eine Strukturanalogie zwischen der Problematik des Anfangs und der Gattungskonsti­ tution nahe. Das Verhältnis von Wirklichkeitsbegriff und Roman ist auch deswegen kom­ plex, weil für die Frage nach der Möglichkeit des Romans die Metakinetik der Wirklichkeitsbegriffe einerseits vorausgesetzt sein muss, diese andererseits aber erst, indirekt, am Roman greifbar wird.⁷⁰ In der Diskussion seiner Vorlage geht Blumenberg auf dieses Verhältnis näher ein: Und mir kam es ja nicht darauf an, eine philosophische Begründung oder Definition der Kunst zu geben, sondern Rang und Funktion des Romans in einer bestimmten Epoche seiner formalen Selbstthematisierung nach auf eine grundlegende Sicht der Wirklichkeit zurück­ zuführen, die als solche noch nicht Philosophie ist, sich aber vorzüglich als Philosophie selbst begreift, im Kunstwerk sich mit darbietet.⁷¹

Es ist noch keine Philosophie, dass sich der Roman selbst zum Thema macht, aber in dieser Thematisierung, die eher nebenbei geschieht, liegt die philosophische Relevanz. Denn in dieser Wendung auf sich selbst steht der Roman für „das sich selbst thematisch gewordene und noch werdende“ (H, 14) Bewusstsein ein. Am Roman, als der epochalen „Leitfigur von ‚offener Konsistenz‘“, tritt die Tendenz auf Unendlichkeit hervor, die das anfangs- und endlose Bewusstsein charakte­ risiert. Die „‚Reinheit‘ des Anfangs“ wird als „das immer wieder aufzuhebende Unzulässige der offenen Konsistenz“ (H, 13) beschreibbar. Jeder Anfang, der den­ noch gesetzt wird und werden muss, ist ebenso artifiziell wie kontingent. Dass der Roman einen Anfang nehmen muss, obwohl er ihn adäquat nicht nehmen kann, qualifiziert ihn als Ersatz für das anfängliche Dilemma. In der Welt, die er entwirft, trägt sich fort, was als Paradox zurückgelassen werden musste. Es spielt als eine

69 „[A]n der Demonstration der Unmöglichkeit des Romans wird ein Roman möglich.“ Wirklich­ keitsbegriff, 22. 70 Beate Söntgen hat das zugespitzt: „die Vorstellung dessen, was als wirklich angesehen wird, zeigt sich, wie Hans Blumenberg es in Bezug auf den Roman beschrieben hat, in der Form der Darstellung“. Beate Söntgen, „Interieur. Vom Wohnen in Bildern“, in: Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, hg. v. Eva Horn, Bettine Menke und Christoph Menke, München 2005, 139–152, hier: 139. 71 Diskussionsbericht Kolloquium 1963, 226 [meine Hervorhebung, A.W.].

4.3 Statt eines Anfangs: Höhlenausgänge (Proust) | 203

Art Riss in die Konsistenz der zu erzeugenden Welt „hinterhältig und meuchlings“ (H, 13), wie es im Einstiegstext zu Höhlenausgänge heißt, hinein. Man kann hier eine Analogie zu einer Folgerung von J. Hillis Miller erkennen: „Any beginning in narrative cunningly covers a gap, an absence at the origin. This gap is both outside the textual line as its lack of foundation and visible within it as loose threads of in­ complete information raveling out towards the unpresented past“.⁷² Bei Blumen­ berg ist das anfängliche Dilemma Anstoßgeber und Blockade allen Anfangens.

Proust (lesen) Es läge nun nahe, Prousts ‚Recherche‘ als einen beispielhaften Anwendungsfall aufzufassen. Allerdings stellt dieser Romananfang die Problematik nicht nur – in einem illustrativen Sinn – dar, sondern erst aus.⁷³ An ihm bietet sich das Dilem­ ma des Anfangs dar, weil er es zugleich ausstellt und ersetzt. Blumenbergs Lektüre setzt exakt an der Stelle einer metaphorischen Bewegung an, dort also, wo sich im Text wiederholt, was der Text an diesem Punkt bereits vollzogen haben muss. Seiner formalen Tendenz nach spielt der Text selbst in die Konstellation des Er­ wachens hinein. Bei Proust werden zwei Grenzphänomene figuriert: zwischen Wachen und Schlaf sowie zwischen Schlaf und Erwachen. Aus Blumenbergs Perspektive lässt

72 J. Hillis Miller, Reading Narrative, Norman 1998, 59. 73 Prousts Roman tut dies auch insofern, als sich darin eine ebenso ab- wie fortsetzende Diffe­ renzierungsbewegung innerhalb der Gattung ankündigt. Für diesen Zusammenhang ist die von Blumenberg in der Anm. 1 (H, 15) angeführte Referenz auf die wenigen Seiten von Felix Philipp Ingold, „Auf der Suche nach einem Anfang für ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘“, in: Akzente 30,5 (1983), 385–388, die übrigens unmittelbar vor dem kurzen Blumenberg-Text „Wolf und Lamm“ erschienen sind, von entscheidender Bedeutung. Ingold übersetzt darin eine Rei­ he von Fragmenten, die Claudine Quémar für eine textkritische Edition in ihren verschiedenen Entwurfsstadien aufgearbeitet hat. Er lässt seinen Text mit einem Zitat aus dem kritischen Kom­ mentar schließen. Man könne, so Quémar, „die tastende Erfindung einer originalen Erzählform mitverfolgen, wie sie sich aus dem Schreibvorgang selbst ergibt: die Entstehung eines Werks, das, obwohl aus einem Essay zur Ästhetik hervorgegangen, kein Essay, sondern ein Roman geworden ist; ein Roman allerdings, der sich vom traditionellen Roman – vom Roman, wie man ihn zu­ vor praktizierte – grundsätzlich unterscheidet und dennoch etwas von einem Essay an sich hat“ (zit. n. Ingold, Auf der Suche nach einem Anfang, 388). Deswegen gerät Prousts Romanbeginn – in der Logik des Blumenbergschen Textes – in eine Strukturanalogie zum Aufkommen der Gat­ tung selbst. Textkritisch betrachtet tritt die wiedergewonnene Welt aus einem ästhetisch-theore­ tischen Diskurs hervor und verschwindet, indem sie sich davon entfernen muss, aufs Neue darin. Mit der Pointe, dass sich Quémar zur Beschreibung der „Erfindung einer originalen Erzählform“ einer Metaphorik bedient, die unverkennbar dem Roman selbst entnommen ist.

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sich dem Beginn der ‚Recherche‘ entnehmen, dass die Möglichkeit einer sauberen Grenzziehung bezweifelt werden muss – nicht, weil es sich jeweils um einen flie­ ßenden Übergang handelte, sondern weil der Übergang als Übergang unerlebbar ist. Das Argument zielt auf das dem Bewusstsein Unzugängliche. Der erste Satz in direkter Rede bei Proust – ‚Jetzt schlafe ich ein‘ – sei paradox, weil das in die­ sem Indikativ Präsens nicht sinnvoll ausgesagt werden könne (H, 15). Auch für das Erwachen könne ein solcher Satz nicht gesagt werden. Das Erwachen ist kein Übergang aus dem Schlaf, sondern Heraustreten aus einer Unbestimmtheit, die weder Schlaf noch Wachen ist. Der Schlaf kann dadurch als ein geradezu paradie­ sischer Grenzwert interpoliert werden, als unerreichbarer „Zustand des weltlosen und darum reinen Einklangs mit sich selbst“ (H, 18). Im notwendigen Heraustre­ ten aus der Unbestimmtheit wird das Herausgetreten-Sein aus dem Zustand un­ möglicher Selbst-Unmittelbarkeit greifbar. Diese Konstruktion ist es, für die bei Proust eine Metapher steht: „Anfang, wie er hier genommen wird, ist Ausgang. Ausgang aus dem Zustand der Abwesenheit von Welt, der nicht festgehalten wer­ den kann, in dem sich nicht leben läßt, obwohl das Leben in ihm ‚aufzugehen‘ scheint. Dies ist genau die ‚Stelle‘, für die Proust nach der Metapher der Höhle greift.“ (H, 18) Die ‚Stelle‘, auf die im zweifachen Sinn angespielt wird, gibt nicht im strengen Sinn und sofort eine Metapher zu erkennen: Aber es genügte, daß in meinem eigenen Bett mein Schlaf besonders tief war und meinen Geist völlig entspannte; dann ließ dieser den Lageplan des Ortes fahren, an dem ich ein­ geschlafen war, und wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wußte ich nicht, wo ich mich befand, ja im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war: ich hatte nur in primitivster Form das bloße Seinsgefühl, das ein Tier im Innern verspüren mag: ich war hilfloser ausgesetzt als ein Höhlenmensch [„j’étais plus dénué que l’homme des cavernes“] [. . . ].⁷⁴

Das Aufwachen steht zusammen mit einer substantiellen Unwissenheit und ei­ nem primitiven Seinsgefühl. Worauf es ankommt, ist eine Differenz, die sich an einer Übersetzungsmodifikation Blumenbergs verdeutlichen lässt. In seiner Para­ phrase übersetzt er „Unwissenheit des Erwachens“⁷⁵ – „l’ignorance du réveil“ –⁷⁶ mit „Ungewißheit des Aufwachens“ (H, 18). Das bringt „ignorance“ in Opposition zum ‚guten Engel der Gewißheit‘, aber vor allem bezieht sich der Ausdruck dann auf das Erwachen selbst. Es ist nicht um das Nicht-Wissen von Ort und Identität zu tun, sondern darum, dass dieses Erwachen seinerseits – für den Erwachen­

74 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1: In Swanns Welt, übers. v. Eva Rechel-Mertens, Frankfurt am Main 2000, 12 sowie Marcel Proust, À la recherche du temps perdu. Du côte de chez Swann, Paris 1988, 5. 75 Proust, Swanns Welt, 16. 76 Proust, Du côte de chez Swann, 8.

4.3 Statt eines Anfangs: Höhlenausgänge (Proust) |

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den – ungewiss ist. Das wäre nur durch eine Perspektive von außen zu beheben, die das Erleben verstellen würde. Die Dimension des Erlebens wiederum bedarf bei Proust des Hinweises auf das Tier, eines Registerwechsels in der Beschreibung, die äußerliche Vermutung bleiben muss („das ein Tier im Innern verspüren mag“). Beide Register, Wissen und Erleben, werden in Prousts Satz als unzureichend aus­ gestellt. Das, was dann folgt, ist Metapher zunächst nur deswegen, weil es dem Dilemma mit einer katachrestischen Substitution begegnet, die die Form eines ir­ ritierenden Vergleichs hat: entblößter („plus dénué“) als ein Höhlenmensch zu sein. Die Akzentuierung der Schutzlosigkeit lässt sich auf den Zusammenhang von Sichtbarkeit und Betreffbarkeit beziehen, wie er in Höhlenausgänge an ver­ schiedenen Stellen umrissen (vgl. H, 55–63) und in Beschreibung des Menschen (2006) ausführlich diskutiert wird.⁷⁷ Die argumentative Konstellation legt nahe, dass das Metaphorische nun auf zwei Ebenen diskutiert wird. Bei Proust ist die Selbstgegenwart des Bewusstseins auf Distanz gehalten, was der Erinnerung den Einstieg bietet: „Gewinn ist nicht die Gegenwärtigkeit der Welt [. . . ], Gewinn ist der Anstoß der Erinnerung durch das Erlebnis des Unwirklichgewordenseins der Unmittelbarkeit: le branle était donné à ma mémoire . . . “ (H, 18). Die Erinnerung unterhält eine Beziehung zur Metapher, weil sie ‚Gegenwart‘ überspringt: „ohne Übergänge durch die Gegenwart die Anamnesis“ (H, 19). Von hier aus lässt sich der Titel des Essays – „Erinnerung an den Anfang“ – als Ellipse lesen: Die Erinnerung ‚rückt‘ an den Anfang, indem sie ihn verstellt, ihm keine Gegenwärtigkeit zugesteht. Sie zieht, indem sie in eine Leere einspringt, aus einer ‚Höhle des Nichts‘ (Baltasar Gracián) heraus,⁷⁸ aus der Unmöglichkeit der Selbstunmittelbarkeit. „Anfang, wie er hier genommen wird, 77 Vgl. Abschnitt 5.1. 78 Prousts Satz schließt folgendermaßen: „[. . . ] ich war hilfloser ausgesetzt als ein Höhlen­ mensch; dann aber kam mir die Erinnerung – noch nicht an den Ort, an dem ich mich befand, aber an einige Stätten, die ich bewohnt hatte und an denen ich hätte sein können – gleichsam von oben her zu Hilfe, um mich aus dem Nichts zu ziehen, aus dem ich mir selbst nicht hätte heraushel­ fen können; in einer Sekunde durchlief ich Jahrhunderte der Zivilisation, und aus vagen Bildern von Petroleumlampen und Hemden mit offenen Kragen setzte sich allmählich mein Ich in seinen originalen Zügen wieder von neuem zusammen“. Proust, Swanns Welt, 12 [meine Hervorhebung, A.W.]. Auf Graciáns „Höhle des Nichts“ geht Blumenberg u. a. im IX. Kapitel der Lesbarkeit der Welt im Zusammenhang mit dem Aspekt der ‚Entzifferung‘ ein. Der Zusammenhang von Entziffe­ rung, Lesbarkeit und Lektüre kann hier nicht entwickelt werden, sei aber als Problem markiert. Im Kapitel „Die Inselhöhle“ wird die Gracián-Referenz in Höhlenausgänge aufgegriffen und auf Platon bezogen: „Die Cueva de la nada ist, verglichen mit der platonischen Höhle, so etwas wie deren Übertreibung: Sobald man die Transzendenz der Urbilder ins Unerreichbare steigert und damit ihre Differenz zu den Abbildern unendlich macht, wird sie zum Ort der völligen Nichtigkeit dessen, was sich noch als Abbild oder Schatten darstellen könnte“. H, 463. Auch hier ist es eine ins Unendliche kippende Unerreichbarkeit, die das Höhlengleichnis gewissermaßen ‚sprengt‘.

206 | 4 Lektüre – „Ansatz von oder zu Theorie“

ist Ausgang“ (H, 18). An dieser Stelle hinzugezogen, wird die Höhlenmetaphorik zu ihrer eigenen Metapher.⁷⁹ Die Gemeinsamkeit von Romanbeginn und Metapher liegt darin, dass Wirklichkeit in Distanz gerückt, diese Distanzierung aber unaus­ weichlich ist.

Das Lesen als Argument „Alles, was die Imagination der Höhle je hatte leisten können, ist hier [bei Proust] beieinander für eine Aus- und Aufstiegsgeschichte zum Ganzwirklichen hin, das mit dem alliiert ist, was Plato genau an dieser Stelle, in seinem Höhlenmonu­ ment, vergessen haben sollte: mit der Erinnerung.“ (H, 19) Die Frage nach dem Anfang ist jetzt bereits mehrfach zurückgestuft und in eine gänzlich andere Frage überführt. An der ‚Recherche‘ hebt Blumenberg den Aspekt hervor, der eine kri­ tische Relektüre von Platons Höhlengleichnis und zugleich die Eintragung eines Stücks Literatur in die Phänomenologie erlaubt. Hergestellt wird dieses Verhältnis durch die Suspendierung eines stabilen Wirklichkeitsverhältnisses. Anstatt den Anfang als Thema zu behandeln, stellt der Text eine Lektürekonstellation aus, in der das Anfangen bereits problematisch geworden ist. Blumenbergs Essay ist in einer mehrfachen Rückfaltungsbewegung organisiert. Je weiter sich der Argu­ mentationsgang von seinem Ausgangspunkt entfernt, desto fraglicher wird der Akt seines eigenen, zumal stark thesenhaft inszenierten Begonnenhabens. „Eine Interpretation des Höhlengleichnisses muss nicht nur deuten, was da­ steht, sondern auch ankreiden, was nicht dasteht“ (PM, 48, Anm. 54). Blumen­ bergs Anti-Hermeneutik, auf sich selbst zurückgewendet, lässt fraglich werden, warum eine andere, nicht weniger einschlägige Proust-Stelle in Höhlenausgänge keine Erwähnung findet: In ihren komplex organisierten Verhältnissen von Innen und Außen, Geräusch und Stille, hell und dunkel stellt die Leseszene in „Com­ bray“ – die ‚tatsächliche Wiederkehr‘ einer entrückt bleibenden Gegenwart, die Gebundenheit der „Phantasie“ an den abgeschatteten Raum, das Heraustreten „ins Freie“ durch einen sanften äußeren Druck, die erneute Umschließung durch eine improvisierte „Hütte“ – die paradigmatische Konfiguration des Höhlenaus­ gangs.⁸⁰ Das sofort wieder zurückgestufte Hervortreten ins Freie ist um die Fortset­ zung des Lesens herum organisiert. Anhand dieser Szene hat Paul de Man den Akt des Lesens als dasjenige erwiesen, zu dem ein Zugang stets verstellt ist, das bereits

79 Das entspricht der mit Leszek Kołakowski herausgestellten Tendenz des Höhlenmythos selbst: „daß der Höhlenmythos nicht nur die Weltlage des Menschen im ganzen vorführt, son­ dern auch eine Darbietung der Funktion des Mythos selbst enthält“. H, 56. 80 Vgl. Proust, Swanns Welt, 114–115.

4.4 Die Textkonstellation als Argument (Plotin)

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eine Abweichung einschließt.⁸¹ Statt eines Anfangs, der das Anfangen problema­ tisiert, steht zu Beginn von Höhlenausgänge eine Lektüre, die sich dadurch aus­ zeichnet, ihrerseits nicht adressierbar, aber zwingend gewesen zu sein. Ihr setzt eine im und als Text mit dargebotene Unmöglichkeit den Takt, der nur lesend auf die Schliche zu kommen ist. Die These zur dilemmatischen Substitution der Meta­ pher für die Undenkbarkeit des Anfangs lässt sich als Effekt des Verfahrens lesen. Die Unverfügbarkeit des Lesens mischt sich ein in das Argument.

4.4 Die Textkonstellation als Argument in Paradigmen zu einer Metaphorologie (Plotin) In Hans Blumenbergs Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960) ist das Para­ digma X Kreis- und Kugelmetaphoriken gewidmet. Dazu erschließt Blumenberg ein Diskussionsfeld von Pythagoras bis Nietzsche. Innerhalb dieses Feldes ver­ mitteln die Schriften des Neuplatonikers Plotin zwischen den antiken Fundstel­ len und der negativen Theologie des Spätmittelalters.⁸² Bei Plotin findet sich, das behauptet der Text, eine „genaue Darstellung der Funktion der ‚absoluten Meta­ pher‘“ (PM, 173). Die Darstellung dieser Darstellung geht mit der argumentativen Vorbereitung auf das „Verfahren des Ent-Bildens“⁸³ einher, das jeder Metapher als Potential innewohnt⁸⁴ und sich aus der anhand von Nikolaus von Kues’ Die belehrte Unwissenheit (1440) gefundenen „Sprengmetaphorik“ (PM, 176) ableiten lässt. Damit verbindet sich eine Problematisierung der methodologischen Heran­ gehensweise selbst. Die These dieses Abschnitts ist, dass die Text- bzw. Leselektü­ rekonstellation, in der diese „genaue Darstellung“ gefunden wird, das Dargestel­ let vorwegnimmt. Das Verfahren kommt der Darstellung der ‚Funktion der Meta­ pher‘ nicht von außen hinzu, sondern es ‚ist‘ bereits diese Funktion. Der mit Plotin

81 de Man, Lesen (Proust). Er folgert: „Alles in diesem Roman bezeichnet etwas anderes als das, was es darstellt [. . . ]: das Gemeinte ist stets etwas anderes. Man kann zeigen, daß der angemesse­ ne Ausdruck, dieses ‚etwas andere‘ zu bezeichnen, LESEN ist. Aber man muß gleichzeitig ‚verste­ hen‘, daß dieses Wort ein für allemal den Zugang zu einer Bedeutung sperrt, die dennoch immer danach verlangt, verstanden zu werden.“ de Man, Lesen (Proust), 111. 82 Kritisch zu Blumenbergs Neuplatonismus-Rezeption: Brient, The Immanence of the Infini­ te, 53–57. 83 Mariele Nientied, „‚die gleychnuß alle zerbrechnn‘. Sprengmetaphern bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues“, in: Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie, hg. v. Anselm Haverkamp und Dirk Mende, Frankfurt am Main 2009, 181–202, hier: 195. 84 Vgl. Dirk Mende, „Vorwort. Begriffsgeschichte, Metaphorologie, Unbegrifflichkeit“, in: Meta­ phorologie. Zur Praxis von Theorie, hg. v. Anselm Haverkamp und Dirk Mende, Frankfurt am Main 2009, 7–32, hier: 22.

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aufgerufene Kontext gilt daher nicht zufällig dem Problem der Mimesis. Es lässt sich zeigen, dass die an der Bewegung der Mimesis abgelesene Verschränkung von Unmöglichkeit und Notwendigkeit, die als Struktur der absoluten Metapher erkannt wird, letztlich in eine Nähe gerät zur Unmöglichkeit und Notwendigkeit der Lektüre.⁸⁵

Ansatz in der Rezeptionsgeschichte Eine für die Diskussion des katachrestischen Charakters der absoluten Metapher einschlägige Passage findet sich auf den letzten Seiten der Paradigmen: „Die ab­ solute Metapher [. . . ] springt in eine Leere ein“ (PM, 188–189). Die derart besetzte „Leere“ ist jedoch kein zitierfähiges Resultat der Untersuchung, sondern ein Zwi­ schenergebnis. Die Lektüregänge, aus denen es gewonnen wurde, bleiben mitprä­ sent. Dies schlägt sich etwa in dem Einschub nieder, der das Resümee unterbricht: „Die absolute Metapher, so sahen wir, springt in eine Leere ein“ (PM, 188–189). In Detailvergrößerung wurde das an zwei Abhandlungen Plotins ‚gesehen‘, nämlich „Über die Himmelsbewegung“ und über den „Ursprung des Schlechten“. Anders als es Blumenbergs Überschrift „X. Geometrische Symbolik und Metaphorik“ na­ helegt, lässt sich dieses Moment nicht sofort in Plotins Rückgriff auf ein geome­ trisierendes und deswegen metaphorisierendes Beschreibungsinventar fassen; es soll vielmehr eine Struktur erschlossen werden, die sich an diesen Rückgriffen ab­ lesen lässt. Die textuelle Formation, in der das entwickelt wird, ist vorgeprägt durch Diet­ rich Mahnkes „vorbildliche[. . . ] Monographie“ (PM, 165) Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik (1937).⁸⁶ Mahn­ ke will einen „Stammbaum“ geometrischer Symbole ermitteln, und zwar von der Romantik über die religiöse und metaphysische Mystik des Barock bis zurück zur griechischen Philosophie.⁸⁷Damit werde, so seine Einleitung, zwar nur ein „bloßes Gerippe der lebendigen Geistesgeschichte“ erarbeitet, das aber „dennoch nützli­ ches Schema“ sein könne, um in einem „vielverschlungenen Rankenwerk“ feste „Grundlinien sichtbar“ zu machen.⁸⁸ Dass Mahnke von ‚Symbolen‘ handelt, ist für die Anlage von Blumenbergs Fragestellung zentral, insofern der Übergang zwi­

85 Zu dieser Verknüpfung im lektüretheoretischen Kontext sowie zu ihren Bezügen zu Immanuel Kant, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schlegel: Martyn, Unmögliche Notwendigkeit. 86 Erstmals erschienen in der von Erich Rothacker herausgegebenen Deutschen Vierteljahrs­ schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Vgl. Abschnitt 3.1. 87 Dietrich Mahnke, Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, 2. 88 Mahnke, Unendliche Sphäre, 2.

4.4 Die Textkonstellation als Argument (Plotin)

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schen Symbol und Metapher in den Blick genommen werden soll. Der Zuschnitt der metaphorischen Funktion wird deutlich von der symbolischen abgesetzt.⁸⁹ Mahnkes Schrift bildet nicht nur einen wesentlichen Teil des ‚Materialgerip­ pes‘ von Blumenbergs Untersuchung, sondern dient auch als Interpretationsan­ gebot, von dem sich der metaphorologische Ansatz abhebt. Auf ein ähnliches Verfahren stützt sich die spätere Studie Die Lesbarkeit der Welt (1981) mit ihrer Kritik an Ernst Robert Curtius und Erich Rothacker.⁹⁰ Auch in der mit Plotin aufge­ nommenen Problemlage wird die argumentative Umschlagstelle in dem erkannt, „was Mahnke [. . . ] entgangen ist“, nämlich eine schon bei Plotin erschließba­ re Selbstauflösung der metaphorischen Struktur. Die Möglichkeit einer solchen Selbstauflösung sei für ihr Funktionieren jedoch wesentlich (vgl. PM, 175, Anm.

89 Um den Stellenwert dieser Analyse zu ermessen, muss man noch einen Schritt weiter zurück­ gehen. Die Frage nach der Differenz zwischen Symbol und Metapher ist ein Übertrag aus dem vor­ anstehenden Paradigma IX „Metaphorisierte Kosmologie“, und zwar aus der Besprechung von Bernard le Bovier de Fontenelles Entretiens sur la Pluralité des Mondes (1686). Fontenelles Deu­ tung der Geozentrik als Idee der Eitelkeit der Menschen mache das vorkopernikanische Kosmos­ bild zu einem Symbol, dessen Zerschlagung moralistisch-aufklärerisch begrüßt werde, während die „Metaphorisierung der Geozentrik durch die Stoa“ (PM, 164) einen für das Projekt weitaus einschlägigeren Charakter erhält. ‚Symbol‘ wird nun in einem anderen Sinn verwendet als zu Be­ ginn. Dennoch bleibt Kants ‚Symbol‘ aus dem § 59 der Kritik der Urteilskraft (vgl. Abschnitt 2.4), das zur Entwicklung der metaphorologischen Fragestellung herangezogen wird, impliziter Refe­ renzpunkt. Das letzte Paradigma verbindet also, wie Haverkamp herausstellt, „das kosmologi­ sche Hintergrundthema, das die M[etaphorologie] als ganze bewegt und den Begriff der Neuzeit prägt, mit der Einführung eines Begriffs, des Symbols, dessen Unterscheidung bei Kant bereits anklang, zunächst aber abgewehrt wurde“. Haverkamp, Stellenkommentar, 443. Entsprechend geht es um eine Binnendifferenzierung, die nach „symbolischen und metaphorischen Funkti­ onsmomenten“ innerhalb des Symbolbegriffs Kants trenne. Während Kants Symbole „ziemlich genau den hier weiterhin geübten Gebrauch von ‚Metapher‘ decken“ (PM, 15) sollen, Blumen­ berg aber am Ausdruck ‚Symbol‘, weil dieser „überlastet“ und schon überreich schattiert sei, nicht festhalten will, wird damit jetzt ein reduktives Moment verbunden. Das Symbol homoge­ nisiere, lasse zum Bild erstarren, sei auf ein schon als gegeben Vorausgesetztes bezogen („Pro­ jektion eines [. . . ] schon gegebenen Sachverhalts“, PM, 164). Es sei ein „Rückstand mythischen Denkens“. Haverkamp, Stellenkommentar, 449. Zur Abgrenzung zum Goetheschen Symbolbe­ griff, wie Blumenberg ihn in Arbeit am Mythos diskutiert, sowie zur Allegorie vgl. Haverkamp, Stellenkommentar, 447–448. Die Metapher hingegen ist nicht mehr auf ein Gegebenes bezogen, dem sie nachgeordnet ist. Und anders als das Symbol ist sie „zur Bewegung fähig, kann Bewe­ gung darstellen“. PM, 174. Blumenbergs Begriff für das ‚Mehr‘ ihrer „Ausdrucksfunktion“ gegen­ über dem Symbol ist „Gehalt“. Für die Frage nach dem ‚Übergang von Symbol und Metapher‘ ist Plotin deswegen eine zentrale Referenz, weil sich in seinen Schriften beide „Funktionsmomente“ überlagern. Plotins Platon-Mißverständnis, „das die metaphorische Funktion zur symbolischen reduziert“ (PM, 166) und das zu Beginn des Paradigmas einleitend ausgeführt wird, hängt mit dem theoretischen Ertrag eng zusammen. 90 Vgl. Abschnitt 3.1.

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199). Blumenbergs Relektüre Plotins greift eine andere Relektüre Plotins auf. Die­ se wiederum versteht sich als Kommentar zu einer noch früheren, nämlich hu­ manistischen Kommentierung. Die Notwendigkeit der erneuten Lektüre schreibt sich von vergangenen Lektüren her.⁹¹ An diesem Komplex Fontenelle-Kopernikus-Kant-Mahnke-Cusanus zeigt sich etwas für Blumenbergs Schreiben insgesamt Charakteristisches: Die „genaue Dar­ stellung der Funktion der ‚absoluten Metapher‘“ (PM, 173) bei Plotin lässt sich allein in dieser konstellativen Spannung begründen, in ständig zu scheitern dro­ henden Abgrenzungen: der Metapher zum Symbol, der Metaphorologie zu dem, was der Metaphorologie nur ähnelt, wie das Projekt Mahnkes, sowie mit Blick auf das Scheitern selbst (Sprengmetaphorik).

Wie sprechen über die Metapher? (Derrida) Diese Schwierigkeit lässt sich mithilfe eines Seitenblicks auf Jacques Derridas Analyse in „Der Entzug der Metapher“ (1978) genauer beschreiben.⁹² Derrida be­ merkt zunächst, dass das ‚Sein‘ in der Geschichte der Metaphysik im Sinne einer Verschiebung oder eines Entzugs gedacht worden sei. „Das Sein ist Vorenthalt, hält an sich, verweigert sich, entzieht sich in einer Bewegung des Entzugs“. (Plo­ tins Monismus ist dafür ein schillerendes Beispiel.) In diesem Entzug unterliege das Sein „einer metaphorisch-metonymischen Verschiebung“. Der Metaphern­ begriff, den sich, gemäß Derridas Position, die Metaphysik gebildet hat, kommt nicht nur innerhalb dieser Konfiguration auf, sondern er entspricht ihr. Nun gerät die Metaphysik jedoch selbst unter die Herrschaft dessen, was sie, im Doppel­ sinn, bestimmen will. Wenn das Sein derart als ein sich Entziehendes gedacht ist, besteht die Geschichte der Metaphysik zunächst in nichts anderem als in einer „Reihe von verflochtenen Weisen, Wendungen, Modi, will sagen: von tropischen Figuren [‚figures et allures tropiques‘]“.⁹³ Diese ‚Wörter‘ (Figur, Wendung etc.) stehen aber bereits in ‚tropischem Zusammenhang‘. Insofern die Metaphysik mit dieser Geschichte zusammenfällt, lässt sie sich aus diesem Geflecht rhetorischer Bewegungen nicht ablösen. Das, was das Sich-Entziehen des Seins denkt, zieht sich selber zurück. 91 Für den Hinweis auf diese Rückbindung danke ich Anna Förster. 92 Diese Rekonstruktion folgt: Georg Christoph Tholen, „Die Différance und das Politische. Eine Spurenlese zum Früh- und Spätwerk Jacques Derridas“, in: „Die Zukunft gehört den Phantomen“. Kunst und Politik nach Derrida, hg. v. Artur R. Boelderl und Monika Leisch-Kiesl, Bielefeld 2018, 361–404. 93 Jacques Derrida, „Der Entzug der Metapher“, in: Romantik. Literatur und Philosophie. Inter­ nationale Beiträge zur Poetik, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt am Main 1987, 317–355, hier: 337.

4.4 Die Textkonstellation als Argument (Plotin)

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Die Metaphysik hätte nicht bloß den Begriff der Metapher gebildet und behandelt [. . . ]; im Hinblick auf das Sein oder das Seinsdenken wäre sie selbst bereits in tropischer Situation. Die Metaphysik als Tropik, genauer: als metaphorischer Umweg, würde einem wesentlichen Entzug des Seins entsprechen.⁹⁴

Für das Denken des Seins gilt also das gleiche wie für das Sein selbst. Es ent­ spricht „einem wesentlichen Entzug“, kann sich nur verhüllt geben, „sich nicht offenbaren, nicht zeigen“. Die tropischen Bewegungen, in die, so spitzt Derrida weiter zu, die Metaphysik eingelassen ist, versucht sie in einer Generalmetapher („einer großen Metapher des Seinsdenkens“) zu versammeln und derart auf Ab­ stand zu halten. „Diese Sammlung ist die Sprache der Metaphysik.“⁹⁵ Wenn das der Fall wäre, dann unterläge ‚alles‘ dieser Metapher. Der durchgängige Konjunk­ tiv, in dem Derrida formuliert, zeigt an, dass dies nur unter Vorbehalt gilt, und dieser Vorbehalt ist die Voraussetzung des Begriffs der Metapher selbst. Textper­ formativ wird diese Voraussetzung als Umschlag in den Indikativ befragt: „[E]s würde geschehen, daß man auf sie [die Metapher, A.W.] verzichten müßte, ohne auf sie verzichten zu können; das macht die Struktur des Entzugs und des doppel­ ten Zugs, der ‚retraits‘, die mich hier interessieren, aus.“⁹⁶ Derrida hebt daher die Notwendigkeit eines weiteren Entzugs, einer weiteren Faltung hervor. Mit diesem Entzug des Entzugs wird das strikte Gegenüber von ‚eigentlich‘ und ‚uneigentlich‘, ‚metaphysisch‘ und ‚metaphorisch‘ aufgehoben. Man wird immer quasi metaphorisch [über das Sein] reden müssen, aufgrund einer Meta­ pher der Metapher mit der hinzukommenden Determinierung, der zusätzlichen Belastung, eines supplementären Zuges, eines doppelten Zuges (‚re-trait‘), einer supplementären Me­ taphern-Faltung, die auf den doppelten Zug verweist und die intra-metaphysische Metapher wiederholt und verschiebt, jene Metapher, die der Entzug des Seins ermöglicht haben wird.⁹⁷

Georg Christoph Tholen hat an diesem zusätzlichen, meta-metaphorischen und selbst nicht mehr einholbaren Zug das eröffnende Moment in der Differenz be­ tont: „Es gibt das Meta-Phorein als auf-reißenden Einschnitt, als unendlich-end­ liche Übertragung oder Übertragbarkeit. Dieser Einschnitt oder Zwischenraum, der die jeweilige Nähe von Erscheinungen stiftet, kann jedoch [. . . ] nicht vertraut, heimisch oder anwesend gemacht werden.“⁹⁸ Zur Disposition stehe der „an sich selbst uneigentliche Spielraum von ‚Als-Ob‘-Bestimmungen“,⁹⁹ eine allem Meta­ 94 95 96 97 98 99

Derrida, Entzug der Metapher, hier: 337. Derrida, Entzug der Metapher, 338. Derrida, Entzug der Metapher, 338 [meine Hervorhebung, A.W.]. Derrida, Entzug der Metapher, 338. Tholen, Die Différance und das Politische, 381. Tholen, Zäsur der Medien, 52.

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phorischen vorgängige und es doch fortwährend zerteilende, verschiebende und dislozierende Bewegung bloßer „Metaphorisierbarkeit“.¹⁰⁰ Das ‚Wesen‘ der Meta­ pher am Begriff oder „im Ausgang von der Bestimmung des Seins als eidos“¹⁰¹ zu bemessen – das gilt auch für die klassische Definition der absoluten Metapher bei Blumenberg, insofern sie „nicht ins Eigentliche, in die Logizität“ (PM, 14) rückhol­ bar sein soll – ist reduktiv. Auch die Herauslösung und Privilegierung der Meta­ pher, das Kappen der Verbindung zur Begrifflichkeit, würde nach diesem Muster verfahren. Im doppelten Entzug der Metapher „wiederholt und verschiebt“ sich die „intra-metaphysische Metapher“. Diesen Vorbehalt des Vorbehalts möchte ich für die Relektüre von Blumenbergs Plotin-Analyse mitführen.

Geometrische Metaphorik und Metaphorik überhaupt Der erste von Blumenberg aufgegriffene Plotin-Text beginnt mit einer lakoni­ schen Antwort auf eine großformatige Frage: „Weshalb ‚bewegt sich‘ der Himmel ‚im Kreise‘? Weil er den Geist (Nous) nachahmt.“ [Διὰ τί ϰύϰλῳ ϰινεῖται · ὅτι νοῦν μιμεῖται.]¹⁰² Zwei Fragehorizonte sind hier zusammengeschlossen: die paradig­ matisch leitende Kreisbewegung sowie die bereits mit Blick auf die aristotelische Metapherndefinition aufgenommene Problematik der Nachahmung. Durch eine Binnendifferenzierung in Plotins Text wird die Komplexität dieses Verhältnis­ ses noch einmal gesteigert. Unmittelbar an die Eröffnung schließen sich weitere Fragen an. Ihnen lässt sich entnehmen, dass es um zwei Kreisbewegungen geht. Wenn Plotin fragt: „Und wer vollzieht die Bewegung [des Himmels], Seele oder Körper?“,¹⁰³ soll eine ‚kosmische‘ Bewegung durch eine ‚metaphysische‘, die jene trägt, begründet werden. Das deckt sich mit dem Status, den Plotin den Phäno­ menen im Allgemeinen zubilligt. Es muss, wie Mahnke zusammenfasst, „alles, was in der sichtbaren, diesseitigen Welt noch eine Spur von wirklichem Sein und Wert besitzt, in Wahrheit aus der unsichtbaren, jenseitigen Geisteswelt stammen und dahin auch wieder zurückstreben.“¹⁰⁴ In einer nach Seinsrängen abgestuften Ontologie ist die Seele näher am höchsten Prinzip des ‚Einen‘ als der Körper. Ihre Stellung zwischen Materie und Nous (Verstand, Vernunft, Geist, Sinn), der ers­ ten Sphäre nach dem Einen, lässt sie eine Mittlerrolle einnehmen. Die Weltseele

100 Tholen, Zäsur der Medien, 50. 101 Derrida, Entzug der Metapher, 337. 102 Plotin, „Die Kreisbewegung des Himmels [Plot. Enn. II 2]“, in: Plotins Schriften, Band I, hg. v. Richard Harder, Hamburg 1956, 290–297, hier: 291. 103 Plot. Enn. II 2,1–2. 104 Mahnke, Unendliche Sphäre, 216.

