Handbuch Sprache im Urteil der Öffentlichkeit 9783110296150, 9783110295771

Language is not only a subject of reflection for linguists. Language, language change, and language usage are often addr

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German Pages 478 [480] Year 2019

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Inhaltsverzeichnis
Sprache im Urteil der Öffentlichkeit und das Urteil der Öffentlichkeit aus der Sicht der Sprachwissenschaft: Einleitung in das Handbuch
I. Sprache – Urteil – Öffentlichkeit: Lokalisierung und Problematisierung des Gegenstandsbereichs
1. ‚Sprache‘ – ‚Metasprache‘ – ‚Metapragmatik‘: Sprache und sprachliches Handeln als Gegenstand sozialer Reflexion
2. Prescriptive acts: A performative theory of language standardization
3. ,Öffentlichkeit‘ – ‚Laien‘ – ‚Experten‘: Strukturwandel von ‚Laien‘ und ‚Experten‘ in Diskursen über ‚Sprache‘
II. Theoretische und methodische Zugänge
4. Sprachreflexion und Kognition: Theorien und Methoden der Spracheinstellungsforschung
5. Sprachreflexion und Diskurs: Theorien und Methoden der Sprachideologieforschung
6. Folk Linguistics and the Perception of Language Variety
7. Bewerten und Beschreiben in Sprachwissenschaft und Öffentlichkeit: Forschungsfelder und sprachtheoretische Grundlagen einer linguistischen Sprachkritik
III. Sprache im Urteil der Öffentlichkeit – Historische Perspektiven
8. Sprache und Nation: Sprachreflexion und Sprachbewertung im Kontext gesellschaftspolitischer Identitätsbildung
9. Sprache und Aufklärung. Sprachreflexion und Sprachbewertung als Mittel zum Zweck gesellschaftlicher Demokratisierung
10. Sprachrichtigkeit und Sprachlogik: Von der ‚reinen‘ Sprache zum ‚klaren‘ Gedanken
11. Einheitlichkeit und Vereinheitlichung – Verstehen und Verständigung: Eine metasprachliche Diskursfigur – am Beispiel des Deutschen
IV. Sprache im Urteil der Öffentlichkeit – Themen gegenwärtiger Sprachreflexion
12. ‚Anglisierung‘ und ‚Globalisierung‘: Aktuelle Diskurse zu Entlehnungen und moderner Sprachpurismus
13. Schrift und Schreiben in der gegenwärtigen Sprachreflexion
14. Wie sagt man hier? Bewertungen von Dialekt, Regionalsprache und Standard im Spannungsfeld regionaler Identität und sozialer Distinktion
15. Ethnolekt im Diskurs: Geschichte und Verfahren der Registrierung ethnisch geprägter Sprechweisen in Deutschland
16. Sprache und Diskriminierung: Soziale Ungleichheit als Gegenstand emanzipatorischer Sprachpolitik
17. Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch: Sprachrichtigkeit und Normen als metasprachliches Thema
18. Sprache und Moral: Vom guten Sprechen als gutem Handeln
19. Neue Kommunikationsformen, neue Probleme? Zum Verhältnis von Sprachkompetenz und Mediengebrauch
Sachverzeichnis
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Handbuch Sprache im Urteil der Öffentlichkeit
 9783110296150, 9783110295771

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Handbuch Sprache im Urteil der Öffentlichkeit HSW 10

Handbücher Sprachwissen

Herausgegeben von Ekkehard Felder und Andreas Gardt

Band 10

Handbuch Sprache im Urteil der Öffentlichkeit

Herausgegeben von Gerd Antos, Thomas Niehr und Jürgen Spitzmüller

ISBN 978-3-11-029577-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-029615-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039389-7 Library of Congress Control Number: 2019933228 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ©2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Typesetting: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Printing and binding: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Gerd Antos, Thomas Niehr, Jürgen Spitzmüller Sprache im Urteil der Öffentlichkeit und das Urteil der Öffentlichkeit aus der Sicht der Sprachwissenschaft: Einleitung in das Handbuch 1

I. Sprache – Urteil – Öffentlichkeit: Lokalisierung und Problematisierung des Gegenstandsbereichs Jürgen Spitzmüller 1. ‚Sprache‘ – ‚Metasprache‘ – ‚Metapragmatik‘: Sprache und sprachliches Handeln als Gegenstand sozialer Reflexion 11 Spiros A. Moschonas 2. Prescriptive acts: A performative theory of language standardization

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Bettina M. Bock, Gerd Antos 3. ,Öffentlichkeit‘ – ‚Laien‘ – ‚Experten‘: Strukturwandel von ‚Laien‘ und ‚Experten‘ in Diskursen über ‚Sprache‘ 54

II. Theoretische und methodische Zugänge Barbara Soukup 4. Sprachreflexion und Kognition: Theorien und Methoden der Spracheinstellungsforschung 83 Brigitta Busch 5. Sprachreflexion und Diskurs: Theorien und Methoden der Sprachideologieforschung 107 Dennis R. Preston 6. Folk Linguistics and the Perception of Language Variety

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Thomas Niehr 7. Bewerten und Beschreiben in Sprachwissenschaft und Öffentlichkeit: Forschungsfelder und sprachtheoretische Grundlagen einer linguistischen Sprachkritik 165

VI

Inhaltsverzeichnis

III. Sprache im Urteil der Öffentlichkeit – Historische Perspektiven Hans-Joachim Solms 8. Sprache und Nation: Sprachreflexion und Sprachbewertung im Kontext gesellschaftspolitischer Identitätsbildung 191 Jürgen Schiewe 9. Sprache und Aufklärung. Sprachreflexion und Sprachbewertung als Mittel zum Zweck gesellschaftlicher Demokratisierung 218 Philipp Dreesen 10. Sprachrichtigkeit und Sprachlogik: Von der ‚reinen‘ Sprache zum ‚klaren‘ Gedanken 243 Kersten Sven Roth 11. Einheitlichkeit und Vereinheitlichung – Verstehen und Verständigung: Eine metasprachliche Diskursfigur – am Beispiel des Deutschen 268

IV. Sprache im Urteil der Öffentlichkeit – Themen gegenwärtiger Sprachreflexion Falco Pfalzgraf 12. ‚Anglisierung‘ und ‚Globalisierung‘: Aktuelle Diskurse zu Entlehnungen und moderner Sprachpurismus 291 Christa Dürscheid Sarah Brommer 13. Schrift und Schreiben in der gegenwärtigen Sprachreflexion

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Birte Arendt 14. Wie sagt man hier? Bewertungen von Dialekt, Regionalsprache und Standard im Spannungsfeld regionaler Identität und sozialer Distinktion 333 Jannis Androutsopoulos 15. Ethnolekt im Diskurs: Geschichte und Verfahren der Registrierung ethnisch geprägter Sprechweisen in Deutschland 353 Jana Tereick 16. Sprache und Diskriminierung: Soziale Ungleichheit als Gegenstand emanzipatorischer Sprachpolitik 383

Inhaltsverzeichnis

Paul Rössler 17. Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch: Sprachrichtigkeit und Normen als metasprachliches Thema 400 Nina Janich 18. Sprache und Moral: Vom guten Sprechen als gutem Handeln Jana Kiesendahl 19. Neue Kommunikationsformen, neue Probleme? Zum Verhältnis von Sprachkompetenz und Mediengebrauch 447

Sachverzeichnis

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Gerd Antos, Thomas Niehr und Jürgen Spitzmüller

Sprache im Urteil der Öffentlichkeit und das Urteil der Öffentlichkeit aus der Sicht der Sprachwissenschaft: Einleitung in das Handbuch 1 Sprachbezogene Urteile im Fokus der Sprachwissenschaft Urteile über ‚richtigen‘, ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Sprachgebrauch gehören zum ganz selbstverständlich erscheinenden Wissen über Sprache (vgl. bspw. Welte/Rosemann 1990; Lehr 2002). Doch worauf beruhen diese Urteile über Sprache und Sprachgebrauch sowie unsere Urteile über solche Urteile? Auf einem nicht näher zu begründenden ‚Sprachgefühl‘, auf der Problematisierung und/oder Befolgung von sprachlich(-stilistischen) Normen oder auf so etwas wie ‚Sprachkompetenz‘? Antworten darauf kommen nicht an der Frage vorbei: Welche gesellschaftlichen Gruppen oder Instanzen einer Sprachgemeinschaft (z. B. Kodizes wie der Duden, Institutionen wie die Schule, Berufsfelder wie Politik, Wissenschaft, Journalismus) beanspruchen überhaupt so etwas wie die ‚Deutungshoheit‘ oder ‚Autorität‘ über einen bestimmten Sprachgebrauch bis hin zu daran geknüpften Bewertungen und Sanktionierungen? Klar scheint nur: Das Thema ‚Deutungshoheit‘ über Sprache ist innerhalb und zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen nicht nur Gegenstand konkurrierender, sondern oft auch kontroverser ideologisch motivierter Debatten, die Blommaert (1999: 9) treffend als ‚Kämpfe um Diskurshoheit‘ und um ‚legitime Definitionen gesellschaftlicher Wirklichkeiten‘ zwischen Werte verhandelnden Gruppen („ideology brokers“) charakterisiert. Wenn gar Sanktionierungen von Sprachverwendungsweisen ins Spiel kommen oder mehr noch kontroverse Urteile über Deutungsansprüche, dann zeigt sich: Sprache im Urteil der Öffentlichkeit (oder im Urteil selbsternannter Repräsentanten) wird schnell zu einem mitunter heiß diskutierten Politikum. Das zeigen unter anderem folgende Fragen und die daran geknüpften Auseinandersetzungen. Wo ist Dialektgebrauch angemessen, wo nicht (z. B. in der Schule)? Wer hat oder beansprucht überhaupt das Recht und die Kompetenz, die Rechtschreibung in der deutschen Schriftsprache zu normieren? Entsprechend: Wo ist ‚geschlechtergerechte‘ oder ‚politisch korrekte‘ Sprache notwendig, angemessen oder problematisch? Warum beharren bestimmte Gruppen auf die so genannte ‚Leichte Sprache‘, und mit welchem Recht? Wie soll man eigentlich mit dem (angeblichen) ‚SMS-‘, ‚WhatsApp-‘ bzw. ‚Twitter-Deutsch‘ umgehen oder gar mit dem, was abwertend als ‚Türkendeutsch‘ oder ‚Genderwahnsinn‘ diskreditiert wird?  



https://doi.org/10.1515/9783110296150-001

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Gerd Antos, Thomas Niehr, Jürgen Spitzmüller

In diesem Zusammenhang: Darf/soll/muss man Anglizismen verwenden oder soll man Umerziehungsfeldzüge gegen sie organisieren? Gehört nicht ‚Deutsch‘ schon längst ins Grundgesetz? Drohen dann den Ärzten, Anwälten, den sog. ‚Hipstern‘ oder den Sonder- und Fachsprachenfreaks in Deutschland Unterlassungsdrohungen? Müsste gar der Bayerische Rundfunk seine Einstellungspolitik ändern, da dort Nachrichten-Sprecherinnen und -Sprecher nur mit einem heraushörbaren ‚süddeutschen Akzent‘ akzeptiert werden? Und mit Blick auf den großen deutschsprachigen Raum und seine Spezifika: Warum schreiben die Schweizer kein ? Warum bestehen die Österreicher (sogar in der EU) auf Austriazismen wie Schlagobers, Marillen oder Ribiseln? Warum glauben die Deutschen weithin, dass solche Formen ‚kein (richtiges) Hochdeutsch‘, sondern allenfalls ‚österreichischer Dialekt‘ seien, und dass ‚reines Hochdeutsch‘ ohnehin nur in Hannover und in der Tagessschau gesprochen würde (vgl. Elmentaler 2012; Maitz 2014)? Solche und weitere Fragen der Sprachkritik und der Sprach(en)politik bewegen viele Menschen. Insbesondere Urteile über eine vermeintlich ‚falsche‘ Orthographie bzw. einen ‚richtigen‘ Sprachgebrauch ermuntern viele Sprachfreunde, zum vermeintlichen Schutz ‚der deutschen Sprache‘ bestimmte Register, Stile oder Sprachgebräuche positiv, vor allem aber negativ zu sanktionieren. Und mit ihnen sanktionieren sie immer auch die jeweilige Sprechergemeinschaft. Deshalb sind Urteile über Sprache und Sprachgebrauch immer auch Urteile über Sprecherinnen und Sprecher, meist in Form ganzer sozialer Gruppen, denen ein bestimmter Sprachgebrauch attestiert (oder unterstellt) wird. Mit solchen sprach- und sprecherbezogenenen Urteilen verbunden ist in der Regel der Anspruch, die eigene Deutungshoheit über Sprache gesamtgesellschaftlich durchzusetzen – bisweilen sogar mit (vermeintlichem) Bezug auf Erkenntnisse der Sprachwissenschaft, die somit als ‚wissenschaftliche Legitimation‘ oder gar als ‚Beweis‘ der eigenen Thesen autorisierend herangezogen werden. Medien und die sie weithin bestimmende ‚Öffentlichkeit‘ – ein schwieriger Begriff, der in diesem Handbuch auch diskutiert und problematisiert werden soll – irritiert immer wieder, wenn eine befragte Sprachwissenschaftlerin oder ein befragter Sprachwissenschaftler diese ‚der Linguistik‘ bisweilen zugewiesene SchiedsrichterRolle ablehnt. Dies geht oftmals einher mit Erregungswellen, wenn ‚die Linguistik‘ stattdessen ihre eigene, nämlich ‚wissenschaftlich begründete‘ Deutungshoheit über alltagsweltliche, und d. h. auch über ideologisch begründete Formen der Sprachreflexion ins Spiel oder zur Geltung zu bringen versucht. Vor diesem Hintergrund rückt der vorliegende Band die ‚wissenschaftlich begründbare‘ Beurteilung von Urteilen über Sprache ins Zentrum. Dabei geht es einerseits zwar sehr wohl um Sprache im Urteil einer Öffentlichkeit, die sich als Betroffene für alltagsweltliche Sprachbewertungen zuständig fühlt; darüber hinaus geht es aber auch, und sehr viel stärker darum, miteinander konkurrierende oder gar kontroverse Urteile innerhalb dieser Öffentlichkeit aus der Sicht der Sprachwissenschaft zu analysieren und einzuordnen.  

Sprache im Urteil der Öffentlichkeit

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Aus sprachwissenschaftlicher Sicht birgt dieses Thema eine doppelte Herausforderung: Erstens gilt es, die verschiedenen in ‚der Öffentlichkeit‘ vorfindbaren Deutungsansprüche differenziert zu beschreiben und unvoreingenommen zu beurteilen, was für sich genommen schon kein triviales Unterfangen ist. Zweitens, und das Ganze noch verkomplizierend, kommt hinzu, dass Sprache im Urteil ‚der Öffentlichkeit‘ – wie ein Blick in das Inhaltsverzeichnis dieses Buches zeigt – ein ausgesprochen facettenreicher, weil komplexer Gegenstand ist, der in bestimmten Denk- und Werte-Traditionen verankert ist und der ohne übergreifende kulturelle Bezüge und Bezugnahmen gar nicht zu verstehen ist. Daher forschen ganz verschiedene sprachwissenschaftliche Disziplinen zu diesem Thema: die Sprachhistoriographie, die linguistische Sprachkritik, die soziolinguistische Sprachideologieforschung, die kognitionslinguistische Einstellungsforschung oder die (Wahrnehmungs-)dialektologie – um nur einige zu nennen. Sie alle zusammen tragen dazu bei, die Rolle von Sprache als soziale Ressource im Alltag verstehen zu lernen. Im Mittelpunkt steht dabei die Art und Weise, wie wir als soziale Akteure unsere Sprache und unseren Sprachgebrauch wahrnehmen und beurteilen – also Formen der Sprachreflexion.

2 Ziele des Handbuchs Die in diesem Handbuch versammelten Beiträge bieten einen Überblick und Einstieg in das breite Forschungsfeld der Sprachreflexion. Sie behandeln (teilweise erstmals) Fragestellungen, Positionen, Ansätze und Erkenntnisse aus unterschiedlichen Perspektiven und machen damit deutlich, dass Sprache im Urteil der Öffentlichkeit bzw. alltagsweltliche Sprachreflexion aus der Sicht der Sprachwissenschaft aufgrund ihrer Komplexität ein weithin eigenständiger Forschungsgegenstand ist. Leider auch einer, dem nicht so leicht beizukommen ist, wie sich das manche mit Blick auf eingängige Stereotype von alltagsweltlichen Sprachurteilen womöglich wünschen. Neben einem Überblick über (alte und neue) Gegenstände und Kontroversen alltagsweltlicher Sprachreflexion bietet das Handbuch auch einen Überblick über linguistische Zugänge zu solcher Sprachreflexion. Als Leserinnen und Leser sollen Sie also nicht nur erfahren, wie Sprache historisch und gegenwärtig alltagsweltlich beurteilt wurde und wird, sondern auch, wie die heutige Linguistik mit divergierenden Deutungsansprüchen über Sprache umgeht und welche unterschiedlichen Theorien, Methoden und Konzepte sie heranzieht, um ‚wissenschaftlich begründete‘ Aussagen über Urteile zu Sprache und Sprachgebrauch in der Öffentlichkeit zu machen. Drittens – neben Gegenständen und Zugängen – will das Handbuch zur Reflexion über Sprache in einem grundsätzlichen Sinn anregen. Insbesondere gilt dies für die sehr vielschichtigen Begriffe, die der Titel aufgreift: ‚Sprache‘ im ‚Urteil‘ ‚der Öffentlichkeit‘. Denn was für ‚die Öffentlichkeit‘ bereits angedeutet wurde, gilt auch für ‚Sprache‘ und ‚Urteil‘: Was sich hinter diesen Ausdrücken genau verbirgt, ist alles andere als trivial (und vielfach selbst Gegenstand der infrage stehenden Debatten).

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Was mit ‚Sprache‘ gemeint ist, wenn über sie diskutiert wird, was es bedeutet, über Sprache zu ‚urteilen‘ – auch dies muss und wird somit Gegenstand der Diskussion sein, die dieses Handbuch anregt. Entsprechend ist das Handbuch in vier Teile gegliedert: Im ersten Teil werden grundsätzliche Begriffe und Konzepte – wie etwa ‚Sprache‘, ‚Urteil‘, ‚Öffentlichkeit‘, – diskutiert und problematisiert. Im zweiten Teil werden verschiedene sprachwissenschaftliche Zugänge zur Sprachreflexion vorgestellt. Im dritten und vierten Teil schließlich werden historische (Teil 3) und aktuelle (Teil 4) Themenfelder, Gegenstände und Kontroversen alltagsweltlicher Sprachreflexion vorgestellt, diskutiert und sprachwissenschaftlich kommentiert.

3 Die Beiträge des Handbuchs im Überblick Den konzeptionellen ersten Teil eröffnet ein Beitrag von Jürgen Spitzmüller, der diskutiert, wie ‚Sprache‘ und sprachliches Handeln zu einem Gegenstand sozialer Reflexion werden können. Hierfür werden zwei zentrale Konzepte aus der Sprachphilosophie und Sprachanthropologie, Metasprache und Metapragmatik, eingeführt, mit denen sich beschreiben lässt, wie mit Sprache über Sprache gesprochen werden kann. Spitzmüller zeigt dabei, dass ‚Sprache‘ im Urteil der Öffentlichkeit immer auch ein Produkt reflexiven Sprechens ist und dass diese reflexive Produktion für soziales Handeln wichtig ist. Im zweiten Kapitel diskutiert Spiros A. Moschonas die Frage, was es heißt, Sprache zu beurteilen. Am Beispiel der Standardisierung des Neugriechischen zeichnet er detailliert nach, dass Normierung und Präskription Hand in Hand gehen, und dass sie bestimmte Formen des (meta)sprachlichen Handelns erfordern, die man linguistisch (und nach Moschonas’ Vorschlag: sprechakttheoretisch) erfassen und klassifizieren kann. Hierfür wird ein handlungstheoretisches Modell, das auch korpuslinguistisch operationalisierbar ist, vorgestellt. Im letzten Kapitel des ersten Teils wenden sich Bettina Bock und Gerd Antos schließlich der Frage zu, was ‚Öffentlichkeit‘ ist und wie sie von ‚der Sprachwissenschaft‘ (den sog. ‚Experten‘) abgegrenzt werden könnte. Die Autorin und der Autor zeigen, dass ‚Öffentlichkeit‘, ‚Laien‘ und ‚Experten‘ medial produziert und inszeniert sind und dass die Grenzen keineswegs leicht zu ziehen sind. Und gerade in sprachreflexiven Debatten werden solche Positionen und Grenzziehungen ja häufig infrage gestellt. Am Beispiel der so genannten ‚Leichten Sprache‘ zeigen Bock und Antos, wie dies mit Bezug auf Selbstermächtigungsansprüche auch in sehr grundsätzlicher Art und Weise geschehen kann. Den zweiten Teil, der sprachwissenschaftliche Zugänge zu Sprachreflexion beschreibt, eröffnet Barbara Soukup mit einem Kapitel zu Theorien und Methoden der Spracheinstellungsforschung, das einen sozialpsychologischen Zugang zu Sprachreflexion anbietet. Ihr Beitrag erläutert die Entstehung und Hintergründe dieser Disziplin,

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die die erste war, die sich systematisch mit Sprachbewertung beschäftigt hat. Neben den klassischen experimentellen Methoden der Disziplin stellt die Autorin auch neuere interaktiv-soziokonstruktionistische Zugänge vor, die Anschlüsse an die Soziolinguistik erlauben. Der Beitrag von Brigitta Busch widmet sich der Sprachideologieforschung, die ihre Wurzeln im Wesentlichen in der Sprachanthropologie und Soziolinguistik hat und die sich im Gegensatz zur Spracheinstellungsforschung weniger für individuelle Verhaltensbereitschaften als für sozial verfestigte, diskursiv geäußerte Werte und Meinungen interessiert. Wie Busch zeigt, kann man innerhalb der Sprachideologieforschung drei Richtungen identifizieren und verbinden: das anthropologische Interesse an der Reflexivität von Sprache und der Indexikalität von Zeichen, ein diskursanalytisches Interesse an Machteffekten von Sprachideologien und ein sprachbiographisches Interesse am individuellem Erleben von Sprachideologien. Das Wissen von Laien über Sprache ist Gegenstand der vor allem in den USA verbreiteten Folk Linguistics, der sich Dennis Preston in seinem Beitrag widmet. Zunächst stellt der Autor die verschiedenen Methoden dieser Disziplin vor. Danach demonstriert er im Rahmen der Subdisziplin der Perceptual Dialectology, wie Laien ihr Wissen (bzw. ihre Annahmen) über die regionale Verortung von spezifischen Sprachgebrauchsformen zum Ausdruck bringen (können). Die Folk Linguistics kombiniert hierbei zum Teil experimentelle Ansätze aus der Spracheinstellungsforschung mit diskursbezogenen Ansätzen aus der Sprachideologieforschung. Im letzten Kapitel des zweiten Teils führt Thomas Niehr in Forschungsfelder und sprachtheoretische Grundlagen einer linguistischen Sprachkritik ein. Diese vor allem in der Germanistischen Linguistik entstandene Disziplin hat sich zum Ziel gesetzt, in Reaktion auf kursierende laienlinguistische Konzeptionen eine sich als deskriptiv verstehende und theoriegeleitete Sprachkritik der Linguistik zu entwickeln. Der Artikel zeichnet die Entwicklung der Disziplin nach, erläutert ihre Prinzipien und führt insbesondere das aus der Rhetorik stammende leitende Prinzip der funktionalen Angemessenheit ein. Den dritten Teil, der historische Entwicklungen fokussiert, eröffnet Hans-Joachim Solms mit einem Beitrag zum Zusammenhang von Sprache und Nationenbildung. Der Artikel zeichnet nach, wie sich in Europa seit dem Mittelalter eine Verbindung von Sprachgebrauch und kollektiver Zurechnung entwickelt, der in eine als fest empfundene Verbindung von Sprache und Nation in der Neuzeit mündet. Der Autor exemplifiziert dies am Beispiel der Nationalgeschichte Luxemburgs mit ihren komplexen sprachpolitischen Entwicklungen. Jürgen Schiewe lenkt den Blick in seinem Beitrag auf das aufklärerische Potential von Sprache in Hinblick auf die Schaffung demokratischer Verhältnisse. Ausgehend von der Philosophie von Leibniz, über das ‚volksaufklärerische‘ demokratische Verdeutschungsprogramm Joachim Heinrich Campes und das Konzept von ‚Öffentlichkeit‘ (als Garant für Demokratie) im Sinne Carl Gustav Jochmann schlägt der Autor hierbei einen Bogen über das 19. Jahrhundert hinaus zu Kurt Tucholsky, Victor Klem-

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perer und Dolf Sternberger sowie zu aktuellen Beispielen für gegenwärtige aufklärerisch-demokratisch motivierte Sprachreflexion/-kritik wie das ‚Unwort des Jahres‘ oder die ‚Leichte Sprache‘. Der Beitrag von Philipp Dreesen umreißt die Entstehung von öffentlichen Sprachurteilen vom Ende des Dreißigjährigen Krieges an bis zu ihrer Etablierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dabei werden insbesondere die Veränderungen von einem schriftlich tradierten Ideal einer ‚reinen Sprache‘ und der ‚klaren Sprache‘ nachgezeichnet – von den Sprachgesellschaften des Barock über die Aufklärung bis zum (Sprach-)Nationalismus in Deutschland. Der Autor zeigt in diesem Zusammenhang, dass die kommunikative und damit gesellschaftliche Funktion der Sprache zunehmend in den Mittelpunkt des öffentlichen wie linguistischen Interesses rückt. Den dritten Teil beschließt ein Beitrag von Kersten Sven Roth, in dessen Mittelpunkt Verstehen und Verständigung stehen. Wie der Autor argumentiert, ist eine unterstellte ‚Einheitlichkeit‘ von Sprache die Voraussetzung für intersubjektives Verstehen. Die Vereinheitlichung einer Sprache wird somit als zentrales Handlungsziel für die Gewährleistung kollektiver Verständigung innerhalb der jeweiligen Sprachgemeinschaft angesehen. Der Beitrag diskutiert diese Annahmen kritisch aus sprachund kommunikationstheoretischer sowie aus sprach- und ideologiegeschichtlicher Sicht. Sprachhistorisch exemplifiziert wird das Thema zum einen am Beispiel des Diskurses um eine deutsche Nationalsprache (17.–20. Jh.) sowie zum anderen mit Blick auf die vermeintliche Entstehung zweier deutscher Sprachen in den Zeiten der staatlichen deutschen Teilung 1945/47–1990. Den vierten und letzten Teil zu aktuellen Themen alltagsweltlicher Sprachreflexion eröffnet Falco Pfalzgraf mit einem Beitrag zu einer der wohl lautesten medialen Debatten zu Sprache: der Diskussion um die angebliche ‚Anglisierung‘ im Zuge einer wahrgenommenen ‚Globalisierung‘. Pfalzgraf zeichnet die Geschichte dieses Diskurses nach und zeigt Spezifika des neuen Purismus, der sich in Deutschland insbesondere nach der Wiedervereinigung in den 1990er-Jahren entwickelt hat. Dass auch Schrift und Schreiben heftig diskutierte Themen der gegenwärtigen Sprachreflexion sind, hat die Debatte um die Rechtschreibreform von 1996 deutlich gezeigt. In ihrem Beitrag zeigen Christa Dürscheid und Sarah Brommer über die Rechtschreibreform hinaus auf, wie insbesondere im Zuge der Entwicklung digital basierter Kommunikationsformen neue Fragen und Ängste die Öffentlichkeit beschäftigen, etwa die Sorge um eine angeblich verminderte Rechtschreibkompetenz von Jugendlichen und Unsicherheiten angesichts sich neu entwickelnder kommunikativer Stile. Die Autorinnen diskutieren in ihrem Beitrag auch kritisch die Frage, was eine gute Rechtschreibung und gute Texte überhaupt ausmachen. Die Diskussion um und Bewertung von Dialekten und Dialektgebrauch wird im Beitrag von Birte Arendt in den Blick genommen. Die Autorin zeigt spezifisch mit Blick auf die niederdeutsche Sprachlandschaft unterschiedliche Formen der Dialektbewertung in Relation zu Standardsprachideologien und zeigt dabei auch, welche Rolle bei der Dialektbewertung Gruppenbildungs- und Positionierungsprozesse, aber auch

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stereotype Gebrauchsbedingungen und puristische Normvorstellungen (Dialektideologien) spielen. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist ‚Kanak Sprak‘ eine populäre Bezeichnung für Ethnolekte in Deutschland. Die so (und anders) bezeichneten auffälligen Sprachstile von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund erzeugen in der Öffentlichkeit eine besondere Aufmerksamkeit, mitunter eine sprachliche Moralpanik oder dezidierte Ablehnung. Der Beitrag von Jannis Androutsopoulos nimmt die Debatten um diese sprachlichen Formen in den Blick und zeigt, was dort allzu leicht untergeht: Ethnolekte entstehen erst in metasprachlich verwickelten Diskursen, die Androutsopoulos differenziert nachzeichnet. Der Autor zeigt ferner, wie Ethnolekte linguistisch erhoben, angemessen beschrieben und mit Blick nicht nur auf die mediale Berichterstattung (samt ihrer Tendenz zur Verunsicherung der Öffentlichkeit) bewertet werden können. Wenn Sprachkritik zur politischen Handlung wird, dann – so die zentrale These des Beitrags von Jana Tereick – wird Sprachkritik konsequenterweise zu Sprachpolitik. Der Beitrag begründet und plädiert für eine politisch motivierte Sprachregulation, bei der die so genannte Privileg-Theorie mit der Critical-Whiteness- und der Intersektionalitätsforschung kombiniert werden, verbunden mit Vorschlägen zur Erhöhung von antidiskriminierender Sprachsensibilität aus der linguistischen Diskursanalyse. Betont wird, dass es sich bei dieser Form der Sprachpolitik einerseits um Selbstverpflichtungen der ‚Political Correctness‘ handelt, die aber andererseits in Teilen bereits gesetzlich verankert wurden. Eine Diskussion von Gegenargumenten zu diesem emanzipatorischen Ansatz und zu theoretischen Dilemmata einer solchen Sprachpolitik beschließen den Artikel. Sprachrichtigkeit und Sprachnormen sind ein zentrales Thema der Laienlinguistik. Die damit verbundenen Richtigkeitsvorstellungen der Öffentlichkeit und ihr Bedürfnis nach sprachlicher Homogenität stehen weithin im Widerspruch zu Sprachnormkonzepten der Linguistik mit ihrem ‚Normativitätsdilemma‘, demzufolge Normen nicht ohne Weiteres aus Fakten abgeleitet werden können. Der Artikel von Paul Rössler widmet sich sowohl der laienlinguistischen als auch der linguistischen Bewertung von richtigem bzw. gutem Sprachgebrauch anhand von Sprachkritik, Sprachratgebern und Formen der Sprachberatung. Ferner diskutiert er die Rolle von sprachlichen Zweifelsfällen samt ihren Klassifizierungsmöglichkeiten. Der Artikel von Nina Janich problematisiert die Rolle der Moral in der öffentlichen Sprachbewertung und in der sprachwissenschaftlich begründeten Sprachkritik. Dabei schlägt die Autorin einerseits vor, Sprachkompetenz zusammen mit einer moralisch begründeten Bereitschaft zur Kooperation als ‚Sprachkultiviertheit‘ eines Sprechers aufzufassen, die allerdings in enger Wechselwirkung mit der Sprachkultur einer Sprachgemeinschaft steht. Andererseits wird dafür plädiert, Moral und Moralität überhaupt als Bewertungsdimensionen in eine sprachwissenschaftlich fundierte Sprachkritik zu integrieren und entsprechende Bewertungskriterien sprachhandlungstheoretisch zu begründen.

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Den Band beschließt ein Beitrag zu den so genannten ‚neuen‘ Kommunikationsformen: SMS-, Internet- und WhatsApp-Kommunikation. Diese sind seit den 1990erJahren nicht nur zu einem breiten Forschungsgegenstand der angewandten Linguistik, sondern auch zu einem Gegenstand alltagsweltlicher Sprachreflexion geworden. Jana Kiesendahl analysiert ausgewählte medial diskutierte Phänomene dieses Sprachgebrauchs. Die Autorin plädiert dafür, kommunikative Zweckgerichtetheit bzw. funktionale Angemessenheit zum Bewertungsmaßstab für das Verhältnis von Sprachkompetenz und Mediengebrauch zu machen. Die Herausgeber sind sich darüber im Klaren, dass auch mit diesem Handbuch das Verhältnis von Sprache und Öffentlichkeit nicht annähernd vollständig beschrieben, geschweige denn endgültig geklärt ist. Dazu – das zeigen die hier versammelten Beiträge – ist die öffentliche Sprachreflexion ein zu breites, komplexes und historisch weit zurückreichendes Thema. Und auch die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema weist zahlreiche Perspektiven und Traditionslinien auf, die von unterschiedlichen Interessen geprägt sind. Trotzdem hoffen wir, dass das Handbuch dazu beiträgt, die beiden komplex strukturierten Felder – nämlich Sprache im Urteil der Öffentlichkeit als auch das Urteil der Öffentlichkeit aus Sicht der Sprachwissenschaft – zugänglicher zu machen. Wenn unser Handbuch dazu beitragen kann, sowohl die alltagsweltliche Sprachreflexion selbst als auch verschiedene sprachwissenschaftliche Perspektiven darauf ein wenig besser zu verstehen, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dass es darüber hinaus zu weiterer Reflexion und Diskussion anregt, ist das, was sich die Herausgeber davon erhoffen. Neben den Beiträgerinnen und Beiträgern zu diesem Band sowie den Reihenherausgebern und dem Verlag, denen allen wir für ihre engagierte Mitarbeit wie auch für ihre Geduld danken, gilt unserer besonderer Dank Dana Gläßer, die für uns stets ansprechbar war und sich akribisch um die redaktionelle Einrichtung der Beiträge gekümmert hat.

4 Literatur Blommaert, Jan (1999): The debate is open. In: Ders. (Hg.): Language Ideological Debates. Berlin/New York, 1–38. Elmentaler, Michael (2012): In Hannover wird das beste Hochdeutsch gesprochen. In: Liselotte Anderwald (Hg.): Sprachmythen – Fiktion oder Wirklichkeit? Frankfurt a. M. u. a, 101–115. Lehr, Andrea (2002): Sprachliches Wissen in der Lebenswelt des Alltags. Tübingen. Maitz, Péter (2014): Kann – soll – darf die Linguistik der Öffentlichkeit geben, was die Öffentlichkeit will? In: Thomas Niehr (Hg.): Sprachwissenschaft und Sprachkritik. Perspektiven ihrer Vermittlung. Bremen, 9–26. Welte, Werner/Philipp Rosemann (1990): Alltagssprachliche Metakommunikation im Englischen und Deutschen. Frankfurt a. M. u. a.  







I. Sprache – Urteil – Öffentlichkeit: Lokalisierung und Problematisierung des Gegenstandsbereichs

Jürgen Spitzmüller

1. ‚Sprache‘ – ‚Metasprache‘ – ‚Metapragmatik‘: Sprache und sprachliches Handeln als Gegenstand sozialer Reflexion Abstract: Dieser Artikel diskutiert die gesellschaftliche Reflexion von Sprache und sprachlichem Handeln vor dem Hintergrund des Phänomens der ‚sprachlichen Reflexivität‘, der Möglichkeit, mit Sprache auf Sprache Bezug zu nehmen. Er stellt Termini und Konzepte zur Beschreibung sprachlicher Reflexivität vor und ordnet sie erkenntnisgeschichtlich ein. In diesem Zusammenhang wird auch die Bedeutung sprachlicher Reflexivität für Sprache und sprachliches Handeln diskutiert. Es wird argumentiert, dass Sprache ohne Reflexivität nicht denkbar ist, weshalb diese einen zentralen Gegenstand der Sprachwissenschaft darstellt. Auf dieser Basis werden Praktiken sozialer Reflexion von Sprache und sprachlichem Handeln – die metasprachlichen/metapragmatischen ‚Urteile der Öffentlichkeit‘ – als Praktiken sozialer Positionierung charakterisiert. Es wird gezeigt, dass sprachliche Urteile mehr sind als ‚Sprechen über Sprache‘ und dass ihre Beschreibung komplexe soziopragmatische Zusammenhänge berücksichtigen muss. Der Artikel stellt Mittel aus der Soziolinguistik und Linguistischen Anthropologie dafür vor.  

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Einleitung Objekt- und Metasprache Metapragmatik Sprache und sprachliche Handlungsmodelle als Resultate metapragmatischer Reflexion Sprachreflexion, Sprachideologie und soziale Positionierung Fazit Literatur

1 Einleitung Sprache und sprachliches Handeln sind deswegen so wesentliche Konstituenten sozialer Positionierung, weil sie nicht nur Mittel, sondern auch Gegenstand sozialer Reflexion sein können. Denn nur weil Sprache und sprachliches Handeln sozialer Reflexion und mithin sozialer Bewertung unterliegen, kann Sprache als Identitätsfaktor oder als Schibboleth begriffen und sprachliches Handeln als Ausdruck sozialer Standpunkte verwendet bzw. verstanden werden. Im Gegensatz zu anderen Gegenständen sozialer Reflexion bleiben Sprache und sprachliches Handeln dabei aber zumeist gleichzeitig Reflexionsmittel: Wenn Sprache reflektiert wird, geschieht dies in https://doi.org/10.1515/9783110296150-002

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Jürgen Spitzmüller

aller Regel mittels Sprache in Form sprachlicher Handlungen (als nonverbale Formen der Sprachreflexion gelten bspw. reaktive kommentierende Verhaltensformen wie das Hochziehen der Augenbrauen, Stirnrunzeln, Schweigen, Abwenden; vgl. dazu bereits Bateson [1955] 1972; Silverstein 1993: 50). Dass dies möglich ist, verdankt sich der Reflexivität von Sprache (vgl. Lucy 1993b; Taylor 2000), einer Fähigkeit, die nach weit verbreiteter Meinung Sprache von anderen Kommunikationsmitteln des Menschen (vgl. Silverstein 1976, 16f.; Coupland/Jaworski 2004a, 3; vgl. aber kritisch van Leeuwen 2004, 128) und menschliche Sprachhandlung von tierischer Kommunikation unterscheidet (vgl. Hocket 1963, 10, der „reflexiveness“ zu den „design-features“ menschlicher Sprache zählt: „Bees dance about sites, but they cannot dance about dancing“). Sprachliche Reflexivität stellt die Sprachtheorie aber auch vor Herausforderungen. Sie ist ein komplexes Phänomen, das sich keineswegs in ‚Sprechen über Sprache‘ erschöpft. Reflexive Bezüge auf Sprache und Sprachgebrauch sind in vielfacher Form und unterschiedlichen Graden der Explizitheit möglich. Auch dies macht Sprache und sprachliches Handeln zu so mächtigen Mitteln sozialer Positionierung. Der vorliegende Artikel beleuchtet das Phänomen sprachlicher Reflexivität zunächst grundsätzlich und stellt verschiedene Konzepte und Termini vor, die zur Beschreibung und Handhabung des Phänomens vorgeschlagen wurden. Anschließend diskutiert er, welche Rolle reflexive sprachliche Bezüge spielen, wenn Sprache in das ‚Urteil der Öffentlichkeit‘ gelangt und mithin zum Faktor der Vergemeinschaftung wird.

2 Objekt- und Metasprache Dass man mit Sprache über Sprache sprechen kann, wurde zuerst in der Philosophie beschrieben, und zwar als Problem. Problematisch ist sprachliche Reflexivität aus philosophischer Sicht deshalb, weil bei nicht hinreichender Trennung reflexiven und nichtreflexiven Sprechens logische Pseudo-Paradoxa (semantische Antinomien) entstehen können, etwa das berühmte Kreter-Paradoxon („Epimenides the Cretan said that all Cretans were liars“, so die Formulierung von Russell 1908, 222; vgl. zum Umgang mit semantischen Antinomien Hundt 2005, zum Lügner-Paradoxon ausführlicher Brendel 1992). Die Sprachphilosophie hat sich daher bemüht, Sprache als Reflexionsmittel von Sprache als Reflexionsobjekt kategorisch zu trennen. Das Ergebnis dieser Bemühung ist die Differenzierung von Objektsprache und Metasprache in der Sprachstufentheorie des frühen 20. Jahrhunderts, Seiffert ([1969] 2003, 90) zufolge „eine philosophische Großtat ersten Ranges“, verbunden mit dem von Tarski ([1933] 1936) formulierten Verbot, in einer Sprachstufe Aussagen über diese Sprachstufe zu tätigen (bzw. der Maxime, dass über eine Sprachstufe nur Aussagen in der Metasprache nächsthöherer Stufe gemacht werden können). Die Diskussion über sprachliche Reflexivität ist freilich älter als die Sprachstufentheorie. Der erste vollständig überlieferte sprachtheoretische Text, der sich mit dem

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Phänomen auseinandersetzt, dass sprachliche Zeichen (‚Wörter‘ oder ‚Namen‘) nicht nur auf außersprachliche Gegenstände und Sachverhalte verweisen können, sondern auch reflexiv auf Zeichen, ist Augustins Dialog De magistro (Augustinus [389/90] 1998, v. a. 5,12–16; vgl. dazu Hennigfeld 1994, 136 f.; vgl. zu noch früheren, allerdings nur fragmentarisch überlieferten Texten Welte/Rosemann 1990, 12 f.). Im fiktiven Dialog mit seinem Sohn Adeodat erarbeitet Augustinus dort eine „Hierarchie der Reflexivität der Zeichen“ (Mojsisch 1998, 148) und diskutiert die Perspektivität semiotischer Referenzen, indem er etwa darauf hinweist, dass es durchaus kein logischer Widerspruch sei, wenn er sage, Mensch sei ein Nomen, sein Sohn sei ein Mensch, und dennoch sei sein Sohn kein Nomen, denn die zwei Aussagen werden aus zwei verschiedenen Perspektiven getroffen: einmal aus der Perspektive des Zeichens, einmal aus der Perspektive der ‚Sache‘ („Quam ob rem, cum homo et nomen et animal esse inveniatur, illud dicitur ex ea parte, qua signum est, hoc ex parte rei, quae significatur“; Augustinus [389/90] 1998, 8,24). Auch wenn Augustinus im Ergebnis des Dialogs der Sprache wenig Erkenntnisfunktion zuspricht, sind diese Überlegungen sprachtheoretisch revolutionär, und sie bleiben in der westlichen Philosophie lange Zeit einzigartig. Erst wieder acht Jahrhunderte später werden in der scholastischen Suppositionslehre ähnlich detaillierte Überlegungen zur sprachlichen Reflexivität angestellt. Eine detaillierte Ausarbeitung dieser bereits in der Frühscholastik im 13. Jahrhundert (vgl. Weinrich 1976, 92) entwickelten Theorie referenzieller Perspektivität (vgl. zu diesem Konzept Köller 2004) enthält beispielsweise Wilhelm von Ockhams Summa Logicae (vgl. Ockham [1324] 1999). Dort findet sich ebenfalls die grundlegende Unterscheidung zwischen reflexivem und nichtreflexivem Zeichengebrauch (vgl. dazu bündig Hennigfeld 1994, 261–272; Schneider 2001, 200–202). Ockham differenziert in diesem Zusammenhang einerseits nomina primae impositionis (Wörter erster Einsetzungsstufe = Wörter, die Dinge bezeichnen) bzw. intentiones primae und nomina secundae impositionis (Wörter zweiter Einsetzungsstufe = Wörter, die Wörter bezeichnen) bzw. intentiones secundae (vgl. Ockham [1324] 1999, 98) sowie andererseits die suppositio personalis (Verweis auf konkrete Exemplare), suppositio simplex (Verweis auf ein Konzept) und suppositio materialis (reflexiver Verweis auf das Zeichen) (vgl. Ockham [1324] 1999, 28f.). Auch das Verbot selbstbezüglicher Referenzen innerhalb einer Referenzstufe findet sich bei Ockham bereits (vgl. dazu Brendel 1992, 28–32). Die Sprachstufentheorie, aus der die Terminologie Metasprache/Objektsprache stammt, schließt in vielerlei Hinsicht an die Suppositionslehre an. Die theoretische Basis für die Sprachstufentheorie bildet die Typentheorie von Russell (1908), welcher auch selbst schon Überlegungen zu verschiedenen sprachlichen Stufen anstellt (etwa in seiner Einführung zu Wittgensteins Tractatus, vgl. Russell 1922, XXIII). Die bis heute übliche Terminologie allerdings wird erst in den 1930er-Jahren von Carnap und Tarski ausgearbeitet. Carnap (1934, 4) unterscheidet zwischen Objekt- und Syntaxsprache, den Ausdruck Metasprache prägt Tarski ([1933] 1936), der dieser noch nicht die Objektsprache, sondern einfach Sprache gegenüberstellt. Das zur Hälfte von Carnap, zur Hälfte von Tarski geprägte Begriffspaar setzt sich in den folgenden Jahren  





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durch (vgl. etwa auch Carnap 1954). Wichtig ist hierbei, dass das Begriffspaar durch ein relatives Beziehungsverhältnis geprägt ist: Objektssprache ist jede Sprache, über die Aussagen gemacht werden. Metasprache ist jede Sprache, mit der Aussagen über Sprache gemacht werden. Somit kann jede Sprache zur Objektsprache und/oder als Metasprache verwendet werden (und da jede Metasprache ihrerseits Objektsprache werden kann, sind unendlich viele Metasprachen nächsthöherer Ordnung denkbar). Aus der Sprachphilosophie wurde das Begriffspaar in die Linguistik übernommen, allerdings änderte sich dort das Konzept grundlegend. Hjelmslev ([1943] 1969, 114–125) greift im Rahmen seiner Überlegungen zur Konnotativen Semiotik und Metasemiotik auf das aussagenlogische Konzept der Metasprache zurück. Ihn interessieren aber nicht so sehr propositionale Aspekte als vielmehr intersemiotische Relationen. Metasemiotik wird demzufolge definiert als eine Semiotik, deren Inhalt („content plane“) ein vollständiges Zeichen (seinerseits mit Ausdruck und Inhalt) oder ein komplettes Zeichensystem ist, während konnotative Semiotik eine Semiotik bezeichnet, deren Ausdruck („expression plane“) ein vollständiges Zeichen oder Zeichensystem ist. Nach dieser bis heute in der Linguistik weit verbreiteten Begriffsvariante wäre die linguistische Terminologie und Beschreibungssprache eine Metasprache (und die Linguistik nach Hjelmslev eine Metasemiotik), die von ihr jeweils beschriebene Sprache (im Kontext der Beschreibung) die Objektsprache. Eine Metastufe höher angesiedelt wäre die im vorliegenden Abschnitt vorgenommene Auseinandersetzung mit der Semiotik Hjelmslevs: Sie würde man mit Hjelmslev als Metametasemiotik bezeichnen, eine Aussage wie „Sie würde man mit Hjelmslev als Metametasemiotik bezeichnen“ als metametasprachlich. Einen anderen, vor allem für performanzorientierte Disziplinen der Linguistik bedeutenden Weg schlägt Roman Jakobson ([1956] 1985, 1960) ein. Mit Blick auf die Alltagssprache stellt er fest, dass metasprachliches Sprechen mehr ist als eine sprachlogisch wichtige Referenzstufe, nämlich eine frequente Form kommunikativen Handelns mit wesentlicher Funktion. Daher differenziert Jakobson auch nicht zwischen verschiedenen Sprachstufen, sondern zwischen verschiedenen sprachlichen Funktionen, zu denen neben der referentiellen, emotiven, konativen, phatischen und poetischen die metasprachliche gezählt wird: A distinction has been made in modern logic between two levels of language, “object language” speaking of objects and “metalanguage” speaking of language. But metalanguage is not only a necessary scientific tool utilized by logicians and linguists; it plays also an important role in our everyday language. Like Moliere’s Jourdain who used prose without knowing it, we practice metalanguage without realizing the metalingual character of our operations. Whenever the addresser and/or the addressee need to check up whether they use the same code, speech is focused on the CODE: it performs a METALINGUAL (i.e., glossing) function. (Jakobson 1960, 356)

Jakobson verlässt also bewusst den von der Sprachphilosophie eingeschlagenen Weg, bei dem Objekt- und Metasprache als zwei trennbare und zu trennende Phänomene – Reflexionsmittel und Reflexionsobjekt – angesehen werden, und versteht die meta-

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sprachliche Funktion als eine jedem Kommunikationsakt inhärente Dimension (vgl. dazu auch Verschueren 2004, 53–55). Aus Sicht einer performanzorientierten Linguistik ist diese Entscheidung aus verschiedenen Gründen sinnvoll. Erstens ist es fraglich, ob im Fall natürlicher Sprachen angesichts der Bedeutung und Frequenz reflexiver Äußerungen und der Verwobenheit metasprachlicher mit referentiellen (sowie emotiven, konativen, poetischen und phatischen) Aussagen Meta- und Objektsprache überhaupt essentiell getrennt werden können (vgl. Weinrich 1976, 105; Verschueren 2004; van Leeuwen 2004; Cameron 2004; Hundt 2005, 228f.). Jakobsons funktionales Modell versucht dies erst gar nicht und verdeutlicht im Gegenteil gerade die Verwobenheit metasprachlicher und referentieller Referenzen. Zweitens erhebt Jakobson, indem er die metasprachliche Funktion zu den grundlegenden Funktionen der Sprachkommunikation („basic functions of verbal communication“; Jakobson 1960, 356) zählt, Reflexivität zum Kerncharakteristikum von Sprache, wohingegen die Trennung von Objekt- und Metasprache, wie Schlieben-Lange (1975, 191) anmerkt, „die Reflexivität aus der Sprache […] [gerade] auszutreiben versucht“ (vgl. auch Berry 2005, 6–8), was die fundamentale Bedeutung von Reflexivität im kommunikativen Alltag verdeckt. Und drittens erlaubt die funktionale Definition einen sehr viel umfassenderen und sprachtheoretisch gewichtigeren Begriff von sprachlicher Reflexivität als die essentialistische Definition von Meta- und Objektsprache. Während diese nur referentielle Reflexivität – die explizite Thematisierung von Sprache (Objekt) in Form sprachlicher Äußerungen (Reflexionsmittel) – erfasst, erlaubt ein funktionaler Reflexivitätsbegriff, wie im Folgenden weiter ausgeführt wird, auch die Berücksichtigung anderer reflexiver Referenzen wie etwa indexikalischer Referenzen von Zeichen auf den Sprachgebrauch (Kontextualisierung). Daher verwundert es nicht, dass die performanzorientierten linguistischen Disziplinen in der Regel das von Jakobson initiierte funktionale Konzept von sprachlicher Reflexivität präferieren und dem essentialistischen Begriff Metasprache pragmatischere Termini vorziehen, etwa Jakobsons metasprachliche Funktion, metasprachliches Sprechen/Metatalk (vgl. Schiffrin 1980), den von Bateson ([1955] 1972, 178) in Ergänzung zu Metasprache („the subject of discourse is the language“) geprägten Terminus Metakommunikation („the subject of discourse is the relationship between the speakers“), den auf Harris (1959, 955f.) zurückgehenden Ausdruck Metadiskurs (vgl. Hyland 2005) oder den im nächsten Abschnitt behandelten Terminus Metapragmatik (vgl. als Überblick für die Pragmalinguistik Mey 2001, 173–205; für die Soziolinguistik Coupland/Jaworski 2004b; für die Gesprächslinguistik Techtmeier 2001; für die Angewandte Linguistik Berry 2005). Dass sich reflexive Referenzen nicht in ‚Aussagen über Sprache‘ erschöpfen, hat Jakobson selbst an anderer Stelle dargelegt. In seinem Aufsatz zu Shifters, Verbal Categories and the Russian Verb (Jakobson [1955] 1971) unterscheidet er (1.) Aussagen, die auf Aussagen referieren (M/M = Message-to-Message), bspw. Zitate und Paraphrasen, von (2.) Aussagen, die auf das Sprach- oder Schriftsystem (den Code) referieren (M/C = Message-to-Code), also etwa Aussagen wie Roman ist ein Name und Jakobson schreibt man mit ‚k‘. Er geht aber noch einen Schritt weiter und subsumiert

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unter reflexive Referenzen auch systembedingte Referenzen, nämlich (3.) Referenzen des Codes auf Aussagen (C/M), wie im Fall von Deiktika, die nur mit Bezug auf eine konkrete Aussage verstehbar sind (dies sind die titelgebenden Shifters, die Jakobson [1955] 1971, 132 als „indexical symbols“ charakterisiert), sowie (4.) Referenzen des Codes auf den Code (C/C); als Beispiel hierfür nennt Jakobson Eigennamen: „The general meaning of a proper name cannot be defined without a reference to the code. In the code of English, ‘Jerry’ means a person named Jerry. The circularity is obvious: the name means anyone to whom this name is assigned“ (Jakobson [1955] 1971, 131). Verschueren (2004, 54f.) entwickelt daraus sein Konzept einer impliziten (alle C/*-Referenzen) und expliziten (alle M/*-Referenzen) Metasprache. Ein so weitreichender Begriff von Metasprache und Metakommunikation findet allerdings nicht uneingeschränkt Zustimmung in der Linguistik. Während die Befürworter betonen, dass sich nur damit das Phänomen der sprachlichen Reflexivität in seiner Gänze erfassen lasse und der enge Metasprachbegriff nur von eingeschränktem Nutzen für eine pragmatisch orientierte Linguistik sei (vgl. etwa Verschueren 2004), halten Proponenten eines engeren Metasprachbegriffs, der nur explizite sprachliche Äußerungen über Sprache umfasst, dagegen, dass das Konzept durch eine Ausweitung verwischt werde, da es in den Fällen ‚impliziter‘ Reflexivität nicht eigentlich um ‚Sprechen über Sprache‘ gehe (vgl. für eine solche Position etwa Welte/Rosemann 1990 und Berry 2005). Nachvollziehbar sind die Argumente beider Seiten. In der Tat stellt das ‚Sprechen über Sprache‘ (was immer jeweils unter Sprache verstanden wird) nur einen Ausschnitt davon dar, wie Sprache und sprachliches Handeln in den Fokus kommunikativer Reflexion gelangen und somit gesellschaftlich relevant werden können. Somit reicht es für eine an Reflexivität und Reflexion interessierte Linguistik nicht, sich nur damit zu befassen. Angesichts der Begriffsgeschichte und der Heterogenität des Phänomens ist andererseits aber dennoch fraglich, ob man alle Formen sprachlicher Reflexivität und sogar emotive und deontische sprachideologische Konzepte (so der Vorschlag von Preston 2004) als Metasprache bezeichnen muss. Auch Jakobson ([1955] 1971) spricht übrigens im Zusammenhang mit den C/*- und M/*-Referenzen nicht von metasprachlichen Referenzen, und seine metasprachliche Funktion definiert er (wohlgemerkt nach dem Shifters-Aufsatz) explizit nur als M/CReferenz („speech is focused on the CODE“; Jakobson 1960, 356). Schon der terminologischen Präzision wegen ist es daher also ratsam, auf andere, übergreifende oder ergänzende Termini auszuweichen, wenn sprachliche Reflexivität und Reflexion von Sprache im umfassenden oder anderen Sinn diskutiert werden (vgl. auch Urban 2006, 89–90). Ein gleichzeitig übergreifender und ergänzender Terminus, der in der Linguistischen Anthropologie entwickelt wurde und sich inzwischen auch in der Soziound Pragmalinguistik verbreitet hat, ist Metapragmatik. Er wird im folgenden Abschnitt vorgestellt.

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3 Metapragmatik Geprägt wurde der Terminus Metapragmatik von dem Sprachanthropologen und Jakobson-Schüler Michael Silverstein. Silverstein setzt an Jakobsons Postulat an, dass Sprachgebrauch multifunktional in dem Sinne ist, dass damit mehrere Zwecke gleichzeitig erreicht bzw. verschiedene Referenzen gleichzeitig vollzogen werden können. Die Referenz auf und Prädikation von Gegenständen und Sachverhalten (Jakobsons referentielle Funktion) ist nur eine unter mehreren sprachlichen Vollzugsformen (vgl. Silverstein 1976, 14 f.). Sie ist in Silversteins Terminologie Gegenstand einer semantischen Betrachtung von Sprache (Semantik wird dabei im engeren Sinne verstanden als die Domäne der denotativen Referenzen und Prädikationen, d. h. kontextabstrakter Bedeutung; vgl. Silverstein 1976, 15 f.). Wenn nun diese referentielle Dimension reflexiv thematisiert wird, dann spricht Silverstein (1976, 16 f.) von Metasemantik. Als metasemantic speech events bezeichnet er referentielle Sprechereignisse, die die referentielle Dimension von Sprache bzw. eine referentielle (denotative) Referenz oder Prädikation als Referenzobjekt haben. Dies entspricht Jakobsons M/C-Referenz sowie auch der klassischen Meta-/Objektsprache-Relation (vgl. auch Urban 2006, 90). Aus der Sicht der Peirce’schen Zeichentrichotomie (vgl. Peirce [1903] 1983, 121–138), die Silverstein für die Ausarbeitung des Konzepts hinzuzieht, umfasst der Objektbereich der Metasemantik alle semiotischen Relationen, die symbolischen Charakter haben, also auf Konvention beruhen. Daher sind metasemantische Aussagen dekontextualisierend, sie machen Aussagen über Zeichentypes (kontextabstrakte Regularitäten und Konzepte) am Beispiel konkreter Tokens. Der semantischen Dimension gegenüber steht die pragmatische. Diese schließt in einem umfassenden Sinn, bei funktionaler Betrachtung von Sprache, die Semantik mit ein, da semantische Referenzen auch nur sprachliche Handlungen sind (vgl. Silverstein 1976, 20), meint in einem engeren Sinn aber kontrastierend zur Semantik alle Funktionen, die kontextgebunden sind bzw. auf den Kontext referieren, „regardless of whether such contexts are other occurrent signal forms (what is generally termed the CO-TEXT from the perspective of some occurrent signal form) or not specifically such“ (Silverstein 1993, 36). Mit Peirce sind dies indexikalische (auf räumlicher oder zeitlicher Kontiguität beruhende) semiotische Relationen. Sie setzen Kontext voraus und/oder prägen ihn:  







[…] the signal form as occurring either PRESUPPOSES (hence, indexes) something about its context-of-occurrence, or ENTAILS [“CREATES”] (and hence indexes) something about its context-of-occurrence, these co-present dimensions of indexicality being sometimes seen as essential properties of the signs themselves, “appropriateness-to-context-of-occurrence” and “effectiveness-in-context-of-occurrence.” (Silverstein 1993, 36)

Zu diesen pragmatisch-indexikalischen Zeichen zählt Silverstein nicht nur Jakobsons Shifters (die als „referential indexes“ eine symbolisch-indexikalische Mischform darstellen; Silverstein 1976, 23), sondern auch ‚rein‘ indexikalische Zeichen („pure“ bzw. „nonreferential indexicals“; Silverstein 1976, 29), „[t]he ‘meaning’ of [which] is purely

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pragmatic and does not intersect with semantico-referential meaning exemplified in symbols“ (Silverstein 1976, 30). Zu letzterer Kategorie rechnet Silverstein insbesondere alle Formen sozialer Bedeutung (wie sie z. B. in Höflichkeitsformen oder regionalen Varianten zum Ausdruck kommen), da diese indexikalisch auf die beteiligten Akteure und deren Rollen, Beziehungsverhältnis etc. und mithin (‚präsupponierend‘ und/oder ‚kreativ‘) direkt auf den Kontext referieren. So wie nun die referentielle Bedeutung in metasemantischen Referenzen thematisiert werden kann, kann die pragmatische Bedeutung (bspw. die Angemessenheit, Wirkung, soziale Bedeutung) einer kommunikativen Handlung ebenfalls thematisiert werden. Das ist im Grunde eine Erweiterung der Jakobson’schen M/M-Referenz, wenn ‚M‘ nicht nur die eigentliche Botschaft, sondern das Kommunikationsereignis als Ganzes (inklusive Äußerungskontext) meint. In Silversteins Terminologie handelt es sich hierbei nun um (denotational explizite) metapragmatische Referenzen. Explizite metapragmatische Referenzen bzw. metapragmatische Diskurse (vgl. Silverstein 1993, 35) sind Teil dessen, was Silverstein Metapragmatik nennt: „characterization of the pragmatic structure of language is metapragmatics, much as the characterization of semantico-grammatical structure is metasemantics“ (Silverstein 1976, 48). Mit Urban (2006, 90) handelt es sich dabei um semantische (symbolische) Metazeichen-ZeichenReferenzen auf Zeichen mit pragmatischer (indexikalischer) Zeichen-BezeichnetesRelation. Das heißt, auf der Metazeichen-Zeichen-Ebene ist explizite Metapragmatik immer (auch) referentiell/semantisch:  

While language as a pure referential medium serves as its own metalanguage in metasemantic speech events, there can be no metapragmatic speech events in which use of speech in a given functional mode explicates the pragmatic structure of that very functional mode. The metapragmatic characterization of speech must constitute a referential event, in which pragmatic norms are the objects of description. (Silverstein 1976, 48)

So wie nun aber die Pragmatik in einem weiteren Sinn die Semantik mit einschließt (s. o.), schließt die Metapragmatik in einem weiteren Sinn die Metasemantik als Sonderfall ein (vgl. Silverstein 1986, 229; Silverstein 1993, 39; vgl. auch Lucy 1993a, 17; Verschueren 2004, 55). Metapragmatik kann also sowohl die Gesamtheit aller reflexiven Referenzen als auch nur einen Teil (nämlich die Referenzen auf pragmatische Phänomene im engeren Sinn) meinen. Inzwischen hat sich die weite Lesart von Metapragmatik weitgehend durchgesetzt (vgl. Verschueren 2004; Bublitz/Hübler 2007). Daher werden auch Metasemantik und das von Silverstein (1993, 38) vorgeschlagene Hyperonym Metasemiose seltener verwendet. Metapragmatische Zeichenrelationen nutzen die metapragmatische Funktion von Sprache, die Silverstein (1993) von metapragmatischen Diskursen differenziert (vgl. auch bereits Silverstein 1979, 207f.). Während metapragmatische Diskurse Mengen konkreter kommunikativer Handlungen sind, die kommunikative Handlung thematisieren, ist die metapragmatische Funktion eine der Kommunikation inhärente Dimension, die Fähigkeit kommunikativer Handlungen und Zeichen nämlich, reflexiv auf  

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kommunikative Handlungen/Handlungsbedingungen zu verweisen. Das schließt nicht nur explizite Verweise ein, die in metapragmatischen Äußerungen (symbolisch) realisiert werden, sondern auch systembedingte (indexikalische und ikonische) Referenzen von Zeichen auf pragmatische Aspekte der Kommunikation (also auch Jakobsons C/M-Relationen, erneut hier mit einem weiteren Verständnis von ‚M‘). Diese sind Teil einer impliziten bzw. virtuellen Metapragmatik, so wie Jakobsons C/C-Referenz im parallelen Konzept einer impliziten oder virtuellen Metasemantik eingeschlossen ist (vgl. zu letzterem Silverstein 1986, 223; Urban 2006, 90). Die Adjektive implizit und explizit bzw. virtuell und konkret markieren dabei jeweils die Endpunkte eines Kontinuums. Ein Beispielfall für eine eher implizite Metapragmatik sind Pronomina, da diese referentiellen Indexe in indexikalischer Hinsicht nicht nur pragmatisch auf den Kontext verweisen (ich ist der im gegebenen Kontext aktuelle Sprecher/Schreiber), sondern auch meta-pragmatisch auf mit der Sprecher-/Schreiberrolle verbundene Handlungsmodelle und -routinen (pragmatische Phänomene, die hier zum Zeichen in einer Relation ‚zweiter Ordnung‘ stehen; vgl. Silverstein 2003). Ein weiteres Beispiel sind Stilisierungen wie ‚Kanaksprak‘, ‚rein‘ indexikalische Zeichen (Kontextualisierungshinweise), welche nicht nur pragmatisch mit einem bestimmten zum Kontext gehörenden Sprecher/Schreiber verbunden sind, sondern auch meta-pragmatisch mit typisierten Vorstellungen bzw. Ideologien über ‚Kanaksprak‘-Sprecher/Schreiber und -Situationen, welche ihrerseits reflexiv die kommunikative Handlung des aktuellen Sprechers und den Situationskontext rahmen (vgl. hierzu auch das unabhängig von Silverstein entwickelte Konzept des sozialsemiotischen ‚Metazeichens‘ bei Hodge/ Kress 1988, 78–91). Nicht zuletzt aufgrund solcher interpretativ bedeutsamen MetaReferenzen, das heißt, gerade weil auch Verweise auf bzw. Evokationen von Handlungsmodellen bzw. Interpretationsrahmen als Referenz zweiter Stufe („indexical signaling of something about indexical signaling“; Silverstein 1993, 47) verstanden werden – mit Hjelmslev ([1943] 1969, 114–125) könnte man auch sagen: als konnotative Referenz –, ist die metapragmatische Funktion für Silverstein so grundlegend für die Funktionalität von Kommunikation: […] the “event” model of discursive interaction, with whatever internal serial stages and hierarchical relationships, is already a meta-pragmatic representation of the facts of indexicality, attributing to them a COHESIVE STRUCTURE that orders discursive interaction as some INTERACTIONAL TEXT with event-relevant sequentiality, accomplishable or achievable purposivity, etc. To achieve or accomplish the laying down of (at least one) interactional text in and by discursive interaction thus requires that in addition to the paired indexical semiotic functions of presupposition and entailment, the functional modality of pragmatics that discursive interaction literally consists of, there be simultaneously in play another functional modality, that of metapragmatics – here, the metapragmatic function of occurring sign-forms – that at least implicitly models the indexical-sign-in-context relationships as event-segments of interactional text. Without a metapragmatic function simultaneously in play with whatever pragmatic function(s) there may be in discursive interaction, there is no possibility of interactional coherence, since there is no framework of structure – here, interactional text structure – in which indexical origins or cente-

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rings are relatable one to another as aggregated contributions to some segmentable, accomplishable event(s). In effect, metapragmatic function serves to regiment indexicals into interpretable event(s) of such-and-such type that the use of language in interaction constitutes (consists of). Understanding discursive interaction as events of such-and-such type is precisely having a model of interactional text. (Silverstein 1993, 36 f.)  

Sprachlich-pragmatische Reflexivität, heißt das, ist eine zentrale und nicht zu vernachlässigende Dimension von Sprache und eine Voraussetzung dafür, dass Kommunikation überhaupt möglich ist. Ohne sie könnten wir, wie Silverstein argumentiert, keine kohärente, strukturierte Kommunikation führen (vgl. auch Verschueren 2004, 55f.). Sie ermöglicht die Lösung kommunikativer Konflikte und Probleme (vgl. Techtmeier 2001), das Aushandeln von Bedeutung und die Konventionalisierung von Zeichen (vgl. Schlieben-Lange 1975, 194), die kontextuelle Rahmung von Botschaften, die Markierung verschiedener Stimmen (Heteroglossie), die Interpretation indexikalischer (deiktischer und sozialsemiotischer) Zeichen und mithin soziale Positionierung und Vergemeinschaftung mittels Sprache. In sum, speech is permeated by reflexive activity as speakers remark on language, report utterances, index and describe aspects of the speech event, invoke conventional names, and guide listeners in the proper interpretation of their utterances. This reflexivity is so pervasive and essential that we can say that language is, by nature, fundamentally reflexive. (Lucy 1993a, 11)

Im Kontext des Handbuchthemas könnte man nun denken, dass vor allem die denotativ expliziten Formen der Metasemiose, also metapragmatische Diskurse und insbesondere die von Silverstein so genannten „native pragmatic ideolog[ies], expressed in native metapragmatic theories, or ethno-metapragmatics“ (Silverstein 1979, 207) inklusive der „FOLK METASEMANTICS (or ETHNO-METASEMANTICS)“ (Silverstein 1993, 44) interessant sein könnten, weniger die Formen der impliziten Metapragmatik. Wie in den folgenden beiden Abschnitten gezeigt wird, ist dem aber durchaus nicht so.

4 Sprache und sprachliche Handlungsmodelle als Resultate metapragmatischer Reflexion Mit einem weiten Begriff sprachlicher Reflexivität, wie ihn der Terminus Metapragmatik bietet, lassen sich eine Reihe von Phänomenen, die aus soziologischer Sicht als wichtig einzustufen sind, als ‚reflexive‘ oder ‚metapragmatische Phänomene‘ fassen (vgl. dazu auch Coupland/Jaworski 2004b): sprachideologische Äußerungen bzw. Diskurse (vgl. Preston 2004; Spitzmüller 2005a), explizite kommunikative Handlungen der Gesprächssteuerung und -strukturierung (vgl. Techtmeier 2001; Bublitz/Hübler 2007), Stilisierungsphänomene wie das Double-Voicing (vgl. Günthner 2002) sowie Formen indexikalischer Inferenz etwa durch Kontextualisierungs- und Registerhin-

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weise (vgl. Auer/di Luzio 1992; Agha 2007a). All diese Formen der Reflexivität sind letztlich, wie Silverstein (s. o.) hervorgehoben hat, Verknüpfungen von konkreten sprachlichen Handlungen mit Handlungsmodellen (Registern, Genres, Frames etc.). Doch woher kommen diese Handlungsmodelle? Sie sind selbst das Resultat rekurrenter, reflexiver Praktik und metapragmatischer Reflexion. Handlungsmodelle verdanken sich der Tatsache, dass „die soziale Praxis, und damit eben auch jede Sprachpraxis, reflexiv ist: die Form jeder Praxis, also die Form, in der die jeweilige Praxis artikuliert worden ist, kann selbst zum Zeichen für diese Praxis werden“ (Maas 1985, 73; Herv. i. Orig. unterstrichen). Kommunikation reflektiert, mit anderen Worten, immer auch vorgängige Kommunikation (vgl. Feilke 1994, 77). Das kann sie aber nur, weil diese vorgängige Kommunikation in Form typisierter Muster, Routinen und Ideologien „sozial registriert“ (vgl. Agha 2007a; Spitzmüller 2013) ist. Diese Registrierung beinhaltet aber notwendigerweise eine reflexive Bezugnahme. Denn ein Muster oder ein Typus kann sich nur dann bilden, wenn Praktiken als ‚ähnlich‘ oder ‚gleichförmig‘ (mit Peirce: ikonisch aufeinander bezogen) betrachtet werden (vgl. Silverstein 2003, 203). Ähnlichkeit jedoch ist ein Attribut, das evaluativ – im Zuge metapragmatischer Reflexion – verliehen wird. Daher sind sprachliche Handlungsmodelle nicht nur Bestandteile, sondern auch Resultate metapragmatischer Reflexion. Allerdings wäre nicht nur Kommunikation, wie mit Silverstein argumentiert wurde, ohne sprachliche Reflexivität nicht möglich: ohne sie gäbe es auch keine Sprache. Denn Sprache als abgrenzbares, fassbares Objekt ist das Ergebnis sprachlicher Reflexion. Dass wir ‚Einzelsprachen‘ voneinander abgrenzen und (etwa als Erstsprache, Zweitsprache oder ‚fachsprachlich‘ als L1, L2 usw.) zählen können (vgl. kritisch dazu Busch 2013, 96–102), dass wir Dialekte und Stile ‚einer‘ Sprache zuordnen können, dass wir (eine) Sprache als geregeltes ‚System‘ oder als ‚kulturelles Gut‘ wahrnehmen können, dass wir behaupten können, ‚eine‘ Sprache zu sprechen, all dies ist nur möglich aufgrund sprachlicher Reflexion, und es ist das Ergebnis sprachlicher Reflexion. Insofern kann man in gewisser Weise sagen, dass ‚Sprache‘ das Resultat metasprachlicher Praxis ist, oder etwas präziser: „without ‘second-order’, reflexive properties, ‘first order’ language itself could not exist“ (Taylor 2000, 483). Dies lässt sich auf mehreren Ebenen weiter begründen. Ontogenetisch etwa ist hier die Rolle von Metasprache und Metakommunikation im Spracherwerb zu nennen, auf die bereits Jakobson (1960, 356) hinweist. Zwar besteht über die Bedeutung der Metapragmatik im Spracherwerb keineswegs Einigkeit (vgl. Welte/Rosemann 1990, 35–36; Gombert 1992; Brockmeier 2004, 282–290), doch kann als unbestritten gelten, dass metasprachliche Äußerungen den Spracherwerb (sowohl beim sog. ‚Erstspracherwerb‘ als auch beim Erwerb ‚weiterer‘ Sprachen) wesentlich prägen. Dies ist nicht zuletzt deshalb so, weil sprachliche Regeln nur durch sprachliche Reflexion sichtbar werden. Dies gilt auch phylogenetisch hinsichtlich der Herausbildung kultureller Konzepte von Sprache und der Herausbildung sprachlicher Normen:  

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[…] without reflexive language, there could not be any standardized languages, such those commonly recognized today. […] Without linguistic reflexivity, there could be no language policies or language planning, no linguistic prescription, no language mavenry, no language politics, and no national ideologies of language […]. (Taylor 2000, 489)

Valentin Vološinov geht noch einen Schritt weiter und konstatiert: „Das System der Sprache ist das Produkt einer Reflexion über die Sprache“ (Vološinov [1929] 1975, 122). Das heißt, zum kohärenten, strukturierten Objekt wird Sprache erst durch Sprachreflexion (vgl. auch Schlieben-Lange 1975, 193, sowie Brockmeier 2004, der die Bedeutung von Schrift als metasprachlichem Medium in diesem Zusammenhang diskutiert). Wenn man dem folgt und Sprache nicht einfach als exodiskursives ‚Ding‘ ansieht, sondern als Ergebnis diskursiver Reflexion, als Produkt menschlicher Vorstellung und als ein mit verschiedenen Erwartungen und Werten belegtes Konstrukt, ist es durchaus auch angemessen zu konstatieren, dass ‚Sprache‘ – nämlich das, was wir heute unter ‚(einer) Sprache‘ verstehen – eine kulturelle und nicht einmal sehr alte Erfindung ist: It may seem odd to say so, but ‘language’ was invented in Europe. Speaking is a universal feature of our species, but ‘language’ as first used in Europe and now throughout the world is not equivalent to the capacity to speak, but presumes a very particular set of features. Languages in this limited sense are assumed to be nameable (English, Hungarian, Greek), countable property (one can ‘have’ several), bounded and differing from each other, but roughly inter-translatable, each with its charming idiosyncracies that are typical of the group that speaks it. The roots of this language ideology go back to the European Enlightenment and the Romantic reaction that followed. (Gal 2006, 14)

Die Normen und Sprachideologien, die aus metapragmatischer Reflexion hervorgehen, sind, wie beispielsweise Seargeant (2009) detailliert darlegt, ihrerseits wieder sozial strukturbildend, das heißt, sie konstituieren den Rahmen, in dem die Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft sprachlich handeln: […] it is not simply that conversation cannot proceed without the metalinguistic function, but that language itself would collapse without it. For not only is the metalinguistic function important for negotiating the individual exchange, it is also vital for keeping alive the consensual basis for the ‘rules’ of language by which any discourse community operates. (Seargeant 2009, 358)

Zu diesem sprachlichen Handeln gehört aber wiederum auch metapragmatische Reflexion, denn auch diese findet ja auf der Grundlage einer (angenommenen) „consensual basis for the ‘rules’ of language“ – also von Sprachideologien – statt. Sprachreflexion generiert somit nicht nur ‚Sprache‘ (als Gegenstand), sondern prägt auch nachfolgende Sprachreflexion. Sprachreflexion und Sprache stehen somit in einem reziproken, ko-konstruktiven Verhältnis zueinander. Auch deshalb ist Metapragmatik als linguistisches Untersuchungsfeld so wichtig. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei aber Folgendes noch einmal betont: Auch wenn man wie hier dargestellt annimmt, dass Sprache als Objekt oder System

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nur als diskursives Produkt existiert, heißt das nicht, dass sie ihrerseits keine diskursive Relevanz hat. Auf diesen wichtigen Punkt weist ebenfalls bereits Vološinov hin: Folgt daraus [aus der Tatsache, dass das System der Sprache das Produkt einer Reflexion über die Sprache ist; Anm. J.S.] etwa, daß selbst diese Beziehung des subjektiven Bewußtseins zur Sprache als einem System objektiver, unangreifbarer Normen jeder Objektivität entbehrt? Natürlich nicht. Richtig verstanden, kann diese Beziehung zum objektiven Faktum werden. Wenn wir behaupten: die Sprache als System unangreifbarer und unveränderter Normen existiert objektiv, – dann begehen wir einen großen Fehler. Wenn wir aber sagen, daß die Sprache im Verhältnis zum individuellen Bewußtsein ein System unveränderter Normen ist, daß dies eben der Modus der Existenz der Sprache für jedes Mitglied einer bestimmten Sprachgemeinschaft ist, – dann drücken wir damit eine völlig objektive Beziehung aus. (Vološinov [1929] 1975, 121)

Mit anderen Worten: Sprache als Resultat metapragmatischer Reflexion ist ein sozial hochgradig bedeutsames Phänomen, denn sie stellt einen ideologischen Rahmen dar, in dem sich soziale Akteure bewegen und aufgrund dessen sie sich positionieren können. Und metapragmatische Reflexion ermöglicht nicht nur die Verortung in, sondern auch die Verständigung über diesen Rahmen. Der folgende Abschnitt führt dies aus.

5 Sprachreflexion, Sprachideologie und soziale Positionierung Vor dem Hintergrund der in diesem Artikel besprochenen Konzepte lässt sich ‚Sprache im Urteil der Öffentlichkeit‘, vor allem wenn man darunter die massenmedialen Debatten zu Sprache oder zu bestimmten sprachlichen Themen (wie die in Teil III und IV dieses Handbuchs behandelten) versteht, wie folgt charakterisieren: Sie ist (1.) genuin metapragmatisch, sie ist (2.) ideologisch und damit (3.) eine Form sozialer Positionierung. Dies soll im Folgenden begründet werden. Ad 1. Die Argumente, die in sprachreflexiven Debatten vorgebracht werden, scheinen auf den ersten Blick häufig ausschließlich metasemantischer Art zu sein. Dies betrifft sowohl viele der sprachkritischen Urteile als auch die beschwichtigenden Reaktionen darauf, insbesondere auch die sprachwissenschaftlichen. Es wird diskutiert, was ein Wort ‚bedeutet‘, ob eine grammatische Konstruktion ‚richtig‘ ist, ob ein Neologismus oder eine Entlehnung angesichts des vorhandenen Wortschatzes ‚nötig‘ ist usw. Es geht also scheinbar um Sprache in einem kontextfreien, abstrakten Sinn. Diese metasemantische Ausrichtung ist aber nur vordergründig. Denn in den meisten Fällen maskieren metasemantische Aspekte nur metapragmatische, um die es (beiden Seiten) eigentlich geht. Im Wesentlichen sind sprachkritische Diskurse nämlich Diskurse um Indexikalität und Meta-Indexikalität. Die Diskussionen sind getrieben davon, welche sozialen Werte, Einstellungen, Akteurs- und

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Handlungstypen mit bestimmten Sprachgebrauchsformen, aber auch mit bestimmten metapragmatischen Praktiken indexikalisch verbunden sind. Anglizismen beispielsweise sind vor allem deshalb für bestimmte Diskursakteure ein Problem, weil sie ihrer Meinung nach für bestimmte soziale Positionen, Akteursgruppen und Handlungsweisen stehen, die der eigenen sozialen Positionierung fremd sind und mithin als Alteritätsanker dienen (vgl. dazu Spitzmüller 2007). Umgekehrt sind puristische (und allgemein sprachkritische) Diskurse für viele Sprachwissenschaftler vor allem deshalb ein Problem, weil sie einen zentralen Baustein des linguistischen Selbstverständnisses in Frage stellen, nämlich den Deskriptions-Präskriptions-Antagonismus, demzufolge Sprachbeschreibung ‚wertungsfrei‘ zu erfolgen habe, weshalb sprachkritische Äußerungen nach Meinung vieler Linguistinnen und Linguisten für bestimmte soziale Positionen, Akteursgruppen und Handlungsweisen stehen, die der eigenen sozialen Positionierung fremd sind und mithin als Alteritätsanker der professionellen Identität dienen (vgl. dazu Cameron 1995; Spitzmüller 2005b; Agha 2007b sowie unten Punkt 2). Generell lässt sich also festhalten: Sprachreflexive Diskurse sind offenbar häufig primär metapragmatische Diskurse – Diskurse um (‚richtiges‘, ‚angemessenes‘, ‚gutes‘) sprachliches (= soziales) Handeln. Implizite Metapragmatik im oben (Abschnitt 3) ausgeführten Sinn spielt dabei eine wesentliche Rolle. Denn sprachliche Formen werden als Indizes für bestimmte Handlungsmodelle wahrgenommen – sie sind, wie Agha (2007a, 235/135) es nennt, als soziale Embleme Teil von Registern, von „cultureinternal models of personhood linked to speech forms“. Wenn die Richtigkeit/Angemessenheit/der soziale Wert sprachlicher Formen diskutiert wird, wird somit auch die Richtigkeit/Angemessenheit/der soziale Wert der in den Handlungsmodellen ‚registrierten‘ Personen- und Handlungstypen diskutiert (und häufig primär dies). Ad 2 und 3. Wenn man nun aber Metapragmatik, wie in diesem Artikel begründet, als wesentliche Dimension von Sprache und sprachlichem Handeln ansieht, dann kann man auch das von linguistischer Seite häufig vorgebrachte Argument, dass es in sprachkritischen Diskursen gar nicht um Sprache gehe – dass ‚Sachkritik im Mantel der Sprachkritik‘ betrieben werde (vgl. dazu Spitzmüller 2005b, 260 f.) –, nicht akzeptieren. Auch wenn es nicht primär um Semantik (im engeren Sinne) und nicht primär um Sprache als System geht (also um Metasemantik), geht es doch um Sprache. Zumindest jedoch geht es darum, was ‚Sprache‘ ist. Die Trennung von Sprachsystem und Sprachgebrauch und die Priorisierung von ersterem, aus der sich die Abwertung einer metapragmatischen (und nicht metasemantischen) Sprachreflexion speist, ist ja selbst im oben ausgeführten Sinne das Ergebnis von Sprachreflexion. Sie ist nur eine von vielen möglichen Antworten auf die Frage, was ‚Sprache‘ ist und wie man ‚Sprache‘ eingrenzen kann, und sie ist keineswegs allgemein akzeptiert – nicht innerhalb der Linguistik und schon gar nicht jenseits des Fachs (vgl. Agha 2007b). Dass diese Frage so unterschiedlich beantwortet werden kann und wird, ist übrigens wohl eine der wesentlichen Ursachen sprachreflexiver Konflikte (vgl. für ein illustratives Beispiel Kilian/Niehr/Schiewe 2010, 14–17; vgl. grundsätzlich Spitzmüller 2005a).  





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Warum aber sind Dissense in dieser Frage überhaupt so konfliktträchtig? Das hat damit zu tun, dass es in sprachreflexiven Debatten nicht zuletzt um Macht geht, unter anderem um Definitionsmacht. Sprachreflexive Debatten sind, wie Blommaert (1999, 9) verdeutlicht, wesentlich Aushandlungskämpfe um Autorität („struggle[s] for authoritative entextualization“), in die verschiedene Akteure und Akteursgruppen involviert sind, darunter auch Sprachwissenschaftler: The struggle for authoritative entextualization involves ideology brokers: categories of actors who, for reasons we set out to investigate, can claim authority in the field of debate (politicians and policy-makers, interest groups, academicians, policy implementers, the organized polity, individual citizens). The struggle develops usually over definitions of social realities: various representations of reality which are pitted against each other – discursively – with the aim of gaining authority for one particular representation. (Blommaert 1999, 9)

Daraus folgt: Sprachreflexive Diskurse sind in jedem Fall sprachideologische Diskurse – Diskurse, in denen soziale Werte und Positionen ausgehandelt werden, welche (meta-indexikalisch) an Sprache gekoppelt sind. Auch dies betrifft nicht nur die sprachkritische Seite, sondern auch die sprachwissenschaftliche. So wie sprachkritische ‚ideology brokers‘ in sprachreflexiven Diskursen durch affirmative oder distanzierende Performanzen und/oder Bewertungsäußerungen eigene Werte und Einstellungen ausdrücken und mithin soziale Positionen beanspruchen bzw. anderen Positionen zuweisen (vgl. dazu ausführlich Spitzmüller 2013), so bringen auch Linguisten – in ihren innerfachlichen Diskursen ebenso wie in Stellungnahmen zu sprachkritischen Diskursen – nicht einfach nur ‚unschuldige Fakten‘ zum Ausdruck, sondern auch mit bestimmten Werten und Einstellungen verbundene Bewertungsäußerungen, die der sozialen Positionierung dienen. Das zeigt sich schon daran, dass Sprachwissenschaftler, wenn sie zu ‚Urteilen der Öffentlichkeit‘ über Sprache Stellung beziehen, dies häufig aus einer selbst zugeschriebenen Überlegenheitsposition heraus tun: ‚Urteile der Öffentlichkeit‘ werden aus linguistischer Sicht geprüft, nicht selten für falsch befunden und kritisch bis mokant kommentiert (vgl. dazu ausführlicher Spitzmüller/Antos/Niehr 2015). Das sind Akte der Profilierung und Autorisierung, die Teil der Konstitution einer professionellen Identität sind, Abgrenzungsakte, die in jeder Disziplin nach ‚innen‘ wie nach ‚außen‘ stattfinden. Agha charakterisiert solche Akte, am Beispiel disziplinäre Grenzkämpfe, treffend als ideologische Akte:  

“Yes, but it isn’t linguistics.” This incantation is not an innocent dismissal. It is an ideological stance on the study of language that serves specific positional interests. It bespeaks a particular model of discipline formation, one which links the act of restricting a subject matter to the performative self-constitution of a unified “linguistics,” and to membership in its disciplinary ranks. (Agha 2007b, 220)

Dass keine sprachreflexive Aussage frei von sozialer Verortung und mithin von Perspektivität ist (vgl. auch Cameron 1995, 4), hat auch Silverstein in seiner vielzitierten Definition des ebenfalls von ihm geprägten Konzepts Sprachideologie bereits aus-

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drücklich berücksichtigt. Dies wird deutlich, wenn man den Kontext, in dem diese Definition steht, mitbetrachtet. Silverstein setzt an der oben erwähnten sprachwissenschaftlichen Praxis, ‚populäre Sprachirrtümer‘ zu kommentieren, an, stellt dann aber klar: […] I do not address myself only to articulated beliefs that are incorrect or contemptible. I should clarify that ideologies about language, or linguistic ideologies, are any sets of beliefs about language articulated by the users as a rationalization or justification of perceived language structure and use. If we compare such ideologies with what goes under the name of “scientific” statements about language, we might find that in certain areas the ideological beliefs do in fact match the scientific ones, though the two will, in general, be part of divergent larger systems of discourse and enterprise. We need have no conceit one way or the other, however, that automatically privileges so-called “scientific” description, or automatically condemns native ideological rationalization. (Silverstein 1979, 193)

Die vonseiten der Linguistik vorgenommene Trennung zwischen ‚Sprachwissenschaft‘ und ‚Öffentlichkeit‘ und eines ‚öffentlichen‘ und ‚linguistischen Diskurses‘ (vgl. z. B. Niehr 2014) ist somit selbst Resultat metapragmatischer Reflexion und Teil einer Positionierungspraxis. Sie ist einerseits ideologisch, andererseits aber auch insofern konstruktiv, als sie – wie jede ideologische Positionierung – den involvierten Akteuren einen Handlungsrahmen steckt und ihnen ermöglicht, die eigene Position von der Anderer abzugrenzen bzw. sich mit anderen sozialen Akteuren zu solidarisieren. Und dies ist wohl die Hauptfunktion aller sprachreflexiven Diskurse – und der Grund, warum Sprache ein so mächtiges soziales Werkzeug ist.  

6 Fazit Karl Bühler, dessen Organonmodell Jakobsons Sprachfunktionenmodell inspiriert hat, hat darauf hingewiesen, dass Sprache mehr ist als „ein organum, um einer dem anderen etwas mitzuteilen über die Dinge“ (Bühler [1934] 1999, 24). Sie erlaubt auch Aussagen über die kommunizierenden Akteure, den Sprecher/Schreiber einer Äußerung genauso wie den Adressaten (oder zumindest über das Bild, das der Sprecher/ Schreiber von den Adressaten hat). Und Bühler hat gezeigt, dass dies notwendigerweise so ist: Wir können nicht Aussagen über die ‚Welt‘ machen (Bühlers Darstellungsfunktion), ohne zugleich Aussagen über uns selbst zu machen (Bühler Ausdrucksfunktion) und ohne zugleich unsere Einstellung zu den Adressaten bzw. unsere Erwartungen an sie kundzutun (Bühlers Appellfunktion). Warum dies so ist, lässt sich durch sprachliche Reflexivität erklären: Wir machen deshalb Aussagen über uns und andere soziale Akteure, wenn wir kommunizieren, weil die Formen, mit denen wir kommunizieren, an Erfahrungen, Einstellungen, Personen- und Handlungsmodelle gekoppelt sind, die zum Teil in musterhafter Form (als Genres, Register usw.) sozial registriert sind. Kommunikation verweist somit reflexiv zuletzt immer auf unsere (diskursiv distribuierten) Imaginationen der sozialen Wirklichkeit, und indem wir kom-

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munizieren – und dadurch, wie wir kommunizieren –, positionieren wir uns in dieser sozialen Wirklichkeit bzw. werden von den Rezipierenden dort positioniert. Soziale Positionierung mittels Sprache – allgemeiner: Vergemeinschaftung durch Sprache – ist also deshalb möglich, weil Sprache bzw. Formen des Sprachgebrauchs mit Werten, Einstellungen, Modellen verkoppelt sind – mit anderen Worten: weil es Sprachideologien gibt. Sprachideologien sind somit genauso grundlegend für soziales sprachliches Handeln, wie es Reflexivität für Sprache ist. Sprachreflexive Diskurse bringen diese Ideologien zum Ausdruck. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil von Vergemeinschaftungsprozessen, da in ihnen unterschiedliche Definitionen der Wirklichkeit und unterschiedliche soziale Positionen verhandelt werden. Eine Linguistik, die die Prozesse sozialen sprachlichen Handelns und sprachlicher Sozialisierung verstehen will, tut also gut daran, die Reflexion von Sprache in der Gesellschaft – die ‚Urteile der Öffentlichkeit‘ über Sprache – erstens ernsthaft in den Blick zu nehmen und sich zweitens einzugestehen, dass auch sie Teil dieser ‚Öffentlichkeit‘ ist.

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2. Prescriptive acts: A performative theory of language standardization Abstract: This chapter proposes a performative theory of language standardization. Language standards are described as metalinguistic speech acts that have a metalanguage-to-language “direction of fit”, i.e. their perlocutionary effect – if any – is ultimately locutionary. Under particular “felicity conditions” (in particular sociolinguistic settings), such metalinguistic acts may raise language awareness within a community and manage to effect or inhibit language change. This performative theory calls for a corpus-driven approach to standardization that concentrates on correctives (metalinguistic speech acts of the type: “one should neither say nor write X; instead, one should say or write Y, because Z”) and permissives (“one may say or write either X or Y provided that C”). Such triplets are fairly easy to locate in texts that prescribe on language usage. Both correctives and permissives are prescriptive acts. Correctives and permissives are shown to form repertories which remain relatively stable over particular periods of time. The changes in corrective repertories bear testimony to processes or re- or de-standardization. The continuing standardization of Modern Greek is discussed as a case that exemplifies the performative theory proposed in this chapter. The notions of the ‘uniformity’ and ‘neutrality’ of a Standard are also problematized with respect to Standard Modern Greek.  

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Introduction Correctives and permissives Corrective repertories Naturalization and neutrality Discussion References

1 Introduction The view that I wish to explore in this chapter is that a standard language is both a language and a standard. What is usually meant by a Standard Language (henceforth: with capitalized initials) is a particular ‘variety’, or a ‘sub-variety’ of a language, or a ‘dialect’ among other dialects (Trudgill 1983, 17–20; 1999; Hudson 1980, 32–34; Wardhaugh 1998, 29–37; Holmes 2008, 76–78, 137–138; Haugen 2001; Inoue https://doi.org/10.1515/9783110296150-003

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2006). What is usually meant by language standards (henceforth: with lower-case initials) is an ideology, a belief system, a perceptual construct, an ideal, an idealization, a norm, a set of prescriptive rules rather than a particular variety (see, among others, Milroy and Milroy 1999, 19; Lippi-Green 2012, 67; Agha 2007, 206–219). Fromkin/Rodman/Hyams (2011, 440), speaking of Standard American English (SAE), state that “SAE is an idealization. Nobody speaks this dialect; and if somebody did, we would not know it, because SAE is not defined precisely”. In my view, a Standard Language could only be identified as a variety through the language standards that apply to it; even if nobody spoke a Standard variety, there still might be people who believe in its existence, prescribe its usage, and thus sustain its real or imaginary life. I consider a Standard Language to be standardized by a set of language standards through a process of standardization, i.e. through the application of language standards to what is thus becoming a Standard Language. Letting the letter ‘s’ stand for standardization, ‘ls’ for language standards and ‘SL’ for a Standard Language, we can write: ls →s SL.