4.4 Die Textkonstellation als Argument (Plotin)

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kann den Körper dynamisieren, gerade indem sie zu Höherem, zu einem von aller Körperlichkeit Abstrahierten strebt. Blumenbergs These ist, dass die mit der Weltseele in Verbindung gebrachte und dabei in Bezug auf den Nous mimetische Bewegung, die bei Plotin den Lauf der Gestirne bestimmt, die ‚Struktur der Metapher‘ in gewisser Weise vergegen­ ständlicht. Nicht also die Metapher im Text, sondern die metaphorische Bewe­ gung des Textes ist hier wesentlich. Als Denker der maximalen Transzendenz und Unüberbietbarkeit des Einen wird Plotin zu einem Kronzeugen der absoluten Me­ tapher. Die im Paradigma X entwickelte Fragestellung zielt auf den „ganze[n] Hori­ zont der antiken Kreismetaphorik“, wie ihn Blumenberg in Plotins Schrift über die Himmelsbewegung „in zum Teil kryptischen Anspielungen gegenwärtig“ (PM, 171) findet. Um für die Struktur der Metapher einstehen zu können, muss der Text bereits auf Metaphern zurückgreifen können. Das lässt sich nicht auf eine entwicklungsgeschichtliche Pointe reduzieren. Dietrich Mahnke hingegen sieht in Platon und Aristoteles die „unterirdischen“ „Hauptwurzeln“ des gesuchten ‚Stammbaums geometrischer Mystik‘.¹⁰⁵ Plotin schreibt er zu, „den eigentlichen Anfang unseres Stammbaums“ zu bilden.¹⁰⁶ Wenn diese organische Verbindung bei Blumenberg nun gekappt, weil stattdessen die komplexere Figur der ‚Rein­ skription‘ gesetzt wird, ist die Stammbaummetaphorik nicht zu halten. In einer Nebenlinie geht es also erneut um die, hier an Mahnkes ‚vorbildlicher Monogra­ phie‘ mitbesprochene Frage, wie sich das Problem überhaupt aufnehmen lässt. Deswegen ist Derridas Beobachtung so entscheidend, dass es keine „Abhandlung (traité) über die Metapher“ gebe, „die nicht ihrerseits einer metaphorischen Be­ handlung (traité avec) unterworfen wäre“.¹⁰⁷ Gleichzeitig gibt es einen zentralen Unterschied: Anstatt ‚über‘ Metaphern ‚im‘ Text zu handeln, diskutiert Blumen­ berg ‚mit‘ Texten, ‚an‘ und ‚in‘ textuellen Konstellationen, was sich mit ausstellt, wenn Totalhorizonte wie Kosmos, Welt oder Sein zum Thema werden. „Die Meta­ pher im philosophischen Text“ (Derrida) ist demnach überhaupt nicht das erste Problem. Die Kreisbewegung des Himmels ist Nachahmung des Nous, insofern dieser in einem Verhältnis der Selbstbezüglichkeit steht. Seine „Bewegung“ setzt sich da­ bei aus Stillstand und Bewegung gleichermaßen zusammen. Die einschlägigen Schlusszeilen lauten in der Übersetzung von Richard Harder: „[E]r steht still und bewegt sich doch, nämlich um sich selbst. So bewegt sich also auch das All und

105 Mahnke, Unendliche Sphäre, 223–225. 106 Mahnke, Unendliche Sphäre, 69. 107 Derrida, Entzug der Metapher, 318.

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steht doch zugleich still.“ [῞Ε]στηϰε γὰρ ϰαὶ ϰινεῖται. περὶ αὐτὸν γάρ. οὕτως οὖν ϰαὶ τὸ πᾶν τῷ ϰύϰλῳ ϰινεῖσϑαι ἅμα ϰαὶ ἕστηϰεν.]¹⁰⁸ Blumenberg zitiert Harders Fassung nicht, sondern lässt den griechischen Text zusammen mit der lateini­ schen Übersetzung von Marsilio Ficino stehen. In Bezug auf die Untersuchung von Mahnke ist das interessant, denn Mahnke hatte sich dem Neuplatonismus über Ficinos Plotin-Rezeption genähert und diese als Auseinandersetzung mit Ni­ kolaus von Kues interpretiert.¹⁰⁹ Der Vorgriff auf die cusanische Sprengmetapho­ rik innerhalb von Blumenbergs Plotin-Analyse findet sich in dieser Entscheidung wieder. Ficino übersetzt das περὶ αὐτὸν γάρ (bei Harder: „nämlich um sich selbst“) mit „nam reflectitur in se ipsum“.¹¹⁰ Der Stellenkommentar gibt die Stelle wie­ derum mit „als ‚spiegelte er sich in sich selbst‘“ wieder.¹¹¹ Im klassischen Latein meint ‚reflectere‘ ‚zurückbeugen, drehen‘ (von ‚flectere‘: biegen, beugen, krüm­ men, drehen). So übersetzt würde die Ficino-Stelle etwas wie „auf sich selbst zurückgebeugt“ anzeigen und damit eine spezifische Drehung meinen. Anders als bei Harder ist dann der Nous gerade nicht sein eigenes Zentrum; anders als in der Spiegelungsmetapher kann die Pointe aber auch nicht in einer symmetrischen Verdoppelung ‚in sich selbst‘ liegen. Von sich ausgehend kann und muss er auf sich selbst zurückgehen. Mit dem ‚reflectere‘ hat Ficino diese Bewegung, die Plo­ tin in der ausführlicheren Abhandlung „Die erkennenden Wesenheiten und das Jenseitige“ deutlicher beschreibt, exakt getroffen. Der Nous, heißt es dort, „denkt seine Beschaffenheit und sein Wesen, er geht aus von seiner eigenen Seinsart und wendet sich auf sich selber zurück [ἑϰ τῆς ἑαυτοῦ φύσεως ϰαὶ ἐπιστρέφων εἰς αὑτόν]; denn wenn er das Seiende sieht, sieht er sich selber.“¹¹² Einerseits ist er dazu befähigt, ‚anderes‘ als sich selbst zu denken, wobei in jedem Gedachten die­ ses Denken präsent bleibt, andererseits kann er sich – im Unterschied zur Seele, der dieses Vermögen nur uneigentlich zukommt – schlechthin selber denken.¹¹³ Der Himmel bewegt sich im Kreis, weil er den Nous in seiner Selbstbezüglich­ keit, die dieser noch im Ausgriff auf anderes erlangt, nachahmt. Mit dem unbe­ 108 Plot. Enn. II 2,2. Dieser Zusammenfall rückt den νοῦς in eine Strukturanalogie zum ‚unbe­ wegten Beweger‘ bei Aristoteles: „Der aristotelische erste Beweger ist unbewegt unter dem Kriteri­ um der physischen Bewegung, deren letztes Prinzip er sein soll; aber er ist zugleich reine ἐνέργεια in theoretischer Tätigkeit, als das sich selbst denkende Denken, als νόησις νοήσεως.“ PM, 171. 109 Vgl. Mahnke, Unendliche Sphäre, 70–72. 110 Plotini Enneades cum Marsilii Ficini interpretatione castigata, De motu caeli, Paris 1855, 60, zit. n. Haverkamp, Stellenkommentar, 453. 111 Haverkamp, Stellenkommentar, 453. 112 Plotin, „Die erkennenden Wesenheiten und das Jenseitige [Plot. Enn. V 3]“, in: Plotins Schrif­ ten, Band V, hg. v. Richard Harder, Hamburg 1960, 119–172, V 3,6 [meine Hervorhebung, A.W.]. 113 „Mithin ist also dieses allesamt eins: Nous, Denken des Nous, gedachter Gegenstand. Ist nun aber das Denken des Nous der gedachte Gegenstand, und der gedachte Gegenstand eben der Nous

4.4 Die Textkonstellation als Argument (Plotin)

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wegten Beweger im Hintergrund ist es Nachahmung einer Variation des höchs­ ten aristotelischen, noch nicht des höchsten plotinischen Prinzips des Einen. Die Kreisbewegung ist Nachahmung nur in einem spezifischen und zugleich nicht mehr räumlichen Sinn. Noch einmal Plotin: Nun, vielleicht ist die Kreisbewegung des Himmels gar nicht räumlich; oder wenn, nur ak­ zidentiell. Welcher Art ist sie aber dann? Eine Bewegung zu sich selbst, eine Bewegung der Selbstwahrnehmung und des Selbstbewußtseins und des Lebens, die niemals nach außen und zu einem andern geht, denn sie muß alles umfassen. Denn das Lenkende im Organis­ mus hat die Funktion, ihn zu umfassen und zu einer Einheit zu machen.¹¹⁴

Zwar wird hier lediglich nach der Art der Bewegung gefragt, aber aufgegriffen ist damit die zu Beginn gestellte Frage nach dem Agens („Und wer vollzieht die Bewegung, Seele oder Körper?“). In der gegebenen Antwort sieht Blumenberg die Struktur der Weltseele – als eine Art zum Irdischen gewandte Über-Seele – beschrieben. So wie der Nous nicht zur reinen Selbstunmittelbarkeit befähigt ist, wohl aber zur reinen Selbstbezüglichkeit, ist die Weltseele wiederum nur zur Nachahmung solcher Selbstbezüglichkeit disponiert: „indem sie nachahmt, wiederholt sie auf ihrem Niveau: sie umspannt das Ganze zur Einheit, bringt es zu sich selbst.“ (PM, 172) Der Himmel bewegt sich nicht selbst. Seine Bewegung ist induziert durch die Seele, die zu Höherem strebt. Beide Bewegungen können nicht identisch sein. Die Differenz dazwischen erschließt sich über die Rolle des Körpers. In Verbindung mit dem ‚nur Vielen‘ bildet der Körper in Plotins Emanations­ schema geradezu den Gegensatz zum Sein des Einen. Plotin muss begründen, wie sich der Welt-Körper in einer dem Nous angemessenen Weise bewegen kann, wenn die Bestrebung des Körpers, in seiner Bedingtheit durch die Materie, Abwendung vom Sein, Vielheit und potentielle Sündhaftigkeit impliziert. Dabei versteht er das All (τὸ πᾶν) als einen „mit Seele versehene[n] Leib“; Aufgabe der Seele sei es, den Organismus „zu umfassen und zu einer Einheit zu machen“.¹¹⁵ Für Blumenberg

selber, so wird er folglich selbst sich selber denken. Denn er denkt vermöge des Denkens (und das ist er ja selber); folglich denkt er in beider Hinsicht sich selber, insofern er selbst das Denken ist und insofern er selber das Gedachte ist, eben der Gegenstand, den er im Denken denkt und der er selber ist“. Plot. Enn. V 3,5. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zum obersten Prinzip des metaphysischen Schemas Plotins, wie Susanne Möbuß erläutert: „Im Gegensatz zu dem Einen ist der Nous des Denkens seiner selbst fähig und sogar hierauf angewiesen, ein Zugeständnis, das auf das Erste Eine unmöglich übertragen werden könnte, da es vollständige Präsenz und unmittelbare Selbst-Gegenwart bei sich ist.“ Susanne Möbuß, Plotin zur Einführung, Hamburg 2000, 39. 114 Plot. Enn. II 2,1. 115 Plot. Enn. II 2,1.

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entscheidend ist die Differenz zur reinen Kreisform: Plotin weiche von der „‚na­ türlichen‘ Bewegung“ bei Aristoteles ab, indem dem Körper eine geradlinige Be­ wegung zugeschrieben wird, die von der Seele durch eine wiederum geradlinige Bewegung zum Zentrum gezwungen werden soll; es entstehe „die Kreisbewegung des Himmels als eine aus zwei divergenten geradlinigen Bewegungen ‚gemischte‘ Bewegung“ (PM, 172). Diese Bewegungsstruktur ähnelt der Bewegung der Weltseele selbst. Denn auch sie ist nicht kreisförmig. Zum Beleg führt Blumenberg den Text über den „Ur­ sprung des Schlechten“ an.¹¹⁶ Zwar werde darin der „Urzustand der Weltseele“ als Umkreisen des Nous vorgestellt, aber die Tendenz der Seele liege in der Abwen­ dung vom Nous. So wird sie anfällig für die „Überwältigung“ durch die Materie. Im Schema Plotins muss mit diesem Abfall eine geradlinige Bewegung verbun­ den werden. Gleichzeitig strebt die Seele zurück – in einer erneuten ‚Fluchtbewe­ gung‘. So entsteht eine zweite Kreisbewegung, die nie exakt einen Kreis, eher eine Ellipse oder etwas gänzlich Anderes beschreiben wird. Die Seele gerät in eine Art zweite Mimesis, die sie an sich selbst vornimmt („nicht vollkommen und nicht Erste [. . . ], nur gleichsam ein Schattenbild von jener“).¹¹⁷ Wenn Plotins Schema, wie Blumenberg ausdrücklich vorschlägt, etwas über die Struktur der absoluten Metapher verrät, darf diese zweite Kreisbewegung nicht übersehen werden. Die Analogiebildung zwischen Weltseele und absolu­ ter Metapher lässt vielmehr den Schluss zu, dass auch die absolute Metapher zunächst ihre eigene Bewegung nachahmt: Sie strebt zur reinen Vernunft, wird aber immer wieder, in diesem Fall nicht von der Materie, sondern vom ‚Materi­ al‘ überwältigt. So beschreibt sie einen zweiten Kreis, der dem, den sie um die Vernunft zieht, nur ähnelt. Blumenbergs Interpretation legt diesen zumindest hypothetisch möglichen Zwischenschritt nicht offen. Sie kommt vielmehr zu dem Schluss, dass die Kombination aus geradliniger und kreisförmiger Bewegung „so sehr mit der neuplatonischen Metaphysik verschmolzen [werde], daß sie [die geometrische Metaphorik] fernerhin, wie Mahnke gezeigt hat, in deren Tradition eigentlich zu Hause ist“ (PM, 173).

Zwischen Unmöglichkeit und Notwendigkeit: Metapher und Mimesis Das „eigentlich zu Hause“ wird nachfolgend zum „Ursprung der Tradition“ (PM, 173) der geometrischen Metaphorik gesteigert. Soll das nicht ein anderer 116 Plotin, „Woher kommt das Böse? [Plot. Enn. I 8]“, in: Plotins Schriften, Band V, hg. v. Richard Harder, Hamburg 1960, 200–235, Enn. I 8,4. 117 Plot. Enn. I 8,4.

4.4 Die Textkonstellation als Argument (Plotin)

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Ausdruck für „den eigentlichen Anfang unseres Stammbaums“ ‚geometrischer Metaphorik‘ (bei Mahnke: ‚Mystik‘) sein, muss damit anderes verbunden werden. Der Anfang fällt mit der Metapher zusammen: „Der Ursprung dieser Tradition bei Plotin interessiert uns deshalb hier spezifisch, weil in der Herleitung der Kreisbewegung des Himmels aus der Nachahmung der reinen Vernunft durch die Weltseele die Struktur der Metapher selbst metaphysisch hypostasiert ist.“ (PM, 173) Ein Ausgangspunkt kann das nur sein, insofern sich in der „Herleitung der Kreisbewegung des Himmels aus der Nachahmung“ das Spiel von Ablenkung und einer gegen diese Ablenkung gerichteten Bewegung verbirgt. Da hier ein „entscheidender [. . . ] metaphorologiebegründender Befund“ vor­ liegt, wie der Stellenkommentar verrät,¹¹⁸ lässt sich Blumenbergs Satz strapazie­ ren. Die Struktur der Metapher (nicht die Metapher selbst) ist in der Logik von Plo­ tins Text ‚vergegenständlicht‘, oder, was einen Unterschied machen würde, ‚per­ sonifiziert‘. Diese Materialisierung im weitesten Sinn muss sich auf die Weltseele beziehen, in Plotins Terminologie eine der drei „Hypostasen“ des Seins (das Ei­ ne, der Nous, die Seele), die sämtlich von der Materie scharf abgesetzt sein sollen. Folgende Konstruktion ergibt sich: In dem Aspekt, in dem die Seele nachahmen muss, was sie nie erreichen kann, verdinglicht sich, für Blumenberg, in ihrem Tun ein ansonsten – und eben vielleicht überhaupt – unzugängliches Abstrak­ tum, nämlich die Struktur der Metapher. Was aber vermag Plotins ‚Seelenbewegung‘ zu veranschaulichen, wenn nicht die Notwendigkeit der Veranschaulichung selbst? In der Beschreibung wird eine Anschauung unterlegt für etwas, das sich der Darstellung entzieht, weil es Undar­ stellbarkeit (nicht die Undarstellbarkeit von etwas) immer wieder, indem etwas anderes stattdessen präsentiert wird, abwenden soll.¹¹⁹ Der ‚metaphorologiebe­ gründende Befund‘ liegt vor in der Faltung der ‚Darstellung‘ der absoluten Me­ tapher auf ihre ‚Struktur‘. Blumenberg ist vorsichtig genug, eine solche Faltung oder Wendung (τρόπος) von sich selbst auf sich selbst (ἑϰ τῆς ἑαυτοῦ φύσεως ϰαὶ ἐπιστρέφων εἰς αὑτόν) gerade nicht als Selbstreferenz, Kreis- oder Zirkelschluss lesbar zu machen. 118 Haverkamp, Stellenkommentar, 455. 119 Dieser Kontext wird um die kantische Verwendung des Hypostasen-Begriffs angereichert: „So ist denn aller Streit über die Natur unseres denkenden Wesens und der Verknüpfung dessel­ ben mit der Körperwelt lediglich eine Folge davon, daß man in Ansehung dessen, wovon man nichts weiß, die Lücke durch Paralogismen der Vernunft ausfüllt, da man seine Gedanken zu Sa­ chen macht und sie hypostasiert, woraus eingebildete Wissenschaft, sowohl in Ansehung des­ sen, der bejahend, als dessen, der verneinend behauptet, entspringt, indem ein jeder entweder von Gegenständen etwas zu wissen vermeint, davon kein Mensch einigen Begriff hat, oder seine eigenen Vorstellungen zu Gegenständen macht, und sich so in einem ewigen Zirkel von Zweideu­ tigkeit und Widersprüchen herum drehet.“ Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 395.

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Haverkamp rekonstruiert diesen Befund etwas anders, nämlich als Destrukti­ on der Mimesis: „Mimesis setzt die Struktur der Metapher selbst als die ihr eigene Struktur voraus“. Die Nachahmung trägt sich in das ein, was die Metapher vor­ gibt. Mit der ‚genauen Darstellung‘ bei Plotin ist, in dieser Perspektive, der mime­ tische Prozess selbst erfasst. Er funktioniert metaphorisch, ist also nie ganz er selbst, aber auch nie ‚reine‘ Mimesis. Es wäre die Ausstellung der Anti-Struktur der Mimesis als Struktur der Metapher. Aber müsste dann nicht die metaphorische Struktur ihrerseits, als eine Art Transzendental, angenommen sein? Vorausgesetzt sein könne diese Struktur, unterstreicht Haverkamp, „selbst wieder nur auf ei­ ne metaphorische Weise“.¹²⁰ Es bedarf eines zweiten metaphorischen Zuges, um den metaphorischen Zug als Voraussetzung für Mimesis setzen zu können. Das bezieht sich jedoch nur auf die Möglichkeit dieser Voraussetzung, nicht auf das Vorausgesetzte. Die Möglichkeit der Nachahmung – und damit die Möglichkeit der Metapher in einem aristotelischen Sinn – beruht auf der Annahme, dass sich die nachahmende Bewegung analog zum ‚metaphorisch übertragenden Moment‘ in der Struktur der Metapher verhält, diese beiden Momente aber de facto nie de­ ckungsgleich werden können, weil sich der Metapher jener Erfolg verbietet, den die Mimesis anstrebt. Also kann nicht im eigentlichen Sinn von dieser Voraus­ setzung gesprochen werden: ohne Metapher keine Mimesis (und, als Ableitung davon: keine Mimesis ohne Metapher). Das schließt die Umkehrung, eine Privile­ gierung der Mimesis gegenüber der Metapher, kategorisch aus. Wie soll sich die ‚Struktur der Metapher‘ aber überhaupt adressieren lassen? An der Stelle, die diese Schwierigkeit aufwirft, springt Blumenbergs Text zu Nikolaus von Kues und verschiebt damit die Konstellation: Die Seele kann in ihrer Natur, in der ‚Sprache‘ ihres Wesens, die Vernunft weder erfassen noch ‚wiedergeben‘; ihre Mimesis kann nur im Verfehlen treffen, nur im Anderssein wahr sein: sie ist ihrer Struktur nach schon die cusanische docta ignorantia (ein fruchtbarer Schoß metaphysischer Metaphorik). Denn dies ist doch die genaue Darstellung der Funktion der ‚absoluten Metapher‘, die in die begreifend-begrifflich nicht erfüllbare Lücke und Leerstelle einspringt, um auf ihre Art auszusagen. Die Weltseele vollzieht die Kreisbewegung, weil sie liebend die Vernunft nachahmen muß und doch adäquat nicht kann; sie gibt ein ‚Bild‘ an­ stelle des Begriffs und des Nachvollzugs im Begreifen, sie bildet nach im wörtlichen Sinn, und ihr Nachbilden ist zugleich Metapher für das Nachgebildete und Metapher für das Nicht­ erreichen-Können: εἰ δὴ ψυχῆς ἐστι, περιϑέουσα τὸν ϑεὸν ἀμφαγαπάζεται ϰαὶ περὶ αὐτὸν ὡς

120 Haverkamp, Stellenkommentar, 455: „Mimesis setzt die Struktur der Metapher selbst als die ihr eigene Struktur voraus (173.15), dies aber selbst wieder nur auf metaphorische Weise, denn deren metaphorisch übertragendes Moment entspricht zwar dem Nachahmen der Mimesis, die auf dieser Unterstellung beruht, kann sie im Nachvollzug aber nicht wirklich erreichen.“ Fraglich werden muss das „selbst“ der „Struktur der Metapher“, die hier sofort an ein weiteres ‚übertra­ gendes Moment‘ umgelenkt wird.

4.4 Die Textkonstellation als Argument (Plotin)

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οἷόν τε αὐτὴ ἔχει. ἐξήρτηται γὰρ αὐτοῦ πάντα. ἐπεὶ οὖν οὐϰ ἔστι πρὸς αὐτόν, περὶ αὐτόν ([Plotin Enn.] II 2,2). [Wenn es nun so ist, dreht sich die Seele um Gott herum und trachtet danach [affectat], ihn zu umarmen, und so gut sie kann, hält sie sich um ihn herum auf; alles hängt nämlich an Gott. Weil sie nun aber nicht bei ihm bleiben kann, bringt sie sich wenigstens in eine Kreisbahn um ihn.]¹²¹ (PM, 173)

Das Verhältnis von Mimesis und Metapher stellt sich über die zweifache Ver­ schränkung des „‚Müssens‘ und doch adäquat nicht ‚Könnens‘“¹²² her. Dass die Weltseele die Vernunft nachahmen muss und dies nicht kann, ihre Mimesis also nur scheiternd funktioniert, ‚ist‘ „genaue Darstellung“ der Funktion der absoluten Metapher. Ihr katachrestischer Charakter liegt in der Gleichzeitigkeit von Setzung und Aussetzung. Begründen lässt sich das Scheitern auf zweifache Weise. Für Plotin geht die Mimesis fehl, weil die Vernunft (der Nous) der Seele me­ taphysisch überlegen ist. Das Emanationsschema sieht nicht vor, dass sie deren Stelle je erreichen wird. Die Art ihrer Kreisbewegung bleibt mangelhaft gegenüber der, die der Nous in der Rückwendung auf sich selbst beschreibt. Für Blumen­ berg muss die Mimesis aus einem anderen, geradezu entgegengesetzten Grund fehlgehen. Das Nachgeahmte entzieht sich, weil es in der Nachahmung erst als das Nachahmenswerte produziert wird und so „hintergründig“ durch das ‚struk­ turiert‘ wird, was strukturell mangelhaft ist, aber als ‚ideal‘ erscheinen will. Das hatte sich in Plotins Abhandlung über den „Ursprung des Schlechten“ bereits an­ gedeutet, war von Blumenberg aber übergangen worden.¹²³ So erschließt sich Ha­ verkamps Satz: „Mimesis setzt die Struktur der Metapher selbst als die ihr eigene 121 Wiederum führt Blumenberg nur die lateinische Übersetzung an; ich gebe die deutsche Übersetzung wieder, wie sie im Stellenkommentar abgedruckt ist: Haverkamp, Stellenkommen­ tar, 456. Zum Vergleich die Stelle bei Harder: „Wenn es nun die Mitte der Seele ist, dann umläuft die Seele den Gott und umfaßt ihn mit Liebe und ist um ihn soweit es ihr möglich; denn von ihm ist alles abhängig. Sie ist also, da sie nicht zu ihm kommen kann, um ihn.“ Plot. Enn. II 2,2 (295). Ficino verwendet „affectat“, um das ‚Umfassen‘ der Seele zu relativieren. Er fasst die Struktur damit erneut genauer als Harder. 122 Haverkamp, Stellenkommentar, 455. 123 Das lässt sich über eine der „kryptischen Anspielungen“, nämlich auf Platons Timaios-Dia­ log herleiten. Über den ersten Satz aus der plotinischen Schrift über die Bewegung des Himmels hatte Blumenberg gesagt, dies sei „ein Stück replatonisierter Aristoteles“ und sich damit auf das siebte Kapitel des zwölften Buches der Metaphysik von Aristoteles bezogen. Mahnke hat heraus­ gestellt, dass Plotin den Zuschnitt seines Arguments insbesondere aus Platons Dialog Timaios übernimmt. Vgl. Mahnke, Unendliche Sphäre, 228. Arthur H. Armstrong stellt einen weiteren Be­ zug her: „Throughout this chapter Plotinus seems to have in mind Aristotle’s criticism of the Ti­ maeus in De Anmina A.3.407a6–407b12, and to be answering Aristotle’s argument there“. Ploti­ nus, Ennead II, übers. v. Arthur H. Armstrong, Cambridge, MA/London 1966, 40, Anm. 1. Wichtig ist die im Timaios-Dialog entwickelte Konzeption der ‚sich in sich selbst drehenden Kugel‘ sowie der „die Ewigkeit nachahmenden und nach den Zahlenverhältnissen im Kreise sich fortbewegen­

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Struktur voraus.“¹²⁴ Die Nachahmung scheitert an sich selbst. Wenn darin „die Struktur der Metapher metaphysisch hypostasiert ist“, dann passiert dies noch einmal: die Vergegenständlichung muss scheitern, weil das, was sich in der ploti­ nischen Konfiguration ‚darstellt‘, bereits mitproduziert, was es ist, das dargestellt werden soll. Das Problem besteht einerseits darin, dass das Mitdargestellte (die Metaphernstruktur) bereits in den Prozess des/ihres Darstellens (im kantischen Sinn des Unterlegens einer anschaulichen Vorstellung, der Hypostasierung) ein­ gegangen ist, andererseits darin, dass diese Supplementierung (Plotins Text) ih­ ren Gegenstand, der in sie eingeht, erst hervorbringt. Der „Struktur nach“ sei das „schon“ die ‚belehrte Unwissenheit‘ mit ihrem Grenzwert der Sprengmetaphorik, dem einen der „zwei Tode oder zwei Selbstzer­ störungen der Metapher“.¹²⁵ „Nicht die Metapher sprengt, sondern sie wird ge­ sprengt“.¹²⁶ Der zweite Tod liegt ironischerweise in ihrer Hypostasierung. Indem sie sich materialisieren muss, dies aber adäquat nicht kann, bietet sich die „Struk­ tur der Metapher“ als ihre eigene scheiternde Metapher dar. Sie wird, in dieser

den Zeit“. Blumenberg hatte diesen Dialog kurz vor der Plotin-Analyse besprochen, dann aber erst in einer Anmerkung am Ende wieder aufgegriffen. Entscheidend daran war die Begründung für die Nachahmung: „Aktivität ohne Bewegung – wenn das nicht bloßes Begriffsspiel sein soll, muß eine metaphorische Vorstellung dahinterstehen, und es scheint, daß die sich in sich selbst drehende Kugel und der in sich selbst zurückkehrende Kreis das göttliche Sein deshalb nachah­ men, weil sie schon in der Konzeption des tätig-ruhenden Gottes hintergründig darinstecken.“ PM, 167. Das ist die genaue Vorbereitung des Arguments zum Schluss der Plotin-Analyse. 124 Haverkamp, Stellenkommentar, 455. 125 Derrida, Entzug der Metapher, 330. Bei Nikolaus von Kues ist die Konstruktion durchaus kom­ pliziert: Je weiter das Wissen um die Unwissenheit, also um die Unerreichbarkeit der Wahrheit, voranschreitet, desto näher kommt der Geist an diese Wahrheit, von der er im gleichen Moment eben ‚weiß‘, dass er sich ihr nie adäquat wird nähern können, heran: „Es ist also deutlich, daß wir über das Wahre nichts anderes wissen, als daß wir es in seiner Genauigkeit, so wie es ist, als un­ begreiflich wissen. Die Wahrheit hat dabei die Bedeutung der absoluten Notwendigkeit, die nicht mehr oder weniger sein kann, als sie ist, unser Geist dagegen die Bedeutung der Möglichkeit. Die Wesenheit der Gegenstände, welche die Wahrheit der seienden Dinge ist, ist also in ihrer Reinheit unerreichbar. Sie wurde von allen Philosophen gesucht, aber von keinem wirklich gefunden. Je gründlicher wir in dieser Unwissenheit belehrt sind, desto näher kommen wir an die Wahrheit selbst heran.“ Nikolaus von Kues, Die belehrte Unwissenheit, in: ders., Philosophisch-theologische Werke, Band 1, hg. v. Karl Bormann, Hamburg 2002, I, III, 10. Demgegenüber erschließt sich, was die Metapher betrifft, das „im Verfehlen treffen, nur im Anderssein wahr sein“ als „eine perfor­ mative Wahrheit – als eine vérité à faire [so die Formulierung im Paradigma II, vgl. PM, 29], eine Wahrheit, die im Vollzug liegt“. Haverkamp, Stellenkommentar, 312. Man muss nur ergänzen: „nur kennt Plotin die Technik noch nicht, wie die Metaphorik ihren materialen Mantel abwerfen kann, indem sie nämlich das Vorstellungsmäßige durch Hinzufügung des infinitum zersprengt und der Anschauung entzieht“. PM, 175, Anm. 199. 126 Nientied, „die gleychnuß alle zerbrechnn“, 196.

4.4 Die Textkonstellation als Argument (Plotin)

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fehlgehenden Wendung auf sich selbst, „zugleich die Metapher der Unerfüllbar­ keit“ überhaupt (PM, 174, meine Hervorhebung, A.W.). Im Scheitern der Mimesis stellt sich das Scheitern der Metapher aus – und scheitert noch ‚als‘ diese Expo­ sition. Das wäre „die genaueste [jetzt von Blumenberg konsequenterweise in ein­ fache Anführungszeichen gesetzte] ‚absolute Metapher‘“, gefunden „in gnaden­ hafter Zufälligkeit“ (PM, 174).¹²⁷ Helmut Müller-Sievers hat die Plotin-Passage im Zusammenhang einer bei Aristoteles ansetzenden, aber vor allem anhand von Blumenbergs Genesis der kopernikanischen Welt (1975) argumentierenden Neubestimmung des Verhältnis­ ses von Metapher und Technik gelesen. Beide Sphären ließen sich vermittels der Kreis- bzw. Rotationsbewegung aufeinander beziehen. Daraus ergebe sich ein gänzlich neues Forschungsfeld, das der ‚Kyklophorologie‘: Like axial rotation, absolute metaphors have no natural referent and therefore always seek to cover the mimetic void at their center. Kyklophorology thus would complement metapho­ rology as the investigation into the history of technics as embodied rotation, as the nonmimetic, in-human response to the presence of the physical environment.¹²⁸

Vor dem Hintergrund der scheiternden Kreisbewegungen und der „Heimkehrlo­ sigkeit“ (PM, 33) der Metapher ist jedoch zu fragen, ob die Verdeckung der mimeti­ schen Leerstelle durch die Metapher nicht gerade dadurch erreicht wird, dass sie das Programm einer kreisförmigen Schließung nicht einlöst. Mir geht es weiterhin um die Unmöglichkeit der Exposition dieses metaphorisch-mimetischen Komple­ xes. Denn mit dem Fehlschlagen der Selbst-Darstellung der Metapher schlägt das Problem zurück auf die Konstellation, in der ein Text wie der Plotins zur Lesbar­ keit gelangt. Die Konfiguration des zweifachen „‚Müssens‘ und doch adäquat nicht ‚Könnens‘“ ist die der Lektüre. Einen Ausblick auf die damit einhergehende Ver­ schiebung im Lektüreparadigma hat Derek Attridge im Begriff der ‚Responsibili­ tät‘ gegeben: responsibility is not a simple ethical concept; it makes impossible demands, and is never­ theless – or consequently, rather – urgent and exigent [. . . ]. Responsibility in reading [. . . ] involves a fidelity to the singularity of a work, that which marks it as distinctive and of im­

127 „[W]eil die Seele die Vernunft nicht erreichen kann, aber auch nicht von ihr ablassen kann, umkreist sie sie und findet dabei – in gnadenhafter Zufälligkeit, könnte man theologisch am­ plifizieren – die genaueste ‚absolute Metapher‘, in der sich die Mimesis erfüllt. Hier kann man nicht von ‚Symbolik‘ sprechen; das Symbol muß, da es dem Er-kennen dient, statisch und fixiert sein, hier aber zeigt sich schon die höchst komplexe Bewegung, die im geometrischen Ausdruck dargestellt, ja ‚vollzogen‘ werden soll.“ PM, 174. 128 Helmut Müller-Sievers, „Kyklophorology: Hans Blumenberg and the Intellectual History of Technics“, in: Telos 158 (2012), 155–170, hier: 169.

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portance; yet in order to register that singularity one has to respond with an answering sin­ gularity, not with a mere extension or copy of what one has before one, and so with a degree of infidelity.¹²⁹

4.5 Lebenswelt-Lektüre (Fontane) Während ein großer Teil der philosophischen Fragmente Hans Blumenbergs un­ veröffentlicht ist,¹³⁰ legt bereits eine Reihe von Publikationen Zeugnis ab für ein Verfahren, das Problemstellungen en miniature variiert und untereinander verknüpft.¹³¹ Es lässt sich als Spielart der phänomenologischen Variation verste­ hen; jedoch darf dabei der Eigenwert dieses zunächst textuellen Verfahrens nicht übersehen werden. Anhand einer Auswahl aus Blumenbergs Arbeiten zu Fonta­ ne möchte ich zeigen, dass sich dieser Eigenwert als eine komplexe Relation von Theorie und Lektüre beschreiben lässt. Die im Nachlassband Gerade noch Klassiker. Glossen zu Fontane (1998) ver­ sammelten Texte sind Teil einer im Feuilleton und in der Literaturzeitschrift Akzente ausgebildeten Schreibpolitik der kleinen Form.¹³² Den journalistischen und literarischen Arbeiten Fontanes begegnet dieses Schreiben mit einer äußerst knappen Prosa, die sich zwischen Textstellenkommentar und zuspitzender Ver­ größerung von vermeintlich Unscheinbarem hält. Der beiläufige Charakter dieser Miniaturen kaschiert ihren Stellenwert innerhalb von Blumenbergs Sprachphi­ losophie, bearbeiten sie doch eine Aufgabenstellung, die seit dem Entwurf einer Metaphorologie von 1960 an Kontur gewonnen hat. Fontanes subtile Inszenie­ rungen etwa der Anekdote oder des small talk werden so als Bezugspunkte einer ‚Theorie der Unbegrifflichkeit‘ lesbar. Mit Blick auf die formale Struktur der An­ ekdote hat Paul Fleming nachvollzogen, dass mit den Varianten von Unbegriff-

129 Attridge, Reading and Responsibility, 4. 130 Vgl. zu Umfang und zur Sammlungsstruktur der nachgelassenen Fragmente: Rüdiger Zill, „Anekdote“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 26–42, hier: 37. 131 U. a. Die Verführbarkeit des Philosophen (2000), Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß (1997), Die Sorge geht über den Fluß (1987). 132 Die Sammlung ist 1998 bei Hanser erschienen und wurde 2002 unter dem Titel Vor allem Fon­ tane. Glossen zu einem Klassiker bei Insel neu aufgelegt. Im Folgenden wird die Ausgabe von 2002 zitiert. Beide, den Glossenbegriff zitierenden Titel scheinen herausgeberische Entscheidungen zu sein, die sich jedoch auf eine Reihe kleinerer Arbeiten plausibel beziehen können, darunter „Glossen zu Anekdoten“ (Anekdoten). Zur Publikationsgeschichte vgl. die ergänzenden Hinwei­ se in: Alexander Waszynski, „Lebenswelt-Lektüre. Hans Blumenbergs ‚Glossen zu Fontane‘“, in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 50,1 (2019), 13–36.

4.5 Lebenswelt-Lektüre (Fontane) |

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lichkeit zugleich das Aufkommen von Theorie überhaupt thematisch wird; hierfür ist Blumenbergs Ansatz bei der Lebenswelt als einem paradoxalen „degree zero“ entscheidend: Nonconceptuality modulates [. . . ] metaphorology’s sphere of reference in a twofold man­ ner: first, metaphor is now only “a special case of nonconceptuality,” which includes myth, gloss, example, anecdote, etc.; second, the project is redirected back to the “beginnings” of theory and what escapes yet somehow relates to all theory—conceptual and non-conceptual alike—namely, the lifeworld itself.¹³³

Mit dem Neuansatz bei der Unbegrifflichkeit weicht die Konzentration auf die Metapher einer flacheren Verteilung unterschiedlicher Formen, deren genauer Umfang jedoch unklar bleibt.¹³⁴ Hervorgehoben wird nicht mehr das Vorfeld von Begrifflichkeit, sondern das – weder begrifflich noch unbegrifflich strukturier­ te – Vorfeld von Theorie überhaupt, das aber als solches unadressierbar bleiben muss.¹³⁵ Mit diesen Schwierigkeiten hängt die Aufmerksamkeit für „Fontanes Zunei­ gung zur Anekdote“ (VF, 160) zusammen.¹³⁶ Wenn Blumenberg diese „Zunei­

133 Paul Fleming, „On the Edge of Non-Contingency: Anecdotes and the Lifeworld“, in: TELOS 158 (2012), 21–35, hier: 24–25. Dies ist bezogen auf eine Passage in „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“: Metaphorologie sei „nicht mehr vor allem auf die Konstitution von Begrifflichkeit bezogen, sondern auch auf die rückwärtigen Verbindungen zur Lebenswelt als dem stän­ digen – obwohl nicht ständig präsent zu haltenden – Motivierungsrückhalt aller Theorie.“ Aus­ blick, 193. Ausgehend von Blumenbergs Bemerkung, dass an der Anekdote nichts Zufälliges sei, legt Fleming den Akzent auf dieses Strukturmerkmal der Nicht-Kontingenz („merely this struc­ tural feature“, Fleming, On the Edge of Non-Contingency, 28). Theoretische Relevanz gewinnt sie dann nicht, weil sie aus der Lebenswelt stammt oder Lebensweltliches berichtet, sondern weil die Lebenswelt selbst das Paradigma der Kontingenzausschaltung ist. In der Spannung zwischen ihrer formalen Struktur und dem Narrativ, das sie darbietet, ist die Anekdote ein Schwellenphä­ nomen: „in and as theory, as a mode of thought at the nexus of literature and experience, litera­ ture and the real“. Paul Fleming, „The perfect story: Anecdote and exemplarity in Linnaeus and Blumenberg“, in: Thesis Eleven 104,1 (2011), 72–86, hier: 74. 134 Vgl. hierzu: Zill, Anekdote, 26. 135 Vgl. Fleming, On the Edge of Non-Contingency, 26: „Every theory of the lifeworld undoes its object.“ 136 Die Anekdote wird dort beschrieben als Medium einer Depotenzierung absoluter Geltungen und illegitimer Hypostasierungen: „Die Anekdote, wie erfunden oder zugewandert auch immer, mythisiert ihre Helden und ‚Subjekte‘ nicht. Im Gegenteil: Sie reduziert ihre Distanzen auf ver­ trauliche Nähe, ihre historische Größe im Guten wie im Bösen auf moralische Bedenklichkeit im beiderseitigen Sinn“. Diese ‚anekdotische Ausnüchterung‘ (VF, 160) fügt sich damit ein in das Pro­ jekt einer historisch-kritischen Aufarbeitung philosophischer Ansprüche. Jenseits verlässlicher Autorschaft bietet sie Nebensächliches, das – wie der Mythos – von Anfang an der Rezeptionsge­ schichte überantwortet ist. Vgl. hierzu pointiert: Fleming, On the Edge of Non-Contingency, 31.

224 | 4 Lektüre – „Ansatz von oder zu Theorie“

gung“ glossierend aufnimmt, geschieht dies als Relektüre zweier Textstellen – aus einem Briefwechsel und einer Passage aus den Wanderungen. Der Spezialfall von Unbegrifflichkeit wird zum Gegenstand eines Verfahrens, das seinerseits un­ begrifflich operiert: das der Glossierung. Es verschränkt die Technik einer Kom­ mentierung ‚von der Seite her‘, wie es der Marginalglosse entspricht, mit dem zuspitzenden Format der journalistischen Glosse.¹³⁷ In ihr ist eine philosophi­ sche Diskussion zuallererst „Arbeit am Material“.¹³⁸ Doch nicht nur der „Status von Anekdoten“ kann, wie Rüdiger Zill betont hat, „philologisch prekär“ sein,¹³⁹ sondern auch der Status des philologischen Zugangs selbst. Es stellt sich die Frage nach dem Status und der Relevanz der Lektüre innerhalb dieser Konstellation: für das Verhältnis der Glossierung zu literarischem Gegenstand und Philosophem, ebenso aber auch für das Aufkommen von Theorie. In den Glossen zu Fontane wird dies an keiner Stelle explizit verhandelt, vielmehr baut sich in ihnen eine geradezu unüberbrückbare Spannung auf zwischen ihrem lesend-schreibenden Verfahren und dem, was sie über ‚den Leser‘ mitzuteilen bereit sind: über den ‚armen potentiellen Leser‘ (VF, 131), den „gewünschten“, „impliziten“ (VF, 27), „nachherige[n]“ (VF, 57), ‚hinterlistigen‘ (VF, 82), „erschreckten“ (VF, 46) oder auch den „Leser und Deuter von Grabinschriften“ (VF, 73). Diese Leserfiguren bevölkern eine von Blumenberg in ironischer Distanz gehaltene rezeptionsästhe­ tische Dimension, die nicht mit dem Gegenstand des hier verfolgten Interesses zusammenfällt. Hier soll eine in Blumenbergs Texten mitlesbare Lektürebewe­ gung gesucht werden, von der ich annehme, dass sie eine eigene Reflexionsform dar- und ausstellt.¹⁴⁰ Sie lässt sich über die nicht immer ausdrückliche Verhand­ lung der Lebenswelt erschließen. Hans Blumenberg als Leser gerät damit also nur bedingt in den Blick.¹⁴¹

137 Zu Herkunft und Umfang des Begriffs vgl. Art: Glosse, in: Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 2001, 314–315. 138 Ich greife hier Rudolf Helmstetters – wiederum von Blumenbergs Mythosbuch inspirierte – Formel für Fontanes, in den Publikationsapparat seiner Zeit eingelassene Schreiben auf. Rudolf Helmstetter, Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffent­ lichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus, München 1998, 106. 139 Zill, Anekdote, 27. 140 Es spielt für diese Fragestellung keine vordringliche Rolle, ob es sich in den ‚Glossen zu Fon­ tane‘ um vermutlich zunächst auf Tonband gesprochene ‚Gelegenheitsarbeiten‘ handelt. ‚Lektü­ re‘ meint hier nicht ein Phänomen, sondern eine Struktur. 141 Rüdiger Zills umfassende Monographie Der absolute Leser. Hans Blumenberg – Eine intellek­ tuelle Biographie (2020), die hierzu zentrale Vorschläge macht, konnte leider nicht mehr berück­ sichtigt werden. Vgl. Kapitel 1, Anm. 18.

4.5 Lebenswelt-Lektüre (Fontane) |

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Blumenbergs Reformulierung der Lebensweltproblematik In Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänome­ nologie (1936) hat Edmund Husserl den Terminus ‚Lebenswelt‘ verwendet, um damit die „Welt der schlichten intersubjektiven Erfahrungen“¹⁴² als das verges­ sene „Sinnesfundament der Naturwissenschaft“¹⁴³ auszuweisen. Im Methoden­ ideal objektiver Wissenschaft reiße die Rückbindung an die Sphäre subjektiver Erfahrung ab. Lebenswelt ist die nicht durch Reflexion erschlossene Vorgegeben­ heit, die Welt als ein „Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten“.¹⁴⁴ Auf­ gabe der Phänomenologie sei es, „die universale Selbstverständlichkeit des Seins der Welt [. . . ] in eine Verständlichkeit zu verwandeln.“¹⁴⁵ Blumenberg hat Hus­ serls Lebensweltkonzept kritisch aufgegriffen¹⁴⁶ und, vor allem in der aus dem Nachlass herausgegebenen Theorie der Lebenswelt (2010)¹⁴⁷ ausführlich bespro­ chen.¹⁴⁸ Darin ist die „Prämodalität der Selbstverständlichkeit“ (ThL, 16) zum ent­ scheidenden Aspekt geworden: „Das ‚Übersehen‘ ist das Korrelat der Charakteris­ tik von Lebenswelt als Selbstverständlichkeit“ (ThL, 168), als „Welt der Unauffälligkeiten“ (ThL, 70) und „Reservat von Ungenauigkeit“ (ThL, 13). Was sich von selbst versteht, bedarf keiner Klärung. 142 Husserl, Krisis, 136. 143 Husserl, Krisis, 48. 144 Husserl, Krisis, 183. 145 Husserl, Krisis, 184. 146 Bereits Ende der 50er Jahre, dem Entstehungszeitraum der Paradigmen zu einer Metaphoro­ logie, hatte Blumenberg eine intensive Auseinandersetzung mit der Lebensweltthematik gesucht, die an die frühere Diskussion phänomenologischer Weltbegriffe anschließt. In diese Zeit fällt sei­ ne erste extensive Fontane-Lektüre. Eine Spur dieser Auseinandersetzung findet sich an promi­ nenter Stelle im Paradigma II, in dem die Abgrenzung zwischen Allegorie und Metapher über ein Fontane-Zitat vorgenommen wird: „Es muß der Gedanke gleich im Bilde geboren werden“. Theo­ dor Fontane, Theaterkritik vom 19. Februar 1881: Laube, „Die Karlsschüler“ [Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, 22. Februar 1881, Morgenausgabe, 1. Bei­ lage], zit. n. PM, 32. Die Bezüge zwischen Metaphorologie und Lebenswelt werden erst später, insbesondere in „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“ (1979), deutlicher ausgearbei­ tet. Vgl. zum Komplex Lebenswelt und Metaphorologie: Campe, Von der Theorie der Technik zur Technik der Metapher. 147 Fleming hat auf den ‚agonistischen‘ Charakter des Titels verwiesen, der die Spannung zwi­ schen einer „zone resistant to theory“ und ihrer „theorization“ umschreibe. Fleming, On the Edge of Non-Contingency, 21. „Man sieht es dem Buchtitel nicht gleich an, aber ‚Theorie der Lebens­ welt‘ ist ein Widerspruch in sich.“ Manfred Sommer, Nachwort des Herausgebers, ThL, 243–247, 243. 148 Für eine anthropologisch-phänomenologische Rekonstruktion vgl. Sonja Feger und Tobias Keiling, „Am Rand der Lebenswelt. Hans Blumenbergs Phänomenologie der Theorie“, in: Anthro­ pologie der Theorie, hg. v. Thomas Jürgasch und Tobias Keiling, Tübingen 2017, 323–341.

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Entsprechend sei Lebenswelt der „Inbegriff von Theorieersparnis“ (ThL, 23). Über diesen Umweg macht Blumenberg ‚Theorie‘ zum theoretischen Gegenstand und löst sie im selben Zug von der Bindung an die Genesis der objektiven Wissen­ schaften ab; gleichzeitig wird ein Einspruch gegen die Möglichkeit reiner Theo­ rie formuliert. Wissenschaftliche Modelle könnten diese schon insofern nicht erreichen, als sie tendenziell in den Modus der Selbstverständlichkeit zurücksän­ ken, wie das Beispiel der akademischen Schulbildung veranschauliche.¹⁴⁹ In Blu­ menbergs Rekonstruktion ist Lebenswelt kein gänzlich Atheoretisches, sondern ist mit einem historischen Index, mit Theoriespuren, versehen.¹⁵⁰ Gleichzeitig sei Lebenswelt „immer das Thema eines Vorganges des Heraustretens, dessen Aus­ gangszustand der Terminus benennt.“ In aller Deutlichkeit wird ein reduktives Verständnis von Lebenswelt zurückgewiesen: „Nie also ist hier von der Idylle einer früheren oder zukünftigen Heimat des Menschen die Rede.“ (ThL, 139–140) Das Zurücklaufen in Selbstverständlichkeit geht einher mit der Unmöglichkeit, dort je ankommen oder bleiben zu können. Blumenbergs Umarbeitung des Lebenswelt­ problems zielt auf die Beschreibung einer „Krisenzone“ (ThL, 60), in der Regress und Exposition ineinandergreifen. Die Pointe besteht darin, dass ein „Ansatz von oder zu Theorie“ (ThL, 54) als immanente Konsequenz der Lebenswelt, als ihre „unverfehlbare[] Selbstzerstörung“ (ThL, 92), und nicht durch einen gefassten UrEntschluß verstanden sein müsse. Diese Autodestruktion der Lebenswelt selbst habe Husserl nicht gesehen. Blumenberg wendet sich damit gegen die Ansicht, dass sich die Suspendierung des Selbstverständlichen durch einen Einstellungs­ wechsel gewissermaßen intentional erzwingen lasse. Am „Terminus“ Lebenswelt lässt sich ein Akzent mitlesen, der auf eine latente Entgrenzung gesetzt ist, auf das Ende nicht nur des so Benannten, des ‚Universums der Selbstverständlich­ keit‘, sondern, im Verbund mit einer Theorie der Unbegrifflichkeit, auch des ausdrücklichen Benennens, des Terminologischen. Das Aufkommen von Theorie ereignet sich zwischen zwei Unmöglichkeiten: zwischen dieser, die den Zustand der Theorieresistenz unhaltbar macht, und jener, die das Erreichen reiner Theorie blockiert. Der ‚Ansatz von oder zu Theorie‘ bezeichnet jedoch nicht nur das Auf­

149 Vgl. ThL, 56. Bemerkenswert ist die Komplizierung der Figur dadurch, dass Theoriemodelle nun selbst in Analogie zum Lebensweltmodell, das ja gerade die Nivellierung von Theorie anzei­ gen soll, diskutiert werden – so Freuds Psychoanalyse und deren angestrebte „Einschränkung des theoretischen Fremdbedarfs auf die kleinste mögliche Menge“. ThL, 127. Diese Rochade be­ dürfte einer eigenen und ausführlichen Untersuchung. 150 „Zu sagen, die Lebenswelt sei frei von Theorie und vor der Theorie, bedeutet keineswegs, daß in den Auffassungen und Meinungen, der Weltansicht eben dieser Lebenswelt nicht Sedimente von Erfahrungen und Erkenntnissen liegen, die ihrem Typus nach theoretischen Resultaten ähn­ lich sein können oder sogar einmal solche waren“. ThL, 80–81.

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kommen selbst, sondern auch ein Aufkommen aus Theorie, genauer: aus dem, was Theorie hätte werden können, aber ins Selbstverständliche zurückgesunken ist und Spuren hinterlassen hat.

Die Glossen zu Fontane und die Selbstzerstörung der Lebenswelt Gerhard Neumann hat Fontanes Einsicht in die „Labilität der sprachlichen Zei­ chen“ mit einer Schwellenzone in Verbindung gebracht: Fontane zeige, „wie das Materiale der Lebenswelt sich in das verfeinerte Gewebe der Kultur“ verwan­ dele.¹⁵¹ Neumann hebt die „Aufmerksamkeit“ für „jene heikle Zone zwischen natürlicher und kultureller Wirklichkeit“ heraus, „in der die gesellschaftliche Arbeit der Sprache verrichtet“ werde.¹⁵² Diese Trennung zwischen natürlicher und kultureller Wirklichkeit lässt sich mit Blumenbergs Theorie der Lebenswelt und der darin verhandelten „Krisenzone“ nicht gänzlich in Deckung bringen. ‚Lebenswelt‘ wäre immer schon kulturell und zeichenhaft durchsetzt, nicht also die Sphäre „brodelnder Materialität“, von der Neumann handelt.¹⁵³ Blumenbergs Entwurf gilt einem rein strukturellen, keinem soziologischen oder kulturtheo­ retischen Problem. Er verlagert die Labilität in den fiktiven – dann wörtlich zu lesenden – ‚Ausgangszustand‘ Lebenswelt. Dieser zeichne sich dadurch aus, dass Bedrohungen seiner Kohärenz – Kritik, Fremdheit, Widerspruch, Kontingenz – fortwährend abgewehrt würden, indem sie als potentiell bekannt, kalkulier- und antizipierbar verstanden seien. ‚Lebenswelt‘ ist das Integrationsschema schlecht­ hin: die latente Bewegung, den Anspruch des Anderen in eine Spielart des Eige­ nen umzumünzen (vgl. ThL, 52–53, 103–104).¹⁵⁴ Wesentlich aber ist, dass die Selbststabilisierung zur Selbstaufhebung beiträgt: „Die Destruktion der Lebens­ welt kann philosophisch nur begriffen werden, wenn sie selbst als Inbegriff der Akte ihrer Verteidigung, ihrer Selbstreparatur, ihres Sich-Durchhaltens gesehen wird.“ (ThL, 27)¹⁵⁵ Blumenberg hatte die Verletzlichkeit der Lebenswelt zunächst

151 Gerhard Neumann, Romankunst als Gespräch, Freiburg im Breisgau 2011, 8. 152 Neumann, Romankunst als Gespräch, 7 [meine Hervorhebung, A.W.]. 153 Neumann, Romankunst als Gespräch, 7. 154 „Die Lebenswelt ist die Welt, in der es auf alles eine Antwort gibt und dies jeder so gut weiß, daß er die Fragen gar nicht erst stellt.“ BG, 120. 155 Manfred Sommer weist auf einen „externe[n] Auslöser“ hin, dessen es bedürfe, um diese „in­ terne ‚Autodestruktion‘“ anzustoßen. Wie dies geschehe, bleibe bei Blumenberg jedoch, durch­ aus kalkuliert, „undeutlich“. Manfred Sommer, „Lebenswelt“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 160–170, hier: 167. Sommer bezieht sich auf zwei Passagen, in denen ein solcher Störfaktor umrissen werde: zum einen die Diskussion des

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über die Differenz zwischen zwei Totalitäten erläutert. Die „Totalität der Wirk­ lichkeit“ könne nie identisch sein mit der „Totalität der Lebenswelt“ (ThL, 101). Nun tritt als Schwierigkeit hinzu, dass die Lebenswelt überhaupt nur Stabilität suggeriert und dazu der List und Selbsttäuschung bedarf. Schon die Möglichkeit einer „Störung im Mechanismus ihres Ablaufs“ (ThL, 152) ist die erste Dezentrie­ rung des Verblendungszusammenhangs.¹⁵⁶ Der ‚Ansatz von oder zu Theorie‘ hat mit dieser medialen Verfasstheit, mit einem prekären Rand der Lebenswelt zu tun: „Die Fülle ihrer Nebenleistungen, mit denen sie den Innenseiten die Erschei­ nung ihrer Beständigkeit gewährt, werden eines Tages zur Hauptleistung – das heißt aber, daß die Wendung zur theoretischen Einstellung schon vollzogen ist.“ (ThL, 104) Die ‚Krisenzone‘ dieses Umschlags ist aus einer „immanenten Unhalt­ barkeit“ (ThL, 39) heraus erläutert. Die damit verbundene Aufmerksamkeit für die konstitutiven wie destruktiven ‚Nebenleistungen‘ ist es, die Blumenbergs Le­ benswelttheorie in eine Affinität zu Fontanes Inszenierungen „schönste[r] Selbs­ verständlichkeit[en]“ (VF, 22) geraten lässt.

Lebensweltbildung im small talk („Auf dem Matthäikirchhof“) Fontane ‚mit‘ Blumenberg zu lesen, soll im Folgenden heißen: zum einen die Lek­ türebewegungen einzelner Glossen exemplarisch nachzuvollziehen und sie zum anderen so zu kontextualisieren, dass sich das ihnen zugrundeliegende Verfah­ ren – von Fontane aus – lektüretheoretisch entfalten lässt. Dem möchte ich zu­ nächst anhand des Gedichtes „Auf dem Matthäikirchhof“¹⁵⁷ nachgehen, das Blu­ menberg zum Schluss des Textes „Es stirbt sich“ (VF, 27–30) erwähnt:

Theoriemodells der Freudschen Psychoanalyse (vgl. ThL, 126–127), zum anderen die Spekulation über Platons Höhlengleichnis. Vgl. ThL, 151–156. Die „Voraussetzung der Störfähigkeit“ (ThL, 152) im Innern der Lebenswelt bzw., genauer, die bloße Möglichkeit der Störung an oder in ihrem un­ kontrollierbaren Rand lässt sich dort jedoch als bereits aktiv destruierendes Element interpretie­ ren. 156 Es müsse immer einen „Rest von Wahrscheinlichkeit des Auffliegens konsolidierter Prä­ sumptionen“ geben. Dieser sei „das unausweichliche Schicksal über der Lebenswelt, über jeder ihrer Formen, das Verhängnis ihrer unverfehlbaren Selbstzerstörung gerade in dem Maße, in dem sie durch Verfeinerung des Rasters jener Präsumptionen ihre Selbsterhaltung betreibt“. ThL, 92. 157 Das Gedicht ist Teil der Gedichtgruppe „Aus der Gesellschaft“, in: Theodor Fontane, Aus der Gesellschaft, in: ders., Werke, Schriften und Briefe [HF], Band I/6, hg. v. Bodo von Petersdorf, München 1978, 371–377. Texte Fontanes werden im Folgenden unter Angabe der Abteilungs- und Bandzahl nach der Hanser-Ausgabe Werke, Schriften und Briefe zitiert. In den Glossen zu Fonta­ ne wird diese Gruppe ihrerseits als „Sammlung überwiegend ironischer Glossierungen sozialer Typik und Pragmatik“ beschrieben. VF, 165.

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Alltags mit den Offiziellen Weiß ich mich immer gut zu stellen, Aber feiertags was Fremdes sie haben, Besonders, wenn sie wen begraben, Dann treten sie (drüber ist kaum zu streiten) Mit einem Mal in die Feierlichkeiten. Man ist nicht Null, nicht geradezu Luft, Aber es gähnt doch eine Kluft, Und das ist die Kunst, die Meisterschaft eben, Dieser Kluft das rechte Maß zu geben. Nicht zu breit und nicht zu schmal, Sich flüchtig begegnen, ein-, zwei-, dreimal, Und verbietet sich solch Vorüberschieben, Dann ist der Gesprächsgang vorgeschrieben: „Anheimelnder Kirchhof . . . beinah ein Garten . . . Der Prediger läßt heute lange warten . . . “ Oder: „Der Tote, hat er Erben? Es ist erstaunlich, wie viele jetzt sterben.“

Fontanes Gedicht präsentiert gleich mehrere Schwellenzonen: zwischen dem singulären Tod und dem in anonyme Exemplarizität zurückgestuften Toten, zwischen den informellen Gesprächen der Trauergäste und dem Einrasten des Zeremoniells („Der Prediger läßt heute lange warten“), aber auch als Zone zwi­ schen Alltäglichkeit und Nichtalltäglichkeit, „den Offiziellen“ und dem ‚Subal­ ternen‘.¹⁵⁸ Der small talk, von dem Blumenberg sagt, Fontane habe ihn zum Ende des 19. Jahrhunderts in die deutschsprachige Literatur eingeführt (VF, 33), setzt ein, wenn die Choreographie begegnungsloser Begegnungen stockt. Er simulie­ re einen Konsens und habe darin „pazifizierende, besänftigende Qualität“. Man vertrage sich, „indem man sich keinen Grund gibt, es nicht zu tun.“ (VF, 35) Das rhetorische Moment liegt hier – wie es eine die Anthropologie betreffende Rhetoriktheorie verlangt – in der „Sicherung des Nicht-Widerspruchs“, im „NichtZerbrechen[] der Konsistenz des Hingenommenen“ (Annäherung, 119). Der small talk ist nicht in der Lebenswelt beheimatet, sondern eines ihrer (nur nachträglich interpolierbaren) Strukturmomente. Das subalterne ‚Ich‘ registriert und zitiert die Bewegungen und Verlegenheitssätze, die die gebotenen Abstände und damit die „Konsistenz des Hingenommenen“ erhalten sollen. Indem das Gedicht dieses Dispositiv ausstellt, gibt es eine rhetorisch-lebensweltliche Formation zu lesen, die die Glossierung provoziert. Zusammen mit der Stabilisierungsbewegung stellt

158 Vgl. das im gleichen Zyklus enthaltene und ebenfalls von Blumenberg besprochene Gedicht „Der Subalterne“. Fontane, Aus der Gesellschaft, 372.

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sich jedoch auch eine gegenläufige Tendenz aus. „Fontane beherrscht die Pointe, die im Mißverhältnis des Verhältnismäßigen sogar Komik der Genauigkeit haben kann: Oder: ‚Der Tote, hat er Erben? / Es ist erstaunlich, wie viele jetzt sterben.‘ Das [I]mmerwahre als das Destillat des Nichtssagenden – damit schließt der Ein­ akter in nuce.“ (VF, 36) Sätzen wie diesen komme die Funktion zu, „daß sie eine Art ‚Restbedarf‘ decken, überhaupt etwas zu sagen und nicht ganz zu schweigen“ (VF, 157).¹⁵⁹ Das „Destillat des Nichtssagenden“ enthält eine innere Tendenz zur Überschreitung: „Zuviel über Zuwenig. Vollbesitz der Sprache verbunden mit der trainierten Fähigkeit, sie nichts bedeuten zu lassen“ (VF, 34). Das, was Verhält­ nismäßigkeit stiften soll, ist selbst nicht verhältnismäßig. Mit Blumenbergs Kom­ mentar wird das Gedicht in zwei Hinsichten lesbar: als Einakter des Gelingens („das rechte Maß“) und als Einakter des Verfehlens („Mißverhältnis des Verhält­ nismäßigen“), in dem das Equilibrium der Nebensächlichkeiten unterlaufen ist. Das Wort ‚Kluft‘, das im Mittelpunkt des Spiels der Distanzen steht, bezeichnet ei­ ne Spaltung im Terrain, hier zudem etwas, dem sich, wie einem Grab, „das rechte Maß“ geben lässt. Zugleich entzieht sich die Möglichkeit dieses Maßhaltens im Sinne des Verfehlens. Fraglich ist nun, wie sich das Modell von Blumenbergs ‚Krisenzone‘ zur Glos­ sierung selbst verhält. Erschöpft sich die Lektürebewegung darin, eine literari­ sche Konfiguration als Illustration eines philosophischen Problems auszulegen? Dann bliebe das Konzept der Lebenswelt unangetastet durch das literarische Ar­ tefakt, das nur eine Art der Veranschaulichung leistete. In „Auf dem Matthäikirch­ hof“ wäre ein Aspekt von Lebenswelt, der small talk, dargestellt. Meine Hypothese ist jedoch, dass das strukturelle Lebensweltproblem, das die Arbeiten zu Fonta­ ne keineswegs offenlegen, aus dieser darstellungslogischen Bindung gelöst und stattdessen auf das lesend-schreibende Verfahren der Glossierung selbst bezogen werden muss. Indem der Beitrag des Artefakts bereits innerhalb der Aushandlung einer ‚Theorie der Lebenswelt‘ selbst – und damit von Theorie überhaupt – veror­ tet werden soll, unterscheidet sich der hier verfolgte Ansatz von narratologischen oder anthropologischen Positionen in der gegenwärtigen, den Lebensweltbegriff aufnehmenden Literaturtheorie.¹⁶⁰

159 Der Kontext ist hier ein anderer: „Der Ausdruck ‚Lebenswelt‘ zielt auf eine Konsequenz, in der sich die Sätze So ist die Welt und So ist das Leben derart aufheben, daß selbst für ihre Unbe­ stimmtheit kein ‚Bedarf‘ mehr besteht.“ VF, 157. 160 Vgl. Textwelt – Lebenswelt, hg. v. Brigitte Boothe et al., Würzburg 2012; Lebenswelten. Ima­ ginationsräume der europäischen Literatur, hg. v. Hans Sanders, Berlin/Boston 2013. Ein Modell, das direkt an Blumenberg anschließt, hat Stefan Matuschek vorgelegt: Stefan Matuschek, „Le­ benswelt als literaturtheoretischer Begriff. Im Anschluss an Hans Blumenbergs ‚Theorie der Le­ benswelt‘“, in: Literatur & Lebenswelt, hg. v. Alexander Löck und Dirk Oschmann, Köln/Wien

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Die folgenden Analysen versuchen, die gesuchte Bewegung im Detail aus­ einanderzulegen. In Blumenbergs Verfahren sind Fontanes textuelle Konfigura­ tionen ‚von der Seite her‘ adressiert; derart greift es die bereits bei Fontane ver­ handelte Dynamik des ‚Beiseite‘ auf. Ich möchte dann zeigen, dass sich der an sich unbestimmbare Einsatz oder Anfang der Lektüre zumindest als diese Unbe­ stimmtheit sehr genau umreißen, in Relation zum Text verorten und darüber auf das lebenswelttheoretische Problem des Aufkommens von Theorie beziehen lässt. Diese Bewegung ist in textuelle Unsicherheiten verstrickt; deutlich wird dies an Blumenbergs Diskussion eines Nachlassgedichts Fontanes und dem daran ent­ brannten Streit über philologische Gewissheiten.

Anamorphotisches Lesen („Der Stechlin“) An den Glossen zu Fontane fällt auf, dass sie neben den Wanderungen vor allem Briefe, Gedichte, Kritiken und Notizen Fontanes besprechen, das übrige Roman­ werk aber auslassen. Die Ausnahme bildet der letzte Roman, Der Stechlin, dem sich Blumenberg in „Rebhuhnflügel und Krammetsvögelbrüste“ über einen Ein­ trag aus dem Anmerkungsapparat nähert. In einem nicht verwendeten Entwurf findet sich die Skizze zu einem Religionsgespräch zwischen Dubslav von Stechlin und Pastor Lorenzen.¹⁶¹ Die Ambiguität des Romantitels aufnehmend, bemerkt Blumenberg, dass die Szene in ihrer Deutlichkeit „nicht ganz leicht genug“ gewe­ sen sei, „um an der Oberfläche des Stechlin zu bleiben“. Der „Fontaneton für ein Religionsgespräch“ sei darin nicht „genau genug“ getroffen. „Dieses Genauere“ finde sich vielmehr im Roman, „in einem Gesprächsfetzen, bei Tisch im Kloster Wutz der Domina Adelheid“ (VF, 13).¹⁶² Czako hebt hier an, die am Abend zuvor

2012, 57–72. Literatur könne darstellen, pointiert Matuschek, was sich lebensweltlich verborgen hält, und die „Mannigfaltigkeit biographischer Lebenswelten“ (ThL, 9) thematisch machen. An­ hand einer Relektüre der Texte zu Fontane soll jedoch gerade diese Darstellungsfunktion von Literatur kritisch befragt werden. 161 Dubslav kommt auf Christus zu sprechen: „. . . Nun Lorenzen, wie denken Sie eigentlich dar­ über. Aber ordentlich. Ich kann Sie nun mal controlieren. Haben Sie den Glauben daran? Den hab‘ ich. Gottes Sohn? Auch. Aber in meinem Sinn. Ja, in meinem Sinn. Was heißt das? Damit wollt ihr immer aus der Schlinge heraus. Das Gespräch setzt sich fort. Lorenzen wie Windel, aber nicht schopenhauerisch, sondern Bergpredigt, christlich sozial“. Theodor Fontane, Der Stechlin, in: ders., Werke, Schriften und Briefe [HF], Band I/5, hg. v. Walter Keitel, München 1966, darin: Vorarbeiten und Vorstufen, hier: 435–436. 162 Neumann hat die zentrale Funktion solcher Tischgespräche für Fontanes Schreiben heraus­ gearbeitet: Es handele sich um paradigmatische „Chronotypen in der sozialen Dynamik“, einge­

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beim Bruder der Domina eingenommene Mahlzeit – Krammetsvogelbrust – auf die nun servierte – Rebhuhnflügel – zu beziehen: In Brust und Flügel schlummert, wie mir scheinen will, ein großartiger Gegensatz von hü­ ben und drüben; es gibt nichts Diesseitigeres als Brust, und es gibt nichts Jenseitigeres als Flügel. Der Flügel trägt uns, erhebt uns. Und deshalb, trotz aller nach der anderen Seite hin liegenden Verlockung, möchte ich alles, was Flügel heißt, doch höher stellen.¹⁶³

Vorgebracht wird dies „in einem möglichst gedämpften Tone“,¹⁶⁴ in einer erneu­ ten Zurücknahme des ohnehin Zurückgenommenen. Der „gewagte Höhenflug von der einen Spezialität des Hauses zur anderen, von der Immanenz zur Transzen­ denz“, bleibe hier, folgert Blumenberg, „in der verdienten Schwebe“ (VF, 14). Die Lektüre, die das herausstellt, funktioniert, indem sie von dem nicht verwende­ ten Entwurf ihren Ausgang nimmt, ‚anamorphotisch‘.¹⁶⁵ Um an einem Tischge­ spräch die anfängliche Zurücknahme des Expliziten bei Fontane lesbar zu ma­ chen, wechselt sie die Perspektive. Genau genommen, gibt sie aber keine Gestalt dort, wo zunächst ein Fleck zu sehen war, sondern sie exponiert eine Bewegung, die gerade von der Beiläufigkeit des Dargestellten verdeckt, unlesbar gehalten wird. Der Gehalt des innerhalb der Szene angebrachten rhetorischen Scherzes lässt sich dann noch einmal verschieben: Czako bezieht „Brust und Flügel“ der ser­ vierten Vögel auf den „Gegensatz von hüben und drüben“. Wenn er aber „alles, was Flügel heißt,“ höherstellt, ist in diesem besonderen Fall eine ebenso forcierte wie verhinderte Transzendenz anzunehmen, da es sich erstens um einen gebra­ tenen Flügel handelt und zweitens um den eines Rebhuhns, das sich, wenn es fliegt, eher niedrig über dem Boden hält. Blumenberg übergeht diese Pointe, um die „Schwebe“ zwischen Immanenz und Transzendenz herauszuheben; dabei

rückt in ein Set von ‚Kraftfeldern‘, zu denen Neumann neben dem Duell und dem ritualisierten Begehren auch das Sterberitual zählt. Neumann, Romankunst als Gespräch, 56–57. 163 Fontane, Der Stechlin [HF I/5], 92–93. 164 Fontane, Der Stechlin [HF I/5], 93. 165 Als künstlerische Technik verweist die Anamorphose auf die Gemachtheit der Darstellung. „[A]ls Teil der mathematischen Ordnung der Bildkonstruktion liefert sie“, wie Dieter Mersch er­ läutert, „keine erkennbare Darstellung, vielmehr verwischt sie das Dargestellte und löscht die Figur aus, um das Bild an einem anderen Ort, nämlich in einem extremen Winkel von nahezu 180°, erst entstehen zu lassen“. Sie erzeuge damit „eine paradoxale Figuralität, die, indem sie nichts zu zeigen scheint, zugleich auf die Medialität der Bildkonstruktion zeigt“. Dieter Mersch, „Tertium datur. Einleitung in eine negative Medientheorie“, in: Was ist ein Medium?, hg. v. Stefan Münker und Alexander Roesler, Frankfurt am Main 2008, 304–321, hier: 311. Was Blumenbergs Glosse entstehen lässt, ist jedoch gerade eine Entbildlichung: von der Seite her sichtbar wird, was undarstellbar bleibt.

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kann es nicht allein um den rhetorischen „Höhenflug“ gehen. Es muss auch die Frage gestellt werden, woraufhin und nach welchem Prinzip eine solche Szene überhaupt zu lesen ist. Das Angebot, das eine anamorphotische Lektüre macht, geht nicht sofort auf das Nichtgesagte im Sinne eines Verschwiegenen, sondern auf eine grundsätzliche Infragestellung der Explikation, eines transzendenten Sinns. Denn in dem Tischgespräch handelt es sich nicht ‚eigentlich‘ um ein Re­ ligionsgespräch. Lesbar wird lediglich die Verhinderung des Themas als Thema. Nur der „Ton“ eines solchen Gesprächs wird wahrnehmbar. Dem ‚Lesen von der Seite her‘ zeichnet sich der flottierende Charakter des ‚Gesprächsfetzens‘ erst vor dem Hintergrund der verworfenen Möglichkeit ab. Mit dem Schlusssatz der Glosse erhält diese Konfiguration eine weitere Drehung: „Wie der greise Fontane in diesem Werk, dessen Korrekturen er noch gelesen, das er aber als leibhafti­ ges Buch nicht mehr in Händen halten sollte, nochmals und letztmals alles in der Schwebe läßt.“ (VF, 14)¹⁶⁶ In der Spannung zwischen zurückgenommener mise-en-scène und postum erscheinender Erstausgabe bringt Blumenbergs ana­ morphotische Lektüre die Aporie der Geschlossenheit zur Lesbarkeit.

Der zweite Untergang der Metaphysik („Rheinsberg“) In der Vorrede zur ersten Auflage der Wanderungen wird die Beiläufigkeit der Un­ ternehmung betont: „Und sorglos hab’ ich es gesammelt, nicht wie einer, der mit der Sichel zur Ernte geht, sondern wie ein Spaziergänger, der einzelne Ähren aus dem reichen Felde zieht.“¹⁶⁷ Fontanes Texte werden lebenswelttheoretisch lesbar, weil sie in metonymischen Verkettungen den wiederholten Verzicht auf Explika­ tion zur Sprache bringen. Die topographischen Nebenschauplätze gewinnen ei­ ne topologische Qualität. Zentral für diesen Gedanken ist Blumenbergs Miniatur „Ein Nebensatz, ein Untergang“. Sie bezieht sich auf einen Satz über die Nachmit­ tagsgesellschaft am Rheinsberger Hof von Prinz Heinrich: „Mit besonderer Vorlie­ be wurden metaphysische Sätze beleuchtet und diskutiert, und alle jene wohlbe­ kannten Fragen auf deren Lösung die Welt seitdem verzichtet hat, wurden un­ ter Aufwand von Geist und Gelehrsamkeit und mit Zitaten pro und contra immer wieder und wieder durchgekämpft.“¹⁶⁸ Rheinsberg ist ein Rückzugs- und Erin­

166 Blumenbergs Einordnung ist widersprüchlich: Einerseits geht er davon aus, dass Der Stech­ lin „erkennbar Fragment geblieben“ (VF, 9) sei, registriert aber andererseits, „daß wir bis heute nicht wissen, ob dieser Roman Fragment geblieben ist“. VF, 36. 167 Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Erster Band, in: ders., Werke, Schriften und Briefe [HF], Band II/1, hg. v. Helmuth Nürnberger, München 1991, 11. 168 Fontane, Wanderungen [HF II/1], 296.

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nerungsort wider Willen. Blumenberg stellt heraus, dass Fontanes Heinrich ei­ ne Figur „zwischen zwei Unmöglichkeiten“ (VF, 65) sei – in der Nähe des Thro­ nes zu bleiben ist ihm ebenso unmöglich wie nach Frankreich auszuweichen. Der beiläufig erwähnte Niedergang der Metaphysik gerät in eine Analogie zu einem politischen Verfallsnarrativ. Für den Wanderer, den „Unfreund der Philosophie“ (VF, 66), gehört es ein Jahrhundert später zu den Selbstverständlichkeiten, dass etwas seinen Untergang nimmt. Nicht der Untergang der Metaphysik, sondern das Selbstverständlich-Werden ihres Verlusts, ist das Problem: Daß der Untergang der Metaphysik wie des Vertrauens zu ihr in einem Nebensatz unter­ gebracht ist, der den ganzen Tischrundenkraftaufwand mit Vergeblichkeit stigmatisiert, ist große Kunst. Ist es gerade dadurch, daß dieser ‚Verzicht‘ auf Fragelösungen, den ‚die Welt‘ seither geleistet hat, die Integration ins Lebensweltlich-Selbstverständliche des nächsten Jahrhunderts – der Wandererlebenszeit – erfährt. Auf Untergänge ist man nun eingestellt. Sie können in Nebensätzen stattfinden. (VF, 66–67)

Fontanes „große Kunst“ besteht darin, durch geschickte Umbelastung des Satzge­ füges dieses zweite Versinken thematisch zu machen. Die Glossierung setzt genau dort an, bei einer Verschränkung von Nebensatz und Nebenschauplatz. Die ne­ benbei vorgeführte Tilgung philosophischer Ansprüche ist zugleich meta- und prototheoretisch: metatheoretisch, weil das Absinken obsoleter metaphysischer Sätze ins „Lebensweltlich-Selbstverständliche“ beobachtbar wird, prototheore­ tisch, weil die Nebenleistungen zur Hauptsache werden und sich so der Umschlag in Theorie vorbereitet. Dieser Umschlag kommt von der Seite her zur Lesbarkeit, bleibt bloßer Ansatz. Fontanes Schreiben und Blumenbergs Glossieren treffen sich in ihrer Aufmerksamkeit für die disruptive Kraft des Marginalen.¹⁶⁹ Mit dem ‚Aparten‘ hat Fontane ein Wort dafür, dessen strukturelle Implikationen Bettine Menke herausgearbeitet hat:¹⁷⁰ Apart wäre [. . . ], was sich einer Hierarchisierung nicht fügt, die den Teil allein vom Ganzen her denkt, insofern es diesem schon entstamme, und in diesem – restlos – aufgehen können soll, weil er, der Teil, ihm, dem Ganzen, immer schon zugehörig und untergeordnet war. Der Versicherung, daß der Teil auf die Totalität verweise und sich ihm gewaltlos ein- und 169 Dies entspricht der Konstellation, die Fleming an der Thales-Anekdote, dem antiken Para­ digma zu einer ‚Urgeschichte der Theorie‘ herausgearbeitet hat: „Representing the lifeworld, the laughter of the maid erupts at once from the margins and the inside of thought“. Fleming, On the Edge of Non-Contingency, 34. 170 Bettine Menke, „Fontanes Melusinen“, in: Die Bilder der ‚neuen Frau‘ in der Moderne und den Modernisierungsprozessen des 20. Jahrhunderts, hg. v. Krystyna Gabryjelska, Mirosława Czar­ necka und Christa Ebert, Wrocław 1998, 25–50. Das „aparte“ sei ein „symptomatisch auftreten­ des Wort“ Fontanes (36), prominent etwa in Cécile. Vgl. auch Neumann, Romankunst als Ge­ spräch, 11: ‚Apartheit‘ wird dort im Kontext von „Norm und Abweichung“ diskutiert.

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unterordne, steht ein arabesk zu verstehendes à-part (beiseite) entgegen. Denn den ‚Teil‘ im A-parten zu hören, weist einen anderen Ort am Rande an, der sich nicht dem Ganzen integriert und in ihm aufgehen wird. – [. . . ] Das Aparte benennt nun nicht (nur) eine Klasse von Gegenständen, etwa die ‚aparte Frau‘, sondern als ‚beiseite‘ organisiert es eine Relation, eine selbstreflexive Figur.¹⁷¹

Als ein nicht Integrierbares, aber dennoch Relationsstiftendes, das die Vorausset­ zungen von Totalitätsfiguren irritiert und in Konkurrenz zum Elementaren steht, lässt sich das Aparte in einen Bezug zum lebensweltlichen „Rand von Unsicher­ heit“ (ThL, 124)¹⁷² setzen. Es „stört die Logik von Gehalt und Beiwerk und damit die Möglichkeit einer geschlossenen Lektüre eines integralen Gehaltes selbst“.¹⁷³ Das umrankende Beiwerk, die Arabeske, unterläuft polare Oppositionen,¹⁷⁴ ist vielmehr „bestimmt durch das Kippen zwischen verschiedenen miteinander kon­ kurrierenden Darstellungsmodi und Lesemodi“.¹⁷⁵ In der Ergänzung zu seiner Poetik-und-Hermeneutik-Vorlage „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Ro­ mans“ beschreibt Blumenberg die Arabeske als ein wesentliches Kriterium mo­ derner Ästhetik: „Die Arabeske ist repräsentativ für den unnaiven Roman, der sich selbst zu thematisieren beginnt.“¹⁷⁶ Indem die Glossen dieses selbstrefle­ xive ‚Beiseite‘ in Fontanes Texten aufgreifen, tragen sie sich in den Widerstreit ‚konkurrierender Lesemodi‘ ein. Fontanes Poetologie ist ihrerseits unter dem Gesichtspunkt der Lesbarkeit un­ tersucht worden: Fontane versehe „Lesbarkeit mit einer hohen ästhetischen Qua­ lität, die er durch den Einfluss der Rhetorik legitimiert, der Klarheit, Anschau­ lichkeit und leichte Textverständlichkeit sowie Publikumsaffinität zum Desiderat werden lässt.“¹⁷⁷ Dieser positive Begriff von Lesbarkeit, der Benjamin Schapers Studie zugrunde liegt,¹⁷⁸ erhält durch Blumenbergs Aufmerksamkeit eine andere

171 Menke, Fontanes Melusinen, 37. 172 „Emotional“ sei dieser Rand „besetzt mit Vorgängen des Befremdens, des Erschreckens, des Entsetzens, der Furcht“. ThL, 135. 173 Menke, Fontanes Melusinen, 43. 174 Vgl. Menke, Fontanes Melusinen, 40. 175 Menke, Fontanes Melusinen, 43–44. 176 Hans Blumenberg, Ergänzung des Referats, in: Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gie­ ßen Juni 1963, hg. v. Hans Robert Jauß, München 1969, 219. Helmstetter greift diese Formulierung auf und bezieht diese Kraft des Marginalen etwa auf die Elementarstrukturen von Irrungen, Wir­ rungen: „[E]s sind Randbemerkungen, arabeske Marginalien, die das Konstruktionsprinzip des Textes en miniature ausstellen“. Helmstetter, Geburt des Realismus, 142. In Effi Briest führe die Arabeske als „Prinzip und Emblem“ „ins Zentrum des Romans und seiner Poetik“. Helmstetter, Geburt des Realismus, 198. 177 Schaper, Poetik und Politik der Lesbarkeit, 69. 178 Vgl. Abschnitt 3.1.