There are two aspects to the view that a Standard Language (SL) should be defined both as a variety and as a set of language standards (ls) (Moschonas 2005a; 2005b): First, a standard variety is subject to a continuous process of standardization, destandardization or re-standardization – despite the fact that the speakers of a language might not be aware of this transformative process as, perhaps, neither are the linguists among them. Although they are ideologically presented as stable, persisting, invariable, uniform ‘wholes’, Standard varieties exhibit considerable variation and are themselves subject to change. The relation between a Standard and other varieties within a linguistic community is, accordingly, a dynamic one, and it is always in constant flux. The division of labor between varieties also admits of rearrangements. As Fishman (1972, 19) had pointed out: Note that not all languages have standard varieties. Note also, that where a standard variety does exist, it does not necessarily displace the nonstandard varieties from the linguistic repertoire of the speech community for functions that are distinct from but complementary to those of the standard variety. Note, additionally, that there may be several competing standard varieties in the same speech community. Note, finally, that hitherto nonstandard varieties may themselves undergo standardization, whereas hitherto standardized varieties may undergo destandardization as their speakers no longer view them as worthy of codification and cultivation. Standardization in not a property of any language per se, but a characteristic societal treatment of language, given sufficient societal diversity and need for symbolic elaboration.

Second, this process of continuous re-standardization could not take place – it would not even be understood – without appeal to certain standards, without ideological justifications of such standards and without metadiscursive practices through which

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standards and language ideologies are being propagated. There is always interplay between language standards and Standard Languages. Accordingly, the relation between a standard and a Standard variety should be seen as a dynamic one. A Standard variety may actually ‘converge’ to a standard or to what a Standard variety is believed to be; but the Standard may also be prescribed by a misguided, misplaced or ineffective norm, one which does not actually correspond to any particular variety, as it is very often the case in diglossia situations, where prevailing standards (of the high variety) are inconsistent with common usage (low varieties). There might also be conflicts in standards; Haugen’s (1966a; 1966b) seminal work on standardization, one should be reminded, is precisely about such conflicts. In certain communities, there are strong ‘language ideological debates’ (Blommaert 1999), which, in some cases, seem to last for ages, as it was the case with the Greek Language Question (Browning 1983, 100–118; Mackridge 2009). Bits and pieces of a comprehensive theory that links language standards to Standard Languages I will provide as we move along. However, a very general outline of the theory can be given right from the beginning to help the reader follow the general argument. The performative theory of language standardization holds that metalinguistic statements (i.e., statements about language of the kind considered in this chapter) are not mere expressions of belief; their character is prescriptive and their illocutionary force is that of directive (metalinguistic) speech acts, i.e. speech acts that guide the users of a language to a particular linguistic behavior. Prescriptivism is epitomized in explicit corrective instruction or advice on issues of language usage. Just like any other speech acts, corrective instructions have felicity conditions (rather than truth conditions): they are not right or wrong, they simply are effective or ineffective. Furthermore, for a corrective instruction to be successful, it has to be repetitive. Print and digital media provide platforms in which corrective instructions can be repeated and multiplied, if only by example. The corrective instruction has better chances of reaching a wider public when it is issued by an institution (such as an Academy) or by people with institutional power or by professional zealots (the correctors). Such persons or institutions function as multipliers and they increase the effectiveness of correctives. Correctives also require a guarding or surveillance mechanism, which is instilled during education and remains active at both the corporate level (correction as a professional practice) and the level of individuals (self-correction). Finally, in order for corrective speech acts to be successful, they have to be complied with by members of the linguistic community; corrective instructions have to be adopted within a particular medium, across a register, or for a certain stylistic purpose. Language users have to behave linguistically as they were instructed to; they have to start practicing according to the instruction. This final ‘uptake’ is not easy to come about and it is difficult to diagnose, since it is always possible that corrective instructions are not being followed, or they are misexecuted, or merely not given heed to; or they are forgotten from one generation of speakers to the next.

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2 Correctives and permissives In this section, I propose a pragmatic procedure for measuring prescriptivism – or its lack thereof: the analysis of metalinguistic speech acts which I will call correctives (or corrective instructions; see Moschonas 2005c; 2008). Α corrective can be defined as a directive act of a metalanguage-to-language direction of fit (for ‘direction of fit’, a notion that has been used for the classification of speech acts, see Searle 1979, 1–29). There are at least two types of correctives: correctives proper and permissives. In their simplest form, correctives proper consist of three parts: a prohibitive (‘one should neither say nor write X’); a normative (‘one should say or write Y’); and an explicative part (‘because Z’). For example, the following pronouncement by the renowned linguist Jannis Psycharis (1824–1929), qualifies as a corrective: we [should] say/write συβιβασμός [sivivazmos], ‘compromise’ (Y) instead of συμβιβασμός [siɱvivazmos] (X), because our phonology does not accept the combinations [nasal] + [fricative] (Z) (Psycharis 1888, 163 ff.; 19052, 155 ff.)  



A permissive is also a directive act of a metalanguage-to-language direction of fit. In their simplest form, permissives also consist of three parts: a permissive part (‘one may say or write X in addition to/alongside Y’); a normative part, which usually expresses a condition on X/Y usage (‘X occurs under condition C1; Y occurs under condition C2’); and an optional explicative (‘because Z’), which usually repeats the normative/conditional part. For example, the following statement by the Greek linguist Manolis Triantaphyllidis (1883–1959), qualifies as a permissive: one may say/write δαγκώνω, ‘to bite’ (X), but δαγκάνω (Y) is preferred in prose (C2). (Triantaphyllidis et al. 19782 [19411], 349)

Permissives like this one are usually functional in character; each variant is restricted to a domain, assigned a function, or is assumed to have a certain stylistic load. One may also postulate free variational permissives of the form: X or/and Y.

Of course, such permissives, positing a free, unconditional variation, are difficult to come up with in traditional grammars. The scarcity of unconditional permissives should not surprise us. The tendency to functionalize variation is common to many; it is something like a ‘natural instinct’. Descriptive grammars are assumed to do just that: account for variation by assigning different functions to variants, according to the doctrine of ‘form-function symmetry’ which would assign to each form a different function (Poplack/van Herk/Harvie 2002: 88–89; Poplack/Dion 2009: 557; Poplack/ Lealess/Dion 2013: 189). A similar foundational doctrine of sociolinguistics prescribes

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that ‘there are no free variants’. I will refer to these twin doctrines as the form-function fallacy. Permissives are also victims to this fallacy. Typically, even if they do not explicitly state that one variant is preferred over the other, permissives may still imply, especially in the context of traditional grammars, that one or the other variant is the preferred one: permissives are conditional by implicature. Besides, a permissive can be very easily turned into a corrective, by stating that the condition for a variant to occur has been violated. For example, instead of the functional permissive from Triantaphyllidis et al. (19782 [19411]) cited above, the following corrective could have been issued: one should not write δαγκώνω, ‘to bite’ (X), because δαγκάνω (Y) is preferred in prose (Z).

The corrective is already implied in the permissive, and for this reason I will not refrain from calling both correctives proper and permissives by their general name: correctives. Both types of correctives are prescriptive metalinguistic acts. So far I have provided examples of correctives (correctives proper or permissives) in their regular forms (or in forms regularized for convenience). Actually, in Grammars and Usage Guides, correctives rarely appear in their regular, full forms (Moschonas/ Spitzmüller 2010, 23–26). Correctives might be elliptical (missing a part, i.e. X or Y are not both specified or no Z is offered). Missing an explicative part is common: in many instances no justification is offered for a corrective; or the explicative provides what appears to be a circular justification (‘one should not say or write X, because it is not advisable – correct, proper, appropriate, well-expressed, etc. – to say or to write X’); or it invokes a more general corrective, to which it is not but an instance. In such cases, the researcher might have to work from analogy with other correctives, or consider similar correctives the one in question clusters with; or one might have to probe a bit deeper into the general prescriptive mentality of a text in order to understand the reasons for its preferences. Correctives also differ as to their specificity. We can distinguish type correctives (general instructions) from token correctives (specific instructions); again, a token-instruction may be offered as an example to a more general type-instruction, i.e. ‘x1, …, xn should be avoided as tokens of X’; or ‘y1, …, ym should be preferred as tokens of Y’; or a token corrective may simply be an instance of a general ‘rule’, i.e. of a general type-instruction. Permissives can also be elliptical, type, or token, as we will see in the examples that follow. All the examples were taken from the Modern Greek Grammar (of Demotic) (Triantaphyllidis et al. 19782 [19411]), an institutional Grammar (or a “State Grammar”, as it was called by Triantaphyllidis himself), which has significantly contributed to standardizing what came to be known as Standard Modern Greek (Κοινή Νέα Ελληνική) (Mackridge 2009, 301–302). Due to the perennial Greek Language Question, diglossia in Greece has given rise to two conflicting standards, the archaistic or puristic standard (high variety) and the demotic or vernacular one (low variety).

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Arguably, there was also a range of intermediate standards between these two extremes. Standard Modern Greek is supposed to be based on demotic, allowing nevertheless a certain number of archaisms, especially in the higher registers of the language. This formula for the standardization of Modern Greek was explicitly stated in the Modern Greek Grammar (of Demotic) by Triantaphyllidis et al. The following examples from this Grammar are chosen to illustrate the differences between the various types and forms of correctives and/or permissives (I have in all the examples omitted the explicative part Z, when one was provided, which would make all the examples Z-elliptical; hence, by ‘elliptical’ it is hereby meant X/Yelliptical): Type correctives: “the koine, the common form of the language [Y] should be given; and this has a double sense: without archaisms, i.e. learned forms [X1], and without dialectalisms [or localisms: ιδιωματισμοί], i.e. dialectal forms [X2] – except, of course, when any of these are essential for the common language” (p. ιη´) Token correctives: “some by mistake say απο-θανατίζω [X], ‘immortalize’, while the correct form is απ-αθανατίζω” [Y] (p. 154/§ 342) Type/elliptical correctives (X/Ø): “The right thing is to avoid having many abstract nouns depending on each other with genitives” [X] (p. 230/§ 524) Type/elliptical correctives (Ø/Y): “It is necessary, as more people get educated, that the learned words expressing concepts of the Modern Greek culture [Y1] spread and be popularized to the wider population. And, on the other hand, those living in the cities should also be acquainted, with the help of literature and education, with popular words [Y1]” (p. 182) Token/elliptical correctives (X/Ø): “many writers insist on using an orthography that is unscientific, conservative, and unjustifiable (ἡ γυναῖκες [Χ1], ῇ γυναῖκες [Χ2], pl. nom. ‘the women’, πειά, ‘anymore’ [Χ3], τρελλός, ‘crazy’ [Χ4]) (p. 405/§ 1077; the standard forms οι γυναίκες [Y1], πια [Y3], τρελός [Y4] are presupposed) Token/elliptical correctives (Ø/Y): “during the last decades, it is often necessary to devise fem. forms for masc. nouns denoting professions [Y]. In the people’s language [λαϊκή γλώσσα] these words are formed by the following endings: εισπραχτόρ-ισσα, fem. ‘collector’, […]· δικηγορ-ίνα, fem. ‘lawyer’, […]” (p. 217 n. 1) Type permissives: “we can use parallel phonetic types (παράλληλοι φωνητικοί τύποι) of the words, one of learned origin [Y] and the other of popular origin [X]” (p. 101/§ 224); “words can have two equivalent (ισότιμοι) variants [Y/X], due to aphaeresis of the initial vowel” (p. 79/§ 172); “usually, older loans [Y] are declined; newer ones are not [Y]” (p. 255/§ 598) Token permissives (corresponding to the three type-permissives of the previous paragraph): “εκκλησιά [X] but also εκκλησία [Y]” [are parallel phonetic types] (p. 101/§ 224; cf. p. 103 n. 2); “γελάδα [Χ] – αγελάδα [Υ], “cow”, etc., are equivalent (ισότιμοι) variants, due to aphaeresis” (p. 79/§ 172); “το Μιλάνο – του Μιλάνου, nom. – acc. ‘Milan’, is declined [X], being an old loan [C1], but το Όσλο – του Όσλο, nom. – acc. ‘Oslo’ [Y], is not, being a new one [C2]” Type/elliptical permissives (X/Y): “As for those nouns denoting profession that do not have a fem. form, if it is still necessary to refer unambiguously to a woman, we can use the masc. form modified by the word γυναίκα, ‘woman’ [X/Y]: […]” (p. 217 n. 1) Token/elliptical permissives (X/Y, corresponding to the type/elliptical permissive of the previous paragraph): οι γυναίκες συγγραφείς, ‘women writers’ [X/Y] (ibid.).

A special subcategory of correctives should also be mentioned; they may be called correctives by omission. For example, Triantaphyllidis et al. (19782 [19411]) has been

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rightly criticized for omitting the learned, high-variety adjectives in ‑ης/-ες, such as o/ η ακριβής / το ακριβές, masc./fem. /neut. ‘precise’ (Setatos 1991, 34) or the Ancient Greek participles in -ων/-ουσα/-ον, such as ο προκύπτων τόκος, “the resulting interest”; οι τρέχουσες εξελίξεις, ‘current developments’, etc. The omissions imply that the adjectives of this declension or the Ancient Greek participles should not be used at all or they should be avoided. Although there is no explicit mention of these forms, the prohibition is implied by omission. As it is the case with all speech acts, be they linguistic or metalinguistic, there are of course indirect correctives, which are difficult to pin down, because they often masquerade as descriptive or “constative” acts (Austin 1975 [19621], 3), i.e. as unbiased scientific statements. For example, a declension table in a grammar textbook will usually be interpreted as a systematic exposition of grammatical facts (as a complex ‘expositive’, in Austin’s terms); but it might also, indirectly, have the illocutionary force of a corrective, i.e. the force of an ‘exercisitive’, in Austin’s terms, or of a ‘directive’, according to Searle’s commoner terminology. We cannot know what its particular force is, unless we are aware of variants that the table omits or mishandles, or unless we can think of an alternative table; not unless, that is, we have become critical of the table in one way or another. It is not only permissives that can be easily transformed to correctives proper; almost any descriptive grammatical statement could be interpreted as prescriptive, i.e. as a corrective, under particular circumstances. In things linguistic, one can very easily switch from ‘this is how things are’ to ‘this is how they should be’.

3 Corrective repertories Correctives do not appear in isolation. They tend to form corrective repertories (Moschonas 2008, 45), i.e. sets of correctives which are grouped together in a corpus of prescriptive metalinguistic texts such as Usage Guides, traditional Grammars, language education textbooks, etc. Corrective repertories, one may assume, share common presuppositions and prevail among certain circles in a particular period of time. Corrective repertories are collective repertories. Triantaphyllidis et al. (19782 [19411]) offers an interesting example of such a repertory. The Modern Greek Grammar (of the Demotic) proposed a standard that was far from uniform. The “State Grammar” that standardized Modern Greek was at the same time prescriptive and variationist (see Triantaphyllidis’s own Preface to the Grammar, 19782 [19411], especially κα´, κβ´-κδ´; it should be noted in passing that this institutional Grammar has been widely recognized to be the work mainly of Manolis Triantaphyllidis.). But how much variation is there in Triantaphyllidis’s Grammar? And how much variation is excluded or simply left unaccounted for? Τo answer these questions in a precise manner, we may now apply the exact procedure for measuring prescriptivism – or its lack thereof – that was introduced in the previous section.  

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To avoid the ambiguity between a prescriptive and a descriptive statement, I have only counted explicit permissives in Triantaphyllidis’s Grammar. As explained already, correctives proper would be difficult to pin down, because they remain ambiguous as to their force. Indeed, some of the most well-known correctives in Triantaphyllidis’s Grammar are its famous omissions; as we have seen, the Grammar has been criticized precisely because it omits, e.g., the learned adjectives in -ής/-ές (ακριβής/ές, ‘precise’). One cannot count what is not there. Following Setatos (1991, 34–36), permissives were categorized according to the type of differentiation (i.e., the normative condition) that they are instances of. The results are summarized in Table 1: Table 1: Types of variation (permissives) in Triantaphyllidis et al. (19782 [19411]).  



Differentiation according to…

Permissives

1. genres or registers

408

2. high/low variants (διτυπίες -πολυτυπίες)

278

3. differences in meaning/etymology

240

4. frequency (“rarely”, “more rarely”, “most rarely”, “often”, “sometimes”, “occasionally”, “some ...”, “(...)”, etc.)

217

5. origin – foreign words and foreignisms

151

6. standards and their spread (“koine”, “contemporary”, “new”, “modern” or “modernized” language)

112













7. stylistic differentiation

97

8. linguistic sentiment – writers’ preferences and habits

88

9. strict or loose application of rules

50

10. dialectal/local variation

48









Total

1689

In this summary presentation, type-permissives are not separated from token-permissives; it should be noted that a whole block of token permissives (especially those appearing within parentheses, a devise used in the Grammar to indicate less preferred forms) often had to be indexed as an instance of a single type-permissive. Also, elliptical and non-elliptical permissives are not separately presented. To get an idea of how frequent permissives are in Triantaphyllidis’s Grammar, it should be taken into account that the Grammar consists of 446 pages (not counting the Table of Contents and the Index). The front matter, the Preface, A short History of the Greek Language (pp. 1–8), and the Orthographic Guide at the end of the Grammar (pp. 405–428) were

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not indexed. The Orthographic Guide, as it is to be expected, consists mainly of correctives proper (N=164); but it also contains some non-negligible references to variation in writing. Table 1 is quite revealing as regards Triantaphyllidis’s attraction and tolerance towards variation. We notice first that there are only a few references to localisms and dialectalisms (48/1,689, i.e. 2.8 % of the total number of permissives). There is a relatively high number of references to high/low (diglossic) variants (278, 16.5 %), which are suggestive of Triantaphyllidis’s ‘compromise’ with katharevousa, for which he had been accused by Psycharis (1924). It is very interesting however that the Grammar contains references to standards beyond demotic and katharevousa; there is mention of new trends, of urban koines, and local standards (112, 6.6 %); the grammatical statements are sensitive to tendencies (217, 13 %) and it is often stated (metalinguistically, so to speak) that the very grammar rules can only be applied loosely (50, 3 %). It should also be noticed that Triantaphyllidis and his associates seem to employ consistently a somewhat primitive sociolinguistic system of usage labeling, possibly of lexicographic origin. Further, Triantaphyllidis’s account of language contact is not a puristic one, as it is evidenced by a considerable number of references to word origins, foreignisms, loans, adaptations, calques, etc. (151, 8.9 %). One can barely find in the corpus of the Grammar twenty (20) correctives proper concerning foreign words or foreignisms, and these are mostly orthographic, e.g. they provide instruction on how better to transliterate foreign words or foreign author names. Triantaphyllidis leaves plenty of room to stylistic variation – broadly conceived: as accommodation to a genre or register (408, 24 %); as a formality scale, an alignment with the situation, an indicator of the speaker’s intention or the speaker’s specific speech act (97, 5.7 %); as a marker in a literary style (88, 5 %); etc. There are also in the Grammar 268 citations from 44 Modern Greek authors and only 25 from traditional folk songs. The Modern Greek Grammar (of Demotic), however, is far from being a stylistics Guide. Its main contribution is the systematic presentation of Modern Greek morphology. “[T]he Trianta[ph]yllidis grammar has not yet been superseded as the most authoritative account of Modern Greek morphology” (Mackridge 2009, 301). It is the morphology part of the Grammar that is being very often epitomized, starting with Triantaphyllidis’s own “Short Grammar” (19652 [19491]), intended for school use. Iordanidou (1999) is one of the earliest studies showing that contemporary Standard Modern Greek admits of considerable variation (that is, it is not a ‘uniform’ standard). Indeed, Triantaphyllidis’s ‘mixed’ standard has become, one might say, naturalized (or it is being justified as such) precisely in the framework of modern, descriptive linguistics. It prevails in reference works such as descriptive Grammars and Dictionaries. What once had been accused of as an artificial ‘mixed’ norm has now become, quietly, a perceptual guide to Modern Greek’s ‘richness’ or ‘plurality’. Grammarians of Modern Greek now take for granted the existence – and prom-

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inence – of the urban variety presumably spoken and written by the educated middle class (cf. Mackridge 1985: vi). Holton/Mackridge/Phillipaki-Warburton (1997: XV) state in their Introduction to their scholarly Grammar of Modern Greek that  

the language described in our grammar is the form spoken and written by educated Greeks from the urban centers of Greece, which, while it is primarily based on demotic vocabulary, phonology, morphology and syntax, displays a significant influence from katharevousa.

This could have been a statement by Triantaphyllidis himself. Triantaphyllidis’s standardization formula (Standard = demotic + learned forms, as necessary) has assumed the status of a descriptive principle; recent Modern Greek Grammars (and Dictionaries) persistently mark real or alleged differences between ‘learned’ and ‘popular’ forms or vocabulary items (λόγια vs. λαϊκά στοιχεία). The distinction has even been subject to grammatical theorizing influenced from markedness theory (AnastasiadiSymeonidis/Fliatouras 2003). One almost needs to be reminded that permissives, too, are acts of prescription.

4 Naturalization and neutrality In studies of political ideologies, ‘naturalization’ is considered to be that prominent function which renders beliefs “natural and self-evident” (Eagleton 1991, 58). The equivalent to naturalization for language ideologies is what is often called ‘neutrality’, a notion that is closely associated with a Standard Language (see Crowley 1989, 129 ff., 186; Mugglestone 2003, 7 ff., 258, concerning the history of English; cf. Rutten 2016 for a general discussion with reference to Dutch). Neutrality is usually thought of in geographical terms and it is better explained with respect to accent. According to Henry Sweet, the English phonetician and grammarian, “the best speakers of Standard English are those whose pronunciation, and language generally, least betray their locality” (cited in Mugglestone 2003, 4). Jespersen (1964, 61) seems to have expressed a similar view as early as 1890. But the idea of a non-localized, non-dialectal norm is much older; it certainly goes back to Dante’s De Vulgari Eloquentia (composed between 1302 and 1305), which represents one of the earliest attempts for language planning; in it, the Italian poet argues for the existence of or the need for a Standard different from all local varieties (Ewert 1940, 363). An accent that hides aspects of a speaker’s identity is of course a possibility, but it cannot be described as ‘neutral’, as it certainly reveals other aspects of that same identity (including the fact that a speaker seeks to hide his/her original locale). It takes a moment’s thought to realize that this notion of accentual neutrality is absurd at a more elementary level. It is tantamount to the supposition that a standard accent is but the lack of accent – that it is “accentless” (Mugglestone 2003, 40, 46) – either to its properties or to its implications for the speaker. But there is no variety without an  

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accent. A ‘neutral accent’ is bound to be a perceptual or attitudinal phenomenon, characteristic not of the Standard Language as of its standards. To the degree that accents are markers of social class, the notion of ‘accentual neutrality’ could also be criticized as ideological, biased, class-discriminatory (cf. Crowley 1989, ch. 6), even chauvinistic or racist. But this would be the kind of excessive criticism that merely overlooks the essential: there is no neutral accent, because there ain’t no accentless accent. ‘Neutrality’ (i.e., the attitude towards a Standard), does not apply to accents only; it is part and parcel of the ideology of a Standard Language as a whole. Again, I am speaking here of Standard Modern Greek. Triantaphyllidis (19632 [19261], 181–187), the founder of this Standard, admitted that the variety he so much contributed to codifying was closely associated with nationalism, but he refused to identify it with any other ideologies involved in the Language Question debate, especially those that were stigmatized by the ruling political elites of his times (communism, socialism, slavism, atheism …). His institutional Modern Greek Grammar (of the Demotic) had been assigned to Triantaphyllidis et al. by the fascist regime (Mackridge 2009, 301). This has been a puzzle for the supporters of Triantaphyllidis. But if a Standard is ‘ideologically neutral’, then it should be neutral with respect to any ideology, including the fascist one. This de-ideologization of the Standard is on a par with the neutralization of an accent. Just as accentual neutrality implies that speakers of a Standard Language cannot be pinned down as to their origin (Crowley 1989, 186), de-ideologization, i.e. ‘ideological neutrality’, should be taken to imply that speakers cannot be pinned down as to their ideologies. (But keep in mind: de-ideologization is just another ideology, perhaps the dominant one; just as a ‘neutral accent’ is just another accent, the standard one.). In this section I will discuss a group of morphophonological variables whose high/low variants were closely associated with the katharevousa/demotic varieties of Greek diglossia. The variables were highly stereotypical (in the sense of Labov 1972, 314), and also full of political implications; the use of each variant would signal not just a speaker’s beliefs about language but also his/her political affiliation. As we will see, their social meaning has now, in the post-diglossia period, changed considerably. Variants have been ‘neutralized’: they are not associated with political ideologies anymore; they are not ideologically-bound. Hence, the variables discussed here provide evidence for the newly acquired ‘neutrality of the standard’. Morphological variation due to diglossia has been considered to be an indicator of ideological and/or stylistic differentiation in the Greek press. Unfortunately, the relevant linguistic studies seem intuitive and they do not provide quantitative results. In the relevant literature, there are roughly two explanations of morphophonological variation in the press: Chatzisavvidis (1999a; 1999b) seems convinced that the linguistic variables associate strongly with the political affiliation of the news-

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papers, which he takes for granted; Iordanidou (2001; 2009), on the other hand, employs a corpus-based approach and comes to the following conclusions: considerable morphophonological variation is evidenced within the same newspaper, within newspapers of the same political affiliation (especially those of the center), even within the same article; morphophonological variation could only partly be accounted for by stylistic considerations. I report here on Kolia et al. (2011), a students’ research that I have supervised. Kolia et al. (2011) provide an elementary statistical analysis of morphophonological variation in the Greek press which sufficiently proves that a) there is no strong connection between the use of high/low variants and the political stance or ideology of a Greek newspaper, and b) morphophonological variants loosely correlate with a stylistic factor: the genre of a journalistic text – although the correlation is not statistically significant. The research was conducted in the week 14–22 November 2009. Six (6) widecirculation (national) daily newspapers were selected: Ριζοσπάστης, Η Αυγή, Το Βήμα, Ελευθεροτυπία, Απογευματινή and Η Βραδυνή (the last three have since then ceased publication). The selection of the newspapers was such as to allow equal representation of the then existing political spectrum of Left, Center, Right. The political affiliation of each newspaper (Left: Ριζοσπάστης and Η Αυγή, Center: Το Βήμα and Ελευθεροτυπία, Right: Απογευματινή and Βραδυνή) was based on independent criteria that required separate validation. A complex index was constructed which took into account: the view from the directors’ table, the self-identification of major journalists in each newspaper, and newspaper space devoted to party politics. The linguistic variables studied were the following (in each pair the first variant is presumed to be the high/demotic one, the second is the corresponding low/archaistic): 1. variation in the consonant clusters of the passive aorist’s base; e.g., fricative-stop: -χτ-/-φτ-/-στ- vs. fricative-fricative: -χθ-/-φθ-/-σθ- in forms such as {ορί-στ-ηκε, ορί-σθ-ηκε}, ‘was appointed/defined’; 2. similar variation in the consonant clusters of independent word forms, e.g. {χθες, χτες}, ‘yesterday’; 3. 3rd person sing./pl. of passive aorist {-ηκα/-ηκαν, -η/-ησαν} in word pairs such as {κλάπηκαν, (ε)κλάπησαν}, ‘were stolen’; 4. {-α, -ως} adverbial endings in words such as {απλ-ά, απλ-ώς}, ‘simply’ (cases where each variant is presumably associated with a different meaning, according to the form-function fallacy, were not taken into account; e.g. άμεσα, ‘directly’, and αμέσως, ‘immediately’); 5. variation of stress in the sing./pl. genitive of nouns and adjectives; e.g., {εγκύκλιου, εγκυκλίου}, ‘circular’, {δημόσιων, δημοσίων}, gen. ‘public’; 6. masc. sing. gen. {-α, -ός} in nouns such as {μήν-α, μην-ός}, gen. ‘month’; 7. masc. sing. gen. {-έα, -έως} in nouns such as {εισαγγελέα, εισαγγελέως}, gen. ‘prosecutor’;

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8. masc. sing. gen. {-ή, -ούς} in adjectives such as {αδα-ή, αδα-ούς}, gen. ‘ignorant, naïve’. One more linguistic variable was taken into consideration, which, interestingly enough, seems to have completely lost its discriminatory power: 9. variation in the gen. fem. endings {-ης, -εως} of the so-called ‘third-declension’ nouns; e.g., {κυβέρνησ-ης, κυβερνήσ-εως}, gen. ‘government’. This latter variable is of some historical significance. After the language reform of 1976, which established demotic as the “panhellenic instrument of expression” (Frangoudaki 1992), the variable {-ης, -εως} soon acquired the status of a stereotype; it was believed that the choice of one or the other variant was strongly indicative of a speaker’s political affiliation. At the time the research took place (2009), the demotic, non-archaistic variant gen. –ης seems to have prevailed over gen. -εως (only 2 out of 354 occurrences of the variable are instances of gen. ‑εως, and those occurred in the set phrases εφημερίδα της κυβερνήσ-εως, ‘Official Government Gazette’, and πάσης φύσ‑εως, ‘of all kinds’). For this reason, results are not shown for this variable. Two research hypotheses were tested: 1. the number of learned, archaistic morphological variants should increase as one moves, so to speak, from the left-wing to the right-wing newspapers; 2. archaistic variants should also increase with the formality associated with each newspaper genre, assuming the following hierarchy: comments and notices (παραπολιτικά: short entries, mostly satirical) → feature articles → editorials (a newspaper’s leading article). By combining the two hypotheses, the learned morphophonological variants are expected to increase on the two vectors: Left → Center → Right (Hypothesis 1) and also: Comment → Feature → Editorial (Hypothesis 2). None of these hypotheses were confirmed, while the interaction of the two factors (political affiliation and genre) also did not provide statistically significant results. The results are diagrammed in Fig. 1A. No clear pattern is detected by newspaper; only the percentages for Ριζοσπάστης (affiliated with the Communist Party of Greece) seem to be lower compared to the percentages for the other newspapers. Figure 1B presents the percentages of the high/learned variants not by newspaper but by political affiliation; figures for the political affiliation are calculated as percentages of pairs of newspapers: Left=Ριζοσπάστης + Η Αυγή, Center=Το Βήμα+Ελευθεροτυπία, Right=Απογευματινή+Βραδυνή). Again, the newspapers of the Left seem to have the lower percentages of high/learned variants, while the percentages for the newspapers of the Center are higher than those of the Right – contrary to what is expected. Thus, the hypothesis 1 is rejected.

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Figure 1A: Percentages of learned/high variants in six Greek newspapers Source: Kolia et al. (2013, 145)  

Figure 1B: Percentages of learned/high variants according to the political affiliation of the Greek newspapers  

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Figure 2A: Percentages of learned/high variants according to newspaper and genre Source: Kolia et al. (2013, 148)  

Figure 2B: Percentages of learned/high variants according to a newspaper’s political affiliation and genres.  

In Fig. 2A, the percentages of high/learned variants are presented by newspaper and also by genre (editorial/leading article – feature article – short comment). There seems to be a slight correlation with genre, which becomes more evident if we group the newspapers by their political affiliation, as we did above: see Fig. 2A for combined results by affiliation. The number of high/learnt variants seems to decrease in accordance with the formality scale: Comment → Feature → Editorial (Hypothesis 2). How-

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ever, the results are not statistically significant and do not allow any firm generalizations about how the linguistic variables chosen are stylized in the Greek press. In conclusion, the use of high/low variants does not correlate significantly with either the political stance of the newspaper or with the presumed formality/informality of the newspaper genres. The view of Chatzisavvidis (1999a; 1999b) that there is a political ideologization of the diglossic variation should be rejected; however, since his research was conducted in the years 1997–1998, it could very well represent an earlier stage in the social life of high/low variants. (It should also be pointed out that Chatzisavvidis took into consideration a slightly different set of variables than the ones considered here.) On the other hand, Iordanidou (2001; 2009) seems to be right in pointing out that considerable morphophonological variation exists within the same newspaper-spectrum, so to speak, which includes newspapers of both center and right political affiliations. From the existence of considerable variation within and across a political spectrum, we can certainly conclude that the major morphological markers of katharevousa have ceased to index a ‘conservative’ political ideology, although some of the major morphological markers of demotic may continue to index a self-proclaimed ‘progressive’ ideology (probably associated with some of the more radical varieties of the Left). In addition, the stylistic factor only marginally affects the use of the high/low variants. It seems that the linguistic variables discussed in our study are in a process of ‘neutralization’, of becoming de-ideologized, without at the same time being subject to widespread stylistic variation. At least, this seems to be the case in the major Greek newspapers. We have stressed that neutrality is an attitudinal factor. It is part of the language ideology surrounding a Standard. An ideological process, namely the deideologization of the language standards, seems to affect or to have been affected by changes in the Standard Language itself.

5 Discussion In this chapter I have presented a view of a Standard Language as both a standard (a norm, an ideal, an ideology) and a Language (i.e., actual usage which, more or less, conforms to the norm, the ideal, the ideology). We have seen that a Standard Language is impossible to define without reference to its standards. We have also seen that there is interplay between the standards and the Language; that standards are informed by actual usage and that usage is prescribed to conform to the standards that prevail within a particular community over a certain period of time. Even when standards are defied and new (stylistic) uses are developed, these uses cannot be understood without reference to the standards, old or new. Fromkin/Rodman/Hyams (2011, 440) were wrong: we can identify the speakers of a Standard Language by the standards they employ in their speech or writing – of course not with absolute precision, since norms are never precise.

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There are aspects of language standards (and of the ideology surrounding them) that cannot be taken literally. For example, a Standard Language may be believed to be ‘uniform’ or ‘neutral’. Uniformity and neutrality (de-ideologization) are ideological constructs and they cannot be taken at face value. Milroy and Milroy (1999, 22, 51, 58), among others, stress uniformity as the primary aim of standardization (cf. Milroy 2001, 531: “standardization consists in the imposition of uniformity upon a class of objects”). One would have expected that they should merely expose uniformity as a pretheoretical notion, not that they would endorse it at the theoretical level. Uniformity, obviously, forms part of the “standard language ideology”. It is a perceptual phenomenon; it might very well be a collective hallucination rather than the actual result of standardization practices. But then, this is the hazard to approaching Standard Languages through language standards: ideological categories, i.e. concepts and beliefs evidenced in the metalanguage that guides the practices of standardization, are often taken at face value and become part and parcel of the sociolinguistic theorization. The same applies to the concept of ‘neutrality’. Although the concepts of a Standard Language and of language standards cannot be kept apart, a procedure is needed for establishing how language standards affect a Standard Language or vice versa. We have identified the route from metalanguage (language standards, ls) to language (Standard Languages, SL) through what we have called correctives, a type of speech acts, with a direction of fit from the metalanguage to language, which play a prominent role in our performative theory of language standardization. We have symbolized this process as follows: ls →s SL. Corrective practices are known mostly, if not exclusively, through corrective instructions, which combine proscription with prescription: ‘one should not say or write X, one should say or write Y instead’. Each corrective instruction is part of a repertory employed by many members of a linguistic community at large or more narrowly by a community of literati. Corrective practices are social practices; they are collective and guided. One may assume that the groups of people who follow the correctives exhibit a certain social organization. Although the corrective instructions are issued by the few, they are addressed to the many; potentially, they are addressed to anyone who is literate. To follow an instruction means that one is trying to make her/his linguistic practice conform to it. Corrective practices are not employed solely by proofreaders, editors or other craft professionals (Cameron 1995, 34). Certainly, the practices of any such group of persons are of special interest, because they are much more organized (or ‘uniform’) compared to the corrective practices of others. Yet, the corrective practice is a phenomenon much more widespread, surpassing any linguistic division of labor. Let us think for a moment of the corrective practices associated with the raising of children (‘bad words’); or taboo words; or the corrective practice of euphemism; of ‘political correctness’; of avoiding sexist discourse (Paterson 2014) or racist expressions; let us think of censorship and self-censorship as a corrective practice; and, last but not least, of the many practices associated with standardization (for a panorama, see Curzan 2014).

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Nor is the case that corrective practices apply only to words or particular expressions – although words are the easiest targets of corrective practices. Correctives can also be directed to speech acts (such as swearing) or to speech events (such as an interview or a talk show, which are usually subject to preset specifications). Correctives may be concerned with whole registers (as it is the case with Guides for essay writing, or Guides addressed especially to journalists, etc.); or with particular literary forms (e.g., the iambic meter of fifteen syllables is considered by many in Greece to be the ‘national rhythm’). A corrective behavior may be prejudiced against whole languages (e.g., many Greeks consider Italian to be a ‘musical language’ and German to be a ‘barbarian’ one). Corrective instructions, when followed, result to the respective corrective practice; that is, the result of a corrective is not to write or to say X but to write or to say Y instead. Notice that a corrective is likely to be issued when both X and Y are attested, e.g. when there is noticeable linguistic variation. Also, a directive presupposes that one is aware of X and Y; in a way, the corrective instruction is what brings X and Y to the attention of those who are apt to follow it. Correctives raise awareness about language. Corrective practices are part of a re-/de-standardization procedures. Since the corrective practice combines a (collectively performed) activity with a metalinguistic standard (a norm, an attitude or an evaluation), standardization is a most appropriate field for studying the effects of corrective instructions. A Standard Language is, just like a corrective practice, two things at once, i.e. it is both a Language (a dialect among other dialects) and a standard (i.e., a norm by means of which other dialects are ‘measured’ and evaluated). What is more, in standardization several forces (administrative, educational, etc.) are united, and they are all necessary in order for correctives to assume efficiency and for corrective practices to spread. These forces in support of standardization are the multipliers of correctives. The systematic study of corrective instructions has helped us diagnose the standards by means of which standardization is achieved; one can observe changes in these standards and form hypotheses about possible linguistic changes to which the changes in standards respond. The analysis of the explicative parts of such instructions – and the analysis of metalinguistic discourse in general – can help us understand whether and how linguistic change is perceived and ideologized within a linguistic community (see also the chapter by Spitzmüller in the current volume). We have adopted a descriptive approach to prescriptivism. Just as language variables are tools for a descriptive approach to variation, correctives can be studied as sociolinguistic variables (with variants X and Y). One can thus quantify the effects of prescriptivism within a variationist paradigm. Indeed, correctives are the elementary units for the quantitative study of prescriptivism within a variationist paradigm. Correctives are mediators between metalanguage and language. Accordingly, the study of corrective instructions (in Usage Guides, traditional grammars, language

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education textbooks, etc.) is important for diagnosing a) the corrective repertories that compete or prevail within a linguistic community; b) the evolution of such repertories and concomitant developments in a standard; c) the communication trajectories through which norms are propagated and diffused within a community. The study of correctives can also help us form informed hypotheses about d) whether and how standardization, language attitudes or ideologies affect language change, i.e. whether there is a causal chain connecting correctives with changes of the type X→Y. The study of correctives as elementary units for the quantification of prescriptivism presupposes a performative theory of language standards and language ideologies in general (Moschonas 2008; 2014, 422–424). Language ideologies should be seen as performing speech acts at a metalinguistic level. The direction of fit of such speech acts is from a (meta‑)language to a language or, alternatively, their perlocutionary effect is ultimately locutionary, i.e. the effect is some change in linguistic behavior. Since corrective instructions are prescriptive, their illocutionary force is that of directives. Hence, the felicity conditions for corrective practices are also conditions for linguistic change: just as the performance of a speech act may be ‘happy’ or ‘unhappy’ under particular circumstances, effecting a linguistic change can be successful or unsuccessful in particular periods of time under socio-cultural conditions that need to be specified. A theory of the performative character of language ideologies should meet several requirements. First, a typology of language ideological performatives should try to comprehend linguistic practices rather than individual acts. Language ideologies manage to perform their magic only through collective practices such as standardization, linguistic purism, language learning and teaching, etc. Obviously, such prescriptive practices should be assigned irreducible ‘collective intentions’ (Searle 2002, 90– 105). Second, collective intentions have collective manifestations. Hence, performative types at a metalinguistic level should be associated with mass-mediated communicative sequences (Moschonas 2014); they should also be associated with particular genres, such as Usage Guides or editors’ manuals (Cameron 1995; Tieken-Boon van Ostade 2010; 2017). In other words, categories of performatives should not be uncritically carried over from the pragmatics literature associating speech acts with specific utterance tokens. For the study of the performative character of language ideologies, corrective practices are exemplary in several respects: correctives are socially valued (they correlate to language standards as well as values, beliefs and attitudes within a community). They can be diagnosed at a linguistic level, although they are expressed, argued and debated at a metalinguistic level. They have straightforward ‘sincerity’ and ‘content conditions’, namely the ones recognized in corrective instructions. Corrective practices follow a certain social organization. Especially when serving standardization, correctives follow the route of mediation: from an elite to a small public of followers, devotees or propagators and from there to the general public. It is

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the mid-circle of followers and propagators who usually employ the print media for expressing their views about norms and language. There is now a considerable body of research on prescription, standardization, and language change. Cameron (1995) and Curzan (2014) call for a re-evaluation of the role or prescriptivism in the social life of languages: prescriptivism should not be dismissed as an unjustifiable attitude towards language; rather, it should be studied as part of a “standard language ideology”. There are significant studies that seek to diagnose the effects of prescriptivism on language change: Tieken-Boon van Ostade (1994; 2006); Langer (2001); Auer (2006; 2009); Anderwald (2014; 2016); Hinrichs/Szmrecsanyi/ Bohmann (2015); Tieken-Boon van Ostade/Percy (2016), to mention just a few. Auer (2006; 2009), Anderwald (2016), and Hinrichs/Szmrecsanyi/Bohmann (2015) may be singled out for the precision in the methodology they employ; these studies demonstrate the effects of prescriptivism by statistically correlating two types of language corpora: prescriptive texts containing corrective instructions (as they occur in Usage Guides and traditional Grammars of a language) with historical language corpora. Auer (2006, 33–35) cites Konopka (1996) and Takada (1998) as precursors to this type of studies which seek to correlate “precept” with language corpora. The studies in Kristiansen/Coupland (2011) focus on media norms in contemporary Europe in order to reveal the processes of ‘demotisation’ (a multiple-standard configuration in which more than one variety satisfies the ‘best language’ criterion) and ‘destandardisation’ (the configuration whereby the standard language ideal itself is lost; see especially Coupland/Kristiansen 2011). The empirical, experimental studies in Kristiansen/Grondelaers (2013) seek to diagnose important shifts in the alignments between language standards and standard languages in several European countries. The twin volumes Thøgersen/Coupland/Mortensen (2016) and Mortensen/Coupland/Thøgersen (2017) seek to account for such realignments through the concept of ‘styling’. I believe that the performative theory of standardization developed in this chapter can provide a unifying framework for the diverse approaches to prescriptivism evidenced in the relevant literature. It could also contribute to re-examining and problematizing some quite common misconceptions about standardization, such as the belief in the uniformity and the neutrality of a Standard or the belief that language standards, like Platonic ideas, do not change or they change very slowly. This may be the case for Standard English: it is indeed claimed that ‘proper English’ is still defined by the same standards that were formulated in the late 16th century (Machan 2009; cf. Schaffer 2010). Modern Greek, however, as well as many other ‘reformed’ languages have seen abrupt changes in their standards. A significant problem with standardization studies is that most of them are part of a national literature and they are not accessible to the English-only reader, while only a handful of studies are comparative (see Auer 2009 on the need for a “comparative standardology”). Standardization studies have to overcome the language barrier set by each national literature. The literature on standardization can only profit by com-

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parative empirical research on diverse languages and diverse standardization processes.

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Bettina M. Bock und Gerd Antos

3. ,Öffentlichkeit‘ – ‚Laien‘ – ‚Experten‘: Strukturwandel von ‚Laien‘ und ‚Experten‘ in Diskursen über ‚Sprache‘ Abstract: „Öffentlichkeit dringt heute bis in private Kernbereiche vor“. Dies ist kein Gemeinplatz, der eine der folgenreichsten Konsequenzen der ‚digitalen Revolution‘ zusammenfasst, sondern die erstaunlich hellsichtige Diagnose des epochalen Buches „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1961) von Jürgen Habermas. Eine zweite Diagnose scheint ebenfalls von ungeschmälerter Aktualität: „‚Öffentlichkeit‘ muß ‚gemacht‘ werden, es ‚gibt‘ sie nicht mehr“ (Habermas 1971, 239). Beide Bestimmungen gelten in einem damals kaum vorstellbaren Maße für den heutigen, durch die Digitalisierung geprägten Strukturwandel der Öffentlichkeit sowie der Rollen von Experten und Laien. Typisch hierfür ist mit Blick auf die Rolle des Laien einerseits die Propagierung eines neuen Bürgerwissens als ‚Citizen Science‘ (Finke 2014), andererseits ein neues Verhältnis von Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit (Weingart 2005). Im folgenden Beitrag soll dieses verwirrende, weil sich ‚entgrenzende‘, aber auch immer wieder neu formierende Wechselverhältnis anhand der öffentlichen Auseinandersetzung über ‚Sprache‘ und ‚Kommunikation‘ näher dargestellt werden.  

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Strukturwandel von ‚Experten‘ und ‚Laien‘ ‚Laien’ und ‚Experten’ in Diskursen über Sprache Fallbeispiel: „Leichte Sprache“ Literatur

1 Strukturwandel von ‚Experten‘ und ‚Laien‘ 1.1 ‚Öffentlichkeit‘ Mit Öffentlichkeit lässt sich in demokratisch-pluralistischen Gesellschaften zunächst einmal jener gesellschaftliche Bereich bezeichnen, „der über den privaten, persönlichen, relativ begrenzten Bereich hinausgeht, für die Allgemeinheit offen und zugänglich ist“ (Schubert/Klein 2007, 230). Damit einher geht eine zum Beispiel durch Massenmedien hergestellte Transparenz in öffentlichen Angelegenheiten, beispielsweise bei politischen Entscheidungen (ebd.). Öffentliche Kommunikation kann mit Blick auf den Gegensatz öffentlich – privat als diejenige allgemein zugängliche Kommunikation gefasst werden, in der die Akteure und Adressaten sozial relativ unbestimmt bleiben. https://doi.org/10.1515/9783110296150-004

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Überschneidungsbereiche gibt es aber auch mit offizieller Kommunikation – sofern sie in der Öffentlichkeit stattfindet: Hier treten sich die Kommunizierenden öffentlich etwa als Amtspersonen und Institutionen in einer offiziellen Rolle gegenüber, beispielsweise als Politiker, als Vertreter einer Behörde oder als Geschäftsmann. Zentral für den heutigen Begriff und das Phänomen Öffentlichkeit ist der ungehinderte und ‚offene‘ kommunikative Austausch in größeren gesellschaftlichen Foren. Impliziert ist damit eine potenziell allen zugängliche Sprachform mit einem geringeren Grad an Fachsprachlichkeit, selbst bei fachlichen Themen. Die daraus resultierenden innersprachlichen Übersetzungsprobleme stellen kommunikative Herausforderungen insbesondere für jene Akteure dar, die mit einer Botschaft in der Öffentlichkeit wahrgenommen und verstanden werden wollen. Das betrifft insbesondere so genannte ‚Experten‘, sofern sie sich ‚Laien‘ gegenüber in der Öffentlichkeit verständlich machen wollen bzw. müssen. Während man früher den ‚Experten‘ pauschal den nicht sachkundigen, so genannten ‚blutigen Laien‘ gegenüberstellte, hat sich seit geraumer Zeit aus einer Reihe von Gründen ein sozialer als auch wissenssoziologischer Strukturwandel vollzogen, was teilweise zu einer ‚Entgrenzung‘ und damit verbunden: zu einer auch terminologischen Verwischung zwischen Laien- und Expertentum geführt hat. Der Ausdruck ‚(die) Öffentlichkeit‘ verleitet mitunter zu dem Fehlschluss, es gebe nur eine Öffentlichkeit. Auch der in der Wissenschaft(skommunikation) fest verwurzelte Gegensatz zwischen (Sprach-)Wissenschaft und Öffentlichkeit (vgl. Spitzmüller 2015, 320) basiert auf einer solchen Annahme. Heutige pluralistische Gesellschaften erzeugen jedoch eine Vielzahl an Teil-Öffentlichkeiten (Schubert/Klein 2007, 230): Insofern existiert natürlich auch eine (bzw. viele) wissenschaftliche Öffentlichkeit(en), die allerdings nicht identisch ist (sind) mit dem öffentlichen Raum, in dem laienlinguistische Diskussionen stattfinden. In jedem Fall gibt es jedoch keine einfache Zuordnung in dem Sinne, dass ‚Laien‘ sich in der Sphäre der Öffentlichkeit äußerten, während ‚Experten‘-Kommunikation in einem exklusiven, nicht-öffentlichen Raum stattfände. Historisch betrachtet hat in den vergangenen Jahrhunderten ein Wandel des Bedeutungsgehalts von ‚Öffentlichkeit‘ stattgefunden. Das Wort offenlich (später ‚öffentlich‘) bezeichnete im Mittelalter und bis ins 17. Jahrhundert hinein „eine Sache, die klar und deutlich zu sehen ist und die vor jedermann geschieht“ (Schiewe 2004, 60). Es steht im Gegensatz zu ‚geheim‘, ‚heimlich‘, ‚verborgen‘. Daneben existierte der Ausdruck publicus aus der Sprache des römischen Rechts. Er bezeichnete die Rechte und Pflichten des Herrschers, markierte also den ‚staatlichen’ Bereich (und erinnert somit an den Begriff des Offiziellen), und stand im Gegensatz zu ‚geheim‘. Im Laufe des 17. Jahrhunderts kommt es dann zu einer Identifizierung von öffentlich und publicus. Unser heutiger Begriff von ‚Öffentlichkeit‘ entwickelt sich etwa seit dem 19. Jahrhundert (Schiewe 2004, 34 ff.): Während um 1800 mit „Öffentlichkeit“ meist noch die bloße Übersetzung von „Publizität“ gemeint war, also der gesellschaftliche Rahmen, in dem die Rezeption von Kunst und Literatur erfolgt, bekommt das Wort im Zuge des  

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Liberalismus nach 1815 die zusätzliche Bedeutung von ‚Raum, in dem sich die öffentliche Meinung bildet und mit dem Anspruch eines Gegengewichtes zur staatlichen Herrschaft auftritt‘. Im 20. Jahrhundert erhält Öffentlichkeit durch Massenpresse und Massenmedien ein zusätzliches Bedeutungsmoment: das der Beeinflussbarkeit und sogar Manipulation (Schiewe 2004, 59 f.). ‚Öffentlichkeit’ steht nun in einem grundlegenden Zusammenhang zu Sprache:  

Öffentlichkeit in dem Sinne, dass möglichst viele Menschen sich untereinander über ‚öffentlich relevante Themen‘ verständigen können, ist nur dann zu erreichen, wenn diese Menschen auch die gleiche Sprache sprechen. (Schiewe 2004, 99)

Im 19. und 20. Jahrhundert findet eine weitere funktionale und soziale Ausdifferenzierung der Sprache statt. Schiewe beschreibt diese Entwicklung, insbesondere die Auswirkungen der Wissenschaftspopularisierung seit dem 19. Jahrhundert, als ambivalent: Der Entlehnungsschub aus den Wissenschaftssprachen in die Alltagssprache habe den Vorteil einer „Verbreitung und Vertiefung von Bildung, vielleicht aber auch nur von Halbbildung“ und ermögliche öffentliche Kritik an wissenschaftlicher Forschung und Positionen (Schiewe 2004, 97 f.). Was als Nachteil dieser Entwicklung erscheinen mag, ist von unmittelbarer Bedeutung für das Phänomen der Delimitation (Entgrenzung) zwischen Experten- und Laientum:  

Auf der Seite der Verluste, der Nachteile, aber muss, jedenfalls langfristig, auch gesehen werden, dass der Wissenschaftler, indem er ein größeres als nur das Fachpublikum erreicht, die Rolle des Weltinterpreten annimmt und zur Verdrängung von Alltagswissen beiträgt. Es kommt zu einer Vermischung zweier Sphären, zweier Formen der Bewältigung und Ansicht von Welt und Lebens [sic]: der alltäglichen und der wissenschaftlichen. (Schiewe 2004, 98)

1.2 ‚Laie‘ Das Wort Laie leitet sich von griechisch λαός (laos) für ‚Volk, Menge‘ ab. Nach seiner Karriere im religiös-kirchlichen Raum als Gegenbegriff zum Klerus wurde mit dem Aufkommen des Protestantismus dem Laien eine neue selbstbestimmte und vom Priestertum weitgehend emanzipierte Rolle zugewiesen. Dass mit der Arbeitsteilung und vor allem in den Wissenschaften sich immer mehr Fachsprachen herausbilden, die der Gemeinsprache als sprachliche Grundlage der Kommunikation über ein bestimmtes Wissen gegenübergestellt werden, hat dazu beigetragen, dass der LaienBegriff historisch abgewertet wurde (Kalverkämper 1990, 100). Vor diesem Hintergrund erscheint der Laien-Begriff zunächst nur als ein defizienter Modus des Experten-Begriffs: Der Laie definiert sich negativ zum Fachmann; es ist nicht umgekehrt; vielmehr sind begrifflich der Fachmann und sein fachliches Können der Maßstab, an dem sich der Begriff des ‚Laien‘ orientiert. (Kalverkämper 1990, 97)

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Statt des starren Gegensatzpaares von Experte und Laie lässt sich auch ein Kontinuum postulieren, das die Qualität der Fachlichkeit als außersprachliche Kategorie mit Qualitäten der Fachsprachlichkeit verbindet (Kalverkämper 1990, 122). Im Sinne eines „skalare[n] Gleiten[s]“ von ‚fach(sprach)lich merkmalarm‘ über ‚fach(sprach)lich merkmalangereichert‘ bis hin zu ‚fach(sprach)lich merkmalreich‘ ist so die Abbildung von Zwischenfällen möglich (Kalverkämper 1990, 118). Gleichzeitig wird das Merkmal der Fachlichkeit als verbindendes Element von Experten- und Laientum deutlich. Dieses Kontinuum spiegelt sich auch in Bezeichnungen wie „interessierter Laie“ oder in der Redensart: „Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich“. Eine Alternative, Laientum (nicht nur) als defizienten Modus von Expertentum aufzufassen, hat ab den 1980er Jahren vor allem in der Wissenssoziologie und Psychologie dazu geführt, Laien und ihre Vorstellungen und Vorurteile über bestimmte Wissensdomänen einer näheren Untersuchung zu unterziehen. Im Vordergrund standen dabei so genannte ‚Alltagstheorien‘ (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1981) oder „subjektive Theorien“ (Groeben u. a. 1988). Typisch für diese Erforschung von ‚Laien-Theorien‘ sind sozial einflussreiche Deutungsmuster (u. a. auch Vorurteile), Handlungen und Werte darüber, was die Öffentlichkeit über die richtige Erziehung, über das Alter (Lehr/Thomae 1991) oder über Strafen denkt. Ferner geht es um Common-Sense-Erklärungen, ob und inwieweit man für Alkoholismus bzw. Drogenkonsum oder für Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht werden kann. Bedeutsam für diese Rehabilitation der ‚Laienkompetenz‘ (Müller-Kohlenberg 1996) waren vor allem die Arbeiten des Sozialwissenschaftlers Furnham (1988), der die Eigenschaften von Laien- bzw. Alltagstheorien in verschiedenen Domänen des sozialen Handelns zu systematisieren versucht hat. Er geht grundsätzlich davon aus, dass zwischen wissenschaftlichen Theorien und Laientheorien (lay theories) bzw. zwischen wissenschaftlichem und Laienwissen Strukturanalogien bestehen und unterscheidet acht Kriterien, nach denen sich gleichwohl beide voneinander abgrenzen lassen (Furnham 1988, 2 ff.): (1) Explizitheit und Formalisiertheit Laientheorien sind nach Furnham in der Regel eher implizit als explizit, zudem enthalten sie unausgesprochene, unspezifische Annahmen und Axiome; sie sind selten logisch durchstrukturiert oder in eine formal konsistente Form gebracht. (2) Kohärenz und Konsistenz Laientheorien sind oft widersprüchlich, inkohärent und inkonsistent. Sie können Annahmen enthalten, die nicht miteinander kompatibel sind, und zwar meist ohne dass dies bemerkt würde. (3) Verifikation vs. Falsifikation Laien suchen eher noch als Wissenschaftler nach Bestätigung für ihre Theorien und schenken Phänomenen, die sie widerlegen, mitunter wenig Aufmerksamkeit. (4) Ursache und Wirkung Laientheorien vertauschen immer wieder Ursache und Wirkung; sie stellen Kausalzusammenhänge her, wo bloße Korrelationen von Ereignissen vorliegen. Insbe 





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sondere in den Naturwissenschaften und der Psychologie sieht Furnham allerdings auch unter Experten eine solche Tendenz zur Kausalität (Furnham 1988, 4 f.). Erklärende vs. beschreibende Theorien Zumindest tendenziell seien wissenschaftliche Theorien eher erklärend und Laientheorien eher beschreibend, in dem Sinne, dass sie Beobachtetes vorrangig kategorisieren und typisieren. Interne vs. externe Handlungsbedingungen Laien unterschätzen gemeinhin die Bedeutung von externen, situativen Faktoren für die Erklärung menschlichen Verhaltens und gehen stattdessen davon aus, dass Eigenschaften der Persönlichkeit wesentlich bestimmen, wie sich ein Mensch in unterschiedlichen Situationen verhält. Dieser Punkt lässt sich auf sprachliche Phänomene übertragen: Laienlinguistische Theorien beinhalten oft die Vorstellung, dass es unveränderlich gültige, absolute Normen gibt, nach denen ein konkreter Sprachgebrauch beurteilt werden kann. Kontextfaktoren und mediale Bedingungen werden vernachlässigt. Kilian/Niehr/Schiewe (2016, 104 f.) nennen die Normativität als Charakteristikum laienlinguistischer Sprachbewertung. Allgemeine vs. spezifische Theorien Laien tendieren laut Furnham dazu, „Mini-Theorien“ für spezifische Phänomene zu entwickeln. Sie suchen eher Erklärungen für Einzelphänomene, als dass sie aus diesen auf allgemeinere Prinzipien und Zusammenhänge schließen würden. Schwache vs. starke Theorien Dieses Kriterium ist bei Furnham auf quantitative Forschung bezogen, es lässt sich jedoch auch allgemeiner verstehen: Wissenschaftliche Theorien sind bei ihm starke Theorien, weil bzw. wenn sie sich auf eine Vielzahl von Beobachtungen durch verschiedene Personen stützen, wenn die herausgearbeiteten Phänomene eindeutig sind und sich gut abgrenzen lassen, wenn mathematische Relationen klar sind, Vorhersagen präzise sind usw. Schwache Theorien basieren im Gegenteil dazu auf wenig vertrauenswürdigen, unpräzisen Daten, sie haben geringe Evidenz und sind mitunter mehrdeutig.  

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Obwohl Laien in diesem Ansatz ex negativo zu bestehenden Wissenschaftkonzepten definiert werden, wird ihnen im Umgang mit Wissen gegenüber dem traditionellen Laienkonzept durchaus eine neue Rolle zugesprochen (Wichter/Antos 2001; Beckers 2012). Darüber hinaus wurde die Laien-Experten-Dichotomie durch rezente gesellschaftliche Veränderungen verändert. Nicht zuletzt durch das Internet gelingt es zunehmend mehr Interessengruppen oder Einzelpersonen, eine gewisse fachliche Expertise über ein Spezialgebiet zu erwerben oder sogar „alternative“ Formen des Wissens in gesellschaftliche Diskurse zu tragen. Dazu nur wenige Beispiele: – Laien als Experten: Beim „ehrenamtlichen Engagement“ und in sozialpädagogischen Kontexten wird von Experten zunehmend auf die Bedeutung einer „Laienkompetenz“ verwiesen (Müller-Kohlenberg 1996; Müller-Kohlenberg/ Kardoff/ Kraimer 1994).

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Citizen Science (Bürgerwissenschaft): Historisch anknüpfend an z. B. Arbeiterbildungsvereine unterstützen Laien Wissenschaftler z. B. beim Naturschutz, in der Astronomie (Vogel 2010) oder in der Lokalgeschichte (u. a. durch Datenerhebung) oder überwachen bestimmte Entwicklungen in der Umwelt (z. B. biologische Veränderungen infolge des Klimawandels, vgl. Hand 2010). „Bürger schaffen Wissen“: Foren oder Selbsthilfegruppen ergänzen in zunehmenden Maße die wissenschaftliche Forschung. Mehr noch: Mitunter werden dabei vermeintliche oder tatsächliche fachliche Interessensverquickungen erkundet oder in Frage gestellt (Finke 2010). Selbstermächtigungs-Gruppen: Slogans wie: „Der Laie als Experte in eigener Sache“ (Hoefert/Klotter 2011, 209) machen nicht nur neue Interaktionsformen zwischen Professionellen und Klienten im Gesundheitswesen deutlich. Mit Blick auf ein (im Internet) „angelesenes Wissen“ problematisieren Patienten Ärzten gegenüber bestimmte z. T. selbst diagnostizierte Krankheiten und deren richtige Heilung. Eine andere Form der Selbstermächtigung von Laien (Liebert/ Moskopp 2014) zeigt sich im Bereich der Diskurse über die deutsche Sprache, z. B. in der Anglizismus-Diskussion oder bei Vorstellungen von ‚gutem‘ Deutsch (vgl. „Verein Deutsche Sprache“ (VDS) und dazu Spitzmüller 2005; Pfalzgraf i. d. Bd.).  



















Hinter diesem Strukturwandel des Laientums steht nicht selten der „Traum von der ‚alternativen‘ Wissenschaft“ (Daele 1987). Dieser Prozess wird als „Konsequenz einer radikalen Wissenschaftskritik“ diagnostiziert, die „auf eine Entdifferenzierung von objektiver Geltung und moralischen Ansprüchen im Begriff der Erkenntnis“ abzielt und eine „Deinstitutionalisierung gegenwärtiger Wissenschaftsstandards“ (Daele 1987, 403) zur Folge hat. Wie weit sich das Konzept der Alternativen Wissenschaft bereits etabliert hat, zeigt exemplarisch ein Überblick über Artikel in der so genannten „ZeitenSchrift”. Darin ist ferner ablesbar, dass das Konzept der Alternativen Wissenschaft auch gern von Verschwörungstheorien aller Art in Anspruch genommen wird.

1.3 ‚Experte‘ In der Literatur werden verschiedene Bezeichnungen verwendet, die alle auf Formen von Expertenschaft referieren: Die Ausdrücke Experte, Spezialist, Professioneller und Intellektueller werden dabei meist so verwendet, dass sie schwer voneinander abgrenzbar sind. Aus wissenssoziologischer Perspektive werden verschiedene Formen von Expertenschaft unterschieden: ‚Professionelle‘ werden als eine „spezifisch moderne, an der Durchsetzung von kollektiven Eigeninteressen orientierte Erscheinungsform von Experten“ verstanden (Hitzler 1994, 25). Demgegenüber hebt die Unterscheidung von ‚Experten‘ und ‚Spezialisten‘ – ähnlich wie bei der Experten-Laien-Differenzierung – stärker auf strukturelle Aspekte ab: Das vom Spezialisten beanspruchte oder ihm unterstellte Wissen umfasst Kenntnisse, die er zur Erfüllung seiner Spezialisten 

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funktion benötigt, es geht aber auch nicht wesentlich darüber hinaus: Das bedeutet, er „weiß typischerweise nicht ‚näher‘ über das Bescheid, was andere Spezialisten auf dem gleichen Gebiet wissen, jedenfalls nicht über das, was hierzu insgesamt gewußt wird“ (Hitzler 1994, 25). Vom ‚Experten‘ hingegen wird ein solcher Gesamtüberblick erwartet. Spezialisten sind Träger einer relativ genau umrissenen Kompetenz, die vom Auftraggeber typischerweise hinsichtlich ihrer Problemlösungsadäquanz kontrolliert wird. Zusammenfassend konstatiert Hitzler: Was m. E. den Experten vom Spezialisten also unterscheidet, das ist zum einen, daß er nicht nur über technische Kenntnisse verfügt, sondern über komplexe Relevanzsysteme, und das ist zum anderen, daß er nicht nur weiß, was er zur praktischen Bewältigung seiner Aufgaben wissen muß, sondern daß er weiß, was die (jeweiligen) Spezialisten auf dem von ihm ‚vertretenen‘ Wissensgebiet wissen – und wie das, was sie wissen, miteinander zusammenhängt. Anders ausgedrückt: Mehr-Wissen als das von anderen konkret abfragbare bzw. beanspruchbare Wissen zu haben, über (kaum bzw. unkontrollierbare) Rat- und Hilfekompetenz zu verfügen, verschafft dem Wissenden eine relative Autonomie, macht ihn in diesem Sinne zum Experten. (Hitzler 1994, 25)  

Hitzlers Differenzierung ist letztlich eine graduelle Abstufung von Merkmalen, die in jeweils spezifischer Ausprägung den beiden Polen ‚Experte – Laie’ zugeordnet werden: Laienwissen ist eher auf spezifische Gegenstände bezogen, und Theorien darüber sind eher partikular und unvollständig, während ‚Experten‘ nach generellen, konsistenten Erklärungen für beobachtete Phänomene suchen und dementsprechend ein umfassenderes Wissen und ein „Gesamtbild“ systematisch erarbeiten (vgl. Furnham 1988, 2 ff.). Der ‚Spezialist‘ ist dazwischen angesiedelt: Sein Wissen ist umfassender als das partikulare des Laien, er erkennt spezielle Probleme, da er ein vertieftes Verständnis vom jeweiligen Problem besitzt. Sein Wissen geht aber über seinen eigenen Erfahrungs- und Anwendungsbereich nicht wesentlich hinaus, man kann also nicht von einer systematischen Erkenntniserarbeitung und einem Wissensüberblick im jeweiligen Spezialgebiet sprechen, sondern von einem auftrags- und aufgabenbezogenen Handeln. Hitzlers Differenzierung ist zweifellos schematisch und idealisiert, sie kann auch das Problem der unklaren Grenzen von Expertenschaft durch die Auflösung sozialer Domänen letztlich nicht umgehen. Ein heuristischer Mehrwert liegt aber in ihrem Fokus auf die Funktionen der verschiedenen Formen von Expertenschaft: Der ‚Spezialist‘, der ‚Professionelle‘ und der ‚Experte‘ füllen ihre Rollen mit einer jeweils anderen Zielstellung, mit anderem Interesse. Für den Rezipienten von Expertenäußerungen ist dies allerdings nicht unbedingt erkennbar. Auch die öffentliche Zuschreibung von Expertenschaft erfolgt eher pauschal und nicht unbedingt differenziert nach der genauen Rolle des Akteurs. ‚Expertenschaft‘ als das ‚sachkundige‘, idealiter vollständige Verfügen über ein Spezialwissen ist unbestreitbar heute eine notwendige Bedingung für das Funktionieren des sozialen Systems ‚Wissenschaft‘. Der ‚Experte‘ ist zum Hauptakteur in den (professionalisierten) Domänen des ‚Wissens‘ geworden. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist ‚Expertenschaft‘ inzwischen fast durchwegs an Professionalität gebunden. Der ‚professionelle Experte‘ ist – nicht unähnlich dem  

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‚Laien‘ – einerseits Konsequenz der fortschreitenden Spezialisierung in den Wissenschaften, andererseits die Konsequenz der hohen Komplexität, die Wissenschaft inzwischen als ein eigenständiges soziales System aufweist (Antos 1995, 116; Krohn/ Küppers 1989). Die für wissenschaftliche ‚Expertenschaft‘ konstitutiven Eigenschaften lassen sich (idealtypisch) in vier „Domänen“ zusammenfassen (Antos 1995, 120): A. ‚Sachkompetenz‘ bestehend u. a. 1. aus Faktenwissen, Detailwissen, Literaturkenntnissen; 2. aus fachlichen Erfahrungen, z. B. Fertigkeiten (bei Operationen, Experimenten etc.) sowie aus Kompetenz bei der Sammlung, Archivierung und Auswertung von Daten. B. Theoretische Kompetenz: Was den ‚Experten‘ am meisten von ‚Laien‘ unterscheidet ist seine theoretische Kompetenz, bestehend aus Methodenkompetenz, Modellierungs- bzw. Beschreibungskompetenz sowie aus seiner Erklärungskompetenz. C. Innovationskompetenz: Wissenschaftsintern, aber auch im zunehmenden Maße interessant für Medien ist ferner die Innovationskompetenz von ‚Experten‘, d. h. die Generierung neuer Forschungsansätze (durch ‚kreative Ideen‘ oder neue Perspektiven). D. Wissenssoziologische Position: Dass für die Platzierung eines ‚Experten‘ in seiner scientific community auch seine wissenssoziologische Position eine zentrale Rolle spielt, wird von einer Außenperspektive her betrachtet bisweilen übersehen. Dennoch spielt bei der Zuschreibung von Expertenschaft der institutionelle Einfluss (Inhaber bzw. Verteiler von Positionen), der intellektuelle Einfluss (Inhaber von Definitions- und Bewertungsmacht) sowie der (mediale) Bekanntheitsgrad im Fach oder darüber hinaus eine zentrale Rolle (Antos 1995).  





In der kognitionspsychologischen Expertiseforschung werden die graduellen Unterschiede zwischen ‚Experten‘ und ‚Laien‘ stärker in den Vordergrund gerückt, insbesondere dann, wenn ‚Experten‘ mit ‚Novizen‘ verglichen werden. Darunter werden Personen verstanden, die sich in einer frühen Phase der Ausbildung zum Experten befinden. Gelegentlich treten als dritte Gruppe noch so genannte ‚Intermediates‘ hinzu, also Personen, die schon einen erheblichen Ausbildungsweg zurückgelegt haben, z. B. Studierende in höheren Semestern. Aus dem Vergleich dieser Gruppen werden Rückschlüsse darüber gezogen, wie sich die Repräsentation des Wissens, aber auch Wahrnehmungsgewohnheiten und Problemlösefähigkeiten durch Ausbildung und intensive Übung verändern. Schon früh wurde dabei festgestellt, dass diese Veränderungen nicht rein quantitativ, also als bloße Akkumulation von Wissen, zu beschreiben sind, sondern dass ab einer bestimmten Stufe komplexe Umstrukturierungen des repräsentierten Wissens stattfinden. So ist die Fähigkeit, zahlreiche Einzelinformationen zu Einheiten höherer Ordnungen (chunking) zusammenfassen zu können, für ‚Experten‘ ebenso typisch wie ihre Fähigkeit zur „problemorientierten Konzeptintegration“ (Bromme/Rambow/Strä 

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ßer 1996). Darunter wird vor allem die Besonderheit des Expertenwissens verstanden, im Hinblick auf wechselnde Arbeitskontexte bessere Kontextualisierungsfähigkeit (situatedness) zu leisten. Der immer wieder zu Recht herausgestellte Unterschied zwischen Experten- und Laienwissen betrifft also nicht so sehr das Verfügenkönnen über ein jeweiliges Faktenwissen (‚WAS-Wissen‘), sondern die Fähigkeit des ‚Experten‘ auf ein nur schwer zu verbalisierendes und routinisiertes prozedurales WIEWissen zurückgreifen zu können. Insofern wird professionelles Wissen heute vor allem als integriertes, komplexes und kontextualisiertes Bezugssystem verstanden.

1.4 Experten – Laien: Zur Dialektik einer Delimitation Im öffentlichen Selbstverständnis werden ‚Experten‘ von ‚Laien‘ in der Regel nach dem Kriterium deutlich unterschiedlicher Wissensniveaus unterschieden (Bromme/ Jucks/Rambow 2004, 180 f.). Dabei kann ein ‚Experte‘ z. B. als ‚Spitzenkönner in seiner Domäne‘ nach langjähriger Übung definiert werden oder aber als jemand, der professionell gelernt hat, komplexe Anforderungen zu bewältigen (Bromme/Rambow 2001). Allerdings: Die Inanspruchnahme von ‚Experten‘ als wissenschaftliche ‚Autoritäten‘ ist in einer ‚Risikogesellschaft‘ (Beck 1986) selbst zu einem Problem geworden. Denn: „Die Differenz [...] zwischen Laien und Experten schwindet und verwandelt sich in eine Konkurrenz unterschiedlicher Experten“ (ebd., 276), die zur Verschärfung der wissenschaftlichen Konkurrenz „innerhalb und zwischen Professionen“ führe. „Erkenntnis- und Remonopolisierungsbemühungen [gerieten dabei] in mehr oder weniger deutlichen Widerstreit“:  



In vielen Bereichen wissenschaftlicher Arbeit wird versucht, durch technisch-methodologische oder theoretische Perfektionierungen und Differenzierungen einen neuen Wissensvorsprung zu etablieren. ‚Professionalisierungskerne‘ bilden dabei bestimmte methodologisch hochentwickelte Verfahren oder theoretische Denkformen, die entsprechend zur fachinternen Differenzierung in kleine Gruppen und ‚Glaubensgemeinschaften‘ führen. Diese nun verteidigen das ‚wahre Wissen‘ gegen das grassierende ‚Laienwissen‘ der Halbexperten und ‚kollegialen Scharlatane‘. (Beck 1986, 279 f.)

Neben diesem fachsprachlich begründeten Kriterium der Wissensdivergenz wird in der Wissenssoziologie neuerdings aber zunehmend die Auffassung vertreten, dass ‚Experte‘ bzw. ‚Laie‘ als kontextabhängige Zuschreibungskategorie für eine bestimmte ‚soziale Rolle‘ verstanden werden muss: Wissenssoziologen haben wiederholt darauf hingewiesen, dass die Expansion des (natur-)wissenschaftlichen und technischen Wissens in modernen Industriegesellschaften mit einer Diffusion der Grenzen zwischen wissenschaftlichem Wissen und Alltagserfahrung einhergeht […]. Diese Entwicklung bedeutet auch, dass die kognitive Differenzierung (wer verfügt über problemlösungsrelevantes Wissen, Erfahrung und Können?) und die soziale (wer wird als Experte betrachtet, entsprechend honoriert und wer darf die problembezogenen Entscheidungen fällen?) zwi-

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schen Experten und Laien in manchen Fällen nicht mehr übereinstimmt. (Bromme/Jucks/Rambow 2004, 177)

Mit diesem Konzept erschließt sich auch ein neuer Zugang zur Rolle von ‚Laien‘ beim Erwerb, der Bewertung und in der Anwendung von Wissen generell. Hintergrund sind in der Soziologie teilweise weitgefasste Definitionen von Expertenschaft, nach der letztlich jeder ein Experte in eigener Sache ist oder sein kann. Entscheidend sei das in bestimmten Bereichen verfügbare Sonderwissen. Damit wird die Nivellierung des Gefälles zwischen ‚Laien‘ und ‚Experten‘ betont, nicht zuletzt in herrschaftskritischer Absicht („Expertokratie“). Kritik an dieser Position gründet auf den Hinweis, dass soziale Unterschiede zwischen ‚Laien‘ und ‚Experten‘ weiterhin bestehen bleiben (Bogner/Littig/Menz 2014, 11). So bestünden beispielsweise zwischen Arzt und Patient oder innerhalb von Unternehmen trotz aller Demokratisierungstendenzen faktisch Hierarchien. Reale Ungleichheiten seien daher auch durch eine weite Definition von Expertenschaft nicht einzuebnen. Andere Begriffsdefinitionen haben versucht, die Unterschiede zu beschreiben: In der frühen Wissenssoziologie bei Alfred Schütz wurde etwa betont, dass der ‚Experte‘ mit sicherem und eindeutigem Wissen handle, das ihm jederzeit kommunikativ und reflexiv verfügbar sei – im Gegensatz zum ‚Laien‘ (ebd., 12). Im Anschluss an Schütz wurde argumentiert, dass das Expertenwissen komplex integrierte Wissensbestände umfasse und außerdem konstitutiv auf einen professionellen Funktionskontext bezogen sei. Experte-Sein sei also keine personale Eigenschaft oder Fähigkeit, sondern eine Zuschreibung (ebd., 11). Diese Zuschreibung erst bewirke, dass das Expertenwissen seine soziale Wirkmächtigkeit entfalten kann. Experten lassen sich als Personen verstehen, die sich – ausgehend von einem spezifischen Praxis- oder Erfahrungswissen, das sich auf einen klar begrenzbaren Problemkreis bezieht – die Möglichkeit geschaffen haben, mit ihren Deutungen das konkrete Handlungsfeld sinnhaft und handlungsleitend für Andere zu strukturieren. (Bogner/Littig/Menz 2014, 13)

Wichtig ist zudem weniger, über welches Wissen jemand verfügt, als vielmehr, inwiefern er es vermag, sozial zu plausibilisieren, daß er über besondere Kompetenzen verfügt. Expertenwissen wäre demnach vor allem das Wissen, wie man sich als Experte, und mithin als „unterweisungsbefugt“ für ein Wissensgebiet, darstellt (Hitzler 1994, 26).

Die bisherigen Ausführungen beruhen auf der Unterstellung, dass sich ‚Experten‘ von ‚Laien‘ vor allem durch unterschiedliche Kompetenz- und Wissensniveaus unterscheiden. Die aktuelle wissenssoziologische Diskussion hat nun den Akzent verschoben – nämlich auf die Frage, wie beide: ‚Experten‘ und ‚Laien‘ mit Nichtwissen umgehen. Diese Diskussion tangiert naheliegender Weise vor allem die Expertenrolle:

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Wo brechen innerhalb der professionellen Praxis Felder des Nichtwissens und der Ungewissheit auf und was bedeutet dies für die professionelle Autorität? Wird sie dadurch in Frage gestellt? Inwiefern werden die Experten zur Anerkennung von Nichtwissen und Unsicherheit gezwungen? (Bogner 2005, 17)

Bogner (2005, 133 ff.) unterscheidet drei Typen des Nichtwissens: ‚Unwissen‘, ‚Ungewissheit‘ und ‚Nichtwissen‘. ‚Unwissen‘ meint wissenschaftlich korrigierbares Nichtwissen (Fehler, Irrtümer oder Falschaussagen). ‚Ungewissheit‘ ist reflektiertes Nichtwissen, ein für Forscher nicht untypisches Noch-Nicht-Wissen oder ein (z. B. prognostisches) unsicheres Wissen. Davon zu unterscheiden ist ein nicht kognitivistisch zu fassender Begriff von ‚Nichtwissen‘: Hintergrund ist die Erfahrung bzw. das Gefühl, dass ‚Experten‘ bei vielen komplexen Phänomenen (z. B. Hirnforschung, Genetik, Klimaforschung, digitale Revolution, Ökonomie) nicht nur sehr uneinig, sondern gegenüber dem Beratungsbedarf von Politik und Öffentlichkeit ratlos sind. Dieses Nichtwissen ist „dadurch charakterisiert, dass das Expertenwissen die spezifischen Phänomene nicht ‚erreicht‘, deren Bedeutung nicht wirklich ermessen kann“ (ebd., 134). Wenn man z. B. mit Luhmann „Wissen als eine soziale Konstruktion versteht und Nichtwissen entsprechend als einen ‚Konstruktionsdefekt‘“, dann wird Nichtwissen „in den Kontext von Komplexität und Uneindeutigkeit gestellt“ (ebd., 135). Die Herausforderungen durch die gegenwärtige „Digitalisierung der Kommunikation“ mit ihrer Überfülle an Informationen (verbunden mit der explosionsartigen Digitalisierung der Wirtschaft, vgl. „Internet der Dinge“) und ihren kaum absehbaren Folgen sind ein gutes Beispiel für einen neuen wissenschaftlichen Umgang mit ‚professionellem Nichtwissen‘ (Antos/Ballod 2014). Nichtwissen und Ungewissheit zu erkennen und in Expertisen in Rechnung zu stellen, charakterisiert daher nicht unwesentlich die „Grenzpolitik der Experten“ (Bogner 2005) und damit die ExpertenKompetenz. Andererseits unterstreicht die „Grenzpolitik der Experten“ die Brüchigkeit der scheinbar so geläufigen Dichotomisierung von ‚Experten‘ und ‚Laien‘.  







1.5 Öffentlichkeit und Bewusstseinsindustrie In der Vormoderne wurden gesellschaftlich relevante Akteursgruppen durch Herkunft, Religion, den ‚Stand’ bzw. das Milieu, durch (Aus-)Bildung, den Beruf oder durch ähnliche objektivierbare Kriterien geprägt. Mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaften in der Moderne kamen neue Formen sozialer Gruppenbildungen hinzu. Deutlich wurde dies sprachlich u. a. durch neue, zum Teil ausgrenzende Bezeichnungen: neben ‚Bauern‘, ‚Bürger‘, ‚Arbeiter‘, ‚Angestellte‘, ‚Beamte‘, ‚Unternehmer‘, auch ‚Juden‘, ‚Zigeuner‘, ‚Intellektueller‘, ‚Feministin‘. Heute differenzieren sich moderne Gesellschaften als ‚Verbraucher‘, ‚Kunde‘ oder als ‚Klienten‘, nicht mehr als ‚Laien‘. Die heute durch Werbung und PR geprägte Bewusstseinsindustrie schafft im öffentlichen Bewusstsein zudem Fan-, Event- und Konsumgemeinschaften, die über  

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einen unterschiedlichen Zugang zu Wissensressourcen verfügen: Hobby-Freunde und Netzwerke, Fans im Sport oder in der Pop-Kultur, ‚Follower‘ und ‚Friends‘ in sozialen Netzwerken, Netzwerk-Aktivisten. Die Propagierung, Erzeugung und Strukturierung solcher Gruppen bis hin zu „Parallelgesellschaften“ erfordert wie in der Werbung und bei PR „intelligente“ Rekrutierungs-, Organisations- und Manipulationsformen (Antos 2014). Ziel ist es, über vielfältige Angebote und Formen der Partizipation soziale (Adhoc-)Gruppen anzusprechen und zwar durch Beteiligung und emotionale Bindung an gemeinschaftsstiftende Aktionen. Eine besondere Rolle spielen dabei die Medien, heute auch das Internet. Insofern schaffen diese wohl einflussreichsten Akteure der Bewusstseinsindustrie zuallererst ‚Öffentlichkeit‘. Wie Peter Weingart in seinem Buch: „Die Wissenschaft der Öffentlichkeit“ (2004) zeigt, versteht sich die Wissenschaft nach wie vor als seinen eigenen Gesetzen gehorchender Stand. Dennoch zeigt sich auch hier die für die heutige Bewusstseinsindustrie typische Delimitation sozialer Domänen und Akteursgruppen. Dies hat für ‚Wissenschaft‘ und ‚Öffentlichkeit‘ folgende Konsequenzen: ‚Wissenschaft‘ wird in der Öffentlichkeit und durch sie ‚konstruiert‘, d. h. auf unterschiedliche Weise imaginiert und repräsentiert. In diesem Sinn kann man von einer ,Öffentlichkeit der Wissenschaft‘ sprechen (Weingart 2004, 28). Indem sie auf die Erwartungen der Öffentlichkeit reagiert und sich anzupassen sucht, verändert die unter medialer Beobachtung stehende Wissenschaft ihre Öffentlichkeit ebenso wie umgekehrt. D. h.: Diese wechselseitigen Konstruktionen spiegeln sich als Reaktionen auf vorgestellte Erwartungen zunehmend in den Wissenschaften selber. Wissenschaft wird nach Weingart ‚medialisiert‘. Eine damit indirekt verbundene Folge: Am Beispiel der Ökonomie und deren unterschiedlich in der Öffentlichkeit repräsentierter fachlicher „Lager“ beschreibt Maeße (2010) unterschiedliche Mechanismen der Inszenierung von Expertentum. Experteninszenierung beruht nach Auffassung des Autors immer auf sozialen Zuschreibungen von (wissenschaftlicher) Autorität. In konkreten Situationen in der Öffentlichkeit versteht sich Autorität aber nicht von selbst. D. h., jede Person muss erst als Experte eingeführt und dem Publikum vorgestellt und wenn möglich bekannt gemacht werden (Maeße 2010, 279). Einzelne Personen werden dann häufig als Vertreter und Aushängeschilder der Wissenschaft als solcher präsentiert. Er bezeichnet dies als das Phänomen der „Sakralisierung zum Experten“ (ebd., 280). Dieser Vorgang ist häufig begleitet von einer „Immunisierung durch Ämterprestige“,  





wobei das „Amt“ („Präsident des Ifo“, aber auch „Professor“) als Symbol gesellschaftliche Anerkennung signalisiert, die implizit auf erbrachte Leistungen verweist, welche die Anerkennung durch gesellschaftliche Eliten gefunden hat, die für sich in Anspruch nehmen, die allgemeingültigen Werte und Normen der Gesellschaft zu repräsentieren. Immunisierung ist also ein elitärer Vorgang. (Maeße 2010, 280)

Immunisierung bedeutet hier auch Immunisierung gegen Kritik: Wer die Autoritätsperson in Frage stellt, weist in dieser elitären Symbolordnung auch das gesellschaftli-

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che Wertesystem als solches zurück. Zudem können Thesen in der öffentlichen Diskussion nur von anderen Experten glaubhaft infrage gestellt werden, auch das ist Teil der Experten-Immunität. Was Maeße für den Bereich der Ökonomie beschreibt, findet sich in ganz ähnlicher Form auch für den Gegenstand ‚Sprache‘: Der Verein Deutsche Sprache (VDS) stellt sich selbst häufig als Vertreter einer Mehrheitsmeinung der deutschen bzw. deutschsprachigen Bevölkerung dar, sei es in der Anglizismusdiskussion oder wenn es allgemein um Vorstellungen von ‚gutem‘ Deutsch geht. Ganz offensichtlich setzt der Verein dabei auch Ämterprestige ein, um den eigenen Einschätzungen Autorität zu verleihen: Regelmäßig kommen in den Publikationen Professoren zu Wort, deren Fachrichtungen allerdings nicht näher angegeben werden. In den seltenen Fällen, in denen es sich dabei um Linguisten handelt, gilt das, was Maeße als Experten-Immunität beschrieben hat: Die Plausibilität von Thesen oder überhaupt die Unterscheidung zwischen fachlicher und Meinungsargumentation kann in der Regel nur von anderen Experten der gleichen Fachrichtung beurteilt bzw. getroffen werden. In der öffentlichen Diskussion hingegen wird auch die ‚private’ Meinungsargumentation einer Person, die sich durch einen akademischen Titel als anerkannter und kompetenter Vertreter gesellschaftlicher Wertevorstellungen ausweist, generalisierend als Expertenurteil akzeptiert. Verschiedene Rollen werden nicht unterschieden, weil sie für den Laien selten unterscheidbar sind. In gleicher Weise ist ein Fachvertreter auch immer Experte eines gesamten, i. d. R. größer verstandenen Faches: Ganz gleich ob beispielsweise der anglistische Linguist sich je mit deutscher Sprachgeschichte oder Soziolinguistik des Deutschen beschäftigt hat oder nicht – er wird in der Öffentlichkeit als Experte für alle Fragen zum Thema Sprache gesehen und es wird ihm diese Rolle auch konkret abverlangt. Der Expertenstatus, also die Sachkompetenz, wird in bestimmten Medien mehr oder weniger durch eine öffentliche Bekanntheit als Journalist, Publizist oder als Dichter ersetzt und damit legitimiert. D. h.: Medien nehmen heute ganz selbstverständlich primär mediale, soziale und Rollenzuschreibung von ‚Experten‘ in Anspruch. Das schließt natürlich nicht aus, dass diese Experten auch über bestimmte sachbezogene Kompetenzen oder über akademische Abschlüsse verfügen. In diesem Sinne könnten z. B. Medien darauf verweisen, dass es bei öffentlichen Diskursen über Sprache bzw. über unseren Sprachgebrauch gar nicht (in erster Linie) um „linguistisches Fachwissen“ geht, nicht einmal um dessen mediengerechte Vermittlung (vgl. Antos/Wichter 2000), sondern um einen Diskurs über einen „ideologischen Rahmen“ einer Gesellschaft, bei dem jeder ein Mitspracherecht in Anspruch nehmen könnte. Denn:  







Sprache als Resultat metapragmatischer Reflexion ist ein sozial hochgradig bedeutsames Phänomen, denn sie stellt einen ideologischen Rahmen dar, in dem sich soziale Akteure bewegen und aufgrund dessen sie sich positionieren können. (Spitzmüller i.d.Bd, 23)

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2 ‚Laien‘ und ‚Experten‘ in Diskursen über Sprache Im zweiten Teil des Artikels sollen die bisher eher wissenssoziologisch orientierten Bemerkungen zur veränderten Rolle von ‚Laien‘ und ‚Experten‘ in Diskursen über Sprache illustriert und vertieft werden. In der breiten Öffentlichkeit lässt sich ein dreifacher Struktur- bzw. Funktionswandel beobachten, der nicht zuletzt in der Sprachwissenschaft als „Laienlinguistik“ in seinen verschiedenen Spielarten thematisiert worden ist. Es ist eine Entwicklung: 1. weg von einer öffentlich dominierenden wissenschaftlichen, hin zu einer alltagsweltlichen, medial geprägten Sprachreflexion; 2. weg von immanenten Formen der Sprachreflexion hin zu einer pragmatisch eingebundenen, ja instrumentalistischen Verwendung der Reflexion von Sprache und 3. weg von den expliziten, hin zu impliziten Formen der Sprachreflexion.

2.1 Volkslinguistik Seit der Aufklärung, spätestens aber im 19. Jahrhundert, erhielten die Wissenschaften eine oftmals monopolartig interpretierte Deutungsmacht über die Konstruktion von Wissen in modernen Gesellschaften. Damit einher ging die geschilderte stereotype Dichotomisierung in ‚Laien‘ und ‚Experten‘ sowie die Entwicklung einer „Expertokratie“ einerseits und die Abwertung von ‚Laien‘ andererseits. In der Sprachwissenschaft wurde diese Professionalisierung mit der Einführung des Begriffs ‚Volksetymologie‘ 1852 durch Ernst Förstemann deutlich und der großen Resonanz auf den diesen Begriff aufgreifenden Artikel von Karl Gustav Andresen 1876, der bis 1899 immerhin sechs Auflagen erreichte. Obwohl die ‚Volksetymologie‘ bis heute durchaus eine gewisse Rolle in der professionalisierten Linguistik (u. a. in der Lexik und der Rechtschreibung) spielt (vgl. Antos 1996; Olschansky 1996), verfestigte nicht zuletzt auch dieser Begriff den Anspruch der Wissenschaft auf die primäre bis monopolartige Deutungsmacht bei der Konstruktion gesellschaftlich relevanten Wissens. Dass neben den Wissenschaften auch andere gesellschaftliche Gruppen bei der Konstruktion von Wissen eine nicht zu übersehene Rolle spielen, lässt sich im Anschluss an Hoenigswald (1966) mit Brekle (1985) an Phänomenen der so genannten ‚Volkslinguistik‘ belegen. Dazu zählt er „all jene sprachlichen Ausdrücke und Äußerungen […], die ihrerseits auf Sprachliches referieren oder die metakommunikativ fungieren“ und die nicht  



in der Absicht hervorgebracht werden, ‚nur‘ einen Erkenntnisgewinn über Sprachliches um seiner selbst willen auszudrücken; solche Äußerungen wären nämlich – legt man Minimalkriterien zugrunde – schon als sprachwissenschaftliche Aussagen zu qualifizieren. (Brekle 1985, 145)

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Nach Brekle gehören dazu sprachreflexive Formen und Diskurse, wie sie sich beispielsweise in der Mythologie, in der Literatur (z. B. Till Eulenspiegel), aber auch im Bereich der Sprachmagie und im Kontext der vor- bzw. außerwissenschaftlichen Sprachkritik manifestieren. Brekle identifiziert in den von ihm genannten Bereichen der Volkslinguistik u. a. folgende Sprachideologien und -konzepte: – Barbaren-Topos: Negative Einstellung gegenüber fremden Sprachen; – Sprachmagie: Glaube an einen festen Wirkungszusammenhang zwischen Verbalisierung (Rezitation) und bestimmten außersprachlichen Effekten; – Semantische Motiviertheit von Lexemen (bzw. Namen); – Bevorzugung „realistischer“ Bedeutungstheorien; die wie bei lautmalenden Wörtern einen „natürlichen“ Zusammenhang von Zeichen und Bezeichneten unterstellen; – Präferenz für eine metrisierte Sprache („oral poetry“); – Thematisierungen von Sprache; – Bewusste Verwendung von Mehrdeutigkeiten (Orakel, Prophezeiungen).  



Die in Religionen, Mythen, Märchen oder in der (Volks-)Literatur) zu findende Sprachreflexion hat Brekle zufolge – anders als wissenschaftsimmanente linguistische Betrachtungsweisen – häufig erkennbare pragmatisch-lebensweltliche Funktionen. Zudem zeigen sich an ihnen zumeist soziale, politische oder volkskundlich relevante Dimensionen des gesellschaftlichen Sprachhandelns. Diese scheinen gerade für eine Sprachreflexion von Wichtigkeit zu sein, die neben der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache auch die Rolle der alltagsweltlichen Bedeutung hervorheben will – etwa mit Blick auf schulische, private oder gesellige Kontexte (Wilton/Stegu 2011). Daher spielen in der Tradition der ‚Volkslinguistik‘ – die zwar verwandt, aber nicht identisch ist mit der angloamerikanischen, ebenfalls von Hoenigswald (1966) inspirierten ‚Folk Linguistics‘ (vgl. dazu unten) – individuell erkennbare Akteure der Sprachreflexion keine Rolle, anders als dies mit der Dichotomie ‚Laie‘ und ‚Experte‘ präsupponiert wird. Damit stellt sich die Frage nach der Delimitation von Konstruktionen wie ‚Experte‘ und ‚Laie‘ neu: Es handelt sich dabei um die Frage, wer die Laien in einer Laienlinguistik sind und ob die Unterscheidung zwischen Laien und Professionellen beziehungsweise Expertinnen und Experten überhaupt gerechtfertigt und sinnvoll ist und nicht eher ein Produkt elitären Denkens und Dünkels. (Cuonz 2014, 12)

Diese Frage stellt sich nicht nur einer Sprachwissenschaft, die sich zunehmend von anderen Formen der wissenschaftsnahen Selbstermächtigung ausgerechnet in ihrem Bereich herausgefordert fühlen muss (Sick 2004; dazu J. G. Schneider 2008). Bleibt die Frage: Was ist Laienlinguistik und wie geht die Linguistik mit der hier problematisierten Auflösung der Laien-Experten-Unterscheidung um?

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2.2 Laienlinguistik So genannte Sprachexperten haben kein Monopol auf die Beobachtung, Analyse und Beurteilung von Sprache. Denn reflektiertes Interesse an Wissen und Erkenntnisse über Sprache und Kommunikation samt deren Vermittlung (Beckers 2012) ist ein fast ubiquitäres gesellschaftliches Phänomen (Hoberg 2008). Es manifestiert sich in vielen (z. T. sehr erfolgreichen) Publikationen (Reiners 1951; Sick 2004; W. Schneider 2010), in z. T. leidenschaftlichen Diskursen (z. B. über den so genannten ‚Sprachverfall‘, vgl. Spitzmüller 2005; http://www.vds-ev.de) oder mit Blick auf bestimmte gesellschaftliche Praktiken (z. B. Geschäftsberichten, vgl. Keller 2006). Nicht zu übersehen sind zudem Formen der Sprachreflexion in der Fort- und Weiterbildung (z. B. Trainer oder Moderatoren u. a. in den Medien, vgl. Hermann/Krol/Bauer 2002) und in der wachsenden Beratungsindustrie (Antos 1996). Gleiches gilt ansatzweise auch in der Politik (Niehr 2014; Wodak u. a. 2009), dem Rechtswesen (Klein 1992; Eichhoff-Cyrus/Antos 2008; Antos/Missal 2017), der Wirtschaft (Packard 1992; Keller 2006; Menz/Müller 2008) oder der Werbung/Public Relations (Huth/Pflaum 1996; Janich 2012). Hinzu kommt eine sprachspielerische Sprachreflexion in den Medien und im Internet (Runkehl 2011). In gesamtgesellschaftlichen Diskursen werden nicht nur ‚Inhalte‘ (‚Themen‘), sondern vielfach auch Formen ihrer Kommunikation, also sprachlich-stilistische Aspekte (Fix 2007) und Varianten des Sprachgebrauchs bzw. die Diskurse selbst, diskutiert (häufig gerahmt durch die in der Schulbildung in der Regel forcierte Sozialisation in die Schriftsprachkultur, vgl. Schmölzer/Weidacher 2007). Vor diesem Hintergrund: Sind all diese nichtlinguistischen „Sprachbefasser“ nur ‚Laien‘? Und wie ordnet die Linguistik schließlich sprachreflektierende Philosophen, Dichter, Psychologen, Pädagogen ein? ‚Laienlinguistik’ wird vielfach, wie die häufig als US-amerikanisches Pendant angesehene ‚Folk Linguistics‘ (Cuonz 2014, 9 ff.), die sich nach einer längeren kontroversen Diskussion seit den 1960er Jahren (vgl. Hoenigswald 1966) entwickelt hat (Niedzielski/Preston 2003; Preston i. d. Bd.), als linguistische Disziplin verstanden, die sich mit normativen bzw. präskriptiven Vorstellungen von Laien über die korrekte Verwendung von Sprache bzw. mit der Bewertung von sprachlichen Varianten befasst (Cuonz 2014, 23). Als „Subdisziplin der Linguistik“ wird sie entweder auf die Wahrnehmungsdialektologie und bzw. oder auf normative bzw. präskriptive Vorstellungen von Laien über die korrekte Verwendung von Sprache verengt (Cuonz 2014, 23). Vor allem die zuletzt genannte Sichtweise beeinflusst auch in Teilen die deutsche Diskussion über Laienlinguistik:  



















Unter ‚laienlinguistischer‘ Sprachkritik wird […] die Kritik an bestimmten Sprachnormen verstanden, die von Nicht-Linguisten meist ohne theoretisch-methodische Grundlage und ohne eine empirisch gesicherte Untersuchung des Sprachgebrauchs geäußert wird. […] Der Ausdruck ‚laienlinguistisch‘ soll jedoch keineswegs pejorativ verstanden werden […]. (Kilian/Niehr/Schiewe 2016, 71)

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Dabei gelten „sprachliche Werturteile von Laien“ (Cuonz 2014) in bestimmten Bereichen als prototypisch für die Diskussion über Formen der Sprachkritik in der Öffentlichkeit (Kilian/Niehr/Schiewe 2016; Antos/Missal 2017), beispielsweise Urteile zu: – Kommunikation im Internet (Arendt/Kiesendahl 2014), – Regionalen Sprachvarietäten (Arendt i. d. Bd.) – „schönen“ und „hässlichen Sprachen“ (Cuonz 2010) – Gutes und richtiges Deutsch in Wirtschaft und Gesellschaft (Keller 2006; Burkhardt 2007; Janich 2007).  



Daneben wird aber der Ausdruck der ‚Laienlinguistik‘ auch in einem breiteren Sinne verwendet, der den Umgang der Öffentlichkeit mit sprachlichen und kommunikativen Phänomenen nicht nur auf die Erforschung einer ‚Laienmetasprache‘ (Cuonz 2014, 3) und auf sprachkritische Äußerungen reduziert. Eine solche weitere Bestimmung des Begriffs ‚Laienlinguistik‘ vertreten etwa Demel (2006) und Polzin-Haumann/Osthus (2011), die auf die lange Tradition einer breit aspektualisierten Laienlinguistik in romanischen Sprachen aufmerksam machen; Lehr (2002), die nicht zuletzt mit Blick auf einen überraschend großen sprachreflexiven Wortschatz Erhebungen zum „sprachbezogenen Wissen in der Lebenswelt des Alltags“ durchgeführt und dabei vier zentrale Eigenschaften herausgearbeitet hat: Sprachbezogenes Alltagswissen sei zweckgerichtet, damit situationsdeterminiert, intersubjektiv und prinzipiell ausdrückbar (Lehr 2002, 436); sowie Spitzmüller (2013), der das in der Öffentlichkeit weithin verbreitete „graphische Wissen“, etwa in Gestalt von Schriften (im Nationalsozialismus, in der Popkultur und Szenekommunikation) zum Gegenstand einer „soziolinguistischen Theorie skriptualer ‚Sichtbarkeit‘“ gemacht und dabei die damit einhergehenden laienlinguistischen Sinnzuschreibungen einer umfangreichen Analyse unterzogen hat. Ein solcher breiterer Ansatz wird auch in Antos (1996) vertreten: ‚Laien-Linguistik‘ wird dort definiert als eine Sprach- und Kommunikationsbetrachtung für Laien und häufig genug auch eine, die von Laien betrieben wird. Der Begriff […] deckt sich dabei in weiten Teilen mit dem, was man ‚normative‘ oder ‚präskriptive Linguistik‘ nennen könnte. Sie umfaßt aber mehr: deskriptive, enzyklopädisch ausgerichtete und/oder unterhaltende Darstellungen zu sprachlich-kommunikativen Themen oder Problemen. (Antos 1996, 25)

Wie öffentliche Reaktionen zeigen, wird Sprache neben ihren vielfältigen Funktionen in Kunst und Kultur in der breiten Öffentlichkeit primär als wirtschaftsrelevant, als identitätsstiftend und sogar als ein Politikum wahrgenommen (Stözel/Eitz 2002; Eichhoff-Cyrus/Antos 2008; Niehr 2014). Jedenfalls ist es zu pauschal und undifferenziert, diese von ‚Laien’ betriebenen Formen von öffentlicher Sprachreflexion nur an wissenschaftlichen Maßstäben zu messen. Und entsprechend: Nicht-linguistische Akteure pauschal als ‚Laien‘ zu bezeichnen, ist aber mit Blick auf die ‚Laien-ExpertenDichotomisierung‘ selber zu hinterfragen:

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Wer in einer Laienlinguistik als Experte und wer als Laie fungiert, ist eine […] heikle Frage, der sich die Laienlinguistik stellen muss. (Cuonz 2014, 24)

Auf ein entscheidendes Argument verweist Spitzmüller (i. d. Bd.), wenn er allein schon mit Blick auf die gemeinsame „ideologische Positionierung“ auf die beiden Seiten der Differenzierung von ‚Sprachwissenschaft‘ einerseits und ‚Öffentlichkeit‘ andererseits aufmerksam macht:  



Die vonseiten der Linguistik vorgenommene Trennung zwischen ‚Sprachwissenschaft‘ und ‚Öffentlichkeit‘ und eines ‚öffentlichen‘ und ‚linguistischen Diskurses‘ ist somit selbst Resultat metapragmatischer Reflexion und Teil einer Positionierungspraxis. Sie ist einerseits ideologisch, andererseits aber auch insofern konstruktiv, als sie – wie jede ideologische Positionierung – den involvierten Akteuren einen Handlungsrahmen steckt und ihnen ermöglicht, die eigene Position von der anderer abzugrenzen bzw. sich mit anderen sozialen Akteuren zu solidarisieren. Und dies ist wohl die Hauptfunktion aller sprachreflexiven Diskurse – und der Grund, warum Sprache ein so mächtiges soziales Werkzeug ist. (Spitzmüller i. d. Bd., 26)  



Fazit: Dominierte früher eine Sichtweise, die nur eine autonom erscheinende wissenschaftliche wie alltagsweltliche Sprachreflexion anerkannte, so lassen sich heute pragmatische, ja instrumentalistische Formen der Sprachreflexionen nicht mehr übersehen oder aus der Diskussion ausblenden: In der Werbung, der Wirtschaft, in der Publizistik, aber auch im Rechtssystem und in der Fort- und Weiterbildung werden in zunehmenden Maße alle möglichen Spielarten und Formen einer an Zwecken orientierten und damit instrumentellen Sprachreflexion aufgegriffen, verwendet und weiterentwickelt. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die gemeinsame „ideologische Positionierung“ löst sich die gängige Dichotomisierung von ‚Laie‘ und ‚Experte‘ auf.

3 Fallbeispiel: „Leichte Sprache“ 3.1 „Leichte Sprache“-Bewegung: Definitionen von Expertenschaft Typisch für den Strukturwandel des Verhältnisses von ‚Laien‘ und ‚Experten‘ und damit für ein gewandeltes Bild der Öffentlichkeit gegenüber der Domäne ‚Wissen‘ im Allgemeinen und dem Wissen über Sprache im Besonderen (Antos/Wichter 2000; Wichter 2004; Beckers 2012), ist die laienlinguistische Bewegung „Leichte Sprache“. Kein Bundesministerium und kaum mehr eine größere Institution, die nicht auf ihrer Website Informationen auch in „Leichter Sprache“ anbietet. Sie kann als in der Praxis entwickelte Form barrierereduzierter Kommunikation beschrieben werden, die sich primär an Menschen mit Lernschwierigkeiten (selbstgewählte Bezeichnung von Menschen mit geistiger Behinderung) richtet. Entstanden ist das Phänomen im Umfeld von Behinderten-Selbstvertretungsorganisationen. Mittlerweile liegen auch linguistisch fundierte Ratgeber vor (Bredel/Maaß 2016). Ziel ist es, im Sinne des

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Inklusionsparadigmas Kommunikation und Information für Menschen zugänglich zu machen, die schon mit dem Lesen und Verstehen alltäglicher Texte Schwierigkeiten haben. In unserem Kontext bezeichnend ist nun eine Vermischung, ja tendenziell sogar eine Umkehrung der ‚Laien-Experten‘-Rolle: Das „Netzwerk Leichte Sprache“, das sich als die zentrale Institution im Feld versteht, betont stets, dass die „Regeln“ „Leichter Sprache“ von Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten entwickelt wurden. Als die (eigentlichen) Experten von „Leichter Sprache“ werden die so genannten Textprüfer bezeichnet. Prüfer sind Menschen mit Lernschwierigkeiten (auch wenn sich der Ansatz an verschiedene Zielgruppen richten soll), die die Verständlichkeit der Texte in „Leichter Sprache“ überprüfen können, denn „Nur sie können sagen, ob ein Text leicht genug ist“ (Netzwerk Leichte Sprache 2013, 4). Im Netzwerk-Regelkatalog werden die Prüfer als „Fach-Leute“ (die Bindestrichschreibung ist typisch für „Leichte Sprache“) bezeichnet, Textagenturen wie die Caritas Augsburg nennen sie beispielsweise „Experten für Leichte Sprache“. Sie sind die Experten für Leichte Sprache. Sie wissen am besten, ob ein Text leicht verständlich ist. Und ob man einen Text gut lesen kann. (AWO-Büro für Leichte Sprache)

In dem vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen „Ratgeber“ für „Leichte Sprache“ (der weitgehend identisch ist mit dem Regelkatalog des „Netzwerks Leichte Sprache“) wird spezifischer von „Experten in eigener Sache“ gesprochen (BMAS 2014, 11). Die zugeschriebene Expertenschaft geht aber vereinzelt sogar so weit, dass Zielgruppenvertretern die alleinige Textkompetenz zugeschrieben wird: Tatsächlich verstehen einige Anbieter Menschen mit Lernschwierigkeiten gleichzeitig als „Übersetzer“ (also Textersteller), Prüfer und Adressaten. Angesichts der allgemein akzeptierten Auffassung, dass „Leichte Sprache“ den Zugang zu Texten und Informationen für die Zielgruppe erst ermöglichen soll, ist besonders die Zuschreibung der Rolle als professioneller Übersetzer inkonsistent. Sie findet sich aber immer wieder. Das Feld „Leichte Sprache“ ist ein spezifisches Beispiel für die Aufweichung bzw. für die selbstermächtigende Inanspruchnahme der Expertenrolle (vgl. die soziologische Perspektive darauf: Zurstrassen 2017). Anders als in der Wissenschaft, in der die Inszenierung von Expertenschaft bestimmten kollektiv akzeptierten Regeln folgt, ist der hier betrachtete Bereich in seinem Expertenverständnis und in den Zuschreibungsprozessen ausgesprochen heterogen. Manche Agenturen verstehen und bezeichnen nur die Textersteller als Experten, was bedeutet, dass ihnen die hauptsächliche Kompetenz für die Gewährleistung ‚guter‘ Texte zugeordnet wird. Teilweise wird beim „Netzwerk Leichte Sprache“ auch zwischen ‚Experten‘ (Menschen mit Lernschwierigkeiten in einer oder mehreren der genannten Rollen) und ‚Spezialisten‘ unterschieden. Mit ‚Spezialisten‘ werden die „Texter“ für „Leichte Sprache“ bezeichnet. In dieser begrifflichen Unterscheidung lässt sich das Bestreben erkennen, unterschiedliche Arten von ‚Expertenschaft‘, unterschiedliche Wissensarten oder Kom-

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petenzen zu bezeichnen. Eine genaue (und vor allem konsistente) Auffassung lässt sich allerdings kaum herausarbeiten. Bezeichnend für einen Aspekt des Strukturwandels des Expertenbegriffs: Anders als der sehr weite Expertenbegriff, der letztlich jeden Menschen als Experten (seiner selbst) versteht (Bogner/Littig/Menz 2014, 11), wird in der „Leichte Sprache“-Praxis überraschenderweise gerade deutlich zwischen Experten und Nicht-Experten unterschieden. Die teilweise nicht nur expliziten, sondern sogar nachdrücklichen und exklusiven Zuschreibungen von Expertenschaft („Nur sie [Menschen mit Lernschwierigkeiten, B. B./G. A.] können ihnen wirklich sagen: Das kann ich gut verstehen. […] Dann ist der Text gut.“, Netzwerk Leichte Sprache 2013, 36) sind immer im Kontext ihrer Funktion zu betrachten: Sehr häufig geht es offenbar um die Durchsetzung machtpolitischer Positionen oder um die Durchsetzung institutioneller Interessen. Die Zuschreibungen an die Zielgruppe, die hier gemacht werden, sind unterschiedlich: Expertenschaft bedeutet manchmal die alleinige oder wenigstens letztgültige Kompetenz in der Beurteilung von Textqualität, im Falle der ‚Expertenschaft in eigener Sache‘ kann Beurteilungskompetenz im Hinblick auf die eigene Gruppe oder die eigene Person gemeint sein. Unausgesprochen geht es bei der Verwendung des Expertenkonzepts aber immer um Beteiligung und Interessenvertretung (vgl. auch Bock/Lange/Fix 2017; Zurstrassen 2017).  



3.2 Laienlinguistik „Leichte Sprache“ Das Phänomen „Leichte Sprache“ weist einige Gemeinsamkeiten mit anderen laienlinguistischen Erscheinungen auf. Eine Gemeinsamkeit ist zunächst das Grundprinzip, einfache Regeln in Form von allgemeingültigen Ge- und Verboten aufzustellen, und diese mit einem Versprechen der direkten Wirksamkeit zu verbinden. Darüber hinaus werden sprachliche Aspekte ähnlich bewertet, wenn auch mitunter verschieden begründet (vgl. dazu Niehr i. d. Bd.): – Passiv soll in „Leichter Sprache“ vermieden werden. Man vergleiche die entsprechende Kritik bei Wolf Schneider („Warum wir am Passiv leiden“, W. Schneider 2012, 17), bei Ludwig Reiners (Antos 1996, 331) und bei Gustav Wustmann (1949, 78 ff.). – Ähnlich verhält es sich mit Nominalisierungen und der Empfehlung, Verben zu benutzen (vgl. ebd., 254, Wolf Schneider: „Im Anfang war das Tun. Warum wir die Verben lieben sollten“ [2012, 8], Reiners: „Wider die Hauptwörterei“ [Antos 1996, 332]). – Auch Metaphern und Redewendungen sind ein immer wiederkehrendes Thema, allerdings werden unterschiedliche Aspekte akzentuiert. Die Forderung nach gänzlichem Verzicht und die Annahme prinzipieller Schwerverständlichkeit sind spezifisch für das Feld „Leichte Sprache“.  





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Auch zur Empfehlung, kurze, einfach gebaute Sätze zu verwenden, finden sich natürlich Parallelen in der aktuellen und historischen Ratgeberliteratur. Bei „Leichter Sprache“ ist jedoch am wenigstens spezifiziert, was genau mit Einfachheit und Komplexität gemeint ist (Bock/Lange 2017).

Manche dieser Prinzipien decken sich zumindest teilweise mit Erkenntnissen der empirischen Verständlichkeitsforschung oder der Spracherwerbsforschung. Das charakteristisch Laienlinguistische ist jedoch die Pauschalität und Normativität der Annahmen (vgl. Bock/Lange/Fix 2017). Insgesamt ist für das Praxisfeld „Leichte Sprache“ typisch, dass Sprachregeln auch ohne das Vorhandensein einer fundierten Begründung von den Nutzern als gesichert angenommen werden. Die Vorstellung vom Prozess der Textproduktion ist häufig auf die Vorstellung einer mechanischen Umsetzung von sprachlichen Regeln reduziert. Sehr viele Dienstleister bieten nicht nur Textarbeiten an, sondern ganz wesentlich auch sogenannte Schulungen für „Übersetzer“ und „Prüfer“, teilweise werden auch Schreibberatung und Trainings angeboten. Die „akademische Linguistik“ (Antos 1996) bildet in aller Regel keinen Bezugspunkt.

3.3 „Leichte Sprache“ im Urteil der Öffentlichkeit „Leichte Sprache“ wird in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert – in Massenmedien, in Online-Diskussionsforen oder bei Veranstaltungen zum Thema Inklusion (zum medialen Diskurs: Diekmannshenke 2017). Befürworter und Kritiker nehmen nicht selten extreme Haltungen zu dieser Sprachform ein: So verbinden Kritiker „Leichte Sprache“ implizit oder explizit mit ‚niedrigem Niveau‘, das sich in der sprachlichen Simplizität, in fehlenden Inhalten, teilweise in Fehlern und als ‚schlecht‘ bewertetem Stil, in mangelnder inhaltlicher und sprachlicher Differenzierung und Ähnlichem ausdrücke. Einerseits konstatieren Kritiker damit die Dysfunktionalität dieser Sprachform, andererseits beklagen sie eine Art (allgemeinen) Bildungs- und Sprachverfall (Bock 2015a). Dass „Leichte Sprache“ als ein Ausdruck von Sprachverfall gesehen wird, entspricht laienlinguistischer Sprachkritik: Nach Kilian/Niehr/Schiewe (2016, 108 f.) ist Sprachkonservativismus ein charakteristisches Merkmal von Laien-Sprachkritik. Von etlichen Lesern (die nicht zur Zielgruppe gehören) werden Texte in „Leichter Sprache“ offenbar intuitiv als eine Art negativ bewerteter „restringierter Code“ (im Sinne der Bernstein zugeschriebenen Defizithypothese) wahrgenommen. Das heißt, sie werden als abweichend von mit hohem Prestige verknüpften Sprachformen wahrgenommen und pauschal als minderwertig und defizitär abgewertet (Wiese 2012). Damit wird „Leichte Sprache“ auch als eine Sprachform gesehen, die ihre Nutzer potenziell abwertet. Zum öffentlichen Urteil über „Leichte Sprache“ gehören auf der anderen Seite jene Äußerungen von Befürwortern, die häufig mit großer Zuversicht und Pauschali 

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tät davon ausgehen, dass „Leichte Sprache“ eine Universallösung für alle Verständlichkeitsprobleme darstelle (Bock 2015a; Antos 2017) und dass durch die Verwendung des „leichten“ Formeninventars vermeintlich Unnötiges im Sprachgebrauch (wie ‚Worthülsen‘, Vagheit und Beamtendeutsch) vermieden würde und automatisch besser verständliche Texte entstünden. „Leichte Sprache“ wird in diesen Bewertungen, implizit oder explizit, nicht selten zur grundsätzlich ‚besseren‘ Sprach- und Textform erhoben, wobei alle nicht-„leichten“ Texte und Äußerungen, die als „schwere Sprache“ bezeichnet werden, pauschal abgewertet werden (Linz 2013; Bock/Lange 2017).

3.4 Fazit Das Phänomen „Leichte Sprache“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie die ‚Laien-Experten‘-Dichotomie eine neue Deutungs- und Bewertungsdimension erhalten hat: Nicht mehr Sprachformen wie Standard- und Bildungssprache werden als Prestigeformen bewertet, sondern in Syntax, Wortschatz und Inhalt maximal vereinfachte, variationsarme Texte (Bock 2015b). Allerdings bleibt diese Sichtweise zugleich nicht unwidersprochen. Das zeigen die öffentlichen Diskussionen, in denen Standard- und Bildungssprache als einzige positiv besetzte Norm engagiert verteidigt werden. Entscheidend ist der besondere Kontext des Phänomens: Die neue Deutung und Bewertung der Experten-Laien-Dichotomie in Bezug auf „Leichte Sprache“ steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kampf um Emanzipation für benachteiligte Minderheiten. Hinter der (auch im Sinne ihrer eigentlichen Zielstellung nicht unproblematischen) Zuschreibung von Expertenrollen und der Positivbesetzung von Sprachformen, die allgemein als wenig prestigeträchtig angesehen werden, steht also eine emanzipatorische Intention. Es soll zudem sichtbar ein Paradigmenwechsel markiert werden. Die Ausdifferenzierung der Positionen ist also in diesem Fall untrennbar mit einer (politischen) Instrumentalisierung von Experten- und Laienzuschreibungen verbunden (vgl. Antos 2017; Zurstrassen 2017).

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II. Theoretische und methodische Zugänge

Barbara Soukup

4. Sprachreflexion und Kognition: Theorien und Methoden der Spracheinstellungsforschung Abstract: Dieser Artikel gibt einen Überblick über die zentralen Methoden und Theorien der Spracheinstellungsforschung sowie ihre aktuell und traditionell häufigsten Anwendungsgebiete. Anschließend an einen Abriss wichtiger Erhebungsverfahren der ‚Mutterdisziplin‘ der sozialpsychologischen Einstellungsforschung werden die verschiedenen Vorgangsweisen der Spracheinstellungsforschung präsentiert, inklusive der lange dominanten Methode der ‚matched-guise technique‘. Im Anschluss daran werden die Verflechtungen der Methodologie mit entsprechenden Theorien und Modellen von (Sprach)einstellungen aufgezeigt und entschlüsselt. Ein kognitiv orientiertes und ein integrativ kognitiv-soziokonstruktionistisches (interaktionistisches) Modell von Spracheinstellungen und den damit verbundenen Äußerungsprozessen werden im Detail vorgestellt. Schließlich werden saliente Anwendungsbereiche der Spracheinstellungsforschung, nämlich in der variationistischen Soziolinguistik, in der Sprachsoziologie und in der angewandten Linguistik, angeführt und exemplarisch illustriert. Ein wichtiges Fazit des Beitrags ist, dass Spracheinstellungen und deren Manifestation (Äußerung) immer relativ und spezifisch zu einem bestimmten Kontext stehen, was, wie auch gezeigt wird, insbesondere die vielfach beobachtete Variabilität von Forschungsergebnissen und deren komplexe Beziehung zur Verhaltensexegese erklären kann. Der Artikel schließt mit einem Aufruf zu methodischem Eklektizismus und integrativer Theorieauffassung im Interesse einer vielseitigen, multiperspektivischen Darstellung von Spracheinstellungen und ihrer Rolle im kommunikativen Alltagsleben.  

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Einleitung Zentrale Erhebungsverfahren Verflechtungen von Methodologie und Theorie Spracheinstellungsforschung in der Anwendung Schluss Literatur

Anmerkung: Die wissenschaftliche Tätigkeit der Autorin wird vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanziert (FWF #V394-G23). Open Access. © 2019 Barbara Soukup, publiziert von De Gruyter. lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110296150-005

Dieses Werk ist

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1 Einleitung „Kleinkariert, fünfunddreißig Jahre, wohnt noch daheim“ „Stelle ich mir dünn mit Schnauzer vor“ „Jung, für mittlere Führungsebene geeignet“ „Circa zwanzig Jahre, Zivildiener“ „Sicher hübsch aber unsympathisch“ „Ihre Haut ist viel zu schön“ (Offene Kommentare auf Sprechende-evaluierenden Fragebögen aus den Spracheinstellungsstudien Soukup 2001 und 2009)

In solcher und ähnlicher Art und Bandbreite können die Reaktionen ausfallen, wenn Gewährspersonen aufgefordert werden, Sprechende einzuschätzen, die sie nur akustisch und anonym vorgeführt bekommen. Dieser Situation sind wir auch im alltäglichen Leben häufig ausgesetzt, sobald wir zum Beispiel unbekannten Personen am Telefon oder mittels Radio begegnen. Die Einschätzung unserer Gegenüber geschieht dabei sehr schnell, nahezu automatisch, und arbeitet zentralen Prozessen unseres Soziallebens zu, wie einer generellen Situationsbeurteilung und dahingehenden Anpassung oder einer sozialen Einordnung des Selbst und des Anderen (siehe z. B. Haddock/Maio 2014). Referieren solche Einschätzungen speziell oder sogar ausschließlich auf sprachbezogene Informationen (die Verwendung von bestimmten Sprachformen), werden sie in der entsprechenden Forschung als Spracheinstellungen bezeichnet. Mit anderen Worten können also Spracheinstellungen global als Positionierungen (in Form von Reaktionen, Beurteilungen, Einschätzungen, Evaluierungen, Assoziationen) bezüglich Sprachen (Sprachgebrauchsformen) und deren Sprecherinnen und Sprecher gefasst werden. Der vorliegende Beitrag präsentiert den gegenwärtigen Stand der Spracheinstellungsforschung in Bezug auf Theorie und Methodologie und diskutiert auch die für die Forschung zentralen Fragen danach, was genau die eingesetzten Methoden eigentlich erheben, was die Resultate aussagen, und welcher (soziokognitiven) Natur Spracheinstellungen sind. Dabei ist aber gleich vorauszuschicken, dass es nach wie vor eine offene Frage in der Spracheinstellungsforschung ist, ob die Evaluierung von Sprachen und die Evaluierung von Sprechenden tatsächlich konzeptuell gleichzusetzen sind (wie in den üblichen Definitionen – siehe z. B. Ryan/Giles/Sebastian 1982) oder doch eigentlich auseinander zu dividieren wären. Diese grundlegende Frage muss auch hier ungeklärt bleiben. Im Folgenden wird mit einem Überblick über die dominanten Methoden der (sozialpsychologischen) Einstellungsforschung generell und der Spracheinstellungsforschung im Besonderen eröffnet (Abschnitt 2). Da der Forschungsdiskurs zum Teil anglophon bestimmt ist, werden zur weiterführenden Orientierung in der Literatur zentrale Fachbegriffe immer wieder auch auf Englisch angeführt. Es folgt die Vorstellung und Diskussion gängiger theoretischer Modelle von (Sprach-)Einstellungen, die, wie gezeigt wird, mit der empirischen Methodologie in sehr engem Zusammen 



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Theorien und Methoden der Spracheinstellungsforschung

hang stehen (Abschnitt 3). Die Erkundung der Zusammenhänge zwischen Einstellungen und tatsächlichem Verhalten, welche eine zentrale Aufgabe und Zielsetzung der Einstellungsforschung darstellt (siehe z. B. Meinefeld 1988; Eagly/Chaiken 2005), erweist sich dabei als eine spezielle Herausforderung an die Theorie. Entsprechend kulminiert Abschnitt 3 in der Präsentation eines integrativen theoretischen Modells, das die verschiedenen aufgeworfenen (kognitiven, interaktiven, verhaltensrelevanten) Aspekte von Spracheinstellungen in einer Darstellung zusammenführen soll. Der Beitrag schließt mit einem Überblick über landläufige Anwendungsgebiete der Spracheinstellungsforschung vor konkludierenden Schlussworten.  

2 Zentrale Erhebungsverfahren 2.1. Erhebungsverfahren der sozialpsychologischen Einstellungsforschung In seiner Genese und Entwicklung ist das Fachgebiet, das sich etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts unter dem Begriff Spracheinstellungsforschung (englisch: language attitude study) formiert hat, stets eng mit der Disziplin der Sozialpsychologie, ihren Theorien, Interessen, Termini und Methoden, verknüpft gewesen. Dies umso mehr, als das allgemeine Konzept der Einstellung (attitude) einen zentralen, nahezu sinngebenden Begriff in der sozialpsychologischen Forschung darstellt (siehe z. B. Haddock/Maio 2014), der, wie Meinefeld (1988) berichtet, bereits im 19. Jahrhundert bei Darwin und Spencer Verwendung fand, um schließlich von Thomas und Znaniecki (1918) „seine noch heute gültige Grundbedeutung […] zur Bezeichnung einer beständigen Orientierung und Handlungsbereitschaft eines Individuums in bezug auf ein soziales Objekt“ zu erhalten (Meinefeld 1988, 570; Herv. i. Orig.). Schon bald kam speziell durch die Entwicklung von quantitativen Erhebungsmethoden großer Schwung in die sozialpsychologische Einstellungsforschung. Deren Hauptinstrumente bildeten genau zu kalibrierende Messskalen, nach denen Individuen bezüglich ihrer Einstellung zu einem Zielobjekt eingeordnet wurden. Bis heute als Klassiker etabliert sind dabei die Skalen von Thurstone (1928), Likert (1932) sowie von Osgood, Suci und Tannenbaum (1957). Thurstones Methode basiert auf der Sammlung von bewertenden Aussagen zu einem Einstellungsobjekt, die anfänglich von einer großen Gruppe von Jurorinnen und Juroren je nach Stärke des Urteils (sehr negativ bis sehr positiv) entlang einer Skala gereiht werden. Von diesen Aussagen wird letztendlich ein finales Set aus jenen, die in diesem Prozess möglichst wenig variiert haben, in das eigentliche Messinstrument übernommen. Die eigentliche Zielgruppe von Gewährspersonen wird in der Folge angehalten, das Set an Urteilsaussagen zu lesen und jene auszuwählen, denen sie zustimmen. Ihre Einstellung zum gegebenen Objekt wird dann gemäß der ursprünglich erstellten Skala und Reihung der Aussagen über entsprechende Punktevergabe durch Ermittlung eines Durchschnittswertes quantitativ  

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Barbara Soukup

ermittelt (siehe die Beschreibung in Krosnick/Judd/Wittenbrink 2005, 32). Für Likerts (vergleichsweise einfacher zu gestaltende) Skalen werden ebenfalls Urteilsaussagen zu einem Einstellungsobjekt gesammelt; von den Gewährspersonen wird dann erhoben, wie sehr sie auf einer vorgegebenen Skala einer jeweiligen positiven oder negativen Aussage zustimmen oder diese ablehnen (z. B. von eins – starke Ablehnung bis fünf – starke Zustimmung). Aus diesen Selbsteinschätzungen wird ein GesamtEinstellungswert errechnet (weiterführend siehe Krosnick/Judd/Wittenbrink 2005, 32, sowie Himmelfarb 1993 und Haddock/Maio 2014). Die besonders populären OsgoodSkalen schließlich – auch als ‚semantische Differenzialskalen‘ (semantic differential scales) oder als ‚Polaritätsprofil‘ bekannt – beruhen auf der Gegenüberstellung von bipolaren Adjektivpaaren (z. B. gut – schlecht; negativ – positiv; angenehm – unangenehm; siehe Haddock/Maio 2014, 214), die links und rechts einer mehrteiligen (traditionell einer siebenteiligen) Skala angeordnet sind. Die Aufgabe der Gewährspersonen ist es dann, ein Einstellungsobjekt ihrer Empfindung nach auf diesen Skalen einzuordnen. Auch hier erfolgt die Auswertung quantitativ, über einen Gesamt- oder einen Durchschnittswert der Bewertungen, welcher die Einstellung jeder Gewährsperson zum Objekt abbilden soll (weiterführend siehe wieder Krosnick/Judd/Wittenbrink 2005; Himmelfarb 1993; Haddock/Maio 2014). Als Gegengewicht zu den beschriebenen Methoden, die vorwiegend auf der Selbsteinschätzung der Gewährspersonen beruhen und somit Verfälschungen wie dem social desirability response bias ausgesetzt sind (also der Möglichkeit, dass dem Ausdruck von ‚gesellschaftlich/sozial erwünschten‘ Einschätzungen zum Zweck der positiven Selbstdarstellung willentlich der Vorzug gegenüber subjektiveren gegeben wird), wurden in der Einstellungsforschung auch Zugänge der ‚impliziten‘ Erhebung entwickelt, die solche Probleme vermeiden sollen (siehe dazu Überblick und Diskussion in Krosnick/Judd/Wittenbrink 2005; Haddock/Maio 2014). Neben der einstellungsableitenden Verhaltensbeobachtung sind die bekanntesten davon so genannte Reaktionsgeschwindigkeitsmessverfahren (response latency measures) wie das evaluative priming und der Implicit Association Test (IAT), welche die verbreitetsten Verfahren dieser Art darstellen (siehe Krosnick/Judd/Wittenbrink 2005 und Haddock/ Maio 2014 für weitere Hinweise). Bei solchen response latency measures werden die Einstellungen von Gewährspersonen darüber ermittelt, wie stark sich ein Einstellungsobjekt und eine polarisierte Wertung (positiv/negativ) miteinander mental verknüpft zeigen. Die Stärke dieser Verknüpfung wird implizit von den Reaktionszeiten (response latencies) in der Erledigung von speziell konstruierten Aufgabenstellungen abgeleitet („attitude activation [is determined] from the impact that an attitude object has on the speed with which a person can make certain judgments“; Krosnick/Judd/ Wittenbrink 2005, 54). Ein mögliches Verfahren unter Gebrauch des evaluative priming wäre zum Beispiel, dass Probandinnen und Probanden nach der Präsentation eines Einstellungsobjekts (z. B. dem Wort Spinat) und danach eines Bewertungsadjektivs (z. B. unangenehm) möglichst schnell eine vorgegebene Taste drücken sollen, die das Adjektiv korrekt als positiv oder negativ charakterisiert. Man nimmt dabei an, dass  







Theorien und Methoden der Spracheinstellungsforschung

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die korrekte Zuordnung (im Beispiel: von unangenehm zu negativ) durch die vorangegangene Präsentation des Einstellungsobjekts (Spinat) dann beschleunigt wird, wenn die Gewährsperson eine entsprechende (hier: negative) Einstellung zum Einstellungsobjekt hegt, die durch das priming bereits mental aktiv ist (im Beispiel also: wenn sie keinen Spinat mag). Ist dies im Ergebnis tatsächlich der Fall (ist also die Reaktionszeit beim Drücken vergleichsweise kurz), wird der Person im Rückschluss eine negative Einstellung zu Spinat zugeschrieben (siehe Haddock/Maio 2014, 215). Zusätzlich zu den genannten Erhebungsmethoden und im Zuge der laufend verbesserten technischen Möglichkeiten wurden auch Methoden entwickelt, um Einstellungen als Funktion gewisser physiologischer Zustände und Veränderungen herauszuarbeiten. So berichten Himmelfarb (1993) sowie Krosnick, Judd und Wittenbrink (2005) von Studien und Experimenten, die positive/negative Einstellungen über Änderungen in galvanischer Hautreaktion, Pupillenreaktion, Muskelaktivität (speziell im Gesicht) oder Gehirnaktivität aufzuzeichnen suchen. Der Erfolg war bis dato gemischt; deshalb sei an dieser Stelle lediglich auf die genannten Quellen zur weiterführenden Lektüre verwiesen. Die bisher beschriebenen Methoden der sozialpsychologischen Einstellungsforschung sind jene des experimentell und quantitativ ausgerichteten Mainstreams. Qualitative, diskursbasierte Ansätze kommen in dem Forschungsgebiet allerdings ebenso zum Einsatz, wenn auch zumeist auf Basis anderer Logik und theoretischer Grundsätze bezüglich des Konstrukts der Einstellung (siehe insbesondere Potter/ Wetherell 1987). Theorie und Methodologie sind also eng miteinander verflochten. Auf diesen Punkt wird Abschnitt 3 noch speziell eingehen.

2.2. Erhebungsverfahren der Spracheinstellungsforschung Die Spracheinstellungsforschung ist nahezu gleichzeitig mit der allgemeinen sozialpsychologischen Einstellungsforschung entstanden – in den zentralen Überblickswerken (Agheyisi/Fishman 1970, Ryan/Giles 1982, Fasold 1984, Cargile et al. 1994, Garrett/Coupland/Williams 2003, Garrett 2010) findet sich als älteste erwähnte und interessensverwandte Studie eine von Pear (1931) zur Einschätzung von Sprechenden im britischen Rundfunkkontext. Ein deutlicher Aufschwung und eine Systematisierung der Forschung ist auch hier mit der Entwicklung einer bestimmten Erhebungsmethode verknüpft, nämlich mit der sogenannten matched-guise technique (hier abgekürzt: MGT; siehe Lambert et al. 1960). Allgemein ausgedrückt handelt es sich dabei um eine Vorgangsweise der Sprechendenbewertung (speaker evaluation), die typischerweise wie folgt abläuft: Den Gewährspersonen wird eine Reihe von Tonaufnahmen vorgespielt, die sich (nur) in Bezug auf die Sprachverwendung (Akzent, Varietät) voneinander unterscheiden (die sogenannten guises), also von ein und dem- oder derselben Sprechenden produziert wurden – diese Tatsache wird allerdings in den Instruktionen verschwiegen. Auch hier kommen Beurteilungsskalen zum Einsatz, und

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zwar in der großen Mehrheit der Studien semantische Differenzialskalen (siehe Soukup 2013a). Die Gewährspersonen sind angehalten, die gehörten Sprechenden auf diesen Skalen hinsichtlich verschiedener Charaktereigenschaften oder anderer Persönlichkeitsmerkmale (z. B. Sympathie, Intelligenz oder Attraktivität) einzustufen. Die verwendeten Adjektivlisten sind häufig standardisiert und sollen typische menschliche Bewertungsdimensionen aus der Psychologie abbilden (siehe einen Überblick in Zahn/Hopper 1985). Diese Standardisierung soll eine Vergleichbarkeit von Studien ermöglichen; sie wird aber auch dahingehend kritisiert, dass die verwendeten Adjektive für die Gewährspersonen möglicherweise zu limitierend und eventuell irrelevant seien (siehe z. B. Liebscher/Dailey-O’Cain 2009). Vielfach werden, zumeist zusätzlich zu den standardisierten Items, auch offene Antworten elizitiert (so sind die am Anfang dieses Beitrags zitierten Kommentare entstanden). In der ‚klassischen‘ Variante der MGT (nach Lambert et al. 1960) konzentriert sich die Auswertung auf die durchschnittliche Bewertung jener Aufnahmen, die von identischen Sprechenden produziert wurden, ohne dass die (durch ‚Füllstimmen‘ abgelenkten) Gewährspersonen dies wissen. So ist die Sprachverwendung (und nicht z. B. Stimme oder Persönlichkeit der Sprechenden) tatsächlich der einzige faktische Unterschied zwischen den Aufnahmen (in experimentaltheoretischer Diktion: die einzige unabhängige Variable). Weil auf diese Art andere Ursachen experimentell ausgeschlossen wurden, kann die Variation in der Sprachverwendung als kausale Erklärung für jegliche auftretende Abweichungen in den Einschätzungen zwischen den Guises, und diese dann als Manifestation und Evidenz differenzierter Spracheinstellungen, betrachtet werden. Als Quellen zur weiterführenden Lektüre zur MGT und ihren Anwendungen in der Forschung sei an dieser Stelle noch einmal auf die zentralen Überblickswerke der Spracheinstellungsforschung verwiesen (Agheyisi/ Fishman 1970; Ryan/Giles 1982; Fasold 1984; Garrett/Coupland/Williams 2003; Garrett 2010). Eine beliebte abgeänderte Version der MGT (die sog. verbal-guise technique) setzt nicht dieselben, sondern verschiedene Sprechende für verschiedene Akzent- oder Varietäten-Ausprägungen ein. Dies führt dem Design zwar zusätzliche, vor allem stimmbasierte Variablen zu, macht das Experiment also weniger kontrollierbar, erhöht aber die Authentizität der Aufnahmen und soll so helfen, verfälschende, stereotype Präsentationen zu vermeiden, die nach Meinung der Kritiker der MGT durch die Verwendung identischer Sprechender entstehen können. Weiters soll hierdurch die Rekrutierung von Sprechenden erleichtert werden, da solche mit den gewünschten Variationsfähigkeiten oft nicht leicht (oder häufig nur im professionellen Umfeld von Schauspielenden) zu finden sind. Auch schriftliche Stimuli wurden schon erfolgreich verwendet (z. B. Preston 1985; Wright 2000; Buchstaller 2006). Eine weitere Variante, die open-guise technique, bei der die Gewährspersonen wissentlich die gleichen Sprechenden in verschiedenen Guises beurteilen, wurde von Soukup (2013b), die die ‚Verschleierungsstrategie‘ der Original-MGT kritisch diskutiert, vorgeschlagen.  







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Bis heute ist die MGT in verschiedenen Formen sehr beliebt, was sich wohl mit ihrer langen Erfolgsgeschichte in der Erkenntnisfindung begründen lässt, welche der augenscheinlichen Geradlinigkeit ihrer Vorgaben und Aussagen geschuldet sein mag. So ergibt eine Suche in der LLBA-Datenbank („Linguistics and Language Behavior Abstracts“ – ProQuest) nach dem Stichwort matched guise in Beitragstiteln oder Abstracts 152 Treffer für Publikationen seit dem Jahr 2000 (Stand: Jänner 2019). Aber in der Spracheinstellungsforschung, wie in der allgemeinen Einstellungsforschung, kommen auch andere Methoden zur Anwendung. Speziell in den letzten Jahren finden sich vermehrt Studien, die Techniken der Reaktionsgeschwindigkeitsmessung (Campbell-Kibler 2012; Pantos/Perkins 2012) oder der Gehirnaktivitätsmessung (Loudermilk 2015) als Indikatoren von Einstellungsassoziationen bezüglich ihrer Stimuli anwenden. Ebenso gibt es eine aktive Forschungsrichtung, die auf die Manifestation von Einstellungen in Diskursdaten (Interviews, Konversationen, geschriebenen Texten) fokussiert und auf deren qualitative Analyse ausgerichtet ist (damit nähert sich die Spracheinstellungsforschung der diskursorientierten Sprachideologieforschung an; vgl. dazu den Beitrag von Busch i. d. Bd.). In ihrem Überblick über diese Forschungsrichtung identifizieren Liebscher und Dailey-O’Cain (2009, 197) drei Kategorien entsprechender Zugänge, nämlich „content-based, turn-internal semantic and pragmatic, and interactional approaches“. Für erstere werden in einem Datenkorpus Einstellungsaussagen identifiziert und gemäß ihres Aussageinhalts kategorisiert. Im semantisch-pragmatischen Zugang wird zusätzlich die Struktur und Funktion bestimmter sprachlicher Formulierungen in den Einstellungsaussagen analysiert, wofür Liebscher und Dailey-O’Cain (2009) „Levinson’s (1983) concepts of assertions, entailments, presuppositions, and comparison and contrast“ (S. 198, Herv. i. Orig.) sowie eine Studie von Preston (2010) als Beispiele anführen. Ein interaktioneller Zugang schließlich basiert auf den Methoden, Theorien und Erkenntnissen der interaktionalen Soziolinguistik und der Konversationsanalyse (siehe z. B. Schiffrin 1994; Tannen 2004; Sidnell/Stivers 2013) und fokussiert Phänomene wie Überlappungen, Pausen, oder Gelächter, deren Form und Funktion über einzelne Wortmeldungen (Turns) hinausgehen. Liebscher und Dailey-O’Cain (2009, 200) betonen zudem explizit, dass eigentlich alle drei genannten Zugänge wichtig sind und zumindest bis zu einem gewissen Grad miteinander verbunden werden sollten, weil sie ergänzende und nicht voneinander unabhängige Perspektiven und Phänomene darstellen.  

3 Verflechtungen von Methodologie und Theorie Im Zuge ihrer Diskussion von Einstellungserhebungsmethoden im Kontext der allgemeinen Sozialpsychologie weisen Krosnick, Judd und Wittenbrink (2005, 23) auf den interessanten Aspekt hin, dass die Ansprüche und Gegebenheiten der skalenbasierten, quantitativen Messverfahren das Verständnis des Konstrukts der Einstellung

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wesentlich geprägt haben. Sie haben dazu geführt, dass unter Einstellungen zunehmend eine sich in rein evaluierenden Reaktionen ausdrückende Disposition gegenüber je einem einzigen konkreten attitude object verstanden wurde (und nicht etwa multidimensionale, inhaltlich ausdifferenziertere Reaktionen auf Objektkonstellationen). So charakterisiert eine immer noch geläufige Definition von Einstellung diese als „a psychological tendency that is expressed by evaluating a particular entity with some degree of favor or disfavor“ (Eagly/Chaiken 1993, 1; laufend zitiert im Handbuch Albarracín/Johnson/Zanna 2005; Herv. B.S.). Es mag wahrscheinlich genau diese Spezifizierung oder Reduktion des Einstellungskonstrukts sowie insbesondere die dabei mehr oder weniger implizit zugrunde liegende Annahme sein, dass Einstellungen messbar sind oder sein müssen, die in entsprechenden Theorien und Modellen immer wieder zu dem (bereits bei Thomas/ Znaniecki 1918 anklingenden) Postulat geführt haben, es gebe eine dauerhafte, stabile, wenn auch nur latent manifeste, so aber doch kohärent und einigermaßen monolithisch beständige evaluative Grund-Prädisposition gegenüber einem Einstellungsobjekt. Die Tatsache, dass Einstellungen als kognitive Gebilde nicht direkt erfasst werden können (die sog. Latenz des Konstrukts), macht deren Messung dabei quasi zu einem Prozess des ‚reverse engineering‘: „[T]he process of attitude measurement is one of attempting to work backwards, going from the response back to the latent construct that is the attitude“ (Krosnick/Judd/Wittenbrink 2005, 24). Dabei wird dem Konstrukt selbst durchaus eine komplexe interne Struktur zugeschrieben, insbesondere im ‚Multikomponentenmodell‘, einer maßgeblichen und weit verbreiteten Konzeptualisierung von Einstellungen (siehe Zanna/Rempel 1988; Eagly/Chaiken 1993; Fabrigar/MacDonald/Wegener 2005). Dieses Modell postuliert, dass Einstellungen „Gesamtbewertungen eines Einstellungsobjekts sind, die sich aus kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Informationen ableiten“ (Haddock/ Maio 2014, 200; Herv. B.S.). Dabei bezeichnet man als kognitive Komponente […] die Überzeugungen, Gedanken und Merkmale, die mit einem Einstellungsobjekt verbunden sind. Als affektive Komponente werden die Gefühle oder Emotionen bezeichnet, die mit einem Einstellungsobjekt assoziiert sind. Die Verhaltenskomponente bezieht sich auf (frühere, aktuelle oder antizipierte) Verhaltensweisen gegenüber dem Einstellungsobjekt. (Haddock/Maio 2014, 206; Herv. B.S.)

Die moderne Einstellungsforschung hält dabei aber fest, dass die Einstellung selbst nicht mit diesen verschiedenen Arten von ‚Informationen‘ gleichzusetzen ist, sondern vielmehr einer evaluierenden Synthese daraus gleichkommt (Fabrigar/MacDonald/ Wegener 2005; siehe allgemein Albarracín/Blair/Zanna 2005 für Überblickskapitel zu den einzelnen Komponenten im Verhältnis zu Einstellungen). Dabei war immer von besonderem Interesse, wie eigentlich Einstellungen und Verhalten genau zusammenhängen, zumal wiederholt konstatiert wurde, dass Vorhersage und Erklärung von Verhalten der eigentliche Zweck der Einstellungsforschung seien (siehe z. B. Meinefeld 1988; Gass/Seiter 1999 wie zitiert in Garrett 2010; Eagly/Chaiken 2005). Allerdings  

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haben sich Versuche, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen gemessenen Einstellungen und beobachtetem Verhalten empirisch nachzuweisen, immer wieder als höchst problematisch erwiesen – angefangen mit der berühmten und oft zitierten Studie LaPieres (1934) zu Vorurteilen und tatsächlichem Verhalten gegenüber chinesischen Reisenden in Hotels in den USA, die gezeigt hat, dass verbal geäußerte (hier: negative) Vorurteile im krassen Gegensatz zu tatsächlich beobachteten (hier: positiven) Verhaltensreaktionen stehen können (zum Überblick über das Thema siehe Ajzen/Fishbein 2005). Die empirisch immer wieder attestierten Diskrepanzen zwischen experimentell generierten Einstellungsmessungen und tatsächlichen Verhaltensbeobachtungen sind nur eine der Herausforderungen, mit denen sich besonders jene (meist quantitativ-experimentelle) Forschung konfrontiert sieht, die auf der theoretischen Konzeption der Einstellung als grundlegender, kohärenter, latenter, aber dennoch (im wahrsten Sinne des Wortes) ‚dingfest‘ zu machender Evaluationsprädisposition aufbaut. Eine zweite, damit zusammenhängende Herausforderung besteht in der ebenfalls vielfach belegten Tatsache, dass (sowohl explizit als auch implizit) erhobene Einstellungen sich situationsübergreifend oftmals variabel zeigen, also letztendlich kontextsensibel und -relativ sind (siehe z. B. Bassili/Brown 2005; Schwarz 2007; Bohner/ Dickel 2011). Über die Jahre ist die quantitative Einstellungsforschung diesen Problemen mit immer komplexeren theoretischen Modellen begegnet, die kontextspezifische Faktoren postulieren, welche zwischen einer latenten, kohärenten, stabilen, evaluativen Prädisposition und der letztlich im Erhebungsprozess beziehungsweise im Verhalten manifestierten Einstellung moderierend intervenieren (zur Diskussion siehe Krosnick/Judd/Wittenbrink 2005; Bassili/Brown 2005; Bohner/Dickel 2011). Gleichzeitig waren es aber auch genau diese Kritikpunkte, welche speziell die diskursiv ausgerichtete Sozialpsychologie dazu veranlasst haben, den im experimentellen Mainstream verbreiteten Glauben an die Existenz der latenten Einstellung als einigermaßen solides und beständiges mentales Gebilde grundsätzlich in Frage zu stellen (siehe auch Schwarz 2007 für eine ähnliche Argumentationslinie im Rahmen der quantitativen Forschung). So formulieren Potter und Wetherell (1987, 54) kritisch:  

There is always the danger of massive post hoc interpretation to preserve the notion of attitude. Given enough modifying variables huge flexibility in response can be explained, although there must come a point when it is no longer useful to continue stressing the underlying attitude.

Die daraus gezogene Schlussfolgerung in der qualitativen, sozial-konstruktionistisch orientierten Forschung war und ist, Einstellungen nicht als mental-latente Gebilde, sondern als interaktionell-prozessuale Konstrukte zu konzipieren, die je nach Gegebenheit und Konfiguration des Anwendungskontextes (also gleichzeitig des Ermittlungskontextes) erst ihre Ausprägung erhalten. Der Fokus liegt hier auf „people’s practices of evaluation in particular settings“ (Potter 1998, 242). Es gilt: „[A]ttitudes are performed rather than preformed“ (Potter 1998, 246; Originalformatierung), und „evaluations are not treated as ready-made cognitive objects but as entities that are

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worked up by the participants in ways that are suitable for what is being done“ (Puchta/Potter 2002, 347). Man überträgt also die interaktional-soziolinguistische Grundannahme, dass alle menschliche kommunikative Aktivität kontextuell situiert, kontextspezifisch, kontextbezogen und kontextrelativ ist (dazu programmatisch Hymes 1972), auf die Manifestation von Einstellungen – gleich, ob diese nun experimentell elizitiert oder in ihrem ‚natürlichen‘ Vorkommen erhoben wurden (siehe dazu auch Soukup 2014, 2015). Schwarz (2007, 639) weist mit Blick auf diese Debatte auf einen wichtigen Aspekt hin: [T]he controversy over whether people ‘have’ or ‘construct’ attitudes cannot be settled on the basis of critical experiments but rests on issues of parsimony and heuristic fruitfulness.

Das heißt, die hier verhandelte Grundfrage kann, gerade weil mentale Konstrukte nur indirekt zugänglich sind, nicht empirisch geklärt werden. Welcher Zugang bevorzugt wird, muss vielmehr unter Abwägungen der erklärerischen Wirtschaftlichkeit (‚Ockhams Rasiermesser‘) und Potenz festgestellt werden. Vor diesem Hintergrund scheint zwar einiges für einen konstruktionistischen Zugang zu sprechen. Dennoch ist diese Kontroverse hier nicht aufzulösen. In Rückführung auf das zentrale Thema dieses Beitrags muss aber mit Blick auf die kontroversielle theoretische Modellierung, wenn man die Forschungspraxis mitberücksichtigt, auch folgende paradoxe Situation konstatiert werden: Zwar hat die Spracheinstellungsforschung die theoretische Modellierung der allgemein-sozialpsychologischen Einstellungsforschung – und damit die lange Zeit dort als orthodox geltende Konzeption von Einstellung als grundlegende, latente, mentale, einheitliche Evaluierungsprädisposition, die es empirisch zu entdecken gelte – großteils direkt übernommen. Dies hat sie aber niemals daran gehindert, in ihren eigenen praktischen Studien, außerhalb der üblichen vorgehängten Literaturüberblicke, Spracheinstellungen als ganz natürlich mehrdimensional und nicht nur auf die Evaluierungsebene beschränkt zu fassen (was, überspitzt formuliert, zuweilen einer theoretischen ‚Schizophrenie‘ gleicht). So präsentiert bereits Lambert (1967, mit Verweis auf Preston 1963) erhobene Reaktionen auf kanadisches versus kontinentales Französisch dreidimensional aufgespannt mittels der Ankerpunkte competence, personal integrity und social attractiveness (wobei competence unter anderem Einschätzungen der Intelligenz und Führungseignung, personal integrity Einschätzungen der Ehrlichkeit und Nettigkeit und social attractiveness Einschätzungen bezüglich Sympathie und Sinn für Humor beinhaltet – also Bewertungskategorien, die nicht unmittelbar einer Evaluierungsachse gut – schlecht zuzuordnen sind). Diese (zumindest) dreifache Ausdifferenzierung und Auffächerung von Sprechendenbeurteilungen wurde mittlerweile oft in Studien in der Ergebnisexegese angewandt und für sinnvoll erachtet. Zahn und Hopper (1985) haben sie auch statistisch untermauert. Evaluierung im engeren Sinne (positiv – negativ) tritt hier also zugunsten des Interesses an breiter gestreuten sozialen und charakterlichen Assoziationen deutlich in den Hintergrund. Dies wird übri-

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gens auch der ursprünglichen Zielrichtung der Osgood-Skalen, die eigentlich zur Messung von social meanings und nicht nur speziell von evaluierenden Einstellungen konzipiert wurden, gerechter (schon der Titel des Buchs von Osgood, Suci und Tannenbaum lautet ja The Measurement of Meaning – und nicht etwa …of Attitudes). Eine mögliche Konsequenz eines solch breit ausgerichteten Interesses über das klassische sozialpsychologische Einstellungskonstrukt hinaus wäre eigentlich, wenn man den Einstellungsbegriff weiterhin eng fassen möchte, den Gegenstandsbereich entsprechend anders zu benennen – als studies of the social meaning of language (anstatt: of language attitudes) oder, mit Preston (z. B. 2010), als Forschung zu language regard (in etwa: ‚Sprachbetrachtung‘; zur weiteren Diskussion siehe Soukup 2013a). Komplexer wird die theoretische Situation noch dadurch, dass in der Spracheinstellungsforschung tatsächlich schon lange erörtert und betont wird, dass die erhobenen sozialen Assoziationen in engem Zusammenhang damit stehen, in welchem Kontext sie generiert wurden. So gehen bereits Giles und Ryan (1982, 219) im Nachwort zu ihrem wegweisenden Studien-Sammelband davon aus, „[t]he extent to which language variety A is or is not preferred over language variety B depends upon the situation in which the assessment is made“. Insbesondere verweisen sie dabei auf die Rolle, die kontextuelle Faktoren für Einschätzungen spielen. Zu solchen kontextuellen Faktoren rechnen sie situationsbedingte Fokussierungen etwa auf den Status von Sprechenden oder auf soziale Beziehungen mit ihnen sowie auch die Frage, ob eher die Gruppenzugehörigkeit der Sprechenden oder ihre spezielle Identität als Individuum mehr in die Bewertung eingehen. Auch spätere Weiterentwicklungen theoretischer Modelle von Prozessen der Spracheinstellungsäußerung wie das von Cargile et al. (1994) heben den Einfluss von Parametern des Kontexts (von Zielen und Motiven der Interaktionspartner über das physische Setting bis hin zum sozialen Prestige einer Sprache und allgemeinen gesellschaftlichen Machtdynamiken) hervor. Dieser Einfluss ist im Bereich der Spracheinstellungsforschung durch Studien untersucht und belegt (siehe den Überblick in Cargile et al. 1994). Diese hier offensichtlich werdenden Diskrepanzen zur Mutterdisziplin der sozialpsychologischen Einstellungsforschung haben es in der Spracheinstellungsforschung schließlich notwendig gemacht, eigene theoretische Modelle des Untersuchungsgegenstandes zu entwickeln. Ebenso zentral wie aktuell ist dabei das Modell von Preston (z. B. 2016, 2017), welches ein „regard event“, den Prozess vom Bemerken bis hin zur Realisierung einer Reaktion auf eine bestimmte Sprachvariante, detaillieren soll (vgl. Abbildung 1; siehe auch die Erläuterung in Preston 2017). Preston abstrahiert das regard event visuell als Dreieck, das zwischen den Eckpunkten Sprachproduktion und Sprachverstehen (a), abwägenden/bewussten (b) und automatischen/unbewussten Sprachbetrachtungsreaktionen (c) aufgespannt ist.  



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Abbildung 1: Der Prozess der Ausbildung einer Sprachbetrachtungsreaktion (nach Preston 2016, reproduziert mit freundlicher Erlaubnis des Autors; Übersetzung: B.S.). N.B.: Für die Schritte a' und bc' verweist Preston (2017) sehr allgemein auf entsprechende Literatur in der kognitiven Psychologie.  

Der Prozess beginnt, wenn eine Person ein Phänomen a, zum Beispiel die Form einer bestimmten Aussprache eines Lauts, registriert (1). Dieses Phänomen wird dann (z. B. regional oder anderweitig gruppenbezogen) klassifiziert (2) und mittels entsprechend vorhandener Sprachbetrachtungsvorstellungen (language regard beliefs) mit einer sozialen Bedeutung ‚befüllt‘ (imbued) (3). Daraus resultieren vorwiegend abwägende (b) oder automatische (c) Sprachbetrachtungsreaktionen (4). Die (eigentlich erst bedeutungsgebenden) Sprachbetrachtungsvorstellungen modelliert Preston (2017) wiederum separat (mit Referenz auf Rosenberg 1968 und Bassili/Brown 2005) in Form eines attitudinal cognitorium – als quasi-neuronales Netzwerk der im Zusammenhang mit einem Einstellungsobjekt (hier: einem bestimmten Sprachgebrauch) mental gespeicherten Assoziationen, welche sehr breit gestreut und durchaus dissonant sein können, sowie ihren verschiedenen (und verschieden stark ausgeprägten) Querverbindungen (oder deren Absenz). Der Kontext als Einflussgröße in der tatsächlichen Ausführung einer Spracheinstellungsreaktion ist in diesem Modell ebenfalls berücksichtigt. Er wird als Rahmen und Mediator des Aktivierungs- und Zusammenführungsprozesses bestimmter, entsprechend kontextspezifisch selektierter und adaptierter Aspekte des Cognitoriums betrachtet, welcher somit ein variabler Prozess ist („variety  

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[…] may exist in even a single respondent’s capacity for linking language use to their set of beliefs and stereotypes“; Preston 2017, 38). Prestons Modell der Genese einer Sprachbetrachtungsreaktion (siehe Abbildung 1) erfasst unter anderem zwei Prozessstadien, die auch aus dem Blickwinkel anderer, nicht im selben Ausmaß sozialpsychologisch geprägter Forschungsansätze als zentrale Elemente der Sprachbetrachtung und -beurteilung propagiert werden und somit über die Spracheinstellungsforschung hinaus als wesentliche Komponenten der Sprachreflexion angesehen werden. Dies ist einerseits das Bemerken oder Auffallen eines bestimmten Sprachgebrauchs und andererseits die Verknüpfung eines solchen Sprachgebrauchs mit sozialen Assoziationen und Bedeutungen. Purschke (2011, 2014) bezeichnet diese beiden Schritte als Salienz und Pertinenz und verwendet sie als Hauptbausteine seines Modells von Sprachbeurteilung aus zeichentheoretischer Sicht, das auf deren soziopragmatische (auch interaktionelle) Hintergründe, Motivationen und Auswirkungen ausgerichtet ist. Ähnliches findet sich bei Kristiansen (2008), die Sprachbetrachtung aus der Perspektive der kognitiven (Sozio-)Linguistik zum Zweck der Erläuterung von Sprachwechsel, -wandel und -variation theoretisiert. Auch Kristiansens Ausführung betrachtet den Schritt der Assoziation von Sprachgebrauch mit sozialer Bedeutung als zentral, allerdings, dem Vokabular ihrer Disziplin (kognitive Linguistik) entsprechend, in Form eines metonymischen PRODUCER PRODUCT - oder CAUSE - EFFECT -Schemas, das einen kognitiven Weg von auffälligen Sprachvarianten (bzw. deren mental gespeicherten prototypischen Formen) zu bestimmten Sprechendengruppen und deren assoziierten sozialen Stereotypen bahnt (siehe auch die Diskussion in Soukup 2013c). Wie bereits oben erläutert, wird die generelle und fundamentale soziolinguistische Erkenntnis, dass (sprachliche) Kommunikation immer kontextuell situiert und entsprechend kontextrelativ und variabel ist (siehe Hymes 1972), in der kognitiv fokussierten Modellierung von Spracheinstellungen gemeinhin als gegeben angenommen und in die Darstellung der mentalen Prozessabläufe der Sprachbeurteilung inkorporiert, sodass situationsspezifische Variabilität prinzipiell kein Erklärungsproblem darstellt. Parallel zu den kognitiven Modellen von Spracheinstellungen gibt es nun aber auch solche, die vorrangig bis exklusiv auf die Explikation der kontextuell-lokalen Ausformungen, Handlungsprämissen, Funktionen, Ziele und Folgewirkungen von Spracheinstellungen und deren Manifestation in der Interaktion spezialisiert sind. Wieder spielt hier die konstruktionistische Sichtweise eine Rolle, dass Spracheinstellungsäußerungen die einzige direkt beobachtbare Größe darstellen und somit bevorzugt zur Theoretisierung des Forschungsgegenstands heranzuziehen sind. So definieren Tophinke und Ziegler (2006) in ihrem viel beachteten Modell Einstellungen beziehungsweise eben deren Äußerung als „Handlung im Kontext“ (S. 216), die sich „an einer bestimmten Stelle im dynamischen Geschehen der sprachlichen Interaktion [ergibt], in ihrer Genese an diesen Kontext gebunden und selbst konstitutives Element dieses Kontextes“ ist (S. 215), aber nicht einfach situationsgemäß evoziert, sondern vor allem, ihrem Charakter als Handlung entsprechend, „im  



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Rahmen der Situationsdefinition und Situationsausgestaltung gezielt eingesetzt“ wird (S. 221), also kommunikativ höchst funktional ist. Die Erkundung der genauen interaktionellen Funktionen stellt dann das zentrale Forschungsdesiderat dar, welches, so der Vorschlag der beiden Autorinnen, am besten mit qualitativen, diskursanalytischen Methoden (und über Gesprächsdatenauswertung) angegangen wird (zur darin impliziten Kritik der experimentellen Methodik in der Spracheinstellungsforschung siehe auch den vielzitierten Artikel von Hyrkstedt/Kalaja 1998). An dieser Stelle ist aber festzuhalten, dass selbst die glühendsten Proponentinnen konstruktionistischer (und Gegner von positivistisch-reifizierenden) Konzeptionen von Einstellungen wohl nicht davon ausgehen würden, dass es überhaupt keine mental gespeicherten Gebilde gäbe, auf die interaktionell konstruierte Einstellungsäußerungen zurückgreifen können, und dass letztere immer völlig ad hoc, individuell und faktisch aus einer tabula rasa heraus erzeugt würden. Dies nicht zuletzt, weil die Wiederkehr gewisser Muster der Ausformung von Einstellungen ja trotzdem empirisch belegt ist und darüber hinaus auch die logisch notwendige Basis für robustbeständige (nicht bloß anekdotische) Erkenntnisse, gruppenbezogene Generalisierungen und gesellschaftliche Anwendungen wie z. B. sprachpolitische Eingriffsvorschläge bildet (siehe auch Abschnitt 4). Dementsprechend erscheint ein integratives Spracheinstellungsmodell nützlich, das sowohl die situationsübergreifend stabile (quasi dinghafte) als auch die interaktionsspezifisch konstruierte (prozessuale) Natur von Einstellungen und deren Manifestation erfasst. In Soukup (2014, 2015) wird solch ein Modell präsentiert, das auf der Konzeptualisierung von Spracheinstellungen als human epistemological constructs (HECs nach Scollon 2003) fußt. HECs sind im Prinzip in der sozialen Interaktion entwickelte, zu kognitiven Gebilden zusammengefügte und als solche auch speicherbare sprachreflexive Diskurse, die als kommunikative „Orientierungshilfen, Bezugspunkte, und Ordnungsstrukturen“ dienen und welche „wir Menschen im Laufe der Auffassung und Exegese unserer Umgebung zur Generierung und Vermittlung von Bedeutung (hier konkret: zur Bewertung von Sprache und Sprechenden) erlernen, erstellen, verwenden, und anpassen“ (Soukup 2014, 148; zur Definition von Diskurs in diesem Sinne siehe auch Gee 1999, 13). (Spracheinstellungs-)HECs können dann zyklisch wieder in der Interaktion situationsspezifisch (womöglich: intertextuell) im sprachreflexiven Handlungsprozess herangezogen, benutzt, adaptiert, verhandelt, weiterentwickelt und zur erneuten Verwendung abgelegt werden. Abbildung 2 zeigt eine Skizze dieses Modells, in der die zyklischen Verbindungen zwischen Interaktion und Kognition (Speicherung und Wiedereinsetzung von HECs/Spracheinstellungen), zwischen Interaktion und Kontext (als Bedingtheit, aber auch Folge der lokalen Prozessausprägung), und zwischen den Interagierenden selbst (interaktionsbezogene und kommunikationsdienliche Verhandlung von HECs/Spracheinstellungen) dargestellt sind. Die Skizzierung der kognitiven Netzwerke soll dabei ausdrücken, dass es sich bei gespeicherten HECs um verfestigte ‚Diskursbausteine‘ – in Prestons Terminologie wohl um Elemente eines attitudinal-cognitorium-artigen Systems – handeln mag.  

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Abbildung 2: Ein integratives Modell von Spracheinstellungen als HECs, das den konstitutiven Elementen Kontext, Interaktion und Kognition und deren zyklischen Beziehungen Rechnung trägt.  

Das präsentierte integrative Modell (Abbildung 2) soll also sowohl für kognitivpsychologische Erwägungen der situationsübergreifenden Speicherung von und Bezugnahme auf Einstellungsgebilde Raum bieten, als auch für die situationsspezifische, sozial-konstruktionistische Beleuchtung der interaktionellen Konstituierung, Funktionen, Prozesse und Praxen von Einstellungsäußerungshandlungen. Dabei wird die Interaktion bewusst (dem Stand der gegenwärtigen Theoriediskussion Rechnung tragend) als zentrales, zwischen Kontext und Kognition mediierendes Element positioniert. Damit soll hervorgehoben werden, dass jedwede Spracheinstellungsmanifestation (in Abbildung 2 repräsentiert durch die Sprechblasen), in welcher Form sie auch immer vorkommen mag (Gesprächsdaten, elizitierende Interviews, Sprechendenevaluierungsexperimente oder auch Perzeptionstests), als interaktiv produziert zu verstehen ist. Dieser Standpunkt wird in Soukup (2015) ausführlich im Hinblick auf das Vorantreiben von mixed-methods research in der Spracheinstellungsforschung und speziell im Beispielfall der Integration von MGT-Experimenten mit diskursanalytischer Exegese von strategischem Code-Switching illustiert und dargelegt (siehe außerdem Soukup 2014, 2015, mit laufendem Bezug auf Scollon 2003, zur weiterführenden Diskussion vor allem hinsichtlich der entsprechenden Ontologie und Epistemologie von Spracheinstellungen und deren Erforschung). Welcher der Aspekte der in dem Modell als inhärent dual dargestellten Natur von Spracheinstellungen (als Prozess und als Gebilde) in einer Studie primär für heuristische Zwecke herangezogen wird, hängt aber natürlich mit dem konkreten Forschungsfokus zusammen. Welche Anwendungsgebiete in der Spracheinstellungsforschung derzeit salient sind, skizziert der folgende, abschließende Abschnitt dieses Beitrags.

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4 Spracheinstellungsforschung in der Anwendung Die Hauptanwendungsgebiete der Spracheinstellungsforschung finden sich in den Bereichen der (variationistischen) Soziolinguistik, der Sprachsoziologie (sociology of language) und der angewandten Linguistik (applied linguistics) – wenn sich diese Fachrichtungen und ihre Interessen auch oftmals schwer voneinander abgrenzen lassen (siehe dazu Bucholtz/Hall 2008, die für einen Überbegriff sociocultural linguistics plädieren). Relativ eindeutig identifizierbar sind dabei aber die Ansprüche und Bedürfnisse der traditionellen variationistischen Soziolinguistik in Bezug auf die Spracheinstellungsforschung, wie Kristiansen (2011) in seinem hilfreichen Überblicksartikel darlegt. Die traditionelle Variationsanalyse ist ja mit der Erforschung von Sprachwandel, vor allem in Form dessen synchroner Einbettungen, Motivationen und Ausprägungen, befasst (siehe hierfür insbesondere den programmatischen Artikel Weinreich/Labov/Herzog 1968, sowie den Großteil der weiterführenden Arbeiten von Labov, z. B. 1994, 2001, 2010). Von Anfang an wurde dabei postuliert, dass Sprachwandel auch mit den Spracheinstellungen der untersuchten Personengruppen in engem Zusammenhang steht. So wurde die Grundannahme  

[t]here can be no doubt that deep-seated sets of social attitudes are powerful factors in determining the course of language history in multilingual communities (Weinreich/Labov/Herzog 1968, 165)

von den Autoren gleichermaßen auf das Phänomen der ‚innersprachlichen‘ Mehrsprachigkeit (Variation) übertragen. Dementsprechend hat sich Labov in seiner wegweisenden variationslinguistischen Forschung immer wieder nicht nur mit der Dokumentation und Analyse des Standes der Sprachverwendung seiner Gewährspersonen beschäftigt, sondern diese ebenso laufend in Relation zu Erhebungen von deren subjektiven Empfindungen, Einschätzungen und Evaluierungen der lokalen Sprachnormen und des Sprachgebrauchs (also ihren Spracheinstellungen) gesetzt (siehe Kristiansen 2011, der auch entsprechende Studien anführt). Was die Methodik betrifft, vermerkt Labov dezidiert (2001, 194): „The most fruitful experimental measures of subjective reactions to linguistic variation have been through matched guise tests“ (Originalformatierung; auch zitiert in Kristiansen 2011, 267). Über die Jahre hat sich bei dieser Verknüpfung der Erforschung der Zusammenhänge von Sprachvariation und Sprachwandel (also von beobachtetem Sprachgebrauchsverhalten) einerseits mit Erhebungen von Spracheinstellungen andererseits folgende Hypothese herauskristallisiert: Korrelationen zwischen diesen Phänomenen sind eigentlich nur bezüglich einer bestimmten Zugangsebene zu den Einstellungen konsequent feststellbar, nämlich wenn diese (wie typischerweise bei der MGT) mit ‚indirekten‘ Methoden ermittelt werden, beziehungsweise eben so, dass „subjects do not become aware of reacting to language varieties“ (Kristiansen 2011, 275). Insbesondere die beispielgebend umfassende und systematische Erforschung von Sprachwandel und Spracheinstellungen in Dänemark im Rahmen der LANCHART-Initiative

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(http://lanchart.hum.ku.dk/ – 03.01.2019; siehe auch z. B. Kristiansen 2009, 2011) hat ergeben, dass es einen großen Unterschied im Ergebnis machen kann, ob Gewährspersonen ihre Spracheinstellungen bewusst oder unbewusst zu Protokoll geben (was aber, wohlgemerkt, keine entsprechenden Schlüsse über den Status der Konstrukte selbst zulässt). In Folge wurde konstatiert, dass Trends aus der unbewusst generierten Sprach- und Sprechendenbeurteilung am ehesten die Richtung von dokumentierten Sprachwandelprozessen zu reflektieren scheinen. Es bleibt dahingestellt, inwieweit sich diese Erkenntnis als Funktion des Erhebungskontextes sowohl von Sprachverhalten als auch von Spracheinstellungsäußerung modellieren (und in Form von entsprechender Manipulation empirisch noch ausreizen) ließe, sodass die Erkenntnis letztlich lediglich weiter untermauert, dass ähnliche Handlungssituationen der Sprachbeurteilung eben ähnliche Ergebnisse liefern (siehe Soukup 2015 sowie auch Preston und Niedzielski 2013). Jedenfalls ergibt sich daraus eine Argumentationslage, die ‚indirekten‘ Erhebungsmethoden für die traditionell sprachwandelorientierten Zwecke variationistischer Projekte den Vorzug zu geben scheint. Es sei allerdings angefügt, dass es innerhalb der Spracheinstellungsforschung noch zu keiner allgemein akzeptierten Klärung und Abgrenzung der Begriffe indirekte vs. direkte oder explizite vs. implizite Methoden, bewusste vs. unbewusste Einstellungen und covert vs. overt attitudes gekommen ist, sodass auch die epistemologischen Zusammenhänge dieser Konzepte untereinander noch zu bestimmen sind (weiterführend siehe u. a. Garrett 2010 und Kristiansen 2011; für die allgemeine Sozialpsychologie Fazio/Olson 2003). Die Beschreibung von synchronen Variationssystemen und ihren sozialen Korrelaten im Dienst der Untersuchung von Sprachwandelphänomenen ist nur ein Schwerpunkt der zeitgenössischen soziolinguistischen Variationsforschung. Ein weiterer hat sich über die letzten Jahrzehnte daraus ergeben, dass Variation in ihrem Verwendungskontext nicht nur als dessen Korrelat und Funktion, sondern auch als strategisch eingesetztes, pro-aktiv kommunikations- und somit gesellschaftsgestalterisches Instrument betrachtet werden kann. Entsprechende variationslinguistische Studien der sogenannten third wave (siehe Eckert 2012) untersuchen dementsprechend den rhetorischen Einsatz von Sprachstilen sowie Stil- und Sprachwechseln (style-shifting, code-switching) als strategisches, identitätsstiftendes Interaktionswerkzeug. So berichtet zum Beispiel Soukup (2009) über die gesprächstaktische Verwendung von Code-Switching zwischen österreichischer Hochsprache und österreichischem Dialekt in politischen TV-Diskussionen zum Zweck der Erzeugung antagonistischer interaktioneller personae und alignments (Goffman 1981) zwischen Teilnehmenden (siehe des Weiteren Schilling-Estes 2004 und Coupland 2007; für einen Überblick und zur theoretischen Diskussion siehe auch Schilling 2013). In diesem Forschungsbereich kommt wiederum der Spracheinstellungsforschung eine zentrale Rolle zu, und zwar gleichsam als Nagelprobe für die diskursanalytische Exegese von Passagen des strategischen Sprachwechsels (Soukup 2009, 2015). Damit der Einsatz beziehungsweise die Gegenüberstellung verschiedener Varietäten (Stile, Sprachen) überhaupt als kom 



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munikative, bedeutungserzeugende Strategie in der Interaktion – in Gumperz’ (1982) Terminologie: als contextualization cue, der die Generierung von kommunikativen messages ermöglicht – erfolgreich sein kann, sind die zwei oben (Abschnitt 3) beschriebenen (kognitiven) Schritte notwendig: die perzeptuelle Abgrenzung der betroffenen Varietäten und deren differenzierte Assoziation mit unterschiedlichen Sets sozialer Bedeutung. Folglich ergibt sich, dass die Spracheinstellungsforschung zur empirischen Überprüfung dienen kann, ob und in welcher Form diese Schritte auch in einem bestimmten zu analysierenden Sprachgebrauchskontext (z. B. Gespräch) mit aller Wahrscheinlichkeit in der Interaktion der Teilnehmenden ausgeführt werden. In diesem Bereich ist die Integration von kognitiven und konstruktionistischen Modellen von Spracheinstellungen besonders zwingend und die Anwendung von gemischten (qualitativen und quantitativen) Forschungsmethoden (mixed methods) genauso ratsam wie sinnvoll (dazu ausführlich Soukup 2015). Zu guter Letzt, obwohl chronologisch eigentlich am Anfang einzureihen, seien hier noch Anwendungen der Spracheinstellungsforschung in makrosoziolinguistischen Interessensbereichen der Sprachsoziologie und der angewandten Linguistik im weiteren Sinn angeführt. Schon seit Lambert et al.s (1960) Studie in Kanada wird die Spracheinstellungserhebung in den Dienst der Erforschung der gesellschaftlichen und individuellen Mehrsprachigkeit gestellt, und hier speziell der Untersuchung ihrer Auswirkungen in Settings mit Minderheitensprachen und anderen Sprachformen abseits eines dominanten Mainstreams. Die Sammlung in Ryan und Giles (1982) bietet einen frühen Überblick, in dem sich auch bereits die wiederkehrenden Themen der Diskriminierung von Non-mainstream-Sprechenden und Sprachgebräuchen finden, vor allem in Bezug auf Berufs- und Bildungschancen (siehe dazu weiters Lippi-Green 1997 und den Überblick in Garrett 2010). Zur Illustration sei eine Studie von Seligman, Tucker und Lambert (1972) im kanadischen Kontext erwähnt, in der gezeigt wurde, dass sprachliche und stimmliche Faktoren Gesamtbeurteilungen der Intelligenz und akademischen Qualifikation von Schülerinnen und Schülern durch Lehrpersonen beeinflussen können. Analog deuten die Studienergebnisse von de la Zerda und Hopper (1979) aus Texas auf den Effekt hin, den verschiedene Grade von fremdsprachigen Akzenten in Einstellungsgesprächen für die Entscheidungsfindung von Personalmanagerinnen und -managern haben können. Schließlich berichtet Baugh (2003) über linguistic profiling im Kontext des Afroamerikanischen Englisch und die Auswirkungen auf sehr konkrete Lebenserfahrungen wie die Anmietung einer Wohnung oder die Beweisführung in einem Gerichtsprozess. Ein neuer Anwendungsbereich eröffnet sich zudem gerade im Hinblick auf synthetische Sprachgenerierung – auch hier wird zum Beispiel auf die über Sprachverwendung suggerierte Glaubwürdigkeit und Natürlichkeit einer Computerstimme immer größeres Augenmerk gerichtet (siehe Krenn/Schreitter/Neubarth 2014). Im Hinblick auf gesellschaftsbezogene (minderheiten-)sprachpolitische Erwägungen hat sich unter anderem in Wales ein bemerkenswerter, weil kontinuierlicher Komplex aus Studien gebildet (siehe u. a. Baker 1992; Garrett/Coupland/Williams  



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2003; Garrett 2010), der sich nicht zuletzt mit der Erforschung der allgemeinen und besonderen Bedingungen beschäftigt, unter denen schrumpfende und bedrohte Sprachen erhalten werden können. Die wichtige Rolle, die Spracheinstellungen in diesem Zusammenhang sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf individueller Ebene spielen, ist auch auf völkerrechtspolitischem Niveau, in Form eines UNESCO-Reports über „Language Vitality and Endangerment“, vermerkt: „A positive attitude is critical for the long-term stability of a language” (Brenzinger et al. 2003, 16; siehe weiterführend auch Crystal 2000). Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand ist demnach davon auszugehen, dass die Dominanz negativer Einstellungen zu und Beurteilungen von einer Sprache widrigste Umstände für eine dauerhafte Aufrechterhaltung ihrer Vitalität darstellen. Hier, wie in allen genannten Bereichen, ist es aber jedenfalls im Lichte der Abwägungen dieses Beitrags unerlässlich, Folgendes festzuhalten: Spracheinstellungsstudien, die sprachbezogenes Verhalten und Handlungen wie sprachbeurteilungsbasierte Entscheidungen in der Lebenspraxis oder gesellschaftliche und individuelle, sowohl punktuelle als auch dauerhafte, Sprachwechsel illuminieren und explizieren sollen, sind immer in direkte Beziehung zu den kontextuellen Rahmenbedingungen dieses Verhaltens zu setzen, und das Studiendesign und die Methodik sind dementsprechend anzupassen und maßzuschneidern (vgl. Soukup 2015). Es soll hier also zum Abschluss nochmals explizit hervorgehoben werden, dass Spracheinstellungen und ihre Äußerungen nachweislich kontextbezogen, -situiert und -relativ sind und dass eine Forschung, die die Erhebung solcher Einstellungen für die Untersuchung und letztlich vielleicht sogar die Veränderung bestimmten sprachbezogenen Verhaltens nutzbar machen soll (beziehungsweise, die ihre Existenzbegründung aus solcher Nutzbarkeit zieht), diesen Auftrag nur unter Berücksichtigung und entsprechender Operationalisierung dieser Gegebenheit erfolgreich erfüllen kann.

5 Schluss Die hier im Überblick dargelegte Vielfalt der Methoden, die damit einhergehende konzeptuell-theoretische Mehrdimensionalität sowie das im Rahmen bestimmter Kontextspezifika breit gestreute Erklärungspotenzial und die weitreichenden Anwendungsmöglichkeiten von Spracheinstellungsforschung können der Veranschaulichung, aber auch Einmahnung des wohl allgemeingültigen wissenschaftlichen Grundsatzes dienen, dass die Entscheidung, welchen konkreten Zweck die Forschung erfüllen soll, die wichtigste Ausgestaltungsgrundlage jeder individuellen Studie darstellt. Es ist zu hoffen, dass die vorliegende Diskussion ihren Beitrag zur nicht immer einfachen Klärung und Entflechtung der verschiedenen Strömungen, Ausrichtungen, Schwerpunkte, Begrifflichkeiten und Theorien der Spracheinstellungsforschung, wie sie gegenwärtig in verschiedenen Interessensbereichen betrieben wird, geleistet hat.

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Triebkraft war dabei die Überzeugung, dass auf dieser Basis eine integrierte, weil von den verschiedenen Ansätzen wohl informierte Forschung machbar ist, die ihre Ergebnisse im Interesse der multiperspektivischen Beleuchtung und Erklärung von sprachbezogenem Verhalten (Sprachreflexion, Sprachbeurteilung, Sprachwahl, Sprechendeneinschätzung) trianguliert, zueinander in Beziehung setzt, verifiziert und weiterentwickelt. Auf diesem Weg wird es letztlich möglich sein, die reziproke Interaktion, die zwischen Spracheinstellungen und unserer zentral durch Kommunikation gestalteten Alltagswelt herrscht, ganzheitlicher zu erkennen.

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Brigitta Busch

5. Sprachreflexion und Diskurs: Theorien und Methoden der Sprachideologieforschung Abstract: Meinungen zu, Bewertungen von und Urteile über Sprache(n) und Sprachgebrauch sind zentraler Forschungsgegenstand der Sprachideologieforschung, die sich ab den 1980er-Jahren ausgehend von der amerikanischen linguistischen Anthropologie vor allem im englischsprachigen Raum rasch etablieren konnte und heute ein breit verästeltes Feld bildet, das kaum noch zu überblicken ist. Es umfasst das Interesse an alltagsweltlicher Sprachreflexion oder an öffentlichen Sprachdebatten in der politischen Arena ebenso wie eine kritische Auseinandersetzung mit Grundannahmen der eigenen Disziplin. In diesem Kapitel werden drei mögliche Sichtweisen auf sprachideologische Phänomene diskutiert, die zugleich unterschiedliche Ebenen in den Mittelpunkt rücken, auf denen sich Sprachideologien manifestieren: Während die anthropologisch orientierte Forschung ihr Augenmerk auf Prozesse wechselseitiger metapragmatischer Bewertungen in alltagsweltlichen Kommunikationssituationen richtet, interessieren sich diskursanalytisch geprägte Ansätze primär für die (produktive und Zensur ausübende) Macht öffentlich gemachter, diskursiv verfestigter sprachideologischer Einstellungen, Normen und Kategorisierungen. In einem biographisch orientierten Zugang schließlich steht die Erlebensperspektive des körperlichemotional verfassten Subjekts im Vordergrund, das sich gegenüber wechselnden, einander oft widersprechenden Sprachideologien auszurichten hat. Eine Möglichkeit, die drei Sichtweisen zusammenzuführen liegt, so wird in diesem Artikel argumentiert, im Konzept der sozialen Positionierung, das danach fragt, wie Subjekte sich anhand ihres Sprachgebrauchs gleichzeitig zueinander, gegenüber verfestigten Sprachideologien und – mittels ‚Techniken des Selbst‘ – zur eigenen Erfahrungswelt positionieren.  

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Einleitung Sprachideologieforschung: Entstehungskontext, Gegenstand und Themenspektrum Interaktionsperspektive: Linguistische Anthropologie Diskursperspektive: Kritische Soziolinguistik Subjektperspektive: Sprachbiographieforschung Zwischen Interaktion, Diskurs und Subjekt: soziale Positionierungen Zusammenfassung

https://doi.org/10.1515/9783110296150-006

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Brigitta Busch

1 Einleitung Wenn man Sprachideologien als Bündel von mehr oder weniger verfestigen Meinungen fasst, mit denen Sprechende ihre Wahrnehmung und Repräsentation von Sprache(n) und Sprachgebrauch rationalisieren und begründen (vgl. Silverstein 1979, Duranti 2009), so zählen öffentlich geführte Debatten, die Sprache zum Gegenstand machen oder andere Themen mit Sprache verknüpfen, zweifellos zu einem der Kerngebiete, mit denen sich Sprachideologieforschung befasst. Beispiele für Debatten, in denen Sprache offensichtlich dem Urteil der Öffentlichkeit unterzogen wird, wären etwa die im französisch- und deutschsprachigen Sprachraum immer wieder aufflammenden Anglizismendebatten (vgl. Spitzmüller 2005, Pfalzgraf i. d. Bd.) oder aktuell der Diskurs, mit dem testbare Kenntnisse der deutschen Sprache als Maßstab für die Integrationswilligkeit von Migrierenden institutionalisiert werden (vgl. Blackledge 2006, Busch 2013, Dorostkar 2014). Sprachideologien sind aber – weniger bewusst – auch in jeder anderen Kommunikationssituation mit im Spiel, sobald wir den Sprachgebrauch unseres Gegenübers bewerten, selbst (in Form eines Aushandlungsprozesses) eine Sprachwahl treffen und uns damit zu sprachideologischen Meinungsbündeln positionieren. Und schließlich können sich Sprachideologien als sprachlicher Habitus (Bourdieu 1990) in den Körper einschreiben und in inkorporierten sprachlichen Alltagspraxen zur Darstellung gebracht werden. Ideologien (vgl. zum Begriff Abschnitt 2) werden dadurch fassbar, dass sie sich materialisieren – beispielsweise in Form von Architektur, Körperhaltung, Bekleidung, vor allem aber in Form sprachlicher Äußerungen. Andererseits ist Sprache, wie Vološinov (1975 [1929]) aufzeigt, immer schon ideologisch akzentuiert. Um mit Althusser (2008 [1970], 47) zu sprechen, ist schon die Selbstverständlichkeit, dass ein Wort ‚eine Sache bezeichnet‘ oder ‚eine Bedeutung besitzt‘ ein Effekt von Ideologie, im Grunde ihr elementarer Effekt:  



C’est en effet le propre de l’idéologie d’imposer (sans en avoir l’air, puisque ce sont des « évidences ») les évidences comme évidences, que nous ne pouvons pas ne pas reconnaître, et devant lesquelles nous avons l’inévitable et naturelle réaction de nous exclamer (à haute voix, ou dans le « silence de la conscience ») : « c’est évident ! C’est bien ça ! C’est bien vrai ! » (Althusser 2008 [1970], 47) (Es ist ja gerade ein Charakteristikum der Ideologie, den Selbstverständlichkeiten Geltung als Selbstverständlichkeiten zu verschaffen [ohne den Anschein zu erwecken, da es sich doch um „Selbstverständlichkeiten“ handelt], wobei uns nur übrigbleibt sie anzuerkennen und in einer unvermeidlichen, natürlichen Reaktion [lauthals oder „in der Stille des Gewissens“] auszurufen: „Das ist selbstverständlich! Genau so ist es! Es stimmt!“) [Eigene Übersetzung]

Die Beschäftigung mit dem Wechselverhältnis von Sprache und Ideologie hat in unterschiedlichen Disziplinen eine lange Tradition und kann nicht Gegenstand dieses Beitrags sein (vgl. dazu bspw. Blommaert 2005, 158–202, Verschueren 2012, 7–20). Dieser Beitrag befasst sich vielmehr aus soziolinguistischer Perspektive mit Sprach-

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Theorien und Methoden der Sprachideologieforschung

ideologien im engeren Sinn, also mit metasprachlichen oder metapragmatischen Meinungen, Interpretationen, Bewertungen, Urteilen als integraler Teil sprachlicher Kommunikation. Das Interesse der Sprachideologieforschung, wie sie seit den 1980erJahren ausgehend von den Vereinigten Staaten einsetzte, richtet sich darauf, welche sprachlichen Realisierungsformen durch ideologische Aufladung als Embleme selektiert und etabliert werden, um soziale Unterscheidungen und Kategorisierungen vorzunehmen und zu begründen, und welche Auswirkungen solche Verknüpfungen von sprachlichen und nichtsprachlichen Phänomenen auf Sprachdynamik und -wandel haben. Wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird, liegen die Wurzeln der Sprachideologieforschung in der US-amerikanischen Linguistic Anthropology. Deshalb wird dieser stark semiotisch-anthropologisch begründete Zugang in diesem Artikel auch ausführlich besprochen. Darüber hinaus soll aber darauf hingewiesen werden, dass es durchaus auch andere Sichtweisen auf und Forschungstraditionen zu Sprachideologien gibt, etwa solche, die eher europäisch (marxistisch, poststrukturalistisch und phänomenologisch) geprägt sind. Um dies zu verdeutlichen, werden im Anschluss an den ersten Überblick (Abschnitt 2) der Reihe nach drei, wie ich meine, einander ergänzenden Perspektiven sprachideologischer Forschung vorgestellt und diskutiert, die zugleich die weitere Gliederung des Beitrags vorgeben: Die Beschäftigung mit Sprachideologien aus dem Blickwinkel situierter, beobachtbarer Interaktionen, also jener Perspektive, die von der Linguistic Anthropology eingenommen wird (Abschnitt 3), aus dem Blickwinkel sich etablierender und wandelnder Diskurs- und Praxisordnungen, also einer Perspektive, die von diskursanalytischen, ideologiekritischen Ansätzen eingenommen wird (Abschnitt 4) und aus dem Blickwinkel sprachlich konstituierter, erlebender und handelnder Subjekte, der es erlaubt, biographische, körperlich-emotionale Dimensionen einzubeziehen, die ihren Niederschlag in sprachlichen Dispositionen und Repräsentationen finden. Abschließend (Abschnitt 5) werden diese drei Sichtweisen mit Hilfe des Konzepts der Positionierung miteinander in Bezug gesetzt.  