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Wendung: Gerade in der vermeintlich niedrigschwelligen Zugänglichkeit der Tex­ te Fontanes liegt eine Lektüreaufgabe eigener Art beschlossen, der das phänome­ nologische Interesse für das, was sich von selbst versteht, begegnet. Der negative Begriff von Lesbarkeit, wie er hier weiter ausgebaut werden soll, erfasst hingegen das noch und gerade im leicht Verständlichen Insistierende.

Aufkommen der Lektüre („Am Schermützel“) Das Textstück „In-der-Lebenswelt-sein heißt: Nichtschwimmer sein“ kommen­ tiert eine Spreeland-Episode aus den Wanderungen. In Blumenbergs Referat wird Fontanes Szene an entscheidender Stelle unterbrochen. Mit dieser Zäsur ver­ schiebt sich die darstellungslogische Adressierung der Lebensweltthematik. Als der ‚Schermützelsee‘ wieder in Sicht gerät, muss sich der Wanderer ent­ scheiden: zwei Dörfer – Saarow und Pieskow – erscheinen ihm gleichermaßen reizvoll, jedoch liegt nur Pieskow auf der Reiselinie. Weil der Kutscher Moll kur­ ze Wege liebt und die Pferde schonen will, treffen sie die Absprache, dass er al­ lein vorfahren werde. „Das fand denn auch seine Zustimmung“, schreibt Fonta­ ne, „wie jede den Weg kürzende Proposition“.¹⁷⁹ Währenddessen will der Wan­ derer das hangabwärts gelegene Saarow zu Fuß besuchen und von dort mit dem Fährboot, einem „Seelenverkäufer“,¹⁸⁰ übersetzen. Die Bootsführer der Fähre, ein eben noch im Bootshäuschen gescholtener Junge und seine jüngere Schwester, übernehmen diese Aufgabe offenbar in Vertretung des Vaters („sie habe nur den Jungen zu Haus“,¹⁸¹ sagt die Mutter). Als sie etwas über die Seemitte hinaus ge­ langt sind, verwickelt der Wanderer die beiden Kinder in ein Gespräch: „Wie tief ist denn eigentlich euer See?“ „Na, wie uns’ Huus.“ „O, mihr, mihr“, flüsterte die Schwester. „Und könnt‘ ihr denn auch schwimmen? Oder du wenigstens?“ „Nei.“ „Ja, da kannst du ja mal ertrinken.“ „O, ick wihr doch nich.“ „Nu nimm mal an, wenn euer Boot umkippt.“ „Uns’ Boot kippt nich.“ Und dabei sahen sie sich an und kicherten und ruderten weiter.¹⁸² 179 Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Zweiter Band, in: ders., Wer­ ke, Schriften und Briefe [HF], Band II/2, hg. v. Helmuth Nürnberger, München 1991, 478 [meine Hervorhebung, A.W.]. 180 Fontane, Wanderungen [HF II/2], 478. 181 Fontane, Wanderungen [HF II/2], 480. 182 Fontane, Wanderungen [HF II/2], 480.

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237

Blumenberg kommentiert diese Szene lakonisch: „Das ist die Lebenswelt; nur wer von außen in sie eintritt, sieht Risiken jenseits des Randes alltäglicher oder er­ innerter oder jemals auch nur vorgestellter Vorkommnisse.“ (VF, 96) Lebenswelt heißt, nicht gerüstet zu sein für das Auftreten von Unvorhergesehenem. Als der­ jenige, der sich dennoch auf dem Wasser befindet, sei der Nichtschwimmer, der nicht einsieht, schwimmen können zu müssen, wo er doch ein Boot hat, das Sub­ jekt dieser Welt (VF, 96–97). In diesem Schema stößt die Nachfrage des Wande­ rers den Lebensweltverlust der Kinder an, ist die von außen kommende Irritation. Das Nicht-Versinken des Bootes entspricht dem Absinken der Störung ins Selbst­ verständliche („Uns’ Boot kippt nich“). In Bezug auf das Lebensweltskonzept hat die Szene einen illustrativen Charakter – Blumenberg nutzt hier in der Tat die Bezeichnung „Verbildlichung“ (VF, 94). Dieser Verbildlichung liegt eine Vermitt­ lungsarbeit des Kommentars zugrunde: Anhand einer erkannten Strukturanalo­ gie wird die literarische Szene auf den phänomenologischen Begriff gebracht. Der über die Glossierung eingebrachte theoretische Mehrwert liegt dann in dem Er­ gebnis, das sie bringt, nicht aber in sich selbst. Generalisiert man dieses Modell, lassen sich in der Literatur verdeckte ‚Verbildlichungen‘ philosophischer Begriffe erkennen. Ist diese Relation erst gesetzt, ist es im Grunde genommen unerheblich, dass es sich hier um das Konzept der Lebenswelt handelt; es könnte sich, da es letztlich unbetroffen von der literarischen Konfiguration bliebe, ebensogut um ein anderes Philosophem, etwa um das des ‚In-der-Welt-seins‘ handeln. Auch wenn eine solche Lesart naheliegt und von Blumenberg sogar forciert wird, spricht ei­ niges dagegen, dass das strukturelle Problem damit schon adäquat bestimmt ist. Dagegen sprechen etwa die mitgesetzte Trennung von Literatur und Philosophie, Blumenbergs Einsichten aus einer zur Theorie der Unbegrifflichkeit ausgebauten Metaphorologie, die Ausblendung eines möglichen Eigenwerts des glossierenden Verfahrens, schließlich die Zurückweisung eines reduktiven Lebensweltverständ­ nisses. Um eine lebenswelttheoretische Lesart des Verhältnisses zwischen Minia­ tur und Fontanes Prosastück zu erproben, sind diese Elemente jedoch zentral. Blumenbergs Einsatz „Das ist die Lebenswelt“, führt, obwohl er das Problem be­ nennt, zugleich ein Stück weit in die Irre. Der Hinweis liegt darin, dass dieser Satz, mit dem eine Darstellung der Le­ bensweltsproblematik bei Fontane behauptet wird, mit der Unterbrechung des Referats dieser Darstellung ineins fällt. Nicht nur Blumenbergs Kommentar lässt sich lesen, auch die Tatsache und Situation des Kommentierens selbst. Der Kom­ mentar bringt eine Bewegung zum Stillstand, um, so scheint es, eine margina­ le Szene mit philosophischem Gehalt aufzuladen; aber dies geschieht um den Preis eines Verlusts der Verunsicherung, der „Krisenzone“, die Fontanes Szene provoziert. Wenn Blumenberg das, „was scheinbar am Rande geschieht,“ zu le­ sen versteht, wie Zill konstatiert, und „auf seine Signifikanz für die Lebenswelt

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hin“ entfalten kann, dann verdecken die hier gefundenen „Bedeutsamkeiten im scheinbar Marginalen“¹⁸³ – die Lebensweltzuschreibung – das Marginale als Marginales. Blumenbergs Zuschreibung verstellt geradezu die lebensweltlich entscheidende Bewegung, nämlich eine potentielle immanente Destruktion. In diesem Aspekt korrespondiert die Äußerlichkeit des Kommentars mit der Frage des Wanderers, nur dass es jetzt die literarische Figuration ist, die ihre Unbe­ merktheit preisgibt. Ich schlage vor, die Verunsicherung vor dem Einrasten des Kommentars, d. h. die autodestruktive Tendenz des Marginalen mit dem Problem der Lektüre zu verbinden, und zwar so, dass die Lektürebewegung selbst Teil des Lebensweltproblems wird, das sie zugleich als ‚verbildlichtes‘ präsentiert. Denn dass an dieser unscheinbaren Textpassage bei Fontane überhaupt eine „Verbild­ lichung“ von Selbstverständlichkeit thematisch werden kann, ist, für sich ge­ nommen, keineswegs selbstverständlich. Mein Vorschlag zielt weder darauf, den Text als Lebenswelt zu verstehen, noch darauf, das Lesen, phänomenologisch, als Überführung von Selbstverständlichkeit in Verständlichkeit zu bestimmen. Lebenswelt- und lektüretheoretisch relevant sind die gegenstrebigen Lesemodi, auf die sich die phänomenologische Aufmerksamkeit für Trivialitäten hier einlas­ sen muss. Während im Überlesen eine Stabilisierung des ‚Hingenommenen‘ liegt, irritiert das glossierende Verfahren diese Tendenz. Innerhalb dieses Verfahrens muss unterschieden werden zwischen einer darstellungslogischen Lesart (‚Ver­ bildlichung‘), die begrifflich sistiert, und jenem Moment der Irritation selbst. Soll dieses nicht als ‚von außen kommende‘ Infragestellung verstanden sein, muss es bereits in Fontanes Text, in der Inszenierung des Marginalen angelegt sein. Geht man ein wenig über die von Blumenberg zitierte Stelle hinaus, deutet in „Am Schermützel“ zunächst kaum etwas auf eine stabile Konstellation hin; nichts ist an seinem Platz. Die Kinder vertreten, indem sie das Boot übersetzen, den Va­ ter, vielleicht sogar die Stelle des abwesenden väterlichen Signifikanten. Der Wan­ derer weicht, indem er die Fähre nimmt, von seinem Weg ab und hinterlässt ei­ nen Kutscher ohne Fracht. Fontanes Prosastück drängt aber auf eine Auflösung dieser Destabilisierung, auf ein Gelingen, zu einer Rückkehr auf die eigentliche Route. Als sich Wanderer und Kutscher später auf der gegenüberliegenden Ufer­ seite wiedertreffen, beklagt sich der Kutscher über die empfundene Leere: „Is das eine Gegend! In Saarow is nichts, das kenn‘ ich, und hier in Pieskow is gar nichts.“ Blumenbergs Kommentar hingegen hält die Szene inmitten der Überfahrt an, ge­ wissermaßen auf dem Weg von ‚nichts‘ zu ‚gar nichts‘; er lässt so gesehen den „Seelenverkäufer“ nicht mehr an der Uferböschung ankommen, den Wanderer nicht den ‚hohlen Klang‘ unter dem Pieskower Kirchboden erklopfen, den Umweg

183 Zill, Anekdote, 38.

4.5 Lebenswelt-Lektüre (Fontane) |

239

so nicht im empfundenen „Hoch- und Vollgefühle“¹⁸⁴ enden, ehe der Wanderer wieder auf den vom ernüchterten Moll genutzten Weg trifft – auf den der „Pro­ position“. Die Zäsur setzt Blumenberg inmitten des Übertragungsgeschehens, wo Verlust und Restitution von Selbstverständlichkeit ineinandergreifen. Der diese Zäsur setzende Satz – „Das ist die Lebenswelt.“ – ist in sich paradox, weil ‚Lebens­ welt‘ das Paradigma dessen ist, auf das sich nie zeigen und das sich gerade nicht bestimmen lässt, da sie im Moment ihrer Bestimmung zu existieren aufhört.¹⁸⁵ Hierin liegt der performative ‚Witz‘: Was sich philosophisch nicht direkt adressie­ ren lassen darf, kann im literarischen Artefakt seine indirekte und unbegriffliche Darstellung nur um den Preis einer erneuten Verfehlung finden. Der von Blumen­ berg diskutierte Widerstreit zwischen „theoretischer“ und „ästhetischer Einstel­ lung“¹⁸⁶ lässt sich – was die Miniaturen zu Fontane betrifft – nicht jenseits der Frage nach der Lektüre diskutieren. In der Selbstausstellung der Glosse als Glosse liegt die unbegrifflich-lebensweltliche Pointe. Indem sie einen bestimmten Fokus setzt, zeigt die Glossierung zugleich ihr eigenes Unterbrechen wie auch ihr Unter­ brochensein. Unterbrochen ist sie, insofern sie eine vergangene Lektürebewegung in ihrer Differenz zu den ihr nachfolgenden markiert. Glossieren ist, mit Blumen­ berg, die Technik, die einen unmerklichen Moment textueller Irritation aufnimmt, um ihn derart auszustellen, dass sich dieses Ausstellen selbst anderen Lektüren überantwortet. Die Glossierung muss ihrerseits glossierbar sein. Sie ist, in diesem Sinn, endlos.¹⁸⁷ Während die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Techniken der glossierenden Texterschließung darauf zielen, einen nicht oder nicht mehr ge­ läufigen Begriff zu erläutern, liegt dieses Verhältnis in Blumenbergs Nichtschwim­ merkommentar anders. Der erläuterungsbedürftige Begriff kommt hier hinzu; die Fontanepassage muss ihrerseits als Erläuterung für das einspringen, was – wenn

184 Fontane, Wanderungen [HF II/2], 483. 185 „Die Lebenswelt selbst zum Gegenstande theoretischer Deskription zu machen, ist ja nicht eine Rettung und Bewahrung dieser Sphäre, sondern in der Enthüllung die unvermeidliche Zer­ störung ihres essentiellen Attributs der Selbstverständlichkeit. Der kritisch benötigte und ge­ suchte Begriff kann nicht gewonnen werden ohne Aufhebung der Sache“. Technisierung, 48. In seinem frühen Husserlbuch zur Beilage III der Krisis-Schrift hat Jacques Derrida auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die die Adressierung der apriorischen Strukturen der ‚vorwis­ senschaftlichen Welt‘ bereitet. Bereits Husserls Denkbewegung folge einer „rückläufigen ‚ZickZack‘-Bewegung“. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Ein Kommentar zur Beilage III der ‚Krisis‘, übers. v. Rüdiger Hentschel und Andreas Knop, Mün­ chen 1987, 157. 186 Vgl. Abschnitt 2.1. 187 Zill veranschlagt eine solche Endlosigkeit auf der Ebene des Programms der „Nachdenklich­ keit“: Das „Charakteristische an seinem Verfahren“ sei, dass Nachdenklichkeit „mit einer Sache nicht zu Ende“ komme. Zill, Anekdote, 41.

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es sich um ein texterschließendes Verfahren handeln würde – ihrer Explikation hätte dienen sollen.

„Tragik und Komik des Nichtschwimmers“: Blumenbergs „Zwischen-Zwei“ Der Bezug dieses Textstücks zum Arbeitskontext Schiffbruch mit Zuschauer ist ein­ deutig. Aufschlussreich hierzu ist das schmale Nachlasskonvolut „Text- und Ma­ terialsammlung Nichtschwimmer“ (DLA Marbach). Es enthält Fragmente zu An­ ekdoten bei Egon Erwin Kisch, Umberto Eco und Carl Schmitt. An dem Konvolut lässt sich studieren, aus wie vielen Richtungen Blumenberg Motive variiert hat. In „Das Wasser und die Götter: Tragik und Komik des Nichtschwimmers“ wird die Medialität des Wassers herausgestellt und mit einer elementaren Daseinsmeta­ phorik verbunden. Das Wasser verdanke seine überragende Systemstellung der ‚mittleren‘ Funktion [. . . ], die es zwischen dem Fes­ ten und dem Windigen, dem Fressenden und dem Standfesten einnimmt. Wie es im topo­ graphischen Aspekt trennt oder verbindet [. . . ], so bietet es in ‚existentieller‘ Metaphorik die vertikale Ambivalenz dessen an, was trägt oder versinken läßt.¹⁸⁸

Das Wasser ist hier nicht als das Flüssige dem Festen gegenübergestellt, sondern betont wird dessen innere Ambivalenz. Es ist das Mittlere zwischen zwei Gegen­ satzpaaren und auch deswegen von Interesse für Blumenbergs Verfahren, das sol­ che Zwischenlagen immer wieder sucht („[z]wischen zwei Unvorstellbarkeiten“, LW, 144; „zwischen zwei Unmöglichkeiten“, VF, 65; „zwischen den beiden Unend­ lichkeiten“, PM, 177). Ob in der Valéry-Lektüre,¹⁸⁹ in den Auseinandersetzungen mit Leibniz,¹⁹⁰ Goethe¹⁹¹ oder Fontane, jeweils erscheinen die Pole als instabil, umso mehr der Raum dazwischen. Bereits in den Vorarbeiten zur Dissertations­ schrift ist von einem „unfest-schwebende[n] Zwischenstehen“¹⁹² die Rede.¹⁹³ Die späte Variation ist defätistischer angelegt; sie führt denjenigen, der sich auf das Schwimmen versteht, nur noch als Kontrast zu dem „auf diese Überlebenskunst Verzichtende[n]“ an. Beide „bringen sich zur vertikalen Zweideutigkeit des Ele­ 188 Hans Blumenberg, „Das Wasser und die Götter: Tragik und Komik des Nichtschwimmers“ [UNF 3602–3604], undatiert, DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg, Konvolut: Text- und Ma­ terialsammlung Nichtschwimmer, 3 Bl., hier: 1. 189 Vgl. Abschnitt 2.1. 190 Vgl. Abschnitt 3.4. 191 Vgl. Abschnitt 3.3. 192 Blumenberg, Zur Methodik einer Untersuchung ontologischer Konzeptionen (DLA Marbach, Nachlass), 1. 193 Vgl. Abschnitt 2.3.

4.5 Lebenswelt-Lektüre (Fontane) |

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ments derart in Beziehung wie der Seßhafte und der Umtriebige zur horizontalen Doppelfunktion.“¹⁹⁴ Vereint sind sie zudem im Fall der Erfolglosigkeit. Im Schei­ tern ist es unerheblich, ob man sich auf eine Sache zuvor verstanden hatte oder nicht. Die Differenz koinzidiert im Ertrinkenden: kein härterer Gegenzug mit identischem Effekt als der schließlich versagend-versinkende Schwimmer und der im Augenblick ans Unvor­ hergesehene verlorene Nichtschwimmer – gleich, ob er das Erlernen der einfachsten aller Künste verweigert hatte oder aus ‚pathologischen‘ Gründen daran gescheitert war.¹⁹⁵

Im Ertrinken im mittleren Element des Wassers liegt der Unterschied zwischen Unvermögen und Vermögen nur noch in der Außenansicht, in der neu eingebrach­ ten dritten Instanz des Betrachters. „Die Komik des Nichtschwimmers haftet ihm fest an, auch wenn er nie in die Verlegenheit kommt, dem Gelächter derer aus­ gesetzt zu sein, die ihm auch noch die Schuld an seinem Schicksal zuweisen.“¹⁹⁶ In Blumenbergs kurzem Exkurs handelt es sich nicht um eine – reduktiv verstan­ den – ‚lebensweltliche‘ Beschreibung eines Phänomens, weder des Wassers noch des Nichtschwimmenkönnens. Vielmehr geht auch dieser Konstellation, die sich theoretisch durchaus belasten lässt, eine Leseszene voraus. In diesem Fall han­ delt es sich um einen Eintrag aus Schmitts „Glossarium“ vom 1. August 1948. Ein spezifischer Text wird nutzbar gemacht, um eine neue Konstellation des „Zwi­ schen-Zwei“¹⁹⁷ zu erproben und sie methodologisch bzw. daseinsmetaphorolo­ gisch zu wenden. Blumenberg nutzt das Verfahren einer durch Texte vermittel­ ten Beschreibung eines Phänomens nicht, um es sofort als es selbst zu erfassen, sondern um es theoretisch und zugleich theoriepolitisch dienstbar zu machen. In Schmitts Eintrag handelt es sich um eine durchaus boshafte, gegen die Instanz des Zuschauers gerichtete Polemik, der Blumenberg eine gewisse Widersprüch­ lichkeit bescheinigt. In der – mit und gegen Schmitt eingenommenen – ‚existen­ tiellen‘ Perspektive ist die Zwischenstellung des Wassers ebenso relevant wie die Zwischenstellung zwischen zwei Seinsweisen. Lässt sich das Lesen selbst als Ver­ 194 Blumenberg, Das Wasser und die Götter (DLA Marbach, Nachlass), 1. 195 Blumenberg, Das Wasser und die Götter (DLA Marbach, Nachlass), 1. 196 Blumenberg, Das Wasser und die Götter (DLA Marbach, Nachlass), 1. 197 Die Prägung „Zwischen-Zwei“ [„l’entre-deux“] ist der Nietzsche-Lektüre Maurice Blanchots entnommen: Dort wird es in einer Verbindung zur „fragmentarischen Rede“ bestimmt, die, wie Blumenbergs exponiertes Verfahren, ebenfalls ‚endlos‘ ist: „Die Rede des Fragments ist [. . . ] Rede des Zwischen-Zwei. Das Zwischen-Zwei ist nicht das Mittlere zwischen zwei Zeiten, [. . . ] nicht das Bindeglied zwischen der einen und der anderen, eher trennt sie sie, ist, solange sie spricht und, sprechend, schweigt, der wandernde Riß der Zeit, der, von einer Unendlichkeit zur andern, die beiden Figuren festhält, in denen das Wissen sich wendet.“ Maurice Blanchot, „Nietzsche und die fragmentarische Schrift“, in: Nietzsche aus Frankreich, hg. v. Werner Hamacher, Berlin/Wien 2007, 71–98, hier: 80–81.

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fahren, das in einer solchen mittleren Lage zwischen zwei Unsicherheiten ope­ riert, beschreiben?

Lesen und lesen lassen („Aus dem Nachlass“) Die Endlosigkeit des glossierenden Verfahrens steht in scharfem Kontrast zum Topos der letzten Worte, der von Blumenberg immer wieder aufgegriffen wird.¹⁹⁸ Doch gerade in dieser ‚Gattung‘ fallen Gewinn von Tradierbarkeit und Unsicher­ heit der Überlieferung zusammen: Zeichnen sich letzte Worte doch dadurch aus, dass sie, ehe „sie zum Bonmot oder geflügelten Wort werden“, immer zugleich „zitiert und fehlzitiert“ werden.¹⁹⁹ Die Glossen zu Fontane greifen solche Verunsi­ cherungen auf. Das nur als Abschrift überlieferte Gedicht „Leben“, von dem Blumenberg sagt, dass es so etwas wie „Fontanes ‚letztes Wort‘ sein könnte“ (VF, 38), ist vor allem aufgrund seiner Editions- und Rezeptionsgeschichte interessant. Diese ist durch einen vehement und öffentlich ausgetragenen Disput zwischen Thomas Mann und Otto Pniower über die ‚richtige‘ Lesart des Gedichts bestimmt.²⁰⁰ Trotz der von Mann aufgebotenen Rhetorik hat sich Pniowers Lesart im Wesentlichen durchgesetzt. In „‚Leben‘, ein Fünfzeiler“ kommentiert Blumenberg diesen Dis­ put bis zu dem Punkt, an dem Mann den eigenen Irrtum nicht mehr ausschließen konnte – „ganz am Lebensende“, wie Blumenberg bemerkt (VF, 39). Die Konstel­ lation gewinnt an Komplexität einerseits dadurch, dass das Gedicht selbst das Lebensende verhandelt, andererseits durch Manns selbstgewählten Anschluss an das Romanwerk Fontanes. Nicht zuletzt lässt sich fragen, ob das Gedicht über­ haupt als abgeschlossen angesehen werden kann. Blumenbergs Lektüre geht von einer Vervielfältigung der in den Publikationsprozess eingebundenen Instanzen und ihren gegenseitigen wie internen Widersprüche aus: Das Problem philolo­ gischer Gewissheit wird dort aufgenommen, wo sich die Möglichkeit eines close reading an eine diskursive und mediale Konstellation verliert. Die in der Überlie­ 198 Etwa in: „Kein letztes Wort bei einem lebensgetreuen Tod“, „Letztes Wort im Irrealis – oder der anderen für den, der es nicht mehr sagen kann“, „Fontane legt das letzte Wort des fallenden Helden aus“, „Balladesker Liebestod“, „Eine Mine im Nachlass“ und „‚Nicht umsonst gelebt!‘“. Es ist damit Bestandteil eines weiter gefassten Arbeitskontextes Blumenbergs, der u. a. in der Diskussion philosophischer „Todesanekdoten“ reflektiert wird. Vgl. Anekdoten, 28–30. 199 Karl S. Guthke, Letzte Worte. Variationen über ein Thema der Kulturgeschichte des Westens, München 1990, 15 [meine Hervorhebung, A.W.]. 200 Vgl. zur entbrannten Diskussion und Editionsgeschichte: Thomas Mann, Essays II: 1914– 1926:Kommentar, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher [GKFA], Band 15/2, hg. v. Hermann Kurzke, Frankfurt am Main 2002, hier: 188–191.

4.5 Lebenswelt-Lektüre (Fontane) |

243

ferung „klaffende Lücke“ markiert dabei eine strukturelle Analogie zum Format der Anekdote, dem anékdoton. Denn die „Aura der Anekdote“ bestehe gerade darin, dass sie eine solche Lücke nicht schließt, vielmehr den „Horizont ihrer Vieldeutigkeit“ (VF, 30) erhalte. Vor diesem Hintergrund gewinnt der philologi­ sche Disput lebenswelttheoretische Relevanz. In einem Artikel in der Vossischen Zeitung spricht sich Pniower im Mai 1920 dafür aus, die fünf Zeilen wie folgt zu lesen:²⁰¹ Leben! Wohl dem, dem es spendet Freude, Kinder, täglich Brot! Doch das Beste, was es sendet, Ist das Wissen, daß es endet, Ist der Ausgang, ist der Tod.

Er reagiert damit nicht nur auf den aus seiner Sicht falschen Abdruck in der Erst­ ausgabe der Nachlassschriften, sondern vor allem auf Thomas Manns Aufsatz „Der alte Fontane“ (1910/19).²⁰² Dieser endet mit einer emphatischen Zitation des Gedichts wie es im Nachlassband von 1908 abgedruckt ist:²⁰³

201 Otto Pniower, „Der verballhornte Fontane. Eine falsche Lesart“, in: Vossische Zeitung, 5. Mai 1920, Abendausgabe. Sowohl in der Hanser-Ausgabe – mit der Blumenberg arbeitete – als auch in der Großen Brandenburger Ausgabe bei Aufbau (1995) ist das Gedicht wie folgt abgedruckt: „Leben; wohl dem, dem es spendet / Freude, Kinder, täglich Brot, / Doch das Beste, was es sen­ det, / Ist das Wissen, daß es endet, / Ist der Ausgang, ist der Tod.“ Theodor Fontane, Leben, in: ders., Werke, Schriften und Briefe [HF], Band I/6, hg. v. Helmuth Nürnberger, München 1995, 392; Theodor Fontane, Leben, in: ders., Große Brandenburger Ausgabe [GBA], Band II/2, hg. v. Joa­ chim Krueger und Anita Golz, Berlin 1995, 480. Helmuth Nürnberger merkt an: „Die Nichtver­ öffentlichung des kleinen Gedichts könnte darauf schließen lassen, dass F[ontane] es als noch nicht abgeschlossein empfand.“ HF I/6, 1108. Nürnberger verweist auf die Einsendung von Martin Sußmann in der Vossischen Zeitung vom 2. Juli 1920 sowie auf eine spätere Diskussion in den Fon­ tane-Blättern 1969. Er kommt zu dem Schluss, dass „die von Thomas Mann verteidigte Fassung der Verszeile in Ettlingers Nachlaßband (‚Ist das Wissen, das es sendet‘) auf Grund des Überliefe­ rungsbefundes abzulehnen“ sei. HF I/6, 1108. Joachim Krueger und Anita Golz ergänzen dazu im Brandenburger Kommentar, dass sich der Entwurf im Konvolut „Gedichte (Anfänge und Entwür­ fe aus den letzten Jahren)“ befand, der auf die Jahre 1892–1898 datiert wird. Vgl. GBA II/2, 693; die Abschrift befindet sich im Fontane-Archiv-Potsdam: FAP, Ha 212. 202 Thomas Mann, „Der alte Fontane“, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher [GKFA], Band 14/1, hg. v. Heinrich Detering, Frankfurt am Main 2002, 245–274; zur zweiten Fassung von 1919 und deren Deutungsverschiebung: vgl. GKFA 14/1, Paralipomena, 383–387). Dieser Aufsatz hat den Gang der Fontane-Rezeption maßgeblich beein­ flusst. Vgl. Eda Sagarra, „Der Stechlin“, in: Fontane-Handbuch, hg. v. Christian Grawe und Hel­ muth Nürnberger, Tübingen 2000, 662–678. 203 Theodor Fontane, Aus dem Nachlaß, hg. v. Josef Ettlinger, Berlin 1908, 162; Mann, Der alte Fontane, 274.

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Leben; wohl dem, dem es spendet Freude, Kinder, täglich Brot, Doch das Beste, was es sendet, Ist das Wissen, das es sendet, Ist der Ausgang, ist der Tod.

Anstelle der Konjunktion ‚daß‘ steht in der vierten Zeile das relativische ‚das‘, wor­ auf ein vorangestelltes ‚s‘ aus „endet“ ein nochmaliges „sendet“ macht. Mit dem Gedicht in dieser Gestalt beschließt Mann seine These, „daß erst Todesreife wahre Lebensreife“ sei, Fontanes physische Vergreisung eine künstlerische Verjüngung bedeute.²⁰⁴ In seiner Entgegnung auf Pniower behauptet Mann, das Beste am Le­ ben sei, dass es zu der Erkenntnis führe, die „an seinem Ausgang unser wartet“.²⁰⁵ Einen Gemeinplatz wie den, dass das Leben nunmal ende, traut er dem späten Fontane nicht zu. Pniower hingegen befindet, das gedoppelte „das es sendet“ sei vermeidbar und „häßlich“. Entscheidend aber sei die sachliche Deplatzierung, da die zwei ersten Zeilen Güter des Lebens nennen, das ‚Doch‘ der dritten einen bis zum Ende durchgehaltenen Gegensatz einleiten würde.²⁰⁶ Mann versteht die letzte Zeile als die Erläuterung der vorletzten. Es handle sich nicht um einen ge­ gensätzlichen, sondern um einen übertreffenden Sinn. [M]it derselben intuitiven Sicherheit, mit welcher Herr Pniower behauptet, Fontane habe nicht ‚das es sendet‘ geschrieben, sondern: ‚daß es endet‘, – behaupte, weiß ich und stelle ich fest, daß Herr Pniower irrt [. . . ]. Denn nochmals, ich habe den Spruch geliebt, so wie er überliefert war, und Liebe möchte nicht lächerlich werden.²⁰⁷

Wenige Sätze nach der Polemik, dass man kein Philologe sein brauche, um die Vermeidbarkeit der ‚häßlichen‘ Doppelung zu erkennen, hatte Pniower geschrie­ ben, dass „der Philologe [. . . ] auch einmal zuversichtlich sein“ dürfe „und eine Konjektur für absolut sicher ausgeben“ könne.²⁰⁸ Mann zufolge soll die „Liebe“ auch und gerade zu irritierenden Dichterworten – eine buchstäbliche Philologie – diese Gewißheit noch einmal übertrumpfen können. Als Einsetzung des eigenen Anspruchs auf Verstehen an die Stelle der Lücke in der Überlieferung funktionie­ ren beide Einlassungen katachrestisch. Sie versuchen, den Mangel eines eigentli­ chen Wortes rhetorisch zu überschreiben. Die Versuche, den anekdotischen Cha­ 204 Mann, Der alte Fontane, 274. 205 Thomas Mann, „Über einen Spruch Fontanes“, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher [GKFA], Band 15/1, hg. v. Hermann Kurzke, Frankfurt am Main 2002, 306–310, hier: 309. 206 Vgl. Pniower, Der verballhornte Fontane. 207 Mann, Über einen Spruch Fontanes, 307–308. 208 Vgl. Pniower, Der verballhornte Fontane [meine Hervorhebung, A.W.].

4.5 Lebenswelt-Lektüre (Fontane) |

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rakter zu tilgen und in Eindeutigkeit zu überführen, produzieren selbst Anekdo­ tisches. Anders als Mann will Pniower den Text vor einer ästhetisch unbefriedigen­ den Inkonsistenz retten. Die Debatte um die vierte Zeile lässt leicht übersehen, dass sich in Pniowers Zitation aus den von Ettlinger herausgegebenen Nachlass­ schriften bereits eine Änderung der ersten und zweite Zeile eingeschlichen hat. Denn bei Ettlinger steht nach „Brot“ ein Komma und auf das erste Wort folgt ein Semikolon; auch die spätere Fischer-Gesamtausgabe, an der Thomas Mann An­ stoß nimmt, setzt, anders als Pniower, keine Ausrufungszeichen.²⁰⁹ Mann ver­ sucht daraus Kapital zu schlagen. An eine erneute Zitation aus der Erstausgabe der Nachlassschriften schließt er den Kommentar an: „So (mit dem stillen Se­ mikolon nach dem ersten Wort; das Ausrufungszeichen, das Herr Pniower verse­ hentlich setzt, ist ganz unfontanisch; das Wort ‚Leben‘ wird hier nicht ausgerufen, sondern nachdenklich hingesagt).“²¹⁰ In Abwesenheit des Originals stehen sich, wie Blumenberg bemerkt, zwei ‚in­ tuitive Sicherheiten‘ gegenüber (VF, 40). „‚Leben‘, ein Fünfzeiler“ ist als Relektü­ re von streitbaren Lesarten organisiert, nicht von unstrittig gegebenem Lesbaren. Ausgestellt wird das Scheitern des Versuchs, eine ‚existenziale‘ Bedeutsamkeit ge­ gen die sie bedrohende Trivialität zu schützen (Mann). Demgegenüber lässt sich an der vermeintlich trivialen Alternative (Pniower) nicht nur die Rhetorik ‚absolu­ ter Sicherheit‘, sondern wiederum auch deren Fehlgehen ablesen. Die in der Frage nach dem Semikolon verbleibende Unsicherheit ist durch Blumenbergs Übernah­ me der Pniower-Konjektur etwas verdeckt. Indem er jedoch die Impulse beider Lesarten aufnimmt und so die Konfrontation der intuitiven Sicherheiten betont, rückt Blumenberg letztlich beide Positionen in Distanz. Das ist der lebenswelt­ theoretische Kern dieser Glosse: in der anfänglichen Rezeptions- und Editions­ geschichte eines nur als Abschrift überlieferten Gedichts findet sich bereits das Problem, das am Ende des Fünfzeilers, „schon im Schwund der Aufmerksamkeit“ (VF, 39), hätte überlesen werden können: eine konstitutive Uneindeutigkeit. Diese Konstellation lässt sich damit auf die eingangs besprochene Kompli­ zierung der Anekdote beziehen: Fleming hat Blumenbergs Hinweis, dass an der formalen Struktur der einzelnen Anekdote ‚nichts Zufälliges‘ sei, in eine Span­ nung zum kontingenten Rand der Lebenswelt gebracht, indem er eine irreduzi­ ble, über die Rezeptionsgeschichte von Anekdoten eingebrachte Varianz als Kon­ tingenzmoment erläutert.²¹¹ Anekdoten fungieren dann, so die an Das Lachen der 209 Vgl. Theodor Fontane, Leben, in: ders., Gesamtausgabe der erzählenden Schriften in neun Bänden [GA], Band I/1, Berlin 1925, 400. 210 Mann, Über einen Spruch Fontanes, 306. 211 Vgl. Fleming, On the Edge of Non-Contingency, 31.

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Thrakerin beobachtete und wiederum auf Derridas Husserl-Kritik zurückbezoge­ ne Struktur, als anfängliche Stellvertreter eines unerreichbaren Anfangs: „Each version of the anecdote (a contingent instantiation of a non-contingent form) is a placeholder for the absent beginning“.²¹² Blumenbergs Glossierung versucht we­ der den verlorenen Urtext wiederherzustellen, noch einer der zwei absoluten in­ tuitiven Sicherheiten sich anzuschließen.²¹³ Vielmehr trägt sie sich in das nun­ mehr anfängliche Problem der Rezeption ein. Indem sie diese Krisenzone schafft, ‚ist‘ die Lektüre anfangsloser „Ansatz von oder zu Theorie“. Das Heraustreten aus Selbstverständlichkeit geht nicht in Verstehen über: Insofern ist die Zone der Theorieresistenz nur als Grenzwert denkbar, ist der Ansatz zu Theorie zugleich ein Ansatz von Theorie. Lektüre und Theorie verhalten sich dann so zueinander, dass Lektüre nicht nur einen irreduzibel theoretischen Zug erhält, sondern als Theorie überhaupt operiert, genauer: wiederum nur als ein Ansatz dazu, der immer auch ein Aufkommen aus Theorie impliziert. Blumenbergs kleine Prosastücke machen das disruptive Lesen als Integral von Theoriebildung lesbar. Sie tun dies nicht, oder zumindest nicht nur, im Sinne einer ‚Verbildlichung‘ philosophischer Proble­ me, sondern als Ausbuchstabierung literarischer, als Restitution des Eigenwerts des Uneindeutigen. In „‚Leben‘, ein Fünfzeiler“ wird vorgeführt, dass diese Be­ wegung bereits in vergangene Lektüren eingebunden ist, in ein Gewebe aus dis­ kursiven und materialen Konstellationen, dessen Charakteristikum es ist, dass es nicht endet.

212 Fleming, On the Edge of Non-Contingency, 32. 213 Dennoch übernimmt Blumenberg die etablierte Konjektur. Er argumentiert, zugleich mit und gegen Pniower, mit einer anderen Konsistenz: „Der Nachlaßspruch ist ganz eingebettet in die ‚Kunst der Resignation‘, in die ‚Kunst als Resignation‘, wie sie Fontanes späte Meisterschaft aus­ macht“. VF, 42. Blumenberg hatte die Formulierung ‚Kunst der Resignation‘ in Höhlenausgänge mit Wittgenstein zur Charakterisierung von Philosophie überhaupt eingeführt. Vgl. H, 791. Sie bietet jedoch, wie Konersmann betont hat, „keine Vorwände für Rückzug und Tatenlosigkeit“. Konersmann, Zuletzt und verspätet, 231. Vor dem Hintergrund der ‚Einstellungen als Aufgaben‘ liegt vielmehr in der Resignation das Moment des ‚Handlungszwangs‘.

5 Betreffbarkeit 5.1 Kritik der Methode: Beschreibung des Menschen und Die ontologische Distanz In der von Manfred Sommer aus dem Nachlass herausgegebenen Beschreibung des Menschen (2006) findet sich ein Angebot, das vielversprechend erscheint, um Hans Blumenbergs eingehende Problematisierung der Kulturtechnik der Distanz­ nahme zu untersuchen, nämlich die Prägung „Betreffbarkeit“. Sie bezeichnet ein grundlegendes Angegangenwerdenkönnen des Leibes durch „Fremdes und Äuße­ res“ (BM, 833). Denkbar wäre es, ausgehend von dieser Bestimmung, eine anthro­ pologisch fundierte Theorie der Berührbarkeit zu rekonstruieren, die im Leib ih­ ren Fixpunkt hätte. Alles Berührtwerden dieses Leibes würde dann in seinem vor­ geordneten Angegangenwerdenkönnen aufgehen. Mit dieser Konstellation wäre allerdings die Schwierigkeit verbunden, dass bei Blumenberg Betreffbarkeit ih­ rerseits in anderem aufgeht, nämlich in der ‚Sichtbarkeit‘ dieses Leibes.¹ Damit wäre das Taktile dem Optischen systematisch nachgeordnet. Berührbarkeit wür­ de zu einem Derivat von Sichtbarkeit und fiele in den Einzugsbereich der Opsis. „Sichtbarkeit. Eine phänomenologische Anthropologie“, so lautete auch der ur­ sprünglich angedachte Titel des Buches Beschreibung des Menschen.² Die Vorordnung des Sichtbarkeitsparadigmas lässt sich befragen, achtet man darauf, wie Betreffbarkeit eingeführt wird, nämlich als methodologisches Pro­ blem. Die Adressierung des spekulativen Komplexes zum Menschen, wie er sich bereits im Aufsatz „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rheto­ rik“ (1971) andeutet, ist, so meine These, Effekt einer Diskussion der Methode; dies betrifft zunächst die phänomenologische Methode, letztlich aber – Edmund Husserls Krisis-Schrift aufgreifend – Methode überhaupt.³ Die Betreffbarkeit der Methode erzwingt die anthropologische Extrapolation. Der betreffbare Mensch als

1 Zur Grundlegung des anthropologischen Programms im Paradigma der Sichtbarkeit vgl. Mül­ ler, Mensch, 195–198. 2 Nicola Zambon, „Nachwort des Herausgebers“, in: Hans Blumenberg, Phänomenologische Schriften 1981–1988, aus dem Nachlass hg. v. Nicola Zambon, Berlin 2018, 509–516, hier: 514. 3 Blumenbergs Methodenkritik begegnet an verschiedenen Stellen, prominent im Technisie­ rungsaufsatz: „Alle Methodik will unreflektierte Wiederholbarkeit schaffen, ein wachsendes Fun­ dament von Voraussetzungen, das zwar immer mit im Spiele ist, aber nicht immer aktualisiert werden muß. Aus dieser Antinomie zwischen Philosophie und Wissenschaft ist nicht herauszu­ kommen: das Erkenntnisideal der Philosophie widersetzt sich der Methodisierung, die Wissen­ schaft als der unendliche Anspruch eines endlichen Wissens erzwingt sie.“ Technisierung, 42. Zu Blumenbergs früher Kritik vgl. Flasch, Hans Blumenberg, 275–285. https://doi.org/10.1515/9783110692426-005

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Thema einer Anthropologie ist Effekt methodischer Instabilität in einem sehr en­ gen und noch zu erläuternden Sinn; und eben diese Instabilität ist es, die ihm bei Blumenberg wiederum als ‚quasi-wesentlich‘ zugeschrieben wird. Der anthropo­ logische Komplex kann daher nicht – metaleptisch – als nachträgliche Grundle­ gung des philosophischen Programms Blumenbergs herangezogen werden. An­ dererseits soll nicht gesagt werden, dass man ihn einfach, etwa mittels einer Kor­ rektur des Aufsatztitels zu einer ‚rhetorischen Annäherung an die Anthropologie‘, einem ganz anderen Programm unterordnen könne.