2 Sprachideologieforschung: Entstehungskontext, Gegenstand und Themenspektrum Die Geburtsstunde der Sprachideologieforschung wird gemeinhin mit dem Jahr 1979 datiert, als in hektographierter Form eine Reihe von Redebeiträgen einer Sitzung der Chicago Linguistic Society erschien, darunter jener von Michael Silverstein mit dem Titel Language Structure and Linguistic Ideology. Die fast nonchalante Geste, mit der ein nahezu ausgereiftes Konzept in die Welt gesetzt wurde, mag dazu beigetragen haben, den Gründungsmythos des Begriffs zu konsolidieren und seine Karriere zu fördern. Der eigentliche Grund für die rasche Verbreitung und vielfältige Weiterentwicklung des Sprachideologie-Konzepts ist in erster Linie aber, dass der Bedarf an

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einem solchen Konzept zum damaligen Zeitpunkt sozusagen mit Händen zu greifen war (vgl. zu den Hintergründen ausführlicher Abschnitt 3). Mittlerweile hat sich die Sprachideologieforschung zu einem enorm produktiven Feld entwickelt, das in seinen Verästelungen schier unüberschaubar geworden ist. Mitte der 1990er-Jahre haben Woolard und Schieffelin (1994) einen umfassenden Überblick über den Stand der Forschung gegeben und damals, also vor mehr als zwanzig Jahren, bereits über 300 Publikationen angeführt, die sie als relevante Beiträge zur Sprachideologieforschung gewertet haben. Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit sollen im Folgenden im Sinne einer ersten Sondierung des Forschungsbereichs einige Gebiete genannt werden, die in der Forschung zu Sprachideologien, teilweise in unterschiedlichen Phasen, besondere Aufmerksamkeit gefunden haben. Die Ausführungen stützen sich auf eine Reihe von Einführungs- und Überblicksartikeln (Woolard 1992, Woolard/Schieffelin 1994, Woolard 1998, Irvine/Gal 2000, Kroskrity 2010, Blommaert 2006, Martin-Jones/Blackledge/ Creese 2012, Rosa/Burdick 2017). Es wird daher im Rahmen dieses ersten Überblicks bewusst davon abgesehen, exemplarische Publikationen anzuführen. In einer ersten, anthropologisch begründeten Welle, die zeitlich mit kolonialismuskritischen und regionalistischen Bewegungen zusammenfällt, fokussieren Arbeiten mehrheitlich auf indigene oder Minderheitensprachen, die als bedroht oder diskriminiert wahrgenommen werden. Das bis heute fortbestehende Interesse an solchen Konstellationen ungleicher Machtverteilung lässt sich auch daraus erklären, dass Sprachideologien in solchen Situationen besonders explizit zutage treten. Ein weiteres Gebiet ist die Beschäftigung mit dem, was Makoni/Pennycook (2007) als ‚Erfindung der Nationalsprachen‘ bezeichnet haben, also mit jenen historischen Prozessen, die ihren Ausgang im Westeuropa des 18. und 19. Jahrhunderts nahmen und auf die Schaffung von Nationalstaaten und ‑sprachen sowie die ideologische Gleichsetzung von Volk, Sprache und Territorium zielen (vgl. auch Solms i. d. Bd.). Besonderes Augenmerk erfahren in diesem Zusammenhang Prozesse der sprachlichen Standardisierung und Normierung, insbesondere die Etablierung des Monolingualismus als Norm und dessen Durchsetzung mittels Gesetzen, Institutionen und Sanktionen in historischen Kontexten, aber auch im Kontext der Schaffung ‚neuer‘ Nationalsprachen wie beispielsweise im Raum des ehemaligen Jugoslawien. Ein zentrales Interesse der Sprachideologieforschung gilt Prozessen der Distinktion aufgrund oder mit Hilfe von Sprache, etwa in der Produktion und Reproduktion einer Hierarchie zwischen ‚hochsprachlichem‘ Standard und ‚umgangssprachlichen‘ Varietäten, in der Begründung von Gruppenzugehörigkeiten oder Ausschlüssen oder in der (Neu-)Bewertung bestimmter Register oder Varietäten, beispielsweise von Dialekten, die zunächst als Marker für lokale Zugehörigkeit umgedeutet und später – reduziert auf bestimmte emblematische Charakteristika – als Zeichen einer postulierten Authentizität vermarktet (kommodifiziert) werden. Ein anderes weites Feld hat sich der Sprachideologieforschung mit der Analyse von Phänomenen von Migration und Mobilität eröffnet, die oft unter dem Stichwort Globalisierung oder Superdiversität  



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zusammengefasst werden. Zum einen geht es dabei um Diskurse und Dispositive der Ausgrenzung, die darauf abzielen, Zugang zu Rechten und Ressourcen mittels Anforderungen im sprachlichen Bereich (z. B. mit Hilfe von Testverfahren) zu reglementieren, zum anderen darum, wie bestimmte Realisierungsformen als Ethnolekte typisiert, aber auch wie Merkmale davon als Stilmittel im Sinn von Distinktion, ironischer Distanznahme oder Widerständigkeit eingesetzt werden (vgl. Androutsopoulos i. d. Bd.). Von Anfang war es zudem ein Anliegen der Sprachideologieforschung, in selbstreflexiver Weise der Verstrickung der eigenen Disziplin in kolonialistische und nationalistische Projekte nachzuspüren und mehr noch, Grundannahmen der eigenen Disziplin kritisch zu hinterfragen, die als Sprachmythen (language myths) auch außerhalb der Sprachwissenschaft oft ein zähes Weiterleben führen. Einer Prüfung unterzogen wurden etwa das Verständnis von Sprachen als distinkter ‚Objekte‘, das Konstrukt Sprachgemeinschaft, das Konzept des native speakers/Muttersprachlers oder das Verständnis von Mehrsprachigkeit als ‚additivem Monolingualismus‘. Gemeinsam ist den Arbeiten, dass sie in der Regel von einem sehr breiten („totalen“, s. Blommaert 2005, 164–166) Ideologiekonzept ausgehen. Sprachideologien bezeichnen demnach alle Meinungen, Werte und Einstellungen, die Sprache und Sprechenden entgegengebracht werden (und nicht etwa nur solche, die als problematisch oder ‚verzerrt‘ empfunden werden). Dennoch können und müssen Sprachideologien, wie Kroskrity (2010) in seinem häufig zitierten und mehrfach aktualisierten Überblicksartikel unterstreicht, auf verschiedenen Ebenen analytisch differenziert werden. Zum einen sind sie häufig an bestimmte soziale Gruppen gebunden, und sie können auch von diesen instrumentalisiert werden. Zweitens gibt es auch innerhalb sozialer Gruppen sprachideologische Differenzierungen zu berücksichtigen. Drittens sind Sprachideologien den Akteuren unterschiedlich stark bewusst (und gerade die wenig reflektierten sind nach Meinung vieler besonders wirkmächtig; vgl. etwa Verschueren 2012, 12). Trotz dieser generellen Gemeinsamkeiten und geteilten Interessen ist das Feld der Sprachideologieforschung insgesamt divers. Die folgenden Abschnitte verdeutlichen dies.  





3 Interaktionsperspektive: Linguistische Anthropologie 3.1 Wissenschaftsgeschichtlicher Hintergrund Bevor das den Forschungsbereich initiierende Sprachideologiekonzept von Silverstein (1979) vorgestellt wird, soll zunächst das Umfeld umrissen werden, in dem es entstehen konnte (vgl. Kroskrity 2010, Silverstein 2016). Wie Duranti (2009) ausführt,

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hat sich die Linguistische Anthropologie als Teilgebiet der nordamerikanischen Anthropologie in Konsequenz der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – nicht zuletzt im Interesse und mit Geldern der Regierung – erfolgten Dokumentation und Erforschung der ‚Indianersprachen‘ entwickelt. Franz Boas (1911), eine der Leitfiguren der amerikanischen Anthropologie, kritisierte das Vorurteil, wonach manche Sprachen ‚primitiv‘ seien, und vertrat demgegenüber die Meinung, dass jede Sprache ein vollwertiges, hochkomplexes kulturelles System darstelle, das nur in und für sich selbst untersucht werden könne. Weil Kategorien der Wahrnehmung und des Denkens unbewusst in und durch Sprache geformt würden, bilde Sprache den idealen Gegenstand, um Kulturen zu studieren. Silverstein (1979) wird sich zur Begründung seines Sprachideologiekonzepts sowohl auf Boas als auch auf Whorf (1963) berufen, der die These vertrat, dass unterschiedliche grammatikalische Konzeptionen unterschiedliche Arten, die Welt wahrzunehmen, mithin differierende ‚Weltanschauungen‘, bedingen können. Eine Grundannahme, die sich aus der anthropologischen Sichtweise ergibt, ist, dass Sprache nicht losgelöst von den sozialen Praktiken betrachtet werden kann, in die sie eingebettet ist, und nicht unabhängig von anderen Ressourcen, mittels derer Bedeutung hergestellt wird. Damit steht dieser Zugang in Widerspruch zur einer Sichtweise, die die Sprachwissenschaft der 1970er- und 80er-Jahre weitgehend dominiert hat und die von Blommaert (2013, 9) als „Saussure-Bloomfield-Chomsky frame“ apostrophiert wird. Im Unterschied dazu richtet eine anthropologisch, ethnographisch, pragmatisch oder interaktional orientierte Sprachwissenschaft ihr Interesse auf ein sprachlich-kommunikatives Ereignis in seiner Gesamtheit (speech event). Mehr als für die referentielle Bedeutung (denotation) einer Aussage interessiert sie sich dafür, wie diese auf soziale Kontexte Bezug nimmt oder eine Beziehung dazu herstellt. Ausgangspunkt ist nicht die Vorstellung einer homogenen Sprachgemeinschaft, eines ‚idealen Sprechers‘, sondern im Gegenteil die Beachtung sprachlicher Variation und Nuancierung, durch die Sprechende sich in der Interaktion zueinander oder gegenüber Dritten positionieren. Wegweisend für diese Neuorientierung, die sich auf Roman Jakobson und zunehmend auch auf eine Wiederentdeckung der sprachphilosophischen Schriften von Vološinov und Bachtin aus den 1920er- und 30er-Jahren stützen konnte, waren unter anderen Arbeiten von Labov, Hymes, Gumperz und eben Silverstein. Mit seinen empirischen Untersuchungen zu Varietäten des Englischen insbesondere in New York und Umgebung stellte Labov einen Bezug zwischen Sprachvariation und Sprachwandel her. Spezifische Arten des Sprachgebrauchs begriff er dabei nicht einfach als Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, sondern, wie Silverstein (2016, 62) unterstreicht, auch als „articulatory gesture“ oder „phonolocical posture“ (Labov 1966, 576). Gumperz (1964) prägte den Begriff des sprachlichen bzw. kommunikativen Repertoires, um zu verdeutlichen, dass Sprechende in jeder Interaktion eine Wahl aus eine Vielzahl sprachlicher Ressourcen treffen, die ihnen zur Verfügung stehen, um diese situationsadäquat, also sozialen Konventionen folgend

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(oder sich ihnen widersetzend) einzusetzen. Unter contextualization cues versteht Gumperz (1977, 1992) verbale und paraverbale Hinweise, mit denen Sprechende einander – sofern sie mit den entsprechenden soziokulturellen Konventionen vertraut sind – signalisieren, wie das, was sie sagen, aus der Situation heraus zu interpretieren ist. In eine ähnliche Richtung zielte Hymes mit seinem Konzept einer Ethnography of Speaking. Bereits 1977 betonte er die Relevanz von Urteilen seitens der Sprechenden: If the communityʼs own theory of linguistic repertoire and speech is considered (as it must in any serious ethnographic account), matters become all the more complex and interesting. (Hymes 1977, 31).

3.2 Silversteins Konzept der Sprachideologie In diese Periode einer Reorientierung der Sprachwissenschaft von einer quasi ausschließlichen Beschäftigung mit Sprache als Struktur hin zum Interesse an sprachlich-kommunikativen Praktiken fällt Silversteins (1979) wegweisender Artikel. Bereits der Titel Language Structure and Linguistic Ideology macht deutlich, dass es Silverstein darum geht, die Kluft zwischen einer am Sprachsystem orientierten strukturalistischen Sprachwissenschaft und einer an sprachlichen Praktiken interessierten Pragmatik zu überbrücken. Die Grundthese ist, dass Sprachgebrauch (language use) maßgeblich davon beeinflusst wird, in welcher Weise Strukturen der Sprache und Muster des Sprachgebrauchs von den Sprechenden wahrgenommen, erklärt und bewertet werden. Das theoretische Fundament zum Sprachideologiekonzept hatte Silverstein bereits in früheren Arbeiten gelegt, insbesondere in dem 1976 erschienenen, an Jakobson (1959) anschließenden Aufsatz Shifters, Linguistic Categories, and Cultural Description (vgl. dazu auch Spitzmüller i. d. Bd.), und er hat seine Überlegungen späteren Arbeiten präzisiert, auch wenn dort der Ausdruck Sprachideologie kaum mehr vorkommt. Der Artikel von 1979 enthält aber alle Grundzüge des Konzepts, die im Folgenden in drei Schritten erläutert werden sollen. Erstens postuliert Silverstein, dass unterschieden werden kann zwischen (beobachtbaren und beschreibbaren) Strukturen sowohl der Sprache und als auch des Sprachgebrauchs auf der einen Seite und Sprachideologien, also Interpretationen und Erklärungen solcher Strukturen, auf der anderen. Mit Strukturen des Sprachgebrauchs ist die gesellschaftliche Verteilung bestimmter sprachlicher (Oberflächen-)Formen gemeint. Eines der Beispiele, die Silverstein anführt, ist die in verschiedenen Sprachen getroffene Unterscheidung zwischen T- und V-Anredeformen – beispielsweise du/Sie im Deutschen, tu/vous im Französischen. In welchen Fällen welche Form verwendet wird, lasse sich für verschiedene Zeiten und verschiedene Milieus beobachten und beschreiben. Solchen ‚beobachtbaren‘ Strukturen stellt Silverstein (1979, 193) die Sprachideologien (linguistic ideologies bzw. ideologies of language) gegenüber, die er,  



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so seine vielzitierte Definition, versteht als „any sets of beliefs about language articulated by the users as a rationalization or justification of perceived language structure and use“. Dabei unterscheidet er Werte und Einstellungen, die sich auf sprachliche Strukturen (language structure) beziehen, von solchen, die sich auf bestimmte Sprachgebräuche (language use) richten (vgl. dazu ausführlich Spitzmüller i. d. Bd.). Im Unterschied dazu, wie T- und V-Formen tatsächlich verwendet werden, geht es hier also darum, wie die Verwendung dieser Formen von den Sprechenden je nachdem als ‚richtig‘ und ‚passend‘ oder ‚falsch, und ‚unpassend‘ beurteilt wird. Mit der Unterscheidung zwischen Struktur und Ideologie greift Silverstein (1979) eine fundamental anthropologische Fragestellung auf, nämlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem, was Leute ‚tatsächlich‘ tun, und dem, was sie sagen, dass sie es tun (wovon letztlich ja abhängt, ob und wie weit man dem ‚vertrauen‘ kann, was ‚indigene Informanten‘ über ihre kulturellen und sprachlichen Praktiken sagen). Silverstein geht aber einen Schritt weiter. Die Relevanz der Frage nach Sprachideologien ergibt sich für ihn daraus, dass erst aus der (ideologischen) Bewertung bestimmter (Oberflächen-)Formen des Sprachgebrauchs erklärbar wird, warum Sprechende bestimmten Formen in bestimmten Situationen den Vorzug vor anderen geben. Metapragmatische Rückkopplungen, Bewertungen und Urteile sind aus dieser Warte der Verwendung von Sprache inhärent, ohne sie ist Kommunikation undenkbar. Strukturen der Sprachverwendung stehen somit in einem Spannungs- und Wechselverhältnis mit institutionalisierten und nicht-institutionalisierten Interpretationen dieser Strukturen. Zweitens führt Silverstein den für das Verständnis von Sprachideologien elementaren Begriff der Indexikalität ein. Einheit der Analyse ist für ihn nicht der Satz, sondern das Sprechereignis (speech event). Bedeutung wird in einem solchen Ereignis durch einen Komplex verbaler und anderer Zeichen geschaffen, mit denen Sprechende nicht nur referentiell auf die Welt ‚da draußen‘ verweisen (denotational function), sondern auch performativ bestimmte Ziele verfolgen (purposive function). Indem sie Sprache verwenden, setzen sie sich pragmatisch zu sozialen Kontexten in Bezug bzw. stellen solche kontextuellen, sozialen Bezüge her. Diese Funktion bezeichnet er als indexikalisch. Das semiotische Attribut indexikalisch entlehnt Silverstein der Zeichenlehre von Charles Sanders Peirce. Anders als symbols, worunter Peirce Zeichenrelationen bzw. Interpretationsverfahren versteht, die auf regelbasierten Schlüssen beruhen (z. B. bei der Interpretation von Alphabetschrift oder Morsesignalen), anders auch als icons, die durch Analogieschlüsse konstituiert sind, zeichnen sich indices durch ihre kontextuelle „Kontiguität“ aus (Peirce 1932, 172): Ihr Auftreten wird – aufgrund von Gewohnheit, sozialen Regeln oder Normen – als Signal oder Hinweis auf bestimmte (raumzeitliche) Zusammenhänge verstanden. Mit seiner Unterscheidung zwischen einer referentiellen und einer zweckorientierten Funktion von Sprechakten greift Silverstein hingegen auf Arbeiten seines Lehrers Roman Jakobson zur Multifunktionalität sprachlicher Zeichen und Handlungen zu 





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rück (Jakobson 1960), insbesondere auf solche zu deren referentiell-pragmatischer Doppelfunktion (Jakobson 1957; vgl. dazu ausführlicher Spitzmüller i. d. Bd.). Bedeutung wird in Sprechakten demzufolge nicht nur durch die referentielle Funktion hergestellt, also dadurch, worüber gesprochen wird, sondern auch durch eine Reihe anderer Arten, sprachliche Mittel einzusetzen (vgl. Silverstein 1976, 18) Silverstein unterscheidet zwischen jener Indexikalität, die einen gegebenen sozialen Kontext voraussetzt (presupposive) und einer anderen (creative), die einen solchen Bezug erst schafft. Beispiele für die erste Kategorie wären deiktische Hinweiswörter wie hier oder damals, solche für die zweite soziale Konstruktionen wie die Personalpronomen du oder ich, mit denen sich Sprechernde zueinander positionieren – also, um bei unserem Beispiel zu bleiben, wie Sprechende T- oder V-Formen in konkreten Gesprächssituationen zielgerichtet einsetzen, um den Charakter einer sozialen Beziehung zu signalisieren. Die Unterscheidung zwischen ‚voraussetzender‘ und ‚kreativer‘ Indexikalität ist im Hinblick auf Sprachideologien für Silverstein insofern relevant, als ein bestimmter Sprachgebrauch indexikalisch sowohl implizit als Verweis auf Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder auf eine gegebene gesellschaftliche Position interpretiert als auch explizit, zielgerichtet, eingesetzt werden kann, beispielsweise um eine solche Zugehörigkeit oder Position zu affirmieren, sie zu ‚zitieren‘ oder sich ironisch davon zu distanzieren. Silverstein (2003) entwickelt diesen Gedanken weiter zum Konzept der indexikalischen Ordnungen (indexical orders). Drittens führt Silverstein (1979) aus, dass gerade sprachliche Variation – beispielsweise die Verwendung von Varietäten, Registern usw. –, also die Möglichkeit, ‚dasselbe‘ (genauer: dieselbe referentielle Bedeutung) pragmatisch auf verschiedene Arten zu realisieren, in hohem Ausmaß sprachideologischen Einflüssen unterliegt. Die ideologische Aufladung bestimmter Varianten wiederum identifiziert er als einen der wesentlichen Impulse für Sprachwandel: Wenn eine bestimmte Form des Sprachgebrauchs in bestimmten Kontexten negativ konnotiert werde, führe dies tendenziell dazu, dass alternativen Formen der Vorzug gegeben werde: „to rationalize, to ‚understand‘ one’s own linguistic usage is potentially to change it“ (Silverstein 1979, 233) – oder in anderen Worten: „plus c’est la même chose, plus ça change“ (1979, 234). Auch das erläutert Silverstein am Beispiel der T- bzw. V-Formen: die ideologische Interpretation, wonach die in manchen Konstellationen asymmetrische Verwendung dieser Formen (z. B. zwischen höher Gestellten und Untergebenen, zwischen Eltern und Kindern) metaphorisch für Ungleichheit steht, habe, von einer sozialen Gruppe auf andere übergreifend, im Lauf der Zeit die tatsächliche Verwendung dieser Formen verändert. Silversteins Verständnis von Sprachideologie im Zusammenspiel von voraussetzender und kreativer Indexikalität hat eine konzeptuelle und methodologische Basis gelegt, die für die Sprachideologieforschung bis heute maßgebend ist. Sein Zugang zeichnet sich dadurch aus, dass Sprachideologien konzeptuell von beobachtbaren Strukturen der Sprache und ihrer Verwendung unterschieden werden (eine Sicht 





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weise, der etwa aus poststrukturalistischer Warte nicht unbedingt zugestimmt würde), nicht aber als losgelöstes ‚Hirngespinst‘, sondern als dem kontextualisierten Sprechen inhärent.

3.3 Indexikalische Ordnung und Ordnung der Indexikalität Das von Silverstein (2003, 2005, 2006) entwickelte Konzept der indexikalischen Ordnung (indexical order) erlaubt es, Indexikalität verschiedenen Grades zu unterscheiden und zu analysieren, wie auf der Mikroebene der Interaktion aus dem strategische Einsatz von Indexikalität einer höheren Ordnung, also durch einen Sprachgebrauch, der auf der Makroebene mit bestimmten gesellschaftlichen Positionen oder Gruppen verknüpft ist, beispielsweise Prestigegewinn erzielt werden kann. Indexikalität ersten Grades bezieht sich auf die Verwendung sprachlicher Formen (beispielsweise von V- oder T-Formen), die von ‚außen‘ beobachtbar sind (also im Grunde auf die Ebene der Struktur). Indexikalität zweiten Grades bezieht sich auf sprachliche Formen, die von Akteurinnen oder Akteuren, die an der Interaktion beteiligt sind, als emblematisch für bestimmte soziodemographische Kontexte ‚gelesen‘ und verwendet werden (mithin auf eine erste ideologische Ebene). Indexikalität dritter Ordnung bezieht sich darauf, dass Formen, die als ‚typisch‘ für eine bestimmte Gruppe gelten, performativ (z. B. als Stilisierung, ironische Distanzierung, Verweis auf Insider-Wissen usw.) und in strategischer Absicht eingesetzt werden, um der eigenen Position Legitimität und Autorität zu verleihen. Mit dem Terminus der Indexikalität n-ten Grades bringt Silverstein zum Ausdruck, dass die Kette metapragmatischer Indexierung im Dienst strategischer Interessen ad infinitum weitergeführt werden kann (Zitat des Zitats des Zitats). Je höher die indexikalische Ordnung ist, auf die Bezug genommen wird, umso mehr Legitimität kann eine Aussage für sich in Anspruch nehmen. Silverstein erläutert diese vielfachen und in verschiedene Richtungen deutenden Verweise am Beispiel des Sprachgebrauchs der britischen Weinkenner-Szene, die, um Raffinement zu signalisieren, unter anderem auf ein Vokabular des englischen Adels zurückgreift. Ein ursprünglich als Fachsprache dienender Sprachgebrauch wird ideologisch aufgeladen, indem andere Raum-Zeit-Gefüge (Nobilität, Jagd, Rosenzucht usw.) aufgerufen werden, und fungiert als Index, mit dem sich Sprechende als Teil einer bestimmten life style community distinguieren. Dieser spezifische Sprachgebrauch wird seinerseits wieder herbeizitiert, um anderen Produkten Nobilität zu verleihen. In Anlehnung an Foucaults (1977) Ordnung des Diskurses prägt Blommaert (2005, 2010) den Ausdruck Ordnungen der Indexikalität (orders of indexicality), um damit zu verdeutlichen, dass indexikalische Ordnungen innerhalb eines bestimmten RaumZeit-Gefüges zueinander in einer hierarchischen Beziehung stehen. Der spezifische, situierte Fall wird an Kategorien gemessen, die als geltende Normen etabliert sind, das Kontextualisierte am Dekontextualisierten. Systeme sozialer Bedeutung sind Blommaert (2010: 36) zufolge vertikal geschichtet, sie unterliegen einem Prozess der  

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Skalierung. Hierarchisch geordnete Indexikalitäten operieren innerhalb größerer stratifizierter Komplexe, in denen sprachlich-kommunikative Formen gegenüber anderen systematisch als höherwertig eingestuft werden. Solche Indexikalitätsrangierungen sind demzufolge immer auch Rahmen von Autorität, Kontrolle und Bewertung (vgl. Blommaert 2010: 38).

3.4 Funktionsweisen von Sprachideologien Um analysieren zu können, wie spachideologische Praktiken funktionieren, unterscheiden Gal und Irvine (1995, Irvine/Gal 2000) drei semiotische Prozesse: iconization, fractal recursivity und erasure. Unter Ikonisierung [iconization] verstehen sie, dass bestimmte sprachliche Erscheinungen als unmittelbare, naturhafte Repräsentation von Eigenschaften, die Gruppen zugeschrieben werden, interpretiert werden. So haben europäische Linguisten im 19. Jahrhundert die für Khoisprachen im südlichen Afrika charakteristischen Klicklaute nicht als phonologische Einheiten betrachtet, sondern rassistischen Theorien folgend als tierische Laute interpretiert. Fraktale Rekursivität [fractal recursivity], ein aus der Mathematik entlehnter Begriff, bezeichnet die auf über- bzw. untergeordneten Ebenen wiederkehrende Erzeugung von Selbstähnlichkeit. Irvine und Gal verstehen darunter die Projektion eines Gegensatzpaares, das auf einer Ebene, zum Beispiel in der Beziehung zwischen Gruppen, wirksam wird, auf eine andere, also zum Beispiel auf Beziehungen innerhalb einer Gruppe. Als Beispiel dient ihnen ein Erklärungsversuch, wie Klicklaute aus den Khoisprachen in die Ngunisprachen Eingang gefunden haben. Angenommen wird, dass Klicklaute, die in den phonologischen Registern der Sprachen der Welt selten vorkommen, auch den in das Khoi-Siedlungsgebiet eingewanderten Sprechende von Bantusprachen fremd waren. Vieles spricht dafür, so Irvine und Gal, dass die Klicklaute von den Eingewanderten nicht nur als fremd wahrgenommen, sondern von ihnen sprachideologisch als Marker für Fremdheit bzw. Distanz identifiziert wurden. In der Folge wurden sie zunächst in das Respektregister der eigenen Sprache transponiert, um ehrerbietige Distanz zum Beispiel gegenüber Älteren zu markieren, später fanden Klicklaute Eingang in die Alltagssprache. Was als emblematisch für die Differenz gegenüber der ‚anderen Gruppe‘ konstruiert wurde, wird herangezogen, um Differenz innerhalb der eigenen Gruppe zu signalisieren. Mit dem Begriff Löschung [erasure] bezeichnen Irvine und Gal ein sprachideologisches Verfahren, das mittels Vereinfachung des soziolinguistischen Feldes bestimmte Personen, Handlungen oder Phänomene ausblendet. Da Sprachideologien durch eine totalisierende Sicht auf die soziale Welt gekennzeichnet sind, werden Elemente, die nicht in die interpretative Struktur passen, ignoriert oder transformiert. Wenn das ‚problematische‘ Element als für die eigene Weltsicht und für eigene Interessen bedrohend identifiziert wird, dann kann der Löschungsprozess auch in praktische Handlungen münden, die darauf gerichtet sind, das als bedrohlich Wahr-

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genommene zu entfernen. In ihrer Studie zur europäischen Wahrnehmung der Sprachensituation in Senegal im 19. Jahrhundert dokumentieren Irvine und Gal (2000), wie Praktiken der Mehrsprachigkeit negiert wurden, um die Situation dem europäischen Modell sprachlich homogener Territorien anzupassen: Aus einem Spektrum multilingualer Praktiken wurden Einzelsprachen isoliert und auf solcherart konstruierte monolinguale ethnolinguistische Gruppen projiziert. Ein aktuelles Beispiel für die Anwendung des von Irvine und Gal entwickelten Instrumentariums liefert Androutsopoulos (2007) in einer Studie zur Auseinandersetzung mit Ethnolekten in deutschsprachigen Medien (vgl. auch Androutsopoulos i. d. Bd.).  



4 Diskursperspektive: Kritische Soziolinguistik 4.1 Ein kritischer Zugang zu Sprachideologien In der politischen und Medienöffentlichkeit geführte sprachideologische Debatten drehen sich typischerweise um Fragen nach der ‚richtigen‘ Sprache oder dem ‚richtigen‘ Sprachgebrauch, also um Normen und Werte, die mit Sprache oder Sprachlichkeit verbunden werden (vgl. die Beiträge von Dreesen, Niehr und Rössler i. d. Bd.). Beispiele dafür wären Konflikte um das Verhältnis von Mehrheits- und Minderheitensprachen, Debatten um den Status von Sprachen auf lokaler, regionaler, nationaler oder supranationaler Ebene, Forderungen nach sprachlicher ‚Korrektheit‘ und Sprachpurismus. Eine primär deskriptive Perspektive auf Sprachideologien, die situierte Interaktionen auf der Mikroebene gewissermaßen als Ausgangs- und Endpunkt der Produktion und Reproduktion von Ideologien annimmt, vermag, wie seitens ‚kritischer‘ Strömungen der Linguistik (Kritische Soziolinguistik, Kritische Diskursforschung, Critical Applied Linguistics) angemerkt wurde (z. B. Joseph/Taylor 1990), die Macht, die ideologische und im Besonderen sprachideologische Phänomene im Hinblick auf Gesellschaften, Gruppen oder Einzelne ausüben können, nur ungenügend zu fassen. In der Forschung zu Sprachideologien wird daher häufig auf Konzeptionen von Hegemonie, Diskurs, Macht und Ungleichheit zurückgegriffen, die insbesondere aus der sprachphilosophischen, soziologischen oder politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit Ideologien und Ideologiekritik stammen. In diesem Zusammenhang ist ein Strang der (Sprach-)Ideologieforschung wichtig, den man in Abgrenzung zu dem in Abschnitt 3 vorgestellten Zugang als „europäischen“ (Busch 2013, 89) bezeichnen kann. Dieser hat sich zunächst in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus, später zunehmend auch in Abgrenzung zu ihm entwickelt. Ausgangspunkt bildet, explizit oder implizit, in den meisten Fällen eine Leerstelle im marxistischen Gedankengebäude: Weder die von Marx und Engels (1969 [1845–1846]) in den frühen Schriften getroffene Apostrophierung von Ideologie als vom realen Leben losgelöste ‚Hirngespinste‘ noch die spätere Verwendung des Be 





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griffs im Kapital vermögen eine befriedigende Erklärung für den Charakter, die Eigengesetzlichkeit, die gesellschaftliche Wirkungsmacht und die Funktion ideologischer Phänomene für Individuen zu liefern (vgl. Althusser 2008 [1970], 34). Mit Sprache und Sprachverwendung verknüpften Ideologien kommt insofern eine zentrale Bedeutung zu, als diese maßgeblich daran Anteil haben, wie höchst heterogene, auseinanderstrebende Interessenslagen im Zuge der Schaffung politischer Einheiten geformt, aber auch wie solche Einheiten im Namen von Partikularinteressen in Frage gestellt werden können. Die indexikalische Verknüpfung von Nation und Sprache im Prozess der ‚Nationenbildung‘ und die damit einhergehenden Prozesse der Standardisierung (siehe oben Abschnitt 2) verdeutlichen dies. Wesentliche theoretische Grundlagen zum Verständnis solcher Prozesse sprachlicher Vereinheitlichung und sprachlicher Differenzierung finden sich, wie im Folgenden ausgeführt wird, in den Schlüsselwerken, an die der ‚europäische Strang‘ anschließt, den Werken von Vološinov, Bachtin, Gramsci, Bourdieu und Foucault.

4.2 Bachtin und Vološinov: die ideologische Aufladung des Zeichens Die Bedeutung des Beitrags zur Ideologiediskussion, der in den 1920er- und 1930erJahren von der in der Sowjetunion weitgehend isolierten Leningrader Gruppe um Michail Bachtin geleistet wurde, wurde erst Jahrzehnte später mit der zunächst in Frankreich, dann auch im deutsch- und englischsprachigen Raum einsetzenden internationalen Rezeption erkannt. In seiner Schrift Marxismus und Sprachphilosophie entwirft Vološinov (1975 [1929]) einen sprachphilosophisch begründeten Zugang zur Ideologiefrage. In dezidiertem Gegensatz zu Saussures Verständnis von Sprache (langue) als einem in sich geschlossenen, normativen System stellt er Sprache als lebendige, sich ständig verändernde Form der Kommunikation und Interaktion zwischen sozial agierenden und sozial organisierten Menschen in den Mittelpunkt. Jede konkrete Äußerung „antwortet auf etwas und ist auf eine Antwort hin gerichtet. Sie ist nur ein Glied in der kontinuierlichen Kette sprachlicher Handlungen“ (Vološinov 1975 [1929], 129). Auf dieses von Bachtin begründete dialogische Prinzip geht eine Reihe später entwickelter Konzepte zurück, insbesondere jene der Interdiskursivität (Kristeva 1972 [1967]) oder Intertextualität (Briggs 1992, Silverstein 2004, Blommaert 2006). Vier Punkte in Vološinovs Ausführungen scheinen im Zusammenhang mit Sprachideologien von besonderem Interesse zu sein. Erstens entwickeln sich ideologische Phänomene Vološinov (1975 [1929], 70) zufolge ‚dezentriert‘ aus gruppenspezifischen Formen (Genres) und Themen der alltäglichen Kommunikation. Diese typischen, mehr oder weniger stabilisierten kommunikativen Formen und Themen geben vor, welche Gegenstände in einer bestimmten Epoche der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zugänglich sind – ein Gedanke, der sich später in ähnlicher Form bei Foucault (1977) wiederfindet. Nur solche Gegenstände gewinnen Bedeutung, formen

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sich zu Zeichen und werden zu Objekten der Zeichenkommunikation. Zweitens stellt Vološinov Ideologie, Zeichen und Bedeutung in eine Linie: Zeichen haben einen ideologischen Charakter, sie widerspiegeln und brechen die Wirklichkeit, die sie repräsentieren, sie verleihen ihr Bedeutung, indem sie sie in den Kontext anderer, bekannter Zeichen einschließen. Gegenstände, Laute, Bilder werden zu Zeichen, indem ihnen Bedeutung verliehen wird, indem sie interpretiert und verstanden werden. ‚Verstehen‘ ist demzufolge eine „Erwiderung auf Zeichen mit Zeichen“ (Vološinov 1975 [1929], 57), denn ein Zeichen kann nur mit Hilfe eines anderen erhellt werden (vgl. auch Vološinov 1975 [1929], 88). Drittens sind Zeichen, weil sie der Interpretation bedürfen, grundsätzlich vieldeutig. Die gesellschaftlich gegebene Multiakzentualität ist, so Vološinov (1975 [1929], 71 f.), ein wesentliches Charakteristikum des Zeichens, durch das es sich vom Signal unterscheidet. Die jeweils herrschende Ideologie ist bestrebt, den im Zeichen stattfindenden Kampf der gesellschaftlichen Wertungen zu unterdrücken und es dadurch eindeutig zu machen. Viertens stellt Vološinov dar, wie das (gesellschaftlich organisierte) Individuum durch das ideologische Zeichen mit der Außenwelt verbunden wird. Etwas wird zum Erlebnis, indem ihm Bedeutung verliehen wird, indem es mit Hilfe eines ideologischen Zeichens ausgedrückt werden kann. Das ideologische Zeichen muss in die ‚innere Welt‘ eindringen, um seine Zeichenbedeutung zu verwirklichen. Im Gegensatz zum biologisch gefassten Einzelwesen ist das sozial kommunizierende Individuum schon ein „in ideologische Zeichen gefasstes“ (Vološinov 1975 [1929], 85). Zwar werden diese Überlegungen formal innerhalb eines Marx’schen Basis-Überbau-Modells entwickelt, aber Vološinov setzt sich dezidiert von jeder mechanistischen Vorstellung von Ideologie ab, die einen kausalen Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Basis und ideellem Überbau postuliert, und nimmt damit im Ansatz vieles von dem vorweg, was später Grundelemente des poststrukturalistischen Denkens bilden wird: den Fokus auf kommunikative Alltagspraktiken, die grundsätzliche Unabschließbarkeit von Zeichenketten, das Verständnis von Diskurs und Macht als temporären Fixierungen von Bedeutung, die vorgeben was in einer Epoche wahrnehmbar, denkbar und sagbar ist, und schließlich die diskursive Konstitution des Subjekts. Wichtig in Bezug auf Sprachideologien ist, dass der Bachtin-Kreis die Betonung weniger auf die Vorstellung von Stabilität, Homogenität und Geschlossenheit sozialideologischer Phänomene legt als auf deren Heterogenität, Vieldeutigkeit, Widersprüchlichkeit und Wandelbarkeit. Die „einheitliche Sprache“ als ein in sich geschlossenes System sprachlicher Normen ist Bachtin (1979, 163) zufolge nicht gegeben [dan], sondern immer projektiert [zadan] (vgl. auch Vološinov 1975 [1929], 121), ein Unterfangen jener Kräfte, die auf eine Vereinheitlichung und Zentralisierung der verbal-ideologischen Welt zielen. Ihr entgegen wirken die zentrifugalen Kräfte der Redevielfalt, die Bachtin als ununterbrochene Prozesse verbal-ideologischer Dezentralisierung und Differenzierung charakterisiert.  

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4.3 Gramsci: kulturelle Hegemonie Ungefähr zur selben Zeit wie Bachtin und Vološinov beschäftigte sich Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften mit sehr ähnlichen Fragestellungen, aber mit entgegengesetzter Blickrichtung. Gramsci geht der Frage nach, wie es einer herrschenden Schicht oder Klasse gelingen kann, einen über die eigene Gruppe hinausgehenden gesellschaftlichen Konsens [senso comune] herzustellen, um die zerstreuten, auseinanderstrebenden Partikularismen zu einem kollektiven Willen zusammenfassen. Dazu ist es, so Gramsci (1999a [1929–1935], Q25 § 5, 2194 f.), für den modernen Staat erforderlich, die Zustimmung auch subalterner gesellschaftlicher Gruppen zu gewinnen, sie einzubinden, ihre Selbständigkeit zu beschränken und sie auf diese Weise zu kontrollieren. Um Staat zu werden, genüge es nicht, Macht über den (repressiven) Staatsapparat zu gewinnen, sondern es muss auch die kulturelle und intellektuelle Hegemonie innerhalb der Zivilgesellschaft gesichert werden, die über eigene Institutionen wie Kirchen, Schulen, Kammern, Gewerkschaften usw. verfügt. In ihnen werden Weltauffassungen produziert und reproduziert, mittels derer man sich bestimmten Gruppierungen zuordnet, deren Denkund Handlungsweisen man teilt: „Man ist Konformist irgendeines Konformismus, man ist immer Masse-Mensch oder Kollektiv-Mensch“ (Gramsci 1994 [1929–1935], Q11 § 12, 1376). Hier finden sich bereits Anklänge an postmoderne Vorstellungen vom ‚dezentrierten‘ Subjekt: In dem Maß, wie die eigenen Weltauffassungen inkohärent und unterschiedlichen geschichtlichen Epochen zugehörig sind, „gehört man gleichzeitig zu einer Vielzahl von Masse-Menschen, die eigene Persönlichkeit ist auf bizarre Weise zusammengesetzt“ (ebd.). Vor dem Hintergrund der damals noch unvollendeten nationalen Einigung Italiens richtet sich Gramscis Interesse besonders auf die sprachliche „Zersplitterung“, die sich, wie er schreibt, in einer unbegrenzten Zahl „spontaner Grammatiken“ ausdrückt, die „unzusammenhängend, diskontinuierlich, auf lokale Gesellschaftsschichten und auf lokale Zentren beschränkt“ sind. Er stellt die Frage, wie diese Zersplitterung unter dem Einfluss der führenden Bourgeoisie in einem national-kulturellen Akt sowohl hinsichtlich des Territoriums als auch der Kultur vereinheitlicht werden kann (Gramsci 1999b [1929–1935], Q29 § 2, 2242). Der Gramsci-Forscher Lo Piparo (2010) vertritt sogar die These, dass Gramscis Theorie der kulturellen Hegemonie sich weniger aus dem Marxismus als aus seiner frühen und lebenslangen Beschäftigung mit linguistischen Fragen speist.  

4.4 Bourdieu: Sprachmarkt und sprachlicher Habitus Auch Pierre Bourdieu (1990) setzt sich in seinem Buch Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches intensiv sowohl mit der Frage der nationalsprachlichen Vereinheitlichung als auch mit dazu gegenläufigen Tendenzen aus-

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einander. Die Entwicklung, Legitimierung und Durchsetzung einer offiziellen Sprache versteht er als Normierungsprozess: Soll sich eine von mehreren Sprachpraxen (eine Sprache im Falle von Bilingualismus, ein Sprachgebrauch im Falle einer Klassengesellschaft) als die einzig legitime durchsetzen, müssen der sprachliche Markt vereinheitlicht und die verschiedenen Dialekte (von Klassen, Regionen oder ethnischen Gruppen) praktisch an der legitimen Sprache oder am legitimen Sprachgebrauch gemessen werden. (Bourdieu 1990, 21)

Mit seinem theoretischen Rahmen geht Bourdieu der Frage nach, wie ungleiche Machtverhältnisse auf gesellschaftlicher Ebene sich in lokalen sprachlichen Praktiken einerseits, im sprachlichen Habitus der einzelnen Sprechenden andererseits niederschlagen. Dass seine Überlegungen im Zusammenhang mit sprachideologischen Fragestellungen häufig herangezogen werden (z. B. Gal 2006; Duchêne/Heller 2012, May 2014, Blommaert 2015), lässt sich zum einen darauf zurückführen, dass er sich aus soziologischer Warte explizit mit metapragmatischen Phänomenen auseinandersetzt, zum anderen zweifellos aber auch darauf, dass seine theoretischen Grundlagen mit jenen der Linguistic Anthropology und der Interaktionalen Linguistik – obzwar mit den marxistischen Begrifflichkeiten von Kapital, Markt, Preis und Profit durchsetzt – in hohem Maß ‚kompatibel‘ sind. So schlägt Bourdieu (1990, 11) vor, Sozial- und Herrschaftsverhältnisse als „symbolische Interaktionen zu behandeln, das heißt als Kommunikationsbeziehungen, die Kenntnis und Anerkenntnis voraussetzen“. Auch Situationen des sprachlichen Austauschs versteht er demzufolge als „symbolische Machtbeziehungen, in denen sich die Machtverhältnisse zwischen den Sprechern oder ihren jeweiligen sozialen Gruppen aktualisieren“ (ebd.). Anders als Bachtin, Vološinov oder Gramsci spricht Bourdieu (1990, 94) aber nicht von Ideologien, sondern in Anlehnung an Durkheim von Repräsentationen, wobei er zwischen mentalen Repräsentationen (als Gegenstand von Wahrnehmungs-, Bewertungs-, Erkenntnisund Anerkenntnisakten) und gegenständlichen Repräsentationen (Emblemen, Fahnen, Insignien) usw. unterscheidet. Durch Akte des Benennens und Klassifizierens, nicht zuletzt in der wissenschaftlichen Praxis, erzeugen Repräsentationen jene Realitäten, die sie zu beschreiben vorgeben (vgl. Bourdieu 1990, 95). Ein besonderer Stellenwert kommt in Bourdieus Überlegungen der räumlichen Dimension zu: unterschiedliche soziale Räume bilden „sprachliche Felder“ (1990, 35) mit je eigenen habitualisierten Sprachpraxen und -stilen. Da jedes Sprechen als symbolischer Tausch verstanden wird, geht es immer auch um die Behauptung der Position gegenüber anderen auf dem jeweiligen Sprachmarkt, dessen Position seinerseits durch die Nähe oder Distanz zum übergeordneten Sprachmarkt, dem der offiziellen Sprache, bestimmt wird. Jedes Sprechen ist ausgerichtet auf zu erwartende Rezeptionsverhältnisse, mögliche Belohnungen oder Sanktionen auf dem jeweiligen (lokalen, regionalen, nationalen usw.) Markt. Das Wissen über sprachliche Machtverhältnisse und über den Wert des eigenen Sprachkapitals wird durch Sozialisation erworben und als sprachlicher Habitus Teil  

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der in den Körper eingeschriebenen Dispositionen. Auf die Konzeptionen von Hexis und Habitus wird in Abschnitt 5 näher eingegangen. Hier interessiert uns primär, was Bourdieu als soziale Akzeptabilität einer Sprache oder eines Sprachgebrauchs bezeichnet. Diese ergibt sich, so Bourdieu (1990, 62) aus dem Zusammentreffen eines bestimmten (durch den früheren Austausch auf unterschiedlichen ‚Sprachmärkten‘ geformten) sprachlichen Habitus mit einem bestimmten ‚Sprachmarkt‘: Dieser Sinn für die sprachliche „Platzierung“ bestimmt, wieviel Zwang ein bestimmtes Feld auf die Diskursproduktion ausübt, und läßt den einen Schweigen oder überkontrolliertes Sprechen geboten scheinen, den anderen die Freiheiten selbstbewussten Sprechens. Dies bedeutet, daß bei der Sprachkompetenz, die ‚vor Ort‘ – in der Praxis – erworben wird, die praktische Beherrschung der Sprache nie von der praktischen Beherrschung der Sprechsituation zu trennen ist, in der dieser Gebrauch der Sprache sozial akzeptabel ist. (Bourdieu 1990, 62 f.; Herv. i. Orig.)  

Auf diese räumliche Komponente kann die Eignung des Bourdieuʼschen Modells für die Exploration lokaler Sprachregime zurückgeführt werden, die Coulmas (2005) als ein Bündel von Gewohnheiten, rechtlichen Regulierungen und Ideologien definiert, die Sprechende in räumlich situierten Interaktionen in der Wahl sprachlicher Mittel einschränken. Er beruft sich dabei unter anderem auf Kroskrity (2000), der den Regime-Begriff in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Band Regimes of Language: Ideologies, Polities, and Identities einführt, um – zurückgreifend auf Gramscis Konzept der kulturellen Hegemonie, auf Foucaults Verständnis von symbolischer Macht und auf Bourdieus Sprachmarkt-Modell – sprachliche Ungleichheit zu analysieren (vgl. ähnlich auch Blommaert/Collins/Slembrouck 2005).

4.5 Foucault: Diskurs und Gouvernementalität Der Schritt von marxistischen oder neomarxistischen zu poststrukturalistischen Theorien, von ‚Ideologie‘ zu ‚Diskurs‘, kann vereinfachend damit umschrieben werden, dass die Idee der ideologisch-sprachlichen Verfasstheit auch auf Zonen ausgedehnt wird, die im marxistischen Verständnis als der materiellen gesellschaftlichen Basis zugehörig davon ausgenommen waren. Soziale Klassen zum Beispiel werden – wie sich dies in den besprochenen Werken bereits abzuzeichnen beginnt – nicht mehr als objektiv gegeben angenommen, sondern als diskursive Konstrukte begriffen. Für Foucault (1981 [1969], 49) sind Diskurse Praktiken, die „systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“. Sie identifizieren nicht Gegenstände, sondern machen etwas zum Gegenstand, ‚objektivieren‘ es, und indem sie das tun, verschleiern sie ihre eigene Erfindung. Soziale oder kulturelle Ordnungen sind demzufolge nicht dem Diskurs vorgelagert oder ein natürlich Gegebenes, auf das die Diskurse wirken, sondern sie können als Produkt des Diskurses verstanden werden, der seinerseits aber kein in sich geschlossenes Ganzes, sondern dezentriert, kontingent, heterogen ist.

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Im Zusammenhang mit Sprachideologien erweist sich das im Spätwerk Foucaults entwickelte Konzept der Gouvernementalität als besonders produktiv. Die Wortschöpfung gouvernementalité, die Foucault von Roland Barthes übernommen hat, verbindet die Begriffe gouverner (‚herrschen, regieren‘) und mentalité (‚Denkweise‘ bzw. ‚Alltagspraxis‘; Tuider 2007). Foucault (2007a, 289) definiert Gouvernementalität als die „Verbindung zwischen den Technologien der Beherrschung anderer und den Technologien des Selbst“. Mit Technologien der Beherrschung anderer befasst sich Foucault vor allem in seinen Werken zu Kriminalität, Sexualität, Wahnsinn und Biopolitik. Macht existiert Foucault (2007b, 96) zufolge nur als Handlung, auch wenn sie natürlich innerhalb eines weiten Möglichkeitsfeldes liegt, das sich auf dauerhafte Strukturen stützt. […] In Wirklichkeit sind Machtbeziehungen definiert durch eine Form von Handeln, die nicht direkt und unmittelbar auf andere, sondern auf deren Handeln einwirkt.

Macht ist „auf Handeln gerichtetes Handeln“ (Foucault 2007b, 97). Sie wirkt nicht nur und nicht in erster Linie von oben nach unten, sondern setzt zugleich ein kapillares System des Aufsteigens von unten nach oben voraus (Foucault 1978, 129). Diskurs ist gleichzeitig Machtinstrument und Machteffekt, aber er kann Foucault zufolge auch zum Ausgangspunkt für entgegengesetzte Strategien werden: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht“ (Foucault 1983, 96). In Subjekt und Macht entwickelt Foucault den Gedanken, dass Machtbeziehungen der Analyse am ehesten zugänglich werden, wenn man den Widerstand gegen verschiedene Formen der Machtausübung untersucht. Im Besonderen wendet er sich von da an jener Machtform zu, die er als Subjektivierung bezeichnet: Objektivierungsformen, die den Menschen zu ihrem Gegenstand und dadurch zum Subjekt machen. Als Beispiel nennt er verschiedene Forschungsweisen, die den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben wie „die Objektivierung des sprechenden Subjekts in der Grammatik, der Philologie und der Sprachwissenschaft“ (Foucault 2007b, 81). Die Subjektivierung könne je nach historischer Formation verschiedene Formen annehmen, aber sie sei jedenfalls als Form der Macht zu verstehen (vgl. Foucault 2007b, 86). Was Foucaults Konzept der Gouvernementalität für die Auseinandersetzung mit Diskursen über Sprache und Sprachgebrauch, die mit Sprachideologien verbunden sind, so interessant macht, ist, dass es Formen der Machtausübung durch Zwangsmaßnahmen, Gesetze, Institutionen mit der Mikrophysik der Macht (Foucault 1976), wie sie in Alltagsinteraktionen zum Tragen kommen, und mit Technologien des Selbst verknüpft, also damit, wie sich (sprechende) Subjekte gegenüber Diskursen, gegenüber anderen und zu sich selbst positionieren. Daher werden diese Konzepte von der amerikanischen Sprachanthropologie in der Beschäftigung mit Sprachideologien inzwischen auch gerne herangezogen (vgl. Rampton 2016).

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5 Subjektperspektive: Sprachbiografieforschung 5.1 Konstitution des Subjekts durch (sprach-)ideologische Anrufung In diesem Abschnitt geht es darum, welche Rolle sprachideologische Diskurse in der Konstitution des sprechenden Subjekts spielen und wie sie sich als sprachliche Dispositionen in den Körper einschreiben. Überlegungen zur Konstitution des Subjekts in und durch Sprache finden sich auch in Althussers Schrift Idéologie et appareils idéologiques d’État (2008 [1970]). Althusser schließt unmittelbar an Gramsci an, indem er Ideologie in relativ autonomen Institutionen verortet, die er als ideologische Staatsapparate bezeichnet und die sich vom (repressiven) Staatsapparat insofern unterschieden, als man sich ihnen ‚freiwillig‘ unterwerfe. Althussers zentrale Frage ist, auf welche Weise eine Ideologie ihre Gefolgschaft ‚rekrutiert‘ – und die Antwort, die er darauf findet, ist: durch Anrufung [interpellation], die er aus der Allegorie eines Polizisten herleitet, der einen Passanten mit „He, Sie dort!“ [hé, vous, là-bas!] anruft (Althusser 2008 [1970], 49). Erst durch die ideologische Anrufung wird das Individuum (das augenblicklich weiß, dass es gemeint ist) zum Subjekt: Es wird als unverwechselbar identifiziert, wird (im Sinne Hegels) ‚anerkannt‘ und unterwirft sich aus freien Stücken. Verkennung [mé-connaissance] ist dabei die Kehrseite der ideologischen Anerkennung und zugleich Teil jedes Anerkennungsaktes. Die Verwandlung eines Individuums in ein ideologisch konstituiertes Subjekt beginnt, wie Althusser meint, schon vor und mit der Geburt, wenn dem erwarteten Kind ein Name gegeben wird und mit ihm auch ein Geschlecht und alle daran geknüpften Erwartungen. Die Konstitution des Subjekts durch Ideologie und – umgekehrt – die Konstitution der Ideologie im Subjekt (2008 [1970], 46) sind der eigentliche Angelpunkt von Althussers Konzept. Ideologie existiert nur im und durch das Subjekt, das sich vermittels ideologischer Praktiken in Form ritualisierter Handlungen oder Zeremonien, die innerhalb ideologischer Apparate wie Familie, Kirche oder Schule praktiziert werden, als ideologisch erkanntes zu erkennen gibt. Damit die vielen Subjekte sich in ihr ‚spiegeln‘ können, muss die Ideologie um ein Zentrum gruppiert sein, das von einem (stets unerreichbaren) Absoluten, Einzigen, Anderen Subjekt [un Autre Sujet Unique, Absolu] eingenommen wird – für die Gläubigen, wie Althusser es am Beispiel der Religion exemplifiziert, von Gott. In ‚Seinem‘ Namen werden die Rituale der gegenseitigen Anerkennung praktiziert, die der Vergewisserung der eigenen Identität dienen: die Anerkennung zwischen den Subjekten und ‚Dem‘ Subjekt der Ideologie, zwischen den Subjekten untereinander und des Subjekts durch sich selbst (vgl. Althusser 2008 [1970], 56). In Bezug auf Sprachideologien ermöglicht Althussers Verständnis von Ideologie beispielsweise die Wirkungsmacht zu untersuchen, die jede verdinglichte Vorstellung von Sprache – insbesondere in Form standardisierter Nationalsprachen – im Hinblick auf die sprechenden Subjekte entfaltet. Auch für Sprachen, so lässt sich argumentie-

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ren, existieren eigene ideologische Apparate – Akademien, Philologien, Lexika, Grammatiken, Schulen –, in denen sie als ideologische Praktiken zelebriert und gelehrt werden. Sie ‚rufen‘ die Subjekte an, identifizieren sie (unter Androhung des Ausschlusses) als Mitglieder der ‚Sprachgemeinschaft‘ und fordern ihre (freiwillige) Gefolgschaft ein. Und sie haben, um in Althussers Bild zu bleiben, ein stets unerreichbares ideelles Zentrum, auf das alle Phantasien von Authentizität, Reinheit und Korrektheit projiziert werden. Judith Butler beruft sich in ihren Arbeiten zu Macht, Performativität, Gender, Körperlichkeit und Diskriminierung explizit auf Althussers Konzept der ideologischen Anrufung, auf Foucaults Verständnis von der zugleich produktiven und einschränkenden Macht diskursiver Ordnungen auf die Subjektwerdung und auf Bourdieus Konzepte von Habitus und Hexis. Sie geht von der Ambiguität des Subjektbegriffs aus, der zufolge das Subjekt nicht primär ein handelndes ist, sondern ein unterworfenes, wobei die Unterwerfung unter die Macht vorhandener Diskurse – bereits gesprochener Sprache – dem Agieren vorangeht. Subjekt werde man durch die stets wiederholte Zuordnung und Selbst-Zuordnung zu vorgegebenen, diskursiv produzierten Kategorien. Subjektivierung sei die Unterwerfung unter eine von außen kommende Macht, aber sie bilde zugleich die Voraussetzung, um innerhalb vorgegebener Grenzen Handlungsfähigkeit zu gewinnen (vgl. Butler 2001, 9).

5.2 Inkorporierte Sprachideologien Butler (2006, 206 f.) hebt den normativen Aspekt von Sprache hervor, dem sie eine performative Macht zuschreibt. Der Eintritt in die Normativität der Sprache übt, wie Butler in Anlehnung an Foucault sagt, eine „produktive Zensur“ aus, die sowohl das Subjekt konstituiert als auch die legitimen Grenzen des Sprechens. Diese Macht wirkt, indem sie bestimmte Formen der Subjektivierung ermöglicht und andere ausschließt. Von dieser ursprünglichen Zensur unterscheidet Butler Akte der Zensur, die im Nachhinein Zwang auf das Subjekt ausüben und so die primäre Zensur erneut aufrufen und re-aktualisieren. Eine zentrale Stellung kommt in Butlers Subjektivierungstheorie der gesellschaftlich-diskursiven Konstitution des Körpers zu. Butler (2006, 237 ff.) lehnt sich dabei eng an Bourdieus Habitus-Konzept an, demzufolge ritualisierte körperliche Praktiken des Alltagslebens sich in den Körper einschreiben. Der Körper ist demnach einerseits Speicher einer inkorporierten Geschichte (Bourdieu 1990), andererseits auch ein Instrument, mit dem der Glaube an die Selbstverständlichkeit der Gegenwart hergestellt wird. Butler geht aber insofern über das Habitus-Konzept hinaus, als sie den Habitus als performativ hergestellt und strukturiert sieht:  



Der körperliche Habitus stellt […] eine stillschweigende Form von Performativität dar, eine Zitatenkette, die auf der Ebene des Körpers gelebt und geglaubt wird. (Butler 2006, 242).

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Die körperliche Dimension des Sprechens und Kommunizierens war und ist in der Soziolinguistik immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung, zum Beispiel im Zusammenhang mit paraverbalen Phänomenen oder mit der Platzierung von am Gespräch Beteiligten (und Artefakten) im Raum. Aber erst in jüngerer Zeit wird – vor allem seitens der Gender Linguistic und der Disability Studies auch der diskursiven oder performativen Konstitution des Körpers in und durch Sprache wachsende Aufmerksamkeit geschenkt. In ihrem Überblicksartikel zu Embodied Sociolinguistics fassen Bucholtz und Hall (2016) diesen neuen Blick auf den Körper folgendermaßen: „Just as bodies produce language, so the converse also holds: Language produces bodies“ (Bucholtz/Hall 2016, 173). Der Körper werde wahrgenommen als „a site of semiosis, through cultural discourses about bodies as well as linguistic practices of bodily regulation and management“ (ebd.). Diese Sicht ermöglicht eine Verknüpfung mit dem Konzept der Sprachideologien: Sprachideologien gehen über Indexikalität hinaus, da sie auch eine ikonische Dimension umfassen, die soziale Kategorien an eine körperliche Hexis binden. Diese wird dann als Ursprung sozial markierter sprachlicher Formen oder Praktiken angenommen: [S]ociocultural beliefs about language rely on indexical iconization […], an ideological process that rationalizes and naturalizes semiotic practice as inherent essence, often by anchoring it within the body. Indeed, the body is often physically deployed in the service of furthering language ideology, such as when speakers perform stereotyped “gay speech” through the flap of a limp wrist or parody “teenage girl talk” with the accompanying embodied posture of taking a selfie with a cellphone. (Bucholtz/Hall 2016, 178)

5.3 Erlebte Sprachideologien Sprachideologien schreiben sich – durch Anrufung in der zweiten Person – als Dispositionen in den Körper ein, sie werden als habitualisierte Praxen einverleibt, bilden eine Art Skript, auf das in Interaktionen zugegriffen wird. Aber sie sind aus einer Erste-Person-Perspektive auch mit emotionalem und körperlichem Erleben verbundene Erfahrungen des Subjekts. Der Körper bildet gewissermaßen die Schnittstelle, an der Diskurs und Erleben zusammentreffen. Wenn man die Wirkungsmacht von Sprachideologien verstehen will, aber auch die Möglichkeit ihrer Transformation, kommt man nicht umhin, Diskursperspektive und Erlebensperspektive zueinander in Bezug zu setzen. In ihrem Aufsatz Normale und normalisierte Erfahrung betont Wehrle: Erfahrung und Körperlichkeit [spielen sich] nicht außerhalb der Diskurse ab, sondern vielmehr mittendrin bzw. die Diskurse werden zum Teil der Erfahrung selbst. Diskurse, Ordnungen oder Macht (im Sinne Foucaults) müssen in irgendeiner Form Eingang ins Subjektsein finden, um überhaupt wirksam sein zu können – und das nicht nur auf sprachlicher, sondern eben auch auf körperlicher Ebene. (Wehrle 2016, 238)

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Mit dem Konzept des Spracherlebens stellt Busch (2013, 2017a) aus soziolinguistischer Warte eine Verbindung zwischen diesen zwei Blickrichtungen her – von den Diskursen auf das Subjekt und vom Subjekt auf die Diskurse. Das Konzept stützt sich sowohl auf die Subjekt- bzw. Habitustheorien von Althusser, Bourdieu, Foucault und Butler als auch auf die von Merleau-Ponty (1966) entwickelte Phänomenologie der Wahrnehmung, die den Blick auf die oft vernachlässigte körperliche und emotionale Dimension des Erlebens und Sprechens öffnet. In Anlehnung an Husserl sieht Merleau-Ponty die Grundlegung des Subjekts im leiblichen Sein: Der Leib situiert und verortet das Subjekt in der Welt. Merleau-Ponty unterscheidet dabei begrifflich zwischen dem Körper [corps physique] als einem Objekt, das beobachtbar und messbar ist, und dem Leib [corps vivant] als Subjekt des Wahrnehmens, Fühlens, Erlebens, Agierens und Interagierens. Die Ambiguität des Leib-Körpers als ein zugleich Beobachtender und Beobachteter veranschaulicht er am Beispiel der linken und rechten Hand: der Subjekt-Hand, die die andere Objekt-Hand ertastet. Die Bewegung des Leibes ist Merleau-Ponty (1966 [1945], 117) zufolge die Basis des Vermögens, sich in Bezug zur Welt zu setzen, sich auf sie einzulassen. Spracherleben bezieht sich auf Interaktionssituationen, die sich als gelebte Szenen ins Leibgedächtnis einschreiben, sei es durch ihren repetitiven, sei es, im Gegenteil, durch ihren ‚einmaligen‘, hervorstechenden Charakter. Die ursprüngliche Konstitution des Subjekts in der Sprache erfolgt gewissermaßen ‚unbemerkt‘, indem das Kind die (grammatikalischen, diskursiven, pragmatischen) Regeln der Sprache übernimmt und die von ihnen ausgeübte ‚Zensur‘ internalisiert. Dieser Prozess beginnt, wie Lorenzer (1981, 85 ff.) aus psychoanalytischer Sicht darstellt, nicht erst mit dem Eintritt in die Sprache, sondern basiert auf der präverbalen, sinnlich erlebten körperlichen Interaktion zwischen dem Säugling und seinen Bezugspersonen, die eine kulturspezifische, gesellschaftstypische Matrix der unbewussten Interaktionsformen bildet, über die sich, strukturiert und strukturierend, das mit der interaktionalen Praxis verbundene System der Sprache legt. Mithilfe des Habitus-Konzepts lässt sich erfassen, wie sich erlebte Interaktionssituationen durch Wiederholung in den Körper einschreiben und so sukzessiv Dispositionen der Wahrnehmung und des Handelns herausbilden. Interaktionssituationen, die sich durch ihre meist mit starken (positiven oder negativen) Emotionen verbundene Erlebensintensität ins Gedächtnis einbrennen – in das dem Bewusstsein zugängliche explizite ebenso wie das ihm nicht ohne weiteres zugängliche implizite, zeichnen sich dadurch aus, dass sie dem Habitualisierten, dem als ‚normal‘ Empfundenen nicht entsprechen, eine Art Normverletzung darstellen und dadurch eine Irritation hervorrufen. Solche Irritationen sind es, die auch die Möglichkeit öffnen, hegemoniale Diskurse und Normen in Frage zu stellen, sie zu unterlaufen und zu transformieren. Normen bilden den Bezugspunkt, sowohl wenn es um deren ‚freiwillige‘ Einübung, Bestätigung und Aneignung geht, als auch wenn es um eine Irritation aufgrund von etwas geht, das als Normverstoß oder als eine von außen herangetragene, ‚neue‘ Norm erfahren wird.  

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Die körperlich-emotionale Dimension des Handelns mit Sprache und Erlebens von Sprache lässt sich ebenfalls mit Merleau-Ponty (1966 [1945], 207 ff.) verstehen, demzufolge das Sprechen primär leiblich begründet ist. Wie Gestik und Emotion sei auch Sprache zuerst und vor allem ein Sich-in-Bezug-Setzen, eine Projektion hin zum Anderen – erst dann auch ein mentaler Akt von Repräsentation und Symbolisierung. Die leiblich-gestische, intersubjektive Dimension des Sprechens, die Merleau-Ponty (1966 [1945], 232) mit dem Begriff parole parlante [sprechende Sprache] fasst, gehe dem voraus, was er als parole parlée [gesprochenen Sprache] bezeichnet, dem konventionalisierten und sedimentierten sprachliche System:  

Sprache und Worte tragen also in sich eine erste Bedeutungsschicht, die ihnen unmittelbar anhängt, den Gedanken aber nicht so als begriffliche Aussage, sondern als Stil, als affektiven Wert, als existentielle Gebärde mitteilt. (Merleau-Ponty 1966, 216).

Der Geste der Öffnung hin zum anderen steht die der Schließung gegenüber: In solchen Fällen hat sich die Bewegung […] gleichsam festgefahren in einem leiblichen Symptom, die Existenz hat sich verknotet, der Leib ist zum ‚Schlupfwinkel des Seins‘ geworden. (Merleau-Ponty 1966 [1945], 197)

Ein Gefühl, das in sprachenbiographischen Interviews häufig thematisiert wird, ist jenes der Scham, die aufkommt, weil man ein ‚falsches‘ Wort, einen ‚falschen‘ Ton erwischt hat, mit einem ‚falschen‘ Akzent spricht. Beschrieben wird dies oft als Gefühl, alle Blicke auf sich zu ziehen, oder als Wunsch, in den Boden zu versinken. Es resultiert in einer Lähmung, die die eigene Handlungsmöglichkeit jäh unterbricht. Nähert man sich einer Analyse des Schamgefühls mit Demmerling und Landweer (2007, 219 ff.) aus einer intersubjektiven Perspektive, so ist der Normverstoß, der dem Gefühl zugrunde liegt, zentral. Man schämt sich für die Übertretung oder Missachtung einer Norm, eines Standards, eines Ideals, man schämt sich vor jemandem oder, weil man sich die Normen bereits zu eigen gemacht hat, auch ‚nur‘ vor sich selbst. Der Ausdruck Norm macht dabei deutlich, dass die Definition von Sachverhalten, die schambehaftet sind, nicht allgemeingültig, sondern gesellschaftlich-historisch bedingt ist. Das Entstehen des Schamgefühls beruht auf einem Perspektivenwechsel: Die Person, die als Subjekt-Leib [corps vivant] in eine Handlung verstrickt ist, über die sie sich zunächst keine Gedanken macht, nimmt plötzlich eine Außensicht auf sich selbst als einen Objekt-Körper [corps physique] ein, wodurch sie ihre eigene Handlung in einem anderen Licht sieht, nämlich als eigene Unzulänglichkeit. Dieser Perspektivenwechsel kann im Zusammenhang mit Sprache beispielsweise dadurch ausgelöst werden, dass man Anzeichen von Irritation beim Gegenüber bemerkt. Sowohl Butler als auch Bourdieu verweisen auf die körperlich-emotionale Dimension von Verletzungen, die durch Sprechen zugefügt werden. So weist Bourdieu (1997) darauf hin, dass symbolische Gewalt, wie sie im performativen Diskurs auftreten kann, sich, selbst wenn sie nicht von physischer Gewalt begleitet ist, bei den Adressatinnen oder Adressaten oft als körperliches Unwohlsein manifestiert. Herabwürdigen 

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de Äußerungen sind, wie Butler (2006, 14 f.) ausführt, nicht nur metaphorisch gewaltsam, sondern auch somatisch erfahrbar: Sie entziehen uns den Ort im sozialen Gefüge. Butler betont, dass die Vulnerabilität durch Sprache sich als Verletzungspotenzial in den Körper einschreibe, was zur Folge habe, dass mit jeder neuen verletzenden Äußerung auch vorangegangene wieder aufgerufen werden. Nicht nur Ausdrücke aus der Sprache des Hasses können Gewalterfahrungen wieder aufrufen, sondern, so könnte hinzugefügt werden, bestimmte Sprechweisen oder Sprachen können auch per se als bedrohend erlebt werden, weil sie mit vorangegangenen Verletzungen assoziiert werden. Die Konfrontation mit Sprachideologien, die beispielsweise darauf gerichtet sind, Menschen aufgrund ihres Sprechens einer als ‚minderwertig‘ oder ‚andersartig‘ klassifizierten Gruppe zuzuordnen, ihnen die Möglichkeit zur gleichberechtigten Partizipation abzusprechen oder sie in ihrer Eigenschaft als sprachlich handlungsfähige Subjekte in Frage zu stellen, sind im Sinne Bourdieus und Butlers Erfahrungen symbolischer Gewalt, die eine prägende performative Wirkung entfalten können. Das Konzept Spracherleben wurde in der Arbeit mit Sprachbiographien entwickelt, ErstePerson-Erzählungen, die häufig von Erfahrungen ex negative handeln, also solchen, in denen das eigene sprachliche Repertoire als nicht in Übereinstimmung mit von außen herangetragenen normativen Erwartungen und Forderungen erlebt wird. Der Ausdruck Spracherleben bezieht sich darauf, wie wir uns in der Interaktion mit anderen als Sprechende wahrnehmen und glauben von diesen wahrgenommen zu werden. Interaktionssituationen oder -szenen, die sprachideologisch aufgeladen sind, wirken demzufolge nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch das körperlich-emotionale Erleben (vgl. dazu bereits Vygotskij 1994 [1934]). Umgekehrt findet mit Sprache verbundenes Erleben Eingang ins sprachliche Repertoire des/der Einzelnen und schlägt sich in Form sprachlicher Repräsentationen und Dispositionen nieder. Solche auf lebensgeschichtlichem Erleben begründete und sprachideologisch geprägte Repräsentationen tragen wesentlich dazu bei, wie Menschen ihr sprachliches Repertoire oder Elemente davon bewerten.  

6 Zwischen Interaktion, Diskurs und Subjekt: soziale Positionierungen 6.1 Von der Mikro- zur Makroebene und zurück Was die Auseinandersetzung mit Sprachideologien betrifft, so ist eine der aktuell häufig debattierten Fragen jene nach den Wechselwirkungen zwischen verfestigten sprachideologischen Kategorien und Konzepten als Teile von übergeordneten Diskurs- und Praxisformationen, zwischen Subjekten, die Sprachideologien zugleich

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‚verkörpern‘, erleben und brechen, und zwischen situierten Interaktionen, in denen sich historisch und biographisch konstituierte Subjekte begegnen, auf vorhandene Diskursvorräte zurückreifen, sie reproduzieren und verstärken, aber auch unterlaufen oder abwandeln. Diskutiert werden solche Wechselwirkungen oft unter dem Label Mikro- und Makroebene. Silverstein (2004) stellt die Frage, wie ‚makro-soziologische‘, soziokulturelle Konzepte (Ideologien, Wissensbestände) in situierten Interaktionen durch die an der Interaktion Beteiligten ‚ins Spiel‘ gebracht und relevant gesetzt werden. Jede Interaktion rufe soziokulturelle Konzepte auf, bringe sie – unter Einsatz von mehr oder weniger ritualisierten, textualisierten, registrierten Zeichenformen – ins Hier-und-Jetzt. Dadurch setzten sich die an der Interaktion Beteiligten als signifikante soziale Personen zueinander in Beziehung. Sie positionierten sich kommunikativ in Bezug auf bestimmte (gemeinsame) soziokulturelle Wissensbestände. Silverstein arbeitet das unter anderem am Beispiel zweier Gesprächspartner heraus, die, während sie ritualisierte Formeln des einander Kennenlernens austauschen, sich im Lauf des Gesprächs – für Dritte kaum wahrnehmbar – gegenseitig als ehemalige Absolventen US-amerikanischer Jesuitenschulen zu erkennen geben, indem sie geteiltes Insider-Wissen abrufen. ‚Abrufen‘ setzt voraus, dass es auf makrosozialer Ebene etwas gibt, worauf man sich beziehen kann: historisch kontingente, auf einer höheren institutionellen Ebene angesiedelte ‚Interaktionalitätsordnungen‘ (orders of interactionality) (Silverstein 2004, 623), rituelle Zentren des Zeichengebrauchs (ritual centers of semiosis) (ebd.), die strukturierend und wertend Einfluss auf jede situierte Interaktion ausüben Ein rituelles Zentrum wird Silverstein zufolge dadurch etabliert, dass es immer wieder aufgerufen und so erneuert wird – als vermeintlich geteiltes und essentialisiertes Wissen, auf das sich Menschen stützen, wobei die ungleiche Verteilung von Wissen in einem bestimmten Feld in der situierten Interaktion genutzt wird, um hierarchische Beziehungen herzustellen und zu begründen. Silverstein räumt ein, dass Identitätskategorien, die wir im Mikrokontext der Interaktion einnehmen können, durch Kategorisierungen und Wertungen auf makrosozialer Ebene legitimiert oder autorisiert sein müssen, aber ‚Gesellschaft‘ sei nur die Momentaufnahme einer „perduring virtual communicative economy“ (2004, 639). Ausgangs- und Endpunkt sei daher die „diskursive Interaktion“ auf der Mikroebene als „the very site of production/maintenance/contestation/transformation of social identities and interests in society“ (Silverstein 2004, 638, Herv. i. Orig.).

6.2 Ein multiperspektivischer Blick Einer ausschließlichen Fokussierung auf beobachtete Interaktionen als Gegenstand der Analyse lässt sich entgegenhalten, dass Sprachideologien sich aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nehmen lassen: aus der Perspektive situierter Interaktionen, aus der Perspektive raumzeitlicher Diskurs- und Praxisformationen und aus

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der Perspektiv der Subjekte, die Sprachideologien zugleich inkorporieren und als Rolle verkörpern. Welche Blickrichtung gewählt wird, hängt in erster Linie von der Fragestellung ab, mit der man sich auseinandersetzt, und die Wahl der Blickrichtung legt auch nahe, welcher analytische, methodologische Zugang im Mittelpunkt steht. Unabhängig davon, welche Perspektive im konkreten Fall eingenommen wird, ist es sinnvoll, jeweils andere mögliche Blickpunkte auf Sprachideologien nicht aus dem Blick zu verlieren. Geht man aus einer diskursanalytischen Perspektive von vorgefundenen Diskursund Praxisordnungen und dazugehörigen metasprachlichen Diskursen auf gesellschaftlicher Ebene aus, so lassen sich etwa, im Sinne einer diskurslinguistischen Verknüpfung der Foucaultʼschen Diskurs- und Subjektivierungstheorie mit einem metapragmatisch-anthropologischen Ansatz (Spitzmüller/Warnke 2011), miteinander interagierende Subjekte in die Analyse mit einbeziehen. Geht man von einem phänomenologisch begründeten biographischen Ansatz aus, der eine Erste-Person-Perspektive betont, kommt man nicht umhin, die Konstituierung des Subjekts im Diskurs und die intersubjektive, interaktionale Dimension mit zu berücksichtigen (Schäfer/Völter 2005, Tuider 2007, Wehrle 2016, Busch 2017b). Setzt man die Analyseebene im Sinne der Interaktionalen Linguistik bei situierten Interaktionen an, dann stößt man sowohl auf verfestigte Diskurse, Praxen und Sprachideologien als auch auf (erlebende und handelnde) Subjekte, die auch biographisch konstituiert sind – siehe Silversteins (2004) Beispiel weiter oben. Der im abschließenden Abschnitt diskutierte Ansatz der sozialen Positionierung zielt darauf ab, diese drei Analyseebenen zusammenzuführen.

6.3 Positionierung in Bezug auf Sprachideologien Auf welche Weisen in situierten Interaktionen auf verfestigte ideologische Vorstellungen, die mit Sprache und Sprachgebrauch verbunden sind, also auf Bündel ikonisierter Indexikalitäten, zurückgegriffen wird, wie diese im Sinne von Iterabilität reproduziert aber auch vielfach gebrochen und in ihrer indexikalischen Bedeutung verändert werden, kann aus der Warte von stance taking, dem Einnehmen sozialer Positionen, untersucht werden (Kiesling 2009, Jaffe 2009, 2016). In der Erzählanalyse wird das Konzept der Positionierung, wie Deppermann (2013) ausführt, auf Foucaults Begriff der Subjektpositionen (Foucault 1981 [1969]) zurückgeführt, die durch gesellschaftliche Diskurse zugleich eröffnet und eingeschränkt werden, Diskurse, die den Subjekten ‚erlaubte‘ Positionen in Bezug auf Status, Macht, legitimes Wissen und Praktiken zuweisen, insbesondere auf seine Adaptation in der Sozialpsychologie durch Hollway (1984) und andere, die damit die Möglichkeit hervorheben, sich in der Art, wie man sich selbst konzipiert, gegenüber unterschiedlichen, auch einander widersprechenden Diskursen zu positionieren. Allerdings wurde das Konzept in der konversationsanalytischen Adaption zunächst konsequent auf die Mikroebene be-

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schränkt; diskursive Prägungen werden dabei als nicht empirisch nachweisbar zurückgewiesen. Inzwischen hat sich jedoch auch eine soziolinguistisch fundierte Narrationsanalyse entwickelt, in der, wie De Fina (2013, 45) beschreibt, soziale Positionierung eher verstanden wird als a middle ground between CA based approaches [...] and orientations that view identities from a macro perspective as already given in the social world and merely manifested in discourse.

Du Bois (2007) entwirft ein Modell der Positionierung, das stance taking „in drei ineinander verschachtelte Teilprozesse“ (Spitzmüller 2013, 269) unterteilt: den Prozess der Bewertung eines Gegenstands oder Sachverhalts (eines ‚Objekts‘) durch einen oder mehrere Akteurinnen oder Akteure; den Prozess der Positionierung dieser Akteurinnen oder Akteure in Relation zum Objekt; den Prozess der Ausrichtung, bei dem Standpunkte verschiedener an der Interaktion Beteiligter abgeglichen werden, also die (Selbst- und Fremd-)Positionierung verschiedener Agierender oder Subjekte zueinander aufgrund ihrer jeweiligen Bewertungen des Objekts. Im Hinblick auf die Analyse metapragmatischer Sprachideologien greift Spitzmüller (2013) dieses Modell auf und erweitert es so, dass das Zusammenspiel von Sprachideologien auf der Mikroebene der interaktionalen Positionierung und der Makroebene verfestigter ideologischer ‚Registrierungen‘ (Agha 2007) nachvollzogen werden kann (Abbildung 1). Das linke Dreieck in der Abbildung ist das Stance-Modell von Du Bois, wobei die Stelle des Objekts von einem bestimmten Sprachgebrauch eingenommen wird, der von den beteiligten Akteurinnen oder Akteuren praktiziert bzw. bewertet wird. Indem sie sich aneinander ausrichten, treffen sie eine Sprachwahl, um sich gegenüber diesem Sprachgebrauch zu positionieren (z. B. als ‚authentische‘ So-undSo-Sprechende oder durch ironische Distanznahme gegenüber So-und-So-Sprechenden) und sie werden vom Gegenüber aufgrund ihres Sprachgebrauchs positioniert (z. B. als ‚legitime‘ oder ‚illegitime‘ So-und-So-Sprechende). Das rechte Dreieck stellt in Anlehnung an das Konzept der sozialen Registrierung (enregisterment; Agha 2007) dar, wie ein bestimmter Sprachgebrauch auf breiterer, gesellschaftlicher Ebene als Index für die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Kategorien (‚Klasse‘, ‚Rasse‘, ‚Gender‘, ‚Minderheit‘ usw.) gesehen wird, denen bestimmte Verhaltensformen zugeschrieben werden.  



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Abb 1: Das von Spitzmüller (2013, 273) auf der Basis von Du Bois’ (2007) stance-Dreieck entworfene Modell metapragmatischer Positionierung.  

Dieses Konzept bezeichnet soziale Prozesse, mittels derer gewisse als emblematisch hervorgehobene Sprechweisen einem bestimmten Sprachgebrauch zugeordnet werden, der als von anderen unterscheidbar ‚erkannt‘ und als ‚typisch für‘ taxiert und stereotypisiert wird. Ein Register entsteht demnach, wenn eine Anzahl indexikalischer Verweise als miteinander verbunden und als Bündel wahrgenommen werden. Als ‚sozial registriert‘ gilt ein Repertoire dann, wenn indexikalische Verknüpfungen gesellschaftlich so weit verfestigt sind, dass aus einem wahrgenommenen Sprachgebrauch direkt auf eine soziale persona geschlossen wird, der bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden, wenn dieser Sprachgebrauch also als natürliche Eigenschaft einer bestimmten Gruppe interpretiert wird, als für sie ikonisch. Personentypen und Verhaltenstypen werden, so Spitzmüller (2013, 272), durch Registrierung an eine bestimmte Sprachgebrauchsform gebunden und werden über das Register miteinander verknüpft. Deshalb richten sich Akteurinnen oder Akteure, wenn sie sozial registrierten Sprachgebrauch verwenden oder bewerten, auch gegenüber diesen typisierten Personen aus und positionieren sich zugleich zu typisierten, ‚registrierten‘ Verhaltensformen. Spitzmüllers Modell macht deutlich, dass Positionierung ein Vorgang des Erfahrens und des Handelns ist: Wir werden durch unseren Sprachgebrauch als einer bestimmten, diskursiv produzierten Kategorie zugehörige Subjekte positioniert, haben aber (bis zu einem gewissen Grad) auch die Möglichkeit, uns mit unserem Sprachgebrauch identifizierend oder distanzierend zu diesen Kategorien zu positionieren. Metapragmatische Diskurse üben, indem sie in situierten Interaktionen immer wieder aufgerufen werden, eine performative Macht auf das Subjekt aus, aber sie eröffnen auch die Möglichkeit, sich selbstreflexiv, kritisch, ironisch, anders wertend zu diesen

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Diskursen zu positionieren und so tendenziell verfestigte diskursive Verknüpfungen aufzuweichen (Busch 2012, Jaffe 2016). Interessant ist zudem, dass Spitzmüllers Modell sozusagen in alle Richtungen funktioniert: Wenn beispielsweise bestimmte (nichtsprachliche) Eigenschaften von Personen als indexikalisch-ikonische Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Kategorie wahrgenommen werden, so kann in abfälliger oder herablassender Weise eine Sprachwahl getroffen werden, die sich selbst dann an einem stereotypisierten, ‚erwarteten‘ Sprachgebrauch des Gegenübers ausrichtet, wenn dessen oder deren Sprache dem Stereotyp in keiner Weise entspricht. Eine detailliert ausgeführte Veranschaulichung der Auseinandersetzung mit solchen Mechanismen des Positioniert-Werdens und Sich-Positionierens unter dem Einfluss wirkungsmächtiger Sprachideologien findet sich bereits in Fanons (1952) Buch Peau noire, masques blancs. Er bittet den Leser sich vorzustellen, er sei in einem Zug, frage (im Französisch der Metropole) höflich nach dem Speisewagen und erhalte darauf zur Antwort: „Oui mon z’ami, toi y en a prendre couloir tout droit, un, deux, trois, c’est là“ (1952: 28). Nicht weniger herablassend ist, wie Fanon aufzeigt, auch das Gegenstück zum ‚petit-nègre‘, wie die den ‚Schwarzen‘ zugeschriebene und ihnen gegenüber oft verwendete Sprache damals genannt wurde: der paternalistische Kommentar zum ‚schönen‘ Französisch des Gegenübers. Beides erfährt der Angesprochene als eine Infantilisierung und Primitivisierung, als Eingesperrt-Werden und Fixierung an den Platz im sozialen Gefüge, der ihm als Nicht-Weißem zugedacht ist. Ihre Wirkung entfalten solche situierten Interaktionen dadurch, dass sie sich ständig wiederholen und jedes Mal das Paket der kolonialen Demütigung und Diskurse aufrufen und weiterschreiben. Fanon zeigt auch, wie schwer es ist, solchen Fixierungen zu entkommen, die selbst in Interaktionen innerhalb der ‚schwarzen Community‘ hineinwirken, wo das Machtgefälle zwischen Kolonisatoren und Kolonialisierten nicht unmittelbar zum Tragen kommt: Wahrgenommen werde die Art, in der man spricht, von den anderen immer als markiert – als Verweis darauf, dass man entweder zu denen gehört, die sich überangepasst und von den eigenen Leuten entfremdet haben, oder zu denen, die sich der Metropole verweigert und ihre Chance nicht genützt haben.

7 Zusammenfassung Ziel dieses Artikels war es, einen Einblick in die Sprachideologieforschung zu geben und sich dem Konzept Sprachideologien dabei aus unterschiedlichen Perspektiven anzunähern: einer Interaktionsperspektive, wie sie von der Linguistischen Anthropologie eingenommen wird, einer Diskursperspektive, wie sie etwa von der Kritischen Soziolinguistik vertreten wird, und einer Subjektperspektive, von der sich die Sprachbiographieforschung leiten lässt. Welchem dieser drei Zugänge man bei konkreten Analysen den Vorzug gibt, hängt zweifellos vom Forschungsinteresse ab. Besteht dieses darin zu zeigen, wie sich

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an einer Interaktion Beteiligte auf der Basis von Sprachideologien mittels indexikalischer Verweise zueinander in Beziehung setzen, bietet sich die Analyse situierter, beobachtbarer Interaktionen an. Gilt das Interesse vor allem der Frage, wie mittels Sprachideologien Machtverhältnisse befördert oder aber in Frage gestellt werden, ist deren Analyse als Teil von historischen Diskurs- und Praxisordnungen nötig. Sucht man nach Antworten, wie sich Sprachideologien in individuellen Spracheinstellungen und Konzeptionen des Selbst niederschlagen, so kommt man nicht umhin, sich für das körperlich-emotionale Spracherleben zu interessieren. Das im letzten Abschnitt des Artikels diskutierte Konzept der Positionierung macht jedoch deutlich, dass sich die drei Perspektiven nicht ausschließen. Vielmehr ist es möglich und sinnvoll, die Ebenen, auf denen Sprachideologien Wirksamkeit entfalten, zusammenzudenken.

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Dennis R. Preston

6. Folk Linguistics and the Perception of Language Variety Abstract: In this chapter I outline the various methods that have been used in Folk Linguistics to collect, interpret, and make use of lay persons’ knowledge of language. The survey begins with a historical account of the subfield of Perceptual Dialectology, in which lay persons are invited to construct maps of their knowledge of speech regions and, in later work, to comment on or rank regions with regard to their linguistic status along a variety of dimensions. Recent advances in computerized mapping are shown to have had a considerable influence on this work, allowing for greater sociolinguistic depth in the investigations. The chapter also briefly surveys the analysis of lay discourses about language variety and concludes with a survey of perceptual experiments that seek to understand the abilities of lay respondents to identify and classify varieties based on authentic and modified speech samples.  

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Introduction Regional PD Social PD PD and attitudes Speech perception (and comprehension, identification, classification…) Conclusion References

1 Introduction Figure 1 shows one view of the relationships among various efforts to understand what nonlinguists believe about language and how they respond to it.

Figure 1: Categories of folk linguistics  

https://doi.org/10.1515/9783110296150-007

Folk Linguistics and the Perception of Language Variety

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Folk linguistics (FL) is no different from any other nonspecialist or nonscientific knowledge. It is certainly not “false,” as the word “folk” is often misunderstood. Nonlinguists (i.e., the “folk,” so far as language is concerned) may be right or wrong about language from a scientific point of view. As in other areas (e.g., folk botany, folk medicine) they may even have insights that scientists would like to follow up on, but they may also have beliefs that are at odds with scientific notions. Since linguistics is not the best-known of the sciences, these folk beliefs about language are very often strongly held since there is no deference to a body of experts, making their study particularly important in areas where linguistic expertise is necessary. Niedzielski and Preston (2003) provides detailed justifications for the study of folk linguistics within linguistics, anthropology, sociology, education, and other areas. FL may touch on any subfield of linguistic study (phonetics and phonology, morphology and syntax, semantics and pragmatics) and on any approach to these linguistic levels (historical, sociolinguistic, psycholinguistic, etc…). There are, therefore, as many categories in the leftmost branch in Figure 1 as there are areas of professional linguistic study, but this chapter focuses on the sub-branch of FL known as ‘Perceptual Dialectology’ (PD), at least in part due to its long-standing tradition (e. g., Willems 1886). Although “dialectology” traditionally refers to the varieties of a language in geographic space, the addition of ‘Social’ factors to those of region in Figure 1 should make it clear that this review will include them, in agreement with Chambers and Trudgill (1998) that “[d]ialectology without sociolinguistics at its core is a relic” (188). The same is true of PD. The middle branch of Figure 1 (‘Social Psychology of Language’) will also be examined here, since the earliest work in FL (e.g., Polle 1898) considered the evaluative dimension of regard for language (i.e., ‘language attitudes’), and early work in PD did the same (e.g., Inoue 1977/8, 1978/9, both summarized in part in Inoue 1999). The rightmost branch in Figure 1 (‘Speech Perception’) concerns recent uses of increasingly sophisticated experimental methods in determining folk abilities in discriminating, classifying, and comprehending language varieties.  

2 Regional PD The first technique in the study of regional PD was the ‘little-arrow’ method in which respondents are asked to name nearby areas where speech is the same, a little different, very different, or unintelligibly different. Figure 2, an area of the North Brabant in the southern Netherlands, shows an early realization of this technique in which arrows are drawn from one community to another when the respondent ranked it “the same.” At the top left for example, the towns labeled “D” and “F” have arrows drawn in both directions, indicating that the D respondents said the F speakers sounded just like them and the F respondents returned the favor. In contrast, the F respondents said they sounded just like the people from K, who did not return the

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favor. Oddly, no other local area people identified W as similar (nor did the people from W select any nearby area). More important, perhaps, was the fact that very few of these identification arrows cross the dark lines of the map, ones that indicate the professionally determined dialect boundaries of the area. This led Dutch dialectologists to note that this method reflected folk respondent accuracy.

Figure 2: ‘Little-Arrows’ perception in the North Brabant (Weijnen 1946)  

More recent uses of the ‘little-arrow’ method allow the introduction of historical considerations into PD. Figure 3 shows an expanded view of the German-Netherlands border in Westphalia with the ‘little arrow’ method applied. This map, based on data collected in the early 1980s, shows very few crossings of the national boundary: at the bottom of the map (s7), “Tb” (Neth) identifies Ul (Ger) as the same; in the middle left (q7) the respondent from “Wi” (Ger) identifies no fewer than five sites in the Netherlands as the same but none in Germany.

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Figure 3: The Dutch-German national border (dashed line) as a subjective dialect boundary (detail) (Kremer 1984 [1999])  

We do not have a PD map of the area from the 1940s, but the professional dialect map on the left in Figure 4 shows considerable variation in words for wren, including nettelkönnig, which seems equally present on both sides of the border. The right hand map in Figure 4, however, shows data from 1975, very close to the time of Kremer’s perceptual data shown in Figure 3, and nettelkönnig has all but disappeared from the Netherlands. It is much reduced in Germany as well, and in both countries the standard, national term prevails: German zaunkönig and Dutch winterkoning.

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Figure 4: Map for “wren” at the Germany-Netherlands border; left-1940, right-1975 (Auer 2005, 19)  

These methods were mirrored in what came to be known as the ‘degree-of-difference’ technique. Preston (1993, 1996), for example, asked respondents to rank US states as 1=same, 2=a little different, 3=different, and 4=unintelligibly different. Figure 5 shows the responses of southeastern Michigan respondents to this task, in which the mean scores were divided into the following groups: 1.00—1.75, 1.76—2.50, 2.51—3.25, 3.26— 4.00. Although more quantitatively sensitive, the technique was used largely with predetermined areas, themselves not usually of linguistic significance, but the territory covered was much larger than those studied in the Dutch and Japanese approaches. Although the general, extensive geographical distribution of these respondents’ opinions are shown, no distinctions were drawn between areas rated the same (here, for example, the Northeast and the South) but for, certainly in this case, very different reasons.

Folk Linguistics and the Perception of Language Variety

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Figure 5: Southeastern Michigan (indicated by the star) respondents’ rating of ‘degree-of-difference’ for the 50 US states (Preston 1996, 318)  

Another technique for uncovering the distinctiveness of regional varieties was borrowed from cultural anthropology (Tamasi 2003). Tamasi provided respondents with 50 US state-named cards, and asked them to sort them into piles of similar dialects. The piles were treated to hierarchical cluster analyses, from which maps were derived, showing degrees of similarity at the 0.25, 0.50, and 0.70 levels. She also considers the match between these groups and traditional dialect boundaries, but since her work also used predetermined nonlinguistic areas (US states), the comparisons are not easy to draw. On the other hand, the clear advantage to Tamasi’s method is that it allows an overall comparison of differences, not one based on the respondent’s reckoning of difference from the home site. In Figure 5, for example, the states in the Northeast of the US are given the same degree of difference as those in the South, but they are distinct from one another in the cluster analysis derived from Tamasi’s pile-sorts shown in Figure 6.

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Figure 6: Cluster analysis (at .25) of Georgia respondents’ completion of a similarity pile-sort task (derived from Tamasi 2003, Figure 4.3, 66)  

3 Social PD In other ‘degree-of-difference’ work, statistical procedures such as factor analyses and multidimensional scaling have produced alternative visual representations and allow both different interpretations and the introduction of the social factors identified in Figure 1. Figure 7 shows the results for Madrid respondents (with the same 1–4 values used in the earlier PD studies) for 17 regions of Spain. The horizontal dimension (#1) is seen as a multilingual one: the ‘non-Spanish’ areas — 1 [Galicia], 4 [Basque Country], 7 [Catalonia], 13 [Valencia], and 14 [Balearic Islands] — cluster on the right. Dimension #2 (the vertical) is one of dialect difference; one distinctive group is at the top — (5 [Navarra], 10 [Extremadura], 16 [Murcia], 17 [Canary Islands]), a second at the bottom — (9 [Rioja] and 15 [Andalusia]), although the wide separation of this second group on Dimension #1, suggests Rioja is more native-like. The local area 11 [Madrid] is closely linked to 12 [Castilla-La Mancha], both not far from another group (2 [Asturias], 3 [Cantabria], 6 [Aragon], 8 [Castilla y Leon]), which, since it is above 11 and 12 on Dimension #2, is slightly more marked dialectally, perhaps, in the direction of the topmost group (Moreno/Moreno 2002, 303).

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Figure 7: A multidimensional scaling of Madrid respondents’ evaluations of ‘degree-of-difference’ for 17 areas of Spain (1=Galicia, 2=Asturias, 3=Cantabria, 4=Basque Country, 5=Navarra, 6=Aragon, 7=Catalonia, 8=Castilla y Leon, 9=Rioja, 10=Extremadura, 11=Madrid, 12=Castilla-La Mancha, 13=Valencia, 14=Balearic Islands, 15=Andalusia, 16=Murcia, 17=Canary Islands) (Moreno/Moreno 2002, 304)  

In this study, the authors go on to realize the sociolinguistic dimensions of PD, comparing men and women, three age groups, and three educational levels. They note that Dimension #1 (language) is more important in the classifications offered by male, middle-aged, and university educated respondents, while Dimension #2 (dialect) is more significant for women and youth. Although some similar social work was done in earlier ‘degree-of-difference’ studies (e.g., Preston 1988a for age and status; Preston 1988b for age and ethnicity), the more sophisticated quantitative approaches taken in later work considerably improved the social dimensions of PD. The best-known alternative to asking respondents where similar or different areas are is one in which they are asked to outline dialect areas on a map, a practice borrowed from cultural geographers’ studies of respondent hand-drawn maps (e.g., Gould/White 1974). The technique, introduced in Preston (1982) and known as ‘drawa-map’, was followed by increasingly sophisticated means of combining individual respondent maps into general ones. Figure 8 shows a respondent-drawn map generalized from those drawn by many southeastern Michigan respondents, whose home site is indicated by the star in Figure 5.

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Figure 8: A computationally generalized map of US dialect areas represented in at least fifteen percent of 147 hand drawn maps (at a fifty percent level of agreement) provided by southeastern Michigan respondents (Preston 1996, 305)  

An advantage of this technique is that, in addition to outlining the regions where dialects are perceived to be, with no dependence on predetermined areas, the intensity of identification is also measured. Figure 8 shows, for example, that the most salient regional speech area for these Michigan respondents is clearly the “South,” drawn by 94 % of the respondents; the next closest area is their own (the “North”) but drawn by only 61 %. This technique, and others derived from it, however, also allows even more quantitatively sophisticated implementation of a sociolinguistic PD. The computational procedure used in the studies outlined above (first described in Preston and Howe 1987) was improved on by Long (1990) and can now be realized in a variety of Geographic Information Systems (GIS) mapping software that allows for full-color and quantitatively precise representations of the hand-drawn data as well as maps that contrast social subgroups of respondents, detailed attributes assigned the maps by respondents, and comparison with other social and geographical facts available from GIS data bases. A how-to for the construction of GIS maps of perceptual areas is available in Montgomery and Stoeckle (2013), and Figure 9 shows some of the PD potential for such maps. Each of 12 dialect areas is outlined in a “heat map” showing the intensity of respondent agreement for the extent of the area.

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Figure 9: A generalized perceptual map of English and Scottish dialects from the point of view of three north of England sites. (Montgomery/Stoeckle 2013, Map 25)  

Because the ‘attribute tables’ of GIS mapping software can contain any information about respondent or area identity, the potential for more sophisticated investigation of hand-drawn (and labeled) maps is greatly enhanced. For example, Figures 10 and 11 compare intensity maps for the areas labeled “twang” and “drawl” by respondents from all over the US State of Texas.

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Figure 10: Areas of Texas identified as having a “drawl” (Cukor-Avila et al. 2012, 17)  

Figure 11: Areas of Texas identified as having a “twang” (Cukor-Avila et al. 2012, 17)  

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Although “drawl” and “twang” overlap in one area in the north (the ‘Panhandle’), drawling is stronger on the southeast coast but seldom seen as a feature along the southernmost border with Mexico. “Twang,” however, is strong across the entire north. Such examples as these reveal the graphic and investigative power GIS-based applications offer the hand-drawn map technique of PD. Other recent GIS studies include Evans (2011), Washington, USA; Jeon (2012), Korea; Montgomery (2007, 2012), North of England; and Stoeckle (2012), southwestern Germany. Many more are in progress.

4 PD and attitudes Given the long-standing social psychological work on language attitudes, early PD investigators might have been naïve in assuming that linguistic facts would be paramount in respondent considerations of variety differences. Some early PD work, however, focused on attitudes, and the first maps appear to be those of Inoue (1977/8, 1978/9, and see Inoue 1999, 149 [Figure 11.1]). He used the semantic differential and matched-guise techniques from the social psychology of language, although such studies were criticized from the point of view of PD. Preston (1989) pointed out that ratings of regional voices were interpreted as responses to voices from those sites, but few studies determined if respondents could identify the home site of the voices; the few that did ask found that the identifications were often incorrect (e.g., Tucker/Lambert 1969; Milroy and McClenaghan 1977). More importantly, without PD studies to rely on, investigators in the social psychological tradition did not know what areas were salient to folk respondents, i.e. where voices ‘could’ be from. Preston (1985), again using geographical techniques outlined in Gould and White (1974), established a second method of mapping evaluations, although Preston (1982) comments extensively on the commentary Hawai’i respondents wrote on their hand-drawn maps, a technique more extensively exemplified in Hartley and Preston (1999). A combination of methods and incorporation of the results from hand-drawn maps is illustrated in the following review of studies. Preston (1996), for example, asked respondents to rate the US states for “correctness” and “pleasantness,” shortcutting the usual factor-analysis approach of social psychologists by identifying the commonly discovered constructs of “status” and “solidarity” (see, e.g., numerous chapters in Ryan/Giles 1982). Figure 12 shows the results for “correctness” and 13 for “pleasantness,” again for southeastern Michigan raters indicated by the star in Figure 5.  

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Figure 12: Southeastern Michigan ratings of the 50 US states, New York City, and Washington D.C. on a scale of 1 (least) to 10 (most) for language “correctness”. (Preston 1996, 312)  

Figure 13: Southeastern Michigan ratings of the 50 US states, New York City, and Washington D.C. on scale of 1 (least) to 10 (most) for language “pleasantness”. (Preston 1996, 316)  

Michigan raters think very highly of their English for status and rate Michigan best in the US; they also think it most pleasant, although they share this with four other noncontiguous states. The South and the New York City-New Jersey area fare very badly for both “correctness” and “pleasantness.” This ranking sheds further light on the quanti-

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tative results shown in Figure 8. Why would Michigan respondents most frequently draw a US South (94 %), then their home area (61 %), and in third place, an area focused on New York City-New Jersey (54 %)? Although the intensity of these handdrawn representations might seem to confirm the ‘degree-of-difference’ ratings (Figure 5), there are differences. Why is the New York-New Jersey area represented so much more frequently than nearby New England when both areas have the same ‘degree-of-difference’ rating (Figure 5)? The most correct (and pleasant) site is Michigan and the least correct (and least pleasant) areas are the New York City-New Jersey focal region and the South. Are these regions most salient because they are most similar and most different linguistically, or does their salience emerge primarily from nonlinguistic stereotypes held about the people and perceived culture of these regions? Although they expose broad patterns of preference, these simple ratings of “correct” and “pleasant” do not make use of available methodologies and what had been learned in previous PD studies. Preston (1999a) tried to correct this in a study in which southeastern Michigan raters were presented with a simplified version of Figure 8, one which displayed the previously determined major US perceptual regions for similar respondents, a technique that did away with the arbitrary use of political or other areas. The respondents were asked to write down as many descriptors of the way people talked in these different regions, and the most frequently offered ones were used in the next step of the investigation. The map was shown to another group of southeastern Michigan respondents who rated each of the regions derived from the map in Figure 8 on six-point Likert scales for the locally provided attributes. Table 1 shows the results for areas 1 and 2 of Figure 8 (the home area of the respondents and the US South), the areas most frequently drawn in the hand-drawn map task. The respondents rate attributes associated with the English of their home area (“North”) on the “status” dimension above 4.00 and only a few at 4.00 and under. Those attributes are reversed in their ratings of the South and are lowest rated. This more detailed study shows, however, that these Michigan raters actually find speech from the “South” superior on such solidarity scales as “casual,” “friendly,” “down-toearth,” and “polite.” This reveals a linguistic insecurity that the simple ranking studies of pleasant and correct based on state lines did not: Michiganders do not just have a less intense feeling about the “pleasantness” of their speech; they find their speech lacking in the solidarity function when compared to southern US English in terms of the respondent-elicited and more detailed categories as well as the results of a hand-drawn map of regional speech areas extracted from similar respondents.  





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Table 1: Ratings for speech in the North (Area 2 in Figure 8) and South (Area 1 in Figure 8) for twelve attributes (* indicates the only two adjacent scores that are significantly different and ‡ indicates negative ratings.) (Preston 1999a, 366)  

South

North

Rank

Attribute

Mean

Rank

Attribute

Mean

1

Causal

4.66

1

No drawl

5.11

2

Friendly

4.58

2

No twang

5.07

3

Down-to-earth

4.54

3

Normal

4.94

4

Polite

4.20

4

Smart

4.53

5

Not nasal

4.09

5

Good English

4.41

*

6

Down-to-earth

4.19

6

Normal [Abnormal]

‡3.22

7

Fast

4.12

7

Smart [Dumb]

‡3.04

8

Educated

4.09

8

No twang [Twang]

‡2.96

9.5

Friendly

4.00

9

Good English [Bad Eng.]

‡2.86

9.5

Polite

4.00

10

Educated [Uneducated] ‡2.72

11

Not nasal

3.94

11

Fast [Slow]

‡2.42

12

Causal

3.53

12

Not drawl [Drawl]

‡2.22

Other experimental methods in PD and attitude studies are available, but they will be reviewed in the section below on speech perception. A discussion of attitudes, however, without mention of discourse would be incomplete. Discourse analytic, conversational, speech act, and other pragmatic tools have been used to investigate what people say about language, but the challenge has been to translate the structural-interactional findings from those procedures into ones that allow an interpretation of content. Many studies of folk conversations about language variety appear to be limited to a listing of assertions: “People from over there talk funny.” Although assertions make up a substantial portion of metalinguistic discussion, topic handling, presuppositions, and other discoursal, pragmatic facts can be valuable in determining respondent attitudes to and beliefs about language variety (e.g., Preston 1994). A single illustration of the value of pragmatic tools in examining PD and attitudes in discourse will be provided here: the use of pragmatic presuppositions (those related to lexical and structural triggers, e.g., Levinson 1983, 181–85). In the following exchange, a Taiwanese fieldworker (C) discusses African American English with an African American friend (D).

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1 C: We uh – linguistics, in this field, uh – from the book I s- I mean, I saw from the book that – many linguists quite interest in black English. So could you tell me – a little bit about – your dialect? 2 D: Dialects. 3 C: Heh yeah 4 All: ((laugh)) [ 5 D: Well, uh: – well – see the world’s getting smaller.= [ [ 6 C: ((laughs)) I- I mea- do you have7 D: =There’s not – even among all the ethnic groups we’re- we’re getting- getting less and less of dialectual in- inFLUence. (.hhh) Uh I’m- happen – not to be – from the South, …. . (Preston 1994, 286–87)

Without an account of presuppositions, this discourse is difficult to follow, particularly 5–7 D. The first clue to interpretation lies in the presupposition(s) of “So could you tell me a little bit about your dialect” (1 C). “Your dialect” presupposes the existence of “dialect(s)” and that “you” are the speaker of one. D’s perception of these presuppositions leads to the odd assertions in 5–7 D: The world’s getting smaller. We’re getting less and less of dialectual influence (i.e., there are fewer and fewer dialects). I happen not to be from the South.

“The world’s getting smaller” explains why there are fewer dialects nowadays (surely a reference to education, media, mobility, etc.), but the assertion that there are fewer dialects, is a response to C’s presupposition that they exist (a definite description; e.g., Levinson 1983, 181). More interestingly, D confirms C’s presupposition that dialects exist, but, for D, they exist only in such areas as “the South.” D suggests that if C had been lucky enough to interview a speaker from the South, he might have had his question about “your dialect” answered. D’s observation that he is not from the South is nonsensical unless it is related to C’s query about dialect. It has been shown, however, that southeastern Michiganders, D included, find the South most salient as a regional speech area and that its salience is undoubtedly related to its incorrectness (see Figures 8 and 12 and Table 1); i.e., it is “a dialect.” Presuppositions also explain why D “happens” not to be from the South. “Happen” is an implicative verb (Levinson 1983, 181) and presupposes “inadvertence,” “lack of planning,” or “by chance.” D “happens” not to be from the South because it is only by chance that C picked a respondent who was not from the South and could not, therefore, respond to his request for information about his “dialect.” A great deal more on this conversation and various pragmatic approaches to its content is provided in Preston (1994), and work on discourse, from many perspectives, but surely from both formal and informal pragmatic ones, may guide us in under-

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standing not only what speakers have said or asserted (the conscious) but also what they have associated, entailed, and presupposed (the subconscious), and the growing interest in subconscious attitudinal reactions is a part of the next section.

5 Speech perception (and comprehension, identification, classification…) Recent approaches to PD and related attitudes and beliefs borrow experimental tools from the speech perception laboratory, and many focus on linguistic detail rather than the overall speech signal used in most social psychological work. These approaches have shown that respondents are sensitive to specific features in varieties (e.g., Graff/Labov/Harris 1986; Purnell/Idsardi/Baugh 1999), both those which are and those which are not a part of the stereotypical or conscious repertoire of respondents. In Preston (1996) a north-south continuum of nine middle-aged, college-educated male voices was played for respondents from southeastern Michigan who associated each with a site on a partial US map (Figure 14). The samples contained no lexical or grammatical features that would suggest regional identity.

Figure 14: The nine home sites of the male voices (Preston 1996, 322)  

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Figure 15, a cluster analysis of the results, suggests considerable success. The northernmost voices (Coldwater and Saginaw) are linked first (i.e., the first sites joined on the left), and they fall within an area dialectologists would label “Inland North” (Labov et al. 2006); this pair is then linked to South Bend, the next voice south, the only voice in the professionally-determined “North Midland”; this group is then linked to Muncie, the next voice south and clearly “Midland.” Then these four are linked to New Albany, but in a professional dialect analysis, New Albany should be linked first to sites south of it (Bowling Green and Nashville), all areas professionals would identify as “South Midland.”

Figure 15: Cluster analysis of southern Michigan placement of nine voices on the map in Figure 14  

The southern grouping is odd; the distance of its linkages from the left shows that it is not as strong as the northern one, but the associations should be stronger. Nashville and Florence are first linked, then tied to Bowling Green, although, as suggested above, dialectologists would probably have first linked New Albany, Bowling Green, and Nashville and then those three to Florence. Dothan, the southernmost voice, is not linked to the southern cluster of Bowling Green-Nashville-Florence. That cluster is linked first to the large northern group before all are finally linked to Dothan. Perhaps Dothan is so stereotypically southern (it is the only /r/-less voice, although variably) that all other southern voices are linked to those from the north before it is finally included. Professional dialectologists, however, would identify many Southern features (e.g., /ɑɪ/ monophthongization, /ɪ/-/ɛ/ conflation before nasals) in all the voices from New Albany south to Dothan, so the perceptual grouping suggests which features are salient and how very distinct the southernmost variety of US English is for nonlinguists; it also displays in this case a much greater sensitivity among these Michigan respondents to more nearby (Northern and Midland) areas than to more distant southern (South Midland and Southern) ones. Regional placement of voices has also been measured by a technique introduced in Montgomery (2007) called “starburst.” He asked respondents from various sites in the north of England to identify voice samples from around the country by marking on a map where they thought the voice was from. He then showed, in a “starburst”

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diagram, the relationship of each folk placement to the actual site of the sample voice. This technique does away with the forced choice linearity used in Preston 1996 (e.g., Figure 5) although it continues the focus on differences from the point of view of a single area. Attitudinal factors, however, can also be shown to interact with regional and social features simultaneously. Plichta and Preston (2005) chose a southern US speech stereotype (/aɪ/ monophthongization) and resynthesized male and female samples of the word guide so that it increased in monophthongization in seven regular steps from a fully diphthongal form ([ɑɪ]) to a fully monophthongal one ([aː]). The two voice samples (male and female) were played three times at each of the seven steps along the monophthong-diphthong continuum for a total of forty-two judgments. The respondent assigned each sample to one of the nine sites shown in Figure 14. The assigned site numbers were averaged to ascertain if degree of monophthongization was perceived (by respondents from all over the US, N=96) as an increasingly Southern feature. The more monophthongal, the more southern the identification, but Figure 16 shows the mean score assignments separated by sex of speaker.

Figure 16: Assignment of seven-step monophthongized male and female samples of guide to the nine sites of Figure 14 (Plichta/Preston 2005, 121)  

Since the degree of monophthongization for the male and female voices were exactly equal (through resynthesis), why would woman’s voice be consistently identified as “more northern” (or man’s as “more southern”), (as determined by independent t-tests)? The full answer lies not just in the perception of region (/ɑɪ/ monophthongization is southern), perception of degree (more monophthongization is more south-

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ern), but also of a curious social perception (women are more northern/men more southern). Attitudes to region cut across the regional/perceptual/social nature of this task. It is a sociolinguistic commonplace that women are more standard speakers than men (e.g., Trudgill 1972). It is an equally strong stereotype that English in the South of the US (perhaps along with the New York City-New Jersey area) is the least correct English in the country (see Figure 14 and Table 1). Other studies of specific features have focused on local sensitivity to regional norms and social categories. Labov (2010) studied high school (HS) and college (Col) students who were local Inland Northern speakers from Chicago, Illinois (Chi) and non-locals of the same age groups from Philadelphia, Pennsylvania (Phi) and Birmingham, Alabama (Bir). They listened to the word socks, the phrase wear socks, and the sentence “You had to wear socks, no sandals.”

Figure 17: Local and non-local respondent groups’ correct understandings of the item socks as an isolated word, in a phrase, and in a sentence. (Labov 2010, 69)  

The Chicagoans are involved in a change in which the vowel of socks (i.e., the American English LOT vowel) is pronounced farther forward, in the direction of TRAP. Figure 17 shows that the younger (HS) locals outstrip all other groups (even only slightly older locals) in understanding the word in isolation and the short phrase, but even they fall below forty percent correct on the isolated word test, an important fact for a dialectology that involves perception as well as production. More complex studies of local versus nonlocal detection and comprehension of individual linguistic items have been carried out. In Rakerd and Plichta (2003), for example, seven-step resynthesized versions of the LOT vowel fronted along the F2 dimension (hot and sock) were played for southeastern Michigan respondents. In some cases, carrier phrases with the same or other vowels from the local system (i.e.,

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fronted LOT, raised and fronted TRAP, and lowered DRESS) preceded the items to be judged; in other cases carrier phrases with unshifted vowels were used. When the local system carrier phrases appeared, the respondents continued to recognize the test item as hot/sock in a much more fronted position than when the carrier phrases were not local, under which condition they changed their interpretation to hat/sack at an earlier point in the F2 fronting. It is a long-standing idea in the study of variety perception that hearers adjust their classificatory strategies on the basis of the system provided in the input (Ladefoged/Broadbent 1957), and that is surely an important consideration in cataloging the general facts about variety perception. Such experimental work in PD and its associated attitudes and beliefs has led to newer techniques that purport to elicit unconscious responses to varieties. They involve not only the time-honored matched guise model but also reaction-timed techniques (including so-called implicit or “IRT” tests), eye-tracking measures, and even neurological responses. Koops, Gentry, and Pantos (2008) reveal implicit knowledge of the correlation between variation and age, using photographic priming and eye-tracking. In Houston, Texas, older Anglo speakers merge high front lax vowels before nasals, but they are not merged in younger Anglos. Direct measures of language attitudes do not reveal knowledge of this variation, but Koops et al. shows results that suggest that respondents are in fact implicitly aware of the merger and even related social facts. When primed with a photo of an older speaker, respondents fixate longer on words that are homophonous (e.g., rinse versus rents) in the merged (but not the unmerged) dialect. This conscious-unconscious split in these folk studies is an important one since, in a recent proposal Kristiansen (2009) finds that Danes from all over Denmark say that they like their home variety best, but, when a matched-guise test is given, they prefer the emerging “New Copenhagen” standard, the one influencing the entire country. If matched guise is an actually unconscious (or implicit) method of collection (but see Preston 2009), and if the generalization reached about this dichotomy for Denmark is found in other areas, these different methods of investigation will prove essential not only to PD and its associated attitudes and beliefs but also to dialectology and variation and change in general, perhaps particularly in those places where standardized or more widespread forms are replacing local ones.

6 Conclusion PD and the associated language attitude and belief factors from Folk Linguistics presented here have relied extensively on the term perception, which refers here both to the ideas that respondents have about the linguistic facts around them that surface in such PD tasks as drawing dialect boundaries on a blank map or assigning attributes to a variety’s speech as well as to the perceptual abilities respondents have in recognizing variety differences and detecting subtle differences in specific linguistic

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markers of variety. The term variety has also appeared after the almost exclusively regional (‘dialect’) considerations of the first section, but even the introduction notes that sociolinguistic factors were from early on a consideration of most work in PD and folk linguistics in general, in keeping with Chambers and Trudgill, who declare that “[d]ialectology without sociolinguistics at its core is a relic” (1998, 188), and this chapter has illustrated the importance of social groups in PD (in both senses of perception). Finally, the role of attitude has been shown to cut across both these concerns. Respondents delineate areas as distinct or different on the basis of their likes and dislikes of speakers and the stereotypes they hold of them, giving concrete expression to Silverstein’s notion of higher-order indexicality in which the attributes of people (slow, smart, fun-loving) are assigned to their language variety and, in fact, become intrinsic parts of that variety’s description (2003). Respondents hear (and refuse to hear) the linguistic details of variety based on those same attitudes, adding another dimension to the second definition of perception. Just as Chambers and Trudgill claim that dialectology without sociolinguistics is a relic, I believe the work in PD over the years has shown that dialectology without PD is an incomplete story. The study of what people identify in PD (in both regional and social senses) as well as what they (think they) hear, process, comprehend, and hold attitudes towards is not just an ethnographic or social psychological addendum to the investigation of variety. It also forms an integral part of the study of linguistic variation and change, and, although the approach taken here began with dialectological factors in the older, regional sense, any of the branches in Figure 1 and many others not shown there could have exploited folk linguistic factors in the same productive way and with the same important consequences for the science of language in general.

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7. Bewerten und Beschreiben in Sprachwissenschaft und Öffentlichkeit: Forschungsfelder und sprachtheoretische Grundlagen einer linguistischen Sprachkritik Abstract: In den folgenden Ausführungen wird davon ausgegangen, dass das Bewerten sprachlicher Phänomene in der Linguistik seinen Platz haben muss, dass es mithin eine linguistische Sprachkritik geben kann und sollte. Linguistische Sprachkritik unterscheidet sich jedoch von einer laienlinguistischen Sprachkritik in mehrfacher Hinsicht: Zum einen sind ihre Bewertungen theoriegeleitet und orientieren sich an Erkenntnissen der Rhetorik und Sprachwissenschaft. Zum anderen setzt linguistische Sprachkritik keine Normen, sondern plädiert dafür, sprachliche Normen im Hinblick auf die kommunikative Funktion von Sprache zu reflektieren. Um die sprachtheoretischen Grundlagen einer so verstandenen linguistischen Sprachkritik zu entfalten, werden in Abschnitt 1 einschlägige Arbeiten einer präskriptiv argumentierenden laienlinguistischen Sprachkritik dargestellt. Diese Darstellung ist auf das 20./21. Jahrhundert beschränkt und beginnt mit dem Streit über das Wörterbuch des Unmenschen (Sternberger/Storz/Süskind 1957/1986). Sie berücksichtigt Korns Kritik an der Sprache in der verwalteten Welt (1958) und geht ein auf die Kritik an diversen sprachlichen Erscheinungen sowohl auf der Wort- wie auch der Textebene. Im folgenden Abschnitt 2 werden die Reaktionen einer sich als deskriptiv verstehenden linguistischen Sprachkritik auf laienlinguistische Konzeptionen vorgestellt. Der Artikel schließt in Abschnitt 3 mit einem exemplarischen Überblick über sprachkritische Aktivitäten innerhalb der linguistischen Sprachwissenschaft und einer Vorstellung des Prinzips der funktionalen Angemessenheit, das als gemeinsame Basis linguistisch fundierter Sprachkritik dienen kann.  

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Laienlinguistische Sprachkritik Reaktionen der Sprachwissenschaft Bewertungen in der Sprachwissenschaft Literatur

https://doi.org/10.1515/9783110296150-008

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1 Laienlinguistische Sprachkritik 1.1 Kritik an der Verwendung „unmenschlicher“ Wörter Im Jahr 1957 erscheint zum ersten Mal in zusammenhängender Form das „Wörterbuch des Unmenschen“. Es beruht auf einer Artikelserie, die nach Kriegsende in der Zeitschrift „Die Wandlung“ erschienen war (vgl. dazu ausführlich Dodd 2007, 31 ff.). In den Artikeln setzen die Autoren sich mit dem Sprachgebrauch auseinander, der ihrer Meinung „Ausdruck der Gewaltherrschaft“ (Sternberger/Storz/Süskind 1957/1986, 8) durch die Nationalsozialisten ist. Dieser Sprachgebrauch sei allerdings mit dem Untergang des „Dritten Reichs“ keineswegs verschwunden. Vielmehr sei das Wörterbuch „das Wörterbuch der geltenden deutschen Sprache geblieben“ (ebd). Die zentrale Voraussetzung einer so verstandenen Sprachkritik besteht darin, Unmenschlichkeit nicht etwa nur bei den Sprechern/Schreibern einer Sprache zu suchen, sondern auch in der Sprache bzw. den Wörtern einer Sprache zu verorten. Die Funktion des Wörterbuchs ist eine präventive. Es soll in erster Linie die sprachliche Sensibilität schärfen und auf Überreste des NS-Sprachgebrauchs aufmerksam machen, um zukünftigen Missbrauch der Sprache vermeiden zu helfen. Um dies zu erreichen, beschreiben die Autoren in ihren Artikeln die Verwendung spezieller Ausdrücke und schildern, inwiefern sich in ihnen eine unmenschliche Gesinnung offenbart. Der wohl bekannteste Eintrag des Wörterbuchs ist der zum Lemma Betreuung (vgl. ebd., 31 ff.). Am Verb betreuen, das ein Akkusativ-Objekt fordert, entfaltet der Autor Dolf Sternberger seine Kritik der be-Verben:  



Dieses „be-“ gleicht einer Krallenpfote, die das Objekt umgreift und derart erst zu einem eigentlichen und ausschließenden Objekt macht. Muster und Vorgänger sind: Beherrschen und Betrügen, Beschimpfen und Bespeien, Bestrafen, Benutzen, Beschießen, Bedrücken, auch Belohnen und Beruhigen. In allen diesen Fällen wird das Objekt, eben der Jemand, mindestens zeitweilig des eigenen Willens beraubt oder soll des eigenen Willens beraubt werden oder hat seine Freiheit schon verloren wie der Aufgeregte, der darum der „Beruhigung“ bedarf, oder seine freie Vernunft wird umgangen und für nichts geachtet wie beim Betrügen oder Benutzen. (Sternberger/Storz/ Süskind 1957/1986, 32)

In der grammatischen Struktur (betreuen + Akkusativobjekt vs. treu sein + Dativ) spiegelt sich demnach die Unmenschlichkeit der Sprecher wider: „Am Ende löscht die Betreuung den Jemand als Jemand, als eigenes Wesen, aus, dem sie gilt oder zu gelten scheint.“ (Ebd., 35) Die sprachkritische Bewertung einzelner Wörter und Wendungen ist seit dem Erscheinen des Wörterbuchs von Sternberger, Storz und Süskind mit unterschiedlicher Intensität fortgesetzt worden (vgl. Mell 2015). Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass das Wörterbuch des Unmenschen sogar reihenbildend in der öffentlichen Sprachkritik wirkt. Zu nennen sind beispielsweise die Publikationen von Jogschies (1987), Bittermann/Henschel (1994), Droste/Henschel (1995) sowie Maset (2013).

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Bewerten und Beschreiben in Sprachwissenschaft und Öffentlichkeit

Eine derartige Kritik in der Tradition von Sternberger, Storz und Süskind versteht sich in erster Linie als aufklärerisch. In diesem Sinne soll auch die Political Correctness wirken, deren Anliegen darin besteht, die sprachliche Ausgrenzung von Minderheiten durch entsprechende Hinweise auf diskriminierenden Sprachgebrauch zu verhindern.

1.2 Political Correctness/feministische Linguistik/Postfeminismus Sowohl die Political Correctness als auch die feministische Linguistik sind über die Massenmedien einer größeren Öffentlichkeit bekannt worden und dort intensiv diskutiert worden (vgl. Erdl 2004). Während die Political Correctness – häufig mit dem Kürzel PC bezeichnet – die sprachliche Diskriminierung von Minderheiten beseitigen will (vgl. Duden 2011, 733 ff.; Germann 2007, 7; Greil 1998, 98 ff.), kritisiert die feministische Linguistik die sprachliche Benachteiligung von Frauen, die sich sowohl im Sprachgebrauch wie auch im Sprachsystem zeige (vgl. Klann-Delius 2005, 19 ff., 37 ff.; Samel 2000, 50 ff.). Beide Arten der Sprachkritik stammen ursprünglich aus den USA und kamen mit einiger Verzögerung auch in den öffentlichen Debatten der Bundesrepublik Deutschland an (vgl. Jung 1996). Sie sind insofern verwandt, als die sprachliche Benachteiligung von Frauen häufig als Teil der PC-Debatte angesehen wird (vgl. Greil 1998, 60 ff.), in der Personenbezeichnungen für Minderheiten wie auch die „‚Unsichtbarmachung‘ bzw. der Ausschluss bestimmter sozialer Gruppen auf sprachlicher Ebene“ (Germann 2007, 27; vgl. Greil 1998, 83 ff.) im Fokus stehen. Sie unterscheiden sich insofern, als Forderungen der feministischen Linguistik auch von FachvertreterInnen erhoben und mit linguistischen Argumenten fundiert werden (vgl. Kilian/Niehr/Schiewe 2016, 39 f.). In der PC-Debatte lässt sich mit Jung (1996, 19) eine zunehmende Themenerweiterung konstatieren: Neben kollektiven Personenbezeichnungen und Bezeichnungen für Gruppenspezifika wird auch ein als „unethisch“ empfundener Sprachgebrauch kritisiert. Insofern ist es schwierig, eine Definition von PC zu geben, da der Ausdruck auch „als Platzhalter für alle möglichen politischen Einstellungen, Verhaltensweisen und gesellschaftspolitischen Trends verwendet [wird]“ (Mayer 2002, 146). Bei den Personenbezeichnungen wird in der PC-Debatte v. a. auf diskriminierende Bezeichnungen für Farbige, Frauen und Homosexuelle aufmerksam gemacht. Die Forderung nach einem politisch korrekten Sprachgebrauch ist dann häufig mit der Forderung nach Verwendung der jeweiligen Eigenbezeichnung der Gruppe identisch. In diesem Sinne wird es als korrekt angesehen, von gehörlosen (statt von tauben) Menschen, von Homosexuellen (statt von Schwulen), von Sinti und Roma (statt von Zigeunern) und von Farbigen (statt von Negern oder gar Niggern) zu sprechen (vgl. weitere Beispiele bei Germann 2007, 23 ff.). Die Bestrebungen der feministischen Linguistik bzw. der feministischen Sprachkritik (vgl. Stötzel/Wengeler 1995, 521) richten sich darauf, die sprachliche Benach 



















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teiligung von Frauen zu beseitigen, die sowohl im Sprachgebrauch wie auch im Sprachsystem gesehen wird. In Bezug auf den Sprachgebrauch wird eine geschlechtergerechte Sprache angemahnt, „in der Frauen sichtbarer und hörbarer sind als bislang, und zwar nicht nur dort, wo sie bereits vorhanden sind, sondern auch dort, wo sie möglich sind [...]“ (ebd., 533). Die Kritik an der Verwendung des generischen Maskulinums beruht darauf, dass Frauen „unsichtbar“ gemacht würden, folglich auch nicht mitgemeint seien (vgl. Kilian/Niehr/Schiewe 2016, 39; Klann-Delius 2005, 26 ff.; Samel 2000, 64 ff.). Von den umfangreichen Empfehlungen zur sprachlichen Gleichbehandlung von Männern und Frauen (vgl. Hellinger 2004) wurden in der öffentlichen Debatte v. a. die sogenannten Splitting-Formen wie Leser(in), Leser/in, Leserin und Leser, LeserIn (Stötzel/Wengeler 1995, 534) kontrovers diskutiert (vgl. Hellinger 2004, 282 f.). Sowohl die Political Correctness-Debatte wie auch die Diskussion um die feministische Linguistik haben im letzten Jahrzehnt an Brisanz verloren. Im Zusammenhang mit der Bearbeitung von Kinderbüchern wurde in den Jahren 2012 und 2013 allerdings noch einmal öffentlich diskutiert, inwieweit politisch nicht korrekte Ausdrücke (Neger, Negerprinzessin usw.) in Kinderliteratur zu ersetzen seien (vgl. Hahn/Laudenberg/Rösch 2015). Eine Erweiterung der feministischen Sprachkritik stellen die Positionen der postfeministischen Sprachkritik dar, die in Anlehnung an die Thesen Judith Butlers gekennzeichnet sind durch die „Infragestellung universalisierender und objektivierender Annahmen, z. B. darüber, dass Frauen und Männer grundsätzlich zwei verschiedenen Gruppen darstellen würden“ (Pettersson Ängsal 2011, 274). So werden insbesondere auch solche Schreibungen, die der Sichtbarmachung von Frauen dienen sollen, von Seiten der Gender-Studies bzw. der Queer-Theory kritisiert, da in ihnen Transgender und Intersexuelle nicht berücksichtigt würden. Als möglicher Ausweg wird die Schreibung des sogenannten Gender_Gap (Leser_in bzw. Leser*in) angesehen, der die Berücksichtigung aller Geschlechter auch jenseits des gesellschaftlichen akzeptierten Systems zweier Geschlechter symbolisiere (vgl. S_HE 2003; Pettersson Ängsal 2011, 274 ff.). Auch derartige Schreibweisen („fixierter Unterstrich“) werden allerdings mit dem Hinweis kritisiert, dass sie eine Polarität zwischen ‚Mann‘ und ‚Frau‘ reproduzierten. Als weitergehende Schreibung wird daher auch der dynamische Unterstrich gefordert, der entweder nach dem Wortstamm (Läuf_erinnen) oder aber an beliebiger Position (Geg_nerinnen, Vorfah_rinnen) eingefügt wird (vgl. Pettersson Ängsal 2011, 278 f., die Übersicht bei Hornscheidt 2012, 290 sowie Kotthoff/ Nübling 2018, 215 ff.; vgl. auch Tereick in diesem Band).  















1.3 Kritik an der Verwendung von Fremdwörtern Die Verwendung von Fremdwörtern wird seit mehreren Jahrhunderten kritisiert. Insbesondere seit dem 20. Jahrhundert fokussiert sich die Kritik auf die in den Augen der Kritiker übermäßige Verwendung von Anglizismen (vgl. Eisenberg 2012, 123 ff.; Kilian/  

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Niehr/Schiewe 2016, 72 ff.; Niehr 2011; Pfalzgraf 2006; Spitzmüller 2005a sowie Pfalzgraf in diesem Band). Zahlreiche laienlinguistische Sprachkritiker äußern sich explizit zur Fremdwortverwendung. Während Engel (1911; 1917; 1918) sich bereits aufgrund seiner Wortwahl als puristisch und nationalistisch eingestellter Fremdworthasser präsentiert, wird der Ton im Laufe der letzten einhundert Jahre zwar gemäßigter, die Quintessenz der sprachkritischen Empfehlungen und Argumente bleibt jedoch weitgehend die gleiche (vgl. Law 2007, 157 ff.; Niehr 2011, 101). Neben Reiners (1944, 508 ff.) sprechen sich u. a. auch Zimmer (1998) und W. Schneider (2009 a; 2009 b) dafür aus, Fremdwörter wenn möglich durch indigene Wörter zu ersetzen. Die Fremdwortkritiker argumentieren dabei mit ihrer Sorge um die deutsche Sprache, die bei zunehmender Fremdwortverwendung Schaden zu nehmen drohe. Die linguistisch relevanten Argumente lassen sich mit Niehr (2002) und Jan G. Schneider (2008) den Kategorien mangelnde Verständlichkeit, übermäßige Verbreitung und Schaden an der deutschen Sprache subsumieren. In ihrer Argumentation setzen Fremdwortkritiker mehrere Annahmen voraus, die für das weitere Verständnis hier kurz skizziert werden. Die erste Annahme besteht darin, dass es zwei eindeutig unterscheidbare Kategorien gebe, denen sich Fremdwörter und indigene Wörter zuordnen ließen. Zudem seien die meisten Fremdwörter entbehrlich, weil es indigene Synonyme gebe. Unter dieser stillschweigenden Voraussetzung gehen Fremdwortkritiker zudem häufig davon aus, dass Unverständlichkeit eine Eigenschaft sei, die Fremdwörtern in weit höherem Maße zukomme als indigenen Wörtern. Da Fremdwörter übermäßig häufig verwendet würden, führe dies zu einer Reihe unerwünschter Konsequenzen. Die erste dieser negativen Konsequenzen bestehe darin, dass Teile der Bevölkerung systematisch von der Kommunikation ausgeschlossen würden, wenn der Fremdwortgebrauch nicht eingedämmt werde: „Dieses ‚Imponiergefasel‘ grenzt viele Mitbürger aus, die über keine oder nur eingeschränkte Englischkenntnisse verfügen.“ (http://www.vds-ev.de/denglisch; 17.08.2015). Auch das mutmaßliche Motiv der Fremdwortverwendung wird in diesem Zitat angedeutet: Sprecher/Schreiber – so legt die Position des Vereins Deutsche Sprache hier nahe – möchten durch die Verwendung von Anglizismen ihren Hörern/Lesern imponieren. Neben der beschriebenen Ausgrenzung führt die übermäßige Verwendung von Anglizismen aus Sicht von Fremdwortgegnern zu einem Sprachgemisch aus Deutsch und Englisch, für das der Begriff Denglisch geprägt wurde. Die Verbreitung dieses Denglisch schließlich führe nicht nur dazu, dass indigene deutsche Wörter, die durch englische abgelöst würden, in Vergessenheit gerieten. Vielmehr werde auch das deutsche Sprachsystem nachhaltig geschädigt, weil Anglizismen sich nicht integrieren ließen und die Sprecher/ Schreiber ständig zu Systemwechseln gezwungen würden (vgl. Zimmer 1998, 70 ff.). Der Schaden, der der deutschen Sprache durch die übermäßige Verwendung von Anglizismen zugefügt wird, ist demnach ein doppelter: Einerseits werden indigene Ausdrücke durch Fremdwörter verdrängt und geraten in Vergessenheit. Es kommt  









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mithin zu einer Ausdünnung des deutschen Wortschatzes. Andererseits wird auch das Sprachsystem geschädigt, weil die Sprecher/Schreiber durch die zunehmende Verwendung grammatisch nicht integrierbarer fremder Bestandteile nachhaltig verunsichert werden und in der Folge nicht mehr über die Kompetenz verfügen, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden. Da die deutsche Sprache über einen reichhaltigen Wortschatz verfüge, der es erlaube, weitgehend auf Anglizismen zu verzichten, sei es geradezu geboten, gegen die übermäßige Anglizismen-Verwendung einzuschreiten.

1.4 Laienlinguistische Text- und Stilkritik 1.4.1 Bewertungen der Wortarten Ein Jahr nach Erscheinen des „Wörterbuchs des Unmenschen“ publiziert Karl Korn, Mitbegründer der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und später Chef des Feuilletons der FAZ, seine kulturkritische Schrift „Sprache in der verwalteten Welt“. Das Buch umfasst 11 Essays, die sich unterschiedlichen sprachlichen Phänomenen widmen. Die thematische Klammer dieser Essays besteht in der im 1. Kapitel explizierten Voraussetzung, dass die kritisierten sprachlichen Erscheinungen typisch für die verwaltete Massengesellschaft seien. Die sprachlichen Phänomene, die Korn in seinem Buch als sprachliche Erscheinungen der verwalteten Welt identifiziert und kritisiert, sind recht heterogen. Sie reichen von der Fremdwort-Verwendung (vgl. Korn 1958, 41 ff.) über die NS-Sprache (vgl. ebd., 47 ff.) und die „Sprache des Angebers“ (vgl. ebd., 50 ff.) bis hin zu Abkürzungen (vgl. ebd., 100 ff.) und zur Kritik an einzelnen Ausdrücken (vgl. ebd., 131 ff.). Als ein Phänomen der verwalteten Welt macht Korn die „Verbzerstörung“ aus (ebd., 29), die er mit Wüster auch als „Verbalaufschwemmung durch Substantivierung als streckende Umschreibung“ (ebd., 25) bezeichnet. Gemeint sind damit sogenannte Streckverben wie zur Durchführung bringen, zum Aufruf, zur Verteilung, zur Ausgabe gelangen und zum Einsturz, Verschwinden, Abschluss bringen (vgl. ebd., 24). Die bei Korn durchschimmernde Bevorzugung von Verben findet sich bei zahlreichen Stilkritikern. Verben gelten ihnen als bevorzugte Wortart, da sie „Träger von Handlung und Kraft“ (W. Schneider 2009a, 69), mithin „Königswörter“ (ebd., 66) seien. Diese Sichtweise hatte bereits Reiners (1944, 113) propagiert, indem er Verben als „Seele“ oder auch Rückgrat des Satzes metaphorisierte:  









Das Verbum ist das Rückgrat des Satzes. Wenn man die Handlung in ein Hauptwort zwingt und ein farbloses Zeitwort anleimt, so bricht man dem Satz das Rückgrat. Er wird schlaff, langweilig, schwunglos, schwerverständlich. Verba sind frisch und anschaulich; sie sind leichter zu verstehen als jene Hauptwörter, welche die Tatwörter ersetzen sollen, die Verba geben die Bewegung, das Ereignis wieder, nicht den Zustand, die Vorstellung. (Ebd., 114)

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Gut 30 Jahre vorher hatte bereits Engel (1911, 74) in vergleichbarer Metaphorik das Verb zur „Wirbelsäule des Satzes“ erklärt, während Reiners (1944, 115) es schließlich gar zur „Charakterfrage“ macht, ob „man in Verben schreibt oder in Hauptwörtern“. Damit einher geht die Abwertung der sogenannten Hauptwörter: „Die eigentliche Satzfäulnis beginnt, wenn durchweg Handlungen durch Hauptwörter statt durch Tatwörter wiedergegeben werden“ (ebd., 116). Die negative Einschätzung von Substantiven (im Vergleich zu Verben) ist ein Topos, der sich auch in neueren Sprachratgebern findet: Auch W. Schneider (2012, 21) schreibt von „gespreizten, gequälten Substantiven“ und „hässlichen Nomina“, die möglichst durch Verben zu ersetzen seien. Ähnlich wie die Substantive werden auch die Adjektive von den sprachkritischen Autoren mit großer Skepsis gesehen. Sie werden als gefährliche Feinde des Hauptwortes bzw. Wörter ohne Eigenschaften, als Schlingpflanzen charakterisiert (vgl. Sanders 1988/2011, 48 f.), die äußerst sparsam zu verwenden, wenn nicht gar zu vermeiden seien. Denn eigentlich – so W. Schneider (2009a, 66) – seien Adjektive „überwiegend leicht entbehrlich“. Diese Reserviertheit gegenüber Adjektiven wiederum findet sich bereits bei Engel (1911, 132 ff.) wie auch bei Reiners, der ein Kapitel seiner Stilkunde mit „Kampf dem Beiwort“ (1944, 124) überschreibt.  



1.4.2 Bewertungen der Genera Verbi In Bezug auf die Genera Verbi geben die laienlinguistischen Stilratgeber eindeutig dem Aktiv den Vorzug vor dem Passiv. Reiners (1944, 166 f.) beschreibt die „Leideform“ als „Sache der Ewig-Dabeistehenden, die nur Geschehnisse, nicht Taten kennen, die sich fürchten, den Täter offen an die Rampe treten zu lassen, namentlich, wenn sie es selbst sind“. Auch diese Sicht hat sich bis in die Gegenwart erhalten: W. Schneider (2012, 17) bezeichnet das Passiv als „hässlichste Form des Verbs“, die zwar teils unvermeidlich, jedoch „ziemlich oft ein Ärgernis“ sei. In einem Ratgeber für das Verfassen studentischer Arbeiten wird das Passiv gar als Sprache „der Schreibtischtäter […], der Bürokraten und Feiglinge“ (Krämer 1999, 156) denunziert.  

1.4.3 Bewertungen der Kasusrektion Nicht erst seit dem großen Publikumserfolg von Bastians Sicks Kolumnen und Büchern gilt es unter Laienlinguisten als ausgemacht, dass der Genitiv aus der deutschen Sprache verschwinde. Sick selbst merkt zwar an, dass der Genitiv nicht dermaßen gefährdet sei, „wie es auf den ersten Blick aussieht“ (Sick 2008, 22), schreibt jedoch später vom „Todeskampf des Genitivs“ (ebd., 509). Unabhängig von dieser widersprüchlichen Bewertung lässt sich konstatieren, dass Sick mit dem zum geflügelten Wort gewordenen Titel seines Buches („Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“)

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einen Topos der laienlinguistischen Sprachkritik aufgegriffen hat. So beklagt sich bereits Engel (1911, 73) über den „Verfall unserer Beugeformen“ und erklärt den Genitiv zum „meistmißhandelte[n] Beugefall“. Auch Reiners (1944, 213) bedauert das „langsame[] Aussterben des Genitivs (Wesfalls)“. Weiterhin sind sich Laienlinguisten einig darin, dass das System der Kasusrektion insgesamt vom Verfall bzw. von „Abschleifungen“ (ebd., 214) bedroht sei, unter denen „Schönheit und Deutlichkeit leiden“ (ebd.). Dies wird insbesondere am Wegfall von Dativ- und Akkusativ-Endungen festgemacht, ein Phänomen, das Sick mit dem Ausdruck „Kasus Verschwindibus“ (Sick 2008, 296) benennt.

1.4.4 Bewertungen der Syntax Im Bereich der Syntax werden von laienlinguistischen Sprachkritikern häufig Empfehlungen zur Satzlänge gegeben – das Credo der Sprachkritiker von Engel über Reiners bis W. Schneider kulminiert in der Forderung nach Kürze. Bereits Engel (1911, 341) schränkt allerdings die Aufforderung zur sprachlichen Kürze mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer „gewisse Fülle“ ein. Ähnlich argumentieren in der Folge auch Reiners (1944, 279 ff.) und W. Schneider, der als Ratschlag formuliert: „Fettfrei sollten die Sätze sein, vorwärtstreibend.“ (W. Schneider 2012, 25) Als Faustregel ergebe sich daraus, dass Sätze nicht länger als sieben Wörter sein sollten (vgl. ebd.). Insbesondere in den letzten Jahrzehnten wurden darüber hinaus Kausalsätze im Hinblick auf die Verbstellung Objekt laienlinguistischer Betrachtungen. Als Regel ohne Ausnahme wird die Verb-Letztstellung in kausalen Nebensätzen propagiert, kausale Nebensätze mit V2-Stellung werden als grammatisch falsch angesehen. Insgesamt lässt sich (nicht nur an den hier aufgeführten Beispielen) festmachen, dass laienlinguistische Sprachkritiker sowohl in der Auswahl der sprachlichen Phänomene wie auch in ihrer Bewertung übereinstimmen und auf diese Weise eine sprachkritisch-konservative Traditionslinie begründen (vgl. Corr 2014).  

2 Reaktionen der Sprachwissenschaft 2.1 Reaktionen auf das „Wörterbuch des Unmenschen“ Sprachwissenschaftler warfen der Sprachkritik, wie sie von Sternberger, Storz und Süskind mit moralischem Impetus betrieben wurde, gleich mehrere methodische Fehler vor: 1) die seit de Saussure geläufige Unterscheidung zwischen langue und parole (Sprachsystem und Sprachgebrauch) zu vernachlässigen, 2) zu übersehen, dass Sprache kommunikative Funktionen habe, 3) Sprache zu hypostasieren.

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Exemplarisch kann diese Kritik an Publikationen von Herbert Kolb (1960/1986), Peter von Polenz (1973 u. ö.) und Konrad Ehlich (1998) nachvollzogen werden (vgl. auch Dodd 2007, 31–68). Kolbs Kritik richtet sich gegen die im Wörterbuch des Unmenschen vertretene Auffassung, nach der Verben mit der Vorsilbe be- in besonderer Weise dazu geeignet seien, Menschen zu verobjektivieren, zum Objekt zu machen. Gegen diese Art der moralisierenden Sprachkritik wendet der Sprachwissenschaftler Kolb (1960/1986) ein, dass die von Sternberger geübte moralische Bewertung der kritisierten sprachlichen Entwicklung nicht gerecht werde. Vielmehr habe sie – sprachstrukturell betrachtet – sogar sprachökonomische Vorteile gegenüber anderen Verben:  

Ein Vorzug der be-Verben liegt darin, daß sie die Nennung der (akkusativierten) Person verlangen, die der präpositional damit verknüpften (‚instrumentalisierten‘) Sache aber freistellen. Man kann sagen: er beliefert die Kundschaft – und muß nicht sagen: er beliefert die Kundschaft mit Ware [...]. Möchte oder kann man also das sachliche Objekt nicht benennen oder hält man seine Nennung für überflüssig, so ist man geradezu auf das be-Verb angewiesen. (Kolb 1960/1986, 236 f.)  

An dieser Art der Argumentation zeigt sich die grundsätzlich verschiedenartige Interpretation sprachlicher Phänomene der damaligen strukturellen Sprachwissenschaft und der Sprachkritik: Sprachwissenschaftler zielten auf die genaue und möglichst wertfreie Beschreibung und Analyse sprachlicher Phänomene ab. Diesen Standpunkt resümierend, fasst Kolb wie folgt zusammen: Der Akkusativ ist weder inhuman noch human, sondern eine grammatische Form, die von human und inhuman Gesinnten gebraucht werden kann. Sogar die akkusativierenden be-Bildungen sind so wenig inhuman, wie es inhuman ist, die Gefangenen zu befreien, die Schwachen zu beschützen, die Nackten zu bekleiden. (Ebd.)

Auch von Polenz wendet sich bereits in den 60er Jahren gegen eine Sprachkritik, in der die Sprache „als von den Sprachbenutzern losgelöstes handelndes Wesen gedacht wird“ (v. Polenz 2005, 101; vgl. Ehlich 1998, 287). Von Polenz führt (neben anderen Argumenten; vgl. von Polenz 2005, 104 f.) v. a. ins Feld, dass die sprachkritischen Texte durch eine Reihe von Verkürzungen und Vereinfachungen gekennzeichnet seien. So würden nur Einzelwörter ohne ihren Kontext betrachtet. Auf Situation, Textsorte, Adressaten etc. werde dabei nicht eingegangen. Zwar würden einzelne Wörter kritisiert, den Lesern jedoch keine Alternativen unterbreitet. Schließlich blende die dualistisch-binäre Wertungspraxis (gut/böse, richtig/falsch, nützlich/schädlich) Zwischenwerte systematisch aus. Auch werde in solchen Sprachglossen die Sprachgeschichte häufig falsch eingeschätzt, indem entweder die Kontinuität der Sprachentwicklung oder aber Einschnitte in der Sprachentwicklung (etwa 1933 und 1945) überbetont würden. In beiden Fällen werde die gesellschaftliche Dimension des Sprachgebrauchs vernachlässigt: „Es wird zu wenig mit dem gleichzeitigen Neben- und Gegeneinander verschiedenen Sprach 



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gebrauchs durch gesellschaftlich orientiertes Verhalten der Sprecher und Sprechergruppen gerechnet [...]“ (ebd., 107). In diesem Sinne bemerkt auch Ehlich, dass gerade die „Nicht-Einmaligkeit“ des kritisierten Sprachgebrauchs beachtet werden müsse: „Es sind die Kontinuitäten, die frappieren“ (Ehlich 1998, 284). Dieckmann (2007, 68 f.) hat die These geäußert, dass die „Belastung“ bestimmter Ausdrücke wie betreuen, fanatisch, Machtergreifung, Sonderbehandlung nicht allein durch ihren Gebrauch zwischen 1933 und 1945 zu erklären sei:  

Die These, dass vornehmlich Wörter, die in der sprachkritischen Reflexion nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft als ns-typische Wörter thematisiert wurden und in den Jahrzehnten seitdem in dieser Rolle metakommunikativ gestützt worden sind, als belastet empfunden werden, hat für die Generationen von Deutschen, die nach 1945 geboren wurden, von vornherein die größere Plausibilität. [...] Für die Entstehung, Verfestigung und Aufrechterhaltung einer NSIndizierung sprachlicher Ausrücke speziell bedeutsam ist zusätzlich aber die öffentliche Thematisierung der NS-Sprache und ihrer Weiterverwendung in Sprachkritik und Publizistik [...].

An diesen referierten Positionen wird die unterschiedliche Beurteilungsgrundlage von Sprachwissenschaft und Sprachkritik exemplarisch deutlich: Während Sprachkritiker ihre Urteile in erster Linie auf einzelne Lexeme richten, richtet sich die Aufmerksamkeit der Sprachwissenschaftler nicht nur auf die Sprecher, sondern zunehmend auch auf die kommunikative und gesellschaftliche Funktion von Sprache. Dabei entspricht es jedoch ihrem Selbstverständnis, bei einer bloßen Beschreibung von Sprache ohne moralische motivierte Wertungen zu bleiben. Dass ihnen dies keineswegs immer gelingt, lässt sich bereits an den zitierten Passagen von Polenz’ ablesen: So ist seine Metakritik ihrerseits bewertend, beispielsweise wenn die Verwendung bestimmter Ausdrücke (Unmensch, Ungeheuer, Krallenpfote) als unangemessen und einer sachlichen Auseinandersetzung nicht dienlich charakterisiert wird.

2.2 Reaktionen auf Bewertungen der Political Correctness und der (post-)feministischen Linguistik Die Reaktionen der Sprachwissenschaft auf die Bewertungen und Forderungen der Political Correctness und der (post-)feministischen Sprachkritik fallen unterschiedlich aus und reichen von klarer Ablehnung aus linguistischen Gründen bis hin zu einem gewissen Verständnis für die geäußerten Forderungen. So wird einerseits betont, dass Verfechter der PC „oft bedenkenswerte moralische Werte verfolgen“ (Wimmer 1996, 297) und PC Zeichen einer zivilisatorisch und demokratisch begrüßenswerten Sprachsensibilität sei (vgl. Wengeler 2002, 9; Wengeler 2014, 32 ff.). Andererseits wird die „Konfusion zwischen einer sozial eingegrenzten, wenig toleranten Sprachaggressivität im Namen diskriminierter Gruppen und dem öffentlichen sprachmoralischen Konsens“ (Jung 1996, 32) betont. Aus linguistischer Sicht  

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stellt sich zudem die Frage, inwieweit Forderungen der PC durch Sprachlenkung erfüllt werden können. Dieser Strang der Argumentation hebt auf den politischen Charakter der PC-Debatte ab. Die Forderungen der PC werden als „eine besonders verschärfte Form des semantischen Kampfes“ (Wimmer 1996, 291) angesehen. Es bleibe jedoch offen, inwieweit die Durchsetzung politisch korrekter Bezeichnungen Änderungen im Denken der Sprecher/Schreiber hervorriefen (vgl. Kilian 2003, 57; Wengeler 2002, 10 ff.). Dies zeige sich daran, dass der Konsens über sprachlich korrekte Bezeichnungen sich wandele und einen „Abwertungs-Aufwertungs-Zyklus“ (vgl. dazu Germann 2007, 294 ff.) bzw. Euphemismenschub (Kilian 2003, 57) auslösen könne, wie die zahlreichen Beispiele für die Bezeichnung Farbiger verdeutlichen:  



Im gehobenen Sprachgebrauch der Weißen in den USA wurden die Schwarzen vor siebzig Jahren „colored people“ genannt [...]. Später sprach man von „negroes“, noch später von „blacks“ und heute von „Africa-Americans“ oder „Afroamericans“ oder auch wieder von „persons of color“. [...] Hughes schreibt wohl mit Recht, daß für Millionen weißer Amerikaner die Schwarzen die Nigger geblieben sind. (Wimmer 1996, 288)

Insgesamt lässt sich für diesen Bereich mit Funk (2014, 59) festhalten, dass auch Linguisten „kein Patenrezept besitzen, wohl aber Denkanstöße formulieren“, um sprachliche Handlungsoptionen aufzuzeigen. Auch die Analysen und Forderungen der feministischen Sprachkritik wurden von der Sprachwissenschaft unterschiedlich bewertet (vgl. zusammenfassend KlannDelius 2005). Insbesondere den in der öffentlichen Diskussion prominent vorkommenden Analysen zum (asymmetrischen) Genussystem wurde von linguistischer Seite mit dem Hinweis widersprochen, dass es sich beim Genus um eine formalgrammatische Kategorie handele, die keinerlei Rückschlüsse auf sprachliche Diskriminierungen zulasse. Eine derartige Kritik betont den Unterschied zwischen Genus und Sexus und hebt darauf ab, dass das generische Maskulinum eben nicht als „männliche Form“ zu verstehen sei, bei der Frauen bestenfalls mitgemeint seien: „Das Genus der allermeisten Substantive hat mit den Bedeutungseigenschaften ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ nichts zu tun.“ (Stickel 1988, 338) Denn: „Jedes semantische Geschlecht kann durch jedes Genus ausgedrückt werden“ (Bär 2004, 156). Gegen die diversen Formen der sprachlichen Gleichstellung von Männern und Frauen werden unterschiedliche Gründe ins Feld geführt. Neben den bereits skizzierten strukturalistischen Gründen (vgl. auch Bär 2004, 157 ff.) wird mit orthographischen und grammatischen Regularitäten gegen die Verwendung des Binnen-I argumentiert (vgl. ebd.) oder aber auf morphosyntaktische Schwierigkeiten hingewiesen: „Koordinationen von genusverschiedenen Substantiven führen zu morphosyntaktischen Komplikationen, weil jeweils zwei Kongruenzstrukturen in die lineare Abfolge eines Satzes gezwängt werden müssen.“ (Stickel 1988, 349) Auch stilistische Erwägungen werden angeführt, da die konsequent durchgeführte Beidbenennung Texte unlesbar mache: „Der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin führt den Vorsitz im  

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Rat. Im Falle seiner bzw. ihrer Verhinderung übernimmt sein Stellvertreter bzw. seine Stellvertreterin bzw. ihr Stellvertreter bzw. ihre Stellvertreterin den Vorsitz.“ (Ebd.) Kritisch äußert sich Klein (2004) zu derartigen Argumenten. Seine empirischen Untersuchungen sprechen dafür, dass es einen Zusammenhang zwischen generischem Maskulinum und dem „Ignorieren von Frauen“ (ebd., 304) gibt. Vor diesem Hintergrund plädiert Klein für die Ersetzung des generischen Maskulinums. Diese führe „zwar nicht zur Beseitigung, sicherlich aber zu einer Abschwächung der Ignoranz gegenüber dem Frauenanteil in Personengruppen“ (ebd., 305). Geschlechtergerechter Sprachgebrauch ist im amtlichen Sprachgebrauch von Verwaltungen, in Stellenausschreibungen und Gesetzestexten aufgrund gesetzlicher Vorgaben inzwischen weitgehend geregelt (vgl. Schewe-Gerigk 2004; Klann-Delius 2005, 187 ff.). Laut Klann-Delius (2005, 187) gilt dies auch für weite Bereiche des öffentlichen Lebens, in denen es mittlerweile üblich sei, „Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten oder Studierende, Mitbürgerinnen und Mitbürger anzusprechen“. Bereits Anfang des Jahrtausends stellt Kilian (2003, 58) in diesem Zusammenhang fest, dass „der (öffentliche) deutsche Sprachalltag auf den geschlechtergerechten Weg gebracht [ist]“. Unabhängig von der linguistischen Beurteilung der Argumente beider Seiten lässt sich mit Klann-Delius (2005, 191) zweifelsohne feststellen, dass die Forderungen der feministischen Sprachkritik innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem intendierten Sprachwandel geführt haben, der an markanten Änderungen im öffentlichen und z. T. auch im privaten Sprachgebrauch erkennbar ist. Die Forderungen der postfeministischen Sprachkritik dagegen sind bislang nicht in vergleichbarer Weise öffentlich diskutiert worden. Dies mag zum einem daran liegen, dass ihre Umsetzung v. a. auf kleinere Teilöffentlichkeiten beschränkt bleibt (vgl. Pettersson Ängsal 2011, 280 f.). Aus linguistischer Sicht bleibt zudem offen, inwieweit eine Schreibung wie der dynamische Unterstrich „ohne das damit verbundene ideologische Vorwissen verstanden und rezipiert werden kann“ (ebd., 285; vgl. auch Kotthoff/Nübling 2018, 218 ff.).  









2.3 Reaktionen auf Bewertungen des Fremdwortgebrauchs Das Phänomen des Fremdwortgebrauchs wird von sprachwissenschaftlicher Seite ebenfalls thematisiert, sowohl in historischer (vgl. Kirkness 1975; Niehr 2011; Stukenbrock 2005) wie auch zeitgenössischer Perspektive (vgl. Busse 2011; Eisenberg 2012; 2013b; Niehr 2002; Pfalzgraf 2006; Spitzmüller 2005a). Neben der Dokumentation puristischer Bestrebungen steht dabei häufig die Auseinandersetzung mit laienlinguistischen Bewertungen im Zentrum des linguistischen Interesses. Die Grundlagen laienlinguistischer Bewertungen erscheinen unter linguistischer Perspektive in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zunächst wird die einfache Unterscheidung von Fremdwörtern und indigenem Wortgut von Seiten der Linguistik pro-

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blematisiert: Seit der Humanistenzeit hat das Deutsche in großem Umfang Wortgut aus anderen Sprachen aufgenommen. Eine einfache Unterscheidung von „deutsch“ und „fremd“ ist daher gar nicht möglich (vgl. von Polenz 1999, 391 ff.). So schwierig wie die Identifikation von sogenannten Fremdwörtern ist, so schwierig erscheinen aus linguistischer Sicht auch generelle Aussagen über deren Verwendungshäufigkeit. Methodisch heikel ist die Ermittlung derartiger Verwendungshäufigkeiten auch deshalb, weil davon auszugehen ist, dass Fremdwörter nicht gleichmäßig über die verschiedenen Varietäten des Deutschen verteilt sind. Insbesondere die Sprache der Medien, der Technik und der Filmindustrie scheinen hier quantitative Besonderheiten aufzuweisen (vgl. Busse 2011, 115). Zusätzlich ist mit Unterschieden zwischen schriftlichem und mündlichem Sprachgebrauch zu rechnen. Insbesondere letzterer aber entzieht sich weitgehend einer quantifizierenden Analyse. Mit Eisenberg (2013b) liegt von linguistischer Seite der Versuch vor, „Aussagen über Zahl und Status von Anglizismen im geschriebenen Standarddeutschen zu ermöglichen“ (ebd., 64). Bei der Beurteilung des Anglizismengebrauchs wird aus linguistischer Sicht zudem ein funktionales Argument geltend gemacht. Es geht davon aus, dass Anglizismen und ihre indigenen Äquivalente in den meisten Fällen – anders als laienlinguistische Sprachkritiker behaupten – nicht synonym verwendet werden können. Vielmehr ergeben sich häufig Bedeutungsnuancen, die insbesondere bei der Ersetzung in konkreten Texten deutlich werden (vgl. Eisenberg 2012, 142 ff.; Kreuz 2014; Niehr 2002; J. G. Schneider 2007). Insofern kann keine Rede davon sein, dass Anglizismen „verlustfrei“ durch Übersetzungen ersetzbar und damit entbehrlich seien. Daraus wiederum folgt, dass auch die These von der Verdrängung indigener Wörter durch Anglizismen als wenig plausibel anzusehen ist. Dem zentralen Verständlichkeitsargument der Sprachkritiker schließlich ist von linguistischer Seite das Phänomen der „gewollte[n] Unverständlichkeit“ (Eisenberg 2011, 125) gegenüberzustellen, das nicht nur bei der Werbung für technische Produkte oder Finanzdienstleistungen zu veranschlagen ist. Schließlich wird von Linguisten auch im Kontext der Anglizismenkritik darauf hingewiesen, dass der Kritik am Gebrauch sprachlicher Ausdrücke häufig eine Kritik an nicht-sprachlichen Gegebenheiten zugrunde liege. Bei der Anglizismenkritik dürften hier insbesondere politische, teilweise nationalistische Motive eine Rolle spielen (vgl. Niehr 2009; Pfalzgraf 2006 und Pfalzgraf in diesem Band).  



2.4 Reaktionen auf „Sprache in der verwalteten Welt“ Auch Korns Bemerkungen zur Sprache in der verwalteten Welt wurden von Sprachwissenschaftlern bald aufgegriffen und kritisch kommentiert. Insbesondere die von Korn kritisierten Verbgefüge wurden und werden eingehend analysiert (vgl. mit weiteren Literaturhinweisen Eisenberg 2013a, 305 ff.; von Polenz 1999, 388; Storrer 2013, 174 ff.). Dass auch W. Schneider (2012, 21) gegen die Formulierung zur Anzeige bringen  



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argumentiert, belegt, dass Funktionsverbgefüge nach wie vor „ein Zankapfel zwischen Sprachkritik und Sprachwissenschaft“ sind (Eisenberg 2013a, 307). Von Polenz (1963) verfasst eine der ersten sprachwissenschaftlichen Erwiderungen auf die sprachkritische Bewertung des Phänomens. Er führt dabei den Nachweis, dass Funktionsverbgefüge nicht nur eine stilistische Variante mit ansonsten gleicher Bedeutung sind. Am Beispiel der Sätze Der Bundestag entscheidet über diese Frage und Der Bundestag bringt diese Frage zur Entscheidung zeigt von Polenz auf, dass derartige Konstruktionen eine Funktion erfüllen, die von einem einfachen Verb wie entscheiden nicht übernommen werden kann: Zur Entscheidung bringen ist nicht dasselbe wie entscheiden, sondern bedeutet ‚einer Entscheidung zuführen[‘], [‚]eine Entscheidung herbeiführen‘ oder ‚eine Entscheidung vorbereiten und treffen‘. [...] Mit einem umständlichen, stufenweise gegliederten Vorgangsdenken haben wir in der ‚verwalteten Welt‘ nun einmal zu rechnen. [...] Eine Kritik an dieser Art von Vorgangdenken selbst – ob man es nun im einzelnen Falle ‚bürokratisch‘, ‚demokratisch‘ oder allgemeiner ‚abstrakt‘ nennen mag – steht der Sprachwissenschaft nicht zu. (von Polenz 1963, 14 f.)  

Diese Position findet sich (unter Berufung auf von Polenz’ wegweisenden Aufsatz von 1963) auch in der zeitgenössischen Grammatikographie wieder: So erklärt auch Eisenberg (2013a, 311) die Vielzahl der Funktionsverbgefüge im Deutschen mit deren spezifischen Funktionen: Die FVG schließen lexikalische Lücken, sie erlauben besondere Thema-Rhema-Strukturen und sie ermöglichen bestimmte Passivumschreibungen. Ihre eigentliche Leistung besteht jedoch in Kausativierung und der Signalisierung von Aktionsarten.

Deutlich wird auch an diesem Beispiel der unterschiedliche Ansatz von Sprachkritik und Sprachwissenschaft. Während Sprachkritiker vorwiegend kulturkritische und ästhetische Maßstäbe anlegen, richtet sich der Blick von Sprachwissenschaftlern auf die Funktion sprachlicher Phänomene. Diese sollen zunächst beschrieben und anschließend unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Funktion erklärt werden. Mit dieser Herangehensweise gut vereinbar ist die Frage, inwieweit eine beschriebene sprachliche Tendenz bestimmten Erfordernissen der Sprecher/Schreiber entspricht. So erklärt von Polenz (1963, 22) das vermehrte Vorkommen von Funktionsverbgefügen mit den kommunikativen Erfordernissen der bei Korn kritisierten Verhältnisse: Die Gebrauchsprosa in der rationalisierten Welt ist darauf angewiesen, die verschiedenen Arten und Stufen der alltäglichen Kommunikationsvorgänge des ‚Kennens/Erkennens/Kennenmachens‘ möglichst rationell zu bezeichnen. Das hohe Stilmittel der Wortstammvariation eignet sich nicht dafür.

Auch in derartigen Passagen zeigt sich allerdings der Widerspruch zwischen dem Selbstanspruch reiner Deskription sprachlicher Phänomene und seiner Umsetzung: Von Polenz belässt es keineswegs bei der Zurückweisung der von Korn vertretenen

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Position. Vielmehr kommt er selbst zu einer durchaus positiven Bewertung von Funktionsverbgefügen, die er (im Gegensatz zur Wortstammvariation) als rationelle Bezeichnungsmöglichkeiten charakterisiert. Das von Korn kritisierte Phänomen wird mithin bei von Polenz genauer beschrieben, indem seine Funktion berücksichtigt wird. Der negativen Bewertung Korns wird dann jedoch eine positive Bewertung entgegengestellt.

2.5 Reaktionen auf Bewertungen in Sprach- und Stilratgebern Aus den in den vorigen Abschnitten skizzierten Reaktionen der Linguistik auf laienlinguistische Befunde kann mit guten Gründen auf die linguistische Einschätzung laienlinguistischer Sprach- und Stilratgeber geschlossen werden. Dies hängt insbesondere mit der Tatsache zusammen, dass dort häufig allgemeine Ratschläge gegeben werden, die sprachliche Kontexte ausblenden. Derartige, scheinbar allgemeingültige Regeln – betreffen sie die Bevorzugung bestimmter Wortarten, Satzlängen oder -arten – lassen sich kaum mit einer funktionalen Perspektive vereinbaren, die üblicherweise einer linguistisch begründeten Sprachkritik zugrunde liegt (vgl. Abschn. 3.2). Vor diesem Hintergrund gelten beispielsweise für Fachtexte spezielle Normen: So kann der häufige Einsatz von Funktionsverbgefügen oder auch die Verwendung von Standardformulierungen in Fachtexten durchaus funktional und angemessen sein (vgl. Fluck 2007, 319), auch wenn sie einem an literarischen Mustern orientierten Stilideal widersprechen. Sprachwissenschaftler, die sich eine funktionale Perspektive zu eigen machen, kommen deshalb überwiegend zu dem Ergebnis, dass es nicht möglich ist, allgemeine (Stil-)Normen aufzustellen, die für Texte schlechthin gültig sein sollen. Mithin kann es das gute Schreiben (vgl. Dürscheid/Brommer in diesem Band), den guten Text oder Stil schlechthin nicht geben (vgl. Heinemann 2007, 169; Sandig 2007, 161). Überträgt man diese Sichtweise auf grammatische Phänomene, so ergibt sich auch hier, dass es keine starren Normen gibt „im Sinne von Rezepten, die man einfach übernehmen kann“ (Eroms 2007, 102). So kann mit linguistischen Mitteln zwar festgestellt werden, dass im Deutsch der Gegenwart bestimmte Kasusendungen häufig weggelassen werden. Dies sei „von Seiten der Linguistik auch nur zu konstatieren, nicht aber zu kritisieren“, denn: „Die neuen Formen sind schlechtes Deutsch nur gemessen an der bisherigen Norm“ (Burkhardt 2007, 12 f.). Betrachtet man sprachliche Veränderungen, ohne bisherige Normen als alleiniges Beurteilungskriterium zugrunde zu legen, so lassen sich zwar Veränderungen in den Flexionsparadigmen feststellen. Sofern diese aber nicht zu Missverständnissen oder Systemverschlechterungen führen, erübrigt sich eine Kritik aus linguistischer Sicht (vgl. Burkhardt 2014, 46). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das kontextlose Bewerten der „Sprache außerhalb ihrer Gebrauchszusammenhänge“ (Sanders 1988/2011, 165), wie es für laienlinguistische Stil- und Sprachratgeber überwiegend typisch ist, von der Linguistik als der sprachlichen Realität nicht angemessen abgelehnt wird.  

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3 Bewertungen in der Sprachwissenschaft und das Prinzip der funktionalen Angemessenheit Ist die Sprachwissenschaft seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts in erster Linie darum bemüht, „strukturalistische“ Prinzipien gegenüber der als beliebig empfundenen laienlinguistischen Sprachkritik geltend zu machen, so lässt sich in den letzten Jahren eine zunehmende Offenheit gegenüber bewertenden Stellungnahmen beobachten. Nicht zuletzt äußert sich diese in programmatischen Erklärungen deskriptiv arbeitender Sprachwissenschaftler wie dem Bozner Manifest (Lanthaler u. a. 2003) und der Aachener Erklärung (Bär/Niehr 2012), aber auch in Publikationen, die „gutes Deutsch“ zum Thema machen (vgl. Burkhardt 2007; Rössler in diesem Band), sich als „unentbehrlich für richtiges Deutsch“ darstellen (Duden 2009) oder sich für „gutes und richtiges Deutsch“ zuständig erklären (Duden 2011). Bereits Anfang der 80er Jahre äußert von Polenz in einem Gespräch mit Heringer, seine Unzufriedenheit mit einer rein strukturalistisch argumentierenden Sprachwissenschaft:  

Auf der andern Seite, noch wichtiger, ist mir immer deutlicher geworden, daß man mit der damals üblichen ‚modernen‘ Sprachwissenschaft die Ziele, die ich im Sinn hatte, nicht verfolgen konnte. Musterbeispiel: Ich habe in der Anfangszeit Sternberger manchmal etwas naiv den de Saussure vorgehalten. Zwar konnte ich damit einige methodische Fehler – z. B. Vermischung von Synchronie und Diachronie, Vermischung von historischen Gesichtspunkten und gegenwartsbezogenen – erklären, aber mit dieser Art von Sprachwissenschaft konnte man doch nur die innersprachliche Struktur untersuchen. Sie war zu wirklichkeits- und gesellschaftsfern. Also wäre eine neue Sprachwissenschaft zu entwickeln gewesen. (Heringer 1982, 164).  

Wodurch sich die Bewertungen einer solchen „neuen“ Sprachwissenschaft“, die sich durch Wirklichkeits- und Gesellschaftsnähe auszeichnet (vgl. Wimmer 2003, 423 ff.), von denen der Laienlinguistik unterscheiden, soll anhand einiger Beispiele skizziert werden. An erster Stelle zu nennen sind dabei implizite Formen der Sprachkritik, wie sie etwa in „Brisante Wörter“ (Strauß/Haß/Harras 1989) „Kontroverse Begriffe“ (Stötzel/Wengeler 1995) und ähnlichen Publikationen zu finden sind. Derartige Diskursanalysen avant la lettre, in denen konkurrierende Sprachgebräuche rekonstruiert werden, ohne sie explizit zu bewerten, können insofern als eine Form von Sprachkritik gelesen werden, als sie beim Leser ein Bewusstsein dafür schaffen können,  

dass es keine objektive und richtige Bezeichnung öffentlicher Sachverhalte gibt, dass daher jeder Sprachgebrauch interessen- und meinungsabhängig ist, dem Andersdenkenden ein anderer Sprachgebrauch zugebilligt werden sollte und jeder einzelne eine seiner Meinung entsprechende Bezeichnungspraxis für sich beanspruchen kann. (Wengeler 2011, 42 f.; Herv. i. Orig.)  

Solche Studien zum öffentlichen Sprachgebrauch legen somit ein Verständnis von Kritik zugrunde, das den Analyse-Charakter von Kritik in den Vordergrund rückt,

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explizite Bewertungen der analysierten Sprachgebräuche jedoch vermeidet (vgl. Dieckmann 2012, 57 f.). Wengeler (2011, 42 ff.) umschreibt diese Art der Sprachkritik in Anlehnung an Schiewe (2003, 133) mit dem Attribut „kritisch durch Deskription“ (vgl. dazu aber auch kritisch Roth 2004 sowie die grundlegenden Bemerkungen bei Spitzmüller 2005b). Insgesamt scheint bei deskriptiv arbeitenden Linguisten das Bewusstsein dafür gewachsen zu sein, dass auch die seit Jahrzehnten von Linguisten propagierte Wertungsabstinenz ihrerseits eine Wertung darstellt. Weiterhin wird deutlich, dass in zahlreichen Teilgebieten der Linguistik teils implizit, teils aber auch explizit Wertungen vorgenommen wurden:  



In zahlreichen linguistischen soziolinguistischen, pragmatischen, textlinguistischen und gesprächsanalytischen Untersuchungen spielten Wertungen, keineswegs fahrlässig, sondern intendiert, eine unübersehbare Rolle, zumal wenn sich in der untersuchungsleitenden Begrifflichkeit Einfallstore für Bewertungen befanden wie Unverständlichkeit, Verschleierung, Manipulation, Diskriminierung, Benachteiligung oder Unterdrückung. Die Untersuchungen zur (Un-)Verständlichkeit von Gesetzestexten oder von Formularen in der Verwaltung, von Beipackzetteln für Medikamente oder Bedienungsanleitungen für technische Geräte waren wie die Analyse von Kommunikationskonflikten in Arzt-Patienten-Gesprächen oder von Strategien politischer oder kommerzieller Werbung genauso wie die Aktivitäten der feministischen Linguistik oft von vornherein kritisch motiviert. (Dieckmann 2012, 46 f.)  

Da es im Rahmen eines Handbuch-Artikels kaum möglich erscheint, implizit enthaltene Wertungen in den verschiedenen Teildisziplinen der Linguistik zu verfolgen, die im Zitat von Dieckmann angesprochen werden, sollen im Folgenden exemplarisch Aktivitäten erwähnt werden, die die bereits erwähnte Offenheit gegenüber sprachkritischen Bewertungen illustrieren können.

3.1 Bewertende Aktivitäten von Linguisten Seit 1977 wird in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) regelmäßig ein Wort des Jahres gewählt (vgl. Bär 2003; Pollmann 2013, 34 ff.; http:// www.gfds.de/aktionen/wort-des-jahres/). Wiewohl der bewertende Aspekt bei dieser Aktion nicht im Vordergrund stehen soll, regt die Wahl zum Wort des Jahres eine öffentliche sprachreflexive Diskussion an, die ihrerseits vor Bewertungen keineswegs zurückschreckt (vgl. die Beispiele aus den Massenmedien bei Pollmann 2013, 38 f.). Diese Diskussion dürfte bereits im Vorfeld der jeweiligen Wahl angeregt werden, wenn die GfdS ihre Mitglieder dazu einlädt, Vorschläge für das Wort des Jahres zu machen. Mit aufklärerischem Anspruch findet die jährliche Wahl zum Unwort des Jahres statt. Die Wortkritik erfolgt anhand von Kriterien, die allerdings „selbst keine linguistischen, sondern ethisch-moralische und gesellschaftspolitische“ sind (Wengeler 2013, 19). Als solche Kriterien werden das Prinzip der Menschenwürde, das Prinzip der  



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Demokratie sowie ein nicht-diskriminierender und nicht-euphemistischer (nicht-verschleiernder bzw. nicht-irreführender) Sprachgebrauch genannt (vgl. ebd., 18). Dass derartige Bewertungen ihrerseits umstritten sind und zum Auslöser weitergehender Kontroversen werden können, dokumentiert und diskutiert Wengeler (2013, 13 ff.). Mit dem Erscheinen der ersten Nummer der Zeitschrift Aptum im Jahre 2005 hat die bewertungsfreundlichere Linguistik ein Publikationsorgan erhalten. Die Herausgeber, Jürgen Schiewe und Martin Wengeler, verstehen die Zeitschrift – ausweislich ihres Untertitels – als eine Plattform für „Sprachkritik und Sprachkultur“. Dabei wird Sprachkritik als „eine mit Wertung verbundene Reflexion über Sprache und Sprachgebrauch“ verstanden (Schiewe/Wengeler 2005, 3). Ziel einer so verstandenen Sprachkritik sei es, mit linguistischen Mitteln offenzulegen, „welche Sicht der Wirklichkeit von wem aus welchen Gründen konstituiert worden ist“ (ebd., 7). Auf der Basis dieser Konzeption von Sprachkritik und Sprachkultur wird in der Zeitschrift Aptum von ihrer ersten Nummer bis dato ein breites Spektrum von Themen behandelt. Der 9. Band der etablierten 12-bändigen Duden-Reihe („Zweifelsfälle-Duden“) gibt seit der 7. Auflage „erstmals [...] Empfehlungen bei rechtschreiblichen, grammatischen oder auch stilistischen Zweifelsfällen“ (Duden 2011, 11). Dieser Praxis liegt die im Vorwort geäußerte Überzeugung der Dudenredaktion zugrunde, dass „unsere Gesellschaft nicht ohne eine normativ geregelte Standardsprache aus[komme]“ (ebd., o. S.). Die normativen Empfehlungen des Zweifelsfälle-Dudens orientieren sich am schriftlichen Standarddeutsch, ohne andere Varietäten abwerten zu wollen (vgl. ebd., S. 11). Gleichzeitig wird betont, dass die Standardvarietät keineswegs die einzig „richtige“ ist, dass es immer auch sprachliche Alternativen gibt. Mit der Betonung verschiedener Varietäten, die allesamt ihre Berechtigung haben und nicht ohne Berücksichtigung weiterer Parameter bewertet werden können, kommt das Prinzip der funktionalen Angemessenheit in den Blick. Dieses Prinzip ist darauf angelegt, außersprachliche Bedingungen einzubeziehen, um zu einem begründeten Urteil über die Angemessenheit des infrage stehenden Sprachgebrauchs zu kommen.  



3.2 Das Prinzip der funktionalen Angemessenheit als Grundlage linguistischen Bewertens Mit dem Prinzip der funktionalen Angemessenheit hält ein bewertendes Element Einzug in die Sprachwissenschaft, das einerseits eine Abkehr von der scheinbaren Wertungsabstinenz der deskriptiven Sprachwissenschaft bedeutet, andererseits aber die Ergebnisse deskriptiver Sprachwissenschaft systematisch berücksichtigt. Funktionale Angemessenheit wird dabei nicht als absoluter Maßstab verstanden, mit dessen Hilfe angemessener Sprachgebrauch schlechthin normativ vorgegeben werden könnte. Vielmehr geht es darum, die funktionale Angemessenheit verschiedener

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Sprachgebräuche als Ergebnis von Normreflexionen bewusst zu machen und zu halten. Grundlegend ist dabei die Erkenntnis, dass Sprachgebrauch immer nur vor dem Hintergrund eines Äußerungskontextes sinnvoll kritisiert werden kann: Funktional ist eine Äußerung dann, wenn die Kommunikationsabsicht, die intendierte Sprachhandlung, also die Illokution, glückt. Das Glücken einer Illokution hängt, wie wir wissen, von vielen Faktoren ab, u. a. – und ganz wesentlich – von den gewählten sprachlichen Mitteln und von den Konventionen, also den Normen, die diesen sprachlichen Mitteln in einer bestimmten Kommunikationssituation, also in einem spezifischen Kontext, zugeschrieben werden. In diesen Kontext gehen die Konstellation der Kommunikationspartner und die spezifischen Bedingungen des gewählten Mediums, der Textsorte sowie des Diskurses mit ein. (Kilian/Niehr/Schiewe 2013, 304).  

Ein wesentlicher Unterschied dieses Konzepts liegt also in seiner konsequent soziopragmatischen Ausrichtung. Es beruft sich auf das aptum der antiken Rhetorik, das als eine Kombination von sachlicher Adäquatheit, publikumsbezogener Passendheit und situationsspezifischer Angebrachtheit aufgefasst werden kann (vgl. Kiepointner 2005, 194 f.) und ermöglicht somit eine differenzierte Bewertung des jeweils infrage stehenden Sprachgebrauchs. Derartige Bewertungen formulieren keine absoluten Normen. Bewertungsgrundlage ist vielmehr die (Meta-)Norm der Angemessenheit. Diese kann bzw. muss jeweils linguistisch begründet werden und erschöpft sich nicht in bipolaren Urteilen, da sie die Variablen Darstellung der Sache, Publikum und Situation berücksichtigt (vgl. Niehr 2015; Kilian/Niehr/Schiewe 2016, 62 ff.). Die Berufung auf eine solche Position könnte der berechtigten Kritik an der starren Entgegensetzung von Deskription und Präskription bzw. Kritik, wie sie etwa Reisigl/Warnke (2013) formulieren, Rechnung tragen. Dass sich Bewertungen in Sprachwissenschaft und Öffentlichkeit trotzdem weiterhin grundlegend unterscheiden, darf nach dem hier skizzierten Verständnis linguistischer Sprachkritik allerdings angenommen werden.  



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III. Sprache im Urteil der Öffentlichkeit – Historische Perspektiven

Hans-Joachim Solms

8. Sprache und Nation: Sprachreflexion und Sprachbewertung im Kontext gesellschaftspolitischer Identitätsbildung Abstract: Eine gesellschaftspolitisch intentionale und den Zusammenhang von Sprache und Nation fokussierende Sprachreflexion/-bewertung stellt eine historisch spezifische und insbesondere erst seit dem späten 18. Jahrhundert aufkommende Ausprägung einer bis dahin generellen sozialbezogenen Sprachreflexion/-bewertung dar und steht im Zusammenhang der neuzeitlichen Herausbildung europäischer Nationalstaaten. Am Beginn dieses im Mittelalter beginnenden Prozesses stehen gentile Wertzuschreibungen, zur Frühen Neuzeit hin folgt ein sprachgeschichtliches Denken, welches auf den Zusammenhang von herkunftsbestimmter Nation und sprachlich bestimmter Gruppenzugehörigkeit zielt. Auf eine bereits staatsnationale Sprachpflege des 17. und 18. Jahrhunderts folgt insbesondere aus der Erfahrung der Französischen Revolution sowie der gescheiterten Freiheitskriege eine prominent im deutschen Bürgertum herausgebildete Idee der sprachlich-kulturell vorformulierten Nation, als deren empirisches Prädikat sich die Nationalgeschichte Luxemburgs erweist. Diese wird anhand der zeitgenössischen und in der Tagespresse vollzogenen Auseinandersetzung einschlägig rekapituliert. Über die politische Wirksamkeit hinaus zeigt sich die universitätsdisziplinäre Sprachgeschichte bis heute der Idee des Nationalen verpflichtet, woraus eine grundsätzlich ideologiekritische Herangehensweise folgt.  

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Panchronischer Zusammenhang von Sprache, sozialer Gemeinschaft und normativer Sprachwertung Historisch-mittelalterlicher Zusammenhang von Sprachbewertung und gentiler Selbstwertschätzung Historisch-neuzeitlicher Zusammenhang von Sprache und Nation Beispiel Luxemburg Wissenschaftliche Sprachgeschichte als Teil gesellschaftlicher Interessenformulierung Literaturverzeichnis

https://doi.org/10.1515/9783110296150-009

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1 Panchronischer Zusammenhang von Sprache, sozialer Gemeinschaft und normativer Sprachwertung 1.1 Sprache als Indikator sozialer Zugehörigkeit Eine Reflexion und Bewertung von Sprache in einem intentionalen Zusammenhang gesellschaftspolitischer Identitätsbildung stellt eine historisch spezifische Ausprägung der generellen und zu allen Zeiten beobachtbaren Reflexion und Bewertung des vielschichtigen Zusammenhangs von Sprache und Gesellschaft/Gemeinschaft dar. Dabei gehört die Einsicht, dass „Sprache [...] ein faszinierendes Element [ist], Gruppenidentität zu signalisieren“ (Besch/Wolf 2009, 113), ebenso zum gängigen Handbuchwissen wie das Wissen darum, dass Sprache zu „soziokultureller Identitätsstiftung“ (Dressler 1988, 1558) beiträgt: denn „das Erleben seiner sprachlichen Zugehörigkeit [ist ... eine] der Grunderfahrungen eines jeden Individuums“ (Haarmann 1996, 222). In der Funktion, „Gruppenidentität zu signalisieren“ (Besch/Wolf 2009, 113), ist sie zugleich ein sicheres und oft missbrauchtes Merkmal, um eine Ausgrenzung von Menschen vorzunehmen. So berichtet schon die alttestamentliche Überlieferung davon, dass eine konkrete Sprachform ein nicht zu verbergendes Mal sein kann, das eine Gruppenzugehörigkeit sicher erkennen und zum Mittel ethnischer bzw. gentiler Diskrimination werden lässt (zum ‚Schibbolet‘-Problem s. das ‚Buch der Richter‘ 12, 5‒6; zu weiteren Beispielen s. Gutknecht 2011 sowie Görlach 2000, 614). Solche Möglichkeiten zur Ein- und Ausgrenzung basieren auf der jeder natürlichen Sprache inhärenten Eigenschaft, innerhalb einer stets gruppenbezogenen Kommunikation spezifische und diese Gruppe dann auszeichnende Merkmale auszubilden (de Saussure 1967, 236).

1.2 Normative Selbstzuschreibung Jedes Volk glaubt gemeinhin „an die Überlegenheit seiner Sprache“ (de Saussure 1967, 229). Diese Selbstzuschreibung wird historisch moduliert, insofern sich die Sprachbewertung gemäß den sich verändernden Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsformen, innerhalb derer eine Gruppe von Menschen ihre Sozialität organisieren, ändert. Dabei erweist sich die Frage nach einer Existenz des Zusammenhangs von Sprache und Nation als eine erst neuzeitliche und stark durch den europäischen Nationalismus geprägte Entwicklung.