Undurchsichtigkeit Mit Betreffbarkeit gemeint ist nicht die Möglichkeit punktueller sensueller Einwir­ kungen, sondern – analog der Affizierbarkeit des Bewusstseins durch Texte –⁴ die Angreifbarkeit des Leibes überhaupt. Es ist nicht im strengen Sinn eine Eigen­ schaft, sondern eine strukturelle Komplikation, die darin besteht, dass in allem, was der Leib aktiv und im Dienst des Subjekts leistet, der Rückstand der Passivi­ tät bleibt. „Daß er [der Leib] im ganzen betreffbar ist, beruht auf der Einheit, die ihn als Totalorgan für sich selbst konstituiert, als das er sich im passiven Korre­ lat zu jeder seiner aktiven Verhaltensweisen unausweichlich erfährt.“ (BM, 830) Bemerkenswert an dieser Formulierung ist, dass Betreffbarkeit nicht über exter­ ne Bedrohungen, sondern über die innere Dimension der, aber nicht – positiv – durch Selbsterfahrung hergeleitet wird. Diese Dimension bleibt dem Bewusst­ sein unzugänglich. Betreffbarkeit tritt dort auf, wo, wie in der „Beschreibung des Lesens“,⁵ „eine dem Bewußtsein von Haus aus undurchsichtige Erfahrung“ (BM, 203) im Spiel ist. Sie wird bekannt nur durch Erfahrungen – und Texte – anderer. Fluchtpunkt des Arguments ist also nicht die tatsächliche Betroffenheit durch äußere Einwirkungen, sondern eine im juristischen Vokabular formulierte Kon­ struktion der Haftbarkeit: die Tatsache, „in verfolgbarer Kontinuität zu einer ge­ wesenen äußeren Handlung zu bleiben, unentrinnbar für sie haftbar zu sein und gestellt werden zu können. Verantwortlich zu sein, noch im äußerlichsten Sinne eines Legalitätssystems“ (BM, 203). Betreffbarkeit ist keine Disposition des eige­ nen Wahrnehmens, sondern, weil das eigene Wahrnehmen sich selbst unzugäng­ lich bleibt, eine der möglichen und untilgbaren Fremdwahrnehmung („Man kann aus der Welt nicht verschwinden“, BM, 279), bis hin zur möglichen Konsequenz der Vorladung. Betreffbarkeit meint einen immanenten Entzug, der die Möglich­ 4 Vgl. Abschnitte 2.4 und 4.1. 5 Vgl. Abschnitt 4.1

5.1 Kritik der Methode: Beschreibung des Menschen und Die ontologische Distanz

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keit enthält, von außen herangezogen zu werden (vgl. BM, 203). Diese Interpre­ tation liegt etymologisch nicht fern. Das Grimmsche Wörterbuch gibt für „betref­ fen“ die Synonyme an: „treffen, betreten, ergreifen, ertappen, auf frischer that, auf dem fahlen pferde, auf einer lüge betreffen“.⁶ Ausschlaggebend auch für die mit dem Moment der Betreffbarkeit verbundene Prävention, dem Handeln auf Di­ stanz, ist damit nicht die tatsächliche Begegnung, sondern die Möglichkeit des Herangezogen-Werden-Könnens. Der körperliche Ort der Verschränkung aus Wahrgenommenwerden- und Nichtwahrnehmenkönnen ist der Rücken: „Der Rücken ist das Unbekannte an uns selbst, darin zugleich der Inbegriff unserer Betreffbarkeit für das Unerwarte­ te.“ (BM, 204) Blumenbergs anthropologische These läuft auf diesen Befund zu: Der Mensch sei „ein Wesen ‚mit viel Rücken‘ [. . . ], mit dieser großen Schwäche der Betreffbarkeit des aufrecht gehenden Wesens durch alles, was es von hin­ ten angeht.“ (BM, 827) Der Opazität des sichtbaren Körpers entspricht damit das Sich-selbst-undurchsichtig-Sein des Subjekts in seiner Leiblichkeit. Allerdings ist auch ‚Sichtbarkeit‘ Ergebnis einer systematischen Extrapola­ tion. Es meint lediglich, „jede Form von Sichtigkeit der Welt als an Sichtbarkeit in der Welt gebunden zu wissen, jede Steigerung von Wahrnehmung an die der Wahrnehmbarkeit“ (BM, 143). Sichtbarkeit ist keine positive Qualität, sondern ein Rückstand in der Aktivität des Sehens. In den Phänomenologischen Schriften (2018) ist dies auf die bemerkenswerte Zuspitzung gebracht: „Die passive Optik ist aus der aktiven Optik entstanden“ (PhS, 440). Als Korrelat der passiven Optik be­ setzt Betreffbarkeit die leibliche Seite dieser Konstellation. Entscheidend für die Herleitung von Blumenbergs Argument sind zwei weitere Theoreme: die Intersub­ jektivität, die noch vor der Idee einer faktischen Fremdwahrnehmung zu verorten ist, indem bereits der als ‚möglich gedachte Andere‘ potentiell ‚betrifft‘; und die Bewegung der Reflexion: Blumenberg fasst sie als „Rudiment einer kontingenten Ausgangslage der Selbstlokalisierung im Feld passiver Optik“ (BM, 110, meine Hervorhebung, A.W.). Noch vor der Diskussion eines leiblichen und sensuellen Weltverhältnisses lässt sich bei der Methodenkritik selbst ansetzen.

Methode und Anthropologie Dass Phänomenologie vor allem eine Methode ist, ist von vielen Seiten heraus­ gestellt und zuletzt von Alexander Schnell betont worden.⁷ Stellvertretend für eine Reihe noch prominenterer Autoren führt Schnell einen Satz Adolf Reinachs 6 Grimmsches Wörterbuch, Band 1, Leipzig 1854, Sp. 1710. 7 Vgl. Alexander Schnell, Was ist Phänomenologie?, Frankfurt am Main 2019.

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an: „[D]as ist der wesentliche Punkt: Nicht um ein System von philosophischen Sätzen und Wahrheiten handelt es sich bei der Phänomenologie [. . . ], sondern es handelt sich um eine Methode des Philosophierens, die gefordert ist durch die Probleme der Philosophie.“⁸ Der Relativsatz ist insofern zentral, als er gegen die Annahme vorgeht, es handele sich um eine erlern- und anwendbare, letztlich um eine technische Methode. Blumenberg hat es, in dem mit „Husserls Gott“ überschriebenen Abschnitt in Beschreibung des Menschen, so zugespitzt, dass ‚Methode‘ nicht als Weise des Zugänglichmachens, sondern als Abstandnahme zu dem, was betrifft oder betreffen könnte, zu verstehen ist: „Die Phänomenologie ist die Methode, im Menschen ein qualitativ gottgleiches Reservat zu schaffen, das nicht so sehr Überlegenheit über die Welt als vielmehr Unbetroffenheit und Unbetreffbarkeit durch sie gewährleistet.“ (BM, 386) Das sich der Phänomenolo­ gie-als-Methode stellende und zu überwindende Problem bleibt, wie es Arbeit am Mythos (1979) für die Vernunft in der Epoche des Deutschen Idealismus geltend macht, ihre eigene Geschichtlichkeit. Entsprechend auffällig ist, dass Betreff­ barkeit in Beschreibung des Menschen exakt an der philosophiegeschichtlichen Bruchstelle zwischen Husserl und Heidegger eingeführt wird (vgl. BM, 203). Dies geschieht in Form einer kritischen Reformulierung der Heideggerschen Sorge und der mit ihr verbundenen Verfallenheit im Rückzug in die Alltäglichkeit. Blu­ menberg stellt daran wiederum das Moment der Unauffälligkeit heraus. Er setzt insbesondere bei Heideggers Kritik der Reduktion an, dem Herzstück der phäno­ menologischen Methode. Bereits in Blumenbergs bislang unveröffentlichter Habilitationsschrift Die on­ tologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls (Kiel 1950) ist die Bruchstelle zwischen Husserl und Heidegger der analytische An­ satzpunkt. Die Dissertation hatte zuvor unter dem Schlagwort der Ursprünglich­ keit eine umwegige, aber entschiedene Kritik an Sein und Zeit vorgetragen.⁹ Das argumentative Scharnier für Blumenbergs Aufnahme der „Krisis der Phänomeno­ logie Husserls“ ist die Erfahrung von Geschichtlichkeit. Diese wird mit einer der beiden Extremstellen der titelgebenden „ontologischen Distanz“ in Verbindung gebracht (vgl. OD, 95–107): Während „Gegenständigkeit“ die Seite einer szientifi­ schen und letztlich bis auf Descartes rückführbaren Abstandnahme bezeichnet – Blumenberg legt Wert darauf, dass sie noch im Vorfeld der Subjekt-Objekt-Ord­ nung zu veranschlagen ist –, wird mit „Inständigkeit“ die Dimension einer unab­ weis- und unkalkulierbaren Erfahrung verbunden. Gegen das ‚Gegen‘ der GegenStändigkeit setzt Blumenberg ein ‚In‘. 8 Adolf Reinach, Was ist Phänomenologie?, München 1951, 21, zit. n. Schnell, Was ist Phänome­ nologie?, 41–42. 9 Vgl. Abschnitt 2.3.

5.1 Kritik der Methode: Beschreibung des Menschen und Die ontologische Distanz

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Um die dynamische Seite dieser „Inständigkeit“ zu beschreiben, führt er den Terminus der „Andringlichkeit“ ein (OD, 96). Gegenüber der verwandten Betreff­ barkeit steht hier nicht so sehr die Möglichkeit des Angegangenwerdenkönnens im Vordergrund, sondern die Unabwendbarkeit eines Widerfahrnisses. Es zeich­ net sich dadurch aus, dass es mit der Rankeschen Leitfrage „wie es eigentlich ge­ wesen“ nicht einholbar ist. Der Wirklichkeitscharakter des bereits stattgehabten Widerfahrnisses ist ebenso prekär wie der des noch ausstehenden. Es soll zutiefst ontologisch und nicht ontisch – als Begegnendes – verstanden sein. Zur Ausar­ beitung des Aspekts der Andringlichkeit nennt Blumenberg drei historische Weg­ marken, denen gemeinsam ist, am Ursprung der Krisis der im Modell der „Gegen­ ständigkeit“ erhofften Gewissheit mitgewirkt zu haben, und zwar: „die mythische Besessenheit, die gnostische Weltbedrängnis, die Unabdingbarkeit des christlichgläubigen ‚Hörens‘“ (OD, 96). Gegenüber diesen Formen ist mit ‚Geschichtlichkeit‘ eine Radikalisierung von Andringlichkeit, womöglich sogar das Ausbrechen aus diesem Schema gefunden. Die Erfahrung von Geschichtlichkeit ist nicht einfach ein weiterer „Typus“ in solch einer Reihung [. . . ]. Zwar ist auch hier zunächst der Anspruch der Gegenständigkeit außerkraft­ gesetzt, die Unbenommenheit der theoretischen Distanz infragegestellt, die gegenständli­ che Verfügbarkeit gebrochen; aber die Auslegung dieser Bewußtseinslage ergibt den ein­ zigartigen Rang des Phänomens der „Geschichte“, das nicht „ein weiterer Typus“ von An­ dringlichkeit im Sinne der soeben genannten ist, sondern das Bewußtwerden des Stigmas der faktischen Je-Einzigkeit selbst, das diesen und allen Phänomenen „in“ der Geschichte als ihr eben geschichtliches Sein zukommt. Was das „Wesen“ des Geschichtlichen in seiner Geschichtlichkeit ausmacht, das ist diese ungewärtigte Betroffenheit, die die wissenschaft­ liche Historie mit ihrem Anspruch theoretischer Gegenständigkeit in dem Bewußtsein ihrer eigenen und unausschlagbaren, also geschickhaften Inständigkeit in der Geschichte erfährt. (OD, 96)

Das Argument ist über eine prätentionale Logik aufgebaut. Es geht nicht um em­ pirische Sachverhalte, sondern um Dispositive, die sich mit Ansprüchen, mit Prä­ tentionen auf Gegenständlichkeit, verbinden. Daraus folgt, dass die beschriebene Erfahrung keineswegs eine subjektive ist, sondern bereits das Subjekt-Sein selbst bestimmt. Es ist also nicht meine ungewärtigte Betroffenheit gemeint. Es wird stattdessen die ungewärtigte Betroffenheit thematisch, die – das noch einmal – „die wissenschaftliche Historie [. . . ] erfährt“ (OD, 96), also der methodische Ap­ parat.¹⁰ Der ontologische Kulminationspunkt der Andringlichkeit bleibt an den

10 „Worauf es hier ankommt, ist zu zeigen, daß der wissenschaftlich-gegenständliche Ansatz auch in seiner äußersten methodischen Verfeinerung das Phänomen ‚Geschichte‘ nicht erschöp­ fen kann, ja notwendig und um des wesentlichen Ertrages willen exzentrisch verengen muß.“ OD, 101.

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Bereich des ihm am fernsten Liegenden, nämlich an den maximalen Anspruch auf Regelungsdichte, gebunden. Er wird als Problem nur dort erfahrbar, wo über­ haupt gar nicht erfahren werden soll und darf. Das Problem war, so Blumenberg, „dem Blick so gründlich entzogen“, dass dadurch „die Vehemenz seines Hervor­ tretens [. . . ] potenziert“ (OD, 96–97) worden sei. Einschränkend wird noch gesagt, dass diese Erfahrung nur zugänglich sei, insofern die Historie – hier zu paraphra­ sieren mit „Methode“ – auf ihre eigene Inständigkeit reflektieren könne. Wie soll genau die Bewegung, die darauf aus sein muss, ihre Inständigkeit vergessen zu machen, nun genau davon ein Bewußtsein erlangen?¹¹ In dieser Frage liegt der theoretische Rahmen für die erst später in den Vordergrund tretende Problematik der Lesbarkeit. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Geschichtlichkeit der historisch-tech­ nisch verstandenen Methode ist ihre ontologische Betroffenheit, die von Blumen­ berg im Welt-Begriff aufgefangen wird. Die Geschichte der Phänomenologie, die Schwelle von Husserl zu Heidegger als „Krisis der Phänomenologie“, lässt wieder­ um die Betreffbarkeit der phänomenologischen Methode zutage treten, und das bemerkenswerterweise durch eine Neufassung des Weltbegriffs selbst. Die Welt­ gebundenheit im In-der-Welt-Sein bei Heidegger wird über den Zwischenschritt des Existenzials der Sorge nun jedoch in das noch dieses Theorem angreifende Strukturproblem der Betreffbarkeit umgesetzt.

Preisgabe der Distanz Die Verbindung von Sichtbarkeit, Distanz und Leiblichkeit wird dadurch brüchig. Nicht sofort weil der Mensch sichtbar ist, schafft er sich – instrumentell verstan­ den – Distanz durch kulturelle Formen, etwa Metaphern und Mythen, sondern weil sich eine solche Distanz nicht halten lässt, muss der Komplex der Sichtbar­ keit (und mit ihm das Distanzwesen Mensch) überhaupt zum Thema werden. Ent­ sprechend zeugen die ausführlichen Rezeptionsgeschichten von Mythos und Me­ tapher nicht vom Distanzgewinn selbst, sondern von einem uneinlösbaren An­ spruch auf Distanz. Schiffbruch mit Zuschauer (1979) führt die genannten Schwierigkeiten äußerst präzise vor: Einerseits destruieren metaphorische Konfigurationen die Distanz­ leistung des Begriffs und, andererseits, wird innerhalb des Paradigmas ein paral­ leler Abbau erprobt. Spätestens mit den Ausführungen zu Jacob Burckhardt und dem Verlust der Zuschauerposition fällt, was als Distanznahme anthropologisch 11 Hierin wird der spätere Umbau des Lebensweltbegriffs vorweggenommen. Vgl. zu dieser Re­ formulierung Abschnitt 4.5.

5.1 Kritik der Methode: Beschreibung des Menschen und Die ontologische Distanz

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irreduzibel scheint. In der Rezeptionsgeschichte – und diese Historisierung er­ füllt damit einen systematischen Zweck – der Konfiguration ‚Schiffbruch mit Zu­ schauer‘ wird also lesbar, was bereits ihr Aufkommen begünstigt hatte, nämlich die immanente Destruktion der Distanznahme. Daraus ergibt sich ein Weg, das Berührt-Werden nicht als das sinnliche Andere reiner Theorie aufzufassen, son­ dern als Konsequenz ihres stets möglichen Scheiterns.¹² Der durch einen neuen Jargon der Jargonlosigkeit angefeuerte Verdacht, die Bücherwelt – und insbeson­ dere die mit anderen, schlimmstenfalls unanschaulichen Bücherwelten befass­ te – könne in der Produktion nachprüfbarer Ergebnisse und Anwendungsoptio­ nen nicht hinreichend konkurrenzfähig sein, führt zu einem notorisch schlechten Gewissen, das sich in den Geisteswissenschaften gegenwärtig in der Suche nach Körperlichkeit, Materialität und Varianten von Präsenz niederschlägt, also in ei­ ner Bewegung, die sich beispielhaft anhand der Weltbuchmetapher untersuchen lässt und umso mehr die Frage nach dem dabei Zurückgelassenen aufwirft. Es ist auch deswegen nicht zwingend, Blumenbergs Schriften einer phäno­ menologischen Anthropologie zuzuordnen, weil sich dieser Komplex aus einer Problematisierung ergibt, deren Struktur durchaus aus den ästhetisch-meta­ phorologischen Schriften bekannt ist: nämlich eine großflächige Restitution der Ansprüche dessen, was – wie etwa Rhetorik und Metapher – abgewehrt wer­ den sollte. Blumenbergs Argument setzt entsprechend ein mit der in der „Ab­ wehr der Anthropologie“ (BM, 190) beschlossenen Andringlichkeit des Abge­ wehrten: „Der Mensch als philosophisches Thema – das ist Preisgabe der so [in Husserls Phänomenologie, A.W.] gewonnenen Distanz.“ (BM, 31) Es ist er­ staunlich, dass die Einführung des Themas mit einer Preisgabe von Distanz zusammenfällt. Man kann von einer Betreffbarkeit der Phänomenologie durch Anthropologie sprechen:¹³ nicht als externe Hinzutat, sondern als eine in ihrer aktiven Optik angelegte Selbstkritik. Nicola Zambon hat das folgendermaßen formuliert: „Die Korrektur ihrer methodischen Inkonsistenzen und Beschrei­ bungsfehler soll die Rückführung der Phänomenologie auf ihr deskriptives Po­ tential ermöglichen sowie die Entwicklung einer phänomenologischen Anthro­ pologie.“¹⁴

12 Vgl. Waszynski, Berührbarkeit. 13 Die Beschreibung des Menschen, so Konersmann, bekenne sich „offen als ein ‚Wagestück‘ und sogar als eine ‚zweifelhafte Wissenschaft‘, die nachliefert und ergänzt, was in der Rationalität der Wissenschaften außer Betracht bleibt und, aufgrund der inneren Logik der Erkenntnis, außer Betracht bleiben muß.“ Konersmann, Zuletzt und verspätet, 232. 14 Zambon, Nachwort, 513.

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5.2 Unabgegoltene Ansprüche: Das Kapitel XXII der Lesbarkeit der Welt In Antwortregister (1994) führt Bernhard Waldenfels seine Überlegungen zur Re­ sponsivität auf einen Vortrag aus dem Jahr 1984 zurück. Darin ist die Rede von „Ansprüchen, die bei geeigneter Ansprechbarkeit auf den Handelnden zukommen und eine Antwort provozieren können.“¹⁵ Hans Blumenbergs drei Jahre zuvor er­ schienene Studie Die Lesbarkeit der Welt (1981) enthält einen ‚dunklen Schluss­ satz‘ (Joachim Renn) – nicht ganz der letzte, aber an einer Schlüsselstelle im letz­ ten Absatz platziert –, der etwas Ähnliches beschreibt: „Lesbares zu lesen heißt, daß der Adressat sich dem nicht verweigert, was ihn betrifft oder betreffen könnte, auch wenn er nicht mehr glauben mag, er könne ‚gemeint‘ sein.“ (LW, 408–409) Ich möchte vorschlagen, diesen Satz methodologisch zu verstehen und ihn einer­ seits an die Konzeption einer responsiven Lektüre¹⁶ anzuschließen, andererseits an Blumenbergs Verfahren der Aufarbeitung des historisch wie systematisch In­ sistierenden. „Lesbares zu lesen“ bedeutet nicht, etwas Bestimmtes zu tun, son­ dern sich unbestimmten Ansprüchen, mithin den Ansprüchen des Unbestimm­ ten,¹⁷ nicht zu verweigern. Im Unterschied zu Waldenfels’ späterer Philosophie der Responsivität wird hier kein ‚pathisches Ereignis‘ gedacht; was eine Antwort erzwingt, ist eher eine Sache der Texte. Die These zu Distanzgewinn und Entlas­ tungsfunktion, die für die anthropologischen Schriften so zentral ist, muss im Zu­ sammenhang eines Verfahrens gesehen werden, das geradezu mit dem Gegenteil zu tun hat: sich auch und gerade von dem betreffen zu lassen, das kaum wahr­ nehmbar oder auch maximal überfordernd ist. Die Lesbarkeitsstudie endet mit einer Bemerkung zum Abbruch lebensweltlicher „Erfahrungstypik“ (LW, 409) als Strukturprinzip wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Lesbarkeit, die wenige Sätze zuvor eher angedeutet als ausgearbeitet wird, ist von anderer Art als die im Para­ digma der Schrift- und Buchmetaphorik bearbeitete. Sie steht dem Komplex nä­ her, der in Legitimität der Neuzeit (1966) als „Hypothek der Probleme“ (SÄ, 60) und „Hypothek der vorgegebenen Fragen“ (SÄ, 77) gefasst wird, allerdings nun bezogen nicht auf ideengeschichtliche Antwortversuche, sondern auf deren Auf­ arbeitung. Die in der Metaphorologie ausgetestete textuelle Phänomenologie lässt sich anhand der Lesbarkeit der Welt näher als eine Philosophie der unabgegol­ tenen Ansprüche auffassen; anders als die Phänomenologie Husserls sucht sie

15 Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt am Main 1985, 133, zit. n. Wal­ denfels, Antwortregister, 14. 16 Vgl. Abschnitt 4.2. 17 Vgl. Abschnitt 2.1.

5.2 Unabgegoltene Ansprüche: Das Kapitel XXII der Lesbarkeit der Welt

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nicht die Absicherung ihrer Methode, sondern setzt bei den Verunsicherungen des Methodischen an. Der im Schlusskapitel „XXII. Der genetische Code und seine Leser“ bearbeite­ te Strang der Geschichte moderner Lebenswissenschaften wird von Blumenberg dazu konsequent umbesetzt: die in Schriftmetaphoriken ausgehandelte Chemie der Vererbung durch die Verantwortung einem Erbe der Überlieferung gegenüber, die Dechiffrierung der genetischen Schlüsselschrift¹⁸ durch die Lesbarmachung der auf dem Weg dorthin übersprungenen Zwischenschritte. Diese Umbesetzun­ gen übertragen nicht von einem Bereich in einen anderen und eignen sich auch nichts an, etwa derart, dass sich der philosophische Text nun quantenphysikali­ sche oder biochemische Modelle als argumentatives Gerüst zueigen zu machen versuchte. Gleichzeitig gehen in den Text aber Strukturlogiken ein, die diesen Modellen eigen sind. An die Stelle des Mitvollzugs des Abbruchs lebensweltli­ cher Rückbindungen tritt der restituierende Nachvollzug des dabei Übergange­ nen. Diese Wendung steht in Bezug zu Blumenbergs kritischer Auseinanderset­ zung mit Husserls Konzept der Technisierung und lässt sich damit im Zwischen­ raum von Lebenswelt und Theoriebildung verorten.¹⁹

Zwischenschritte zur Lesbarkeit des genetischen Codes (Miescher, Schrödinger, Chargaff) Die historische Möglichkeit der Metaphorik vom Buch der Natur hängt Blumen­ berg zufolge mit der schrittweise vollzogenen Ablösung der Welt aus dem antiken Urbild-Abbild-Schema zusammen, insbesondere mit der auf die Abwehr der Gno­ sis zurückgehenden Zuschreibung eines eigenen Ausdrucksgehalts der Welt. Ver­ mittelt über die „Lesbarmachung der Träume“ (Kapitel XXI) wandert die Schrift­ metaphorik weitaus später in den Menschen ein. Wenn die Weltbuchmetapher es erlaubt hatte, dass der Mensch am Welttext zumindest mitliest, dieser Text aber im 20. Jahrhundert nicht mehr auf die Außenwelt beschränkt bleibt, wird der Mensch zum Text und Leser gleichermaßen – ein weiteres Argument für einen textuellen Vorbehalt gegenüber einer anthropologischen Wende –, und er wird potentiell zum Schreiber von Text, sodass das Leben im Ganzen zum neuen Gegenstand sei­ ner Demiurgik werden kann. Von Relevanz ist Blumenbergs Befund nicht nur für die Geschichte der Genforschung, sondern auch für die der seit den 1950er Jah­

18 Für eine poststrukturalistisch inspirierte Wissenschaftsgeschichte des genetischen Codes, al­ lerdings ohne Auseinandersetzung mit Blumenberg: Lily E. Kay, Who wrote the Book of Life? A History of the Genetic Code, Stanford 2000. 19 Vgl. Abschnitt 4.5.

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ren auf alle Bereiche des Lebens ausgreifenden Allgemeinen Mikrobiologie, deren verfeinerte Verfahren der Kultivierung und in Schriftmetaphoriken ausgehandel­ ten Sequenzierung neue biotechnologische Möglichkeiten, bis hin zum Syntheti­ sieren von Organismen, erschlossen haben.²⁰ Blumenberg zieht Erwin Schrödingers prominentes Buch What is Life? The Physical Aspect of the Living Cell heran, das auf eine im Dubliner Exil (1943) ge­ haltene Vortragsreihe zurückgeht.²¹ Daneben bezieht er sich auf Erwin Chargaffs 1970 publizierten Vortrag zur Hundertjahrfeier der Entdeckung der Nukleinsäure sowie auf die Arbeit Die Spermatozoen einiger Wirbelthiere (1874) und Briefe von Friedrich Miescher, dem diese Entdeckung zugeschrieben wird. Mieschers Vorar­ beit wird ausführlich gewürdigt, ehe mit Jacques Monods Le hasard et la nécessité (1970) mögliche Folgen der Gentechnikforschung besprochen werden. Noch in der philosophischen Besorgnis über deren Möglichkeiten, angezeigt durch einen Hin­ weis auf Hans Jonas, arbeite die Metaphorik vom Buch der Natur, wenn es Träger einer sakrosankten Qualität sein soll (vgl. LW, 398–399). Mit Schrödingers Text ist nicht nur ein wesentlicher Zwischenschritt zwischen der Entdeckung der Nukleinsäure und der modernen Molekularbiologie gefun­ den, sondern auch zwischen unterschiedlichen Ausprägungen der metaphori­ schen Konfiguration. Schrödinger reihe sich ein in eine „große Metapherntraditi­ on“, die Anfang der 1930er Jahre u. a. von Max Planck wieder aufgegriffen worden war (LW, 373). In What is Life? veranschaulicht die Buchmetapher den wesent­ lichen Ertrag: „Die große Enthüllung der Quantentheorie lag in der Entdeckung von Unstetigkeiten im Buch der Natur, und zwar gerade in einem Zusammen­ hang, in dem nach den bis dahin herrschenden Ansichten alles außer Stetigkeit unsinnig erschien.“²² Schrödingers Einordnung der eigenen Disziplin als eine Art Weltbuch-Philologie ist nicht der einzige metaphorologische Einsatzpunkt. Schrödinger habe sich, so Blumenberg, das Problem gestellt, die Gleichzeitigkeit der „Stabilität des Erbfaktors“ und eine langfristige „Veränderungsfähigkeit“ zu denken, und für diese mögliche Veränderung über einen langen Zeitraum hin­ weg habe das Modell des Textes „besser [. . . ] als irgendein anderer elementarer

20 Zur Geschichte mikrobiologischer Techniken und Technologien im Kontext der ökologischplanetaren und biotechnischen Perspektive des 20. Jahrhunderts vgl. Alexander Waszynski und Nicole C. Karafyllis, „Re-Collecting Microbes with Hans Blumenberg’s Concept of ‘Reoccupation’ (Umbesetzung): from Isolating/Cultivating towards Digitizing/Synthesizing“, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 11,1 (2020), 96–116. 21 Ein Jahr zuvor hatte Ernst Robert Curtius seine Studie zu Schrift- und Buchmetaphoriken in der Weltliteratur veröffentlicht. Vgl. Abschnitt 3.1. 22 Erwin Schrödinger, Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, München/Berlin 2017, 94.

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Sachverhalt“ (LW, 372) einstehen können. Die genetischen Faktoren im Zellkern beschreibt Schrödinger als „some kind of code-script“.²³ Das Wort „script“ ist auf­ schlussreich, weil es neben dem Dokument- auch einen Anweisungscharakter enthält. Giuseppe Longo rückt den Ausdruck in einen Kontext mit den paral­ lel durchgeführten Arbeiten Alan Turings. Er erkennt auch bei Schrödinger eine basale Form des Programms: „this code-script must be understood at least in the sense of a ‘program’, including a ‘compiler’, perhaps even as supporting an ‘operating system’.“²⁴ Der Code-Begriff, etymologisch aus lat. codex hervorgehend, wird zur Zeit der Dubliner Vortragsserie allerdings noch semantisch verstanden worden sein; erst kurze Zeit später, mit Claude Shannons wegweisendem Artikel „A Mathematical Theory of Communication“ (1948), trat ein syntaktisches und informationstheo­ retisches Verständnis hinzu.²⁵ Schrödinger selbst erläutert code-script mit Blick auf den Laplaceschen Dämon, was angesichts des von ihm maßgeblich mitver­ antworteten quantentheoretischen Widerspruchs gegen einen strikten Determi­ nismus bemerkenswert ist.²⁶ Das code-script sei derart vorzustellen, dass eine ab­ solute Intelligenz seiner Struktur entnehmen könne, was sich zukünftig daraus entwickeln werde. Es kommt also einerseits darauf an, dass die Entschlüsselung im Prinzip möglich ist – das wird durch die semantische Prämisse in Kombinati­ on mit dem Laplaceschen Gedankenexperiment gedeckt –, andererseits darauf, dass sie bereits gleichbedeutend mit einem spezifischen Entwicklungsgang sein

23 Erwin Schrödinger, What is Life? The Physical Aspect of the Living Cell, Cambridge 1944, 21. 24 Giuseppe Longo, „From exact sciences to life phenomena: Following Schrödinger and Turing on Programs, Life and Causality“, in: Information and Computation 207,5 (2009), 545–558, hier: 546. 25 Vgl. zur Geschichte des Code-Begriffs: Alexander Roesler, „Code/Codierung“, in: Grundbegrif­ fe der Medientheorie, hg. v. Alexander Roesler und Bernd Stiegler, Paderborn 2005, 45–51. 26 Mit dem Entwurf einer absoluten Intelligenz, die sämtliche Naturgesetze, jeden Zustand und jede Teilchenbewegung kennen würde, hatte Pierre-Simon de Laplace ein streng deterministi­ sches Weltbild veranschaulicht. Zu Beginn des Philosophischen Versuchs über die Wahrschein­ lichkeit (1814) heißt es: „Wir müssen [. . . ] den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands betrachten. Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts würde ihr ungewiß sein und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen. Der menschliche Geist bietet in der Vollendung, die er der Astronomie zu geben verstand, ein schwaches Abbild dieser Intelli­ genz dar.“ Pierre-Simon de Laplace, Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit, Leipzig 1932, 1–2. Für Blumenberg ist diese Konstellation an mehreren Stellen wichtig, insbesondere im Leibniz-Kapitel. Vgl. LW, 143–144 sowie meine Rekonstruktion in Abschnitt 3.4.

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muss. Zum Akt des Lesens ist hier nichts gesagt („could tell from“);²⁷ wenn es sich, wie Blumenberg interpretiert, beim Laplaceschen Dämon um einen Leser handeln sollte, dann würde dieser keinen Text, kein Buch und überhaupt nichts Geschrie­ benes lesen. Seine Tätigkeit fiele zusammen mit der unmittelbaren Einsicht in das Endprodukt der kommenden Ontogenese. Mit dem Hinweis darauf, dass die Verschlüsselung gerade nicht mit der Me­ chanik des Systems gleichgesetzt werden könne, bestreitet Blumenberg zugleich die Angemessenheit der Einführung dieses Leser-Dämons (vgl. LW, 377). Die von Schrödinger herangezogene, aber mit der Buchmetapher wie dem neuen physi­ kalischen Weltbild unvereinbare mechanische Hintergrundmetaphorik des Uhr­ werks (vgl. LW, 375) unterstreicht diesen Eindruck.²⁸ Worauf es in Blumenbergs Argumentation ankommt, ist die Notwendigkeit der sprachlichen Lösung. Denn Schrödinger habe, weil er die parallele und 1944 publizierte Entdeckung der Grup­ pe um Oswald Avery, dass die DNA und nicht Proteine Träger der vererbbaren Informationen sind, noch nicht wahrnehmen konnte, keinen chemischen Begriff der Gen-Moleküle und einen entsprechend ausgedehnten Raum möglicher Spe­ kulationen vor sich gehabt.²⁹ Die sprachliche Verlegenheitslösung, die, wie Schrödinger meint eingestehen zu müssen, „vielleicht weniger zu einem Mann der Wissenschaft als zu einem Poeten paßt“,³⁰ wird in der Lösung des Chemismus zum epistemischen Modell. Daran zeichne sich ein „rhetorischer Vorgang von hoher Suggestivität“ (LW, 380)

27 Die deutsche, hier verkürzt und modifiziert wiedergegebene Übersetzung ist noch deutlicher: „Wenn wir die Struktur der Chromosomen einen Code nennen, so meinen wir damit, daß ein alles durchdringender Geist, dem jegliche kausale Beziehung sofort offenbar wäre – wie Laplace ihn sich einmal vorgestellt hat –, aus dieser Struktur voraussagen könnte, ob [und zu welcher Gestalt] das Ei sich unter geeigneten Bedingungen [. . . ] entwickeln werde.“ Schrödinger, Was ist Leben?, 56. Die Auslassung bezieht sich auf eine aufschlussreiche, wenn auch schwer zitierbare Reihenbildung. Eine Bearbeitung würde weitaus mehr Raum benötigen als hier zur Verfügung steht. Blumenberg haben sich diese Schwierigkeiten nicht gestellt; er kommentiert lakonisch: „So also Schrödingers Variante von Laplace. Wenn das so wäre, bliebe das Genom ein Bündel kausaler Faktoren, und seine Vorstellung als die einer verschlüsselten Schrift wäre ganz und gar unzureichend.“ LW, 377. 28 Bereits im Paradigma VI der Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960) hatte Blumenberg die Maschinen-Metapher mit der Buch-Metapher konfrontiert und diese Konfrontation der Hin­ tergrundmetaphoriken auf zwei Passagen in Husserls Krisis-Schrift zulaufen lassen. Beide Meta­ phoriken zielten dort „nicht mehr auf Sinn und Struktur der Welt als Realität, sondern auf Sinn und Struktur der Welt als Wissenschaft“. PM, 108. 29 In „erstaunlicher Weise“, hebt Blumenberg heraus, sei Schrödinger „spekulativ verfahren“. LW, 375. 30 Schrödinger, Was ist Leben?, 113.

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ab.³¹ „Durch Kombinationen von Primitivität Komplexität zu erreichen, sollte hei­ ßen, die Lücke zwischen Metapher und Modell zu schließen, den genetischen Code seiner metaphorischen Herkunft zu entziehen und ihn zum hypothetischen Schema zu machen.“ (LW, 376) Um die Modellbildung nachzuvollziehen, bespricht Blumenberg Erwin Char­ gaffs kurzen Text „Vorwort zu einer Grammatik der Biologie“.³² Chargaff blickt darin auf die Geschichte der Erforschung der DNA zurück, zu der er selbst einen wesentlichen Baustein beigetragen hat, stellt aber auch grundsätzliche Überle­ gungen zur Rolle der Naturwissenschaften an. Sie fallen eher kulturkritisch aus. Im „Reklametaumel einer untergehenden Zeit“ bringe es der Druck der media­ len Öffentlichkeit mit sich, dass „junge Forscher starten wie Rennpferde“³³ und das „Verstehen“ der Welt, dem die Natur „in lyrischer Intensität“ erscheine, ei­ nem mit Machteffekten durchsetzten „Erklären“ weiche. Doch selbst wenn alles erklärt werden könne, sei noch lange nicht alles verstanden. Chargaffs Text ver­ sucht, diese Differenz auch dadurch anzuzeigen, dass er die Reihe der Namen der an der Erforschung der DNA-Struktur beteiligten Männer mit einer Reihe der Na­ men einiger Männer der Literatur- und Ideengeschichte verknüpft. Zitiert werden, neben anderen, Augustinus, Jean Paul, Søren Kierkegaard und Karl Kraus. Neben das von Chargaff halb gefeierte, halb gebrochene Entdeckungsmuster der „soge­ nannten exakten Wissenschaften“³⁴ – „ein Mann, ein Ort, ein Datum“³⁵ – tritt das Zitationsmuster ‚ein Mann, eine Stelle, ein Datum‘, um so den ‚Mann der Wissen­ schaft‘, der diese Gedanken „am 30. Mai 1969 in der Aula der Universität Basel“³⁶ vorgetragen hat, als Schnittpunkt dieser Linien über den Verdacht bloßer Erklä­ rungen erhaben zu machen. Die „in weitesten Gelehrtenkreisen unbeachtete Pu­ blikation von Avery und Mitarbeitern“, die Schrödinger 1943 noch nicht kennen konnte, habe auf niemanden einen „tiefern“ Eindruck gemacht als auf ihn, Char­ gaff, selbst. Er rühmt Averys Folgerung, dass die DNA die fundamentale Einheit des Transformationsprozesses des Genoms eines Pneumococcus vom Typus III ist: „Selten wurde so viel in so wenigen Worten gesagt.“ Mit einem Schlage sei „eine

31 Es ist in diesem Zusammenhang nicht unerheblich, dass die von Blumenberg im Entwurf der Paradigmen zu einer Metaphorologie verwendeten Metaphoriken ebenfalls chemischer Natur sind. Vgl. hierzu: Mende, Metapher. 32 Erwin Chargaff, „Vorwort zu einer Grammatik der Biologie. Hundert Jahre Nukleinsäurefor­ schung“, in: Experientia 26 (1970), 810–816. 33 Chargaff, Vorwort zu einer Grammatik der Biologie, 814. 34 Chargaff, Vorwort zu einer Grammatik der Biologie, 812. 35 Chargaff, Vorwort zu einer Grammatik der Biologie, 811. 36 Chargaff, Vorwort zu einer Grammatik der Biologie, 810, Anm. 1.