Sprache und Nation

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2 Historisch-mittelalterlicher Zusammenhang von Sprachbewertung und gentiler Selbstwertschätzung Seit den frühmittelalterlichen Anfängen des sich dann neuzeitlich in Nationalstaaten differenzierenden Europa zeigt sich eine dezidierte und innerhalb dieses historischen Prozesses dann auch wirksame soziale und d. h. gentil-gemeinschaftsbezogene Wertung von Sprache. In allen sprachgeschichtlichen Situationen der zentraleuropäischen Geschichte, in denen sich die einzelnen Volkssprachen vom dominanten Latein zu emanzipieren begannen, wurde dieser Prozess dadurch gefördert, dass sich die die jeweilige Volkssprache sprechende Gemeinschaft in einer Selbstzuschreibung positiv heraushob. Die Verwendung des jeweiligen indigenen Idioms wurde durch die Betonung des – immer im Vergleich zum Anderen – besonderen und herausragenden Wertes der dieses indigene Idiom sprechenden Gemeinschaft (als Gens oder ‚Volk‘) legitimiert. So lässt sich also auch in der Früh- oder Vorgeschichte der deutschen Sprache zeigen, dass man die Legitimität einer Nutzung der schon früh als ‚deutsch‘ (Zugehörigkeitsadjektiv: ‚zum Volk [ahd. thiot(a)] gehörend‘) bezeichneten Volkssprache über die positive gentile Wertung ihrer Träger zu leisten versuchte. Als der Mönch Otfrid von Weißenburg um 870 seine sog. ‚Evangelienharmonie‘ schuf (Erdmann 1973), da stellte er dem Text eine Begründung dafür voran, dass und warum er das Lob Gottes in frenkisga zungun (V 114) und d. h. nicht in Latein zu singen sich anschickte: Weil die Franken jenen Völkern (Kríachi job Romani, V 13), in deren Sprache das Lob Gottes bisher vorbildlich geleistet wurde, in Tapferkeit, Gottesfurcht und Weisheit (Vv 111‒112) in nichts nachstünden, dürfte es also auch ihnen nicht verwehrt sein, Gott in ihrer eigenen (únsera) Sprache zu preisen. Und deshalb  



fréwen sih es álle, joh so wér si hold in múate Thaz wir Kríste sungun ioh uuír ouh thaz gilébetun,

so wer so wóla wolle, Fránkono thíote, in únsera zungun in frénkisgon nan lóbotun.

(Vv 123‒126, ‚So können sich nun alle, die wohlgesinnt und auch dem Volk der Franken zugeneigt sind, freuen darüber, dass wir Christus in unserer Sprache besungen und dass auch erlebt haben, dass wir ihn in fränkischer Sprache gelobt haben’). Obwohl sich hier die selbstbewusste Überzeugung von der Würde der gentilen Sprache zum Ausdruck auch des Heiligen zeigt, ist darin gleichwohl noch nicht das Bewusstsein des Fränkischen als einer ‚Staatssprache‘ bzw. überhaupt einer sich sprachlich ergebenden gentilen oder gar auch staatlichen Identität angezeigt. So lässt sich insgesamt für die Frage des „Verhältnisses von Sprachgemeinschaft und Staatsund Nationenbildung [...] feststellen, daß dieses Thema für [das erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung ...] kaum Relevanz besitzt“ (Schmitt 2000, 1015). Und auch über die Jahrtausendwende hinaus lässt sich „der Gedanke einer Verbindung von Sprache

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und Nation [... auch deshalb] nicht belegen [...], da er eindeutig im Widerspruch zum Laterankonzil gestanden hätte“ (Schmitt 2000, 1018): Das Konzil von 1215 bestimmte (Concilium Lateranense 2007), dass in der Verkündigung des Wortes Gottes und in der Liturgie jeweils die Volkssprachen zu verwenden waren. Dieser Konzilsbeschluss hatte die jeweilige örtliche Diözese darauf verpflichtet, bei Vorhandensein ‚unterschiedlicher Sprachen im Volke‘ (populi diversarum linguarum) gerade nicht nur die eine dominante Sprache (Latein) zu verwenden, sondern sich zur Verkündigung des Wortes Gottes sowie zur rituellen Feier des Gottesdienstes auch dieser anderen Sprachen zu bedienen. Hier stand im kirchlich-religiösen Kontext somit allein die Funktion im Vordergrund, die Gläubigen tatsächlich auch erreichen und mit der Heilsbotschaft Christi vertraut machen zu können. Aus diesem Zusammenhang heraus hatte bereits auch Karl der Große gehandelt. Als er „die Verwendung der propria lingua, der Volkssprache(n), neben dem Lat. [...] in seinen Kapitularien“ gefordert hatte, geschah das mit dem rein funktional bestimmten Ziel, dadurch ein Verstehen der kirchlichen Gebrauchstexte zu ermöglichen (Geuenich 2000, 1147): Eine solche Übersetzungsarbeit wurde zuerst in der admonitio generalis vom 23. März 789 mit dem Argument gefordert, „ut quisque sciat quid petat a Deo” (‚Damit ein jeder verstehen möge, was er von Gott erbitte’) (Boretius 1883, 59). Doch auch wenn in dem politischen Handeln Karls des Großen nicht primär eine schon intentionale Förderung des Bewusstseins sprachlicher Gemeinschaft/Zusammengehörigkeit gesehen wird (Geuenich 2000, 1147), so stand sein diesbezügliches Wirken doch am Beginn jenes Prozesses, aus dem sich das neuzeitliche und in Nationalstaaten differenzierte Europa ergeben wird. Ohne die historischen Dimensionen der Entwicklung auch nur annähernd erahnen zu können, sahen ihn immerhin schon auch die Zeitgenossen als pater Europae (so im sog. ‚Paderborner Epos‘ von 799, Brockmann 1966). Insofern war eine gemeinschaftsbildende Funktion der geförderten Volkssprache evident und zweifellos auch im reichspolitischen Interesse Karls des Großen, sie lag jedoch vorrangig in der jedwede gentilen Zusammenhänge transzendierenden Herstellung einer Gemeinschaft der Gläubigen im Rahmen der einzigen und einigen Kirche. Denn zu einer solchen bekannten sich die Gläubigen im Gebet des seit dem 4. Jahrhundert (Konzile von Nicäa 325 und Konstantinopel 381) gültigen Credo stets aufs Neue, der entscheidende Vers lautet: „[Ich glaube] Et unam, sanctam, catholicam et apostolicam Ecclesiam“. Seit dem frühen 9. Jahrhundert wurde dieses Bekenntnis auch in der noch grundverschiedenen und somit keineswegs schon einheitlichen ‚deutschen‘ Volkssprache des alemannischen oder fränkischen Reichsteils abgegeben, so im sog. Weißenburger Katechismus (Gilaubiu [...] uuiha ladhunga allicha „ich glaube [...] an die heilige allgemeine Kirche“; Schlosser 1970, 220 f.) oder dem sog. St. Galler Credo (kilaubu [...] in uuiha khirihhun catholica; Braune 1979, 12). Gleichwohl wurden unterhalb einer solchen auf die einige katholische Christenheit zielenden Gemeinschaftsbildung die unterschiedlichen Volkssprachen des Karolingischen Reiches im praktischen Vollzug des politischen Erbes Kaiser Karls schon auch zum identifizierenden Symbol der westbzw. ostfränkischen Herrschaftsbereiche. Insofern die beiden Halbbrüder Karl der  

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Kahle und Ludwig der Deutsche, die in der gleichen Muttersprache aufgewachsen waren, am 14. Februar 842 in Straßburg ihren Beistandvertrag volkssprachlich und in der jeweiligen Sprache des Herrschaftsbereiches des Bruders beeideten („... Lodhuuicus romana, Karolus uero teudisca lingua iurauerunt“; Schlosser 1970, 290), wurde die Vereinbarung von beiden Seiten als eine Vereinbarung der ganzen Gens verbindlich, ‚deutsch‘ (vice versa auch ‚romanisch‘) fungierte als Signum einer schon vorgängig gegebenen und im Eid bestätigten Vergemeinschaftung. In solchen Fremd- und Eigenbezeichnungen mag bereits „eine tiefere, bereits rationalisierte Identifikation des handelnden Subjekts mit seinem Land“ gesehen werden (Schneidmüller 1983, 91; zit. nach Schmitt 2000, 1018), ein bewusster Zusammenhang staatlicher durch sprachliche Einheit ist jedoch bis in das Hochmittelalter hinein nicht anzunehmen, …denn der mittelalterliche Staat verstand sich nicht als kommunikative Einheit, in der die Zentralgewalt ein besonderes Interesse am Informationsaustausch der Gruppen untereinander hatte. (Schmitt 2000, 1017)

So stellt Schmitt (2000, 1024) für den romanischen Sprachraum fest, dass sich „bis zum Hochmittelalter keine Konvergenz zwischen den Frühformen der Nationen und den dominierenden Sprachräumen erkennen“ lässt. Diesbezüglich ist für den deutschsprachigen Raum des Hochmittelalters eher von „einem ahnenden Zusammengehörigkeitsgefühl diutisk, tiutisch, deutsch“ zu sprechen (Besch/Wolf 2009, 108), das dann aber immerhin dazu führte, dass in der um die Mitte des 12. Jahrhunderts verfassten sog. Kaiserchronik im Zusammenhang der historischen Herleitung der eigenen Gegenwart Karl der Große als erster Römischer Kaiser von Diutisken landen (Vers 14819) bezeichnet und damit eine über den Gentes liegende nationale Zugehörigkeit apostrophiert wurde (Schröder 1895, 350); damit hatte „das dt. Sprachadj. die Beschränkung auf den Sprachbezug überwunden“ (Reiffenstein 2003, 2198). Für eine solche ‚nationale Zugehörigkeit‘ bleibt somit auch die Herkunft und nicht die Sprache bis ins Spätmittelalter hinein das erststellige Kriterium: „Sprache wird nicht primär als Nationalitätsmerkmal aufgefaßt“ (Hartweg 2003, 2779). Die Fixierung auf die Herkunft bleibt auch dem Humanismus des späten 15. Jahrhunderts eigen. So qualifiziert Schilling (2012, 268) das zeitgenössische Interesse an den Ursprüngen der Franzosen bei den Galliern, der Niederländer bei den Batavern, der Schweden bei den Goten, der Deutschen bei den Germanen und so fort

als ‚alteuropäischen nationes-Kult der Humanisten‘. Insofern jedoch „im deutschen Humanismus die nationale Rückverlängerung der eigenen Volksgegenwart in die Stammesgeschichte der Germanen“ steht, wird darin die „Grundvoraussetzung“ des dann seit dem 16. Jahrhunderts einsetzenden „sprachgeschichtlichen Denkens“ gesehen (Sonderegger 1998, 420), welches seinerseits den Zusammenhang von herkunftsbestimmter Nation und sprachlich bestimmter Gruppenzugehörigkeit fokussiert.

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3 Historisch-neuzeitlicher Zusammenhang von Sprache und Nation 3.1 Von frühneuzeitlichen Formulierungen eines Zusammenhangs von Sprache und Nation bis zum Konzept einer ‚Nationalsprache‘ Bis in den Humanismus des späten 15. Jahrhunderts hinein ist ein allgemeiner Zusammenhang zwischen einer Reflexion und Bewertung von Sprache und ihrer Bindung an soziale Gemeinschaften zu beobachten; ein intentionaler und als solcher auf eine gesellschaftspolitische Identitätsbildung zielender Zusammenhang entstand jedoch erst in der Neuzeit. Mit der Herausbildung einer arbeitsteilig organisierten, zunehmend verrechtlichten und unterschiedliche Formen der organisierten Partizipation aufweisenden Gesellschaft entstand seit dem Frühneuhochdeutschen (ausführlich Solms 2014a) jene autonome Einzelsprache, deren wesentliches Merkmal im Sinne der ‚Vergesellschaftung‘ in ihrer Funktion zur ‚soziokulturellen Identitätsstiftung‘ liegt (Dressler 1988, 1558). Die Herausbildung eines vergesellschafteten und d. h. eines situationsunabhängigen, polyvalenten, überregionalen und allen Menschen eines Territoriums verfügbaren Mediums ergab sich somit erst auf einer entwickelteren Stufe der sie zugleich mit ermöglichenden europäischen Staatenbildung mit einer im Ergebnis schließlich herausgebildeten ‚Nationalsprache‘. Dabei handelt es sich um eine ein- und abgrenzbare Einzelsprache, die aufgrund spezifischer „Qualitäten [...] als Nationalsprache interpretiert“ werden kann (Reichmann 1980, 515); solche ‚Qualitäten‘ ergeben sich  

aus dem Ansatz eines engen Zusammenhangs zwischen Sprache und einer Reihe anderer Größen, insbesondere dem Sprachvolk, dem Kulturvolk und dem Staatsvolk. Historisch gesehen waren Zusammenhänge dieser Art in der deutschen und in Teilen der europäischen Geschichte der Neuzeit so zentral, daß sie als nicht bezweifelbare fixe Argumentationsvoraussetzungen behandelt werden konnten: in Definitionen des Landes nach der Verbreitung der Sprache (seit den Humanisten des 16. Jhs.) und in propagandistischen Doppelformen des Typs ‚Sprache und Nation‘ (z. B. [Wolfgang Ratichius/] Ratke 1612 [‚Frankfurter Memorial‘ vom 7. Mai 1612 an den Reichstag, so aufgenommen in Helvicus 1614, 24]) ebenso wie in der Auffassung vom kultur- und potentiell staatsnationalen Zweck der Sprachpflege des 17. bis 19. Jhs. und der zumindest für das 19. und 20. Jh. gültigen politischen Maxime cuius regio eius lingua einschließlich ihrer Umkehrung in cuius lingua eius regio. (Reichmann 1980, 515; s. auch Mattheier 2000a, 1087 f.). [Der Verweis auf Ratke bezieht sich auf dessen pädagogisches Programm, von dem er überzeugt schrieb, dass es gleichermaßen – und in einem Zusammenhang genannt – „die teutsche sprach vnd nation mercklich zu beßern vnd zu erheben” in der Lage sei (aus dem ‚Memorial‘, zit. nach Niemeyer 1841, 16).]  



Im Zusammenhang der neuzeitlichen Staatenbildungen hatte nicht nur in Deutschland eine den Fokus auf die Sprache legende Entwicklung eingesetzt. An verschiedenen Orten Europas waren Sozietäten mit dem Ziel gegründet worden, die jeweils

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eigene Sprache zu pflegen, zu fördern, zu verbessern. Und solche Gründungen geschahen mit unmittelbarem Bezug auf einen jeweiligen staatspolitisch-gesellschaftlichen Hintergrund. Das zeigt besonders die 1635 gegründete Académie française, deren Gründer Kardinal Richelieu, die politische Zentralfigur der Zeit, war. Und es gehört bis heute zum Selbstverständnis der Französischen Republik, dass die Gründung der Akademie der staatspolitisch gebotenen Vereinheitlichung der zur zentralen Verwaltungssprache bestimmten französischen Sprache dienen sollte; zeitgleich hatte König Franz I (1539: Ordonnance von Villers-Cotterêts) Französisch zur Sprache der Verwaltung und Justiz im gesamten Königreich bestimmt. So hatten auch die in der Folge der Gründung der Académie française entstandenen lokalen Akademien u. a. in Arles oder Toulouse eine vordringlich staatspolitische Aufgabe: „Als dem König unterstellte Einrichtungen sollen [... sie] in erster Linie zur Verbreitung seiner Sprache, der Nationalsprache, beitragen“ (Polzin-Haumann 2008, 1477). Dass es bis heute zum Selbstverständnis der Französischen Republik gehört, in diesem Zusammenhang die eigene, die französische Sprache „als gemeinsames Erbe aller Franzosen und französischsprachigen Menschen“ zu definieren (so die Darstellung auf der Website der Diplomatischen Vertretung Frankreichs in Berlin, Frankreich in Deutschland 2016), darf als erst jüngere Entwicklung verstanden werden. So stand ein solcher identitätsstiftender Anspruch auch bei der 1583 in Florenz gegründeten Accademia della Crusca kaum im Vordergrund; und doch erwies sich das von ihr 1612 vorgelegte Vocabolario schließlich historisch als ein solch unintendiert wirksam gewordenes Symbol: Denn in einem politisch und sprachlich zerteilten Italien repräsentierte das Wörterbuch über mehrere Jahrhunderte in der gemeinsamen Sprache „the strongest internal bond of the Italian community“ (Accademia della crusca 2011). So zeigt sich für Frankreich, Italien, Spanien wie für Deutschland, dass die Praxen der Sprachgesellschaften in der Frühen Neuzeit Teil einer „Entwicklung von Nationalkultur“ waren (von Polenz 1994, 116 mit Blick auf die deutschen Verhältnisse): Aus dem Kreis der für den deutschsprachigen Raum führenden und „ersten kulturpatriotisch motivierten deutschen Sprachgesellschaft“ (Stukenbrock 2005, 1), der Köthener Fruchtbringenden Gesellschaft, erklärte der Grammatiker Justus Georg Schottelius „die Nationalsprache zur Grundlage eines funktionierenden Staatswesens“ (Roelcke 2000, 146). Und auch in der dann im 18. Jahrhundert „im Gefolge von Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff“ vorangetriebenen „Ausbildung der dt. Redekunst wie überhaupt der dt. Sprache [sah man ...] eine Voraussetzung für die Herausbildung einer künftigen dt. Nation“ (Löffler 2000, 1973). Entsprechend findet Roelcke (2000, 145) die Doppelform ‚Nation und Sprache‘ schon im 17./18. Jahrhundert häufig belegt, für Stukenbrock (2005, 21) gab „es einen Sprachnationalismus [...] lange bevor die politische Nationsvorstellung in Deutschland virulent wird“ (vgl. auch Roelcke 2000, 143 ff.). Im gleichen Maße, in dem die Bemühungen um eine sprachliche Einigung zur Entstehung funktionierender Staatswesen beitragen sollten, haben jedoch auch die  



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meisten [in Europa] zu beobachtenden Sprachkonfliktsituationen [...] ihren Ursprung in dem im 16. Jahrhundert aufkommenden und sich im 19. Jahrhundert fest etablierenden Nationalstaat (Dirven/Pütz 1996, 684),

so nicht nur in Belgien (Wallonen/Flamen) oder Spanien, das „nicht mehr über eine Nationalsprache verfügt, zugleich jedoch über mehrere ‚Nationalitätensprachen‘ (Galicisch, Baskisch, Katalanisch)“ (Lebsanft 2000, 645), sondern auch im 19. Jahrhundert in Frankreich: Die Vernichtung der anderen Sprachen Frankreichs ‚gelingt‘ im 19. Jahrhundert so weitgehend, daß heute das Französische [...] die unangefochtene ‚Sprache der Republik‘ ist, neben der die ‚Regionalsprachen‘ ein mühsames Schattendasein fristen. (Lebsanft 2000, 647)

3.2 Konzeptuelle Wirksamkeit eines Zusammenhangs von Sprache und Nation seit dem 19. Jahrhundert Die jüngere Umkehrung des cuius lingua eius regio verweist auf den besonderen und so bereits auch bei Ratke angesprochenen Zusammenhang von Sprache und Nation. Auch wenn angenommen werden kann, dass es in Deutschland einen Sprachnationalismus lange vor einem politischen Nationalismus und d. h. bereits seit dem Barock gab (vgl. Stukenbrock 2005, bes. 21), so wird der Zusammenhang von Sprache und Nation jedoch erst später historisch wirksam, insofern sich das Konzept von  

‚Sprache als Seele einer Nation‘ [Hobsbawm 2005, 114] [...] in Europa erst im 19. Jahrhundert etablierte und [...] spätestens nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zum dominanten Strukturprinzip für die Entstehung neuer europäischer Nationalstaaten wurde. (Lange 2008, 115)

So gehen nationale Identitätskonstruktionen historisch nicht wesentlich hinter das 19. Jahrhundert zurück, erst seit dieser Zeit sind die beiden Konzepte von Nation und Sprache in ein dann allerdings auch historisch wirksames Verhältnis getreten. Für alle beschreibbaren Zustände davor gilt, dass Nation und Sprache [...] weithin noch in einem sozusagen naiven Verhältnis zueinander[stehen], nicht nur, aber auch nicht zuletzt deshalb, weil Nation semantisch wie tatsächlich eine diffuse Kategorie ist. (Ehlich 2014, 6)

Der Zusammenhang weist wesentlich zurück in „die Revolution von 1789“, insofern durch „das Instrument der Guillotine“ ein Legitimationsvakuum geschaffen wurde, welches „es durch andere, neue Begründungszusammenhänge auszufüllen galt“ (Ehlich 2014, 7). Allerdings gab es für den Raum des deutschen Reiches „schon vor der französischen Revolution“ publizierte Äußerungen, die auf einen ‚echten Reichszusammenhang‘ mit ‚gemeinsamem Vaterlandsgeiste‘ und der Erfüllung des Wun-

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sches zielten „eine Nation“ zu sein und eine „Bundesrepublik“ zu werden (Siemann 1995, 297 mit Verweis auf eine anonyme Flugschrift von 1785). Tatsächlich zeigte sich in Europa erst eine seit den „1790er Jahren wirksam“ werdende neue Haltung: Sie beruht auf einfachen, allgemeinen Grundideen [...:] Die Nation [...] ist der primäre Bezugspunkt individueller Loyalität und der maßgebende Rahmen für Solidaritätsbildung. Eine Nation muss daher klare Kriterien der Zugehörigkeit zum [ansonsten anonymen] Großkollektiv formulieren [...]. (Osterhammel 2009, 581)

Im konkreten historischen Zusammenhang u. a. Frankreichs, „in dem sich Staat und Nation deckten“, konnte dies die subjektive Zustimmung des Bürgers zu den Ideen, Werten und Prinzipien des Staates sein, so dass „Franzose war, wer sich zu den Ideen von 1789 [...] bekannte. Ein Royalist, ein Konterrevolutionär war demgemäß kein Franzose, wohl aber ein Elsässer, ein Lothringer, mochte er auch deutsch sprechen“ (Siemann 1995, 298). Im konkreten historischen Zusammenhang einer „Nation ohne Staat“, in der sich aufgrund der Dominanz autonomer Territorien die Herausbildung „einer Staatsnation wie in Frankreich oder England“ nicht hatte ereignen können, wurde die Nation in Deutschland über ‚kulturelle Traditionen‘ bestimmt (Siemann 1995, 299; zum Begriffspaar Staatsnation vs. Kulturnation bzw. objektiv-kultureller vs. subjektiv-politischer Nationsbegriff vgl. zusammenfassend Stukenbrock 2005, 50 ff.). Dies war  



die Stunde von Sprache und Nation. Es entwickelt sich staatstheoretisch wie gemeinschaftspraktisch jenes Ensemble von Konzepten, das treffend als ein großes gesellschaftliches Projekt, als das ‚Projekt Nation‘, beschrieben wird (Ehlich 2014, 7);

denn „Nationen [...] sind nicht einfach ‚da‘, als historische Entitäten, sondern sie werden dort geschaffen, wo nach ihnen verlangt wird [...]“ (Gardt 2000a, 2). Und dies nicht nur in Deutschland, Hinweise u. a. auch auf Norwegen oder Katalonien erweisen die „in vielen Regionen Europas stattfindenden nationalistisch motivierten kulturellen und zunehmend politischen [Kämpfe ...] intellektueller Gruppen für eigenständige Nationen und Standardsprachen“ als einen Teil der europäischen Ideengeschichte (Schulz 2011, 257; zu Norwegen vgl. auch Sandøy 2000, bes. 889 ff.). „Bestrebungen nach nationaler Selbstbestimmung und Unabhängigkeit“ zeigten sich „in der deutschen, tschechischen, ungarischen und italienischen Nationalbewegung“ (Siemann 1995, 365). Dabei war die Frage der Nation in Deutschland bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus vorwiegend ein gesellschaftliches Projekt, zu dem die staatliche Entwicklung nur teilweise koinzidierte, sie partiell sogar „überholte“ (Siemann 1995, 361). Als Katalysator für das ‚große gesellschaftliche Projekt‘ hatten die Freiheitskriege gegen Napoleon gewirkt, die eine „die Einzelstaaten überspannende Öffentlichkeit“ (Siemann 1995, 331) und ein „Nationalbewusstsein“ erzeugt hatten, „in dem Deutschland nicht mehr als ein Gefüge von Grafschaften, Städten und Fürstentümern erschien, sondern als etwas Zusammenhängendes“ (Siemann 1995, 305). Das Symbol des Zusammenhängenden hatte Ernst Moritz Arndt in seinem Lied ‚Des  



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Deutschen Vaterland‘ (1813), das „zur heimlichen Hymne der Nation“ wurde, unzweifelhaft benannt: In ihm vereinigen sich vor allem die Merkmale des kulturellen Nationalismus, da es die gemeinsame Geschichte, Sprache und Literatur beschwört. Die Zugehörigkeit zur Nation wird mit territorialen Landschaften verbunden, ohne dass die politische Zustimmung der einzelnen Bevölkerungen erfragt werden müßte. (Siemann 1995, 307)

Die Antwort auf die im Lied gestellte Frage „Was ist des Deutschen Vaterland?“ wird eindeutig gegeben: „So weit die deutsche Zunge klingt“. Dies „stiftete langfristig einen politisierten Kulturnationalismus“ (Siemann 1995, 308), der „Resultat einer massenhaften Bewusstseinsbildung und Identitätsformung ‚von unten‘, [und noch nicht ...] das Produkt eines konzentrierenden Machtwillens ‚von oben‘ [war]“ (Osterhammel 2009, 583). Nicht zuletzt aufgrund der Ideen der Französischen Revolution und der Erfahrungen der Freiheitskriege gegen Napoleon hatte das republikanische Projekt des „politisierten Kulturnationalismus“ einen durchgängig emanzipatorischen Charakter, der sich besonders auch in dem von Jakob Grimm vorgeschlagenen Präambelentwurf für die Paulskirchenverfassung zeigte: „Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei“. Ob nun voluntaristisch vorbereitet und also Teil eines nationalpädagogischen Bildungsprogramms oder auch nur sozioanthropogen und d. h. durch eine menschliche ‚Sehnsucht nach sozialer Identität‘ induziert, deutlich ist, dass im neuzeitlichen Prozess der – nicht nur europäischen – Nationalstaatenbildung das Bewusstsein der gemeinsamen Sprache zu einem wichtigen politischen Faktor wurde: „So wurde die slowenische Nation buchstäblich aus dem Wort geboren“ (Prunk 2008, 244) und für das Zarentum „war die russische Sprache die wichtige kulturelle Klammer des Imperiums“ (Osterhammel 2009, 1110). Dabei zeigt u. a. das Beispiel Koreas, dass die Bindung von Sprache und Nationenbildung ein globales Phänomen ist: Es war die Pflege der koreanischen Sprache, die „einen kulturellen Raum für die Artikulation eines entstehenden Nationalismus“ eröffnete (Osterhammel 2009, 1268). Sprache und Spracharbeit erzeugte den ‚maßgebenden Rahmen für Solidaritätsbildung‘ und dies in vielen Kulturkreisen:  



Wenn Wissenschaftler und Intellektuelle in asiatischen Ländern – im Osmanischen Reich nach ersten Forderungen um 1862 verstärkt nach der Jahrhundertwende, in China nach 1915 – vereinfachende Reformen von Sprache, Schrift und Literatur in Gang setzten, die den tiefen Graben zwischen Elite- und Volkskultur überwinden sollten, dann taten sie nur das, was wenige Jahrzehnte zuvor oder gar gleichzeitig in europäischen Ländern unternommen worden war. (Osterhammel 2009, 1117)

Wie sehr in der Sprachbindung eine wesentliche Bedingung historischer Existenz gesehen wird, zeigt das Beispiel Armeniens: „Das armenische Volk verdankt sein Überleben [...] nicht zuletzt seiner Sprache und deren Fixierung durch eine eigene

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Schrift“ (Drost-Abgarjan/Pehlivanian 2012, 16). So wie die historische Existenz auch über die Sprache gesichert werden konnte, so liefert die Menschheitsgeschichte zahlreiche Beispiele dafür, dass unabhängig davon, ob es sich um die physische Ausrottung einer Elite handelt [...], oder ob es um die planvolle Massenvernichtung ethnischer Gruppen geht [...], immer auch [...] die sprachliche Identität betroffen ist. (Haarmann 1996, 232)

Für den deutschsprachigen Raum und im Zusammenhang der um 1848 ausgetragenen politischen Auseinandersetzung um einen deutschen Nationalstaat (klein-/großdeutsche Lösung) erwies sich der deutlich programmatisch formulierte Zusammenhang zwischen der gemeinsamen Sprache und dem als Einheit zu schaffenden staatlichen Gebilde sehr eindrücklich in Jacob Grimms berühmter und auf dem Germanistentag 1846 gestellten Frage nach dem, was ein Volk sei; doch war nicht so sehr die Frage, als vielmehr die Antwort wesentlich: ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden. Das ist für uns Deutsche die unschuldigste und zugleich stolzeste Erklärung, weil sie [...] jetzt schon den Blick auf eine näher oder ferner liegende, aber ich darf wohl sagen einmal unausbleiblich heranrückende Zukunft lenken darf, wo alle Schranken fallen und das natürliche Gesetz anerkannt werden wird, daß nicht Flüsse, nicht Berge Völkerscheide bilden, sondern daß einem Volk [...] seine eigene Sprache allein die Grenze setzen kann. (Grimm 1884, 557; s. auch Adelung 1782, 5: „Die Sprache ist das wichtigste Unterscheidungsmerkmahl eines Volkes“)

Dieses Wort Jacob Grimms vom erhofften ‚Fall aller Schranken‘ und der ‚Anerkennung des natürlichen Gesetzes‘ erweist die der Paulskirchengeneration innewohnende Überzeugung, dass der zu schaffende ‚Staat mehr als nur eine rechtliche Struktur‘ sein sollte (Tooze 2014, 51, s. o.). Ganz in diesem Sinne fragte Jacob Grimm (1854, III) dann im Vorwort seines 1854 vorgelegten Deutschen Wörterbuchs: „was haben wir denn gemeinsames als unsere sprache und literatur?“. Dass diese Fragen überhaupt und zwar notwendigerweise gestellt werden mussten, erklärt sich vor dem Hintergrund der unterschiedlichen deutschen zu u. a. der französischen Entwicklung. Angesichts einer zentralistisch organisierten und ein einheitliches Staatsvolk in sich fassenden Staatlichkeit konnte sich nach der französischen Revolution nurmehr nachvollziehend eine staatsnationale Identität herausbilden, wohingegen in Deutschland bis weit über die Paulskirche hinaus eine die Deutschen einende Staatlichkeit als republikanisches Projekt erst voluntativ entwickelt werden sollte. Und den Schlüssel, mit dessen Hilfe man den ersehnten Raum zu betreten hoffte, glaubte u. a. Jacob Grimm über die besondere Bestimmung des den Grund für eine einende Staatlichkeit bildenden Volkes zu liefern. Die von ihm gestellten Fragen lieferten zugleich die Antwort und die Lösung. In ihr sah Grimm die Erfüllung einer seit den Befreiungskriegen in weiten Teilen der Gesellschaft vorhandenen  





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sehnsucht [...] nach den gütern, die Deutschland einigen und nicht trennen, die uns allein den stempel voller eigenheit aufzudrücken und zu wahren im stande sind. (Grimm 1854, VII)

Und eben dies sah Grimm insbesondere auch in der Sprache. Und das nicht nur funktional im Sinne des überregionalen Zeichensystems, sondern vielmehr im Sinne der symbolischen Repräsentation der „sentimentalen und deklarativen Werte“ der Zusammengehörigkeit (Daneš 1988, 1509). Denn die „nationale Einigung, von der man 1848/49 sprach, war im wesentlichen die Einheit im Inneren, die innere Nationenbildung“ (Siemann 1995, 375), deren Fernziel in der Schaffung eines „nationalen Staates“ lag (Mommsen 2002, 61) und auf den hin intentional-funktional eine Reihe von ‚kulturellen Nationalsymbolen‘ geschaffen wurden, so auch die „sich langsam konkretisierende Idee, ein als Nationalsymbol geeignetes Wörterbuch“ zu schaffen (Haß-Zumkehr 1998, 353; vgl. auch Haß-Zumkehr 2000, 229; vgl. dazu auch das o.a. Beispiel Italiens). Das Fernziel wurde dann jedoch in Deutschland nicht voluntativkulturnational, sondern als Ergebnis machtpolitischen Handelns in der Reichsgründung 1871 erreicht. Der expliziten Begründung eines einheitlichen Sprachvolkes bedurfte es dafür nicht; die Formulierung eines solchen war offensichtlich evident, da die Verfassung bezeichnenderweise keinen Hinweis mehr auf ‚nicht deutsch redende Volksteile‘ enthielt. Ein solcher Hinweis war im voluntativen Prozess der Staats-, Volks- und Nationenbildung noch nötig, so dass die Reichsverfassung vom 28. März 1849 eine entsprechende und die Sprache berücksichtigende Regelung vorsah. So konzedierte § 188, dass zum Reich auch ‚nicht deutsch redende Volksstämme‘ gehörten: Den nicht deutsch redenden Volksstämmen Deutschlands ist ihre volksthümliche Entwickelung gewährleistet, namentlich die Gleichberechtigung ihrer Sprachen, soweit deren Gebiete reichen, in dem Kirchenwesen, dem Unterrichte, der inneren Verwaltung und der Rechtspflege. (Verfassung des deutschen Reiches)

Gleichwohl liefert die geschichtliche Entwicklung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine historisch-empirische Validierung der politischen Wirksamkeit des erststellig an Sprache orientierten kulturnationalen Konzeptes in der Herausbildung einer Nation: der luxemburgischen Nation. Die Entwicklung unterschied sich jedoch von den historisch parallelen Verhältnissen in Deutschland, insofern der kulturnationalen Identitätsfindung Luxemburgs die willentliche Entscheidung (und nicht durch einen staatlichen Akt der Machtausübung) für eine vorab existierende Staatlichkeit vorausging. Es stellt nur scheinbar eine historische Parodoxie dar, dass die historisch erfolgreiche Wirksamkeit des Konzepts ‚Sprache und Nation‘ und d. h. die erfolgreiche Nutzung des gerade in Deutschland entwickelten Konzeptes kulturnationaler Identitätsfindung in Luxemburg nur gelang, indem und insofern man sich von der politischen Entwicklung eben dieses Deutschlands bewusst abkoppelte. Nur scheinbar, weil historisch oft bestätigt, dass Entwicklungen dialektisch ihren eigenen Widerspruch erzeugen, so dass sich die luxemburgische Entwicklung folgerichtig aus  

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der preußisch-deutschen ergab: „Durch ihren eigenen Nationalwahn erweckten sie den der unterworfenen Völker“ (Werfel 1933, 512). Zumindest für die luxemburgische Geschichtsschreibung gilt klar und deutlich, wie das luxemburgische Nationalgefühl aus der Opposition gegen den mächtigeren Nachbarn, in diesem Falle Preußens, herauswächst. (Hoffmann 1979, 9)

4 Luxemburg 4.1 Sprache als Ausdruck nationaler luxemburgischer Integrität und Loyalität Die historische Entwicklung Luxemburgs und ihre letztlich über die Sprache erreichte nationale Identitätsfindung bestätigt die politische Wirksamkeit der in der gemeinsamen Sprache symbolisierten ‚sentimentalen und deklarativen Werte der Zusammengehörigkeit‘. Sie hat sich besonders überzeugend in der jüngeren politischen Geschichte Luxemburgs erwiesen: Nach der Besetzung Luxemburgs durch die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 wurde das Land unter die Zivilverwaltung des Gauleiters für Koblenz-Trier, Gustav Simon, gestellt. Dieser initiierte 1941 eine „großangelegte Personenstandsaufnahme“ in Luxemburg mit dem Ziel, von den Luxemburgern ein Eingeständnis deutscher Volkszugehörigkeit zu erlangen (Fröhlich/Hoffmann 1996, 1161). Dies sollte durch subtile Fangfragen zur Staats- und Volkszugehörigkeit sowie zur Muttersprache der Luxemburger geschehen: einen luxemburgischen Staat gebe es ja nun nicht mehr, die Zugehörigkeit zum deutschen Volk sei offensichtlich und als Muttersprache könne man aus wissenschaftlichen Gründen nur eine Hochsprache angeben. (Berg 1993, 17 f.)  

Durch diese erläuternde Vorangabe sollte suggeriert werden, dass die Antwort nur dreimal ‚deutsch‘ lauten konnte. Aber dieser versuchten Vereinnahmung widerstanden die Luxemburger mit einem hunderttausendfach auf illegalen Flugblättern publizierten Aufruf, der da lautete: „Mir wëlle bleiwe, wat mir sin“. Und „mit verblüffender Einmütigkeit [wurden] alle Fragen mit ‚Luxemburgisch‘ (oder gar ‚Lëtzebuergesch‘) beantwortetet“ (Berg 1993, 17 f.), wurde „driemol lëtzebuergesch“ ausgefüllt (Fröhlich/Hoffmann 1996, 1161). Ganz unabhängig von jedweder staatlichen Existenz, die Simon explizit als nicht vorhanden aufgerufen hatte, wurde die Frage als eine Frage der Volksidentität beantwortet. Die Befragung wurde kurzerhand abgebrochen. In der luxemburgischen Nationalgeschichte gilt dies als ein herausragender nationaler Widerstandsakt und als ein Beispiel „für die beachtliche soziale Identifikationsfunktion der Sprache“ (Berg 1993, 18). Die historisch beeindruckend erwiesene Sprachloyalität besteht bis heute fort. Angesichts enormer demographischer Veränderungen zielte neuere Forschung auf  

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Einsichten in gegenwärtige Prozesse von Identitätskonstruktionen in Luxemburg (IPSE 2000). Von dieser Studie, die ‚Identität‘ als einen nicht abgeschlossenen, gleichwohl aber politisch und gesellschaftlich zu vollziehenden Prozess versteht, erwartete die luxemburgische Öffentlichkeit u. a. eine Antwort auch auf die Frage: „Was charakterisiert denn nun die Luxemburger und Luxemburgerinnen“ (IPSE 2010, 7). Im Fokus der Untersuchung stand auch die Sprache, wobei die dafür ausgewiesenen Gründe schon aus dem 19. Jahrhundert bekannt sind (Gilles et al. 2010, 64 f.): Sprache als Konstituente für Identität, als Mittel der gesellschaftlichen Wertzuschreibungen jenseits der kommunikativen Leistungsfähigkeit, als Mittel der Selbstbehauptung und auch Fremdbestimmung, als mit Emotionen und Wertzuweisungen verknüpft, so dass „die wechselnden Sprachdiskurse häufig tief verankerte Gefühls- und Bewusstseinslagen wider[spiegeln]“ (Gilles et al. 2010, 64). Im Ergebnis bestätigt die Studie „die ausgeprägte Loyalität der Luxemburger gegenüber dem Luxemburgischen“ (Gilles et al. 2010, 65). Hier zeigt sich für Luxemburg die ganz selbstverständliche Aktualität der Frage nach dem Zusammenhang von Sprache, Nation und nationaler Identität.  



4.2 Die Entwicklung des ‚Luxemburgischen‘ zur Grundlage nationaler Identität Wie sehr ein solches Denken gerade zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als zeitgenössisch betrachtet werden kann, wie tagesaktuell eine solche und von Jacob Grimm prominent publizierte Sprachreflexion zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Luxemburg war, das zeigen entsprechende Äußerungen in der Luxemburgischen Tagespresse der Zeit (die älteste Luxemburgische Tageszeitung, das ‚Luxemburger Wort‘ (LW), erscheint erstmals am 23. März 1848). Dabei ist der Blick auf die Tagespresse methodisch besonders sinnvoll, da sie in den politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen „wie ein Seismograph [wirkten]; sie registrierten öffentliche Stimmungen“ (Siemann 1995, 371), die sie andererseits auch mit gestalteten. Als aus „dem tiefsten Wesen des Menschen [quellend]“ wird die Sprache bezeichnet, so dass „ein Volk [...] seinen Charakter [verliere], wenn es nicht seine geschichtlich überlieferte Nationalsprache vollkommen [spreche und ehre]“ (LW vom 20.6.1851). Weil unsere Sprache „[d]er volle Athem unserer Seele, der treueste Abdruck unseres Wesens [sei]“, wird behauptet: „was wir sprechen, das sind wir“ (LW vom 21.10.1885 sowie ähnlich im ‚Wächter an der Sauer‘ vom 5.1.1869). Aus einer solchen Überzeugung heraus wird auch die internationale politische Situation der Zeit beurteilt, so dass es über die russische Politik gegenüber Polen heißt, dass das zaristische Russland „das sicherste Mittel gefunden hat [... ,] den Mord dieser edlen Nation zu vollenden [...]: die Verdrängung der Volkssprache“ (LW vom 4.1.1871). Ohne eine solche Wertung wird immerhin auch im sog. zweiten deutsch-dänischen Krieg daran erinnert, dass Dänemark systematisch versucht habe, in Holstein die (deutsche) Volkssprache aus Schule und Kirche zu verdrängen (LW vom 24.5.1866); so hatte „die

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Schmälerung des Ranges und der Bedeutung der dt. Sprache [...] im [ersten] dt.-dän. Krieg von 1849 [dazu geführt ...] kriegerische Handlungen aus[zu]lösen“ (Mattheier 2000b, 1957). Die in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichende Nationalgeschichte Luxemburgs zeigt bezüglich des Verhältnisses von Sprache, Nation, Nationalität und Territorialität, dass sich bei gleichbleibender Bevölkerung der konkrete Bezugspunkt nationaler Identität und damit diese selbst komplett verändern konnte, ohne dass der grundsätzliche Bezugspunkt Sprache sich verändert hätte; dieser wurde nur anders fokussiert. Damit beweist die Geschichte Luxemburgs gerade bezüglich des Zusammenhangs von Sprache und Nation die gängige Einsicht, dass es sich hier um „Konzepte [...] in Veränderung“ handelt (Ehlich 2014, 3); die Geschichte Luxemburgs beweist zudem die funktionale Wichtigkeit des Konzepts Sprache für das Konzept Nation. Gemeint ist die das 19. Jahrhundert durchgängig und aufgrund der muttersprachlichen Zugehörigkeit behauptete Zugehörigkeit der Luxemburger zur deutschen Nation, die aber keine Zugehörigkeit des Luxemburger zum deutschen Volk einschloss: Volks- und Nationalidentität erschienen getrennt. Erst mit einer sich verändernden Wertschätzung der eigenen und vorgängig mundartlichen Volkssprache wurde ‚Volk‘ nun auf diese hin und durch diese bestimmt; hier musste späterhin der Gauleiter Simon scheitern, weil im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Luxemburg ein sehr eigenständiges und unabhängig zur Staatlichkeit zu sehendes Verständnis herausgebildet war: auch bei Verlust der Staatlichkeit blieb die Nation erhalten. Obwohl die Volkssprache zum Signum patriotischer Gesinnung in Luxemburg geworden war, kam es aufgrund der pluralen Gültigkeit mehrerer Sprachen gleichwohl nicht dazu, die territoriale und politische luxemburgische Staatlichkeit auf nurmehr die eine identitäre Volkssprache zu beziehen, beides konnte getrennt sein. Damit verschoben sich die Koordinaten der Bestimmung von Muttersprache und mit ihr eine neue Engführung von Sprache, Nation, Volk und einer partiell unabhängig zu beurteilenden Staatlichkeit. Die geschichtliche Entwicklung darf als modellhaft dafür gelten, dass ein emanzipiert sprachnationales Selbstbewusstsein formuliert werden kann, welches in Anderssprachigkeit keinerlei Gefährdung einer nationalen Identität sieht. Diese knapp beschriebene Entwicklung spiegelt sich als alltäglicher Diskurs in der luxemburgischen Presse des 19. Jahrhunderts (LW, vom Ersterscheinen am 23. März 1848 bis Ende 1899). Darin erweist sich, dass die bis weit über das 19. Jahrhundert zurückreichenden und anfänglich nur gelehrten Konzepte um den Zusammenhang von Sprache und Nation sowie die politisch wirksame Reflexion von Sprache im Zusammenhang gesellschaftspolitischer Identitätsbildung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Teil des Alltagsdiskurses und also auch des Alltagswissens wurden. In einer nahezu unüberschaubaren Anzahl tauchen die Stichwörter Sprache, Mundart, Muttersprache, Dialekt im Zusammenhang der Stichwörter Volk, Nation, Nationalität auf. Wie sehr Sprachfragen unterschiedlicher Art die Menschen der Zeit berührt oder interessiert haben, zeigt die Anzahl von nahezu 23.000 solcher Stichworttreffer im betrachteten Zeitraum. Dass die Menschen die Sprachen-

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frage so berührte, hatte seinen Grund auch in der Verfassung vom 20. März 1848, die die für Luxemburg schon historische und bis ins Mittelalter zurückreichende Sprachenfrage (1340 erfolgt mit der Teilung in ein ‚Quartière wallon‘ und ein ‚Quartière allemand‘ eine erste amtliche „Zurkenntnisnahme der sprachlichen Gegebenheiten des damaligen Herzogtums“, Fröhlich/Hoffmann 1996, 1167) pragmatisch zu regeln geglaubt hatte, tatsächlich aber eine jahrzehntelange Kontroverse auslöste. Die heutige Situation Luxemburgs ist von einer generellen und im Sprachengesetz vom 24. Februar 1984 festgelegten Dreisprachigkeit gekennzeichnet (vgl. Sieburg 2013, 87): Art. 1 bestimmt das Luxemburgische zur Nationalsprache der Luxemburger, Art. 2 bestimmt Französisch als Sprache der Gesetzgebung, Art. 3 bestimmt neben den erstgenannten nun auch das Deutsche als Verwaltungs- und Rechtssprache. Damit wurde erst 1984 eine Diskussion beendet, die schon lange vor 1848 begonnen hatte. Das Großherzogtum bestand nach dem Wiener Kongress aus einem westlichen französischsprachigen wallonischen und einem östlichen deutschen Landesteil. Nach der belgischen Revolution und dem Londoner Vertrag von 1839 erfolgte die Abtretung großer Teile des Großherzogtums an Belgien. Französisch wurde jedoch neben dem Deutschen beibehalten, obwohl Luxemburg nun „nur mehr deutschredende Einwohner“ besaß (‚Deutsches und Französisches aus Luxemburg‘, in: LW, 16.7.1891). Die im Anschluss an den Londoner Vertrag im Oktober 1841 verkündete erste Verfassung vom 1.1.1842 (verkündet am 12.10.1841) sah noch keine Regelung der Sprachenfrage vor (Verordnungs- und Verwaltungsblatt des Großherzogtums Luxemburg 51/1841). Dass eine Sprachenregelung dann aber in der 1848 revidierten Verfassung aufgenommen wurde, zeigt, dass staatlicherseits Klarheit in einer bis dahin ganz offensichtlich sehr unklar gewordenen und sehr kontrovers eingeschätzten Situation geschaffen werden musste. Da man wechselseitig eine Verdrängung von Deutsch zugunsten Französisch oder Französisch zugunsten von Deutsch befürchtete, schrieb die Verfassung von 1848 in Art. 34 nun die grundsätzliche Zweisprachigkeit für das Großherzogtum fest: „Der Gebrauch der deutschen und der französischen Sprache steht Jedem frei; es darf derselbe nicht beschränkt werden“ (Verfassung des Großherzogtums Luxemburg von 1848, Art. 30). Dieser Verfassungsregelung, die nun die de facto seit langem bestehende Gültigkeit beider Sprachen bestätigte, war politischerseits eine Entwicklung vorausgegangen, die deutlich zeigt, dass und wie „Sprachen als (austauschbares) Mittel zur Durchsetzung“ jeweiliger politischer Ziele instrumentalisiert werden und wurden (Sieburg 2013, 83): So hatte der als niederländischer König und Großherzog in Personalunion regierende Wilhelm I. nach der Gründung des Großherzogtums 1815 versucht, alle Bindungen nach Deutschland zu schwächen. Er hatte dies u. a. damit zu erreichen versucht, dass er Französisch als alleinige Amtssprache einsetzte; Deutsch wurde zudem aus der Höheren Lehranstalt verbannt. In Folge dann der „belgischen Annexionsbestrebungen“ nach 1830 änderte Wilhelm I. seine Politik jedoch grundlegend: 1834 wurde Deutsch zweite Amtssprache, ab 1835 durften Luxemburger nurmehr an deutschen Universitäten studieren, Deutsch wurde alleinige Unterrichtssprache im Luxemburger Athenäum (Berg 1993, 15f.). Dies blieb nun nicht ohne massiven  



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Widerspruch von Teilen der frankophilen Elite, so dass die Berücksichtigung der Sprachenfrage in der Verfassung von 1848 nurmehr der Versuch einer pragmatischen Lösung war. Dabei zeigte die dann in Folge der Verfassungsdiskussion und ihres Ergebnisses nicht abebbende Diskussion, dass es der Öffentlichkeit gerade nicht um eine nur pragmatische Lösung ging, sondern dass die Diskussion eng mit der politischen Frage einer demotisierten und d. h. vom Volke ausgehenden Repräsentation und in diesem Zusammenhang mit der Frage der Nation verbunden war. In dem Bericht über die stattgehabte Versammlung zur „Revision der Constitution“ sah der Berichterstatter in der „Öffentlichkeit der ständischen Verhandlungen“ einen ‚unverkennbaren Fortschritt in der Ausbildung unserer Verfassung‘:  

Und doch nützt uns diese Öffentlichkeit wenig oder nichts, wenn unsre Stände nicht deutsch, oder meinetwegen in unserer kernigen und volltönigen Luxemburger Mundart reden. Wenn die Herrn wieder französisch, in der Sprache eines fremden Volkes reden, so machen sie wieder, was sie wollen, wenn auch die Thüren des Sitzungssaales noch so weit aufgesperrt sind. (LW, 30. März 1848)

Diese Aussage identifiziert die indigenen Bewohner des Großherzogtums als ein ‚Volk‘, dem französisch als „Sprache eines fremden Volkes“ nicht eignet, sondern welches sich sprachlich als ‚deutsch‘ resp. ‚luxemburgisch‘ bestimmt. Dabei geschieht die Unterscheidung zwischen ‚deutsch‘ einerseits und der Mundart andererseits gleichwohl in dem Wissen, „daß unser Landesdialekt eine deutsche Mundart“ ist (LW vom 7. Juli 1848). Dem Vorschlag, in der ‚kernigen und volltönigen Mundart‘ zu reden, wurde offensichtlich gefolgt, da bei den folgenden Beratungen der Ständeversammlung über eine Teilnahme am Frankfurter Parlament zwei Redebeiträge in der Luxemburger Mundart gehalten wurden. In drei Sprachen sei verhandelt worden (LW, 30. April 1848), wobei die „Luxemburgische Sprache [...] der deutschen Sache den Sieg verschafft [hat]“ und d. h., dass die Versammlung entschied, am Frankfurter Parlament teilzunehmen: „Hier wird die [Luxemburger] Sprache zum ersten Mal bei einem offiziellen Anlaß verwendet“ (Berg 1993, 17); indem an dieser Stelle von drei Sprachen die Rede ist, wird erstmals auch die luxemburgische Sprache als eine solche parallel zum Französischen und Deutschen angesprochen. Tatsächlich aber noch nicht im Verständnis als einer gegenüber dem Deutschen abgrenzbaren ‚Muttersprache‘: So wird u. a. am 28. Mai 1848 die Forderung bekräftigt, „daß unsere Regierung unsere Muttersprache zu uns rede“, und das meint die deutsche Schriftsprache, nicht die den Luxemburgern doch eigene ‚kernige und volltönige‘ Mundart. „Einer Sprache“ sei man mit der deutschen Nation (LW, 11. Juni 1848) und diese ‚eine Sprache‘ sei ein Grund dafür, dass die Nationalität des luxemburgischen und des deutschen Volkes „eine und dieselbe ist“; ähnlich auch: „Luxemburg war von jeher stolz auf seine deutsche Nationalität“, „Noch jetzt ist das Grundelement des Volkes in Sprache und Sitte das deutsche“ (LW, 20.6.1851). Ganz in diesem Sinne wird dem Prof. Peter Klein, der 1855 ein „Werkchen über die Sprache der Luxemburger“ vorgelegt hatte, in der Ausgabe vom 21.10.1855 ein „wahrhaft nationaler Dienst“ attestiert, weil er  





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Deutsch als Muttersprache der Luxemburger herausgearbeitet hatte. Zugleich hatte Klein in seiner Schrift aber auch „das Bestreben in neuester Zeit“ aufgenommen, „unsere Mundart zu einer Schriftsprache auszubilden“, was ihm aber als „kindisch“ erschien (LW, 21.10.1855). Die Formulierung einer Unterscheidung zweier Völker (eines luxemburgischen und eines deutschen), deren Nationalität jedoch „eine und dieselbe ist“, macht deutlich, dass im alltäglichen Bewusstsein für Volk andere Bestimmungsgründe unterstellt wurden als für Nation, Nationalität und Muttersprache. In diesem Sinne einer differenzierenden Betrachtung wird am 27. September 1868 (L’Union) die rhetorische Frage gestellt: „Müssen wir denn durchaus deutsch sein, weil wir eine deutsche Mundart reden?“. Die Antwort zeigt die sich schon anbahnende Distanzierung zu Deutschland hin: „Vlämisch ist am Ende eben so gut eine deutsche Mundart, als luxemburgisch. Weil die Luxemburger Bauernfrau kein anderes Gebetbuch mit in die Kirche nimmt, als das deutsch gedruckte Myrthengärtlein, so sind wir deshalb noch keine sogenannten ‚deutsche[n] Brüder‘“. Und in dieser volksbezogenen Eigenständigkeit gibt es nicht einmal ansatzweise den Wunsch, im Sinne der nationalen Zugehörigkeit dann auch eine territoriale anzustreben: In einem Bericht am 18. April 1867 heißt es, So viel ich die Luxemburger kenne, ist auch die Zahl derer nicht bedeutend, die die Einverleibung des Landes durch einen deutschen Staat wünschen. Die weit überwiegende Zahl der Einwohner wünscht, daß es halt beim Alten bleibe, daß das Ländchen in seiner behaglichen patriachalischen Lage belassen werde; das es eben der nur sich selber gleiche ‚Grand=Duché‘ bleibe, wo man so nach althergebrachter Façon lebt und selig ist, wo man wenig Militär und wenig Beamte hat, wo sich alle Einwohner wie eine Familie kennen und, so gut es geht, lieb haben. So eine ‚glückliche grüne Insel‘ will das Ländchen sein und bleiben, mit seiner eigenen Verfassung, Budget und Verwaltung mit seinem Statthalter und Ministerium.

Durchaus suchte man sich in „wissenschaftlicher und besonders sprachlicher Beziehung [...] in engere Verbindung“ zu Deutschland zu setzen (LW, 27. Mai 1868), nicht jedoch „in politischer“: [K]ein Luxemburger, welcher Partei er auch angehöre, denkt daran, die Freiheit seiner Heimath zu Gunsten des Anschlusses an irgend einen mächtigen Staat aufzugeben. (LW, 8. Mai 1889)

Hier bestätigt sich empirisch und d. h. im Alltagsdiskurs jene nahezu zeitgleiche und aus der französischen Tradition sich ergebende Reflexion über das, was eine Nation sei, die Ernest Renan in einem Vortrag 1882 vor der Sorbonne formuliert hatte (Renan 2009): Es ist die Übereinkunft um Zusammenhalt im Bewusstsein gemeinsamer Erinnerungen und d. h. eines gemeinsamen Erbes. Aus dem Willen zur Gemeinsamkeit fließt die Abwendung von der Großmacht, die jedoch nicht nur rational begründet ist. Denn wie Renan es formulierte, ist Nation auch „eine Seele, ein geistiges Prinzip“, was sich u. a. in der Beurteilung des Verhältnisses von ‚Sprache und Nation in Rußland‘ zeigt:  





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Wer es mit den Wechselbeziehungen zwischen Sprache und Nation in Rußland zu tun hat, der stößt auch auf den Begriff des ‚Russisch-Seins‘, was auch populistisch als ‚russische Volksseele‘ umschrieben wird. (Haarmann 2000, 749)

Und also zeigte sich parallel zur politischen Distanzierung Luxemburgs in der Bindung eines Konzeptes Muttersprache an die eigene Mundart und damit in der Loslösung von der deutschen Schriftsprache dann auch eine beginnende sprachliche und kulturelle Umorientierung: „muß denn ein vaterländischer Schriftsteller nothwendig in unserer Mundart schreiben, um wirklich national zu bleiben?“, wird am 6. Januar 1869 rhetorisch gefragt (Der Wächter an der Saar): „Wir glauben ja“, so die erwartete Antwort, Die Muttersprache ist der reinste Spiegel des nationalen Geistes, der nationalen Eigentümlichkeiten, des innersten Lebens und Wesens eines Volkes. In der fremden Sprache, und wäre dieselbe auch noch so nah mit der unsrigen verwandt [damit ist das Deutsche gemeint], geht eben dasjenige verloren, was unsere von der fremden [und das ist nun ebenfalls die deutsche] Nationalität unterscheidet, wir meinen unsere Ursprünglichkeit und unseren eigenthümlichsten Charakter. Denn wer wollte behaupten, wir vermöchten in einer andern Sprache genau so zu denken und uns auszudrücken, als in der unsrigen? Gewiß niemand, der dieses je versucht hat.

Hatte man früher das Französische als die gegenüber der eigenen deutschen Sprache ‚fremde Sprache‘ identifiziert, so wird hier das Deutsche als ‚fremde Sprache‘ von der nun eigenen luxemburgischen Sprache abgegrenzt; bezeichnenderweise wird in diesem Zusammenhang nurmehr eine ‚Verwandtschaft‘ zwischen dem Deutschen einerseits und dem Luxemburgischen andererseits eingestanden, die zu früherer Zeit noch selbstverständliche Einordnung des Luxemburgischen als eines deutschen Dialektes taucht nicht auf. Solche Ausführungen werden historisch verständlich vor dem Hintergrund einer sich zwischenzeitlich entwickelnden luxemburgischen Literatur, für die bis heute der Dichter Michael Lentz steht. Als „nationaler Dichter“ wurde er am 24. September 1873 anlässlich des Drucks einiger seiner Gedichte gefeiert (LW, 24. September 1873): „Hr. Lentz fühlt, denkt, spricht und dichtet luxemburgisch“ und man dankt ihm „für das schöne Denkmal, das er der patriotischen Strömung setzt“. Michael Lentz hatte schon 1858 anlässlich der Einweihung der ersten Eisenbahnlinie in Luxemburg das Lied ‚Der Feierwôn’, d.i. der ‚Feuerwagen’, gedichtet, wobei dessen Schlussreim zum pathetisch vorgetragenen Schlachtruf gegen alle Annexionsgelüste Frankreichs und auch Preußens geworden war: Kommt hier aus Frankreich, Belgie, Preisen,/Mir wellen iech onst Hemecht weisen:/Frod dir no alle Seiten hin,/We mir eso zefride sin!/Frod dir no alle Seiten hin,/Mir welle bleiwe, wat mir sin!

Als Michael Lentz im Juli 1891 starb, da schrieb das Luxemburger Wort am 1. August 1891 mit explizitem Bezug auf den ‚Feierwôn‘ vom Luxemburger „Nationalgesang [...]“ und von Lentz als dem „Nationaldichter“, der dieses Lied im „Liebesfrühling patriotischen Empfindens gedichtet“ habe.

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Der Feierwôn bleibt unantastbar, er ist des Volkes Eigenthum, so zwar, daß nicht nur die Regierung, sondern sogar der Dichter, Hr. Lentz selbst das Lied weder verhindern noch einschränken könnten. Es ist ein Stück unseres Herzens; wer es herauszureißen versuchte, würde uns blutig reizen.

In seiner Hinwendung zur Volkssprache sah man bei Lentz das erfüllt, was Jacob Grimm als Diktum hinterlassen hatte: „Ein Volk, das seine Sprache aufgibt, verliert sich und [...] seinen eigenen Charakter und artet aus.“ Von den nun häufigeren Hinweisen auf das Erscheinen „echt patriotische[r] Werke in Luxemburger Mundart“ (LW, 5. März 1894) ist besonders bemerkenswert, dass hier ein Zusammenhang hergestellt wurde, der letztlich bis an die Anfänge des Zusammenhangs einer im Gebrauch der eigenen Sprache aufscheinenden Würde der eigenen Gemeinschaft zurückreicht. Als im März 1894 ein „Mutter-Gottes-Liedchen“ in Luxemburger Mundart erscheint, da überschlägt sich der entsprechende Bericht vom 17. April 1894 nahezu: „Der Text ist in der luxemburgischen Mundart. ‒ Ein Muttergottes-Lied in unserer Mundart!“. Weiter heißt es: „Wir Luxemburger sind Kinder der Mutter Gottes und wir sollten sie nicht in unserer Landessprache besingen dürfen!“ Mit den fast nämlichen Worten hatte der Mönch Otfried von Weißenburg aus der Mitte des 9. Jahrhunderts den Gebrauch der indigenen Sprache gefeiert. Von einer solchen Einschätzung aus war es kein weiter Weg mehr bis zu dem Zustand, welchen das LW am 12. August 1897 durchaus dann auch als Programm beschreibt: „die Luxemburger Mundart hat die Aufgabe, die Eigenart des Volkes und dadurch die Unabhängigkeit des Landes zu wahren“. Damit war das politische Programm, das dann im Sprachgesetz von 1984 seine Erfüllung fand, endgültig formuliert.

5 Wissenschaftliche Sprachgeschichte als Teil gesellschaftlicher Interessenformulierung Die immer wieder auf Jacob Grimm verweisende Betrachtung einer um die Mitte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus nationalkonstituierend wirkmächtigen Sprachreflexion verweist wesentlich auch auf den wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang der Entstehung und Entwicklung der Universitätsgermanistik. Seit dem Beginn ihrer disziplinären Existenz um 1800 [hat sie sich] immer wieder um gesellschaftliche Legitimation und Anerkennung bemüht, indem sie ein vorgängiges, aus der Gesellschaft an die Forschung herangetragenes und von dieser beantwortetes Interesse an der Geschichte von Sprache und Literatur als historisch verbürgtem Ausweis nationaler Identität annahm. (Haß-Zumkehr 1998, 349)

Damit ist die disziplinäre Sprachgeschichtsschreibung selbst zum Agens der Ausformulierung eines kulturnationalen Konzeptes geworden, aus dem heraus sich wissen-

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schaftsgeschichtlich bis weit in die Gegenwart reichende Erklärungsparadigmen herausgebildet haben. Im Sinne des von Jacob Grimm (1854, III) in der Frageform gekleideten Diktums nach dem allein in der Sprache und Literatur liegenden national Einenden, musste dies auch in der Geschichte bewiesen sein („nationalistische Bewegungen [... suchen sich] dadurch zu legitimieren [...], dass sie sich eine lange Tradition erfinden“; Stukenbrock 2005, 14). Aus diesem Zusammenhang erklärt sich die in der Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen erst seit jüngerer Zeit überwundene Annahme Grimms (Deutsche Grammatik 1822, XII f.), dass es im Sinne einer die Deutschen einenden ‚Hoch-‘ als ‚Gemeinsprache‘ eine solche schon in der Zeit des Hochmittelalters (in der sprachgeschichtlichen Epoche des Mittelhochdeutschen) gegeben habe:  

Im zwölften, dreizehnten jahrh. waltet am Rhein und an der Donau, von Tyrol bis nach Hessen schon eine allgemeine sprache, deren sich alle dichter bedienen, in ihr sind die älteren mundarten Dialekt verschwommen und aufgelöst, nur noch einzelnen wörtern und formen klebt landschaftliches an. (Grimm 1822; zit. nach Solms 2014b, 114)

Eine solche Vorstellung war insofern zwingend, als dass als „Analogon zur Einheit des Nationalstaates“ allein eine sich ebenfalls „als homogene Größe“ darstellende Sprache fungieren kann (Haß-Zumkehr 1998, 351); die der historischen Wahrheit entsprechende sprachliche Wirklichkeit einer nicht nur stark landschaftlichen Variabilität hätte nicht zu dem Gedanken der auch historischen „Homogenität der Nationalsprache“ gepasst. Dieses Beispiel einer kulturnational geprägten Sprachgeschichtsschreibung zwingt zur steten ideologiekritischen Reflexion der „Sprachgeschichtsschreibung des Dt. (und anderer Sprachen)“, die nämlich jeweils vor der Entscheidung [steht], welcher Idee sie folgen, d. h. wie sie sich sprach- und geschichtsideologisch begreifen, gesellschaftlich rechtfertigen und dadurch bei der Kulturbildung mitwirken soll. Zwei Ideen […] stehen als Möglichkeit zur Debatte: eine letztlich nationale Ausrichtung […, und] eine Ausrichtung, die die Geschichte der Einzelsprache […] als integralen Teil einer Ganzheit ‚europ. Sprachgeschichte‘ versteht. (Reichmann 1998, 36)  

Letztlich gilt es, zwischen beiden zu vermitteln.

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Jürgen Schiewe

9. Sprache und Aufklärung. Sprachreflexion und Sprachbewertung als Mittel zum Zweck gesellschaftlicher Demokratisierung Abstract: Bereits seit Beginn der schriftlichen Überlieferung findet man Zeugnisse der Sprachreflexion, in denen ein Bezug zwischen Sprache, Gesellschaft und – im weitesten Sinne – Politik konstruiert wird. Grundlegend für derartige Konstruktionen ist die Annahme eines gegenseitigen Bedingungsverhältnisses von Sprache und Wirklichkeit, Denken und Handeln. In der Folge wurden und werden Sprachreflexion und einer darauf aufbauenden Sprachbewertung die Rolle zugewiesen, auf die anderen Komponenten einwirken, insbesondere gesellschaftliche Strukturen und auch politische Verhältnisse verändern zu können. In dem Beitrag wird die Ansicht, Sprachreflexion könne zum Zwecke der Aufklärung eingesetzt werden und Sprachbewertung diene der gesellschaftlichen Demokratisierung, an ausgewählten Beispielen aus zweieinhalb Jahrtausenden illustriert. Der Schwerpunkt liegt auf dem 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, jener Phase der Sprachreflexion, in der die politische Dimension der Sprache erkannt und eine aufklärerische Sprachkritik begründet wurde.  

1 2 3 4 5 6 7

Einleitung: Aufklärung im Spannungsfeld von Sprache, Denken, Wirklichkeit Sprachreflexion als Mittel der sittlichen Vervollkommnung Ausbau und Verbesserung der Sprache als aufklärerisches Programm „Gemeinverständlichkeit“ und Öffentlichkeit als (volks)aufklärerisches Projekt Die Politisierung der Sprache Ausblick Literatur

1 Einleitung: Aufklärung im Spannungsfeld von Sprache, Denken, Wirklichkeit „Keine neue Welt ohne neue Sprache“, schreibt Ingeborg Bachmann ([1961] 1984, 44) in ihrer Erzählung Das dreißigste Jahr und bringt damit literarisch auf den Punkt, was seit Jahrhunderten der Sprache als Leistung zugeschrieben wird und was, folgt man dieser Zuschreibung, auch intentional durch sie bzw. mit ihr hervorgebracht werden kann: Die Erzeugung einer ‚neuen Welt‘, die Veränderung der Wirklichkeit durch eine auf Kritik beruhende Veränderung des Sprachgebrauchs. Sprachkritik, verstanden als Hyperonym zu ‚Sprachreflexion‘ und ‚Sprachbewertung‘ (vgl. Bär 1999, 58; Gardt u. a.  

https://doi.org/10.1515/9783110296150-010

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1991; vgl. auch Kilian/Niehr/Schiewe 2016, 1–16), hat folglich stets das Ziel, eine ‚neue Welt‘, sei es eine gedankliche im Kopf der Menschen oder eine gesellschaftliche in ihren Handlungsfeldern, zu erzeugen, denn „Sprachkritik, die nichts ändern will, ist wohl keine“ (Kilian 2001, 308). Umgekehrt wird jeder Veränderung der Welt immer eine sprachliche Veränderung vorausgegangen sein. Drei Größen sind es, die somit in ein Beziehungsverhältnis zueinander gesetzt werden: ‚Sprache‘, ‚Denken‘ und ‚Wirklichkeit‘. Besteht das Ziel der Veränderung von Wirklichkeit in der Schaffung oder Beförderung von Demokratie (jener Staatsform, in der die Staatsgewalt vom Volk ausgeht und direkt oder indirekt von ihm ausgeübt wird), dann kann man es – sowohl historisch als auch erkenntnistheoretisch – mit dem Begriff ‚Aufklärung‘ in Zusammenhang bringen. Aufklärung, so Immanuel Kants ([1784] 1977, 53) berühmte Formulierung in seiner Abhandlung Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, besteht in dem „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Und weiter schreibt er: Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. (Herv. i. Orig. gesperrt)

Sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, heißt, eigenständig zu denken, sich nicht dem Urteil von Autoritäten zu unterwerfen und von ihnen leiten zu lassen. Kant ([1786] 1977, 283) fordert ein „Selbstdenken“, das er in dem Aufsatz Was heisst: Sich im Denken orientieren? so bestimmt: Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) zu suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung. (Herv. i. Orig. gesperrt)

Die Verbindung zwischen Denken und Sprechen, zwischen Verstand und Sprache, erläutert Kant ([1800] 1977, 500) an einer Stelle seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht folgendermaßen: Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken und umgekehrt die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, diesem größten Mittel, sich selbst und andere zu verstehen. Denken ist Reden mit sich selbst [...], folglich sich auch innerlich (durch reproduktive Einbildungskraft) Hören. [...] die, so sprechen und hören können, verstehen darum nicht immer sich selbst oder andere, und an dem Mangel des Bezeichnungsvermögens, oder dem fehlerhaften Gebrauch desselben (da Zeichen für Sachen und umgekehrt genommen werden) liegt es, vornehmlich in Sachen der Vernunft, daß Menschen, die der Sprache nach einig sind, in Begriffen himmelweit voneinander abstehen; welches nur zufälligerweise, wenn ein jeder nach dem seinigen handelt, offenbar wird. (Herv. i. Orig. gesperrt)

‚Selbstdenken‘ als zentrales Charakteristikum von Aufklärung bedeutet demnach, sprachliche Zeichen (1) nicht unkritisch und unreflektiert, sondern gemäß ‚seiner

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eigenen Vernunft‘ zu verwenden und (2) darum bemüht zu sein, das für ‚Sachen‘ stellvertretend stehende sprachliche Zeichen und den mit ihm verbundenen Begriff, das gedankliche Konzept, in Einklang zu bringen. Zeichen und Begriff nämlich können „himmelweit voneinander abstehen“, wofür es nach Kant zwei Gründe gibt: zum einen das mangelhafte Vermögen, eine Sache begrifflich angemessen in einem Zeichen zu erfassen („Mangel des Bezeichnungsvermögens“), zum anderen den „fehlerhaften Gebrauch“ eines Zeichens. Eine Diskrepanz zwischen Zeichen und Begriff kann zur Folge haben, dass man „sich selbst oder andere“ nicht versteht. Das eine erschwert das Denken, das andere das Handeln. Damit ist die Ebene der Kommunikation angesprochen, denn Denken ist ebenso ein Kommunizieren („Reden mit sich selbst“) wie das Sprechen mit anderen Menschen. Bemerkenswerterweise kommt nun – nach Sprache (Zeichen), Denken und Wirklichkeit – mit Handeln noch eine vierte Größe zu dem Beziehungsgeflecht hinzu, in dem sich der Mensch grundsätzlich befindet und aus dem sich insbesondere der Anspruch auf Aufklärung bestimmen lässt: Aufklärung heißt dann, selbstbestimmt die Wirklichkeit in Begriffe zu fassen (Denken) und die Sprache (als Zeichen der in Begriffe gefassten Sachen bzw. der Wirklichkeit) so einzurichten, dass ein auf Verstehen und Verständigung ausgerichtetes Sprechen, was ja eine Form des Handelns – eben das kommunikative Handeln – ist, möglich wird. Dieser Anspruch setzt voraus, das Sprechen daraufhin zu reflektieren, ob es denn tatsächlich auf einem ‚Selbstdenken‘ beruht und ob es ‚richtig‘ (im Sinne der Konvention) und ‚angemessen‘ (im Sinne der Begriffsbezeichnung) erfolgt. Vor diesem allgemeinen Hintergrund soll in diesem Beitrag nachgezeichnet werden, worin für ausgewählte Akteure in der Geschichte der Sprachreflexion und Sprachbewertung, mithin in der Geschichte der Sprachkritik, die aufklärerische Funktion von Sprache bestand und welches Potential der Sprache zur Beförderung demokratischen Denkens und Handelns zugeschrieben wurde.

2 Sprachreflexion als Mittel der sittlichen Vervollkommnung Am Beginn einer sprachkritischen Tradition, die Sprache in den Mittelpunkt des Handelns stellt und mit ihr eine Veränderung des Denkens und der gesellschaftlichen Verhältnisse anstrebt, steht ein kurzer Text aus den Gesprächen des chinesischen Philosophen Kungfutse (Konfuzius) über die Richtigstellung der Begriffe: Dsї Lu sprach: „Der Fürst von We wartet auf den Meister, um die Regierung auszuüben. Was würde der Meister zuerst in Angriff nehmen?“ Der Meister sprach: „Sicherlich die Richtigstellung der Begriffe.“ Dsї Lu sprach: „Darum soll es sich handeln? Da hat der Meister weit gefehlt! Warum denn deren Richtigstellung?“ Der Meister sprach: „Wie roh du bist, Yu! Der Edle läßt das, was er

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nicht versteht, sozusagen beiseite. Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeiht Moral und Kunst nicht; gedeiht Moral und Kunst nicht, so treffen die Strafen nicht; treffen die Strafen nicht, so weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Darum sorge der Edle, daß er seine Begriffe unter allen Umständen zu Worte bringen kann und seine Worte unter allen Umständen zu Taten machen kann. Der Edle duldet nicht, daß in seinen Worten irgend etwas in Unordnung ist. Das ist es, worauf alles ankommt.“ (Kungfutse 1976)

Nach Kungfutse eignet sich der Mensch die Gegenstände und Sachverhalte der Welt in ‚Begriffen‘, in psychischen Konzepten, an und verbindet die Begriffe mit ‚Wörtern‘, den sprachlichen Ausdrücken, wodurch die Begriffe (Konzepte) mitteilbar, kommunikabel werden. Mittels Wörtern treten Menschen zueinander in Beziehung, Wörter sind somit die Grundlage von Handlungen („Werke“), die sich als Moral, Kunst, Gesellschaft und auch Politik manifestieren. Der Forderung, dass die Begriffe „richtig“ sein und die Wörter „stimmen“ müssen, liegt offenbar der Gedanke zugrunde, dass sich die mit den Begriffen konstruierten und in ihnen enthaltenen Kategorisierungen der Welt ganz wesentlich auf unser Handeln auswirken. Von der Qualität der Begriffe und der dazugehörigen Wörter hängt es ab, ob die Menschen wissen, „wohin Hand und Fuß setzen“, ob sie also in der Lage sind, sich in einem gemeinschaftlichen Rahmen angemessen zu bewegen und zu handeln. Damit ist gedanklich bereits vorgeformt, was im 18. Jahrhundert als Konzept von ‚Sittlichkeit‘ diskutiert wurde, nämlich die „Fähigkeit des Menschen, sein Handeln an einer sozialen Verbindlichkeit auszurichten“ (Assmann 2003). Die chinesische Philosophie wurde denn auch von Aufklärern wie Gottfried Wilhelm Leibniz (vgl. Merkel 1952) und Christian Wolff als Vorbild für die Formulierung „nützlicher Weisheitslehren“ rezipiert, die nach Auffassung Leibniz’ „nicht der Befriedigung wissenschaftlich-spezialisierter Neugier, sondern dem allgemeinen Nutzen dienen“ sollten (Albrecht 1985, XX). Berühmt geworden ist insbesondere die 1721 von Christian Wolff ([1721] 1985) gehaltene Oratio de Sinarum philosophia practica. Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie den Anlass für Wolffs Vertreibung aus Halle gegeben hat: Wolff hatte in dieser Rede Kungfutse und die konfuzianische Tradition als vom Christentum unabhängige Ethik einer Hochkultur bezeichnet und wurde daraufhin von seinen pietistischen Gegnern in Halle des Atheismus beschuldigt. Auf Anordnung Friedrich Wilhelms I. vom 8. November 1723 musste er „binnen 48 stunden [...] bey Strafe des Stranges“ Preußen verlassen (vgl. Albrecht 1985, LI). Wolff ging nach Marburg, kehrte 1740 auf Veranlassung Friedrichs des Großen aber – in einem Triumphzug – wieder nach Halle zurück. Michael Albrecht (1985, XXX f.) greift in seiner Einleitung zu Wolffs Rede den zitierten Abschnitt von Kungfutse auf und stellt ihn explizit in Beziehung zum sittlichen Handeln:  



Zum richtigen, tugendhaften Leben gehört daher die ‚Richtigstellung der Namen‘ (übrigens eine der wenigen klassischen Äußerungen, die bei Wolff nicht rezipiert wird – vermutlich hätte er

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auch in diesem Punkt Konfuzius zugestimmt; vgl. seine Anm. 89). Denn wer sich überlegt, was der Name z. B. eines Vaters oder eines Freundes bedeutet, weiß damit, wie sich ein Vater oder ein Freund zu verhalten hat, und er kann, wenn er sich selbst zu beherrschen lernt, dieses Wissen in die Tat umsetzen. (Die intellektuelle Bildung ist in dieser Beziehung die beste Voraussetzung für die sittliche Praxis.) Wenn ‚die Namen richtiggestellt‘ sind, ist also das Reden und Handeln des Menschen im Einklang; er ist zum Vorbild (und zwar nicht nur für andere Väter und Freunde) geworden.  

In der im Zitat erwähnten, von Wolff seiner Rede 1726 hinzugefügten Anmerkung heißt es: In der gesamten Philosophie habe ich äußerste Sorgfalt darauf gewendet, alle Wörter, die wir gebrauchen, von der Zweideutigkeit zu befreien, zu der die Unbeständigkeit im Reden geführt hat. (Wolff 1985, 195/197)

Dieses Prinzip hat Wolff insbesondere für sein Programm einer deutschen wissenschaftssprachlichen Lexik hervorgehoben (vgl. Wolff 1757, 23–52; vgl. auch Ricken 1994 sowie Menzel 1996, v. a. 126 ff.) und auch bereits in seiner Deutschen Logik reflektiert und benannt:  



Wenn nun der andere mich verstehen soll / so muß ich kein Wort brauchen / als davon ich versichert bin / daß er nicht allein den Begriff haben kan / den ich damit verbinde; sondern auch daß das Wort / so bald er es höret / und ihm nachdencket, selbigen Begriff in ihm erreget. [...] Derowegen muß einer / sonderlich in Wissenschafften / seine Wörter erklären / und die in diesen Erklärungen gebrauchten Wörter von neuem so lange erklären / biß er auf solche kommet / deren Begriff einer von den gegenwärtigen Dingen ohnfehlbar haben kan / oder von denen er versichert ist / daß der Leser ihre rechte Bedeutung wisse. (Wolff 1713, 41ff.)

Die wesentliche Grundlage für eine gelingende Verständigung zwischen Menschen und damit auch für ein gelingendes, am Prinzip der ‚Sittlichkeit‘ ausgerichtetes Handeln sind also – wenn wir nur die Reihe der hier erwähnten Philosophen von Kungfutse über Christian Wolff bis hin zu Immanuel Kant nehmen – Wörter, die bei allen Sprachteilhabern den gleichen Begriff hervorrufen, die also, semantisch ausgedrückt, eine Bedeutung besitzen, die allen bekannt ist und in allen Verwendungskontexten konstant bleibt. Dass die ‚Feststellung‘ der Wortbedeutungen – ‚Feststellung‘ im doppelten Sinne von ‚Bewusstmachung‘ und ‚Fixierung‘ – zu den sprachkritischen Kernaufgaben der Aufklärung gehörte, zeigt auch die entsprechende Position der französischen Enzyklopädisten, die Hassler (1984, 60 f.; die eingeschobenen Zitate stammen aus dem von Denis Diderot verfassten Artikel „Encyclopédie“, in: Encyclopédie (1782), Bd. 12, 348 und 349) wie folgt charakterisiert:  

Inwiefern das gesamte Projekt der Enzyklopädie selbst sprachkritische Aspekte hat und wie es zur Annäherung des Gebrauchs der Wörter an das fortgeschrittene Denken auf theoretischen und praktischen Gebieten beitragen sollte, wird ausführlich in Diderots Artikel Encyclopédie dargelegt. Diderot erklärt dort die Verbesserung und Weitergabe der Sprache zu einer vorrangigen

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Aufgabe der Enzyklopädie: „Aber die Kenntnis der Sprache ist die Grundlage aller großen Hoffnungen. Sie bleiben unbestimmt, wenn die Sprache nicht fixiert und an die Nachwelt in all ihrer Perfektion weitergegeben wird; und dieses Objekt ist das erste, womit sich Enzyklopädisten beschäftigen müßten.“ Die Notwendigkeit, richtige Bezeichnungen und Definitionen vorzulegen, um dadurch den Sprachgebrauch zu verbessern, wird noch durch die Feststellung unterstrichen, daß oft die Sprache genügt, um unser Verhalten zu lenken. Außerdem hingen sowohl die Exaktheit der Wissenschaften als auch der Geschmack in den schönen Künsten von der Perfektion in der Sprache ab. Diese Feststellungen sind insbesondere auf eine Verbesserung des Wortschatzes gerichtet, denn der Wortschatz einer Sprache entspreche dem zu einer bestimmten Zeit vorhandenen Wissensstand: „Die Sprache eines Volkes gibt ihren Wortschatz an, und der Wortschatz ist ein ziemlich getreues Bild aller Kenntnisse dieses Volkes. Durch den reinen Vergleich des Wortschatzes einer Nation zu verschiedenen Zeiten könnte man sich eine Vorstellung von ihren Fortschritten bilden.“

Was hier am Ende des 18. Jahrhunderts als eine sprachtheoretische Grundposition formuliert wurde, war im deutschen Sprachraum bereits im 17. Jahrhundert Gegenstand vielfältiger praktischer Beschäftigungen mit Sprache (vgl. Gardt 1994), die nicht nur ihrem Ausbau und ihrer Verbesserung dienen, sondern sich auch förderlich auf das menschliche Zusammenleben auswirken sollten.

3 Ausbau und Verbesserung der Sprache als aufklärerisches Programm Vor dem Hintergrund religiöser und politischer Diversitäten im eigenen Land und einem damit einhergehenden Gefühl der Inferiorität gegenüber der als überlegen empfundenen, aufstrebenden und bereits mächtigen Kulturnation Frankreich wurden im deutschen Sprachraum ab 1617 Sprachgesellschaften gegründet, die es – wie hier in der Satzung der Fruchtbringenden Gesellschaft formuliert – als ihre Aufgabe ansahen, für die „Erhaltung der Teutschen Sprache“ ebenso zu sorgen wie für die „Erhaltung und Fortpflantzung aller Ritterlichen Tugenden“ und die „Aufrichtung und Vermehrung Teutschen wolgemeinten Vertrauens“ (Hille [1647] 1970, 9 f.). Die daraus abgeleitete und von den Mitgliedern der Fruchtbringenden Gesellschaft zu erbringende „Spracharbeit“ umfasste nach Harsdörffer ([1644] 1968, 18 f.) die folgenden sechs programmatischen Punkte:  



I.

Daß die Hochteutsche Sprache in ihrem rechten Wesen und Stande / ohn Einmischung fremder ausländischer Wörter / auf das möglichste und thunlichste erhalten werde. II. Daß man sich zu solchem Ende der besten Aussprache im Reden / und der zierlichsten gebunden- und ungebundener Schreibarten befleissige. III. Daß man die Sprache in ihre grundgewisse Richtigkeit bringe / und sich wegen einer Sprache und Reimkunst vergleiche / als welche gleichsam miteinander verbunden sind. IV. Daß man alle Stammwörter in ein vollständiges Wortbuch samle / derselben Deutung / Ableitung / Verdoppelung / samt denen darvon üblichen Sprichwortern / anfüge.

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V.

Daß man alle Kunstwörter von Bergwerken / Jagrechten / Schiffarten / Handwerkeren / u. d. g. ordentlich zusammentrage. VI. Daß man alle in fremden Sprachen nutzliche und lustige Bücher / ohne Einmischung fremder Flickwörter / übersetze / oder ja das beste daraus dolmetsche.  



Wie Hundt (2000, 19) ausführt, war es das „eigentliche Ziel“ der Sprachgesellschaften, die Wiederaufrichtung der Sitten und Tugenden zu erreichen. Allerdings ist Sprache nicht ein beliebiges Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Es besteht für das zeitgenössische Sprachverständnis ein enger Konnex zwischen Sprache einerseits und Verhaltensformen, Weltsicht und Wirklichkeitsverständnis andererseits.

So lag insbesondere nach Auffassung Justus Georg Schottelius’ der Spracharbeit eine „Parallelisierung von Moral und Sprache“ (Hundt 2000, 134) zugrunde. Spracharbeit umfasste vor allem die in der Zusammenstellung Harsdörffers programmatisch aufgeführte Arbeit am Wortschatz, insbesondere die Vermeidung von Fremdwörtern sowie die Sammlung der ‚Stammwörter‘ (einsilbige Grundwörter, aus denen Ableitungen und Komposita gebildet werden können) und ‚Kunstwörter‘ (fachsprachliche Termini). Sie sollte nicht nur der Verbesserung der Sprache dienen, sondern zugleich auch die Wiederherstellung und Erhaltung eines gesellschaftlichen Normenkodexes befördern und garantieren. Letztlich aber war das kulturpatriotische Programm der Sprachgesellschaften in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts rückwärtsgewandt, denn man glaubte einen Verfall der Sprache und Sitten wahrzunehmen und wollte den als Ideal angesehenen ursprünglichen Zustand mittels Spracharbeit wiedergewinnen. Ende des 17. Jahrhunderts kündigte sich bei Gottfried Wilhelm Leibniz eine grundlegende Blickwendung an, die für das 18. Jahrhundert prägend werden sollte (vgl. Hundt 2016). In seinen beiden deutschsprachigen Aufsätzen Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben (entstanden um 1682/83, publiziert 1848) sowie Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache (entstanden um 1697, publiziert 1717) knüpft er an die Tradition der barocken Sprachgesellschaften an, grenzt sich von ihnen aber in einigen wesentlichen Punkten ab. So setzt Leibniz für die Verbesserung der Sprache mehr auf den Ausbau der Sachprosa als auf die Literatur (Poesie) und er verlagert das anzustrebende Sprachideal aus der biblischen Vergangenheit in eine durch menschliches Handeln zu gestaltende Zukunft. Zudem konturiert er eine neue Zielgruppe, die er für sein Anliegen gewinnen möchte: Nicht mehr nur die Gelehrten will er ansprechen, sondern auch Hof- und Weltleute, ja selbst das Frauenzimmer, [...] weil an sich selbst nicht Reichtum, noch Macht oder Geschlecht, sondern die Gaben den Unterschied machen. (Leibniz 1983, 57)

Gemäß dem Grundsatz „Erziehung überwindet alles“ (Leibniz 1983, 73) möchte er alle gesellschaftlichen Gruppen – nur den „gemeinen Mann“ nimmt er aus – an der

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Aufgabe der Formung des Deutschen zu einer vollgültigen Kultursprache, die die Eigenschaften ‚Reichtum‘, ‚Reinigkeit‘ und ‚Glanz‘ aufweisen soll (vgl. Leweling 2005, 77–80), beteiligen. Dabei verknüpft Leibniz nicht mehr in erster Linie Sprache mit Moral und Sitten, sondern mit dem Verstand. In dem im 18. Jahrhundert oft zitierten ersten Paragraphen der Unvorgreiflichen Gedanken (Leibniz 1983, 5) heißt es: Es ist bekannt, daß die Sprache ein Spiegel des Verstandes ist und daß die Völker, wenn sie den Verstand hoch schwingen, auch zugleich die Sprache wohl ausüben, welches der Griechen, Römer und Araber Beispiele zeigen.

Sprache spiegelt für Leibniz das Denken, zugleich aber wirkt auch Sprache auf das Denken ein: Eine ausgebildete Sprache lässt auf hohe Verstandesleistungen der Angehörigen der jeweiligen Sprachgemeinschaft schließen – und umgekehrt kann die Ausbildung der Sprache dafür eingesetzt werden, das Potential an Verstandesleistungen zu verbessern. Sprachreflexion und Sprachbewertung sind für Leibniz somit die Bedingung der Möglichkeit einer Erweiterung des geistigen Horizontes. Zur Ausbildung einer Sprache gehört für Leibniz auch, dass in ihr – modern gesprochen – alle Varietäten verfügbar sind. So konstatiert er bei seiner Bestandsaufnahme für die deutsche Sprache, dass die handwerklichen Fachsprachen der artes mechanicae über einen umfangreichen und differenzierten Wortschatz verfügten, während die Wissenschaftssprachen der septem artes liberales höchst defizitär seien. Der Grund hierfür ist das Vorherrschen des Lateinischen als Sprache der gelehrten Bildung, was zugleich auch den Ausschluss all jener, die des Lateinischen unkundig waren, von den entsprechenden Bildungsinhalten zur Folge hatte: In Deutschland aber hat man noch dem Latein und der Kunst zuviel, der Muttersprache aber und der Natur zu wenig zugeschrieben, welches denn sowohl bei den Gelehrten als bei der Nation selbst eine schädliche Wirkung gehabt hat. Denn die Gelehrten, indem sie fast nur Gelehrten [für Gelehrte] schreiben, sich oft zu sehr in unbrauchbaren Dingen aufhalten; bei der ganzen Nation aber ist geschehen, daß diejenigen, so kein Latein gelernt, von der Wissenschaft gleichsam ausgeschlossen worden [...]. (Leibniz 1983, 63)

Leibniz, den man – gerade auch wegen dieser Auffassung – als ‚Frühaufklärer‘ bezeichnen kann, plädiert hier für den Übergang der Wissenschaften vom Lateinischen zum Deutschen. Mit einem solchen domänenspezifischen Sprachenwechsel, so lässt sich interpretieren, würde zugleich ein wesentlicher Beitrag zur ‚Demokratisierung von Bildung‘ geleistet. Ähnlich sieht diesen Zusammenhang etwa zeitgleich mit Leibniz der Jurist Christian Thomasius, der zum Wintersemester 1687/88 an der Universität Leipzig eine deutschsprachige Vorlesung angekündigt und damit den sich im 18. Jahrhundert vollziehenden Sprachenwechsel maßgeblich mit befördert hatte. Menschen, so schreibt Thomasius (1970, 29) in seinem Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? (1687), „die sonsten einen guten natürlichen Verstand haben“, würden es „in kurtzer Zeit viel weiter in der Gelehrsamkeit“ bringen, als wenn „man sie erst so viel Jahre mit dem

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Lateinischen placket“. Und dadurch, dass „ein ieder das jenige / was zu einer klugen Wissenschafft erfordert wird[,] in seiner Landes Sprache lesen kan“, würde „die Gelehrsamkeit unvermerckt mit grossen Vortheil fortgepflantzet“ (Thomasius 1970, 22). Was Thomasius hier und an anderen Stellen immer wieder als ‚Vorteil‘ bezeichnet, ist ein mit dem Sprachenwechsel einhergehender Wandel des wissenschaftlichen Denkstils (vgl. Fleck [1935] 1980) und der Funktion der Institution ‚Universität‘ (vgl. Schiewe 1996): An die Stelle des bisherigen Denkstils, der sich in der Tradierung gelehrten Wissens innerhalb eines elitären Kreises erschöpft hatte, trat für die Wissenschaft zu Beginn des 18. Jahrhunderts nun die Aufgabe, ihre gesellschaftliche Nützlichkeit im Rahmen der von einer autonomen Korporation zur Staatsanstalt umfunktionierten Universität zu erweisen. Ausgehend von der Kritik an der Vorherrschaft des Lateinischen leisteten die nun landessprachlichen Universitäten und die in ihr gelehrten Wissenschaften einen wesentlichen Beitrag zur Demokratisierung von Bildung (vgl. Martus 2015, 92–154). Sie übernahmen damit zugleich auch eine wichtige Rolle im Prozess der beginnenden gesellschaftlichen Demokratisierung, die in dem immer noch heterogenen deutschen Sprachraum allerdings der Schaffung und Durchsetzung einer einheitlichen, normierten, überregionalen Sprache bedurfte. Dieser Prozess bestimmte die Sprachdiskussion im gesamten 18. Jahrhundert. Über die im Zentrum der Standardisierung stehende Frage ‚Was ist Hochdeutsch?‘ wurden verschiedene Diskurse geführt: Faulstich (2008) unterscheidet sprachgeographische, sprachsoziologische, sprachideologische und sprachstilistische Diskursbereiche. Dabei deuteten die sprachsoziologischen (Rolle des ‚gemeinen Mannes‘, des (Bildungs-)Bürgertums, des Adels) und sprachstilistischen (u. a. Rolle der mündlichen Mundarten und der Schriftsprache) Differenzierungen bereits auf die gesellschaftspolitische Dimension des Themas hin, denn als „überregionale, allgemein verständliche Leitvarietät“ sollte das Hochdeutsche „für die sich konstituierende bürgerliche Öffentlichkeit eine nicht zu unterschätzende identitätsstiftende Funktion“ erhalten (Faulstich 2008, 387). Die Gestaltung einer hochdeutschen Norm, die Standardisierung des Deutschen also, war wesentlich ein Ergebnis aufklärerischen Denkens und sprachkritischen Handelns (zu Urteilen über die Normierungsbestrebungen im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Schletter 1985). Maßgeblich dazu beigetragen haben neben Einzelpersonen wie vor allem Johann Christoph Gottsched die Deutschen Gesellschaften, die im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts in vielen Universitätsstädten des gesamten deutschsprachigen Raums gegründet wurden. In diesen Gesellschaften wurde von Sprachinteressierten praktische Sprachkritik betrieben und damit Sprachbewusstsein ausgebildet und vermittelt. Die Beschäftigung mit Sprache und ihrer „Verbesserung“ wurde somit „nicht mehr nur als Aufgabe Einzelner oder kleiner geschlossener Zirkel verstanden“, sondern galt  

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bereits als öffentliches Anliegen [...], das im geselligen Rahmen bestimmter Sozietäten betrieben wurde und sich des Wohlwollens und Schutzes hoher oder sogar höchstgestellter Personen erfreuen konnte. (Cherubim/Walsdorf 2005, 165)

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und verstärkt nach der Französischen Revolution wurde die Diskussion auf der Metaebene weitergeführt und dabei um den Aspekt, wer denn auf die Sprache normierend und standardisierend einwirken könne und dürfe, erweitert. In dieser Diskussion hatte Johann Christoph Adelung (1782, 24) zunächst die Auffassung vertreten, Hochdeutsch sei „höheres, d.i. ausgebildetes Deutsch, Deutsch der obern Classen“, die „gesellschaftliche Sprache des südlichen Sachsens“ (Adelung 1784, 139), und er hatte den Schriftstellern ausdrücklich einen Einfluss auf dessen Formung und Etablierung abgesprochen. Seine Konstruktion des Hochdeutschen kann als zentralistisch und ‚aristokratisch‘ bezeichnet werden (vgl. Schiewe 1988, 173). Dagegen setzte Joachim Heinrich Campe ein föderalistisches und ‚demokratisches‘ Prinzip (vgl. Schiewe 1988, 169f.), indem er die Bedeutung der Schriftsteller hervorhob und die Rolle der vielfältigen Mundarten für das Hochdeutsche betonte: Nicht sowohl die eigentlichen Sprachforscher und Sprachlehrer, als vielmehr die guten und, wie es sich von selbst versteht, gelesenen und wiedergelesenen Schriftsteller eines Volks, bilden die Sprache desselben in sofern aus, als diese, nicht etwa bloß das Vorrecht einiger wenigen sprachgelehrten Köpfe, sondern wirklich das gemeinsame, durch allgemeinen Schrift=umlauf benutzte Eigenthum des gesammten Volkes ist. (Campe 1795, 3; Herv. i. Orig. gesperrt)

Kurz zuvor hatte auch Christian Garve (1794, 144) die Sprache als dem Volk, der gesamten Sprechergemeinschaft, zugehörig charakterisiert und dabei eine explizit politische Terminologie und Beschreibungsform gewählt: Wenn irgend ein Theil der menschlichen Angelegenheiten unter einer demokratischen Verwaltung steht, so ist es die Sprache. In anderen Sachen kann sich das Volk den Ansprüchen einiger Weisen unterwerfen; über die Sprache muß es selbst gebieten, wenn diese ihm verständlich und brauchbar seyn soll. Wenigstens müssen die Rathschläge der Gelehrten erst die Sanction der Volksstimme erhalten, ehe sie zu wirklichen Sprachgesetzen werden.