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Chemie der Vererbung möglich und die Nukleinsäurenatur der Gene wahrschein­ lich“ geworden.³⁷ Blumenberg teilt diese Darstellung, insofern er die von Chargaff nahegeleg­ te Linie Miescher – Avery – Chargaff – Watson/Crick als Muster übernimmt, ver­ schiebt aber durch den Auftakt mit What is Life? das wissenschaftsgeschichtli­ che Interesse in das Vorfeld des entscheidenden Sprungs in den Chemismus. Das augustinische tolle, lege!, das mittlerweile für einen von der Natur ausgehenden Appell einstehen soll („Avery gab uns den ersten Text einer neuen Sprache [. . . ]. Ich nahm mir vor, diesen Text zu suchen.“),³⁸ überführt Chargaff in eine Buch­ stabenanordnung. Der wesentliche Schritt in der Ablösung einer substantialisti­ schen Theorie der Vererbung wird über ein anagrammatisches Modell erläutert: Gleich von Anfang an zog ich die Analogie zu den Proteinen heran und vermutete, dass die biologische Aktivität der Nukleinsäuren wahrscheinlich auf der Sequenzspezifität ihrer Bausteine – auf der Reihenfolge der 4 verschiedenen Nukleotide im Makromolekül – beru­ hen werde und nicht auf dem Vorkommen immer neuer, noch unerkannter Bestandteile. Der Prototyp der Verschiedenheit wäre demnach ‚Roma-Amor‘ und nicht ‚Roma-Rosa‘. Dies hat sich als richtig erwiesen.³⁹

Ähnlich wie Schrödinger distanziert sich aber auch Chargaff vom eigenen sprach­ lichen Mut: „Sind dies nicht alles Ausdrücke, die, wenn wir sie zu Ende zu denken versuchen, das erkenntnistheoretische Zwielicht unserer Naturwissenschaften nur noch fahler erscheinen lassen?“⁴⁰ Dieses nachgetragene Metaphernverdikt macht die Schriften des durch den Jubliäumsvortrag zu Würdigenden für Blu­ menberg interessant: Anhand der Etappen, die zu Mieschers Errungenschaft⁴¹ geführt haben – dass „[d]er Transport der Art über die Zeit [. . . ] keiner materiellen Substraterhaltung zuzuordnen“ (LW, 388) und die „Bindung bestimmter erblicher Eigenschaften an je ihnen zugeordnete chemische Stoffe“ (LW, 395) aufzugeben sei –, zeigt Blumenberg wiederum, dass sich der ausschlaggebende Perspektiv­ wechsel mit einer Verschiebung der Hintergrundmetaphoriken in Verbindung bringen lässt:

37 Chargaff, Vorwort zu einer Grammatik der Biologie, 812–813. 38 Chargaff, Vorwort zu einer Grammatik der Biologie, 813. 39 Chargaff, Vorwort zu einer Grammatik der Biologie, 813. 40 Chargaff, Vorwort zu einer Grammatik der Biologie, 815. 41 Das vorangegangene Ringen wird deutlich herausgehoben und mit dem Arbeitsbegriff ver­ bunden: „Die unter ruinösen Bedingungen von Miescher durchgestandene Isolierung ausrei­ chender Mengen an Zellkernen von Protoplasma bis zum analysefähigen Reinheitsgrad war die entscheidende, noch fern aller ‚reinen‘ Theorie liegende ‚Arbeits‘leistung, die den Übergang von einer Histochemie der Zelle zu einer des Zellkerns ermöglichte.“ LW, 386.

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In der Mühsal des metaphorischen Durchbruchs vom ‚Uhrwerk‘ zum ‚Sprachwerk‘ steckt der ganze Scharfsinn eines Vorgriffs auf theoretische Zukunft. Vergessen wir nicht, Miescher hat über die Metapher der alphabetischen Kombinatorik von Wörtern und Begriffen den Ausweg aus seiner bloß mechanischen oder motorischen Auffassung des Verhältnisses von Sperma und Ei gefunden. (LW, 396)

Trotz der Anknüpfung an Miescher überspringe Chargaff diese Verschiebung, um innerhalb des Paradigmas sogleich die „Aussicht auf den Menschen als den Um­ schreiber des Buchs der Natur“ (LW, 397) als düstere Vision zu behandeln. In dieser Vision, insofern sie sich aus der Lesbarkeitsmetaphorik speist, könne es sich allenfalls noch um einen „literarischen Einfall“ (LW, 397) handeln. „Mit der Übernahme der grammatischen Metaphorik von Schrödinger hat die Entfaltung des Unheils, wenn es denn ein solches sein sollte, nichts zu tun.“ (LW, 397–398) Schließlich sei Oswald Averys entscheidende Entdeckung auf den Effekt einer fak­ tischen Transplantation zurückgegangen. Offenbar kann das Modell Denkräume aufschließen, bleibt aber gegen die aus seinem Register gefolgerten unheilvollen Konsequenzen immun. Doch auch wenn es den faktischen Kurzschluss einer ver­ wirklichenden Ausbuchstabierung nicht geben könne, bleibe die Frage bestehen, „ob die Metaphorik der Lesbarkeit den fatalen Drang zur biotechnischen Verfü­ gung stimuliert, wenn nicht gar legitimiert haben kann.“ (LW, 399)

Leben und Lesbarkeit Diese Frage wird mit Hans Jonas, der sich seit Mitte der 1970er Jahre skeptisch ge­ genüber den Verheißungen der Biotechnik geäußert hatte, weiterverfolgt. Jonas gibt zunächst die Formel für die „Wendung der Metapher“ (LW, 398):⁴² „Assuming the genetic mechanism to be completely analyzed and its script finally decoded, we can set about rewriting the text.“⁴³ In Blumenbergs Lesart bleibt diese Umkeh­ rung auf die bereits mit dem Aufkommen der Buchmetaphorik behandelte Frage des Konkurrierens des Menschen mit Gott bezogen. Sie würde nun nicht die „Ri­ siken [. . . ] für Leben und Überleben der Menschheit“, sondern die „Rivalität von Technik und Natur“ (LW, 399) zum Thema machen. Die Problematik liege darin, den zur Lektüre nicht vorgesehenen Text überhaupt entziffert zu haben. Über eine Abwägung konkreter Chancen und Risiken sei damit nichts gesagt.

42 Vgl. zum Problem der ‚Wendung‘ Abschnitt 2.4. 43 Hans Jonas, Philosophical Essays. From Ancient Creed to Technological Man, Englewood Cliffs 1974, 80, zit. n. LW, 398.

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Demgegenüber hatte Jonas in Das Prinzip Verantwortung (1979) die These auf­ gestellt, dass die enorme Vergrößerung der Reichweite des technisch Möglichen auch eine neue Form der Ethik erfordere, die sich in den Registern einer am ge­ genwärtigen Umgang der Menschen miteinander bemessenen Theorie nicht mehr abbilden lasse. Der im Entwurf einer neuen Ethik lancierte Begriff der Verantwor­ tung soll nicht an Schuldverhältnissen gegenüber zurückliegenden Taten bemes­ sen sein, sondern an einer nicht mehr nur im Jetzt liegenden Verpflichtung für an­ dere und anderes. Insbesondere im Bereich der Gentechnik sei deutlich zu sehen, „wie weit unsere Macht des Handelns uns über die Begriffe aller früheren Ethik hinaustreib[t].“⁴⁴ Auch das, was vermeintlich Besserung bringt, sei potentiell fa­ tal. Blumenberg fasst das im ‚Prinzip Verantwortung‘ beschlossene Programm so zusammen: „es sei Pflicht der Menschheit, vor glückverheißenden Optionen zu zögern, sofern diese unter absoluten Risiken ständen.“ (LW, 399)⁴⁵ Auch hier bringt er vor, dass es eine binnenmetaphorische Überdehnung des Lesbarkeitspa­ radigmas nicht zulasse, über konkrete Risiken zu urteilen oder über möglicher­ weise illegitime Eingriffe des Menschen in die Natur – wie in der Interpretation als ‚Schutzschrift‘ suggeriert.⁴⁶ Die Metaphorik begründe, gebiete und verhinde­ re nichts. So ließe sich das Paradigma des Codes schwerlich mit dem der Unein­ sehbarkeit verbinden: Jeder Code sei prinzipiell zu entschlüsseln und für die „Ab­ schirmung bloßer Unantastbarkeit [. . . ] nicht die stärkste Lösung.“ (LW, 403) Für den genetischen Code könne man sogar feststellen, „daß er unter den von Schrö­ dinger ins Auge gefaßten Lösungen die einfachste realisiert.“ (LW, 402) Aus der Geschichte der ‚großen Metapherntradition‘ lässt sich also kein Übergriff in die Sphäre ethisch-politischen Handelns ableiten. Aus diesem Rahmen bricht Blu­ menbergs Studie am Ende aber aus, und damit auch aus der von Werner Hama­ cher kritisierten „Kohärenz einer Geschichte, [. . . ] in der doch zumindest sie [die Metapher] und ihre Welt am Ende ihre Lesbarkeit gewinnen sollen“.⁴⁷ Es zeichnet

44 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 1984, 53. 45 Birgit Recki hat Umrisse von Blumenbergs ungeschriebener Ethik in Abgrenzung zum Prinzip Verantwortung nachgezeichnet, erkennt in Beschreibung des Menschen sogar einen „Anti-Jonas“: Birgit Recki, „Technik und Moral bei Hans Blumenberg“, in: Hans Blumenberg beobachtet. Wis­ senschaft, Technik und Philosophie, hg. v. Cornelius Borck, Freiburg im Breisgau/München 2013, 64–87, hier: 85. 46 „Die Legitimation der absoluten Metapher von der genetischen Schlüsselschrift ist durch ihre Indienstnahme zum heuristischen Modell erfolgt. Von der Modellfunktion nicht mehr getragen sind die Weiterungen, in denen sich die Metaphern ‚Befehlstext‘ und ‚Schutzschrift‘ verbinden.“ LW, 402. 47 Hamacher, Unlesbarkeit, 23.

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sich eine andere Konzeption der Verantwortlichkeit ab. Diese hält sich in Distanz zu dem von Jonas vorgelegten Entwurf. Der bislang nachvollzogene Verlauf – von Schrödingers code-script bis zur Eingrenzung des Metaphernradius’ – schlägt im Kapitel XXII zwei Mal um: von einer Analyse der Metapher zur Diskussion dessen, was unter Metaphorologie zu verstehen sei, von einer metaphorologisch aufgearbeiteten Geschichte der Genetik zur phänomenologischen Frage nach der „Gesamterscheinung Leben“ (LW, 404). Dieser zweite Umschlagpunkt ist zugleich der, an dem mit Jonas’ Philo­ sophical Essays (1974) eine erneute „Wendung der Metapher“ (LW, 398) gefunden ist. Ihre Implikationen werden weiter aus einer wissenschaftsgeschichtlichen Per­ spektive diskutiert und auch bleiben weiterhin Schrift- und Buchmetaphoriken das Thema. Hinzu kommt nun, dass die weit ausgreifende Parallelmontage zum Ende der Lesbarkeit der Welt die Übertragung von Erbinformationen zusammen mit der Überlieferung von Texten behandelt. Eine binnenmetaphorologische Deu­ tung würde weiterhin nach Gründen suchen für die Geeignetheit des Paradigmas, Denkräume zu öffnen; eine meta-metaphorologische Deutung muss dagegen die strukturellen Bewegungen – es geht um gemeinsame Varianten des Abbaus und der Zerstörung – erschließen. Als Übertrag aus der Diskussion der Frage, ob „Unantastbarkeit“ der Zweck der untergeschobenen Verschlüsselung des Genoms sein kann, wird von Blumen­ berg das Problem der Zweckmäßigkeit übernommen. Während die Philosophie über lange historische Zeiträume hinweg am „Abbau von Zweckmäßigkeitsan­ nahmen“ gearbeitet habe, blieben derartige Vorstellungen andernorts bestehen: „Am schwersten ist es bis auf den heutigen Tag gewesen, Finalismen aus der Bio­ logie auszutreiben.“ Der darin enthaltenen Annahme, dass das Leben Zielpunkt der Entwicklungen der Materie sei, wird wiederum der 1920 von Freud ‚erfun­ dene‘ Todestrieb gegenübergestellt. Das Leben ist, so die Paraphrase, „nicht die Erfüllung einer innersten Tendenz der Materie, denn es hat selbst die in­ nerste Tendenz, zu seinem Ausgangszustand [. . . ] zurückzukehren.“ Aber auch in diesem Argument kehren die Finalismen wieder, weil nun, wie schon in der antiken und christlichen Metaphysik, die „ewige Ruhe“ zum „Zielzustand aller Bewegung“ wird (LW, 403). Hier steht nicht zur Debatte, ob der „Gesamterschei­ nung Leben“ (LW, 404) ein Zweck eingeschrieben ist oder nicht, sondern ob sich eine Teleologie der Zwecke und der Ziele als Denkfigur historisch halten lässt. Die Antwort, die sich der kurzen Passage entnehmen lässt, lautet, dass dies nicht möglich, es aber ebenso unmöglich sei, das Wiederaufkommen des An­ spruchs zu vermeiden. Dieses Problem stelle sich vor allem dann, wenn von einem „Entwicklungsgedanken“ (LW, 403) ausgegangen werde. Im Paradigma ei­ ner „Bewunderung des Werdens“ (LW, 404) sei vor allem danach gefragt worden,

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wie es dazu kommen konnte. Dass ‚Leben‘ das gegenüber einer ihm feindlichen Umwelt schlechthin Unwahrscheinliche sei, bleibe solchen Vorannahmen unzu­ gänglich. Der historiographische Ansatz Blumenbergs richtet sich schrittweise gegen die Möglichkeit, eine teleologische Geschichte des Lebens, auch eine der ihm vorangehenden wie der aus ihm zu folgernden Entwicklungen schreiben zu können. Über eine Kritik der Strukturlogiken (Teleologie, Entwicklung, Ge­ schichte) wird die Diskussion des Gegenstands – es geht immer noch um den ‚genetischen Code‘ – in eine ganz andere Konstellation übertragen. Die Gesamterscheinung Leben ist, energetisch betrachtet, gegenüber jeder ihrer Umgebun­ gen parasitär. Das lebendige System hält den entropischen Prozeß zu seinen Gunsten und zu Lasten von dessen Beschleunigung in seiner Umwelt auf. Leben erhält sich, indem es Energie verschwendet. Das gilt in höchstem Maße für den Engpaß aller Erscheinungen des Lebens, die Übertragung der genetischen Information im Erbgang. (LW, 404)

Ausbuchstabiert wird die Umbesetzung vom vergangenen wie zukünftigen Erfolg des Lebens zum jederzeitigen Risiko, von der Fülle des Gelingens zum Umgang mit einer konstitutiven Betreffbarkeit als Leben. In Die Vollzähligkeit der Sterne (1997) findet sich ein kurzer Text, der unter dem Titel „Lebensexpansion“ die Frage nach dem Leben, Inbegriff von Präsenz, in die Frage nach dem paradoxen Gegenteil, nach der Abwesenheit von Leben ‚im‘ und ‚als‘ Leben überführt (vgl. VS, 79–90).⁴⁸ Die Passage in der Lesbarkeit der Welt ist insofern parallel aufgebaut, als sie ei­ nen einfachen Bestand von Leben, verstanden im Sinne einer kontinuier- und erhaltbaren Gegenwart der Physis, zugunsten einer Betonung der einen solchen Bestand unterbrechenden Momente hinterfragt. Die „Unwahrscheinlichkeit“ des Lebens sei das „Maß seiner Gefährdung, auch des Aufwands seiner Absicherung gegen sie“ (LW, 404). Ehe die Ökonomien der Selbsterhaltung eines bereits als Leben stabilisierten Lebens thematisch werden können, zweigt das Argument ab und betont die Verausgabung, das Überschießen und Luxurieren in der Arbeit an den Gefährdungen, an der drohenden Nicht-Existenz. Hier liegt, neben einer Me­ taphorologie der Biochemie, der zweite Konvergenzpunkt von ‚Leben‘ und ‚Rhe­ torik‘.⁴⁹ Blumenbergs Text versucht, einen biologischen Positivismus auf Abstand zu halten. Die These, dass Leben sich qua Energieverschwendung erhalte, hat ge­ wissermaßen gar keinen Referenten. Sie bildet lediglich den Gegenschuss zu den strukturellen Implementen biologischer Zugänge (Teleologie, Ökonomie, Erhal­ tung, Entwicklung). Blumenbergs thetisches Schreiben sucht stets etwas Atheti­ sches.

48 Zum Thema der negativen Größen vgl. Abschnitt 4.1. 49 Vgl. hierzu den „Exkurs über Ökonomie und Luxus “ in ThU, 19–25.

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Die Annäherung von Leben und Rhetorik über das Luxus-Paradigma führt zu einer gleichermaßen radikalen wie unscheinbaren Umkehrung in der Anlage des Kapitels. Der rhetorische, sich in Schrift- und Buchmetaphoriken niederschlagen­ de Aufwand wird so, weil sich das Abschweifen nicht vermeiden lässt, als QuasiArtikulation eines um seine einfache Gegebenheit beraubten Lebens lesbar. Der Berührungspunkt zwischen ‚Leben‘ und ‚Metapher‘ liegt in ihrer Dennoch-Exis­ tenz, die in beiden Fällen etwas mit dem Abbau der Bedingungen der Unmög­ lichkeit zu tun hat. Nur so lässt sich die Ironie des Schnitts verstehen, der in der Aufeinanderfolge der Absätze von der „Gesamterscheinung Leben“ zu den „Kos­ ten“ für die „Sicherung und klimatische Begünstigung“ von Schriftstücken führt (LW, 404): erst die (Anti-)These zur Unwahrscheinlichkeit des Lebens, dann die Unwahrscheinlichkeit des Überlebens von Texten: „Was lesbar ist, das Dokument, ist in seiner Umgebung das schlechthin Unwahrscheinliche; wahrscheinlich ist das Chaos, das Geräusch, die Entdifferenzierung, die Verwesung. Der Todestrieb ist Inbegriff von Verlusten auch an Lesbarkeit, auch des Versinkens von Besonder­ heit im Allgemeinen.“ (LW, 404–405) Die Stelle, die die bibliothekarische „Siche­ rung und klimatische Begünstigung“ (LW, 404) des Erhalts von Dokumenten in die Diskussion einbringt, ist demnach doppelt besetzt. In der binnen-metaphoro­ logischen Deutung gibt dieser Schnitt eine Antwort darauf, warum das Paradig­ ma des Textes so gut dafür geeignet ist, als Metapher für das Leben im Ganzen herangezogen zu werden, obwohl doch der Schrift gerade die gegenteilige Impli­ kation der toten Buchstaben anhängt. Begründet ist dies in der Idee der Abwe­ senheit im und als Leben, mithin im Zerfall des Materials. In Abwandlung einer Formulierung Peter Geimers lässt sich sagen, dass der große Titel ‚Was ist Leben?‘ in die pragmatische Problemstellung ‚Was ist kein Text?‘ überführt wird.⁵⁰ In der meta-metaphorologischen Deutung handelt es sich um eine Parallelführung von Leben und Rhetorik, und zwar derart, dass die Einsicht in die sprachliche „Störan­ fälligkeit“ des Zugangs der modernen Biochemie notwendigerweise zu einer Dis­ kussion auch des eigenen Verfahrens führen muss. Nach der Bemerkung, dass sich das Paradigma der chemischen Schrift nicht in ein allgemeines Weltmodell einfüge, geschieht genau dies: „Metaphorologie ist ein Verfahren der Sichtung von notwendigen Wagnissen und unverantwortlichen Suggestionen.“ (LW, 405) Es handelt sich, gemäß dieser Selbstauskunft, um ein Beobachtungsdispositiv. Zu klären ist, wie sich dieses zum Lesbarkeitsdispositiv verhält, zu jenem „Ag­ gregatzustand der ‚Lesbarkeit‘“ (LW, 10), von dem zu Beginn der Studie als An­

50 Peter Geimer, „Was ist kein Bild? Zur ‚Störung der Verweisung‘“, in: Ordnungen der Sichtbar­ keit. Fotografie in Wissenschaft, Technologie und Kunst, hg. v. Peter Geimer, Frankfurt am Main 2002, 331–341.

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spruch oder Wunsch die Rede war, und der nun wieder aufgegriffen wird. Lässt sich ein Punkt finden, an dem das Problem ‚Metapher der Lesbarkeit‘ in das Pro­ blem ‚Lesbarkeit der Metapher‘, das Verfahren einer ‚Sichtung‘ in das der ‚Lektüre‘ umschlägt? Im Kapitel XXII hat ‚Lesbarkeit‘ zwei Seiten: die diagnostizierte der Schriftund Buchmetaphorik sowie die zur Erläuterung herangezogene materiale, die sich mit dem Paradigma der Unwahrscheinlichkeit verbindet. Mit beiden ist ein Moment potentiellen Abbaus verbunden. Für die Rückkehr in den wahrschein­ licheren Zustand der Entropie steht, erneut in einer eigenartigen Rückübertra­ gung, „der Todestrieb“ als „Inbegriff von Verlusten auch an Lesbarkeit, auch des Versinkens von Besonderheit im Allgemeinen“, für die Abwendung vom meta­ phorischen Zwischenschritt der „theoretische Fortschritt“ (LW, 405): In der Biochemie und Genetik kann man beobachten, wie der theoretische Fortschritt die metaphorischen Zwischenkonstruktionen, deren er sich so erfolgreich bedient hat, wieder abbaut, an die Stelle der Lesbarkeit nichts anderes setzt als die Wechselwirkungen stereo­ spezifischer Erkennungseigenschaften von Molekülen, die sie zur Bildung geordneter Ag­ gregate veranlassen. (LW, 405–406)

Nimmt man die Parallelkonstruktion ernst – es geht jeweils um Verluste von Les­ barkeit –⁵¹, gerät der „theoretische Fortschritt“ in eine Strukturanalogie zum „To­ destrieb“. Die Gegebenheit der Metapher ist durch die Arbeit der Theorie so ge­ fährdet wie das Schriftstück, dem der materiale Zerfall droht. Wenn die Pointe von Blumenbergs Lesart darin liegt, dass ‚Leben‘ überhaupt nicht positiv bestimmt werden kann, sich also nirgends als dieses Leben zeigt und auch nicht jenseits dieser Schwierigkeit gedacht werden kann, gilt auch für die Metapher, dass sie nur im Maß ihrer Gefährdung fortbesteht. Und wenn „die Metaphorik der Lesbarkeit gegenwärtig hält, was in Verlust geraten sein kann“ (LW, Klappentext), hält Meta­ phorologie dasjenige gegenwärtig, das droht, als „Zwischenkonstruktion“ über­ gangen, in seiner Suggestivität und „Virulenz“ (LW, 405) abgetan zu werden. Ge­ rade im Maß dieser Gefährdung wird das In-Verlust-Geraten selbst gegenwärtig gehalten. Indem es den Eigenwert des Aufwands, der Ausschweifung, der Verschwen­ dung betont, will sich das Verfahren auch in Opposition zu einer ‚Entwicklungs­ linie‘ der Biologie bringen:

51 Der Einwand, dass es sich hier um die Metapher der Lesbarkeit, dort aber um eine materia­ le, eigentlichere Lesbarkeit handele, würde nur dann greifen, wenn sich eine verlässliche Grenze zwischen Metapher und Begriff ziehen ließe. Hinzu kommt, dass die ‚materiale‘, die über den Do­ kumentcharakter vermittelte Lesbarkeit hier in einer strukturellen Reihe steht: der vermeintlich unmetaphorische Aspekt ist eine Variante von Rhetorik.

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Nun treibt auch die Biologie im Maße ihrer Chemisierung und Physikalisierung auf das Des­ interesse am Morphologischen zu, von dem doch ihr ganzer theoretischer Antrieb ausgegan­ gen war. [. . . ] Es wäre grotesk zu sehen, daß der ganze ungeheure Aufwand der organischen Natur den Biologen kalt läßt, weil er sich ihm nur als Sammlung beliebiger Exempel für im­ mer denselben Grundvorgang darstellt. [. . . ] Vor der Einfalt der Präskription verliert die Viel­ falt der Deskription ihren Eigenwert, auf dem nur eine widerspenstige Metaphorik besteht: die von Reichtum, Ausdruckskraft, Schatz, Sprache und Buch. Darin lag die Faszination der Metapher von der Lesbarkeit des genetischen Codes [. . . ]. (LW, 408)

Gemessen an Blumenbergs ‚Beschreibung des Lebens‘ verfährt die Biologie abio­ logisch, wenn sie das morphologisch Viele durch das Nadelör des einen Prinzips treiben will.⁵² Umgekehrt gewinnt die eingeführte Fülle – Kraft, Schatz, Reich­ tum – an Bedeutung, wenn man das Verfahren der phänomenologischen Be­ schreibung als Gegenmodell zum code-script auffasst. Verantwortung und Erbe Der Gewinn von Lesbarkeit ist ein Wiedergewinn. Auf Grundlage dieses Ergeb­ nisses wird ‚Lesbarkeit‘ in den Schlusssätzen neu umrissen, insbesondere hin­ sichtlich einer spezifischen Notwendigkeit zu lesen. Diese geht von dem aus, was die exakten Wissenschaften als Rest hinterlassen. „Wissenschaft zerstört unaus­ weichlich den Fundus ihrer Rechtfertigungen“ (LW, 408), die „Theorie bricht die Eselsbrücke der Veranschaulichung [. . . ] hinter sich ab“ (LW, 408), „vertraute Er­ fahrungstypik“ werde „von der wissenschaftlichen Erkenntnis als Gerüst in ihrem Rücken abgebrochen“ (LW, 409). Die Aufgabe zielt nicht auf den tatsächlichen Wiederaufbau der „Zwischenkonstruktionen“ (LW, 405), sondern auf die Möglich­ keit einer Rekonstruktion dieser Destruktionen, und ergänzen lässt sich: im Le­ sen. Indem sie das Misslingen der Destruktion ausstellt, destruiert die Rekonstruk­ tion aber nun ihrerseits, nämlich die Annahme, es könne bei diesem Abbau sein Bewenden haben. Im vermeintlichen Konservativismus Blumenbergs handelt es sich eher um einen Einspruch gegen unbefragte Gültigkeiten. Die Ansprüche der nicht explizit genannten dritten, weder metaphorisch noch material gedachten Lesbarkeit liegen in einer Bewegung, die den Aufwand minimieren, die Zwischen­ konstruktionen und Metaphern aufgeben will. Diese dritte Lesbarkeit ist aprojek­ tiv. Das ist der wesentliche Unterschied zu anderen Varianten: „Lesbarkeit dort­ hin zu projizieren, wo es nichts Hinterlassenes, nichts Aufgegebenes gibt, verrät nichts als die Wehmut, es dort nicht finden zu können, und den Versuch, ein Ver­ 52 Zu einem Anwendungsfall in der ‚Weltformel‘ der allgemeinen Photosynthese-Gleichung vgl. Waszynski/Karafyllis, Re-Collecting Microbes, 103–105.

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hältnis des Als-ob dennoch herzustellen.“ (LW, 409) Demgegenüber lasse sich das Alternativmodell „durchaus mit der Entzifferung der Schriften versunkener Kul­ turen vergleichen, denn nicht alles, was jemals in Schrift gebracht wurde, ist der ‚Nachwelt‘ hinterlassen, für sie bestimmt.“ (LW, 409) In dieser Formulierung ist eine Wendung von Max Planck aufgegriffen, beinahe entwendet. Sie wird zu Be­ ginn des Kapitels XXII zitiert.⁵³ Nach der vorangestellten Kritik ist es schwer vorstellbar, dass ein gelingenslo­ gisch gewendetes Paradigma nun plötzlich für die Vorkehrungen einstehen soll, die für das Umfeld des genetischen Codes veranschlagt worden waren und hin­ ter die jetzt nicht mehr zurückgefallen werden kann. Plausibler ist, dass es allein um den Aspekt des Verlusts von Lesbarkeit geht, um das Absinken in Unlesbar­ keit. Die Selbstverständlichkeit des Dispositivs wird fraglich, wenn der Vorbehalt dazwischentritt, als LeserIn gar nicht gemeint sein zu können. Die Ansprüche der Lesbarkeit liegen in der tendenziellen, aber nicht in einer strukturellen Un­ lesbarkeit, das heißt auch dort, wo die Sender- und Empfängerrollen nicht klar verteilt sind. Das, was betreffen kann, hat den Charakter eines Adressierens oh­ ne Adresse; auch diejenigen, die sich nicht angesprochen wähnen, sind bereits Adressaten: angesprochen und beunruhigt,⁵⁴ möglicherweise in Unkenntnis des­ sen. Dem Abbruch der Rechtfertigungen entspricht die Verweigerungshaltung, diesen Abbruch zur Kenntnis zu nehmen. „Lesbares zu lesen“, heißt genau nicht, den hermeneutischen Sinn von Lesbarkeit, dessen Nähe das Entzifferungspara­ digma greifbar hält, zu übernehmen. Umbesetzt wird also auch das rezeptions­ ästhetische Schema, das, in seiner literaturhistorischen Fassung, ebenfalls einen „Adressaten“, auch „die Nachkommenden“ und den „späten Leser“ kennt.⁵⁵ Das Lesbare ist bei Blumenberg nicht das Gegebene, sondern das Aufgege­ bene. Mit Blick auf das Programm des ‚dunklen Schlusssatzes‘ der Lesbarkeit der 53 „Dem Physiker ist das ideale Ziel die Erkenntnis der realen Außenwelt; aber seine einzigen Forschungsmittel, seine Messungen, sagen ihm niemals etwas direkt über die reale Welt, son­ dern sind ihm immer nur eine gewisse mehr oder weniger unsichere Botschaft oder, wie es Helm­ holtz einmal ausgedrückt hat, ein Zeichen, das die reale Welt ihm übermittelt und aus dem er dann Schlüsse zu ziehen sucht, ähnlich einem Sprachforscher, welcher eine Urkunde zu enträt­ seln hat, die aus einer ihm gänzlich unbekannten Kultur stammt.“ Max Planck, „Positivismus und reale Außenwelt. Vortrag 1930“, in: ders., Wege zur physikalischen Erkenntnis, Leipzig 1933, 208–222, hier: 218, zit. n. LW, 373. 54 Vgl. zu einer ähnlichen Struktur Nils Plaths Analyse von Derridas Die Postkarte: „Als Adressat von Sendungen, die einen als Antwort auf die eigenen erreichen (oder auch nicht), und als Posten einer unabschließbaren – selbst noch über den Tod möglicherweise sich fortsetzenden – Korre­ spondenz kann man sich [. . . ] als von vorneherein verunsichert vorkommen – nachträglich dazu gemacht durch die Antwort oder auch das ausbleibende Widerwort des einem selbst anderen.“ Plath, Hier und anderswo, 489. 55 Vgl. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation.

5.2 Unabgegoltene Ansprüche: Das Kapitel XXII der Lesbarkeit der Welt

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Welt ist Lesbares das, was, um eine Formulierung Jacques Derridas zu bemühen, „vorausgesetzt war“, um „den theoretischen Erwerb und das Vorankommen des Wissens möglich“ zu machen.⁵⁶ Für Blumenberg liegt diese Lesbarkeit in der Zer­ störung des Vorausgesetzten, was zugleich heißt, dass die Zerstörung nicht rest­ los gewesen sein kann. Vor allem also die Versuche der Überwindung und des Abbruchs sind es, eher noch als der erreichte ‚theoretische Fortschritt‘, die „gro­ ßen Denksysteme“⁵⁷ oder das hinterlassene Erbe, die einen „Akt von ‚Solidarität‘ über die Zeit“ (LW, 409)⁵⁸ erzwingen. Auch dieser letzte Ausdruck nimmt unmit­ telbar Bezug auf eine andere Fundstelle, nämlich auf das „Schicksal des Gerichts­ buches“ in Heinrich Heines Memoiren (1884): Es steht für die Verstrickung und Verschuldung der Menschheit, ihrer Generationen und Völker miteinander, über die Zeit. [. . . ] Die Generationen, die aufeinander folgen, die Völker, die nacheinander in die Arena der Geschichte treten, verbindet Solidarität, und die ganze Menschheit liquidiert am Ende die große Hinterlassenschaft der Vergangenheit. (LW, 32–33)

Die Texte gehen in die These ein. Dort, wo sich der Fokus von der Analyse der Schrift- und Buchmetaphoriken löst, kehren diese als eine Art Gerüst für den wei­ terführenden Kommentar wieder. Das textuelle Erbe spielt bereits in die Formu­ lierung der These zu seiner eigenen Relevanz hinein. Gegenüber diesem Erbe, das aus dem Innern des Tradierten heraus die Tradierung befragt, ist eine andere Ver­ antwortung erforderlich als die, die Jonas für die ‚technologische Zivilisation‘ als einen in „Furcht“ gegründeten Handlungsimperativ veranschlagt hat.⁵⁹ Derrida hat demgegenüber auf die innere Verbindung von Erbe und Verantwortung hin­ gewiesen: 56 Derrida/Roudinesco, Woraus wird Morgen gemacht sein?, 29. 57 Roudinesco verwendet diesen Ausdruck zusammen mit einem diese Systeme angreifenden Moment: „Ich bewundere sowohl die großen Denksysteme als auch den Subversions- und folglich Dekonstruktionswert“. Derrida/Roudinesco, Woraus wird Morgen gemacht sein?, 23. 58 Thomas Meyer stellt eine Verbindung dieser Solidarität mit den Materialitäten des Lesens her: „Die ‚Solidarität‘ ist eine in Anführungszeichen. Sie lässt sich nicht mehr selbst neugrün­ den, sondern muss aus den Archiven der Vergangenheit entnommen und ins Licht der jeweiligen Gegenwart gestellt werden. Und wenn sie denn ans Licht gezerrt ist, dann ist es eine, die sich nur im Lesen erweisen kann. Nicht ein politischer, aber auch kein rhetorischer Akt, nicht die Deklara­ tion und nicht die Behauptung, sondern das Lesen ist es, was Blumenberg ‚über die Zeit‘ greifen lässt. Die ‚unsichtbaren Fäden‘ (Ernst Cassirer), die jede Gegenwart aufnehmen muss, um mit der Vergangenheit in Verbindung bleiben zu können, sind bei Blumenberg aus den Bedingungen der Möglichkeit gewoben, die Welt und den Mensch lesbar machen zu können.“ Meyer, ‚Lesbarkeit‘ und ‚Sichtbarkeit‘, 84. 59 „Nicht die vom Handeln abratende, sondern die zu ihm auffordernde Furcht meinen wir mit der, die zur Verantwortung wesenhaft gehört, und sie ist Furcht um den Gegenstand der Verant­ wortung. [. . . ] Verantwortung ist die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein, die bei Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur ‚Besorgnis‘ wird.“ Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 391.

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Der Begriff Verantwortung hat außerhalb einer Erfahrung des Erbes nicht mehr den gerings­ ten Sinn. Noch bevor man sagt, daß man für ein [. . . ] Erbe verantwortlich ist, muß man wis­ sen, daß die Verantwortung im allgemeinen (das ‚etwas Verantworten‘, das ‚Antworten auf‘, das ‚(Ver)Antworten in seinem Namen‘) uns zunächst und durchgehend als ein Erbe zuge­ wiesen ist.⁶⁰

Thema des ersten Teils des Gesprächs von Élisabeth Roudinesco und Jacques Der­ rida, in dem sich diese Passage findet, ist die Art und Weise der Auseinanderset­ zung mit den Texten der philosophischen Tradition und Gegenwart. Besprochen wird eine Strategie, die, wie Nils Plath herausgestellt hat, „Lektüren als fortge­ setzte Gegenlese gegenüber Herrschaftsbehauptungen im allgemeinen und Tex­ ten im Konkreten produziert“.⁶¹ Roudinesco beschreibt eine doppelte Geste von Treue und Untreue, die, so die Replik und Eigenauskunft Derridas, vielleicht zu „retten [sauver]“ vermag, indem sie gerade „[n]icht heil [sauf]“ lässt, was auf sie kommt. Man müßte folglich ausgehen von diesem formalen und sichtbaren Widerspruch zwischen der Passivität des Empfangens und der Entscheidung, ‚ja‘ zu sagen und dann auszuwäh­ len, zu filtern, zu interpretieren, also umzugestalten, nicht intakt, unangetastet zu lassen, nicht einmal das heil zu lassen, von dem es heißt, es vor allem – und nach allem – werde geachtet.⁶²

Etwas, dessen Unantastbarkeit vorausgesetzt sein mag, nicht intakt zu lassen, un­ terscheidet sich deutlich von den Zerstörungen, die Blumenberg erkennt. Denn diese Zerstörungen wollen – allen Bescheidenheitsformeln zum Trotz – Unantast­ barkeiten, Evidenzen hervorbringen. Das Verfahren, die Zerstörungen zu entzif­ fern, lässt also in einer anderen Weise ‚nicht intakt‘. Erben ist ein Schuldverhältnis: „Man ist verantwortlich vor dem, was vor ei­ nem selbst kommt, aber auch vor dem, was zukünftig und also noch vor einem selbst ist. Zweimal vor, vor (devant) dem, was er ein für alle Mal muß – der Er­ be ist zweifach verschuldet.“⁶³ Es spielt keine Rolle, ob das Vererbte Reichtümer, Schulden oder Papierschnipsel sind. Im Erbe nach Derrida handelt sich um et­

60 Derrida/Roudinesco, Woraus wird Morgen gemacht sein?, 18. Für eine detaillierte Rekon­ struktion der lektüretheoretischen Implikationen des Erbes nach Derrida sowie zu den politi­ schen Implikationen vgl. Plath, Hier und anderswo, 378–379 u. a. Zentral ist Derridas Einsicht: „Das Erbe ist niemals ein Gegebenes, es ist immer eine Aufgabe.“ Jacques Derrida, Marx’ Ge­ spenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, übers. v. Susanne Lüdemann, Frankfurt am Main 2005, 92. 61 Plath, Hier und anderswo, 380. 62 Derrida/Roudinesco, Woraus wird Morgen gemacht sein?, 15. 63 Derrida/Roudinesco, Woraus wird Morgen gemacht sein?, 18.

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was, das sich dem annähern lässt, was Haverkamp für Blumenbergs Schriften als eine „nicht weiter hintergehbare [. . . ] Hypothek“ beschrieben hat.⁶⁴ Es ist auf den Stellenwert des Konzepts der Hypothek in Blumenbergs ideengeschichtlichen Ar­ beiten hingewiesen worden.⁶⁵ So hat Robert Buch die Differenz zwischen der Fülle eines christlichen Erbes – Blumenbergs Neuzeit-These will dieses als movens nicht gelten lassen – und einer ‚Hypothek der aufgegebenen Probleme‘ markiert: Rather than conceiving the modern age as one indepted to and derived from its Christian legacy, Blumenberg inverts the logic of debt, inheritance, and origination at the core of con­ temporaneous attempts to delegitimize the modern age. In his account, it is not the Christian legacy that is to be credited with the advent of the modern age, while the latter is to be faul­ ted for deviating from its origin; rather, the presumed inheritance is in fact an inadvertent burden and liability against which modernity had to assert itself.⁶⁶

Ausgehend von dieser Beobachtung lässt sich fragen, ob ein Zusammenhang zwi­ schen einer verfahrenslogisch reformulierten Theorie des Erbes und dem Argu­ ment zur Epochenschwelle herstellbar ist. Ein Leitfaden hierfür könnte Blumen­ bergs bereits früh entwickeltes Modell der Rezeptionsgeschichte sein. In diesem Ansatz trägt sich der Anspruch fort, der Einsicht gerecht zu werden, die Husserl in der Krisis-Schrift formuliert hatte: „daß wir als Philosophen [. . . ] Erben der Ver­ gangenheit sind.“⁶⁷ Gleichzeitig wird die „Rückfrage nach dem, was ursprünglich und je als Philosophie gewollt und durch alle historisch mit einander kommu­ nizierenden Philosophen und Philosophien fortgewollt war“,⁶⁸ in die Frage nach dem, was es jeweils gewesen ist, das gewollt war, überführt.⁶⁹

64 Haverkamp, Metapher, 73. 65 Blumenbergs Verfahren ist dabei bislang nicht explizit ins Spiel gebracht worden. In Nicola Zambons Lesart findet sich ein schlüssiger Ausgangspunkt dazu, der mit Blumenbergs Matthäus­ passion (1988) und über ein revidiertes Konzept der memoria hergeleitet wird. Allerdings erhält die Konstellation einen hier bestrittenen ‚konservativen‘ Zug, der sich nicht zwingend mit dem ‚Eingedenken‘ Benjamins verbinden lassen muss: „Was dazu motiviert, den Geschichtsreichtum mit seinem einzigartigen und unwiederholbaren Charakter zu bewahren, ist die Gewissheit, mit Elias Canetti gesprochen, dass ‚Leben‘ nichts Anderes meint als ‚Überleben‘. Wie wir sehen wer­ den, kommt memoria damit überein, was Walter Benjamin und nach ihm Theodor W. Adorno unter ‚Eingedenken‘ verstanden haben. Wie Barnaba Maj herausgestellt hat, ist ‚Eingedenken‘ mehr als Erinnerung: Es benennt die Pflicht gegenüber denjenigen, die uns nicht mehr gegen­ wärtig sind.“ Zambon, Das Nachleuchten der Sterne, 203. 66 Robert Buch, „Umbuchung. Säkularisierung als Schuld und als Hypothek bei Hans Blumen­ berg“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 64,4 (2012), 338–358, hier: 338. 67 Husserl, Krisis, 18–19. 68 Husserl, Krisis, 19. 69 Vgl. Abschnitt 3.1.