Die Diskussion um die Fragen, was denn Hochdeutsch sei, wer das Recht und die Möglichkeit habe, es auszubilden, und wem eine Sprache gehöre, wurde am Ende des 18. Jahrhunderts eindeutig auf einer politischen Ebene diskutiert. Neu in den Blick geriet – nach den (bürgerlichen) Schriftstellern – nun das Volk, das nicht mehr mit Bezeichnungen wie gemeiner Mann und Pöbel aus dem Diskurs ausgegrenzt, sondern zum eigentlichen Souverän in Sprachfragen erhoben wurde. An der Sprache und den Akteuren ihrer Ausübung und Ausbildung wurden nach der Französischen Revolution Konzepte von Herrschaft erörtert und dabei das aufklärerische Prinzip des Selbstdenkens um die volksaufklärerische Forderung nach ‚Gemeinverständlichkeit‘ erweitert.  

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4 ‚Gemeinverständlichkeit‘ und Öffentlichkeit als (volks)aufklärerisches Projekt Die ‚Demokratisierung der Sprache‘ war eingebettet in eine Demokratisierung der Bildung, wie sie vor allem der Philanthropismus gegen Ende des 18. Jahrhunderts anstrebte (vgl. Schmitt 1979). Joachim Heinrich Campe hatte zunächst als Pädagoge versucht, Bildungsinhalte und -möglichkeiten auszuweiten. Auch als Verleger wollte er einen Transfer ‚nützlicher Kenntnisse‘ leisten. Einen auf das von Campe und anderen herausgegebene Braunschweigische Journal bezogenen Einwurf wider die Nützlichkeit periodischer Schriften von Christian Garve beantwortete er folgendermaßen: Periodische Schriften sind ein wohlausgesonnenes und zweckmäßiges Mittel, nützliche Kenntnisse jeder Art aus den Köpfen und Schulen der Gelehrten durch alle Stände zu verbreiten. Sie sind die Münze, wo die harten Thaler und Goldstücke aus den Schatzkammern der Wissenschaften, welche nie oder selten in die Hand der Armen kamen, zu Groschen und Dreiern geprägt werden, um als solche durchs ganze Land zu rouliren und zuletzt wol gar in den Hut des Bettlers zu fallen. Oder meinen Sie, reicher Mann! Sie, durch den das Kapital unserer wissenschaftlichen Nationalbank selbst vergrößert worden ist: meinen Sie, daß es gut seyn würde, wenn jenes Kapital immer und ewig nur in harten Thalern und Goldstücken bestände, nie zu Scheidemünze ausgeprägt würde? Für das Kapital selbst – vielleicht! Für Sie und andere Schatzmeister und Banquiers, besonders im Puncte der eigenen Bequemlichkeit – vielleicht! Aber auch fürs Publicum? Aber auch für uns andere, die wir oft nur ein Zweigroschenstück zu erwerben wissen, und gleichwol auch dieses Zweigroschenstück gar zu gern in die öffentlichen Fonds zum öffentlichen Nutzen legen mögten? Aber auch für Kreti und Pleti, welche nichts erwerben, und doch auch leben wollen, und doch auch an dem Nationalreichthum des Geistes, wäre es auch nur zur Leibes Nahrung und Nothdurft, Antheil nehmen mögten? Nimmermehr! Für alle diese wird es stets gut und wünschenswürdig bleiben, wenn das, was ein Kant, was ein Garve u.s.w. für Vaterland und Menschheit lucrirten und in grossen Stücken, also nur für Reiche, niederlegten, durch kleine Wechsler in kleinere Münzsorten umgesetzt, und so durchs ganze Publicum in wohlthätigen Umlauf gebracht wird. (Campe 1788, 32 f.; Herv. i. Orig. gesperrt)  

Diese Passage muss in erster Linie als ein wesentlicher Programmpunkt volksaufklärerischen Denkens gelesen werden: Wissen sollte nicht mehr nur horizontal im Bürgertum verbreitet, sondern auch vertikal in die unteren Stände transferiert werden. Nach der Französischen Revolution konkretisierte Campe dieses Programm, indem er es explizit auf die Sprache bezog. Auslösendes Moment für die Fokussierung der Sprache als Mittel der Wissensverbreitung war seine Beobachtung, dass im revolutionären Paris Angehörige des Dritten Standes sich offenbar problemlos über das politische Geschehen austauschen konnten, weil sie über die entsprechenden sprachlichen Mittel, insbesondere eine politische Lexik, verfügten. So schildert Campe (1790a, 51, Anm.) in seinen Briefen aus Paris, wie im August 1789 in Paris Angehörige des Dritten Standes über einen Entwurf der Déclaration des droits des Hommes diskutiert haben. Beeindruckt kommentiert er die Szene:

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„Lastträger sich mit den Rechten der Menschheit unterhalten zu sehn; welch ein Schauspiel!“ In Deutschland dagegen bestand der politische Wortschatz ganz überwiegend aus Fremdwörtern, und da den meisten Menschen eine Bildung, durch die dieser Wortschatz erklärt und vermittelt worden wäre, fehlte, waren der Mehrheit des Volkes reflektierte politische Meinungsäußerungen nicht möglich. Campe verfiel nun auf den Gedanken, die fehlende Bildung durch die Schaffung einer allgemeinverständlichen Sprache zu kompensieren. Dazu setzte er, wie schon Leibniz, bei dem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis von Denken und Sprechen, von Verstand und Sprache, an: So viel neue Wörter und Redensarten, eben so viel neue Empfindungen und Begriffe; so viel Abänderungen in jenen, eben so viel neue Schattirungen und nähere Bestimmungen in diesen. Das Wörterbuch und die Sprachlehre eines Volks geben also für die jedesmal mögliche Geistes=ausdehnung und Character=ausbildung desselben die unüberschreitbaren Grenzen an [...]. (Campe 1790b, 257 f.)  

Stärker noch als Leibniz betont Campe, dass die Sprache der „Geistes=ausdehnung und Character=ausbildung“ Grenzen setzt. Im Umkehrschluss heißt das: Sollen die geistigen Fähigkeiten ausgedehnt und der Charakter ausgebildet werden, müssen die gesamte Sprache – und in der Folge auch das individuelle Sprachvermögen – erweitert werden. Campe denkt nun aber nicht mehr an die Schaffung einer standardisierten überregionalen Norm und ihre horizontale Verbreitung, sondern fordert eine vertikal wirksame Veränderung der Sprache, d. h. ihre Verständlichkeit für alle Schichten, für das gesamte „Volk“. In typisch (volks-)aufklärerischer Manier begründet er seine Forderung so:  

Ich sagte ferner: eine Kenntniß könne nicht eher einem Volk angehören und auf das Volk nicht eher wirken, als bis sie aus den Köpfen der Gelehrten in die der ungelehrten Volksklassen übergegangen wäre. Auch das ist ja klar und unbezweifelbar gewiß; so gewiß es ist, daß wir in der Natur nur dann erst Tag, Tag für Alle haben, wann die Sonne am Himmel steht und Allen leuchtet, nicht wann Dieser oder Jener ein nur ihm leuchtendes Kerzenlicht auf seinem Zimmer hat. Da nun aber für das Wohl der menschlichen Gesellschaft alles darauf ankommt, nicht daß dieser oder jener einzelne Kopf, sondern daß das Volk, die große Masse der Gesellschaft selbst, erleuchtet werde; und da auf der andern Seite diese allgemeine Erleuchtung nicht eher Statt finden kann, als bis die unter das Volk zu verbreitenden Kenntnisse in allgemein verständliche Ausdrücke gekleidet worden sind: so folgt, daß die allgemeine Verständlichkeit der Wörter und Redensarten, als die Hauptbedingung zur Erreichung des letzten Zwecks der Sprache, auch der Sprache erstes und heiligstes Gesetz seyn müsse. (Campe 1794, XXXVI ff.; Herv. i. Orig. gesperrt)  

Nach Campes Ansicht behinderten vor allem Fremdwörter die Verbreitung von Kenntnissen unter das Volk. Fremdwörter nämlich seien, so seine Argumentation, nur für diejenigen verständlich, die sie beispielsweise im Schulunterricht erklärt oder definiert bekommen haben oder aber ihre Bedeutung ableiten können, weil sie die fremde Gebersprache beherrschen. All jenen Menschen aber, die keine Sach- oder Fremdsprachenbildung erhalten haben, müsse aufgrund der bestehenden Sprachen-

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trennung die Erlangung der entsprechenden Kenntnisse verwehrt bleiben – es sei denn, so Campes Schlussfolgerung, die Fremdwörter würden verdeutscht und erhielten eine semantische Motivierung, so dass sich ihre Bedeutung aus dem Wortbildungsprodukt heraus erschließen ließe. Beispiele für derartig erklärende Übersetzungen aus dem politischen Bereich, auf den Campe insbesondere abzielte, wären Straferlassung für Amnestie, Glaubenswuth für Fanatismus oder Staatsumwälzung für Revolution. Besonders deutlich werden Campes Absichten an seiner Übersetzung des Wortfeldes für Staatsformen. In seinem 1801 erstmals erschienenen und 1813 erweiterten Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke versucht er in den Artikeln Aristocrat und Aristocratie einige Übersetzungsvorschläge zu liefern, meint dann aber, dass man die „Abstammung des Wortes Aristocratie“ beiseitelassen und sich auf die damit bezeichnete Sache konzentrieren solle. „Wenigstens habe ich“, schreibt Campe (1813, 126), aus dem Wirrwarr von Aristocratie usw. mich nicht eher herausfinden können, bis ich jene Ausländer seitwärts liegen ließ, die Sache selbst, die Staaten scharf ins Auge faßte, und mir den Fall dachte, daß ich sie einem Deutschen, der kein Griechisch wüßte, mit einheimischen Ausdrücken bezeichnen sollte.

In Form eines Schaubilds, hier etwas vereinfacht wiedergegeben, erklärt er anschließend die verschiedenen Staatsformen: Ein Staat ist – entweder ein herrenloser d.i. ein von keinem Herren, sondern nur durch Gesetze beherrschter, ein Freistaat. In diesem werden die Gesetze – entweder unmittelbar vom Volke gegeben – ein Volksstaat (Democratie) – oder von Stellvertretern – ein Gemeinstaat (Republik) – oder ein Herrnstaat, d.i. ein von Einem oder mehren Herrn, dessen oder deren Wille für die Übrigen Gesetzeskraft hat, beherrschter. Ein solcher ist – entweder ein einherriger (Monocratie) – oder ein mehrherriger (Aristocratie) und wenn der Herren viele sind (Polycratie) ein vielherriger. Die Herrschgewalt dieser Herren ist – entweder durch eine Verfassung beschränkt – ein beschränkter Herrnstaat – oder nicht – ein unbeschränkter, willkürlicher, mit Einem Worte, ein Zwingherrnstaat (Despotie). (Herv. i. Orig. fett)

Campes Verdeutschungen der Bezeichnungen für die Staatsformen sind sprechend und in ihrer politischen Aussage deutlich, auch wenn ein Ausdruck wie vielherriger Herrnstaat wohl eher kurios anmutet. Es fällt auf, dass er den sachlichen Zusammenhang, der in den fremdsprachlichen Wörtern zum Ausdruck kommt, mit seinen Übersetzungen im Deutschen adäquat wiederzugeben versucht. Indem er das Grundwort

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Staat gemäß dem Analogieprinzip für alle Bezeichnungen der Staatsformen beibehält, motiviert er sie zusätzlich im Systemzusammenhang des Deutschen und erhöht auf diese Weise ihre Verständlichkeit, auch wenn aufgrund ihrer Länge und Umständlichkeit der kommunikative Wert dieser Bildungen sicherlich geschmälert wird. Darüber hinaus verfährt Campe – politisch gesehen – durchaus tendenziös: Allein schon die Gegenüberstellung von Freistaat und Herrnstaat zeigt eine Wertung an: frei im Sinne von ‚herrenlos‘ ist positiv konnotiert im Gegensatz zu ‚von einem oder mehreren Herren beherrscht‘. Campes Verdeutschungsprogramm lässt sich somit zugleich auch als ein Programm für gesellschaftliche Demokratisierung interpretieren, und zwar auf zwei Ebenen: Zum einen ermöglicht eine gemeinverständliche Sprache allen Bevölkerungsschichten die Partizipation an politischen Themen und ist damit eine Grundlage für die Schaffung demokratischer Strukturen innerhalb der Gesellschaft. Zum anderen wirkt die positive Deontik zentraler politischer Begriffe, die einen demokratischen Wert darstellen, meinungsbildend in Richtung auf eine demokratische Grundhaltung. Campe suchte also die Gesellschaft durch Sprachveränderung und die Sprache durch Politisierung zu demokratisieren. Vor dem Hintergrund seiner Begeisterung für die in der Anfangsphase der Französischen Revolution propagierten freiheitlichen Ideale und seinen Überlegungen, wie diese Ideale ohne revolutionäres Geschehen durch Reformen in Deutschland umgesetzt werden könnten, lässt sich sein Programm gedanklich (und damit theoretisch) durchaus nachvollziehen. Dass es praktisch, also in der Realität, aber scheitern musste, hat auch mit den historischen Umständen, der Restauration und dem aufkommenden Nationalismus, zu tun, ist aber wesentlich der Tatsache geschuldet, dass Campes Vorstellung einer allgemeinen und zugleich auch tendenziösen Verständlichkeit prinzipiell keine Grundfunktion einer Sprache sein kann. Diesen Punkt erkannte ganz deutlich der deutsch-baltische Publizist und Sprachkritiker Carl Gustav Jochmann (vgl. Schiewe 1989). In dem umfangreichen Kapitel Die Sprachreiniger seines anonym erschienenen Buches Ueber die Sprache (Jochmann [1828] 1968, 37–182) nimmt er eine Art Ehrenrettung Campes vor, indem er ihn als einen der „eifrigsten und einsichtsvollesten [...] Wortführer“ der Sprachreinigung bezeichnet, weil er „die Sprache des Volkes als Sache des Volkes“ beherzigt habe (Jochmann [1828] 1968, 39). Jochmann setzt sich differenziert sowohl mit Campes Programm als auch insbesondere mit seinen konkreten Verdeutschungs- und Sprachbereicherungsvorschlägen auseinander, kommt letztlich aber zu dem Schluss: „Ein Haufen Steine ist noch kein Haus, eine Menge Wörter noch keine Rede“ (Jochmann [1828] 1968, 175). Weit vorausblickend auf die systematisch erst im 20. Jahrhundert getroffene, aber auch schon bei seinem Zeitgenossen Wilhelm von Humboldt ([1830– 1835] 1979, 418) aufscheinende Unterscheidung zwischen ‚Sprachsystem‘ (in anderen Zusammenhängen ‚Kompetenz‘, ‚Sprachbesitz‘) und ‚Sprachgebrauch‘ stellt Jochmann ([1828] 1968, 173 f.) fest:  

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Es giebt offenbar, wenn auch nicht einem verschiedenen Wesen, doch seinen ganz verschiedenen Wirkungen zufolge, einen zwiefachen Sprachreichthum, wie einen zwiefachen Reichthum überhaupt; einen unfruchtbaren des bloßes Besitzes, und einen Früchte tragenden des Gebrauchs; einen der bleibend in den einmal gegebenen Stoffen besteht, und einen andern, der sich, einer ganz unbestimmbaren Vermehrung fähig, aus ihrer jedesmaligen Benutzung ergiebt. Und wie das größte Vermögen sich nur indem es einem belohnenden Fleiße dient verzinsen kann, so trägt auch der größte Sprachreichthum, erst wenn er durch Schrift und Rede vortheilhaft in Umlauf gesetzt wurde, seinem Besitzer etwas ein.

Jochmann verlagert den Blick weg von der bloß innersprachlichen Motiviertheit der Einzelwörter als Voraussetzung für Gemeinverständlichkeit hin zu einer kommunikativen Verständlichkeit, die sich im Gebrauch erweisen muss, sich aber durch Gebrauch auch überhaupt erst ergibt. Folgerichtig stellt er in dem auf Die Sprachreiniger folgenden zentralen Kapitel die Frage: Wodurch bildet sich eine Sprache? (Jochmann [1828] 1968, 183–246). In einer aufklärerisch-metaphorischen Formulierung lautet seine Antwort: „Luft und Licht“ (Jochmann [1828] 1968, 189), in politischer, genauer in der ihm eigenen demokratischen Diktion: „Öffentlichkeit“. Diese Position hat Jochmann in dem ebenfalls anonym publizierten Aufsatz Ueber die Oeffentlichkeit entwickelt (vgl. Jochmann [1830] 1990). Sein Ausgangspunkt ist verfassungspolitischer Art. Er befürwortet ein System der Gewaltenteilung, sucht aber nach einer Instanz, die die Möglichkeit der Vereinigung der Gewalten verhindert kann: Fragt sich’s, wem eine schrankenlose Macht gehören soll, so wäre die gefahrloseste Antwort: Keinem, keinem Menschen, sondern jedem Gedanken, der einer solchen Auszeichnung würdig ist [...]. Soll aber der Wert eines Gedankens beurteilt werden, so ist seine Prüfung erforderlich. Andere Gedanken müssen ihm zur Seite und gegenüber stehen; er muß der Vergleichung und dem Widerspruche unterworfen sein. Um dem Kampfe der Gewalten zu entgehen, müssen wir uns den der Meinungen gefallen lassen, denn eben aus der Reibung sich bekämpfender Meinungen leuchtet die Wahrheit hervor. Die Reibung der Meinungen aber setzt ihre Bewegung voraus, und sie bewegen sich in ihrer Mitteilung. Wo die beste Meinung erkannt werden soll, muß die schlechteste gehört werden dürfen. Der Preis, der einzige Preis, um den uns die Wahrheit ihre Orakel verkauft, heißt Öffentlichkeit. (Jochmann [1830] 1990, 209)

Öffentlichkeit mit ihren medialen Instrumenten der Presse- und Redefreiheit hat für Jochmann die Funktion, die Gewalten zu kontrollieren, denn sie ist derjenige Ort, an dem jede Meinung geäußert und ein Streit der Meinungen ausgetragen werden kann. Wenn er davon spricht, dass „aus der Reibung sich bekämpfender Meinungen“ die Wahrheit hervorleuchte, dann meint er damit keine objektive Erkenntnis, sondern einen diskursiv hergestellten Konsens oder zumindest eine diskursiv ausgehandelte mehrheitliche Meinung, denn es „giebt keine so große Wahrheit, aus der sich nicht eine größere folgern ließe, keine so wichtige Entdeckung, die nicht zu einer noch wichtigeren den Weg bahnte“ (Jochmann ([1828] 1968, 94). Diesen Zusammenhang hat er in einem für ihn charakteristischen Aphorismus folgendermaßen zum Ausdruck gebracht:

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Wer den Zweck will, muss das Mittel wollen, wer Wahrheit – Öffentlichkeit; denn jene achtet nur der nicht, der es für unmöglich hält, daß sie ihm gesagt werde. (Jochmann [1828] 1968, 357)

Jochmann verbindet aufklärerisches und frühliberales Denken zu einer politischen Sprachkritik, deren Grundlage in der dialektischen Verschränkung von Sprache und Öffentlichkeit besteht: Sprache entwickelt sich in der Öffentlichkeit und Öffentlichkeit existiert maßgeblich durch Sprache. Ihr Verhältnis charakterisiert er folgendermaßen: Die erste und wichtigste von allen Oeffentlichkeiten, und die jeder andern zum Grunde liegt, ist eine verständliche Sprache; und wie jede andre Oeffentlichkeit nicht nur indem sie das Gute bekannt macht, sondern auch, und noch mehr, indem sie das Böse aufdeckt, ihre Wohlthätigkeit bewährt, so ist eine Sprache um so höher zu schätzen, je unverhüllter sie auch die hinfällige Lüge in ihrer ganzen Blöße darstellt, wie die nackte Wahrheit in ihrer ganzen Kraft. (Jochmann [1828] 1968, 120 f.)  

Jochmann nimmt ein System von Öffentlichkeiten an, in dem eine verständliche Sprache die Bedingung seines Funktionierens darstellt. Sprache ist folglich konstitutiv für Öffentlichkeit, da sie deren gesellschaftlich und politisch relevanten Gegenstände überhaupt erst kenntlich und kommunikabel macht, sie ist zugleich aber auch selbst eine Form von Öffentlichkeit, denn Meinungen können nur in sprachlicher Form kommuniziert und wirksam gemacht werden. Als „wichtigsten Zweck der Sprache“ bezeichnet Jochmann (ebd., 170) den eines „allgemeinen Werkzeuges gesellschaftlicher Entwickelung“. Diese Entwicklung zielt auf eine demokratische Öffentlichkeit, deren Kommunikationsbedingungen die Voraussetzung für die Ausbildung einer Sprache sind, in der „Lüge“ und „Wahrheit“ geäußert werden können – und auch dürfen. Grundsätzlich nämlich gilt, wie Jochmann (ebd., 221) an zentraler Stelle seines sprachkritischen Werkes resümiert: Herren und Knechte sind selten gute Sprecher. Besäßen sie auch die Fähigkeit es zu werden, die Einen wagten, die Andern brauchten es nicht zu seyn, und ihr wechselseitiger Verkehr ist auch in dieser Hinsicht ein bloßer Austausch ihrer Fehler.

Politische und gesellschaftliche Ungleichheit spiegelt sich in einer Asymmetrie der Kommunikation, die ihrerseits die Ausbildung der Sprache behindert. Folglich ist der in einer Gesellschaft ausgeübte Sprachgebrauch Ausdruck der in dieser Gesellschaft existierenden politischen Machtverhältnisse – ändern sich diese Verhältnisse, so ändern sich auch die Möglichkeiten des Sprachgebrauchs. Politische Sprachkritik besteht für Jochmann darin, den konkreten Sprachgebrauch als Indikator für kommunikative Möglichkeiten zu betrachten und aus dem Befund politische Forderungen abzuleiten. Für den Sprachgebrauch seiner Zeit, der Phase der Restauration, stellt Jochmann die Merkmale „Unbestimmtheit, Unverständlichkeit und Härte“ (ebd., 207–227) fest und führt sie auf die „Seltenheit einer lauten Sprachübung im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben“ (ebd., 220) zurück. Jochmanns Verknüp-

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fung von Sprachgebrauch und politischen Verhältnissen läuft letztlich auf den radikal-demokratischen Gedanken hinaus, Öffentlichkeit, zu der jeder kommunikativ Zugang haben müsse, stelle als vierte Gewalt eine „Volkssouveränität“ (Jochmann [1830] 1990, 214) verkörpernde Größe dar, die eine Aufsicht über die Staatsgewalten ausüben und damit Macht und Machtmissbrauch kontrollieren könne (vgl. Schiewe 2004, 266–277). Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass in und mit Öffentlichkeit kaum jemals jene ihr von Jochmann zugeschriebene ideale Kommunikationssituation realisiert worden ist, in der sich frei eine ‚öffentliche Meinung‘ als Mehrheitsmeinung des Volkes hätte bilden können. Diese Feststellung muss aber nicht gegen Jochmann sprechen, sondern bekräftigt vielmehr die Dauerhaftigkeit der Aufgabe, eine Sprachkritik mit der Forderung nach freier Rede als Mittel zum Zweck fortwährender gesellschaftlicher Demokratisierung zu betreiben.

5 Die Politisierung der Sprache Mit Carl Gustav Jochmann endete – jedenfalls für das 19. Jahrhundert – die Phase aufklärerischer politischer Sprachkritik. In einer diskursiven Überlappung hatte, parallel zur Konstituierung der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, bereits seit Beginn der so genannten Befreiungskriege gegen Napoleon eine andere Form von Sprachkritik die öffentliche Aufmerksamkeit beansprucht (vgl. Schiewe 2003). Sie erschöpfte sich ganz überwiegend in einem populistischen, rückwärtsgewandten nationalistischen Purismus (u. a. Friedrich Ludwig Jahn, Ernst Moritz Arndt) und fand in der geschichtlichen Phase zwischen Reichsgründung und beginnendem Nationalsozialismus in den Aktivitäten des Allgemeinen deutschen Sprachvereins ihren unrühmlichen Höhepunkt (vgl. Schiewe 1998, 150–176). Während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik wurde eine Sprachkritik, die auf gesellschaftliche Demokratisierung hinzuwirken versuchte, nur vereinzelt betrieben. Hervorzuheben sind allerdings die beiden öffentlichkeitswirksamen Autoren Karl Kraus und Kurt Tucholsky, die sich vehement gegen die Bevormundung des Denkens durch einen von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen beherrschten und verbreiteten Sprachgebrauch wandten. Kraus betrachtet Sprechen und Denken als identisch, weshalb er von grammatischen Fehlern auf korruptes Denken – und umgekehrt – schließt. In zahlreichen Artikeln und Glossen seiner Zeitschrift Die Fackel, die insbesondere den journalistischen Sprachgebrauch seiner Zeit kritisch in den Blick nehmen, scheint immer wieder auch die politische Funktion von Sprache auf:  

Die Welt ist taub vom Tonfall. Ich habe die Überzeugung, daß die Ereignisse sich gar nicht mehr ereignen, sondern daß die Klischees selbsttätig fortarbeiten. Oder wenn die Ereignisse, ohne durch die Klischees abgeschreckt zu werden, sich doch ereignen sollten, so werden die Ereignisse

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aufhören, wenn die Klischees zertrümmert sein werden. Die Sache ist von der Sprache angefault. Die Zeit stinkt schon von der Phrase. (Kraus 1955, 229)

Weil sich die Sprache der Presse in Form von Klischees und Phrasen verselbstständigt habe, verstelle sie den Blick auf die „Ereignisse“, die Wahrnehmung von Wirklichkeit. Deshalb zielt Kraus mit seiner Sprachkritik nicht – wie Jochmann – darauf ab, in einer durch Pressefreiheit gekennzeichneten Öffentlichkeit die Möglichkeit zu sehen, eine gemeinverständliche und damit demokratische Sprache auszubilden, in der Wahrheit und Lüge benannt werden können. Seiner Ansicht nach ist es ja gerade die Presse, die die öffentliche – besser wohl: veröffentlichte – Sprache korrupt gebraucht. Vor diesen Missbräuchen sucht er ‚die Sprache‘ in Schutz zu nehmen. Sprache ist für Karl Kraus ein natürlicher Organismus mit unumstößlichen Regeln der Grammatik und festen Bedeutungen der Wörter. Ihre Richtigkeit besaß sie seines Erachtens in ihrem Ursprung, weshalb er die Rückkehr zum Ursprung der Sprache auch als Ziel von Sprachkritik ansieht. Politisch wird dieses Ideal einer reinen, ursprünglichen Sprache dadurch, dass Kraus (1954, 437) sie zur Grundlage gesellschaftlichen Handelns machen möchte: „Welch ein Stil des Lebens möchte sich entwickeln, wenn der Deutsche keiner andern Ordonnanz gehorsamte als der der Sprache.“ Es wäre nach Karl Kraus‘ Überzeugung ein freiheitlicher, ein demokratischer Stil. Im Grundsatz ähnlich verfährt auch Kurt Tucholsky in seinen Sprachglossen, die er unter verschiedenen Pseudonymen v. a. in der Weltbühne publiziert hat. Er kritisiert ebenfalls einen öffentlichen Sprachgebrauch, den er relativ harmlos „Neudeutsch“ (1926) nennt, der seiner Ansicht nach aber Ausdruck von undemokratischem Verhalten, Kriegstreiberei des Militärs und Autoritätsgehabe der Beamten ist:  

Die Kennzeichen des neudeutschen Stils sind: innere Unwahrhaftigkeit; Überladung mit überflüssigen Fremdwörtern, vor denen der ärgste Purist recht behält; ausgiebige Verwendung von Modewörtern; die grauenhafte Unsitte, sich mit Klammern (als könne mans vor Einfällen gar nicht aushalten) und Gedankenstrichen dauernd selber – bevor es ein anderer tut – zu unterbrechen, und so (beiläufig) andere Leute zu kopieren und dem Leser – mag er sich doch daran gewöhnen! – die größte Qual zu bereiten; Aufplusterung der einfachsten Gedanken zu einer wunderkindhaften und gequollenen Form. (Tucholsky 1975, Bd. 4, 399)

Tucholsky sucht, oftmals in satirischer Zuspitzung, das Sprachgefühl seiner Leserinnen und Leser zu schärfen, damit sie die gesellschaftlichen Verhältnisse durchzuschauen und dann auch möglichst verändern. Der Ausgangspunkt und das Mittel für eine solche Veränderung ist nach Ansicht des Pazifisten Tucholsky die Sprache, denn „Sprache ist eine Waffe“ (Tucholsky 1975, Bd. 7, 189). In dieser prägnanten Sequenz aus der Glosse Mir fehlt ein Wort (1929) hat er der Sprache die zentrale Rolle in politischen Auseinandersetzungen und auch im Streben nach Demokratie zugewiesen. Gegen den Nationalsozialismus allerdings, der seinen Feinden mit unmittelbarer Gewalt begegnete und sie skrupellos tötete, konnte die Sprache, wie Kurt Tucholsky sie gebrauchte, als Waffe nichts ausrichten. Wohl diese Einsicht war es, die ihn „Eine

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Treppe“ mit den paradoxerweise resignativ ansteigenden Stufen zeichnen ließ: „Sprechen – Schreiben – Schweigen“ (Tucholsky 1975, Bd. 10, 147). In der Zeit des Nationalsozialismus war es offen und öffentlich nicht möglich, das aufklärerische Potential von Sprache zu nutzen, um Sprachkritik am herrschenden Sprachgebrach zu betreiben und Sprachbewusstsein im Sinne von Demokratisierung auszubilden. Dem britischen Linguisten William J. Dodd ist es allerdings zu verdanken, einen „Sprachdiskurs in der Frankfurter Zeitung 1933–1943“ erschlossen und textlich zugänglich gemacht zu haben, der sich resistent gegen die Einflüsse und Merkmale des faschistischen Sprachgebrauchs zeigte und zugleich „auf das ‚demokratische‘ Wesen von Sprache“ verwies (Dodd 2013, 23). In Form einer „verdeckten Schreibweise“ machten in diesem insgesamt achtzig Texte umfassenden Diskurs (vgl. ebd., 55–224) verschiedene Autoren – u. a. Dolf Sternberger, der spätere Mitverfasser des Wörterbuchs des Unmenschen – die Sprache in einer Art und Weise zum Thema, dass sie, quasi wie eine Insel im Meer der nationalsozialistischen Sprachlenkung, „als Sinnbild von Freiheit und Demokratie“ wahrgenommen werden konnte (ebd., 23). Eine politische Veränderung hat dieser Sprachdiskurs nicht hervorgebracht, aber möglicherweise doch das Bewusstsein bekräftigt, dass man sich – ganz im Sinne der Aufklärung – die Fähigkeit zum Selbstdenken erhalten kann, wenn man eine kritische Distanz zum herrschenden Sprachgebrauch wahrt. Ein Blick auf die Zeit seit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft zeigt, dass die bundesrepublikanische Sprachkritik in vielen Fällen politisch motiviert war und dabei keineswegs nationalistische Töne – auch wenn sie durchaus vorkamen und wieder verstärkt vorkommen – im Vordergrund standen. Bemerkenswert ist allerdings, dass Demokratie und Demokratisierung als Ideale nicht explizit benannt werden, sondern – so im Wörterbuch des Unmenschen (Sternberger/Storz/Süskind [1957] 1986) und in Sprache in der verwalteten Welt (Korn [1958] 1962) – vor allem ‚inhumane‘ und den Menschen ‚registrierend-verwaltende‘ Tendenzen im Sprachgebrauch kritisiert werden. Damit werden zwar nicht-demokratische Merkmale des Sprachgebrauchs ausführlich benannt und auch illustriert, die Gelegenheit, demokratischen Sprachgebrauch positiv zu charakterisieren, wird jedoch nicht genutzt. Auch Uwe Pörksen (1988) verzichtet in seinem Essay Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur ebenfalls auf einen explizit positiv konnotierten Bezugspunkt ‚Demokratie‘. Indem er aber mit den von ihm so genannten Plastikwörtern ein sprachliches Phänomen identifiziert und bewertet, das er als diktatorisch bezeichnet, schafft er, wie Sternberger/Storz/Süskind [1957] 1986) und Korn [1958] 1962), zumindest implizit das Bewusstsein für einen demokratischen Sprachgebrauch. Bemühungen, Sprachkritik, aber auch Sprachwissenschaft ausdrücklich mit einem aufklärerischen und demokratischen Anspruch und Auftrag zu verstehen und zu betreiben, sind in den letzten Jahren verstärkt zu beobachten. Abschließend seien folgende Ansätze hervorgehoben: Die seit 1992 existierende Aktion Unwort des Jahres will  

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auf öffentliche Formen des Sprachgebrauchs aufmerksam machen und dadurch das Sprachbewusstsein und die Sprachsensibilität in der Bevölkerung fördern. (http://www.unwortdesjahres.net/index.php?id=grundsaetze; Abruf am 15. Juni 2018)

Der Verstoß gegen „Prinzipien der Demokratie“ ist eines der vier Charakteristika für ein Unwort (http://www.unwortdesjahres.net/index.php?id=grundsaetze; Abruf am 15. Juni 2018), dessen Wahl einmal jährlich in den Medien breit diskutiert wird (vgl. Wengeler 2013). Auch die seit 2005 existierende sprachkritische Zeitschrift Aptum vertritt programmatisch den Anspruch, eine „aufklärerische Sprachkritik“ zu betreiben, die sich das Ziel setzt, „den Gebrauch der jeweiligen Sprache in ihren verschiedenen Funktionsbereichen begründet zu reflektieren und gemäß demokratischer Kommunikationsmaximen zu optimieren“ (Schiewe/Wengeler 2005, 5). Einen durchaus politisch zu verstehenden Ansatz von „Sprachkultiviertheit“ hat Nina Janich entwickelt (vgl. Janich 2004; 2005). Sie vertritt die Auffassung, dass „Sprachreflexion ein Mittel der Aufklärung und Sprachkultivierung“ ist, wobei sie den wichtigen Schritt von der „Sprachkritik zur Sprecherkritik“ macht. Sprecherkritik als ein Instrument der Aufklärung [...] sollte die Sprachkultivierung der Sprecher zum Ziel haben, d. h. deren Kompetenz zum sprachlichen Handeln befördern und sie zu mündigen Sprechern machen. (Janich 2013, 370)  

Im engeren Bereich der Sprachwissenschaft wird darüber nachgedacht, welche Rolle die Themen „Aufklärung“ und „Demokratie“ im Fach spielen oder spielen sollten. Dabei wird, wie von Gerd Antos (2007, 160) in seinem Aufsatz des Bandes Was heißt linguistische Aufklärung? (Feilke/Knobloch/Völzing 2007) – allerdings vor allem ein Desiderat konstatiert: Aufklärung, eine der zentralen Entwürfe der Moderne, ist im Hinblick auf seine Wirksamkeit trotz seiner Verwandtschaft zur Wissenschaft, offensichtlich erst ansatzweise Gegenstand einer empirischen Forschung.

Explizit danach, was „Sprach-, Medien und Kulturwissenschaften zur Demokratisierung von Gesellschaft beitragen“ können, fragen Clemens Knobloch und Friedemann Vogel in ihrer Einleitung zu der von ihnen herausgegebenen Ausgabe „Sprache und Demokratie“ der Zeitschrift Linguistik Online (2015). Aus der Fülle möglicher sprachwissenschaftlicher relevanter Aspekte sei hier lediglich das Konzept ‚Leichte Sprache‘ angesprochen, mit der durch die Schaffung einer ‚barrierefreien Kommunikation‘ zur Partizipation benachteiligter Gruppen an politisch und gesellschaftlich relevanten Themen beigetragen werden soll (vgl. Bock 2015; Schiewe 2017). Die genannten sprachkritischen, sprachkultivierenden und auch sprachwissenschaftlichen Ansätze sind zu großen Teilen integriert in sprachdidaktische Überlegungen zur inhaltlichen Füllung des Lernbereichs ‚Reflexion über Sprache‘, der erstmals

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1969 in dem Bildungsplan für das Fach Deutsch an Gymnasien des Landes Hessen angeführt wird und offenbar das größte Potential zur nachhaltigen Förderung von Aufklärung und gesellschaftlicher Demokratisierung besitzt. Spracherziehung zur Demokratie, so Eva Neuland (2005, 80), bestehe vor allem in der Bereitschaft und der Fähigkeit zum kooperativen Sprachhandeln und zur sprachlichen Verständigung, zu Toleranz und Akzeptanz unterschiedlicher sprachlicher Normen und Verhaltensweisen, zur kritischen Auseinandersetzung mit Meinungen und Positionen, zur konstruktiven Mitgestaltung von Entscheidungen und zur Bildung und Begründung einer eigenen Meinung.

Diskursgeschichtlich orientierte Anregungen, wie diese Fähigkeiten an konkretem sprachlichen Material erworben und eingeübt werden könnten, gibt Martin Wengeler (2003) in seinem Aufsatz Sprache in der Demokratie. Bevor aber sprachwissenschaftliche und sprachkritische Erkenntnisse im schulischen Unterricht zum Zweck demokratischer Willensbildung bei Schülerinnen und Schülern eingesetzt werden können, müssen sie in der universitären Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern – wohl nicht nur, aber ganz besonders – des Faches Deutsch verankert werden (vgl. Roth 2011). Wie bei der Vermittlung von Sprachreflexions- und Sprachbewertungskompetenzen vorgegangen werden könnte, ist in dem Kapitel Didaktische Sprachkritik bei Kilian/Niehr/Schiewe (2016, 114–173) dargelegt.

6 Ausblick Die Befähigung zum ‚Selbstdenken‘ als zentrale Forderung der Aufklärung setzt eine Allgemeinverständlichkeit der Sprache voraus. Die Praxis, sich selbstdenkend auch äußern zu können, bedarf darüber hinaus freier kommunikativer Verhältnisse, wie sie in dem Ideal von Öffentlichkeit gegeben sein sollten. Beides, eine gemeinverständliche Sprache und Öffentlichkeit, sind miteinander verschränkt – das eine befördert das andere. Eine Öffentlichkeit, die grundsätzlich die Beteiligung aller an allen relevanten gesellschaftlichen Fragen garantiert, ist – so der Befund des Blicks in die Geschichte von Sprachreflexion und Sprachbewertung – eine wesentliche Voraussetzung für die Bedingung der Möglichkeit gesellschaftlicher Demokratisierung. Darüber hinaus aber bedarf es auch mündiger Bürger, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung verantwortlich im Sinne demokratischer Verhaltensnormen wahrnehmen. Diese Verpflichtung steht im engen Zusammenhang mit der folgenden Feststellung, die, seit Jochmann ([1828] 1968, 76 f.) sie vor nunmehr beinahe 200 Jahren getroffen hat, nichts von ihrer Gültigkeit für eine demokratische Gesellschaft eingebüßt hat:  

[...] denn das ist nicht vonnöthen, daß der Mensch zu dieser oder jener Menschenabtheilung gehöre, daß er ein Deutscher oder ein Türke, wohl aber ist nöthig, daß ihm überall seine ganze

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Menschenbestimmung erreichbar, daß ihm nirgends ein unentbehrliches Mittel seiner Entwickelung verkümmert oder benommen sey.

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10. Sprachrichtigkeit und Sprachlogik: Von der ‚reinen‘ Sprache zum ‚klaren‘ Gedanken Abstract: Dieses Kapitel umreißt die Entstehung von öffentlichen Sprachurteilen vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zu deren Etablierung während der Befreiungskriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dieser lange Zeitraum umfasst sowohl den Beginn der Reflexionen über die deutsche Sprache auf Deutsch wie auch die in Urteilen implizit und explizit erwähnten unterschiedlichen Funktionalisierungen der Sprache, z. B. als Mittel der Erkenntnis oder zur Verwirklichung politischer Ideale. Kernaussage des Kapitels ist, dass die schriftlich tradierten Ideale der ‚reinen Sprache‘ und der ‚klaren Sprache‘ sich von den Sprachgesellschaften des Barock über die Aufklärung bis zum (Sprach-)Nationalismus in Deutschland in einem Punkt verändern: Die ‚Reinheit der Sprache‘ ist ein früher Versuch der v. a. sprachstrukturellen, diachronen Begründung der Ursprünglichkeit des Deutschen, während die ‚Klarheit der Sprache‘ wesentlich stärker die kommunikative und damit gesellschaftliche Funktion der Sprache im Blick hat.  





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Einleitung ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Urteil‘ in diachroner Perspektive Antike Grundfragen und Grundlage ‚Reinheit‘: Mythos und Ethos ‚Klarheit‘: Denken und Ausdrücken Ausblick: Kontinuitäten und Diskontinuitäten Literatur

1 Einleitung Urteile über die Sprache und den Sprachgebrauch sind ein wesentlicher, konstitutiver Teil der Sprachgeschichte. Oskar Reichmann (1998, 1–2) unterscheidet mit Bezug auf die Sprachgeschichte a) die sprachsystemische „Objektebene“, b) die „Idee von Sprachgeschichte“ (erste Metaebene) und c) die „Verwirklichung von Sprachgeschichte“ (ebenfalls erste Metaebene). Die (b) Idee von Sprachgeschichte beruht auf der (a) zeitlichen Linearität von Sprache, während die (c) Verwirklichung von Sprachgeschichte die v. a. wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sprache meint, die in der reflektierten Verbindung von (a) und (b) besteht (vgl. Reichmann 1998, 1–2). Sprachurteile finden sich in (b) und (c) in unterschiedlichen Formen und Funktionen.  

https://doi.org/10.1515/9783110296150-011

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Dabei sind Urteile nicht nur Ausgangspunkt oder Ergebnis von Debatten über unterschiedliche Sprachideale in Gesellschaft, Staat und Wissenschaft; es handelt sich bei Sprachurteilen vielmehr um eine gegenstandsbezogen-funktionale Kategorie, die sowohl explizit wertende wie auch weniger wertende Aussagen über Sprache und ihren Gebrauch umfasst. Intensive Reflexionen, normative Aussagen sowie Urteile im engeren Sinne über Sprache sind eingebettet in vorausgegangene Auseinandersetzungen mit dominanten und z. T. kontroversen Denkweisen. Diskursive Prozesse bringen bestimmte Sprachbegriffe und Auffassungen über Sprache überhaupt erst hervor (vgl. den Beitrag von Spitzmüller in diesem Band). Die heutige Trennung in eine ‚professionelle‘ und eine ‚nicht-professionelle‘ Auseinandersetzung mit Sprache muss dabei als historische Entwicklung begriffen werden (vgl. Schiewe 2003). Ferner ist bei der sprachgeschichtlichen Annäherung an Sprachurteile in besonderer Weise zu berücksichtigen, dass die Sprachbegriffe durch Außersprachliches wie z. B. politische Ereignisse, Herrschaftspraktiken (Zensur), kulturelle Werte, religiöse Dogmen, technisch-mediale Neuerungen und wissenschaftliche Entdeckungen geprägt sind und sich unterschiedlich schnell und stark wandeln. Da auch der Sprachwandel unter etwa sprachstrukturellen, medialen oder regionalen Gesichtspunkten unterschiedlich tiefgreifend und rasch verläuft, ist bei der Untersuchung von Sprachurteilen zwischen (a) der Sprachstruktur und der (wertenden) Konstruktion der Sprache bei (b) und (c) in der oben genannten Perspektive zu differenzieren. Im Folgenden wird exemplarisch gezeigt, dass Urteile über Sprache von Kontinuitäten und Diskontinuitäten geprägt sind. Konkretisiert wird dies am Wandel vom Topos der ‚Reinheit der Sprache‘ Mitte des 17. Jahrhunderts zum Topos der ‚klaren Sprache‘ zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dieser Wandel lässt sich anhand der Adjektive rein und klar sowie deren Derivationen zur Charakterisierung der deutschen Sprache bzw. zur Forderung an den Sprachgebrauch des Deutschen erkennen. Neben dieser wortorientierten Rekonstruktion werden Sprachurteile rekonstruiert, die Prämissen oder Implikationen von Sprachidealen der ‚Reinheit‘ oder ‚Klarheit‘ enthalten. Die Darstellung beginnt um 1650, weil zu diesem Zeitpunkt die expliziten (positiven) Urteile über die deutsche Sprache auf Deutsch gefällt werden und es zu einer v. a. argumentativ und performativ wirkmächtigen Verschränkung von Medium und Gegenstand kommt (vgl. dazu Stukenbrock 2007, 214–216). Mit Beginn des 18. Jahrhunderts kann zudem von der Vorbereitung zur Herstellung von Öffentlichkeit gesprochen werden, die durch die verstärkte Hervorhebung einer gemeinsamen Sprache, z. B. durch die Bildung von Rezipierendengruppen vor sich geht: Ab 1600 nimmt die Zahl der deutschsprachigen Periodika stark zu, wodurch (neben der Verbreitung durch die Lutherbibel) das Meißnische als einheitliche Varietäten des geschriebenen Deutsch gestärkt wird; auf die v. a. ökonomisch bedingte gemeinsame Rezeption von Nachrichtenblättern folgen ab 1750 verstärkt deutschsprachige Buch- und Zeitschriftenproduktionen (vgl. Polenz 1994, 16, 34–36) und die Institutionalisierung des Lesepublikums (vgl. Dann 1981, 23–24). Das Kapitel endet mit der Radikalisierung bereits bestehender Sprachurteile in der Öffentlichkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wäh 









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rend zugleich die Germanischen Philologien an deutschen Universitäten entstehen und sich professionalisieren. Diese lange Zeitspanne umfasst sowohl die ‚Spracharbeit‘ der kulturpatriotischen Vereine des Barock wie auch den Sprachrationalismus der Aufklärung und den Sprachnationalismus während der Französischen Besatzung Preußens. Sprachhistorisch ist diese Zeit von großer Bedeutung, weil sich vor dem Hintergrund der politischen, sozialen und kulturellen Wandlungsprozesse mehrere nachwirkende Entwicklungen vollzogen: Ausbildung des Hochdeutschen als Leitvarietät, Normierung der Sprache (vgl. Faulstich 2008), Reflexion über identitätsstiftende Gemeinschaftskonstruktion (vgl. Stukenbrock 2005) sowie stete Vergrößerung des Bücher- und Periodikamarktes. Viele heutige normative Standpunkte in öffentlichen Diskussionen um die deutsche Sprache greifen Sprachideale des behandelten Zeitraums auf, wodurch diese sich rückwirkend als wirkmächtig erweisen.

2 ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Urteil‘ in diachroner Perspektive Über ‚Öffentlichkeit‘ in zurückliegenden Zeiten zu sprechen ist aus mindestens zwei Gründen schwierig. (1) ‚Öffentlichkeit‘ ist ein historisches Konzept, dass es in unserem heutigen Verständnis erst seit der Entstehung des Bürgertums im 18. Jahrhundert gibt (vgl. Habermas 1990, 80–85) und seit damals v. a. auch sprachlich bedingt tiefgreifende Wandelungsprozesse durchlaufen hat (vgl. dazu und zum Folgenden Schiewe 2004; vgl. auch den Beitrag von Bock/Antos in diesem Band). Ein Problem der Untersuchung öffentlicher Sprachurteile früherer Zeit besteht darin, von diesem modernen, normativen Öffentlichkeitsbegriff geprägt zu sein. Dieser ist, theoretisch reflektiert, in der Untersuchung in ein erkenntnisförderndes Spannungsverhältnis mit früheren Formen von Öffentlichkeit und Öffentlichkeitsverständnissen zu setzen. Linguistisch betrachtet wird eine meinungsbildende Öffentlichkeit durch eine bestimmte Art des Sprachgebrauchs erst hervorgebracht (vgl. Jochmann 1828, 120–121). (2) Eine vergangene Öffentlichkeit kann nur mittelbar rekonstruiert werden. Der Zugang geschieht zwangsläufig über die (Re-)Konstruktion von Öffentlichkeit auf der Grundlage von überlieferten Quellen. Diese Quellen sind hinsichtlich ihres Status als möglicher Teil von Öffentlichkeit (z. B. Kommunikationsbereich, Rezipierendenkreis) und als Funktion zur Herstellung von Öffentlichkeit (Textfunktionen) zu untersuchen. Diachrone Untersuchungen zu Urteilen erfordern neben einem Verständnis von den konkreten Bedingungen der Sagbarkeit (vgl. Foucault [1968] 2001, 869) ein theoretisches Verständnis für die Überlieferungsgeschichte der Urteile. Anders als z. B. Urkunden werden textliche Sprachurteile (z. B. Vereinssatzungen, Stillehren, vgl. Gardt 1994, 3–5) vermutlich seltener als ‚bewahrenswert‘ eingestuft. Deshalb hat  







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Kilian (2002, 144–154) ausdrücklich auf die Berücksichtigung interessegeleiteter Einstufungen von sprachreflexiven Texten als ,Überreste‘ oder als ‚Performanzarchive‘ und die daraus resultierenden Schwierigkeiten für die Sprachgeschichtsschreibung hingewiesen. Zum Verständnis von öffentlichen Sprachurteilen im 17. und 18. Jahrhundert ist von herausragender Bedeutung, dass das Zeitalter der (Spät-)Aufklärung auch das Zeitalter der entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit ist. Ferner setzt sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Deutsch als Wissenschaftssprache durch, wodurch es zur Nationalisierung und Funktionsveränderung (u. a. Übernahme gesamtgesellschaftlicher Aufgaben) der Universitäten kommt (vgl. Schiewe 1996, 277–280). Der gesellschaftliche Austausch nimmt dadurch einerseits zu, andererseits wird durch die universitäre Professionalisierung die Trennung in ‚wissenschaftliche‘ und ‚nichtwissenschaftliche‘ Sprachurteile institutionell fixiert. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass vergangene Urteile über Sprache unser heutiges Wissen über Sprachurteile prägen, da wir uns (trotz Diskontinuitäten) innerhalb des mehr oder weniger selben Diskurses bewegen; andersherum prägt unser Urteil über Sprache die Wahrnehmung früherer Beurteilungen von Sprache, z. B. aufgrund unseres jeweils eigenen Sprachbegriffs.  



3 Antike Grundfragen und Grundlage ‚Reinheit‘ und ‚Klarheit‘ gehen in zwei wesentlichen Punkten auf die Antike zurück. Der erste, sprachphilosophische Punkt behandelt die Frage, inwiefern eine Sprache als Verbindung von Ausdruck und Inhalt überhaupt ‚rein‘ oder ‚klar‘ sein kann (3.1). Die Quelle normativer Vorstellungen von ‚Klarheit‘ der Sprache ist die Rhetorik (3.2).

3.1 Kratylos und die Folgen: Die Fragen der ‚Richtigkeit‘ der Wörter In Platons Kratylos-Dialog (ca. 390–370 v. Chr.) wird die Frage erörtert, ob die Namen der Dinge ‚der Natur nach‘ oder ‚der Übereinkunft nach‘ richtig sind. Während Kratylos die Meinung vertritt, „es gebe eine für jedes Ding eine ihm von Natur zukommende Richtigkeit der Benennung“, meint sein Dialogpartner Hermogenes:  

Denn mir scheint, welchen Namen jemand einem Ding beilegt, der ist auch der richtige […]. Denn nicht von Natur aus existiert für jedes Ding ein Name, sondern durch Brauch und Gewohnheit der Gewohnheitsstifter und Sprecher. (Platon [1974] 384c–d)

Die erste Position, die Kratylos vertritt, wird als Physei-These (auch Physis-These genannt, nach φύσις ‚Natur‘) bezeichnet, die zweite, die Hermogenes propagiert, als Nomos-These (nach νόμος ‚Gesetz‘). Festzustellen ist zunächst, dass ónoma nicht nur ‚Name‘, sondern allgemein ‚Wort‘ und ‚sprachliche Bezeichnung‘ bedeuten kann (vgl.

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Kraus 1996, 19f.). Zur Diskussion stehen die beiden Arten der Relation von Ausdruck und Inhalt: naturgegebene Richtigkeit oder Willkür. Je nach Annahme entscheidet es sich, ob und wie mittels Sprache Wahrheit ermittelt werden kann (vgl. Platon, 385b– 391b). Die Möglichkeit der Wahrheitsfindung mittels Sprache wird sowohl unter dem Aspekt der Wahrheitsfähigkeit isolierter Einzelwörter als auch mit Blick auf den Gebrauch erörtert (vgl. Keller 1995, 26–35). Eine Erkenntnis im Dialog ist, dass eine Bezeichnung den Gegenstand nicht verdoppelt, sondern lediglich nachbildet, weil ansonsten kein Unterschied mehr zwischen Wort und Gegenstand bestände (vgl. Platon [1974], 432d); deswegen sei neben Teilen der Physei-These auch die NomosThese ansatzweise richtig, die die Konventionalität der Bezeichnung behauptet (vgl. ebd., 434e–435c). Das Problem der ‚Richtigkeit‘ der Benennung der Gegenstände und die Frage, in welcher Beziehung Universalien (Ideen) und Gegenstände stehen, wurden auch von Aristoteles nicht gelöst bzw. beantwortet. In der mittelalterlichen Metaphysik wurde dieses so genannte ‚Res-verba-Problem‘ (Sache-Wort-Problem) auch aufgrund der kirchlichen Gewalt als Universalienstreit zu einer der zentralen erkenntnistheoretischen Auseinandersetzungen: Der extreme Begriffsrealismus hält platonisch daran fest, daß die Universalien vor den Einzeldingen da sind (universalia ante res). Der extreme Nominalismus setzt dagegen: Die Universalien sind nach den Dingen und nur aus ihnen gedanklich abstrahiert (universaliea post res). Und der vermittelnde Standpunkt eines gemäßigten Realismus sagt aristotelisch: Den Universalien entspricht etwas Wirkliches in den Dingen (universalia in rebus). (Geier 1989, 124; Herv. i. Orig.)

Während im Kratylos die genealogische Frage nach dem Ursprung der Sprache so gut wie keine Rolle spielt (vgl. die Figur des „Gesetzgebers“, Platon [1974], 388e), wird diese Frage für die christlich geprägte Wissenschaft Europas zentral (vgl. Abschnitt 4 unten; Kaczmarek 1988).

3.2 Rhetorik: ‚Klarheit‘ und weitere Rede-Ideale In der Systematik der antiken Rhetorik, v. a. der Quintilians, wird Sprache primär funktional behandelt. Die elocutio, das ‚Einkleiden der Gedanken in Worte‘ (vgl. Ueding/Steinbrink 2011, 218), behandelt die in der Rede verwendeten Wörter (verba). Die elocutio ist unterteilt in die (1) Angemessenheit (aptum), (2) die Sprachrichtigkeit (puritas) und die (3) Deutlichkeit (perspicuitas). Zu (1):  

Das aptum regelt vor allem das Verhältnis der in der inventio [der Stofffindung, Ph. D.] gefundenen Gedanken (res) zu ihrer sprachlichen Verwirklichung (durch verba). (Ueding/Steinbrink 2011, 223)

Die Klarheit verbindet das ‚innere aptum‘, das sowohl die sprachliche Darstellung der Gedanken/der Sachen als auch der Teile der Rede untereinander meint, mit dem

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‚äußeren aptum‘, das das Verhältnis zwischen Rede, Redner und Gegebenheit (Publikum, Ort etc.) umfasst (ebd.). Zu (2): Die puritas ist die Regel der grammatischen Richtigkeit, die sich u. a. aus der ratio (Sprachgesetz) herleitet. Zu (3): Cicero ([2003] 2, 56) erläutert das Ideal der perspicuitas mit einem Redestil, der „so prägnant und konzentriert [ist], daß man nicht recht weiß, ob der Inhalt durch den Ausdruck oder ob die Formulierung durch den Gedanken deutlich wird“. Die perspicuitas bezieht sich auf die Deutlichkeit der Einzelwörter und auf die Syntax. Die Schriften v. a. der römischen Rhetoriker wurden im Mittelalter unterschiedlich sorgsam überliefert und intensiv rezipiert. Wurde v. a. der Hellenismus zunächst abgelehnt, setzte man sich nach der Verfestigung des Christentums ab dem 4. Jahrhundert stärker mit der antiken Rhetorik auseinander. Augustinus forderte, sich auf Cicero beziehend, die Klarheit der christlichen Rede (vgl. Ueding/Steinbrink 2011, 54). Durch Gewichtung einzelner Funktionen wurde die Rhetorik in Klöstern und im schulischen Trivium den jeweiligen Zwecken angepasst (vgl. Knape 2009, 56–57). Mit der Renaissance, befördert vom Buchdruck, erhielt die Rhetorik einen wesentlich höheren Stellenwert. Zusammenfassend stellt Faulstich (2008, 538) fest, dass weniger von einer Kontinuität der rhetorischen Prinzipien bis in das 18. Jahrhundert die Rede sein kann, wohl aber „von einer Reaktualisierung tradierter Kategorien im Kontext bürgerlicher Bedürfnisse und Anforderungen an eine überregionale und überständische Kommunikation“. Erhalten hat sich die v. a. explizit normative Bestimmung der Klarheit der Gedanken im Sprachgebrauch (vgl. Abschnitt 5 unten).  







4 ‚Reinheit‘: Mythos und Ethos Ende des 16. Jahrhunderts stellte sich die Situation für die deutsche Sprache wie folgt dar: In der Gesellschaft wurden verschiedene deutsche Dialekte gesprochen, während bereits seit der Frühen Neuzeit z. B. Gebrauchstexte der lateinunkundigen Handwerker in überregional verständlicher deutscher Sprache verfasst waren. Offizielle Reichssprachen waren Deutsch und Latein, letztere fest verankert durch die Geltung des Römischen Rechts; auch die Sprache der Universitäten war Latein. Der Adel und die ständeüberschreitende, v. a. aus der Beamtenschaft entstehende Funktionselite gebrauchte Deutsch, Latein, Italienisch, Spanisch und ab ca. 1650 verstärkt das Französische vor allem zur Praktik der conversation (sog. alamode-Sprachgebrauch). Abhängig u. a. von Beruf, Stand, Bildung und Geschlecht wurden erworbene Sprachkompetenzen domänenspezifisch aus Gründen der sozialen Prägung und des Prestige miteinander verschränkt. Statt von einer vorherrschenden, in unserer Vorstellung prototypischen ‚Mehrsprachigkeit‘ von großen Teilen der Gesellschaft ist in dieser Zeit eher von situativ eingesetztem Deutsch mit fremdsprachigen Lexemen und Phrasemen durch bestimmte Bevölkerungsgruppen auszugehen (vgl. Polenz 1994, 67). Obwohl die unterschiedlichen domänen- und registergebunden Kommunikate sozial distinktiv wirkten, kann von einem kommunikativen Defizit nicht die Rede sein: „Bis  





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ca. 1700 haben wir im Deutschen eine um Verständlichkeit bemühte Sprechweise, die durchaus allen Bedürfnissen genügen kann“ (Knoop 1987, 23). Vor diesem soziokommunikativen Hintergrund sind die nachfolgenden kulturpatriotischen Aktivitäten zu verstehen: Die skizzierten Bedrohungsszenarien der deutschen Sprache und Kultur evozierten entsprechende Emotionen mit dem Ziel, das Deutsche stärker als vollgültige Sprache ins Bewusstsein zu bringen. Adressaten dieser normativen Programme waren die deutschen Fürsten, wodurch diese Aktivitäten tendenziell auch kontrakaiserlich zu bewerten sind, da sie sich gegen die Dominanz des Lateinischen wandten (vgl. dazu Huber 1984, 250 ff.). Das Ideal der sprachlichen Reinheit findet sich im deutschsprachigen sprachreflexiven Diskurs früher als das Ideal der sprachlichen Klarheit. Dies kann anhand der frühen Verwendung des Lexems rein belegt werden, das eingebettet ist in die vorherrschende Auffassung von Kontinuität, Epistemologie und (nationaler) Kulturgemeinschaft. Im Folgenden wird die Verlagerung der ‚Reinheit‘ vom Mythos zum Ethos (vgl. ähnlich Weinrich 1985, 148) nachgezeichnet.  

4.1 Reinheit, Ursprung und Epistemologie Eine der Grundfragen des 17. Jahrhunderts war die Motiviertheit sprachlicher Zeichen, wobei diese v. a. unter dem „sprachlegitimatorischen Aspekt“ verhandelt wurde (vgl. Hundt 1995, 32): Die Frage nach dem Ursprung, dem Alter sowie der Kultur- und Erkenntnisleistung des Deutschen wurde zur Legitimation und Etablierung der eigenen Sprache zunächst mit dem Anspruch der ‚Gleichwertigkeit‘ benutzt. Markus Hundt (1995) erfasst u. a. dieses Bestreben mit dem Konzept ‚Spracharbeit‘, das die Erschließung, Anwendung und Ausschöpfung des Potenzials der eigenen Sprache umfasst. Die als Sprachgesellschaften bezeichneten kulturpatriotischen Vereinigungen des 17. Jahrhunderts haben gemeinsam, dass sie einer konstruierten homogenen deutschen Sprache einen besonderen Stellenwert zusprechen und dabei aus heutiger Sicht Grundzüge nationalen Denkens aufweisen. Sowohl in der Deutschgesinnten Genossenschaft wie auch in der Fruchtbringenden Gesellschaft kommt dem Topos der ‚Reinheit‘ des Deutschen zentrale Bedeutung zu. Die Aktivitäten richteten sich gegen die Wörter lateinischen und griechischen Ursprungs sowie später gegen die Zunahme des Französischen in der höfischen Sprache. Ein weiteres Betätigungsfeld war die Normierung der Orthografie, z. B. in Christian Gueintz’ Die deutsche Rechtschreibung (1645). Die ‚Reinheit der deutschen Sprache‘ wird unterschiedlich ausgedrückt und offenbart unterschiedliche Vorstellungen. Carl Gustav von Hille (1590–1647), Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft, attribuiert Teutsch mit rein als rein Teutsch (vgl. Hille 1647, 7), wenig später wird Reinlichkeit mit einem Adjektivattribut zur Teutsche[n] Reinlichkeit (vgl. ebd.), womit eine Eigenschaft oder Tugend des Deutschseins ausgedrückt wird. In den Texten wird mittels semantischer Gegensätze zunächst unein 





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heitlich konstatiert, dass die deutsche Sprache durch ‚Verunreinigung‘ bedroht werde, dass sie bereits ‚verunreinigt‘ sei bzw. dass ihr die ‚Reinheit‘ genommen worden sei oder sie aktuell ‚verunreinigt‘ werde. Hille lobt das Deutsche mit dem Attribut rein: „Halt / behalt die Muttersprach / die so rein und züchtig. Und zu allen Sinnbegreiff herrlich / reich und tüchtig“ (ebd., 13). Gesteigert und im Sinne des Bedrohungsszenarios weitaus verletzlicher wird das Deutsche dargestellt, wenn es mit dem kontradiktorischen Antonym jungfräulich – nichtjungfräulich konzeptualisiert wird. Philipp von Zesen (1619–1689) stellt mit dieser Kontradiktion die Besonderheit des Deutschen gegenüber anderen Sprachen heraus: Sie [die deutsche Sprache; Ph. D.] hat mitlerweile / da alle ihre Nachbahrinnen sich verunehren und schänden laßen / ein so keusches leben geführet / daß ich dir schwören kan / Sie sei noch itzund eben so eine reine Jungfrau […] (von Zesen 1669, 42)

Die pleonastische Steigerung reine Jungfrau/-ferschaft zeigt die uneinheitliche Beurteilung des Sprachzustands: „Deine reine Jungferschaft / die du stets erhalten / Ist geraubet mit Gewalt / Treu und Zier der Alten.“ (Hille 1647, 10) ‚Reinheit‘ ist in dieser Vorstellung gleichzusetzen mit ‚Unberührtheit‘ und ‚Keuschheit‘, wobei die stete Bedrohung durch die zudringlichen Fremdsprachen offenbar wird. Die ‚Weiblichkeit der Sprache‘ kommt auch bei Hilles (ebd., 7) Vergleich des Ersterwerbs des Deutschen mit der Aufnahme der Muttermilch zum Tragen. Durch die Verbindung von Muttersprache und Muttermilch wird ‚Reinheit‘ zu einem deontischen Hygienebegriff (vgl. Hermanns 1989), die Gesundheitsgefährdung ist offenbar: […] unsere uralte unvollkommene Teutsche Muttersprache / so uns gantz rein in der ersten Milch gleichsam eingetreuffelt / nachmals aber durch fremdes Wortgepräng / wässerig und versaltzen worden [.] (von Zesen 1669, 42)

In der Satzung der Deutschgesinnten Genossenschaft heißt es zu deren Zielen, dass „[…] ja alles eingeschlichene unreine / ungesetzmäßige / und ausheimische abgeschaffet“ (ebd., 33) werden solle, wodurch erkennbar wird, wogegen sich das Ideal der Reinheit wendet: Es geht um die Wörter aus den Fremdsprachen, nicht etwa um die ‚unreine Sprache‘ der niedrigeren Schichten. Die Verbindung des Reinheitstopos mit dem zeitlichen Verlauf ist für das Verständnis der Sprachurteile des 17. Jahrhunderts zentral (vgl. Roelcke 2000, 162–163). Reinheit, so die Annahme, sei nicht nur eine Eigenschaft der Sprache unter vielen, sondern sie beantworte die Frage nach der Identität des Deutschseins. In der Satzung heißt es: Nämlich wir haben unser fürnehmstes absehen auf die erhaltung / fortpflanzung / und volkomnere auswürkung der reinligkeit unserer edlen Hochdeutschen Sprache gerichtet : einer solchen Sprache / die von den haupt = stam = und grund-sprachen der welt die einigste ist / welche / nach aller der andern untergange / nur allein / in ihrem gantzen grundwesen / noch rein und unverfälscht geblieben. (von Zesen 1669, 39; Herv. im Original fett)

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Die Antwort auf die Frage, wer wir sind, liefert der Mythos (vgl. hierzu und zum Folgenden Assmann 1992, 142). Über eine gemeinsame Sprache lässt sich recht schnell eine kollektive Identität herstellen. Diese kollektive Identität wird stärker, wenn an die gemeinsame Vergangenheit erinnert wird. Entscheidend ist dabei die Konstruktion der Kontinuität von der vergangenen zur aktuellen Gemeinsamkeit. Der Mythos ist ein „Wegerzählen des Schreckens der Kontingenz“ (Münkler 1994, 22). Diese Kontinuitätskonstruktion erfolgt mittels Sprache als gemeinsamem Gegenstand (,Wir sprachen immer deutsch‘) sowie mittels Medium (die Überlieferung ist auf Deutsch). So ist z. B. Carl Gustav Hilles Argumentation nicht ungewöhnlich für die Zeit ab dem 16. Jahrhundert. Er behauptet zur deutschen Geschichte: „[…] in dem gelobten Ascanier Land / der alten Teutschen ersten Ansitz: da allezeit rein Teutsch geredet / und auch zierlichst ausgesprochen worden / genommen […]“ (Hille 1647, 7; Herv. im Original fett). Hille fragt nicht, wie die deutsche Sprache entstanden ist, sondern von wem sie stammt, sodass die Argumentation über Personen aus zu seiner Zeit anerkannten Quellen geführt werden kann. Er bezieht sich auf die Völkertafel, in der die Nachkommen Noahs aufgelistet sind, die sich nach der Sintflut über die Erde ausgebreitet haben: Der erste Sohn Noahs, Japhet, hat einen Sohn namens Gomer, der einen Sohn namens Aschkenas trägt (Mose 10,1). Dieser Aschkenas, latinisiert als Ascena, sei der Stammvater des Fürstentums Anhalt (Haus Anhalt), so Hille. Neben der Bibel wird als weitere Quelle Tacitus (Germania 2,2) angeführt, mit dem belegt werden soll, dass Aschkenas, der Urenkel Noahs, mit Tuisto/Tuisko/Tuisco, dem Stammesgründer und Namensgeber (von diutsc, ahd. theodisce, deutsch) der Deutschen, identisch oder zumindest verwandt ist. Damit ist für Hille die ununterbrochene Kontinuität bewiesen. Das Deutsche erhält durch diesen Mythos eine Sonderstellung – als ‚lebendige‘ Sprache ist sie göttlichen Ursprungs und hat dank ihrer kontinuierlichen Reinheit eine epistemische Kraft:  

Was nun der Teutschen Sprachen belanget / davon die Geschichtsschreiber / insonderheit Cornelius Tacitus und Johannes Aventinus ausführlichen geschrieben / so hat dieselbe von unsererm alten Teutschen Stammvater dem Ascena, welcher sonsten Tuisco genant / und ein Bewohner der Ascanier Lande / das ist / des Fürstenthums Anhalts gewesen / ihren quellreichen Anfang / zu Zeiten der Babylonischen Sprachverwirrung / wie vorhin schon erwehnet / hochlöblichen gewonnen. […] Ascenas, der sonst Tuiscon in den Zeitenbüchern heißt / Würde Teutscher Stamen Vater / wie das Gottesbuch ausweist. Japhet / Noæ / ältster Sohn / wie dieselben Schriften melden / Hat den Gomar erst erzeugt / Gomar Ascenas, den Helden. Und bey diesem ist geblieben unsre Teutsche Heldensprach / Die Geschlechter seines Stames / haben sie geredet nach. (Hille 1647, 88, 92; Herv. im Original in Antiqua)

Weiter noch geht Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658), der davon ausgeht, dass die epistemische Kraft der deutschen Sprache darin liege, ‚richtig und natürlich benennen‘ zu können, da das Deutsche eine adamitische Sprache (lingua Adamica) sei: Die Natur redet in allen Dingen / welche ein Getön von sich geben / unsere Teutsche Sprache / und daher haben etliche wähnen wollen / der erste Mensch Adam habe das Geflügel und alle Thier

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auf Erden nicht anderst als mit unseren Worten nennen können / weil er jedes eingeborne selbstlautende Eigenschafft Naturmässig ausgedruket; und ist sich deswegen nicht zu verwundern / daß unsere Stammwörter meisten Theils mit der heiligen Sprache gleichstimmig sind. (Harsdörffer 1644, 14; Herv. im Original fett)

Auf die Verbindung zwischen der Forderung nach Reinheit des Deutschen und der Entscheidungsfrage im Kratylos, (vgl. Abschnitt 3.1 oben) weist Schiewe (1998, 63) hin: „Ohne dieses […] sprachtheoretische Postulat, daß die Wörter ursprünglich motiviert seien, wäre jegliche Sprachreinigung ein unsinniges Unternehmen“. In der organischen Sprachvorstellung werden die Basismorpheme als ‚Stammwörter‘ bezeichnet. Das Deutsche wird gemeinsam mit dem Hebräischen (vgl. jedoch Stieler 1691, 22), Griechischen, Lateinischen (und z. T. Slawischen, vgl. z. B. Hille 1647, 86) zu den europäischen „Haubtsprachen“ gerechnet, d. h. den Ursprungssprachen.  





4.2 ‚Grundrichtigkeit‘ der deutschen Sprache Ein weiterer Anlass für die kulturpatriotische Beschäftigung mit der Sprache bestand in der Diskussion um die sich konsolidierende Sprachnorm des Deutschen. Entscheidend ist hierbei: Das Meißnische wurde zur Leitvarietät und damit zur deutschen Verkehrssprache, bevor es zu Fragen der Richtigkeit des Sprachgebrauches kam. Die Verständigungsbereitschaft (etwa im Sinne des Grice’schen Kooperationsprinzips (vgl. 1975, 45, 48–49); vgl. dazu den Beitrag von Janich in diesem Band) ging den Versuchen ihrer Normierung voraus (vgl. Knoop 1987, 22). Der Ausweis des ‚kultivierten‘ Sprechens und Schreibens wurde eine „soziale Notwendigkeit“ (Reichmann 1981, 154). Die sprachliche Distinktionsfunktion verlagert sich von der Sprach- und Varietätenwahl zur Beherrschung des verbreiteten Standards. Die nachfolgenden Belege zeigen, dass in den Begründungen zur Richtigkeit zunächst der epistemologische und erst später der sozial-bildungsaffine Aspekt angeführt werden. Die Partei der Anomalisten (u. a. Christian Gueintz, Fürst Ludwig von AnhaltKöthen) verfocht eine Orientierung am guten Gebrauch (usus) der von der Bildungselite gesprochenen Leitvarietät des Meißnischen: „Für die Zweifelsfälle gilt die Devise ‚Schreibe, wie du sprichst!‘“ (Hundt 2000, 43). Die Partei der Analogisten (u. a. Justus Georg Schottelius, Georg Philipp Harsdörffer) stellte sich gegen die regionale Varietät und trat stattdessen für ein Hochdeutsch ein, das sich aus der regelhaften Struktur des Deutschen herleiten sollte. Schottelius’ Argumente in der Neuauflage seiner Grammatik (1663) für die Orientierung des als fest angesehenen idealen Regelsystems der Grammatik beruhen auf der Konstruktion der lingua ipsa Germanica (eigentliches Deutsch). Wie in der Antike solle auch heute zwischen „der gemeinen altages Rede / und der Sprache selbst“ (Schottelius 1663, 144) unterschieden werden. Mit Verweis auf Quintilian stellt er fest:  



Sprachrichtigkeit und Sprachlogik

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Es hat ja zu Rom und Athen vormals ein jeder Lateinisch und Griechisch reden / auch in den Schauplätzen die Comädien und Tragädien anhören können / wer aber die Lateinische und Griechische Sprache grundrichtig und recht hat wissen / und darin ein würdiges Probstüklein tuhn wollen / hat müssen die Grammaticos und Rhetores zuvor hören / bewehrte Bücher lesen / und durch andere Mittel / als nur durch Veranlassung des altages Gebrauches / zu richtiger Kündigkeit ihrer Sprache gelangen. (Schottelius 1663, 144; Herv. i. Orig.)

Diese varietätendifferenzierende Einschätzung hat vor dem o. g. Hintergrund eine sprachlenkende Funktion, denn weiter heißt es: Man nennet keine Sprache unkeusch oder unflätig / so etwa ungebürliche Sachen mit dero Worten ausgeschrieben […]. Eine mangelhafte unliebliche Rede kan nicht auf ein mangelndes Vermögen der Sprache / sonderen auf den Mangel des Sprechers wol zeigen. (Schottelius 1663, 146)

Bei Schottelius sind diachrone und synchrone Argumente eng miteinander verknüpft (vgl. auch Josten 1976, 176–180). Die seiner Ansicht nach deutsche „Grundrichtigkeit“ – eine Verdeutschung von Analogie (vgl. Kilian 2000, 842) – liegt darin begründet, dass sie nicht aus dem Hebräischen, Griechischen und Lateinischen hervorgehe, wie seinerzeit diskutiert wurde, sondern selbst ‚Hauptsprache‘ sei (vgl. Jones 1995, 164). Die ‚Grundrichtigkeit‘ der deutschen Sprache ist vor allem eine Bezeichnung für die ‚ursprüngliche Natürlichkeit‘ und damit von Gott gewollte deutsche Sprache, die sich mit der antiken Vorstellung vermengt, dass die Natur regelmäßig sei. Die Grundrichtigkeit beruht bei Schottelius auf der lautlichen Entsprechung zwischen Wörtern und Gegenständen/Vorgängen (er argumentiert ähnlich der Physei-These, vgl. Schottelius 1663, 59; vgl. dazu Kilian 2000, 844) wie auch auf den morphosyntaktischen Regeln des Deutschen. Doch insbesondere in der Orthografie schwankt er in seiner Annahme der Grundrichtigkeit (vgl. dazu Takada 1985): [...] wan alle Wörter durchgehends bey jedwederem Teutschen ein gleiches Abbild / eine gleiche Ausrede oder gleichen Ausspruch hetten / so würde auch durchgehends die Rechtschreibung gleich seyn / weil aber unsere Teutsche Muttersprache auf so mancherley Art ausgesprochen wird / und in so viele Mundarten geteihlet ist / daß nach der gantz ungewissen Ausrede keine rechte durchgehende Rechtschreibung wird können aufgebracht werden / als muß der gute angenommene Gebrauch / und die Grundrichtigkeit der Sprache den besten Einraht geben. (Schottelius 1663, 187)

Insgesamt liegt Schottelius hier mit seiner Argumentation allerdings deutlich auf der Linie der Analogisten, wie am Beispiel der kontrastiven Wortbildung deutlich wird: Anders als das Französische verfüge die deutsche Sprache über die „Schikligkeit zuverdoppelen“ (ebd., 125), d. h. Komposita zu bilden. Diese synchrone sprachstrukturelle Eigenschaft des Deutschen wird nun mit den überlieferten deutschen ‚Stammwörtern‘ verknüpft:  

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Philipp Dreesen

Wir Teutschen aber künnen unser Stammwort Knecht / und das Stammwort Land / nicht allein gebrauchen in Landsknecht / sondern / weil die rechte Wurzel und Stamm wir davon haben / künnen wir dieselbe ein wenig weiter ausleiten / und gleichsam in die Natur hinein wachsen lassen / also sage wir: Landrecht/Landfriede/Landstrasse […]. […] Daraus urtheile ein jeder / wie rein / reichlich und deutlich die Teutschen Stammwörter sich finden / sich fügen und brauchen lassen […] (Schottelius 1663, 125).

Schottelius kontrastiert das Deutsche synchron mit dem Französischen, doch primär perspektiviert er den Vorgang der Entlehnung: Die deutsche Morphologie sei der französischen deswegen überlegen, weil z. B. das Französische das Wort „lansequenet” (lansquenet) aus dem Deutschen (Landsknecht) zwar entlehne, ohne jedoch die Bedeutung und die Herkunft der beiden ‚Stammwörter‘ Land und Knecht zu (er-) kennen (vgl. ebd., 125).  

4.3 Reinheit als Pflicht? Im skizzierten mythisch-religiösen Verständnis der ‚ursprünglichen Reinheit‘ und ‚Grundrichtigkeit‘ des Deutschen ist die Wahrung der Sprache nicht nur ein Erbe des bzw. der Deutschen, sondern auch ein Gebot. Im obigen Zitat von Philipp von Zesen (1669, 33; vgl. Abschnitt 4.1 oben) aus der Satzung der Deutschgesinnten Genossenschaft beispielsweise sind es die „Zunftgenossen“, die verpflichtet werden sollen, die Sprache vor „fremden unwesen und gemische“ zu bewahren, „ja alles eingeschlichene unreine / ungesetzmäßige / und ausheimische abgeschaffet / und in ein besseres / wo immer tuhnlich / verändert werde“. Ein derartiges Gebot richtet sich in erster Linie an die Gruppe der Sprachreiniger selbst. Allerdings findet sich in der Darlegung des Zwecks des Teutschen Palmbaumes (Hille 1647, 13, siehe oben) auch ein allgemeiner Aufruf an die ‚Kinder der deutschen Sprache‘. Zwar ist das Bestreben der Reinigung nicht auf den eigenen Sprachgebrauch beschränkt, doch gibt es bis zum Ende des 17. Jahrhunderts kaum eindeutige Adressierungen an die Allgemeinheit. Eine frühaufklärerische Position nimmt Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) im Sprachreflexionsdiskurs im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert ein. In Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache (älteste Handschrift von 1697; Erstveröffentlichung 1717; vgl. Pörksen/Schiewe 1983, 79) vertritt er einen gemäßigten Standpunkt in der Frage der ‚Sprachreinigkeit‘. Zum einen stellt er sich gegen die puristische Ausrichtung, indem er die Puristen pejorativ als „Reindünkler“ bezeichnet, die seines Erachtens die Sprache durch ihre Maßnahmen „nicht weniger arm gemacht“ hätten (Leibniz [1717] 1983, 11). Ein Zitat in Leibniz‘ Text gibt recht genauen Aufschluss über seinen Standpunkt: Was die Puristen schrieben, sei „eine Suppe von klarem Wasser (un bouillon d’eau claire), nämlich ohne Unreinigkeit und ohne Kraft“ (ebd.). Das Ideal des Klaren und Reinen ist nicht das Ideal Leibniz’, der sich eher am Sprachgebrauch orientiert, für welchen einige Fremdwörter notwendig seien (vgl. ebd., 12) und welcher diese auch integrieren könne (vgl.  

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Sprachrichtigkeit und Sprachlogik

ebd., 38). Zwar ist Leibniz der Ansicht, dass nach dem Dreißigjährigen Krieg „sowohl die Französische Macht als [auch] Sprache bei uns überhandgenommen“ habe (ebd., 36) und es grundsätzlich besser sei, „des Fremden eher zuwenig als zuviel“ zu haben (ebd., 14); aber im Gegensatz zu den Sprachgesellschaften betont er, dass es sich bei seinen Ausführungen nur um ‚unvorgreifliche‘ Vorschläge handle und die Entscheidung über den Umgang mit den Fremdwörtern „der künftigen deutschgesinnten Verfassung“ überlassen bliebe (ebd., 36). Ferner verortet Leibniz den Umgang mit den Fremdwörtern eher als soziales Problem denn als nationale Aufgabe (vgl. ähnlich Pörksen/Schiewe 1983, 120). Unter „Reinigkeit der Sprache, Rede und Schrift“ (Leibniz [1717] 1983, 35) versteht Leibniz neben dem eben skizzierten gemäßigten Fremdwortpurismus die Vermeidung der „unanständigen“ und der „unvernehmlichen“ (unverständlichen) Wörter (ebd.) sowie die Befolgung der „Sprachrichtigkeit“ (ebd., 41). ‚Unanständig‘ seien die Wörter aus ästhetischen oder ethischen Gründen, wobei Leibniz – modern gesprochen – diese Einschätzung mit Verweisen auf Soziolekte und Register untermauert (vgl. ebd., 35–36). Die ‚unvernehmlichen‘ Wörter findet Leibniz sowohl in diatopischer („Landworte“) wie auch in diachroner Hinsicht (z. B. im Lutherdeutsch). Die ‚Sprachrichtigkeit‘ bestehe in der Befolgung der „Sprachkunst“, d. h. der „Grammatik“ (ebd., 41). Wir finden bei Leibniz ausdruckseitig das Ideal der ‚Reinheit‘, das er v. a. unter sozialen Gesichtspunkten erörtert, sowie das Ideal der ‚Klarheit‘ im Sinne von Verständigung. Dies verwundert nicht, da sich Leibniz philosophisch mit Klarheit beschäftigt hat, wie in Abschnitt 5 unten gezeigt wird.  





5 ‚Klarheit‘: Denken und Ausdrücken Wie zu erkennen, vollzieht sich die Verlagerung vom Ideal der Reinheit im 17. zum Ideal der Klarheit im 18. Jahrhundert über das normierende Programm der Richtigkeit, das zum 19. Jahrhundert hin v. a. in Form von Wörterbüchern immer wichtiger wird. Die schriftsprachliche Norm führte zum Bedürfnis nach allgemeingültigen Regeln: Der Wechsel von den elitären Sprachgesellschaften zu den allgemeinverbindlichen Wörterbüchern und Sprachratgebern ist vor dem Hintergrund der veränderten gesellschaftlichen Kommunikationsbedingungen von besonderer Bedeutung: Ende des 17. Jahrhunderts erweiterte Christian Thomasius durch sein Handeln die Vorstellung über das Deutsche als geisteswissenschaftliche Sprache, wie kurz zuvor bereits Gottfried Wilhelm Leibniz, und schließlich systematisch Christian Wolff (vgl. Schiewe 1998, 66–95). Indes war die Diskussion, ob das Deutsche eine funktional angemessene Sprache in den Wissenschaften und auch der Kunst sein kann, zu diesem Zeitpunkt nicht beendet. Gegen größere Widerstände musste auf fürstliche Anweisung die sog. ‚Kodifikationsbewegung‘ umgesetzt werden, die dafür sorgte, dass die Gesetzestexte ins Deutsche übersetzt wurden. Die plötzliche Möglichkeit für die Bevölkerung, das Recht zu lesen, entsprang der vorherrschenden Philosophie des  

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Philipp Dreesen

Rationalismus, ebenso der Gedanke der ‚schönen Klarheit‘ der Gesetzbücher (vgl. Hattenhauer 1987, 34–36). Darüber hinaus bildeten sich Ende des 18. Jahrhunderts recht heterogene ephemere Öffentlichkeiten v. a. an Stellen der Zeitungsausgaben, an denen es auch zu politischen Diskussionen kam (vgl. Welke 1981, 40). Direkte schriftliche Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft, gemeinsame Rezeption und Diskussion, Zunahme von Schriftlichkeit insgesamt, Schulbildung, aber auch das Bedürfnis nach sprachlicher Orientierung beförderten kollektiv bindende Sprachurteile. Erstmals konnten diese Werke (wenn sie die Zensur überstanden) mit metasprachlichem Inhalt für ein größeres Publikum geschrieben werden. Gegenstände der Bücher und deren lexikalische, syntaktische und stilistische Darstellung richten sich an antizipierte Adressatinnen und Adressaten und deren Bedürfnisse. Hilfe im sprachlichen Ausdruck zum Zweck gelingender Verständigung ist dabei nicht allein ein sprachideologischer Aspekt; vielmehr ist die Betonung der einzelnen Sprecherin/ des einzelnen Sprechers und deren/dessen unmissverständliche Mitteilung auch ein zentrales aufklärerisches Ideal: Klarheit im Denken und Sprechen versetzt Personen in die Lage, anderen die eigenen Standpunkte mitzuteilen (vgl. Kant 1784, 481). Das Ideal der sprachlichen Klarheit ist indes älter. Eine kritischere Perspektive auf die skizzierte Entwicklung schlägt Knoop vor, der die Funktion der Sprachurteile des 18. Jahrhunderts darin sieht, dass sie normative Sprachkonzepte (v. a. ‚Einigkeit‘ und ‚Richtigkeit‘) in Kontrast zur realen kommunikativen Praxis stellen: In der Folge seien nicht nur Mehrsprachigkeit und Dialekte verschwunden, auch biete die verbindliche Norm des Hochdeutschen plötzlich neue Möglichkeiten zur Diskriminierung, wodurch das Bedürfnis nach ‚Richtigkeit‘ und ‚gutem Ausdruck‘ verstärkt geweckt werde (vgl. Knoop 1987, 24–30). Insgesamt sei es zu einer Aufwertung des Schriftlichen zu Lasten des Mündlichen gekommen (vgl. ebd., 26–28). Die bereits in der Logik der Scholastik vorkommende Formel clare et distincte (klar und deutlich) erhält im Rationalismus eine zentrale Bedeutung. René Descartes erhebt diese Formel zum Wahrheitskriterium für Erkenntnisse (vgl. hierzu und zum Nachfolgenden Gabriel 1976, 846). In der Principia philosophiae (1644) unterscheidet Descartes zwischen der klaren Wahrnehmung z. B. eines Schmerzes, der aber nicht immer deutlich ist: „So kann eine Vorstellung klar, aber undeutlich sein; aber jede deutliche ist zugleich auch klar“ (dt. Die Prinzipien der Philosophie, I, 46). Descartes präzisierend, unterscheidet Gottfried Wilhelm Leibniz:  





Klar hingegen ist eine Erkenntnis, wenn sie es mir ermöglicht, die vorgestellte Sache wiederzuerkennen, und eine solche Erkenntnis ist verworren oder deutlich. Verworren ist sie, sobald ich nicht imstande bin, die Merkmale einzeln aufzuzählen, welche hinreichen, die Sache von anderen zu unterscheiden (Leibniz 1684, 9; Herv. i. Orig.).

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Den Wandel von der rhetorischen Tugend der perspecuitas zur clarté (Klarheit) im 17. Jahrhundert, insbesondere befördert durch Voltaire, hat Harald Weinrich (vgl. 1985, 136–154) für die Urteile über die französische Sprache beschrieben. Ende des 18. Jahrhunderts herrscht in Europa fast einhellig die Meinung, dass das Französische die ‚logischste‘ und ‚klarste‘ Sprache sei. Die Preisfrage der Königlich Preußischen Akademie zur Ergründung des unangefochtenen Status des Französischen gewinnt Antoine de Rivarol, der in De l’universalité de la langue française (1784, 49) knapp bemerkt, „ce qui n’est pas clair n’est pas français“ – (Das, was nicht klar ist, ist nicht Französisch).