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Technisierung und Lektüre Mit den vorangegangenen Schritten ließ sich ein Vorschlag erarbeiten, wie der Komplex der Verantwortung auf den einer latenten Lesbarkeit bezogen werden kann. Auf der einen Seite liegt, wie oben entwickelt, eine Zerstörung im Fort­ schritt („Wissenschaft zerstört unausweichlich den Fundus ihrer Rechtfertigun­ gen“, LW, 408), auf der anderen, und dazu ist noch einmal Blumenbergs Lebens­ weltkritik aufzunehmen, liegt eine Zerstörung in den Bewegungen, solchen Pro­ gress zugunsten des Erhalts von Selbstverständlichkeit zu verhindern. Der mehrfachen Negation, dem Litotes in Blumenbergs Schlusssatz,⁷⁰ ent­ spricht die „Autokatalyse“ (ThL, 98) der Lebenswelt, deren Auflösung schon im Versuch ihrer Erhaltung liegt.⁷¹ In der Unmöglichkeit von Theorie wird Theorie möglich, weil es unmöglich ist, einen Zustand absoluter Theorielosigkeit durch­ zuhalten.⁷² Noch einmal der für die Unbemerktheit dieses Umschlags entschei­ dende Satz: „Die Fülle ihrer [der Lebenswelt] Nebenleistungen, mit denen sie den Innenseiten die Erscheinung ihrer Beständigkeit gewährt, werden eines Tages zur Hauptleistung – das heißt aber, daß die Wendung zur theoretischen Einstel­ lung schon vollzogen ist.“ (ThL, 104)⁷³ Lassen sich Blumenbergs Ausführungen zu den modernen Lebenswissenschaften als Auseinandersetzung mit Husserls Technisierungsbegriff verstehen, dann verschränken sich an der letzten Wen­ dung der Weltbuchmetaphorik, deren In-Erscheinung-Treten ihrerseits „als das nicht Selbstverständliche“ (LW, 11) ausgewiesen worden war, beide Aspekte. In der Tendenz auf Formalisierung werden die Zwischenschritte, die zum Auf­ schließen des Nicht-Deduzierbaren notwendig sind, abgebrochen; in der ‚Formel‘ sind sie das theoretisch Unzulässige. Im Insistieren des Abgebrochenen im Er­ reichten handelt es sich erneut um eine destruktive Bewegung. Es ist, wie sich

70 Es geht um das Nicht-Verweigern des Adressaten gegenüber den nicht sofort offenkundigen Ansprüchen (vgl. LW, 408–409), also um einen Verlust von Selbstverständlichkeit gerade durch das vermeintlich Selbstverständliche, das sich zwar nicht als zwingend oder drängend präsen­ tiert, sich als solches aber nachträglich, im Lesen, erweisen kann. Für Hinweise zu diesem Satz danke ich Rudolf Helmstetter und Tobias Schmidt. 71 Die Überdehnung des Anspruchs der Vernunft begründet sich im Goethe-Kapitel der Lesbar­ keit der Welt aus der Abwehr des potentiellen Gegenteils, als immanente Destruktion der Präten­ tion aus dem Geiste der Prävention. Vgl. Abschnitt 3.3. 72 Vgl. die Strukturanalogie im Romanaufsatz: An „der Demonstration der Unmöglichkeit des Romans wird ein Roman möglich“. Wirklichkeitsbegriff, 22. Literaturgeschichte ist, lebenswelt­ theoretisch betrachtet, Theorie-Geschichte. 73 Vgl. auch: „Die Destruktion der Lebenswelt kann philosophisch nur begriffen werden, wenn sie selbst als Inbegriff der Akte ihrer Verteidigung, ihrer Selbstreparatur, ihres Sich-Durchhaltens gesehen wird.“ ThL, 27.

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etwa an Gottfried Wilhelm Leibniz und Johann Wolfgang von Goethe mit Blick auf den Kontingenzbegriff zeigen ließ,⁷⁴ die Störung theoretischer Stillstellung. Entscheidend ist dann die Frage nach dem Ansatzpunkt oder der Motivati­ on der tendenziellen Technisierung. In diesem Sinn spricht Blumenberg im „Aus­ blick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“ (1979) von der „Lebenswelt [. . . ] als dem ständigen – obwohl nicht ständig präsent zu haltenden Motivierungsrück­ halt aller Theorie.“ (Ausblick, 193) Die Pointe dieser Husserl-Rezeption besteht darin, dass die Lebenswelt nicht jenseits der autokatalytischen Tendenz gedacht werden kann. Technisierung hat bereits statt; die Wiederherstellung eines vor­ technischen Zustands ist eine Utopie. Es lässt sich demnach unterscheiden zwi­ schen dem „Ansatz von oder zu Theorie“ (ThL, 54) und einer Fixierung der theo­ retischen Einstellung im Grenzbegriff der Formel. Der Ort der Theorie nach Blu­ menberg liegt zwischen dem Ausschluss von Theorie und der Unmöglichkeit ihrer Stillstellung; es ist nicht nur die Zone des Aufkommens und der Verzögerung me­ taphorischer Konfigurationen, sondern auch die Zone, in der das Problem der Lek­ türe aufgenommen wird. Im wichtigen Technisierungsaufsatz von 1963 wird „Technik nicht mehr aus der Antithese zur Natur“, sondern aus „einem Verhältnis zur Geschichte“ ver­ standen. Dieses Verhältnis ist ein elliptisches. Technisierung steht für das Aus­ lassen von Geschichte: Der Mensch wolle „sozusagen ‚im Sprunge‘ vorankom­ men“, er wolle „nach dem Ende“, „zu den Sachen“ drängen. „Er läßt Geschich­ te aus.“ (Technisierung, 34) Gefragt ist nach dem neuzeitlichen „Übergang zur Technisierung“, nach dem „Aufbrechen des Motivs“ (Technisierung, 51, meine Hervorhebung, A.W.), nach der prekären „Legitimität der Technisierung“ (Tech­ nisierung, 44, meine Hervorhebung, A.W.). Diese Verlagerung ist deswegen wich­ tig, weil nun das systematisch Übersprungene gegen die Operationalisierung des Überspringens gewendet wird.⁷⁵ Deswegen setzt der Aufsatz mit dem aus Paul Valérys Essay über Leonardo da Vinci entlehnten „Bild“ des in Gedanken überbrückten oder überflogenen Abgrundes ein (Technisierung, 7). Das „Über­ sprungenhaben“⁷⁶ der „Krisenzone“ (ThL, 60) „zwischen zwei Unmöglichkeiten“ (VF, 65) ist der ‚blinde Fleck‘, dem alle „Geschlossenheit sich verdankt“.⁷⁷

74 Vgl. Abschnitte 3.3 und 3.4. 75 Einen konkreten Anwendungsfall diskutiert der Aufsatz: Waszynski/Karafyllis, Re-Collecting Microbes, der das Insistieren der im Versuch biotechnologischer Verfügung über die Welt der Mikroben übersprungenen Kultivierungsansprüche rekonstruiert. 76 In Anlehnung an: Tholen, Platzverweis, 121. 77 Mithin gilt das für epochale Konstruktionen: „Übersprungen wird aber in allen Stufenmo­ dellen das Epochale der jeweils unterschiedenen Epoche selbst, d. h. der zeitlich unverfügbare Vorenthalt und Vorbehalt einer Zäsur, die keine wäre, wenn sie sich als bloß evolutionärer Über­

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Aus dem bislang Entwickelten ergeben sich drei Ausblicke: (1) Dem aus dem Nachlass erschlossenen Projekt einer ‚Geistesgeschichte der Technik‘ stellen sich, wie einleitend angedeutet, vor allem methodologische Schwierigkeiten. Sie ha­ be es „mit einer egestas verborum, einer Armut der Sprache, besonderer Art zu tun.“ (GT, 67) Die doppelte Zurückweisung – der Antithese von Natur und Technik sowie einer Technikgeschichte – stößt damit auf das Diskussionsfeld der Disser­ tationsschrift, die die von Martin Heidegger neu gestellte Seinsfrage nicht allein an Ausdrücken wie ‚ens‘ oder ‚esse‘ festmachen wollte. (2) Die Husserl-Rezeption in „Lebenswelt und Technisierung“ wiederum ist ausdrücklich als „immanente Kritik“ (Technisierung, 40) angelegt. Sie geht mit Husserl über Husserl hinaus. Diese Bewegung – es ist die einer kritischen Lektüre – verbindet sich mit dem Argument zur „Autodestruktion“ (ThL, 103) der Lebenswelt. (3) Die Aporie der Ge­ schlossenheit bildet einen Gegensatz zur Betonung der Unabschließbarkeit empi­ rischer Forschung, der, so eine einführende Bemerkung zur Lesbarkeit der Welt, „Geschlossenheit und Abgeschlossenheit, wie Bücher sie prätendieren [. . . ] schon der Form des Anspruchs nach falsch“ seien (LW, 18). Verankert man eine Interpretation in einem der konzeptuellen Angebote Blu­ menbergs, wiederholt sich die Logik des Abschlusses gegen Anderes, die früher oder später in einen Anthropologismus hinüberführt. Vielmehr stellen sich der anthropologischen Frage in dieser Neufassung – sie fragt nach den Bedingungen der Unmöglichkeit – bereits die Probleme, die als Pluralität der Lesarten, der Ge­ waltenteilungen und Hypotheken drängend bleiben, und mit denen die beiden großen Entgegensetzungen – Mensch und Wirklichkeit, Leser und Text – unhalt­ bar werden. Dieser Zugang lässt sich von einer wissenschaftsgeschichtlichen Per­ spektive unterscheiden. Christina Brandt hat die Stellung des Schlusskapitels der Lesbarkeit der Welt ausführlich innerhalb einer anthropologisch begründeten Metapherntheorie ver­ ortet und gegenüber Diskursen und Entwicklungen der zeitgenössischen Lebens­ wissenschaften – z. B. hinsichtlich sog. Genbibliotheken – profiliert. Sie erkennt eine „grundlegende Skepsis gegenüber dem Anspruch des biowissenschaftlichen Metapherngebrauchs“ und beobachtet, dass die Rolle der Metapher in Blumen­ bergs Narrativ ungeklärt zwischen „Irreduzibilität und Vorläufigkeit“ verbleibe.⁷⁸ Zwar könne sein Fokus implizite Sinnpostulate aufschließen, aber mit seiner „her­ gang fixieren ließe.“ Georg Christoph Tholen, „Die Zäsur der Medien“, in: Medientheorie und die digitalen Medien, hg. v. Winfried Nöth und Karin Wenz, Kassel 1998, 61–87, hier: 66. 78 Christina Brandt, „Eine Hermeneutik der Lebenswissenschaften? Eine wissenschaftshistori­ sche Relektüre von Hans Blumenbergs ‚Die Lesbarkeit der Welt‘ im Zeitalter des Digitalen“, in: „Das Wunder des Verstehens“. Ein interdisziplinärer Blick auf ein ‚außer-ordentliches‘ Phänomen, hg. v. Hans-Ulrich Lessing und Kevin Liggieri, Freiburg im Breisgau/München 2018, 126–151, hier: 147.

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meneutischen und historischen Lesart“ übersehe er „die grundlegende techni­ sche Neuartigkeit des kybernetischen Informationsparadigmas“.⁷⁹ Brandts Inter­ pretation verbindet einen Konsens zu Blumenbergs Metaphorologie mit einem rein historiographischen Zugriff auf die Geschichte der Lebenswissenschaften. Da die Kritik an der selektiven Materialauswahl, dem Typus nach, dem auch vonsei­ ten der Philosophiegeschichtsschreibung⁸⁰ an Die Lesbarkeit der Welt herangetra­ genen Vorbehalt ähnelt, lässt sich nochmals ein thematologisches Missverständ­ nis in der Blumenberg-Rezeption benennen: Blumenberg schreibt weniger über ideen- oder wissenschaftsgeschichtliche Konstellationen als mit ihnen; seine Tex­ te mit einem thematischen Fokus zu lesen heißt, ihre methodologischen Pointen zu überspringen. Genau diesen Maßstab – die Gemachtheit des Arguments nicht aus den Augen zu verlieren – legt Blumenberg aber an sein Material an. Blumen­ bergs Verfahrenstechnik besteht darin, dass fortwährend an rezeptionsgeschicht­ lichen Konstellationen ablesbare Denkbewegungen in die Struktur der eigenen Argumentation Einzug halten. Das konnte oben u. a. anhand seiner Lektüren Plo­ tins und Fontanes gezeigt werden. Das Schlusskapitel greift die Spannung zwischen empirischen Wissenschaf­ ten und Bücherwelt auf und verbindet damit Diskurse der Verantwortung, Verer­ bung und Technisierung. Anstelle einer normativen Ethik, eines Biologismus und einer Entscheidung für oder gegen einen Fortschrittsoptimusmus tritt eine ethisch gewendete Responsibilität, genauer: ein Modell des Lesens zwischen Technisie­ rung und Rückbesinnung, das bei epistemischen Resten ansetzt – wie etwa bei absoluten Metaphern (auch als „Grundbestände“ verstanden bleiben sie Rudi­ ment). Wenn Metaphorologie allein in der Form von Paradigmen gegeben ist⁸¹ und sich jedes Paradigma erst über lange historische Zeiträume hinweg in sei­ ner eigenen Umbesetzungsgeschichte zeigt, arbeitet auch der exemplarische Fall mit an dem, was unter Metaphorologie überhaupt zu verstehen ist. Insofern bleibt Metaphorologie betreffbar; Blumenbergs Schriften nehmen keinen, wie es ihnen ebenfalls häufig vorgehalten wird, vogelperspektivischen Betrachterstandpunkt ein. Sie demonstrieren in der Sache wie im Verfahren dieser Demonstration die Instabilität eines solchen Standpunkts. So wie Schiffbruch mit Zuschauer (1979) – die dafür maßgebliche Arbeit – mit einem „Ausblick auf eine Theorie der Unbe­ grifflichkeit“ geendet hatte, schließt Die Lesbarkeit der Welt mit Umrissen einer Theorie der Lesbarkeit.

79 Brandt, Eine Hermeneutik der Lebenswissenschaften?, 148. 80 Vgl. Abschnitt 3.1, Anm. 43. 81 Vgl. Abschnitt 3.1.

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5.3 Lesen im Plural Bei Hans Blumenberg wird das Thema des Lesens meist über Umwege aufgegrif­ fen: als Metapher und Analogie, in Zitation und mit ironischer Distanz. Obwohl sie umfassende Lektüregänge ausstellen und methodische Krisenpunkte behandeln, arbeiten seine Schriften keine Theorie des Lesens aus. Zugleich bieten sie zahlrei­ che Anhaltspunkte dafür, dass Weisen des Lesens und der Rezeption in ihre The­ senbildung eingehen. Deutlich wird das auch an Nachlassfragmenten, die ‚den Leser‘ zum Thema machen. So beschreibt das kurze Prosastück „Das finale Di­ lemma des Lesers“ einen vom ‚Autor‘ ausgehenden, die „vorbehaltlose Hingabe“ seines Rezipienten einfordernden Anspruch. Ihm wird eine „ungeteilte [. . . ] Auf­ merksamkeit“ abverlangt, die „niemals adäquat[]“ sein kann (LT, 30). Blumen­ berg kommentiert in seinem Fragment einen einzigen Satz Arthur Schopenhau­ ers, der gerade die gegenteilige Rezeptionshaltung einfordert: „Überhaupt mache ich die Anforderung, daß, wer sich mit meiner Philosophie bekanntmachen will, jede Zeile von mir lese.“⁸² Das „Dilemma“ liegt darin, dass ein solcher Anspruch zwar absolut sein mag – wie in der Lesbarkeit der Welt die „Idee des absoluten Buches“ bei Friedrich Schlegel (vgl. LW, 267–280) –, sich aber in mehrfacher Hin­ sicht nicht durchhalten lässt. Einerseits ist jeder Autor ein Autor „unter vielen“ (LT, 29); Aufmerksamkeit bedeutet zwangsläufig die Abwendung von anderem. Andererseits geht ein Text, insbesondere der philosophische, stets auf die Ausein­ andersetzung mit anderen Texten zurück. Der fiktive absolute Anspruch seitens des einzelnen Autors wird von Blumenberg umgelenkt in die Anerkennung eines Plurals der Ansprüche. „Müßte nicht [. . . ] all das der Leser schon gelesen haben, um des Genusses teilhaftig zu werden, wie sein Autor eine Welt des Lesbaren der eigenen integriert und rhetorisch wie argumentativ dienstbar macht?“ (LT, 32–33) Die Argumentation steht unter dem Vorbehalt der Zitation, die Rezeption sieht sich den Ansprüchen der vielen Texte, ihrerseits in rezeptionsgeschichtlicher Si­ tuation, gegenüber. Blumenberg verdeckt diese Probleme nicht, sondern macht sie zum Ansatzpunkt seines Schreibens. Die behandelten Dispositive des Lesens – eines Autors, eines Textes, der Welt – markieren lediglich Zwischenschritte. Mit und nach Blumenberg lassen sich Elemente benennen, die einen Aus­ blick auf eine posthermeneutische Theorie der Lesbarkeit erlauben. Der Begriff der Lesbarkeit beschreibt die Aufgabe, bei dem anzusetzen, was übersprungen, marginalisiert oder als überwunden ausgegeben worden ist: beim Insistieren des in theoretischer wie ästhetischer Einstellung Zurückgelassenen, bei einer „Hypo­

82 Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, hg. v. Wolfgang von Löhneysen, Darmstadt 1961, 589, zit. n. LT, 31.

5.3 Lesen im Plural

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thek der Probleme“ (SÄ, 60), die hier durchaus auf die mikrologischen Ansprüche der Texte zurückgeführt werden sollte. Er zielt also auch darauf, die variantenrei­ che Wiederkehr der Lesbarkeitsmetaphorik selbst zu erfassen, mithin die über­ gangenen Ansprüche der Texte, an denen sich ein solches Insistieren ‚ablesen‘ lässt. Im Unterschied sowohl zur positiven Leserlichkeit wie zur strukturellen Un­ lesbarkeit handelt es sich um eine negative und zugleich latente Lesbarkeit, weil sie das Nicht-Thematisierte umfasst, ohne selbst gänzlich zum Thema werden zu können. Metaphern, in Blumenbergs Verständnis, brauchen nicht in der Ausdrucks­ sphäre in Erscheinung zu treten, um auf die Sachverhalte überzugreifen. Es be­ darf daher der Textarbeit, diese Dynamik und das metaphorologische ‚Als‘ zu er­ fassen, wie sich beispielhaft an der Verschiebung „Die Welt als Buch, das Buch als Welt“ zeigen ließ. Im Unterschied zum lektüretheoretischen Fokus auf einzelnen Texten muss die Aufmerksamkeit auf plurale rezeptionsgeschichtliche Konstella­ tionen gerichtet werden. Blumenbergs frühe Schriften haben offengelegt, dass Re­ zeption ihrerseits das Übersprungene sein kann: nicht nur in Martin Heideggers Seinsgeschichte, sondern auch in zeitgenössischen Versuchen, Epochenschwel­ len zu beschreiben. Rezeption wird, wie es sich bis zu Arbeit am Mythos (1979) verfolgen lässt, zum ‚ursprünglichen‘ Problem. Lektüre ist dann die Umsetzung eines rezeptionsgeschichtlich, aber nicht re­ zeptionsästhetisch ausgerichteten Imperativs; sie bildet, indem sie das textuell Selbstverständliche aufbricht, einen „Ansatz von oder zu Theorie“ (ThL, 54). In das Verhältnis ‚Lebenswelt und Technisierung‘ spielt dieser Ansatz hinein, nicht zuletzt, weil es sich in Blumenbergs Wiederaufnahme um eine „immanente Kri­ tik“ (Technisierung, 40) der Husserlschen Phänomenologie handelt. Postherme­ neutisch ist dieser Zugang, weil er zwar Auslegbarkeit für Metapherngeschichten gelten lässt, gleichzeitig aber Distanz zu der für die philosophische Hermeneutik wichtigen Wendung von den Texten zur Welt wahrt. Insofern Lesbarkeit eine re­ sponsive Bewegung notwendig macht, einen „Akt von ‚Solidarität‘ über die Zeit“ (LW, 409), lassen sich Berührungspunkte zu Jacques Derridas kritischer Diskussi­ on des Begriffs des Erbes oder Bernhard Waldenfels’ Philosophie der Antwort be­ nennen. Mit diesem Appell zur Rückwendung geht bei Blumenberg eine Zukunfts­ orientierung einher, wie Birgit Recki anhand von Arbeit am Mythos erläutert hat: „Es geht um die Sensibilisierung für eine Zukunft, und die wird erworben durch den Sinn für das Unabgegoltene der Vergangenheit“.⁸³

83 Birgit Recki, „Gegen die Absolutismen der Wirklichkeit. Hans Blumenberg in Münster“, in: Merkur 792 (2015), 28–41, hier: 31 [meine Hervorhebung, A.W.].

278 | 5 Betreffbarkeit

Während Die Lesbarkeit der Welt (1981) den schrittweisen Abtrag des TextLeser-Dispositivs – zitierend, anführend, vorführend – nachvollzieht, finden sich auch an anderen Stellen Hinweise auf eine systematische Lockerung der großen Zweiseitigkeiten (z. B. Mensch und Welt).⁸⁴ Im ausführlichen Goethe-Teil im My­ thosbuch wird die These zur mythischen Gewaltenteilung mit einem Plural auch der Lesarten parallel geführt. Das zeitgleich erschienene metaphorologische Teil­ stück Schiffbruch mit Zuschauer (1979) läuft auf den Verlust der Zuschauerposition hinaus,⁸⁵ bezeichnenderweise an dem Punkt, an dem es um die Zeitgebundenheit der historiographischen Methode geht. Mit einem Rückblick auf die noch unveröffentlichte Habilitationsschrift lässt sich das Strukturmoment der Betreffbarkeit (nicht: Betroffenheit), das in Be­ schreibung des Menschen (2006) ausführlicher eingeführt ist, als methodologi­ sche Schwierigkeit fassen. Als Ertrag seiner Diskussion phänomenologischer Weltbegriffe führt Blumenberg 1950 die unabwendbare und historisch geformte ‚Andringlichkeit‘ des Ganzen an. Diese ‚Andringlichkeit‘ ist auch eine der Texte, an denen sich ‚Welt‘ bereits gebrochen hat. Der Komplex der Lesbarkeit über­ brückt, ohne ‚den Leser‘ zu privilegieren, die Distanz zwischen den Ansprüchen auf Sinnbesitz und der Betreffbarkeit methodischer Absicherungen. Lesbares ist daher nicht etwas Gegebenes, sondern die Latenz des als Prätention Aufgege­ benen. Die Frage danach, was es heißt, einem Text gerecht zu werden, verschiebt sich in die, was es heißt, immer neuen textuellen Konstellationen nicht mehr gerecht werden zu können. Die 2018 aus dem Nachlass veröffentlichte „Beschreibung des Lesens“ fasst das Lesen, weil es sich selbst undurchsichtig bleibt, als negative Größe auf. Nicht als Gegebenes, sondern als das zugunsten des gelingenden Voll­ zugs Aufgegebene betrifft Lesbarkeit schon den Akt und nicht erst die Gegenstän­ de des Lesens. Fraglich bleibt, nach welchen Kriterien sich dann überhaupt noch ein Kor­ pus bestimmen lässt, an dem diese Aspekte studiert werden können. Die sich in mehrseitigen Namenregistern niederschlagende Antwort Blumenbergs lässt sich mit guten Gründen angreifen. Die globale, das ‚great unread‘ (Margaret Cohen) thematisierende Perspektive neuerer Literaturtheorien produziert jedoch blinde Flecken auf ihre Weise, denn das ins Recht zu Setzende wird einem Verfahren

84 Weiterführend wäre zu fragen, wie sich diese Beobachtung auf die Historiographie der Epo­ chenschwellen auswirkt, insbesondere auf die in Blumenbergs Legitimität der Neuzeit eingeführ­ te Frage-Antwort-Struktur, für deren Systematik Elizabeth Brient die Prägung „dialogical func­ tionalism“ gefunden hat. Brient, The Immanence of the Infinite, 27–38. 85 Vgl. dazu Katrin Trüstedt, „Schiffbruch mit Zuschauer: Schmitt, Blumenberg und das Theater der Moderne“, in: Shakespeare-Jahrbuch 146 (2010), 97–112.

5.3 Lesen im Plural

| 279

untergeordnet, das seine Gegenstände formt, indem es sich über sie erhebt. Es ist die paradigmatische Konfiguration dessen, was mit dem Begriff der Technisie­ rung als ein ‚im Sprunge Vorankommen‘ gefasst werden kann. Unter dem Stich­ wort der Lesbarkeit ist zu untersuchen, was noch im Versuch der Restitution von Ansprüchen als Unabgegoltenes zurückbleibt. Insofern bleibt ein Ansatz an den Rändern des Überwundenen gleichermaßen zwingend wie die Aufmerksamkeit für das dabei Übergangene.

6 Literatur 6.1 Siglenverzeichnis der zitierten Schriften Hans Blumenbergs Schreibung und Zuordnung der Siglen folgen im Grundsatz: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 7–10. AE

Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner. Erweiterte und über­ arbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“, vierter Teil, Frank­ furt am Main 1976.

AM

Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1996.

Anekdoten

„Glossen zu Anekdoten“, in: Akzente 30 (1983), 28–41.

Annäherung

„Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, in: Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 104–136.

Ausblick

„Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“, in: Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main 2001, 193–209.

Beobachtungen

„Beobachtungen an Metaphern“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), 161–214.

BG

Begriffe in Geschichten, Frankfurt am Main 1998.

BM

Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlass hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt am Main 2006.

BU

Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholasti­ schen Ontologie, hg. v. Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann, Berlin 2020.

Contemplator

„Contemplator caeli“, in: Orbis Scriptus. Dimitrij Tschižewskij zum 70. Ge­ burtstag, hg. v. Dietrich Gerhardt, Wiktor Weintraub und Hans-Jürgen zum Winkel, München 1966, 113–124.

Einleitung

„Einleitung“, in: Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben. Auf­ sätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 3–6.

G

Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt am Main 1981.

GT

Geistesgeschichte der Technik, aus dem Nachlass hg. v. Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Frankfurt am Main 2009.

H

Höhlenausgänge, Frankfurt am Main 1989.

Kontingenz

„Kontingenz“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörter­ buch für Theologie und Religionswissenschaft, Band 3, hg. v. Kurt Galling, Tübingen 1959, Sp. 1793–1794.

https://doi.org/10.1515/9783110692426-006

6.1 Siglenverzeichnis der zitierten Schriften Hans Blumenbergs |

281

Kritik

„Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik. Strukturanaly­ sen zu einer Morphologie der Tradition“, in: Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main 2001, 266–290.

LT

Lebensthemen, aus dem Nachlass hg. v. Hans Blumenberg Erben, Stuttgart 1998.

LW

Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1986.

MS

Ein mögliches Selbstverständnis, aus dem Nachlass hg. v. Hans Blumen­ berg Erben, Stuttgart 1997.

Nachahmung

„‚Nachahmung der Natur‘. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen“, in: Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main 2001, 9–46.

Nachdenklichkeit

„Nachdenklichkeit“, in: Jahrbuch Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (1980), 57–61.

Nachruf

„Nachruf auf Erich Rothacker“, in: Jahrbuch der Akademie der Wissen­ schaften und der Literatur in Mainz (1966), 70–76.

OD

Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänome­ nologie Husserls, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Kiel 1950.

Ordnungsschwund

„Ordnungsschwund und Selbstbehauptung. Über Weltverstehen und Welt­ verhalten im Werden der technischen Epoche“, in: Hans Blumenberg, Schriften zur Technik, hg. v. Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Berlin 2015, 138–162.

Paradigma

„Paradigma, grammatisch“, in: Hans Blumenberg, Ästhetische und me­ taphorologische Schriften, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main 2001, 172–176.

PhS

Phänomenologische Schriften 1981–1988, aus dem Nachlass hg. v. Nicola Zambon, Berlin 2018.

PM

Paradigmen zu einer Metaphorologie. Kommentar von Anselm Haverkamp unter Mitarbeit von Dirk Mende und Mariele Nientied, Frankfurt am Main 2013.

PN

Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“, dritter Teil, Frankfurt am Main 1973.

QSE

Quellen, Ströme, Eisberge, aus dem Nachlass hg. v. Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, Berlin 2012.



Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“, erster und zweiter Teil, Frankfurt am Main 1983.

SF

Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987.

Sokrates

„Sokrates und das ‚objet ambigu‘. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes“, in: Hans Blu­ menberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. v. Anselm Ha­ verkamp, Frankfurt am Main 2001, 74–111.

282 | 6 Literatur

Staatstheorie

„Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie“, in: Schweizer Monatshefte 48,2 (1968), 121–146.

SZ

Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1979.

Technisierung

„Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“, in: Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 7–54.

ThL

Theorie der Lebenswelt, aus dem Nachlass hg. v. Manfred Sommer, Berlin 2010.

ThU

Theorie der Unbegrifflichkeit, aus dem Nachlass hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main 2007.

VF

Vor allem Fontane. Glossen zu einem Klassiker, aus dem Nachlass hg. v. Hans Blumenberg Erben München, Frankfurt am Main/Leipzig 2002.

Vieldeutigkeit

„Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes“, in: Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main 2001, 112–119.

Vorbemerkungen

„Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff“, in: Abhandlungen der geis­ tes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaf­ ten und der Literatur in Mainz, Nr. 4, Mainz u. a. 1973, 3–10.

VS

Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt am Main 2000.

Wirklichkeitsbegriff

„Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen 1963. Vorlagen und Verhandlungen, hg. v. Hans Robert Jauß, München 1964, 9–27.

6.2 Verzeichnis der aus Hans Blumenbergs Nachlass (DLA Marbach) zitierten Materialien Arbeitsbibliothek Hans Blumenberg, darin: Handexemplar: Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1941. Konvolut: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontolo­ gie/Vorarbeiten und Materialien, darin: Manuskript „Die Leistung der scholastischen Metaphysik im Hinblick auf den ontologi­ schen Ansatz bei Martin Heidegger “, 4. Februar 1947, 7 Bl. Gliederung „Die Leistung der scholastischen Metaphysik im Hinblick auf den ontologi­ schen Ansatz bei Martin Heidegger “, Januar 1947, 2 Bl. Gliederung „Die ontologische Leistung der mittelalterlichen Scholastik im Hinblick auf Heideggers Destruktion der traditionellen Ontologie“, Dezember 1946, 1 Bl. Manuskript „Zur Methodik einer Untersuchung ontologischer Konzeptionen“, Dezember 1946, 14 Bl. Gliederung „Die ontolog. Leistung d. Scholastik, im Hinblick auf Heideggers Destruktion d. traditionellen Ontologie“, November 1946, 1 Bl. Gliederung „Die Kritik der Scholastik in der Destruktion der traditionellen Ontologie bei Martin Heidegger “, August 1946, 1 Bl.

6.3 Weitere Literatur

|

283

Referat „Die Ontologie der Scholastik“, Übung Dr. Landgrebe über Heideggers „Sein und Zeit“, 10. Juli 1946, 3 Bl. Konvolut: Text- und Materialsammlung zu Paul Valéry, darin: Manuskript „Sokrates und das ‚objet ambigu‘. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes“, 1964, 48 Bl. Manuskript „VLX“, undatiert, 23 Bl. Konvolut: Text- und Materialsammlung Nichtschwimmer, darin: Manuskript „Das Wasser und die Götter: Tragik und Komik des Nichtschwimmers“ [UNF 3602–3604], undatiert, 3 Bl. Manuskript: Die Lesbarkeit der Welt (Mappe 2/2), darin: Karteikarten zum Projekt BDN (Buch der Natur), 2 Bl. Verzeichnis der Karteikarten, ca. 100 Bl. Zettelkasten 16: Mythos, X-Z. Zettelkasten 18: lose Karteikarten BDN–BGG.

Transkriptionsprinzipien: Für die Transkription von Textpassagen aus Nachlassmaterialien sind folgende Prinzipien leitend: Wiedergegeben wird ein Text, wie er im Druck erscheinen würde. Stillschweigend herausgelassen werden Tippfehler und graphische Kor­ rekturzeichen. Streichungen und Korrekturen können ebenfalls nicht offengelegt werden, es sei denn das Argument bezieht sich unmittelbar auf eine von Blu­ menberg vorgenommene Änderung. Unsicherheiten in der Lesart werden durch eckige Klammern angezeigt und in den Anmerkungen erläutert. Angegeben wird die Blattzahl insgesamt sowie die Seitenzahl. Die Seitenzahl bezieht sich, wo möglich, auf Blumenbergs eigene und durch (hier nicht näher erläuterte) Siglen systematisierte Paginierung.

6.3 Weitere Literatur Adams, David: „Metaphors for Mankind. The Development of Hans Blumenberg’s Anthropologi­ cal Metaphorology“, in: Journal of the History of Ideas 52,1 (1991), 152–166. Agamben, Giorgio: Signatura rerum: zur Methode, übers. v. Anton Schütz, Frankfurt am Main 2009. Ammann, Hermann: „Zum deutschen Impersonale“, in: Jahrbuch für Philosophie und phänome­ nologische Forschung 10 (1929), 1–25. Attridge, Derek: Reading and Responsibility. Deconstruction’s Traces, Edinburgh 2010. Augustinus, Aurelius: Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch/Deutsch, übers. v. Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart 2012. Bajohr, Hannes: „Ein Anfang mit der Sprache. Hans Blumenbergs erste philosophische Veröf­ fentlichung“, in: ZfL Blog , 13. August 2018, https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/08/ 13/ (30. April 2020).

284 | 6 Literatur

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6.3 Weitere Literatur

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285

Curtius, Ernst Robert: „Schrift- und Buchmetaphorik in der Weltliteratur“, in: Deutsche Viertel­ jahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 20 (1942), 359–411. Dahlke, Benjamin und Matthias Laarmann: „Nachwort der Herausgeber“, in: Hans Blumenberg, Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie, hg. v. Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann, Berlin 2020, 217–229. Deleuze, Gilles: Francis Bacon. Logik der Sensation, übers. v. Joseph Vogl, München 1995. Derrida, Jacques: „Der Entzug der Metapher“, in: Romantik. Literatur und Philosophie. Interna­ tionale Beiträge zur Poetik, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt am Main 1987, 317–355. Derrida, Jacques: Gesetzeskraft – der „mystische Grund der Autorität“, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt am Main 1991. Derrida, Jacques: Grammatologie, übers. v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frank­ furt am Main 1983. Derrida, Jacques: Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Ein Kommentar zur Beilage III der ‚Krisis‘, übers. v. Rüdiger Hentschel und Andreas Knop, München 1987. Derrida, Jacques: „Justices“, in: Provocations to Reading. J. Hillis Miller and the Democracy to Come, hg. v. Barbara L. Cohen und Dragan Kujundžić, New York 2005, 228–262. Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Inter­ nationale, übers. v. Susanne Lüdemann, Frankfurt am Main 2005. Derrida, Jacques: „Ousia und gramme“, in: ders., Randgänge der Philosophie, hg. v. Peter En­ gelmann, Wien 1999, 57–92. Derrida, Jacques: Wie nicht sprechen. Verneinungen, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 1989. Derrida, Jacques und Élisabeth Roudinesco: Woraus wird Morgen gemacht sein? Ein Dialog, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Stuttgart 2006. Drux, Rudolf: „Tropus“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 9, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 2009, 809–830. Dunne, Éamonn: J. Hillis Miller and the Possibilities of Reading: Literature After Deconstruction, New York 2010. Echte, Bernhard: „Editorischer Bericht“, in: Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren 1926–1927, hg. v. Bernhard Echte und Werner Morlang, Frankfurt am Main 1990, 462–468. Empson, William: Seven Types of Ambiguity, London 1949. Feger, Sonja und Tobias Keiling: „Am Rand der Lebenswelt. Hans Blumenbergs Phänomenolo­ gie der Theorie“, in: Anthropologie der Theorie, hg. v. Thomas Jürgasch und Tobias Keiling, Tübingen 2017, 323–341. Fellmann, Ferdinand: „‚Die Erschließung der menschlichen Lebenswelt im Medium der Litera­ tur‘. Interview mit Ferdinand Fellmann, Münster, 31. Mai 2014“, in: Poetik und Hermeneutik im Rückblick. Interviews mit Beteiligten, hg. v. Petra Boden und Rüdiger Zill, Paderborn 2017, 105–129. Fischer, Matthias: Differente Wissensfelder – Einheitlicher Vernunftraum. Über Husserls Begriff der Einstellung, München 1985. Flasch, Kurt: Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland: Die Jahre 1945 bis 1966, Frankfurt am Main 2017. Flaubert, Gustave: Die Versuchung des heiligen Antonius, übers. v. Barbara und Robert Picht, Frankfurt am Main 1966. Fleming, Paul: „On the Edge of Non-Contingency: Anecdotes and the Lifeworld“, in: TELOS 158 (2012), 21–35.

286 | 6 Literatur

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6.3 Weitere Literatur

| 287

Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, 16 Bände in 32 Teilbänden, Leipzig 1854. Guthke, Karl S.: Letzte Worte. Variationen über ein Thema der Kulturgeschichte des Westens, München 1990. Hainz, Martin A.: „Was aber, wenn doch..? Close reading zu/mit Blumenbergs Arbeit am My­ thos“, in: Blumenbergs Schreibweisen. Methodische und kulturanalytische Perspektiven im Ausgang von Hans Blumenberg, hg. v. Wolfgang Müller-Funk und Matthias Schmidt, Würzburg 2019, 61–72. Hamacher, Werner: „Lectio. De Mans Imperativ“, in: ders., Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt am Main 1998, 151–195. Hamacher, Werner: „Unlesbarkeit“, in: Paul de Man, Allegorien des Lesens, hg. v. Werner Hama­ cher, Frankfurt am Main 1988, 7–28. Haverkamp, Anselm: „Das unerklärliche ‚Sein‘ der Unbegrifflichkeit. Der Ort der Metapher nach Blumenberg – Versuch eines Kommentars“, in: Unbegrifflichkeit. Ein Paradigma der Moderne, hg. v. Almut Todorow, Ulrike Landfester und Christian Sinn, Tübingen 2004, 249–257. Haverkamp, Anselm: „Die Technik der Rhetorik. Blumenbergs Projekt“, in: Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, aus dem Nachlass, hg. v. Anselm Haver­ kamp, Frankfurt am Main 2001, 435–454. Haverkamp, Anselm: „Epochenschwelle und Anachronie. Der umgangene Quintilian“, in: Pro­ metheus gibt nicht auf. Antike Welt und modernes Leben in Hans Blumenbergs Philoso­ phie, hg. v. Melanie Möller, Paderborn 2015, 239–258. Haverkamp, Anselm: Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg, Berlin 2004. Haverkamp, Anselm: Metapher. Die Ästhetik in der Rhetorik. Bilanz eines exemplarischen Be­ griffs, München 2007. Haverkamp, Anselm: „Paradigma Metapher, Metapher Paradigma – Zur Metakinetik herme­ neutischer Horizonte (Blumenberg/Derrida, Kuhn/Foucault, Black/White)“, in: Epochen­ schwelle und Epochenbewußtsein, hg. v. Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck, Mün­ chen 1987, 547–560. Haverkamp, Anselm: „Stellenkommentar“, in: Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Me­ taphorologie. Kommentar von Anselm Haverkamp unter Mitarbeit von Dirk Mende und Mariele Nientied, aus dem Nachlass, hg. v. Hans Blumenberg, Frankfurt am Main 2013, 191–465. Heidegger, Martin: „Das Ding (1950)“, in: ders., Gesamtausgabe, Band 7, hg. v. Friedrich-Wil­ helm von Herrmann, Frankfurt am Main 2000. Heidegger, Martin: „Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20)“, in: ders., Gesamtausga­ be, Band 58, hg. v. Hans-Helmuth Gander, Frankfurt am Main 1993. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 2006. Heidenreich, Felix: „Bedeutsamkeit“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 43–56. Heidgen, Michael, Michael Koch und Christian Köhler (Hg.): Permanentes Provisorium. Hans Blumenbergs Umwege, Paderborn 2015. Helmstetter, Rudolf: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus, München 1998.

288 | 6 Literatur

Horn, Eva, Bettine Menke und Christoph Menke: „Einleitung“, in: Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, hg. v. Eva Horn, Bettine Menke und Christoph Menke, München 2005, 7–15. Hubig, Christoph: Kunst des Möglichen I: Technikphilosophie als Reflexion der Medialität, Bie­ lefeld 2006. Husserl, Edmund: „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä­ nomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie“, in: Husserliana [Hua], Band VI, hg. v. Walter Biemel, Den Haag 1954. Husserl, Edmund: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Ver­ nunft, Halle an der Saale 1929. Husserl, Edmund: „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso­ phie“, in: Husserliana [Hua], Band III/1, hg. v. Karl Schuhmann, Den Haag 1976. Ibach, Helmut: Leben und Schriften des Konrad von Megenberg, Berlin 1938. Ingold, Felix Philipp: „Auf der Suche nach einem Anfang für ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘“, in: Akzente 30,5 (1983), 385–388. Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literari­ scher Prosa, Konstanz 1971. Jahraus, Oliver: „Literaturwissenschaftliche Theorien des Lesens“, in: Grundthemen der Li­ teraturwissenschaft: Lesen, hg. v. Rolf Parr und Alexander Honold, Berlin/Boston 2018, 123–139. Jauß, Hans Robert (Hg.): Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963, München 1964. Jauß, Hans Robert: „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“, in: Rezepti­ onsästhetik. Theorie und Praxis, hg. v. Rainer Warning, München 1979, 126–162. Jauß, Hans Robert: „Rezeption, Rezeptionsästhetik“, in: Historisches Wörterbuch der Philoso­ phie, Band 8, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel 1992, 996–1004. Johnson, Barbara: „Die kritische Differenz: BartheS/BalZac“, in: Texte und Lektüren. Perspekti­ ven in der Literaturwissenschaft, hg. v. Aleida Assmann, Frankfurt am Main 1996, 142–155. Johnson, Barbara: The Critical Difference. Essays in the Contemporary Rhetoric, Baltimore/ London 1985. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 1984. Jonas, Hans: Philosophical Essays. From Ancient Creed to Technological Man, Englewood Cliffs 1974. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg 1998. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, hg. v. Heiner F. Klemme, Hamburg 2009. Kant, Immanuel: „Logik“, in: ders., Werke: Akademie-Textausgabe, Band 9, hg. v. Gottlob Ben­ jamin Jäsche, Berlin 1987. Kant, Immanuel: „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“, in: ders., Werke: Akademie-Textausgabe, Band 4, hg. v. Benno Erdmann, Berlin 1978, 253–383. Kant, Immanuel: „Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen“, in: ders., Werke in zehn Bänden, Band 2, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, 779–819. Kay, Lily E.: Who wrote the Book of Life? A History of the Genetic Code, Stanford 2000. von Kempski, Jürgen: Brechungen. Kritische Versuche zur Philosophie der Gegenwart, Hamburg 1964.

6.3 Weitere Literatur

| 289

Khurana, Thomas: „Idee der Welt. Zum Verhältnis von Welt und Bild nach Kant“, in: Soziale Systeme 18 (2012), 94–118. Kittler, Friedrich: Optische Medien, Berlin 1999. Klein, Andreas: Zwischen Grenzbegriff und absoluter Metapher. Hans Blumenbergs Absolutis­ mus der Wirklichkeit, Würzburg 2017. Klein, Rebekka A.: „‚Auf Distanz zur Natur‘. Eine Beschreibung des Menschen“, in: Auf Distanz zur Natur. Philosophische und theologische Perspektiven in Hans Blumenbergs Anthropo­ logie, hg. v. Rebekka A. Klein, Würzburg 2009, 9–19. Konersmann, Ralf: „Vernunftarbeit. Metaphorologie als Quelle der historischen Semantik“, in: Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, hg. v. Franz Josef Wetz und Hermann Timm, Frankfurt am Main 1999, 121–141. Konersmann, Ralf: „Zuletzt und verspätet. Hans Blumenbergs Beschreibung des Menschen als Kulturphilosophie“, in: Erinnerung an das Humane. Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie Hans Blumenbergs, hg. v. Michael Moxter, Tübingen 2011, 226–239. Konstantakopoulos, Theodoros: Zur Normativität des Unbegrifflichen: die Metapher und ihre „Hintergründe“ vor und bei Hans Blumenberg, Berlin 2014. Kopp-Oberstebrink, Herbert: „Umbesetzung“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 350–378. Kopperschmidt, Josef: „Die Eloquenz der Dinge. Rhetorikgeschichtliche Anmerkungen und Ergänzungen zu Hans Blumenbergs Die Lesbarkeit der Welt“, in: Rhetorica 3,2 (1985), 105–136. Kopperschmidt, Josef: Wir sind nicht auf der Welt, um zu schweigen, Berlin/Boston 2018. Krajewski, Bruce: „The musical horizon of religion: Blumenberg’s Matthäuspassion“, in: History of the Human Sciences 6,4 (1993), 81–95. Krauthausen, Karin: „Hans Blumenbergs möglicher Valéry “, in: Zeitschrift für Kulturphiloso­ phie 6 (2012), 39–63. Krauthausen, Karin: „Konkrete Unschärfe. Überlegungen zur epistemischen Qualität von Paul Valérys objet du monde le plus ambigu“, in: Bild / Ding / Kunst, hg. v. Gerhard Wolf und Kathrin Müller, Berlin/München 2015, 51–68. von Kues, Nikolaus: „Die belehrte Unwissenheit“, in: ders., Philosophisch-theologische Werke, Band 1, hg. v. Karl Bormann, Hamburg 2002. de Laplace, Pierre-Simon: Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit, Leipzig 1932. ¯ Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Apokatastasis (panton)“, in: Leibniz als Geschichtsphilosoph, hg. v. Max Ettlinger, München 1921, 27–34. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Theodizee, Hamburg 1968. Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels“, in: ders., Philosophische Schriften, Band II/1, hg. v. Herbert Herring, Darmstadt 2013. Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Metaphysische Abhandlung, XIX“, in: ders., Philosophische Schrif­ ten, Band 1, hg. v. Hans Heinz Holz, Darmstadt 2013. von Lempicki, Sigmund: „Bücherwelt und wirkliche Welt. Ein Beitrag zur Wesenserfassung der Romantik“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesge­ schichte 3,3 (1925), 339–386. Longo, Giuseppe: „From exact sciences to life phenomena: Following Schrödinger and Turing on Programs, Life and Causality“, in: Information and Computation 207,5 (2009), 545–558. Mahler, Andreas: „‚Realität‘ in der ‚Postmoderne’? – Überlegungen zu Hans Blumenbergs vier­ tem Wirklichkeitsbegriff“, in: Comparatio 8 (2016), 181–196.

290 | 6 Literatur

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6.3 Weitere Literatur

| 291

Menke, Bettine: „Sumpf und Mauer. Versuche zu einer Philosophie der Unbestimmtheit“, in: Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie, hg. v. Anselm Haverkamp und Dirk Mende, Frank­ furt am Main 2009, 316–338. Menke, Christoph: Die Kraft der Kunst, Berlin 2013. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zur einer Ästhetik des Performativen, Frank­ furt am Main 2002. Mersch, Dieter: „Tertium datur. Einleitung in eine negative Medientheorie“, in: Was ist ein Me­ dium?, hg. v. Stefan Münker und Alexander Roesler, Frankfurt am Main 2008, 304–321. Meyer, Thomas: „‚Lesbarkeit‘ und ‚Sichtbarkeit‘. Zu Hans Blumenbergs Versuch, seine Moderne zu retten“, in: Erinnerung an das Humane. Beiträge zur phänomenologischen Anthropolo­ gie Hans Blumenbergs, hg. v. Michael Moxter, Tübingen 2011, 72–85. Meyer, Thomas: „Lesbarkeit“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 171–184. Miller, J. Hillis: „Die Festlegung des Gesetzes in der Literatur – am Beispiel Kleists“, in: Kleist lesen, hg. v. Nikolaus Müller-Schöll und Marianne Schuller, Bielefeld 2003, 181–208. Miller, J. Hillis: Reading Narrative, Norman 1998. Miller, J. Hillis: The Ethics of Reading: Kant, de Man, Eliot, Trollope, James, and Benjamin, New York u. a 1987. Miller, J. Hillis: Versions of Pygmalion, Cambridge, MA/London 1990. Möbuß, Susanne: Plotin zur Einführung, Hamburg 2000. Moretti, Franco: „Conjectures on World Literature“, in: Debating World Literature, hg. v. Christo­ pher Prendergast, London/New York 2004, 148–162. Müller, Oliver: „Mensch“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 185–200. Müller, Oliver: Sorge um die Vernunft. Hans Blumenbergs phänomenologische Anthropologie, Paderborn 2005. Müller, Oliver: „Über ein ‚Ärgernis‘ der phänomenologischen Anthropologie. Blumenbergs Umfiktionen am Beispiel des Sichtbarkeitstheorems“, in: Blumenbergs Schreibweisen. Methodische und kulturanalytische Perspektiven im Ausgang von Hans Blumenberg, hg. v. Wolfgang Müller-Funk und Matthias Schmidt, Würzburg 2019, 35–47. Müller-Sievers, Helmut: „Kyklophorology: Hans Blumenberg and the Intellectual History of Technics“, in: Telos 158 (2012), 155–170. Nancy, Jean-Luc: „Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des ‚Kommunismus‘ zur Ge­ meinschaftlichkeit der ‚Existenz‘“, in: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, hg. v. Joseph Vogl, Frankfurt am Main 1994, 167–204. Nancy, Jean-Luc: Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, übers. v. Anette Hoffmann, Zürich/Berlin 2003. Nancy, Jean-Luc: La création du monde ou la mondialisation, Paris 2002. Nauta, Lodi: „A Weak Chapter in the Book of Nature. Hans Blumenberg on Medieval Thought“, in: The Book of Nature in Antiquity and the Middle Ages, hg. v. Arjo Vanderjagt und Klaas van Berkel, Leuven u. a. 2005, 135–150. Neubaur, Caroline: „Das Leben der Bilder und Zeichen. Eine die Wissenschaften übergreifende philosophische Summe – Hans Blumenberg ‚Die Lesbarkeit der Welt‘“, in: Die Zeit , 8. Oktober 1982, 8. Neumann, Gerhard: Romankunst als Gespräch, Freiburg im Breisgau 2011. Neumann, Gerhard und Sigrid Weigel (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwi­ schen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000.

292 | 6 Literatur

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6.3 Weitere Literatur

| 293

Renn, Joachim: „Die Lesbarkeit der sozialen Welt. Hans Blumenberg und die hermeneutische Situation der Soziologie“, in: Hans Blumenberg: Pädagogische Lektüren, hg. v. Frank Ra­ gutt und Tim Zumhof, Wiesbaden 2016, 147–163. Reuß, Roland: „Lesen, was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Kafka-Ausgabe“, in: Franz Kafka, Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Ty­ poskripte. Einleitung, hg. v. Roland Reuß, Basel/Frankfurt am Main 1995, 9–21. Roesler, Alexander: „Code/Codierung“, in: Grundbegriffe der Medientheorie, hg. v. Alexander Roesler und Bernd Stiegler, Paderborn 2005, 45–51. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005. Rothacker, Erich: Das „Buch der Natur“. Materialien und Grundsätzliches zur Metaphernge­ schichte, aus dem Nachlass, hg. v. Wilhelm Perpeet. Bonn 1979. Rothacker, Erich: „Das Problem einer Geschichte der deutschen Philosophie“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 16 (1938), 161–183. Sagarra, Eda: „Der Stechlin“, in: Fontane-Handbuch, hg. v. Christian Grawe und Helmuth Nürn­ berger, Tübingen 2000, 662–678. Sanders, Hans (Hg.): Lebenswelten. Imaginationsräume der europäischen Literatur, Berlin/ Boston 2013. Schaper, Benjamin: Poetik und Politik der Lesbarkeit in der deutschen Literatur, Heidelberg 2017. Schlegel, Friedrich: „Athenäums-Fragmente [1798]“, in: ders., Kritische Schriften und Fragmen­ te [1798–1801], Band 2, hg. v. Ernst Behler und Hans Eichner, Paderborn u. a 1988. Schlegel, Friedrich: „Über Goethes Meister [1798]“, in: ders., Kritische Schriften und Fragmente [1798–1801], Band 2, hg. v. Ernst Behler und Hans Eichner, Paderborn u. a 1988. Schlegel, Friedrich: „Brief an Friedrich Immanuel Niethammer, 26. August 1797“, in: ders., Wer­ ke. Kritische Ausgabe [KFSA], Band 24, hg. v. Raymond Immerwahr, München u. a 1986. Schmitz, Alexander und Bernd Stiegler: „Editorische Notiz“, in: Hans Blumenberg, Geistes­ geschichte der Technik, aus dem Nachlass, hg. v. Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Frankfurt am Main 2009, 139–149. Schnell, Alexander: Hinaus. Entwürfe zu einer phänomenologischen Metaphysik und Anthropo­ logie, Würzburg 2011. Schnell, Alexander: Was ist Phänomenologie?, Frankfurt am Main 2019. Schrödinger, Erwin: Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, München/Berlin 2017. Schrödinger, Erwin: What is Life? The Physical Aspect of the Living Cell, Cambridge 1944. Schumacher, Eckhard: Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man, Frankfurt am Main 2000. Schwindt, Jürgen Paul: „Das athematische Lesen“, in: Lektüren. Positionen zeitgenössischer Philologie, hg. v. Luisa Banki und Michael Scheffel, Trier 2017, 29–44. Seeba, Hinrich C.: „Ernst Robert Curtius: Zur Kulturkritik eines Klassikers in der Wissenschafts­ geschichte“, in: Monatshefte 95,4 (2003), 531–540. Siegert, Bernhard: „Eupalinos, or The Master Shipwright: The Threshold between Land and Sea as a Design Tool“, in: Configurations 18 (2011), 421–439. Sommer, Manfred: „Lebenswelt“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 160–170. Sommer, Manfred: „Wirklichkeit“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 363–378.

294 | 6 Literatur

Söntgen, Beate: „Interieur. Vom Wohnen in Bildern“, in: Literatur als Philosophie – Philoso­ phie als Literatur, hg. v. Eva Horn, Bettine Menke und Christoph Menke, München 2005, 139–152. Stockhammer, Robert: Leseerzählungen. Alternativen zum hermeneutischen Verfahren, Stutt­ gart 1991. Stoellger, Philipp: „Genese als Grenze der Lesbarkeit. Über die Grenzen der Lesbarkeitsme­ tapher“, in: Genese und Grenzen der Lesbarkeit, hg. v. Philipp Stoellger, Würzburg 2007, 225–249. Stoellger, Philipp: Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebens­ welthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, Tübingen 2000. Stoellger, Philipp: „Von Cassirer zu Blumenberg. Zur Fortschreibung der Philosophie symbo­ lischer Formen als Kulturphänomenologie geschichtlicher Lebenswelten“, in: „Die Ge­ gensätze schließen einander nicht aus, sondern verweisen aufeinander“. Ernst Cassirers Symboltheorie und die Frage nach Pluralismus und Differenz, hg. v. Wolfgang Vögele, Reh­ burg-Loccum 1999, 108–149. Stowasser, Joseph M., Michael Petschenig und Franz Skutsch: Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch, München 2006. Stöwer, Ralph: Erich Rothacker. Sein Leben und seine Wissenschaft vom Menschen, Göttingen 2012. Teschke, Henning: Proust und Benjamin. Unwillkürliche Erinnerung und dialektisches Bild, Würzburg 2000. Tholen, Georg Christoph: „Die Différance und das Politische. Eine Spurenlese zum Früh- und Spätwerk Jacques Derridas “, in: „Die Zukunft gehört den Phantomen“. Kunst und Politik nach Derrida, hg. v. Artur R. Boelderl und Monika Leisch-Kiesl, Bielefeld 2018, 361–404. Tholen, Georg Christoph: „Die Zäsur der Medien“, in: Medientheorie und die digitalen Medien, hg. v. Winfried Nöth und Karin Wenz, Kassel 1998, 61–87. Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt am Main 2002. Tholen, Georg Christoph: „Mit und nach McLuhan. Bemerkungen zur Theorie der Medien jen­ seits des anthropologischen und instrumentellen Diskurses“, in: McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, hg. v. Derrick de Kerckhove, Martina Leeker und Kerstin Schmidt, Bielefeld 2008, 127–139. Tholen, Georg Christoph: „Platzverweis. Unmögliche Zwischenspiele von Mensch und Maschi­ ne“, in: Computer als Medium, hg. v. Norbert Bolz, Friedrich A. Kittler und Georg Christoph Tholen, München 1994, 111–135. Tholen, Georg Christoph: Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität, München 1999. Tränkle, Sebastian: „Die Vernunft und ihre Umwege. Zur Rettung der Rhetorik bei Hans Blumen­ berg und Theodor W. Adorno“, in: Permanentes Provisorium. Hans Blumenbergs Umwege, hg. v. Michael Heidgen, Matthias Koch und Christian Köhler, Paderborn 2015, 123–144. Trüstedt, Katrin: „Schiffbruch mit Zuschauer: Schmitt, Blumenberg und das Theater der Moder­ ne“, in: Shakespeare-Jahrbuch 146 (2010), 97–112. Tschižewskij, Dimitrij: „Das Buch als Symbol des Kosmos“, in: Aus zwei Welten. Beiträge zur Geschichte der slavisch-westlichen literarischen Beziehungen, hg. v. Dimitrij Tschižewskij, ’s-Gravenhage 1956, 85–114. Tschižewskij, Dimitrij: „Umkehrung der dichterischen Metaphern, Topoi und anderer Stilmit­ tel“, in: Die Welt der Slaven 6 (1961), 337–354.

6.3 Weitere Literatur

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Valéry, Paul: Eupalinos oder über die Architektur, übers. v. Rainer Maria Rilke, Leipzig 1927. Valéry, Paul: Eupalinos ou l’Architecte, L’Ame et la Danse, Dialogue de l’Arbre, Paris 1944. Vanderjagt, Arjo und Klaas van Berkel (Hg.): The Book of Nature in Antiquity and the Middle Ages, Leuven u. a. 2005. Viglialoro, Luca: „Aus der Distanz. Paradigmen einer Schreibanthropologie bei Blumenberg und Nancy“, in: Blumenbergs Schreibweisen. Methodische und kulturanalytische Per­ spektiven im Ausgang von Hans Blumenberg, hg. v. Wolfgang Müller-Funk und Matthias Schmidt, Würzburg 2019, 125–144. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002. Waldenfels, Bernhard: Antwortregister, Frankfurt am Main 2007. Waldenfels, Bernhard: Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt am Main 1980. Waldenfels, Bernhard: In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt am Main 1985. Waldenfels, Bernhard: Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Berlin 2015. Waszynski, Alexander: „Berührbarkeit. Krisen der Distanznahme bei Hans Blumenberg und Jacob Burckhardt“, in: Komparatistik-online 1 (2019), 56–78. Waszynski, Alexander: „Das Dilemma des Anfangs als Problem der Lektüre in Hans Blumen­ bergs Höhlenausgänge“, in: Anfang. Literatur- und kulturwissenschaftliche Implikationen des Anfangs, hg. v. Alina Kuzborska und Aneta Jachimowicz, Würzburg 2018, 95–109. Waszynski, Alexander: „Lebenswelt-Lektüre. Hans Blumenbergs ‚Glossen zu Fontane‘“, in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 50,1 (2019), 13–36. Waszynski, Alexander und Nicole C. Karafyllis: „Re-Collecting Microbes with Hans Blumen­ berg’s Concept of ‘Reoccupation’ (Umbesetzung): from Isolating/Cultivating towards Digi­ tizing/Synthesizing“, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 11,1 (2020), 96–116. Weber, Elisabeth: „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit“, in: Mnema: Derrida zum An­ denken, hg. v. Hans-Joachim Lenger und Georg Christoph Tholen, Bielefeld 2007, 93–100. Weber, Samuel: „Virtualität der Medien“, in: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, hg. v. Sigrid Schade und Georg Christoph Tholen, München 1999, 35–49. Weimar, Klaus: „Das Wort lesen, seine Bedeutung und sein Gebrauch als Metapher“, in: Genese und Grenzen der Lesbarkeit, hg. v. Philipp Stoellger, Würzburg 2007, 21–34. Wetters, Kirk und Florian Fuchs: „Skepsis“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 276–290. Wetz, Franz Josef: Hans Blumenberg zur Einführung, Hamburg 2004. von Wilpert, Gero: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 2001. Zambon, Nicola: Das Nachleuchten der Sterne. Konstellationen der Moderne bei Hans Blumen­ berg, Paderborn 2017. Zambon, Nicola: „Nachwort des Herausgebers“, in: Hans Blumenberg, Phänomenologische Schriften 1981–1988, aus dem Nachlass, hg. v. Nicola Zambon, Berlin 2018, 509–516. Zill, Rüdiger: „Anekdote“, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. v. Robert Buch und Daniel Weidner, Berlin 2014, 26–42. Zill, Rüdiger: „Auch eine Kritik der reinen Rationalität. Hans Blumenbergs Anti-Methodologie“, in: Permanentes Provisorium. Hans Blumenbergs Umwege, hg. v. Michael Heidgen, Mat­ thias Koch und Christian Köhler, Paderborn 2015, 53–74. Zill, Rüdiger: Der absolute Leser. Hans Blumenberg – Eine intellektuelle Biographie, Berlin 2020. Zill, Rüdiger: „Nackte Wahrheiten – Zur Metaphorologie der Theorie der Unbegrifflichkeit bei Hans Blumenberg“, in: Blumenbergs Schreibweisen. Methodische und kulturanalytische Perspektiven im Ausgang von Hans Blumenberg, hg. v. Wolfgang Müller-Funk und Matthi­ as Schmidt, Würzburg 2019, 15–34.

7 Namenregister Adams, David 7 Adorno, Theodor W. 8, 37, 271 Agamben, Giorgio 115 Alsberg, Paul 46 Amman, Hermann 140, 141 Apelt, Otto 196 Archipenko, Alexander 31 Arendt, Hannah 118 Aristoteles 53, 68, 72, 96, 110, 123, 127, 213, 214, 216, 219 Armstrong, Arthur H. 219 Assing, Rosa Ludmilla 104 Assmann, Aleida 188 Attridge, Derek 43, 190–192, 221, 222 Augustinus 60, 68, 71, 72, 97–99, 115, 146, 166, 259 Austin, John L. 41 Avery, Oswald 258–261 Bacon, Francis 174 Bacon, Francis (Maler) 30 Bajohr, Hannes 46, 118, 139, 140 Balke, Friedrich 122 Banki, Luisa 5 Barthes, Roland 188 Baur, Ferdinand Friedrich 79 Beck, Hanno 101 Beelmann, Axel 4 Behler, Ernst 108, 109 Benjamin, Walter 20, 112, 135, 151, 184, 194, 197, 271 Bergson, Henri 28 Berkel, Klaas van 99, 104 Biemel, Walter 131 Biese, Alfred 97 Blake, Liza 104 Blanchot, Maurice 241 Boden, Petra 13 Boelderl, Artur R. 210 Bohn, Volker 210 Böhnigk, Volker 104 Bonaventura 71, 96–98, 146, 168 Bonnard, Pierre 30 Boothe, Brigitte 230 https://doi.org/10.1515/9783110692426-007

Borck, Cornelius 262 Borsche, Tilman 24 Brandt, Christina 274, 275 Braun, Herbert 135 Brient, Elizabeth 146, 207, 278 Bröcker, Walter 145 Buch, Robert 1, 3, 5, 11, 31, 106, 196, 222, 227, 271 Bülow, Ulrich von 3, 89, 95, 113, 125 Campe, Rüdiger 4, 5, 50, 112, 144, 168, 197, 225 Canetti, Elias 271 Cantimpré, Thomas von 103 Cassirer, Ernst 34, 40, 118, 119, 269 Celan, Paul 122 Chargaff, Erwin 255, 256, 259–261 Cohen, Barbara L. 186 Cohen, Margaret 123, 278 Crick, Francis 260 Curtius, Ernst Robert 78, 102–104, 106, 107, 109, 126, 209, 256 Czarnecka, Mirosława 234 Dahlke, Benjamin 52, 72 Dante Alighieri 109 Deleuze, Gilles 30 Demokrit 96 Derrida, Jacques 7, 8, 11, 23, 43, 63, 82, 83, 120, 122, 143, 144, 149, 151, 152, 185–192, 210–213, 220, 239, 246, 268–270, 277 Descartes, René 59, 124, 174, 250 Detering, Heinrich 243 Dilthey, Wilhelm 110 Drux, Rudolf 78 Dunne, Éamonn 187, 189, 191, 192 Duns Scotus, Johannes 71 Düttmann, Alexander García 23 Ebert, Christa 234 Echte, Bernhard 92 Eco, Umberto 240 Eichner, Hans 108, 109

7 Namenregister | 297

Empson, William 18, 88 Engelmann, Peter 63 Erdmann, Benno 134 Ettlinger, Max 170, 243, 245 Feger, Sonja 225 Fellmann, Ferdinand 13 Fichte, Johann Gottlieb 83 Ficino, Marsilio 214, 219 Fischer, Matthias 2, 21, 110, 245 Flasch, Kurt 37, 52, 53, 60, 64, 73, 99, 105, 106, 128, 247 Flaubert, Gustave 25 Fleming, Paul 222, 223, 225, 234, 245, 246 Fohrmann, Jürgen 193 Fontane, Theodor 5, 10, 222–225, 227–240, 242–246, 303 Fontenelle, Bernard le Bovier de 209 Forster, Georg 101 Franko, Iwan 125 Freud, Sigmund 4, 39, 43, 194, 226, 263 Friedrich, Lars 85, 86, 116, 162 Fuchs, Florian 5 Gabriel, Gottfried 8 Gabryjelska, Krystyna 234 Gadamer, Hans-Georg 110, 122 Gaderer, Rupert 122 Galilei, Galileo 97, 110 Gander, Hans-Helmuth 28 Gasché, Rodolphe 88, 187 Gehlen, Arnold 35, 46, 47, 105 Geimer, Peter 265 Geulen, Eva 34, 85, 86, 116, 161, 162 Gfrereis, Heike 95 Gilson, Étienne Henri 72 Glaser, Thomas 76 Goethe, Johann Wolfgang von 5, 86, 101, 102, 108, 109, 115, 116, 125, 126, 152–165, 208, 209, 240, 272, 273, 278 Goldmann, Luzia 8, 36 Goldstein, Jürgen 117 Golz, Anita 243 Gondek, Hans-Dieter 120, 192 Gracián, Baltasar 205 Graczyk, Annette 155 Grosseteste, Robert 71

Gründer, Karlfried 54 Guthke, Karl S. 242 Hainz, Martin A. 8 Hamacher, Werner 122, 127, 147, 195, 241, 262 Harder, Richard 99, 212–214, 216, 219 Haverkamp, Anselm 1, 4, 7, 8, 19, 33, 35, 36, 50, 54, 63, 78, 80–82, 87, 88, 113, 114, 134, 144, 150, 174, 183, 207, 209, 214, 217–220, 271 Heidegger, Martin 5–7, 28, 52–66, 68–71, 97, 101, 105, 106, 110, 111, 129, 137, 142, 145, 150, 197, 250, 252, 274, 277 Heidenreich, Felix 106 Heidgen, Michael 20, 37, 45 Heine, Heinrich 155, 269 Helmstetter, Rudolf 224, 235, 272 Hentschel, Rüdiger 239 Herder, Johann Gottfried 101 Herring, Herbert 177 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von 142 Herzog, Reinhart 7 Hobbes, Thomas 45, 46 Hoffmann, Anette 146 Holz, Hans Heinz 168 Honold, Alexander 120, 122 Hopkins, Gerard Manley 187 Horn, Eva 198, 202 Hubig, Christoph 96 Humboldt, Alexander von 101, 102, 104, 126, 155 Husserl, Edmund 2, 21, 28, 52, 82, 97, 112, 127–133, 137, 145, 150, 179, 180, 182, 197, 225, 226, 239, 246, 247, 250, 252–255, 258, 271–274, 277 Immerwahr, Raymond 1 Ingold, Felix Philipp 203 Iser, Wolfgang 38, 42, 138, 188, 190 Jachimowicz, Aneta 303 Jäsche, Gottlob Benjamin 90 Jaspers, Karl 110 Jauß, Hans Robert 13, 54, 201, 235, 268 Jean Paul 259 Johnson, Barbara 188, 193

298 | 7 Namenregister

Jonas, Hans 256, 261–263, 269 Jung, Carl Gustav 43 Jürgasch, Thomas 225 Kafka, Franz 121, 194 Kamuf, Peggy 186 Kant, Immanuel 16, 17, 44, 49, 57, 78–80, 83, 84, 86, 87, 89–91, 96, 97, 102, 104, 109, 115, 127, 133–137, 139–141, 155, 179–181, 183, 184, 208–210, 217, 220 Karafyllis, Nicole C. 256, 267, 273 Kay, Lily E. 255 Keiling, Tobias 225 Keitel, Walter 231 Kempski, Jürgen von 110–112, 123 Kerckhove, Derrick de 36 Khurana, Thomas 133 Kierkegaard, Søren 23, 130, 259 Kisch, Egon Erwin 240 Kittler, Friedrich 55, 121 Klein, Andreas 4 Klein, Rebekka A. 35, 118 Klemme, Heiner F. 80 Knop, Andreas 239 Koch, Matthias 20, 37, 45 Köhler, Christian 20, 37, 45 Kołakowski, Leszek 206 Konersmann, Ralf 1, 11, 246, 253 Konrad von Megenberg 103, 104 Konstantakopoulos, Theodoros 143 Kopernikus, Nikolaus 27, 89, 100, 166, 210 Kopperschmidt, Josef 33, 107 Kopp-Oberstebrink, Herbert 3, 39, 40, 49, 50 Koselleck, Reinhart 7 Krajewski, Bruce 7 Kraus, Karl 259 Krauthausen, Karin 6, 12–14, 21, 22, 24, 26 Krueger, Joachim 243 Krusche, Dorit 3, 89, 95, 113, 125 Kuhn, Thomas S. 114 Kujundžić, Dragan 186 Kurzke, Hermann 242, 244 Kuzborska, Alina 303 Laarmann, Matthias 52, 72 Lacan, Jacques 193 Landfester, Ulrike 174

Landgrebe, Ludwig 60 Langer, Ernst Theodor 159 Laplace, Pierre-Simon de 257, 258 Leeker, Martina 36 Leibniz, Gottfried Wilhelm 5, 9, 96, 115, 117, 119, 148, 150, 160, 166–172, 174–177, 240, 257, 273 Leisch-Kiesl, Monika 210 Lempicki, Sigmund von 102, 108, 109 Lenger, Hans-Joachim 187 Lessing, Hans-Ulrich 274 Lichtenberg, Georg Christoph 101, 114, 115 Liggieri, Kevin 274 Linné, Carl von 154 Löck, Alexander 230 Löhneysen, Wolfgang von 276 Longo, Giuseppe 257 Lüdemann, Susanne 270 Mahler, Andreas 201 Mahnke, Dietrich 208–210, 212–214, 216, 217, 219 Maj, Barnaba 271 Makropoulos, Michael 20 Mallarmé, Stéphane 151 Man, Paul de 83–85, 88, 122, 187, 195, 206, 207 Mann, Thomas 242–245 Marquard, Odo 4, 116 Martyn, David 193, 208 Matuschek, Stefan 230, 231 Maye, Harun 122 Mende, Dirk 4, 7, 8, 19, 54, 82, 83, 87, 144, 207, 259 Menke, Bettine 19, 91, 95, 194, 195, 198, 202, 234, 235 Menke, Christoph 46, 198, 202 Mersch, Dieter 122, 232 Meyer, Thomas 1, 3, 90, 93, 112, 113, 116, 117, 175, 269 Miescher, Friedrich 255, 256, 260, 261 Miller, J. Hillis 185–187, 189–192, 203 Möbuß, Susanne 215 Möller, Melanie 7 Montaigne, Michel de 98 Moore, Henry 31 Morlang, Werner 92

7 Namenregister |

Moxter, Michael 11, 117 Müller, Harro 193 Müller, Kathrin 12 Müller, Oliver 8, 10, 11, 34, 35, 37, 38, 40, 47, 247 Müller-Funk, Wolfgang 125, 149 Müller-Schöll, Nikolaus 189 Müller-Sievers, Helmut 221 Münker, Stefan 232 Nancy, Jean-Luc 146–149, 165 Napoleon Bonaparte 101, 160, 161 Nauta, Lodi 99 Neubaur, Caroline 90 Neumann, Gerhard 123, 194, 227, 231, 232, 234 Nicholls, Angus 116, 162–164 Niehues-Pröbsting, Heinrich 197 Nientied, Mariele 54, 207, 220 Nietzsche, Friedrich 50, 86, 111, 207, 241 Nikolaus von Kues 97, 98, 103, 207, 210, 214, 218, 220 Nobis, Heribert A. 98, 99 Nöth, Winfried 274 Nürnberger, Helmuth 233, 236, 243 Oldershaw, Myles 122 Oschmann, Dirk 230 Owen, John 126 Pabst, Georg Wilhelm 104 Paracelsus 104 Parker, Patricia 82 Parr, Rolf 120, 122 Perpeet, Wilhelm 106 Petersdorf, Bodo von 228 Pethes, Nicolas 91 Picasso, Pablo 31 Picht, Barbara 25 Picht, Robert 25 Planck, Max 256, 268 Plath, Nils 8, 98, 268, 270 Platon 13, 14, 72, 90, 96, 103, 133, 196–198, 201, 205, 206, 209, 213, 219, 228 Plotin 5, 10, 207–210, 212–221 Pniower, Otto 242–246 Poe, Edgar Allan 193

299

Polke, Christian 118 Pope, Alexander 160 Posselt, Gerald 77 Prendergast, Christopher 123 Proust, Marcel 5, 9, 39, 196–199, 203–206 Quémar, Claudine 203 Quintilian 7, 74–82, 84–86, 123, 138 Ragutt, Frank 11 Ranke, Leopold von 251 Rauschenberg, Robert 30 Recki, Birgit 34, 35, 38, 40, 42, 118, 262, 277 Reimarus, Hermann Samuel 179, 183, 184 Reinach, Adolf 249 Renn, Joachim 11, 184, 254 Reuß, Roland 121 Richter, Karl 152 Rilke, Rainer Maria 12, 18 Ritter, Joachim 54, 99 Roesler, Alexander 232, 257 Rosa, Hartmut 104, 183, 260 Rothacker, Erich 102, 104–107, 109, 131, 208, 209 Roudinesco, Élisabeth 120, 269, 270 Ruchatz, Jens 91 Sabundus, Raimundus 97, 98, 103 Sagarra, Eda 243 Schaper, Benjamin 123, 124, 235 Scheffel, Michael 5 Schiller, Friedrich 101 Schlaffer, Hannelore 154–156 Schlegel, Friedrich 1, 83, 84, 108, 109, 156, 208, 276 Schleiermacher, Friedrich 110 Schmidt, Kerstin 36 Schmidt, Matthias 8, 10, 125, 149 Schmitt, Carl 105, 240, 241 Schnell, Alexander 6, 94, 249, 250 Schopenhauer, Arthur 276 Schrödinger, Erwin 115, 255–263 Schuhmann, Karl 131 Schuller, Marianne 189 Schumacher, Eckhard 152 Schütz, Anton 115 Schwindt, Jürgen Paul 5

300 | 7 Namenregister

Seeba, Hinrich C. 102, 107, 109 Shakespeare, William 109 Shannon, Claude 257 Siegert, Bernhard 13 Sinn, Christian 174 Snell, Bruno 96 Sohns, Hanna 168 Sommer, Manfred 31, 90, 93, 94, 201, 225, 227, 247 Söntgen, Beate 202 Sprengel, Peter 153 Stegmaier, Werner 24 Stein, Charlotte von 154, 155 Stiegler, Bernd 257 Stockhammer, Robert 197 Stoellger, Philipp 7, 40, 90, 92, 113, 123 Stöwer, Ralph 105 Strittmatter, Ellen 95 Sußmann, Martin 243 Tertullian 38, 39 Teschke, Henning 197 Tholen, Georg Christoph 36, 37, 48, 49, 54, 55, 88, 123, 127, 143, 144, 149, 165, 166, 187, 210–212, 273, 274 Timm, Hermann 1, 4, 34, 197 Timmermann, Jens 16 Todorow, Almut 174 Tränkle, Sebastian 37 Trüstedt, Katrin 278 Tschižewskij, Dimitrij 95, 102, 108, 109, 125, 126 Twombly, Cy 30 Ueding, Gert 78 Unseld, Siegfried 125

Valéry, Paul 5, 6, 12–26, 28–32, 34, 52, 240, 273 Vanderjagt, Arjo 99, 104 Vögele, Wolfgang 40 Vogl, Joseph 30, 165, 175–178 Waldenfels, Bernhard 2, 47, 92, 122, 190, 191, 193, 254, 277 Walser, Robert 92 Warminski, Andrzej 83 Warning, Rainer 54 Watson, Robert 260 Weber, Elisabeth 187 Weber, Samuel 184 Weidner, Daniel 1, 3, 5, 11, 31, 106, 196, 222, 227 Weigel, Sigrid 123 Weimar, Klaus 123 Weischedel, Wilhelm 181 Wells, Benedict 124 Wenz, Karin 274 Werner, Abraham Gottlob 122, 127, 156, 195 Wetters, Kirk 5, 85, 86, 116, 161, 162 Wetz, Franz Josef 1, 4, 34, 116, 118, 197 Wilpert, Gero von 224 Wittgenstein, Ludwig 179, 183, 246 Wolf, Gerhard 12 Worringer, Wilhelm 102 Zambon, Nicola 180, 247, 253, 271 Zelter, Carl Friedrich 158 Zill, Rüdiger 5, 13, 35, 45, 117, 125, 222–224, 237–239 Zittel, Claus 121 Zumhof, Tim 11

8 Drucknachweise Abschnitt 4.3: „Das Dilemma des Anfangs als Problem der Lektüre in Hans Blumenbergs Höh­ lenausgänge“, in: Anfang. Literatur- und kulturwissenschaftliche Implikationen des An­ fangs, hg. v. Alina Kuzborska und Aneta Jachimowicz, Würzburg 2018, 95–109, mit freund­ licher Genehmigung des Verlags Königshausen & Neumann. Abschnitt 4.5: „Lebenswelt-Lektüre. Hans Blumenbergs ‚Glossen zu Fontane‘“, in: Sprach­ kunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 50,1 (2019), 13–36 [ergänzt und überarbeitet], mit freundlicher Genehmigung des Verlags der Österreichischen Akademie der Wissen­ schaften.

https://doi.org/10.1515/9783110692426-008