5.1 ‚Klarheit‘ als Ideal von Rhetorik und Rationalismus Leibniz’ sprachkritische Unvorgreifliche Gedanken werden durch Johann Christoph Gottsched (1700–1766) im 18. Jahrhundert einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht (vgl. Schiewe 1998, 96). Gottsched, bis 1738 Mitglied der Deutschen Gesellschaft in Leipzig, steht mit seinen Arbeiten zur Sprache in der Tradition der antiken Rhetorik (vgl. Gardt 1999, 158–161) und ist zugleich im Rationalismus zu verorten. Seine bei der Normierung des Hochdeutschen einflussreiche Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst, Nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und jetzigen Jahrhunderts abgefasset (1748) verrät bereits im Titel einen wesentlichen Teil seines Sprachideals. Zudem sei die ‚beste Mundart‘ seines Erachtens die des zentralen und größten Hofes im Land (vgl. Gottsched 1748, 3). Gottsched betont, dass die Regeln einer Sprachkunst (Grammatik) an die sich ändernde Sprache angepasst werden müssen (vgl. ebd., 4). Sein rationalistisches Ideal ist die „Vollkommenheit“ einer Sprache, die sich für ihn erstens danach bemisst, wie groß die Anzahl der regelmäßigen „Wörter und Redensarten“ ist (vgl. ebd., 7–8). Zweitens bestehe die Vollkommenheit in der „Deutlichkeit“ (vgl. dazu Reichmann 1992), die sich aus der Regelmäßigkeit ergebe, und drittens aus der „Kürze“ bzw. dem „Nachdruck“ (ebd., 9). In den „ausländischen Wortfügungen und fremden Redensarten“ sieht Gottsched eine Bereicherung der deutschen Sprache (ebd., 12 u. 114; vgl. auch 1736, 378, 380). Im Gegensatz zur Feststellung des bedrohten Deutschen auf Grundlage des Ideals der ‚Reinheit‘, beklagt er das aktuelle Deutsch nicht: Er wünscht, daß unsre Sprache bey der itzigen Art sie zu reden und zu schreiben erhalten werden könnte: weil sie allem Ansehen nach denjenigen Grad der Vollkommenheit erreichet zu haben scheint, darin sie zu allen Vorfällen und Absichten einer ausgearbeiteten und artigen Sprache geschickt und bequem ist. (Gottsched 1748, 12)

In der ersten Ausgabe der von ihm mitherausgegebenen Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit (1732) kommt rein als wertender Ausdruck des Sprachurteils kaum vor, dafür die Leibniz’sche Bezeichnung „ReinDünkler“ (Beyträge 1732, 376). Explizit die Rücksicht auf die Leserschaft erwähnend,

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nähert sich der Text der „Schönheit“ (Vollkommenheit) des Deutschen nicht mit „metaphysischen Beweisen“, sondern unter dem Aspekt der „Absicht ihrer Bedeutung“ (ebd., 55, 56), d. h. der kommunikativen Darstellung von Gedanken:  

Je klärer also die Wörter sind, ie besser wird die Absicht der Sprache erreicht. Je mehr man demnach in den Wörtern von der Klarheit abweicht, je weiter entfernt man sich auch von dem, was der deutschen Sprache eine Schönheit verursacht. (Beyträge 1732, 58)

Wer dagegen verstößt, „der […] handelt wieder die Pflicht eines Deutschen, der auf die Ehre seiner Sprache bedacht seyn soll“ (ebd., 58). Sein Urteil: „[S]o rede und schreibe man klar und deutlich.“ (ebd., 65) Das Gegenteil dessen sei die „Dunkelheit“ (ebd., 59). Die „Vorrede der dritten Auflage“ gibt Aufschluss über den wachsenden Grad an Öffentlichkeit in Fragen der Sprachbewertung (Gottsched 1752, Vorrede, o. S.). Gottsched bemängelt an seinen Kritikern, „daß sie ihre Anmerkungen nicht mir zugesandt, sondern in öffentlichen Schriften vorgetragen haben“ (ebd.).  

5.2 ‚Klarheit‘ und ‚Durchsichtigkeit‘ Johann Christoph Adelung beginnt sein Buch Über den Deutschen Styl (1785–86, hier zitiert in der vierten Auflage von 1800, 3) wie folgt: „Empfindung, Vorstellung und Begriff sind also bloß in den Graden der Klarheit unterschieden, und so sind es denn auch ihre Ausdrücke“. In moderner semiotischer Terminologie formuliert, geht Adelung von Arbitrarität und Konventionalität aus (Adelung 1800, 5–9): Sinnliche Gegenstände können daher klar gedacht werden […]; allein bey unsinnlichen und abstracten Gegenständen können wir uns höchstens das Zeichen oder das Wort klar vorstellen, das Bezeichnete aber ist so dunkel, daß es nahe an die Empfindung gränzt. (Adelung 1800, 10)

Mittels ‚seelischer Anstrengung‘ sei es allerdings möglich, so Adelung, „dieses dunkle Etwas aufzuklären“ (ebd.). Über die semantische Verbindung von aufklaren und aufklären wird hier die normative Kraft der Trope offensichtlich. Denn insgesamt hat Adelung eine teleologische Geschichtsvorstellung (vgl. auch ebd., 33): Er führt die seit dem „neuenten Jahrhundert“ anhaltenden Verfeinerungen der deutschen Sprache an, z. B. „die Beförderung der größten Klarheit des Ausdrucks“ in der Wortbildung und „Auslöschung dunkeler Biegungen in klare Wortstellungen [, z. B.; Ph. D.] Umschreibung des alten Genitives durch Präpositionen“ sowie „Einschränkung des dunklen Gebrauches des Participii“ (Partizips) (ebd., 13–14). Auch seien viele unregelmäßige Verben zu regelmäßigen geworden (vgl. ebd., 14–15). Die Aufgabe der ‚Lehre vom Styl‘ sieht Adelung vor dem Hintergrund von universellen Schönheitsidealen in erster Linie im Gelingen des Verstehensprozesses, gerade auch beim Aufeinandertreffen verschiedener Mundarten: Wer einen Gedanken ausdrücke, möchte, dass genau dieser Gedanke bei seinem Gesprächspartner möglichst wohlgefällig hervorgerufen werde (vgl. ebd., 28, 60–66, 114, 119).  



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Hierbei möchte Adelung helfen, denn sogar „der lebhafteste Styl“ sei nicht schön, „wenn es ihm an Sprachrichtigkeit, Reinigkeit, Klarheit u. s. f. fehlet“ (ebd., 246): (1) Die ‚Sprachrichtigkeit‘ des Hochdeutschen besteht für Adelung in der Befolgung der Regeln der geschriebenen Sprache primär nach dem Prinzip der Analogie, wobei der Sprachgebrauch einen steten Sprachwandel bedeute (vgl. ebd., 57, 63, 64). Orientierung soll das geschriebene Hochdeutsch der „reinsten und zuverläßigsten“ zeitgenössischen Schriftsteller geben (ebd., 66, 67). (2) Unter ‚Reinigkeit‘ fasst Adelung die Fremdwörter, die „sprachwidrig gebildete [n] neue[n] Wörter“ sowie die „Provinzialwörter“ und die veralteten Wörter (ebd., 73– 74). Sein Standpunkt gegenüber den ‚ausländischen Wörtern‘ entspricht den dominanten Urteilen seiner Zeit: ‚Unnötig‘ und ‚verwerflich‘ seien die Wörter, für die es deutsche Wörter gebe, andere ‚ausländische Wörter‘ seien ‚notwendig‘ (ebd., 96–99). Der Grund für die Ablehnung bleibt gleich:  



Allein die Deutsche, eine so reine und unvermischte Sprache, hat keine andere bekannte Quelle, als sich selbst, und kann folglich nicht aus fremden bereichert werden. (Adelung 1800, 99)

(3) ‚Klarheit und Deutlichkeit‘ unterscheiden sich bei Adelung in ihrer Bildlichkeit. Neben der expliziten Erwähnung der perspicuitas (s. o.) ist die Wassermetaphorik auffällig. Sie erklärt den Vorzug des Ausdrucks Klarheit vor Deutlichkeit: Die ‚Klarheit‘ im Sinne der Transparenz ermöglicht den tiefen Blick bis auf den Grund der Rede und damit wohl auch auf den Beweggrund der Sprechenden:  

Klar nennet man das, was viele Lichtstrahlen durchläßt, einen hohen Grad an Durchsichtigkeit hat. Die Klarheit des Styles, bey den Römischen Schriftstellern Perspicuitas, ist also diejenige Eigenschaft desselben, nach welcher die ganze Vorstellung, welche der Sprechende hat, rein und unvermischt durch die Worte gleichsam durchscheinet; wo der Vortrag lauter Licht, und die Rede ein heller Strom ist, wo man überall auf den Grund sehen kann. Deutlich, oder mit einem andern beynahe gleich bedeutenden Ausdrucke, verständlich ist, was leicht gedeutet oder verstanden werden kann, d. i. dessen Sinn sich ohne Mühe entdecken läßt […] (Adelung 1800, 112; Herv. i. Orig.)  

Die Notwendigkeit der Klarheit und Deutlichkeit im Sprachgebrauch sieht Adelung, wie gesagt, in der ‚ersten Absicht des Sprechers‘ begründet, die darin besteht, „verstanden zu werden“, weswegen jeder „Unsinn“ in der Rede vermieden werden müsse (ebd., 114). Dieser werde vermieden, indem „man sich jeden Gedanken so klar und deutlich denke, als erforderlich wird, ihn in eben der Klarheit wieder bey andern zu erwecken“ (ebd., 119). Adelungs praktische Rede- und Schreibanleitung erscheint in rascher Folge in vier Auflagen, ähnlich verhält es sich mit seiner Deutschen Sprachlehre für Schulen (1801; vgl. dazu Voeste 2008). Die Rezeptionsgeschichte lässt den Schluss zu, dass das Buch nicht nur inhaltlich gut aufgenommen wurde, sondern womöglich auch durch die im Text umgesetzte Forderung nach ‚Klarheit‘ überzeugte.

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5.3 Mittels ‚Reinheit‘ zur ‚Klarheit‘ Joachim Heinrich Campe (1746–1818) gewann 1793 mit Über die Reinigung und Bereicherung der Deutschen Sprache (überarbeitete Fassung 1794) die Preisfrage, ob die „vollkommene Reinigkeit einer Sprache überhaupt, und besonders der Deutschen, möglich und nothwendig“ sei (Campe 1794, III). Für möglich und nötig hält Campe die gemäßigte Reinigung des Deutschen von den jüngsten ‚Verunreinigungen‘ (vgl. ebd., XV, XXIII, Kapitel II). Sein Ideal ist die Sprache des Volkes: Denn die sich der eigenen Reinheit – gemeint ist der Einfluss des Französischen (vgl. ebd., XIII) – bewusste deutsche Sprache wurde nach und nach in der Behauptung dieser Reinigkeit in eben dem Maße nachgiebiger oder nachläßiger, in welchem sie aus einer rohen Volkssprache zu einer gebildeten Gelehrten- und Hofsprache sich empor arbeitete. (Campe 1794, XIV)

Für das Ersetzen durch „ächtdeutsche“ Wörter legt Campe eine Dreiteilung zugrunde, bei der er davon ausgeht, dass (1) die ‚sinnlichen Wörter‘ (z. B. Pulver) im Gebrauch der Volkssprache nicht ‚ausgemerzt‘ werden müssen, da sie nicht ‚verwirren‘ (ebd., XIX–XX); (2) die ‚unsinnlichen‘ Wörter (z. B. amüsiren) seien verwirrend, dafür aber auch leicht zu entfernen; (3) die ,übersinnlichen‘ Wörter oder „Vernunftwörter“, die ohnehin nur derjenige richtig gebrauchen könne, der die Fremdsprache beherrsche (z. B. Quidditas, dt. Washeit), seien wegen ihrer geringen gesellschaftlichen Verbreitung leicht zu ersetzen (vgl. ebd., XXII). Campe führt die sprachliche Verständigung unter Zuhilfenahme einer normativen, über die Stände hinausgehenden kommunikativen Egalität an (vgl. auch ebd., XXXII–XXXIII); unter dieser Perspektive ist das Ideal der „Sprachgleichförmigkeit“ (v. a. morphologische Angleichung) kein Selbstzweck, sondern dient ebenfalls der kommunikativen Funktion. Sein Maßstab und Ziel sind:  







Das, was ein Wort zu einem Deutschen macht, ist 1. seine Verständlichkeit für jeden Deutschen, und 2. die Übereinstimmung seiner Bildung und seines Klanges mit der Bildung und dem Klange anderer Deutschen Wörter, welche durchgängig üblich sind, mit Einem Worte, seine Sprachgleichförmigkeit. (Campe 1794, XXIV; Herv. im Orig. gesperrt)

Campes Sprachvorstellung beinhaltet die Möglichkeit, durch Transparenz die Bezeichnung nachvollziehbar machen zu können, anstelle des verwirrenden und dunklen Verständnisses. Campes Reinigungszweck (vgl. sein sog. Verdeutschungswörterbuch 1813) liegt in der Verständlichkeit/Verständigung. Es seien v. a. die ‚übersinnlichen‘ Wörter, die  

von der großen Volksmasse in Deutschland, entweder gar nicht, oder doch nur dunkel und verwirrt verstanden werden können, und daß also die Aufklärung und Veredelung des größten Teils der Deutschen, durch den Gebrauch jener Wörter in den Reden und Schriften derer, welche auf das Volk wirken könnten und sollten, nothwendig gelindert werden muß. (Campe 1794, LII; Herv. im Original gesperrt)

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Schiewe (1998, 136) stellt hierzu fest, dass Campes Sprachreinigung Aufklärung beinhaltet, daß er eine fehlende Aufklärung über Sachen und Sachverhalte auf der Ebene der Sprache zu kompensieren suchte. Indem er die Sprache aufklärte, glaubte er, auch die Menschen aufklären zu können.

Das Verhältnis von Sprachurteil und Öffentlichkeit wird auch im Vorwort behandelt. Campe (1794, 3) ist der Ansicht, es sei ihm gelungen, „die öffentliche Aufmerksamkeit, nicht bloß auf meine geringen Versuche, sondern – was mir viel wichtiger war – durch diese auch auf die Sache selbst zu leiten“.

5.4 Radikalisierung: ‚Klarheit‘ und Epistemologie In Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), wiederum eine Preisschrift, spielt die ‚Klarheit‘ eine Rolle für das auch später diskutierte Verhältnis zwischen Empfindung und Ausdruck. Herder geht es um die Besonderheit des Hörens in der Entstehung der Sprache. Für Herder liegt das Besondere des Menschen in seiner Besonnenheit und seiner in den phonetischen Nuancen reichen Sprache, die äußerst ‚klar‘ voneinander getrennt wahrnehmbar sind. Klarheit ist somit ein menschlicher Maßstab: Das Gehör ist der mittlere unter den Sinnen an Deutlichkeit und Klarheit und als wiederum Sinn zur Sprache. Wie dunkel ist das Gefühl! Es wird übertäubt es empfindet alles ineinander […]: es wird unaussprechlich. […] [D]as Gehör greift also von beiden Seiten um sich: macht klar, was zu dunkel; macht angenehmer, was zu helle war: bringt in das Dunkelmannichfaltige des Gefühls mehr Einheit, und in das Zuhellmannichfaltige des Gesichts auch […] Der Ton des Gehörs dringt so innig in unsre Seele, daß er Merkmal werden muß; aber noch nicht so übertäubend, daß er nicht klares Merkmal werden könnte. – Das ist Sinn der Sprache.“ (Herder 1772, 101–102, 103; Herv. i. Orig.)

Um die Jahrhundertwende wandelte sich die Politisierung der Öffentlichkeit von progressiv-liberalen Forderungen zurzeit der Französischen Revolution zu deutschnationalen Positionen während der napoleonischen Besatzung und der Nachfolgezeit. Sprachurteile wurden insbesondere während der Befreiungskriege nationalistisch instrumentalisiert, um mittels gemeinsamer Identität zu mobilisieren, vgl. z. B. Ernst Moritz Arndt und Ludwig Jahn (s. u.). Fragen des Verhältnisses von Sprache, Kultur und Volk spiegelten erneut die Bedrohung der eigenen sprachgebundenen kulturellen und politischen Identität durch das Französische. Klaus Vondung (1988, 153) spricht von ‚apokalyptischen Vorstellungen‘, die man in Texten dieser Zeit findet. Als nationalistisch sind diese Positionen deswegen zu bewerten, weil sie über die patriotische Verteidigung des eigenen Landes hinaus die Überlegenheit des Deutschen als Sprache und Volk behaupten. Der schmale Grat zwischen patriotischer und nationalistischer Sprachurteilen ist bei Herder und Fichte zu sehen. Die Herder’sche Annahme, dass aus dem Sinnlich-Wahrnehmbaren das Übersinnlich-Denkbare entsteht,  



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findet sich – allerdings mit gegenteiliger Schlussfolgerung – in Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808). In der sechsten Rede wird die Geschichte der deutschen Sprache – im Unterschied zur Französischen – als Kette „ununterbrochener Mittheilung“ (Fichte 1808, 121) von der Ursprache des Deutschen bis heute dargelegt. Das hat epistemologische Konsequenzen, meint Fichte, z. B. verwende Luther Gesicht in der Bedeutung von ‚Idee‘:  

Idee oder Gesicht in sinnlicher Bedeutung wäre etwas, das nur durch das Auge des Leibes, keineswegs aber durch einen andern Sinn, etwa der Betastung, des Gehörs u.s.w. erfaßt werden könnte […]. Dasselbe in übersinnlicher Bedeutung hieße zuvörderst, zufolge des Umkreises, in dem das Wort gelten soll, etwas, das gar nicht durch den Leib, sondern nur durch den Geist erfaßt wird, sodann, das auch nicht durch das dunkle Gefühl des Geistes, wie manches andere, sondern allein durch das Auge desselben, die klare Erkenntniß, erfaßt werden kann. […] Diese also entstandene neue Bezeichnung, mit aller der neuen Klarheit, die durch diesen erweiterten Gebrauch des Zeichens die sinnliche Erkenntniß selber bekommt, wird nun niedergelegt in der Sprache; und die mögliche künftige übersinnliche Erkenntniß wird nun nach ihrem Verhältnisse zu der ganzen in der gesammten Sprache niedergelegten übersinnlichen und sinnlichen Erkenntniß bezeichnet; und so geht es ununterbrochen fort; und so wird denn die unmittelbare Klarheit und Verständlichkeit der Sinnbilder niemals abgebrochen, sondern sie bleibt ein stetiger Fluß. (Fichte 1808, 125–126, 127–128)

‚Klarheit‘ ist für Fichte eine tradierte Erkenntnismacht des Deutschen, womit ein typisches Argument sprachnationalistischen Denkens ausgesprochen wird. Die idealistische Verschmelzung von Sprache und Wahrheit macht diese Behauptung unangreifbar gegenüber Nichtmuttersprachlerinnen und Nichtmuttersprachlern bzw. gegenüber all denjenigen, denen das Deutschsein abgesprochen wird; Stukenbrock (2005: 438–442) versteht dieses ‚Automystifizierungsprinzip‘ des Sprachnationalismus als Abwehr, indem jegliche Kritik mit dem Verweis auf die unmögliche Erlangung ‚deutscher Erkenntnis‘ zurückgewiesen werden kann: […] die Sprache dieses Volks [des Deutschen; Ph. D.] ist nothwendig so wie sie ist, und nicht eigentlich dieses Volk spricht seine Erkenntniß aus, sondern seine Erkenntniß selbst spricht sich aus demselben. (Fichte 1808, 121)

Fichte kritisiert auch die kosmopolitische Toleranz der Deutschen gegenüber dem Fremden. Seiner Ansicht nach (vgl. ebd., 218) ist das deutsche Volk so gerecht gegen andere, dass es ungerecht wirkt gegen sich selbst. Das Argument, dass es den Deutschen an Nationalgefühl und Selbstachtung mangele, ablesbar am Umgang mit der deutschen Sprache, verbreitet sich in der Folge (vgl. z. B. Goltz 1860, 250–252). Während Fichte aus der deutschen Sprachüberlegenheit die menschheitsleitende Mission der Deutschen ableitet und darin Anhänger findet, besteht der Weg für Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn v. a. in der Bekämpfung und Abschaffung von Formen des Weltbürgertums in Deutschland (vgl. Arndt 1845, 375–379; Jahn/Eiselen 1816, 123, 234). An dieser Stelle wird ein besonderes, bei Arndt hin zu biologischen Konzepten gesteigertes Ideal (vgl. Arndt 1845, Bd. 1, 369, 377) von gesellschaftlicher ‚Reinheit‘ offenbar.  



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6 Ausblick: Kontinuitäten und Diskontinuitäten Die Beschreibung der Ideale ‚Reinheit‘ und ‚Klarheit‘ im oben genannten Zeitraum weist Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Begründung und Ausrichtung des Urteilens über die deutsche Sprache auf. Grob skizziert besteht die Diskontinuität in der Schwerpunktverlagerung von der expliziten Belobigung der epistemologischen Stärke der Sprachstruktur des Deutschen (Reinheit) zur expliziten Forderung nach dem besten Gebrauch (Klarheit) zum Zweck der Verständigung in und mit der deutschen Sprache. Das Aufkommen der anwendungsbezogenen Urteile im 18. Jahrhundert geht einher mit dem Verschwinden der Varietätenvielfalt und der Nachfrage nach ‚Richtigkeit‘ und ‚Klarheit‘ im Zuge der Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit. Wie die Angebote auf dem deutschsprachigen Büchermarkt zeigen, hat das sich etablierende Bürgertum ein Bedürfnis nach Bildung (vgl. Jentzsch 1912, 314; Schiewe 2004, 144–149), konkret auch ein Orientierungsbedürfnis im Sprachgebrauch und -urteil. ‚Klarheit‘ ist aber nicht nur der Gegenstand dieses Wandels, sondern als Sprachideal auch ihr Medium: Der geschriebenen Sprache der barocken Sprachgesellschaften entgegengestellt, dominiert in den Texten des 18. Jahrhunderts der ‚klare Stil‘. Insgesamt changieren die Ideale ‚Reinheit‘ wie auch ‚Klarheit‘ zwischen Sein und Sollen der deutschen Sprache. Das Sollen leitet sich manchmal aus dem Sein her (Weil das Deutsche keiner Fremdwörter bedarf, sollen wir auch keine gebrauchen, vgl. Adelung), umgekehrt ist es bisweilen so, dass ein sprachpolitisches Ideal ein bestimmtes Sein hervorbringen soll (Indem wir keine Fremdwörter gebrauchen, bleibt/wird das Deutsche rein). Folgt man Knoop (1987), kann man den normativen Sprachurteilen große Effekte auf den Fortgang der Sprachgeschichte zusprechen, d. h. auch, wie wir die Geschichte heute (teleologisch) (re-)konstruieren. Die Frage, welche künftigen Aufgaben mit der deutschen Sprache in der internationalisierten Welt (vgl. Ammon 2015) und der transkulturellen Gesellschaft geleistet werden können und sollen, wird seit mehreren Jahren öffentlich diskutiert. Sich in ihrer Intention und Begründung mitunter deutlich unterscheidend, sind Sprachideale wie ‚Reinheit‘ (z. B. ‚Kampf gegen Anglizismen‘), ‚Richtigkeit‘ (z. B. Orthografiereformen) und ‚Klarheit‘ (z. B. Deutsch als Politik-, Rechts- und Wissenschaftssprache) in öffentlichen Debatten bis heute präsent (vgl. Niehr [und weitere Beiträge] in diesem Band). Um am Letztgenannten die Kontinuität zu verdeutlichen: Die Debatte um Deutsch als Wissenschaftssprache, z. B. inwiefern durch das Publizieren auf Englisch Domänen aufgeben werden oder inwiefern Erkenntnisprozesse, Verständigung und Distribution durch den Gebrauch des Englisches durch Nichtmuttersprachlerinnen und Nichtmuttersprachler leiden (vgl. zum Überblick Oberreuter et al. 2012), sind als Diskussionsstandpunkte um den normativen Status des Deutschen nicht neu.  









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7 Literatur 7.1 Quellen Adelung, Johann Christoph (1800): Über den deutschen Styl. Erster Band. 4., vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin. Adelung, Johann Christoph (1801): Deutsche Sprachlehre für Schulen. Vierte verbesserte und mit einer kurzen Geschichte der Deutschen Sprache vermehrte Auflage. Berlin. Arndt, Ernst Moritz (1845): Über Volkshaß und den Gebrauch einer fremden Sprache. In: Ders.: E. M. Arndt’s Schriften an und für seine lieben Deutschen. 4. Bde. Leipzig, 353–433. [zuerst: Leipzig 1813] Beyträge zur Critischen Historie Der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, herausgegeben von Einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Erstes Stück (1732). Leipzig. Campe, Joachim Heinrich (1794): Über die Reinigung und Bereicherung der Deutschen Sprache. Dritter Versuch welcher den von dem königl. Preuß. Gelehrtenverein zu Berlin ausgesetzten Preis erhalten hat. Verbesserte und vermehrte Auflage. Braunschweig. Campe, Joachim Heinrich (1813): Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelung’s und Campe‘s Wörterbüchern. Neue starkvermehrte und durchgängig verbesserte Ausgabe. Braunschweig. Cicero, Marcus Tullius ([2003]): De oratore – Über den Redner. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Harald Merklin. 5. Aufl. Stuttgart. Descartes, René (1644): Die Prinzipien der Philosophie, Lateinisch – Deutsch. Hg. v. Christian Wohlers. Leipzig 2005. Fichte, Johann Gottlob (1808): Reden an die deutsche Nation. Berlin. Goltz, Bogumil (1860): Exacte Menschen-Kenntnis in Studien und Steroskopen. Abhandlung 3: Die Deutschen. Ethnographische Studie. 2. Bde. Berlin. Gottsched, Johann Christoph (1748): Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst, Nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und jetzigen Jahrhunderts abgefasset. Leipzig. Gottsched, Johann Christoph (1752): Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst […] bey dieser dritten Auflage merklich vermehret. Leipzig. Gueintz, Christian (1645): Die deutsche Rechtschreibung, Auf sonderbares gut befinden Durch den Ordnenden verfasset / Von der Fruchtbringenden Gesellschaft übersehen / und zur nachricht an den tag gegeben. Halle. Harsdörffer, Georg Philipp (1644): Schutzschrift / für Die Teutsche Spracharbeit […] angefüget. durch den Spielenden. Nachdruck: Georg Philipp Harsdörffer. Frauenzimmer Gesprächsspiele. Teil 1. Hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingenn 1968. Herder, Gottfried (1772): Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften für das Jahr 1770 gesetzten Preis erhalten hat. Berlin. Hille, Carl Gustav von (1647): Der Teutsche Palmbaum […] verfasset, durch den Unverdrossenen Diener derselben. Nürnberg. Jahn, Friedrich Ludwig/Eiselen, Ernst (1816): Die deutsche Turnkunst zur Errichtung der Turnplätze. Berlin. Kant, Immanuel (1784): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift 12, 481–494. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1684): Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen. In: Ders.: Philosophische Werke Bd. 1. Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie I. Übersetzt von Artur Buchenau, mit Einleitung und Anmerkungen hg. v. Ernst Cassirer. Stuttgart 1996, 9–15.

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11. Einheitlichkeit und Vereinheitlichung – Verstehen und Verständigung: Eine metasprachliche Diskursfigur – am Beispiel des Deutschen Abstract: Ausgehend von der zentralen Rolle, die die eigene sprachliche Identität bei der Selbst- und Fremdkategorisierung von Sprechern spielt, diskutiert der Beitrag auf verschiedenen Ebenen ein für Metasprachdiskurse charakteristisches topisches Viereck. In diesem wird im Sinne einer einfachen Codetheorie die Existenz einer homogenen, variantenarmen oder gar -freien Sprache (Einheitlichkeit) zur Voraussetzung für intersubjektives Verstehen erklärt und darauf aufbauend die Vereinheitlichung dieser Sprache als Handlungsziel im Dienste kollektiver Verständigung innerhalb der jeweiligen Sprachgemeinschaft postuliert. Der Beitrag nähert sich der Diskursfigur im ersten Teil zunächst von sprach- und kommunikationstheoretischer Seite. Der zweite, sprachgeschichtlich orientierte Teil geht auf die für das Deutsche spezifischen Aspekte des Themas ein. Er fokussiert dabei auf das ideologiegeschichtliche Junktim aus Einheitlichkeit und Verständigung im metasprachlichen Diskurs um eine deutsche Nationalsprache zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert und schließlich in der Diskussion um die vermeintliche Entstehung zweier deutscher Sprachen in den Zeiten der staatlichen deutschen Teilung 1945/49–1990.  

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Einleitung Sprachtheoretische Aspekte Einheitlichkeit und Normabweichung als sprachreflexive Konstrukte Einheitlichkeit und Verständigung im Metasprachdiskurs des Deutschen – historische Perspektiven Literatur

1 Einleitung Sprache ist das zentrale Medium der menschlichen Sozialisation, der ontogenetischen im Zuge des primären Spracherwerbs ebenso wie der phylogenetischen im Sinne ihrer gemeinschaftsstiftenden und -definierenden Funktion. Damit geht einher, dass die eigene Sprache – beziehungsweise das, was in einer subjektiven Sprachtheorie als die eigene Sprache wahrgenommen wird – einen wesentlichen Teil der Identität jedes Menschen ausmacht. Wird das Sprechen und Sprachhandeln eines Gegenübers als https://doi.org/10.1515/9783110296150-012

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dem eigenen entsprechend eingeordnet, registrieren Sprecher auch dieses Gegenüber selbst als Mitglied der eigenen sozialen Gruppe, wird sprachliche Abweichung, in welchem Maße auch immer, wahrgenommen, ergibt sich der Schluss auf soziale Distanz. Diese Definition sozialer Beziehungen anhand sprachlicher Kennzeichen ist im konkreten Fall nicht absolut, sondern vorläufig und revisionsfähig, wenn weiter gehende Erfahrungen mit dem anderen die Fremdheitswahrnehmung überlagern. Gerade dieser Prima-vista-Charakter macht die soziale Kategorisierung anhand sprachlicher Nähe-Distanz-Einordnungen jedoch auch so effektiv, dass sie als universelles Prinzip menschlicher Wirklichkeitskonstruktion betrachtet werden muss (vgl. Mead 1993; Tophinke 2000). Das Problem, das Gegenstand dieses Beitrags ist, ergibt sich aus der Umkehrung: Wenn die Konstruktion der eigenen Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen für einen Menschen ganz wesentlich auch mit der Unterstellung verbunden ist, mit den übrigen Mitgliedern dieser Gruppe eine ‚gemeinsame Sprache‘ zu teilen, dann gefährdet die Wahrnehmung sprachlicher Abweichung und Andersartigkeit innerhalb dieser Gruppe unmittelbar die Konstruktion der eigenen Identität. Mit anderen Worten: Sprecher unterstellen als Normalfall, dass die Sprache, derer sie sich bedienen – und hier spielt spätestens seit dem 19. Jahrhundert vor allen Dingen die Bezugsebene der ‚Nationalsprache‘ (also ‚des Deutschen‘, ‚des Französischen‘, ‚des Türkischen‘) eine entscheidende Rolle (vgl. Abschn. 3.1) – eine weitgehend homogene Einheit darstellt. Diese A-priori-Annahme notwendiger Einheitlichkeit wiederum ergibt sich aus der impliziten Prämisse, dass nur eine einheitliche Sprache einer sozialen Gruppe Verständigung untereinander ermögliche. Verständigung kann dabei als die gesellschaftliche Funktion von Verstehen auf der Ebene des individuellen Sprechens aufgefasst werden: Wenn die zur Verfügung stehende Sprache garantiert, dass sich die Mitglieder der jeweiligen Sprechergruppe in der konkreten Interaktion in jedem Falle verstehen können, ergibt sich daraus auf der kollektiven Ebene Verständigung. Wo folglich die systematisch unterstellte Einheitlichkeit der Sprache gefährdet zu sein scheint, ergibt sich konsequent die Wahrnehmung eines das Individuum und seine soziale Gruppe bedrohenden Defizits und damit die subjektive und kollektive Forderung nach Vereinheitlichung. Sämtliche bedeutenden öffentlichen ‚Metasprachdiskurse‘ (Spitzmüller 2005), die heute und oft schon weit in die Sprachgeschichte zurückreichend beschrieben werden und wurden – im Deutschen, auf das sich der Beitrag im Weiteren konzentriert, wie für anderen Sprachen –, sind in ihrem Kern auf diesen Zusammenhang in den subjektiven Sprechertheorien zurückzuführen: Für die zeitlose Diskussion über die „Sprache der Jugend“ gilt dies ebenso wie für die Klage über die Gefährdung „des Deutschen“ durch Anglizismen oder die alles überdachende Diagnose eines allgemeinen Sprachverfalls (vgl. Schrodt 2014). Im Folgenden wird zunächst das Verhältnis des genannten topischen Vierecks aus Einheitlichkeit und Vereinheitlichung, Verstehen und Verständigung aus kommunikations- (Abschn. 2.1) und soziolinguistischer (Abschn. 2.2) Sicht diskutiert, bevor seine Grundlage und Leistung im metasprachlichen Diskurs, vor allen Dingen seine

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Relevanz für die Ausbildung sozialer Identitäten und Normen genauer geklärt werden (Abschn. 3). Schließlich wird am Beispiel des Deutschen zunächst in diskurshistorischer Perspektive (Abschn. 4.1) und dann am konkreten Beispiel der Zwei-SprachenThese in den Zeiten der staatlichen deutschen Teilung (1949–1990) gezeigt, wie sehr Entstehung und Wirkung der Figur mit außersprachlichen sozialen, ideologischen und politischen Bedingungen verknüpft sind (Abschn. 4.2).

2 Sprachtheoretische Aspekte 2.1 Verstehen und Verständigung aus kommunikationslinguistischer Sicht Das Potenzial der eigenen Sprache zur Verständigung innerhalb der eigenen Gruppe wird von den Sprechern zunächst einmal an der alltäglichen Erfahrung von Verstehen oder Nicht-Verstehen festgemacht. Verstehen und Nicht-Verstehen werden also unmittelbar als Funktion der zur Verfügung stehenden Sprache betrachtet und damit die Sicherung des gegenseitigen Verstehens zur primären Leistung von Sprache erklärt. Die Suggestivität dieser Funktionszuschreibung ergibt sich aus einer impliziten Theorie, in der Sprache als ein Code betrachtet wird, mit dem bestimmte vorsprachliche Inhalte von einem Sprecher verschlüsselt werden, die ein Zuhörer auf der Basis seiner eigenen Codekenntnis wieder entschlüsseln kann. Ein solches Containermodell aber, das dem informationstheoretischen SenderEmpfänger-Modell entsprechend (vgl. Weaver 1949) den Erfolg sprachlicher Interaktion an der 1:1-Reduplikation kognitiver Dispositionen zwischen zwei Menschen misst, ist aus linguistischer Sicht unhaltbar (vgl. Auer 2013, 7–17). Dass Sprache mehr als Informationsübertragung ist, ist innerhalb der theoretischen Sprachwissenschaft seit langem unstrittig, dass es etwas grundsätzlich Anderes ist, wurde spätestens seit der sogenannten „pragmatischen Wende“ aus ganz unterschiedlichen methodischen und theoretischen Richtungen deutlich gemacht. Die Gemeinsamkeit all dieser verschiedenen Sichtweisen besteht darin, dass die Leistung des Sprachlichen vor allen Dingen in der Möglichkeit gesehen wird, unter bestimmten kurzfristig oder langfristig bestehenden pragmatischen Kontextbedingungen Übereinkünfte zwischen den Beteiligten darüber zu finden, was jeweils innerhalb der Reichweite dieser Bedingungen Geltung haben soll (vgl. zu dieser dynamischen Auffassung von Bedeutung und Verstehen Kindt 2002). Damit bildet den Kern dessen, was aus der Beteiligtenperspektive als ‚Verstehen‘ wahrgenommen wird, ein jeweils subjektiv zufriedenstellendes ‚Hantieren‘ (Embodiment; vgl. Nothdurft 2002) mit den zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln. So wird der Charakter des Codes im Sinne eines eindeutigen Informationsverschlüsselungswerkzeugs für die menschliche Sprache grundsätzlich negiert. Es kann und muss hierfür nicht in Zweifel gezogen werden, dass das sprachliche System zunächst einmal ein geordnetes Repertoire diskreter Zeichen und damit im gewissen

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Sinne einen Code darstellt und dass dessen zumindest partielle Kenntnis die Voraussetzung für verbalsprachliche Interaktion ist (weswegen beispielsweise sprachliche Interaktion in einer unbekannten Fremdsprache unmöglich ist). Jedoch ist allein der Rückgriff auf das selbe sprachliche System (etwa das der deutschen Sprache), auf denselben Code also, zweifellos nicht die hinreichende und entscheidende Bedingung für das subjektive Empfinden von Verstehen, das eben stets an lokale Anforderungen der jeweiligen Interaktionspartner geknüpft ist. Die Diskrepanz zwischen subjektiven Sprechertheorien und linguistischen Perspektiven zum Verstehen in verbalsprachlicher Interaktion ist damit erheblich. Da diese Differenz für den hier behandelten metasprachlichen Diskurstopos entscheidend ist, sollen an dieser Stelle in aller Kürze drei sprachwissenschaftlich relevante Positionen angeführt werden, in denen das Funktionieren sprachlicher Interaktion durchaus unterschiedlich, in jedem Falle aber nicht primär auf der Basis einer CodeKonzeption modelliert wird: 1. Bereits die klassische Rhetorik als die älteste Disziplin, die pragmatisch relevante Fragen systematisch reflektiert hat, stellt in den Mittelpunkt ihrer Konzeption des Sich-Verständlich-Machens nicht die Informationsübertragung (die an den kognitiven Dispositionen des Sprechers vor dem kommunikativen Akt zu messen wäre), sondern die Erlangung von situativer Zustimmung (das jeweils „Glaubenerweckende“; Aristoteles [ca. Mitte 4. Jhd. v. Chr.] 1995, 2. Kap.). Das sprachliche Qualitätskriterium der Klarheit (perspicuitas) verweist damit nicht auf die Eindeutigkeit eines Codes – die ja keines rhetorischen Handelns bedürfen würde –, sondern auf eine Auswahl aus dem Repertoire des Codes, die die gewünschten perlokutiven Effekte (also: außersprachlichen Wirkungen) ermöglicht. Das zentrale rhetorische Prinzip der Persuasivität aller verbalen Interaktion lässt dabei geradezu ausschließen, dass Erfolg beim Herstellen einer subjektiven Verstehenswahrnehmung daran gemessen werden kann, ob beide Interaktionsparteien über dieselben kognitiven Dispositionen verfügen. Dies kann vielmehr bestenfalls Resultat, niemals aber Voraussetzung gelingender Interaktion sein. 2. Im Organonmodell Karl Bühlers ([1934] 1999) steht zwar das sprachliche Zeichen selbst im Mittelpunkt, aber auch hier wird dieses Zeichen nicht als Informationsspeicher im Zusammenhang mit einem definiten Code aufgefasst. Stattdessen wird es beschrieben durch eine dreifache Funktionszuschreibung, die den kommunikativen Konstanten Sender (Ausdruck), Empfänger (Appell) und Gegenstände (Darstellung) zugeordnet wird. Auch hier wird deutlich, dass der erfolgreiche Gebrauch der Zeichen zwangsläufig situativ bedingt ist und nicht primär in der Qualität des Zeichens selbst oder des Codes, dessen Teil es ist, begründet. Verstehen ist hier in mindestens drei Dimensionen impliziert: Es kann erstens heißen, dass ein Rezipient das ausgedrückte Empfinden, Meinen oder Denken des Sprechers nachvollzieht, dass er zweitens den gesendeten Appell in eigenes Handeln umsetzen kann, oder aber drittens, dass er die Konstruktionen der dargestellten Wirklichkeit erfasst und gegebenenfalls sogar als seine eigenen über 

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nimmt. Eine eindimensionale Code-Theorie erübrigt sich damit und erweist sich als inadäquat. Man mag sogar in Zweifel ziehen, ob das Organonmodell dem sprachlichen Zeichen überhaupt die Aufgabe von Verstehenssicherung im Sinne der Herstellung von Intersubjektivität welcher Form auch immer zuschreibt, schließlich ist Funktion bei Bühler (wie auch in der Erweiterung bei Jakobson; vgl. Holenstein 1979, 10–15) nicht interaktional, sondern vom Sender ausgehend intentional gedacht: Mit dem Zeichen wird etwas Inneres ausgedrückt, wird appelliert, werden Konstruktionen der Wirklichkeit dargestellt – eine Rezeption ist dabei nicht systematisch notwendig. Verstehen wäre dann noch deutlicher ein situativ und vor allen Dingen mit den individuellen Dispositionen des Rezipienten verknüpftes Geschehen, das pragmatisch an einer im Sinne dieser Sprecherintentionen adäquaten Reaktion des Hörers zu messen ist. Bei Bühler findet sich damit bereits die für die spätere interaktionale Forschung zum Verstehen so grundlegende Abwendung von der Vorstellung einer a priori feststehenden Zeichensemantik (bei ihm v. a. gefasst in der Kritik an der – von Bühler noch Saussure zugeschriebenen –‚Assoziationstheorie‘ und dem von ihm dagegen verwendeten Terminus ‚Bedeutungserlebnis‘; vgl. Bühler [1934] 1999, 58). Die interaktionslinguistische, insbesondere die konversationsanalytisch begründete Verstehensforschung hat diesen Gedanken konsequent fortgesetzt (vgl. Deppermann/Spranz-Fogasy 2002). Hier wird dem Verstehen selbst überhaupt keine zentrale Rolle mehr zugeschrieben, da sich dieses weder wissenschaftlich-analytisch noch aus der Beteiligtenperspektive heraus beobachten und überprüfen lässt (vgl. Deppermann 2002). Letzteres bedeutet, dass das, was Sprecher als Verstehen und Nicht-Verstehen wahrnehmen, eigentlich nicht kognitive Prozesse der Informationsübertragung betrifft, sondern das Funktionieren der sprachlichen Interaktion im Ganzen, gemessen an den im gemeinsamen kommunikativen Handeln beobachtbaren Konsequenzen. Wo dieses Handeln störungsfrei und konsensuell verläuft, ohne dass von einem oder mehreren Beteiligten Störungen artikuliert werden, unterstellen diese gegenseitiges Verstehen. Nicht-Verstehen wird dagegen an expliziten Reparaturforderungen festgemacht. Nicht am eigentlichen Verstehenserfolg also, der grundsätzlich unüberprüfbar bleibt, orientieren sich die Interaktionspartner, sondern an der Verstehensdokumentation des Gegenübers (vgl. Deppermann 2008). Diese folgt jedoch rein pragmatischen Interessen und Erfordernissen, so dass dabei festen semantischen Konzepten, wie sie Kern einer Code-Theorie des Sprechens sind, kaum Bedeutung zukommt und Semantik zum Gegenstand lokaler Aushandlungsprozesse wird.  

3.

Bei aller Unterschiedlichkeit in Perspektive und theoretischer Konzeption: Die Gemeinsamkeit der drei ausgewählten linguistischen Theorieansätze besteht darin, dass in ihnen die Einheitlichkeit eines Codes als Voraussetzung für lokales Verstehen eine untergeordnete oder auch keine Rolle spielt. Die Annahme, dass Verstehen in der sprachlichen Interaktion grundsätzlich bedroht ist durch Abweichungen im verwen-

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deten Code – gleich ob diaphasischer, diastratischer oder diatopischer Natur (vgl. Abschn. 2.2) –, erweist sich also aus theoretischer Perspektive als kaum haltbar. Vom Lokalen aufs Kollektive übertragen, bedeutet dies darüber hinaus, dass auch die Verständigung innerhalb einer Sprach- und Sprechergemeinschaft keineswegs auf einen vollständig einheitlichen Code angewiesen ist. Wenn sich aber folglich aus dem vermeintlich entscheidenden Problem des lokalen Verstehens und der kollektiven Verständigung die Wahrnehmung eines Mangels von Einheitlichkeit der Sprache selbst ergibt, liegen deren Gründe auf anderen Ebenen, von denen drei zentral sind: 1. Abweichender Sprachgebrauch hat für Sprecher sozialen Symptomcharakter (vgl. Hess-Lüttich 2008): Er wird zum Indiz für unterschiedliche Lebenserfahrungen, Praktiken und Überzeugungen (vgl. Raith 2008). Damit verbindet sich abweichender Sprachgebrauch unter Umständen auch dort, wo er kommunikativ nur minimale Konsequenzen hat (etwa bei dem im Ganzen systematisch vernachlässigbaren Sonderlexembestand der verschiedenen ‚Jugendsprachen‘), mit der Wahrnehmung von Alterität. Diese wiederum wird dann identitätsbedrohend, wenn das Sprecher-Gegenüber von der Eigenwahrnehmung her (etwa im Falle der eigenen jugendlichen Kinder) oder Fremdzuschreibungen her (etwa beim gehäuften Anglizismengebrauch in Werbetexten von Mainstream-Medien des deutschen Sprachraums) als Mitglied der eigenen sozialen Gruppe betrachtet oder als Vertreter einer anderen sozialen Gruppe identifiziert wird, die den Status der eigene zu bedrohen scheint. Damit stellt sich die angenommene Bedrohung des Verständigungspotenzials der eigenen Sprache also nicht primär als Ergebnis einer Nicht-Verstehens-Erfahrung dar, nicht einmal als ein im engeren Sinne sprachliches Phänomen, sondern wird von Sprechern lediglich aus dem nichtsprachlichen in den sprachlichen Bereich projiziert. Dabei spielt die implizite und explizite Bemühung um die Begründung sozialer Identitäten und Normen (vgl. Gloy 2008a) eine entscheidende Rolle (vgl. Abschn. 3). 2. Einen ähnlichen Fall stellt faktisches Nicht-Verstehen dar, das aber ebenfalls nicht primär sprachlicher, sondern sachlicher Natur ist. So empfinden Sprecher unter Umständen einen vom eigenen abweichenden Sprachgebrauch dann als störend und unverständlich, wenn sich in diesem nicht allein subjektive Erfahrungen, sondern regelrecht Wissensordnungen manifestieren, zu denen sie selbst keinen Zugang haben. Typisch ist dies etwa für die Klage über die Unverständlichkeit von Fachsprachen wie der der Medizin oder des Rechts. Ein subjektives Desiderat an Vereinheitlichung stellt sich dabei für die Sprecher jedoch nur dann ein, wenn dieser fachsprachliche Charakter nicht erkannt oder (etwa als intentionale Verschleierungstaktik der Fachsprachen-Benutzer) abgelehnt wird. Andernfalls empfinden sie den unverständlichen Sprachgebrauch gar nicht als Variante der eigenen Sprache, da eine lebensweltliche Grenze sie für das eigene sprachliche Leben irrelevant erscheinen lässt. 3. Der Zusammenhang zwischen der Feststellung sprachlicher Abweichung als Symptom für soziale Alterität ist zwar auf der kollektiven Ebene begründet, hat

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jedoch Rückwirkungen auch auf die subjektive Wahrnehmung lokaler Verstehensprozesse. Eine wichtige Grundlage des kooperativen Handelns zwischen Sprechern ist die Überzeugung, dass das gegenseitige Verstehen dadurch gesichert sei, dass eine grundsätzliche Einigkeit über die Bedeutung der verwendeten Wörter besteht, die „Treue des Verstehens“ (Nothdurft 1996, 360). Sie ist gewissermaßen die kommunikative Umwandlung der Code-Theorie in eine universelle Sprechertheorie. Auffällige Alterität im Code – vor allen Dingen eben im lexikalischen Bereich – kann dieses notwendige Vertrauen gerade dann erschüttern, wenn diese nicht als idiolektale Besonderheit des Gegenübers wahrgenommen wird, sondern aufgrund gehäufter Erfahrung als Ausdruck von Differenzen hinsichtlich der sozialen Identitäten. Das gegenseitige Verstehen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen im Gespräch wird also unter Umständen deshalb als gestört empfunden, weil der Jugendliche Lexeme verwendet, die zwar nicht im eigentlichen Sinne ‚unverständlich‘, aber Ausdruck seiner Zugehörigkeit zu einer anderen sozialen Gruppe auf der kollektiven Ebene sind. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem sprachkritischen Anspruch einer Einheitlichkeit der Sprache und dem Problem von Verstehen und Verständigung ergibt sich damit zwar nicht konsequent aus sprachfunktionalen Erwägungen, wie sie in linguistischen Theorieperspektiven impliziert sind, ist jedoch als Teil der subjektiven Sprachwahrnehmung der Sprecher durchaus begründet (vgl. auch Abschn. 3).

2.2 Einheitlichkeit aus soziolinguistischer Sicht Wo Sprecher Verstehen und vor allen Dingen Verständigung auf der Grundlage der oben dargestellten Mechanismen als sprachliches Problem identifizieren, sorgt die basale Code-Theorie dafür, dass in der Regel ein Verlust an Einheitlichkeit der Sprache als Erklärung herangezogen wird. Ähnlich wie dies für die Code-Theorie mit Blick auf das Verstehen selbst gezeigt wurde, unterscheidet sich auch hierin der sprachtheoretische Common Sense der Linguistik grundlegend von den Sprachkonzepten, an denen sich Sprecher alltäglich orientieren. Zumindest dann, wenn man mit dem Ausdruck Sprache auf ein hochgradig abstraktes Konstrukt wie eine Nationalsprache (z. B. ‚das Deutsche‘) rekurriert, wie es Sprecher in der Regel tun, wenn sie unmarkiert von ‚ihrer Sprache‘ sprechen, handelt es sich aus linguistischer Sicht um ein zwangsläufig heterogenes Phänomen. Die soziolinguistische Grundannahme, derzufolge „eine Sprache“ immer „viele Sprachen“ ist (Wandruszka 1979, 39), schließt von daher Einheitlichkeit im Sinne strukturell geschlossener Homogenität als Kennzeichen natürlicher Sprachen aus (vgl. Durrell 2008). Die inneren Unterschiede zwischen den verschiedenen sprachlichen Varianten und Varietäten reichen dabei von pragmatischen Differenzen (etwa in der Praxis und den Formeln des Grüßens) bis hin zu unterschiedlichen lexikalischen  

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Repertoires und stabilen syntaktischen Varianten. Dabei kann man das Deutsche, wie alle anderen Nationalsprachen auch, systematisch in die folgenden Arten von Varianten gliedern: – Diatopische Varianten, die nach geographischen, damit aber indirekt meist auch politisch-historischen Kriterien definiert sind: Hierzu gehören v. a. die verschiedenen Großdialekte des Deutschen mit ihren von historischen Stämmen abgeleiteten Bezeichnungen (Bairisch, Alemannisch, Rheinfränkisch, Obersächsisch, Niederdeutsch usw.), außerdem deren jeweilige mehrfach gestuften Binnenvarianten und zumindest teilweise überdachende regionale Ausgleichssprachen (z. B. ‚Honoratiorenschwäbisch‘). – Diastratische Varianten, die nach Kennzeichen des sozialen Lebens innerhalb einer Gesellschaft zu definieren sind, etwa nach dem Alter, dem Beruf oder auch dem Geschlecht. In klassischer soziolinguistischer Perspektive war die soziale Schichtung im Sinne eines vertikalen Gesellschaftsmodells der entscheidende Bezug für die Bestimmung diastratischer Varietäten (etwa die Sprache der ‚Mittelschicht‘), was zumindest für das Deutsche heute nicht mehr zeitgemäß erscheint. Obwohl die definite Bestimmung und Abgrenzung von Varietäten anhand sprachlicher Kennzeichen auch bei dem horizontalen Gesellschaftmodell der verschiedenen sozialen Gruppen oft noch problematisch ist, steht doch der prinzipielle Einfluss dieser Gliederungsebene auf Gebrauchsvarianten der Sprache außer Frage. Zudem gehören zu dieser Gruppe auch sämtliche Funktiolekte und Funktionalstile, sprachliche Varietäten also, die in bestimmte empraktische Handlungszusammenhänge eingebettet sind und sich in der Regel durchaus exakt in ihren Eigenheiten beschreiben lassen (z. B. alle Fachsprachen in Handwerk und Wissenschaft, aber beispielsweise auch die ‚Politikersprache‘). – Diaphasische Varianten, die sich pragmatisch nach verschiedenen Gebrauchssituationen unterscheiden. Hierzu können so wichtige Varianten wie die medialkommunikativ bedingte zwischen Schrift- und gesprochener Sprache gezählt werden, aber auch unterschiedliche Stilebenen, die weder fest an regionale Bedingungen noch an bestimmte Sprechergruppen oder pragmatische Zwecke gebunden sind, wovon schließlich auch die relationale Überdachungsvarietät ‚Umgangssprache‘ erfasst wird. – Diachrone Varianten konstituieren sich aus den unterschiedlichen Ausformungen einer Sprache zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Sprachgeschichte. Diese sind insofern für das Problem des Einheitlichkeitsideals von Sprechern relevant, als der Fakt, dass sich Sprachen in einem ständigen Wandel befinden, systematisch für eine Situation der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ sorgt, bei dem Sprachteilhaber unterschiedlichen Alters ihren Sprachgebrauch gegenseitig als Abweichungen von der eigenen Sprache wahrnehmen.  





Entscheidend aus linguistischer Sicht ist, dass diese Varianz keineswegs als die Zergliederung oder gar das Auseinanderfallen einer Sprache zu betrachten ist, son-

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dern dass umgekehrt die Varianten selbst die eigentlichen und ausschließlichen sprachlichen Realitäten darstellen (vgl. Berruto 2008). Hochgradig abstrakte Konstrukte wie ‚die deutsche Sprache‘ sind dagegen nur virtueller Natur und lassen sich deskriptiv nicht fassen. Die Vielgestaltigkeit sprachlicher Gebrauchsformen, die partiell – und in aller Regel zum weitaus größten Teil – hinsichtlich des verwendeten Zeichenrepertoires deckungsgleich sind, macht geradezu die kommunikativ-funktionale Stärke natürlicher Sprachen aus. Einheitlichkeit einer Nationalsprache wie des Deutschen ist also aus linguistischer Sicht systematisch nicht vorstellbar. Im Prinzip ist damit auch Vereinheitlichung als sprachgestalterisches Ziel nicht sinnvoll zu begründen, es sei denn, es ist dabei nicht an die Herstellung einer homogenen Sprache gedacht, sondern an Ausgleichsbemühungen zwischen zwei oder mehreren Varietäten einer Sprache. Solche spielten im Falle des Deutschen sprachhistorisch eine Rolle im Zusammenhang mit der Entstehung des ‚Hochdeutschen‘ seit dem 17. Jahrhundert (vgl. Abschn. 4.1). Eigentlich liegt in solchen Fällen jedoch nicht eine Vereinheitlichung im Sinne einer Reduktion der Varietätenkomplexität innerhalb einer Sprache vor. Vielmehr erhöht sich diese Komplexität zunächst einmal durch das Hinzukommen einer weiteren, eben der Ausgleichsvarietät, wie sie der deutsche Standard darstellt. (Hinzu kommt, dass es sich dabei im Falle der deutschen Sprache um zumindest drei, im Grunde historisch-regionale Standardvarianten handelt, nämlich die Deutschlands, Österreichs und der Schweiz; vgl. Abschn. 4.2.)

3 Einheitlichkeit und Normabweichung als sprachreflexive Konstrukte Das Laien-Theorem der notwendigen Einheitlichkeit einer Sprache und eines damit unter Umständen einhergehenden Vereinheitlichungsbedarfs lässt sich also linguistisch ebenso wenig begründen wie die Sicherung lokalen Verstehens und kollektiver Verständigungssicherung als eine unmittelbare Funktion der Sprache selbst im Sinne eines reinen Zeichencodes erklärt werden kann. Die Varianz des Sprachlichen stellt auch nicht ein Sprecherproblem in dem Sinne dar, dass die Erfahrung mit dem Erfolg beziehungsweise Misserfolg des eigenen sprachlichen Handelns bei den Sprechern unmittelbar ein Bedürfnis nach Vereinheitlichung ihrer Sprache weckt. Dies lässt sich beispielsweise daran erkennen, dass lokales Nicht-Verstehen, das zum sprachlichen Alltag gehört, von Sprechern keineswegs regelmäßig auf der Ebene der Bearbeitung des sprachlichen Codes gelöst wird, sondern vielmehr durch routinierte sprachliche Reparationshandlungen unter Nutzung desselben sprachlichen Codes (vgl. Levinson 2000, 369–372). Das Einheitlichkeitsideal ist folglich kein sprachpraktisches, sondern ein sprachreflexives Phänomen. Erst dort, wo Sprachteilhaber ihre kollektive Sprache zum Gegenstand expliziter Reflexion machen – wie das typischerweise im Kontext der verschiedenen Spielarten populärer Sprachkritik der Fall ist –, erweist sich die

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Idee von der notwendigen Einheitlichkeit der Sprache als besonders vital. Auch wenn das im Falle des Deutschen und seiner Sprecher aus sprachhistorischen Gründen heute noch stärker ausgeprägt sein mag als dies etwa für die Sprecher anderer europäischer Sprachen der Fall ist (vgl. Abschn. 4.1), soll die zugrunde liegende Diskursfigur an dieser Stelle dennoch zunächst in ihren Grundzügen als sprachunabhängige Universalie skizziert werden, für die auf Aspekte der beiden vorangegangenen Abschnitte zurückzugreifen ist. Die eigene Sprache ist ein wichtiges Element der eigenen sozialen Identität: Menschen definieren ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen verschiedener Reichweiten (Familie, Freizeitszene, regionale Gruppierung, Nation) in allererster Linie über ihre Sprache. Dies ist die positiv gewendete Umkehrung der weiter oben beschriebenen Tatsache, dass sprachliche Alterität als Indikator sozialer Distanz wahrgenommen wird. Zum Teil kann auf diese Weise die Wahl einer bestimmten InsiderVarietät sogar gezielt genutzt werden, um Abgrenzungseffekte herzustellen (wie das etwa bei der so genannten ‚Jugendsprache‘ der Fall ist; vgl. Schlobinski/Kohl/Ludewigt 1993). Eben deshalb entsteht ein subjektives Problem immer dann, wenn ein Sprecher sprachliche Abweichungen dort registriert, wo er von seiner eigenen sozialen Selbstverortung her soziale Gruppenidentität erwartet, also etwa innerhalb der eigenen Familie oder anderer Bezugsgruppen. Die sprachliche Varianz bedroht dann die Kontingenz des sozialen Selbstbildes. Mangelnde sprachliche Einheitlichkeit ist auch deshalb nicht im eigentlichen Sinne ein Sprach- oder Sprecherproblem, sondern ergibt sich aus der Selbstkonstruktion des Menschen als soziales Gruppenwesen, für die der Indikator Sprache eine zentrale Rolle spielt. Soziale Gruppen aber konstituieren sich aus gruppenspezifischen Normen (bspw. bestimmten Dresscodes, Umgangsformen, Geschmackserwartungen usw.). Entsprechend basieren kollektive Varianten einer Sprache wie des Deutschen ebenfalls auf verschiedenen Erwartungs- und Normsystemen (vgl. Gloy 2008b), etwa im Hinblick auf die zu erwartende Lexik und Semantik (die für Veränderungen in kurzen Zeiträumen, die von Sprechern wahrgenommen werden können, eher in Frage kommen als beispielsweise die Syntax). Es entspricht der Natur von Normen, dass sie nicht systematisch missachtet werden können, ohne dass es entweder zu einem kollektiven Wandel des Normengefüges kommt (in diesem Fall ermöglicht die Dynamik des Sprachwandels die Wahrung von Einheitlichkeit trotz Abweichung) oder aber subjektiv der identitätsgefährdende Eindruck von Alterität innerhalb der sozialen Bezugsgruppe entsteht. Mit anderen Worten ist in der Natur von Sprachen als Normgefügen das Einheitlichkeitspostulat sozial bereits unweigerlich impliziert. Es erweist sich damit also nicht die Abweichung von der Norm selbst als Problem, sondern die damit einhergehende von anderen Sprechern derselben Bezugsgruppe empfundene Aufkündigung der Sprach- als Sozialgemeinschaft (Raith 2008). Das Problem ist nicht kommunikativ-funktionaler Natur und kann deshalb rein reflexiv und metakommunikativ in der Auseinandersetzung mit den Abweichungsphänomenen bearbeitet werden. Die wichtige soziale Rolle von geteilten Normen bei der

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Begründung und Konfirmation kollektiver Gruppen steht dem aber gleichzeitig zunächst einmal eher entgegen, da der nötige reflexiv-kommunikative Aufwand, der auf der kollektiven Ebene zu leisten wäre, erheblich ist. Auch wenn das Einheitlichkeitspostulat als Universalie subjektiver Sprechertheorien also nicht Folge eines sprachlich-funktionalen Bedarfs ist, sondern primär nichtsprachlichen sozialen Bedürfnissen folgt, spielen solche funktionalen Zuschreibungen eine zentrale Rolle in den subjektiven Sprechertheorien und in der Folge auch in den öffentlichen metasprachlichen Diskursen. Es ließe sich eine eigene Topik von Gesichtspunkten rekonstruieren, mit denen die Forderung nach Einheitlichkeit der eigenen Bezugssprache sekundär funktional legitimiert wird. Zentral erscheinen dabei zwei Topoi: Zum einen eben der oben erläuterte Verständigungstopos, demzufolge Varianz im sprachlichen Code das individuelle Verstehen und in der Folge die kollektive Verständigung bedroht und von dem weiter oben bereits dargelegt wurde, dass er auf einer nicht haltbaren impliziten Verstehenstheorie basiert. Der nahezu zeitlose Purismus-Diskurs um die Bedrohung der deutschen Sprache durch den Einfluss fremder Sprachen (vgl. den Beitrag von Pfalzgraf in diesem Band) bietet zahlreiche Beispiele für diese Argumentation. So wird dort etwa regelmäßig die Ausgrenzung bestimmter sozialer Gruppen (im gegenwärtigen Anglizismen-Diskurs vor allem ‚der Senioren‘) behauptet und zu einer gesellschaftlichen Bedrohung stilisiert. Zum anderen spielt im Falle des Deutschen der Topos der national-kulturellen Einheit eine gewichtige Rolle bei den sekundären Funktionszuschreibungen, der in seiner Spezifik in erster Linie historisch erklärt werden muss (vgl. Abschn. 4.1).

4 Einheitlichkeit und Verständigung im Metasprachdiskurs des Deutschen – historische Perspektiven 4.1 Etablierung der Diskursfigur im deutschen Metasprachdiskurs des 17. bis 20. Jahrhunderts Das komplexe Zusammenspiel des sprachideologischen Gevierts aus Verstehen, seinen unterstellten Voraussetzungen Einheitlichkeit und Verständigung und ihrer implizierten Forderung nach Vereinheitlichung ist in der jüngeren Sprachgeschichte wohl in keinem Sprachraum so bestimmend gewesen wie im deutschen. Dies betrifft zum einen die Entwicklung der sprachlichen Realität, mehr aber noch die Sprachbewusstseinsgeschichte mit ihren bis heute bedeutsamen Weichenstellungen und Prägungen. Da es, wie bereits angemerkt, im Falle des Konzepts vom einheitlichen Code als Verständigungsbedingung gerade die (in weiterer historischer Perspektive weitgehend zufällige) Ebene der Nationalsprachen ist, auf der das Sprechertheorem grundlegend wirkt, lohnt sich also auch zum Verständnis heutiger

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Positionen im öffentlichen Diskurs über die deutsche Sprache ein Blick auf diese jüngere Sprachgeschichte, vor allem seit dem 17. Jahrhundert. Weil dabei ein enger Zusammenhang zwischen außersprachlichen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen im deutschen Sprachraum und den von diesen Rahmenbedingungen ausgehenden Projektionen auf die deutsche Sprache selbst besteht, konnten Einsichten in die Entstehung der Idee von Vereinheitlichung und Verständigung erst seit dem Zeitpunkt in den Blick der Sprachgeschichtsschreibung geraten, an dem diese soziolinguistisch neu begründet wurde (vgl. von Polenz 2008). Dies hat an allererster Stelle die umfassende „Deutsche Sprachgeschichte“ geleistet, die Peter von Polenz vorgelegt hat und an deren Rekonstruktion sich das Folgende orientiert (vgl. von Polenz 1994; 1998). Frühere sprachhistoriographische Ansätze haben sich den Aspekten, um die es hier geht, vorwiegend aus der sprachideologischen Eigenperspektive der historischen Akteure selbst heraus angenähert. Dabei wurden Unterstellungen und argumentative Verknüpfungen als gegeben mit übernommen, die von Polenz und andere plausibel als Resultate historischer Metasprachdiskurse identifiziert haben. Dies gilt eben auch für das sprachideologische Junktim aus Einheitlichkeit und Verständlichkeit, das sich nun mehr als ein sozial- und politikgeschichtliches denn als ein sprachimmanent begründetes darstellt. In ihm vereinigen sich zwei wichtige Entwicklungslinien des Diskurses über die deutsche Sprache zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert, die sich analytisch voneinander getrennt und vereinfacht wie folgt rekonstruieren lassen: 1. Einheitlichkeit wird seit dem 17. Jahrhundert zu einer zentralen Forderung von Sprachgelehrten und Sprachliebhabern im deutschen Metasprachdiskurs. Dafür stehen vor allen Dingen die Bemühungen der verschiedenen Sprachgesellschaften wie der Fruchtbringenden Gesellschaft und den Deutschen Gesellschaften (vgl. Gardt 2008). Dieses Vereinheitlichungsstreben ist dabei weniger inklusiv gedacht – also mit Blick auf die sprachfunktionale Leistungsfähigkeit des Deutschen als Verständigungssprache der Deutschen oder gar des deutschen ‚Volks‘. Das Motiv der institutionell noch aristokratisch dominierten Gesellschaften ist eher ein exklusiv nach außen gerichtetes, das sich aus dem Verlust des Deutschen Reichs als politischer Klammer herleitet (vgl. von Polenz 1994, 109). Es ist also die politische Einheit, die auf das Projekt sprachlicher Einheitlichkeit projiziert wird. Diese Diskurslinie setzt sich spätestens bis zur Reichsgründung am Ende des 19. Jahrhunderts fort. So können die Bemühungen um das Hochdeutsche, an der sich die namhaftesten Sprachgelehrten und insbesondere die wegweisenden Grammatiker des 18. Jahrhunderts beteiligt haben (vgl. Moulin-Frankhänel 2008), kaum mit dem Ziel überregionaler Verständlichkeit deutschsprachiger Texte allein erklärt werden, das ohne Frage mit deutlich geringerem Aufwand zu erreichen gewesen wäre. Es ist vielmehr die bedeutsame Rolle der Sprache als Identifikationsmittel für die Deutschen als entstehende (und vor allen Dingen gewollte) Kulturnation, die hier das entscheidende Motiv darstellte. Auch dabei also ist sprachliche Vereinheitlichung eine Funktion soziopolitischer Vereinheitlichungs-

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absichten, die nicht unmittelbar auf das dafür notwendige Maß an im engeren Sinne sprachlicher Verständigung zurückgeführt werden kann. Von Polenz (1998, 110) weist darauf hin, dass der deutsche Sonderfall dabei natürlich nicht im engen Zusammenhang zwischen Sprache und Nation zu sehen ist, der für die Geistesund Ideengeschichte ganz Europas in den hier angesprochenen Jahrhunderten typisch ist. Spezifisch für die deutsche Sprache ist jedoch aufgrund der späten (und dann 1871 ja auch nur teilweise hergestellten) Vollendung einer nationalstaatlichen Realität die Umkehrung der für Europa ansonsten charakteristischen Formel: Während man in der Folge der französischen Revolution im Allgemeinen der Losung Eine Nation, also eine Sprache folgte, sahen die deutschen nationalliberalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts umgekehrt gerade in der schon weit fortgeschrittenen Vereinheitlichung der deutschen Sprache, für die nicht zuletzt die Sprachgelehrten des 18. Jahrhunderts gesorgt hatten, eine wichtige Chance, über das Postulat einer Einheitssprache Anspruch und Notwendigkeit einer Staatsnation zu begründen: Eine Sprache, also eine Nation. (Nationale) Verständigung als unmittelbares Gegenstück zur Einheitlichkeit der deutschen Sprache scheint damit sprachgeschichtlich also zunächst einmal keineswegs zwingend. Zwar gibt es im 18. Jahrhundert Seitenlinien der hegemonialen Metasprachdiskurse, die eine solche Verbindung bereits explizit herstellen. Hierzu zählen beispielsweise die Verdeutschungsbemühungen J. H. Campes, die sich einerseits vom Ergebnis her zwar in das nationale Programm einfügen, andererseits aber ausdrücklich allgemeine Verständlichkeit als Voraussetzung für barrierefreie Verständigung über alle Schichtgrenzen hinweg zum Ziel haben (vgl. Schiewe 1988). Entscheidender jedoch hat gerade die beschriebene ganz spezifische soziohistorische und politisch-ideengeschichtliche Gemengelage im deutschen Sprachraum bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts selbst die Plausibilität dieser Verknüpfung von Einheitlichkeit und Verständigung begründet. Wo nämlich – wie etwa prototypisch in Frankreich – sprachliche Einheitlichkeit als zwingende Folge nationalstaatlicher Einheit erschien, wurde sie zur Selbstverständlichkeit und letztlich immer dort zum Regelungsgegenstand offizieller Institutionen des Nationalstaats, wo sich Verständigung durch eine solche Regelung funktional erleichtern ließ. In Deutschland jedoch musste die als Voraussetzung für die nationalstaatliche Einigung postulierte sprachliche Vereinheitlichung gewissermaßen diskursiv erzwungen werden. Damit aber konnte prinzipiell jede Form von Varianz, die es aufgrund der erläuterten Charakteristika natürlicher Sprachen unweigerlich immer gibt, zu einer potenziellen Bedrohung und zur Quelle von identitärer Irritation werden (vgl. von Polenz 1998, 2–3). So findet sich an dieser Stelle sprachhistorisch eben jener Mechanismus wieder, der weiter oben als universell typisch für subjektive Sprechertheorien beschrieben wurde und bei dem sprachliche Differenzen als Kennzeichen von sozialer Alterität wahrgenommen werden. Umso mehr aber im Zuge der nationalen Bewegungen nationale Identität angestrebt wurde und umso zentraler diese an die Reduktion sprach-

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licher Varianz und die Einheitlichkeit der deutschen Sprache rückgebunden wurde, umso mehr wurde Varianz, wo sie unvermeidbar doch auftrat, für entscheidende Akteursgruppen des Diskurses zu einer Bedrohung der nun zentral gesetzten nationalen Identität. Wahrgenommen oder formuliert – das trennscharf zu unterscheiden, lässt die diskurshistorische Perspektive kaum zu – wurde diese Bedrohung nun als die Sorge um Verständigung. Im 20. Jahrhundert schließlich war das Konzept nationaler Identität zum schichten- und milieuübergreifenden Identitätskonzept der gesamten deutschen Bevölkerung geworden. Damit konnte sich der so begründete Zusammenhang zwischen sprachlicher Vereinheitlichung als Voraussetzung für staatliche Verständigung leicht als eine dominante subjektive Sprechertheorie etablieren, die eine einheitliche Nationalsprache auch als Voraussetzung für intersubjektives Verstehen zwischen konkreten Sprechern unterstellt. Dieses Ideologem entsprach der tatsächlichen Funktionsweise von Sprachen, zumal so komplexer und theoretisch-abstrakt konstruierter Phänomene wie Nationalsprachen, freilich kaum und blieb deshalb praktisch zunächst weitgehend ohne Konsequenz. Eine entsprechende Sprachplanung und ‑lenkung fand vor 1933 (wo sie wiederum unter ganz anderen Vorzeichen stand und ganz andere Ziele verfolgte) kaum statt. Auf Nebenkriegsschauplätzen, wo – aus linguistischer Sicht – für das Feld des Sprachlichen wenig bedeutsame Aspekte zum Gegenstand öffentlicher Metasprachdiskurse werden, wird ihre Vitalität jedoch regelmäßig sichtbar und ihre Tauglichkeit als Kernstück sprachideologischer Programme immer wieder deutlich. Typische Felder dieser Art wurden eingangs schon genannt; auf die Diskussion um die Rechtschreibreform (vgl. Stenschke 2005) und die Ablehnung von Anglizismen (vgl. Spitzmüller 2005) mit Verweis auf deren vermeintlich Verstehen und Verständigung bedrohende Wirkung sei noch einmal verwiesen.

4.2 Das Beispiel von Einheitlichkeit und Verständigung im Diskurs über das Deutsche in den Zeiten der staatlichen Teilung (1949–1990) Die skizzierten älteren Diskurstraditionen in der öffentlichen Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache und die damit verknüpften epistemischen Strukturen subjektiver Sprechertheorien sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch einmal in einem ganz spezifischen Kontext relevant geworden. Dieser Fall, der Diskurs um die Entstehung zweier deutscher Sprachen in den Zeiten der staatlichen Teilung Deutschlands (1949–1990), soll abschließend exemplarisch und mit Blick auf die für das hier Verhandelte relevanten Implikationen diskutiert werden. Um die sprachideologischen Prämissen dieses Diskurses erkennbar werden zu lassen, muss die Tatsache den Ausgangspunkt bilden, dass das Deutsche nie eine

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typische Nationalsprache (vgl. Barbour 2008) geworden ist. Die so genannte ‚kleindeutsche‘ Lösung, die bei der Reichsgründung 1871 einen deutschen Staat unter Ausschluss großer Teile der hauptsächlich deutschsprachigen Gebiete in Europa (v. a. Österreich) realisiert hat, sorgte dafür, dass sich die deutsche Sprache im 20. Jahrhundert als eine plurizentrische Sprache etabliert und weiterentwickelt hat. Das bedeutet, dass Deutsch nicht – wie etwa das Französische – in einer eindeutig standardsetzenden Variante existiert, die identisch ist mit dem Standard des jeweiligen Nationalstaats, sondern in verschiedenen ‚nationalen Varianten‘, beziehungsweise korrekter staatlichen Varianten (von Polenz 1998, 412). Es sind dies zumindest der deutschländische Standard, der österreichische Standard und der Standard der Deutschschweiz. Ein Bewusstsein von der sprachimmanenten – und erst recht der politisch-sozialen – Gleichwertigkeit dieser drei Standards hat sich freilich auch in der Sprachwissenschaft erst langsam durchgesetzt. Sie wurde in der Lexik erst seit den 1980er-Jahren (vor allen Dingen in Form eines umfangreichen Variantenwörterbuchs; vgl. Ammon/Bickel/Ebner 2004) systematisch linguistisch gewürdigt, auf anderen sprachlichen Ebenen wie der Grammatik wird an einer angemessenen sprachwissenschaftlichen Beschreibung sogar derzeit erst gearbeitet (vgl. Dürscheid/ Elspaß/Ziegler 2015). Die bevölkerungsquantitative und politische Dominanz Deutschlands sorgt auch im allgemeinen Sprecherbewusstsein dafür, dass – und dies durchaus nicht nur in Deutschland – die deutschländische Variante des Standards oft unreflektiert als die musterhafte und korrekte gesetzt wird (vgl. bspw. Scharloth 2005; Ender/Kaiser 2009). Wenngleich wie dargelegt Einheitlichkeit aufgrund der notwendigen Binnengliederung natürlicher Sprachen aus soziolinguistischer Sicht ohnehin niemals ein sprachrealistisches Prinzip ist, so gilt dies also aufgrund der plurizentrischen Natur der deutschen Sprache für diese in ganz besonderem Maße. Ein Diskurs, in dem aus dem dreifachen Standard unüberwindbare Verständigungsbarrieren abgeleitet wurden, hat sich im 20. Jahrhundert jedoch niemals entwickelt. Erst die deutsche Teilung in der unmittelbaren Nachkriegszeit und verfassungsrechtlich seit der doppelten Staatsgründung 1949 zeigte doch die ungebrochene Vitalität des sprachideologischen Musters. So entwickelte sich seit Beginn der 1950er-Jahre in Ost- und Westdeutschland ein den gesamten Zeitraum der staatlichen Teilung über nach wie vor anhaltender Diskurs über die Frage, ob und inwiefern sich in den beiden deutschen Staaten zwei eigenständige Varianten des Deutschen im Sinne zweier Sprachen herausbilden (vgl. zur Übersicht die kommentierte Textsammlung bei Hellmann/Schröder 2008). Die leidenschaftliche Diskussion wurde von Publizisten und Sprachpflegern, durchaus aber auch von Sprachwissenschaftlern betrieben, und die politisch-ideologische Rahmung, unter der sie stand, überlagerte dabei auf weite Strecken Perspektivunterschiede, die es zwischen diesen Gruppen ansonsten in der Regel gibt. Es geht an dieser Stelle nicht darum zu klären, inwieweit die Furcht vor der sprachlichen Entfremdung zu Zeiten der staatlichen Teilung im Alltagsbewusstsein der Sprecher diesseits und jenseits der Grenze verankert war. Hier dürfte sie von eher geringer Relevanz  

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gewesen sein. Der medial getragene offizielle Diskursausschnitt aber basierte, wie sich gerade an den auch an die Öffentlichkeit und die Politik gerichteten semiwissenschaftlichen Texten heute rekonstruieren lässt, zu großen Teilen auf der Unterstellung, die grundverschiedenen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den beiden deutschen Staaten könnten theoretisch zur Sprachspaltung führen. Die Gefahr, die viele der Diskursakteure damit in den Raum stellten, war zum Teil explizit die der Verunmöglichung barrierefreier sprachlicher Verständigung zwischen den Deutschen in der Bundesrepublik und der DDR. Für diese Perspektive kann stellvertretend der Titel eines einschlägigen und viel rezipierten Aufsatzes des ostdeutschen Schriftstellers F. C. Weiskopf aus dem Jahr 1955 dienen: ‚Ostdeutsch‘ und ‚Westdeutsch‘ oder Über die Gefahr der Sprachentfremdung (Weiskopf [1955/1960] 2008). Im öffentlichen Metasprachdiskurs der Bundesrepublik war diese Zwei-SprachenThese bis 1990 ebenfalls sehr lebendig, auch wenn sie von linguistischer Seite spätestens seit den 1960er-Jahren deutlich kritisiert und plausibel widerlegt worden war (u. a. Betz [1962] 2008; Dieckmann [1967] 2008). In Arbeiten von DDR-Wissenschaftlern dagegen wurde sie zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren teilweise dezidiert vertreten (vgl. u. a. Schmidt [1972] 2008), womit die offizielle parteiideologische Position der Entstehung zweier Staatsnationen auf deutschem Boden und der klaren Abgrenzung zwischen den beiden Staaten auf allen denkbaren Ebenen in einer Projektion auf das Feld der Sprache umgesetzt wurde. In diesem Fall ist die Verknüpfung der sprachideologischen Idee vom Voraussetzungsverhältnis zwischen der Einheitlichkeit des sprachlichen Codes und der Möglichkeit kommunikativer Verständigung mit sozialen und politischen ideologischen Rahmensetzungen natürlich besonders deutlich. Allerdings sollte hier aus der historischen Rückschau kein allzu großer Unterschied angenommen werden zwischen dem offiziellen Diskurs in der Bundesrepublik und dem in der DDR: Galt in der veröffentlichten Meinung in der DDR, wie sie politisch bestimmt und zum Teil wissenschaftlich gestützt wurde, die vermeintliche Sprachteilung als positives Zeichen einer unterschiedlichen Entwicklung in den beiden Staaten, sah man im öffentlichen Ost-West-Sprach-Diskurs der Bundesrepublik in einer solchen Entwicklung zwar eine große Gefahr für die Einheit der Nation. Beiden Positionen, seien sie in der Bewertung auch noch so konträr, liegt aber eben dieselbe diskursive Figur zugrunde: Die Tatsache, dass sich in einigen Feldern des Sprachlichen (v. a. auf dem Feld der jeweiligen offiziellen Institutionenund Ideologiesprachen) mit der staatlichen Teilung neue Varianten innerhalb der deutschen Sprache beschreiben ließen, wurde zur Grundlage für die Annahme sinkender Verständigungsfähigkeit genommen. Entscheidend für das Verständnis dieser Diskursfigur ist nun die Frage, warum diese im Falle der Varianz zwischen Bundesrepublik und DDR so viel präsenter war als in den anderen Fällen der im Ganzen viel weitreichenderen staatlichen Varianten des Deutschen. Es lassen sich dafür am konkreten Fall zumindest zwei Aspekte identifizieren, die auf die weiter oben ausgeführten allgemeinen Prinzipien von Varianz und Einheitlichkeit als sprachreflexive Konstrukte zurückverweisen:  





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Mit der DDR und der Bundesrepublik waren zwei politische Gebilde entstanden, die beide das Lexem deutsch im Namen trugen, nominell gewissermaßen ein doppeltes Deutschland. Diese Bezeichnung spielte – neben politisch-historischen Gründen, die hier nicht relativiert werden sollen – eine bedeutende Rolle für die Plausibilität der subjektiven Theorie von Identität: Beide Teile sind Deutschland, in beiden Teilen leben Deutsche, in beiden Teilen ist folglich die gleiche deutsche Sprache zu sprechen. Dieser Identifizierungsaspekt ist insofern relevant, als er den entscheidenden Unterschied zu jenen deutschsprachigen Gebieten darstellt, wo Deutsch als Minderheitensprache im Rahmen eines anderen Nationalstaats gesprochen wurde (seit 1945 oder schon vorher) einerseits und zu Österreich und der Deutschschweiz andererseits, wo Deutsch zwar als Nationalsprache existierte, dies aber nicht innerhalb eines Staates mit der Nomination Deutschland. Die durch sprachliche Etikettierung gesetzte und politisch-ideologisch unter gegensätzlichen Vorzeichen auf beiden Seiten gewollte und geförderte Identifizierung zwischen den Sprechern auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze ließen eine Vergrößerung der sprachlichen Varianz als besonders relevant – erfreulich oder aber bedrohlich – erscheinen. Zum Tragen kam also die für die Reflexionsfigur typische Wahrnehmung von unerwarteter Abweichung zwischen vermeintlich identitären Interaktionspartnern als Bedrohung von Kommunikation und Verständigung (vgl. Abschn. 2.1). Politisch gestaltet, teilweise erzwungen, haben sich in den beiden deutschen Staaten schnell unterschiedliche soziale Normen und Wertesysteme entwickelt, die gerade dort, wo Kontakte zwischen den Bürgern der Bundesrepublik und denen der DDR verstärkt nur noch medienvermittelt erfolgten, dominant in der gegenseitigen Wahrnehmung wurden. Die unterschiedliche ökonomische Entwicklung sorgte außerdem dafür, dass die subjektive Nähe in den alltäglichen Lebensverhältnissen zwischen Westdeutschen und Österreichern oder Schweizern oder die zwischen Ostdeutschen und Polen oder Tschechen bald deutlich größer war die zwischen West- und Ostdeutschen (vgl. Löffler 2004). Die komplexen Differenzen in Alltagserfahrungen und biographischen Prägungen sind aus der Betroffenenperspektive der Individuen schwer fasslich, so dass diese eher im Sinne interkultureller Barrieren erklärlichen Hürden der innerdeutschen Kommunikation teilweise auf die Sprache projiziert wurden. Auch dieser Effekt wurde weiter oben bereits als wesentliches Element der hier verhandelten Denkfigur dargestellt (Abschn. 2.1).

Gerade der zweite Aspekt lässt sich in der Analyse kognitiver und affektiver Spracheinstellungen recht konkret beschreiben. Typisch – und etwa auch für die Diskurse über Jugendsprache oder den Einfluss des Englischen als Verständigungsbarriere bedeutsam – ist dabei die Fokussierung von Sprechern auf die Wortebene: Lexikalische Varianten werden, seien sie innerhalb der komplexen Funktionsweise von Sprache auch noch so nebensächlich, in subjektiven Sprechertheorien regelmäßig zur

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Konstruktion tiefgreifender sprachlicher Differenzen – also zum Nachweis für sprachliche ‚Uneinheitlichkeit‘ – genutzt und auf diese Weise zum Postulat gestörter Verständigung durch individuell eingeschränktes Verstehen gemacht. So gehörte gerade in den frühen 1990er-Jahren, als die zahlreichen politischen und sozialen Herausforderungen der Bewältigung des inneren Einigungsprozesses nach der sehr schnell vollzogenen verfassungsrechtlichen Vereinigung deutlich wurden, der Verweis auf eine geringe Zahl lexikalischer Varianten zwischen Ost und West (darunter ‚Klassiker‘ wie Broiler vs. Brathähnchen oder Zwei-Raum-Wohnung vs. Zwei-Zimmer-Wohnung) zu den hochfrequenten Topoi des Metasprachdiskurses. Es handelt sich dabei um – in Teilen medial konstruierte – so genannte „Schibboleth“-Ausdrücke, anhand derer Sprecher soziale Eigen- und Fremdgruppenzuordnungen vornehmen, die aber in keinem Fall im eigentlichen Sinne sprachliche Verstehens- und Verständigungsbarrieren darstellen (vgl. Schmidt 2008). Dennoch erbringt die offenkundige Alltagsplausibilität dieses Phänomens im Ost-West-Diskurs, in dem es bis heute um die systematische Konstruktion einer immer abstrakter werdenden sozialen Trennkategorie geht (vgl. Roth/Wienen 2008), einen deutlichen Beweis für die Vitalität der sprachreflexiven Diskurstopik aus Einheitlichkeit und Vereinheitlichung einer als Code verstandenen Sprache als Voraussetzung für lokales Verstehen und kollektive Verständigung.

5 Fazit Die in metasprachlichen Diskursen immer wieder relevante topische Figur aus Einheitlichkeit und Verstehen, Vereinheitlichung und Verständigung erweist sich vor dem Hintergrund ganz unterschiedlicher sprachtheoretischer Modelle und Ansätze als in ihren Grundlagen unhaltbar. Die Überzeugung, dass ein einheitlicher Code die zentrale Voraussetzung für die Verstehenssicherung zwischen Sprechern ist, ist von großer Alltagsplausibilität (wohl, weil sie bei einfacheren Zeichensystemen auch zutrifft), wird aber der Komplexität der menschlichen Sprache und vor allen Dingen des menschlichen Sprechens und Sprachhandelns nicht gerecht. Dass die Wahrnehmung von Alterität im Sprachlichen von den Sprechern dennoch sehr wohl regelmäßig wahrgenommen wird, ist entsprechend nicht Verstehensproblemen geschuldet, sondern in der identitätsbildenden Funktion von Sprache begründet. Sie ist es auch, die in der Ideologie-, aber auch der politischen Geschichte Europas die Idee einer vereinheitlichten Nationalsprache so bedeutsam gemacht hat, der – gerade im historischen Metasprachdiskurs über das Deutsche – eher sekundär das Ziel gesamtgesellschaftlicher Verständigung zugeschrieben wurde. Der Diskurs über die drohende Sprachspaltung zwischen den Sprechern der Bundesrepublik und denen der DDR, an dem sich zwischen 1945/49 und 1990 unter den jeweils gültigen ideologischpolitischen Rahmenbedingungen nicht zuletzt auch die Sprachwissenschaft öffentlichkeitswirksam beteiligt hat, zeigte zuletzt die Virulenz dieser topischen Figur.

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IV. Sprache im Urteil der Öffentlichkeit – Themen gegenwärtiger Sprachreflexion

Falco Pfalzgraf

12. ‚Anglisierung‘ und ‚Globalisierung‘: Aktuelle Diskurse zu Entlehnungen und moderner Sprachpurismus Abstract: Seit der Wiedervereinigung hat sich in Deutschland eine in Intensität und medialer Wirksamkeit neuartige Form des Purismus (Neopurismus) entwickelt, die ihren Niederschlag in intensiven sprachideologischen Debatten zu sog. ‚Anglizismen‘ findet. Eine genaue Betrachtung der Akteure und Aktivitäten sowohl der wichtigen Organisationen (‚Sprachschutzvereine‘) als auch der Publizistik zeigt, dass sich die gegenwärtige deutsche Purismusphase von denen der Vergangenheit in einiger Hinsicht unterscheidet. Insbesondere steht der heutige Neopurismus im Zeichen einer gegen die USA gerichteten Kulturkritik, die vor allem in den letzten Jahren verstärkt in Zusammenhang mit einer Globalisierungskritik gerät.  

1 2 3 4

Wesentliche Grundbegriffe Der gegenwärtige Sprachpurismus Schlussfolgerung Literatur

1 Wesentliche Grundbegriffe Der Titelformulierung folgend soll in diesem einleitenden Abschnitt mit Blick auf die sog. Globalisierung das sprachideologische Konzept der Anglisierung des Deutschen dargestellt werden. Weiterhin werden sechs sprachpuristische Phasen und vier Diskurstypen charakterisiert, deren kritische Betrachtung im Zentrum der folgenden Abschnitte dieses Artikels steht.

1.1 Globalisierung In der sprachpuristischen Diskussion zu Beginn der Jahrtausendwende haben Sprachkritiker erstmals einen Zusammenhang zwischen der ‚Globalisierung‘ und der ‚Anglisierung‘ des Deutschen und anderer Sprachen hergestellt (vgl. bspw. Raeithel 2000, Krischke 2001; für einen Überblick Spitzmüller 2005a, 289‒291). Dabei war zumeist unspezifisch vom (anfangs meist fatalistisch als ‚unaufhaltsam‘ betrachteten) „Zeitalter der Globalisierung“ (vgl. zu dieser Kollokation weiter unten) die Rede, welches https://doi.org/10.1515/9783110296150-013

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den aus Sicht der Puristen unerwünschten Sprachwandel (mit)bedinge, ohne dass genauer ausgeführt wurde, was mit Globalisierung gemeint ist. Dies schien als bekannt vorausgesetzt zu werden. Dabei ist Globalisierung alles andere als ein klar zu bestimmendes Konzept. Wie unter anderem Kessler/Steiner (2009, 35) feststellen, ist es „bisher nicht gelungen […], einen Konsens über seine Bedeutung zu erzielen“, weshalb der Begriff zumindest als Fachterminus problematisch sei. Ähnlich hält auch Schroer (2013, 503) fest: Der Begriff gehört nicht nur zu den schillerndsten und anregendsten Begriffen, mit denen die Sozialwissenschaften sich je auseinandergesetzt haben, sondern auch zu den streitbarsten und widersprüchlichsten. Was damit im Einzelnen gesagt werden soll, kann in den vielen miteinander konkurrierenden Deutungsangeboten durchaus unterschiedlich ausfallen. Fest steht nur, dass die Vokabel Globalisierung geradezu allgegenwärtig ist.

Allgegenwärtig ist die Vokabel nicht nur im fachlichen, sondern auch im massenmedialen Alltagsdiskurs. Und dort wird sie auch wesentlich geprägt. Das heißt, was Globalisierung ‚ist‘, wissen wir vor allem durch massenmediale Beschreibung und Setzung, „weil man es uns unablässig [in den Medien; F.P.] mitteilt“ (Teubert 2007, 22). Globalisierung ist also zu wesentlichen Teilen ein diskursives Faktum und Konstrukt. Daher sollen zunächst exemplarisch zwei massenmediale Definitionen von Globalisierung betrachtet werden (vgl. für weitere bspw. Teubert 2002, Hermanns 2003 und die Beiträge in Wengeler/Ziem 2007). Wikipedia (2014) definiert Globalisierung als einen Vorgang, bei dem […] internationale Verflechtungen in vielen Bereichen (Wirtschaft, Politik, Kultur, Umwelt, Kommunikation) zunehmen, und zwar zwischen Individuen, Gesellschaften, Institutionen und Staaten.

In einem ganz ähnlichen Sinne, wenn auch deutlich detaillierter, definiert die Brockhaus Enzyklopädie Online (2014): Globalisierung, komplexer Begriff für mehrere zusammenhängende, aber unterscheidbare Strukturveränderungen des internationalen Systems aufgrund einer vertieften weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung, Spezialisierung, Integration und Vernetzung, einer zunehmenden politischen Interdependenz sowie einer verstärkten kulturellen Durchdringung von bislang national geprägten Gesellschaften. Die Globalisierung ist eng mit der technologischen Entwicklung verbunden und stellt einen evolutionären Prozess dar, der auf mehreren interagierenden Triebkräften beruht.

In diesen Definitionen wird Globalisierung dargestellt als ein vor allem ökonomischer Prozess mit faktischer Wirkkraft. Globalisierung lässt sich aber auch als ein perzeptives Phänomen auffassen, als ein diskursiv hergestellter „Erwartungsbegriff“ (Hermanns 2003: 411) mit kontingenzreduzierender (simplifizierender) Funktion. Dies hat Hermanns (2003) in seiner Übersicht zum Globalisierungsbegriff als „brisantem“ diskursivem (und diskursordnendem) Konzept gezeigt. Er weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die Frequenz des Ausdrucks vor allem ab Mitte der

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Aktuelle Diskurse zu Entlehnungen und moderner Sprachpurismus

1990er-Jahre in den Medien drastisch zunimmt, und dass sich dabei auch die Semantik des Begriffs deutlich verändert: Globalisierung entwickelt sich von einem ökonomischen „Fahnenwort“ immer mehr zu einem „brisanten Wort“, das als vages Erklärungsetikett für alle (und zunehmend vor allem die unerwünschten) als supranational eingeschätzten Entwicklungen dient und dabei Handlungs- (und das heißt vor allem Gegenhandlungs-)Erwartungen zum Ausdruck bringt (vgl. ähnlich auch Liebert 2003). Ein Blick in aktuelle Referenzkorpora bestätigt dies. So vermittelt eine Recherche nach dem Term globali* im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo, Teilkorpus W-öffentlich) des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) hinsichtlich der quantitativen Entwicklung folgendes Bild: Von 1985 bis 1990 tritt der Term nur ein- bis dreimal auf; bis 1995 kommt es dann zu einem sanften Anstieg bis auf 191; 1996 erfolgt ein Sprung auf 1.612; im Folgejahr geht es gar steil auf 4.467. Werte um die 4.000 haben wir bis zum Jahr 2000, ab dann beginnt ein sanfter Abstieg: bis hinunter zu 1.884 im Jahr 2004. Es folgt ein erneuter, allmählicher Anstieg bis auf ein Rekordhoch von 6.083 im Jahr 2011, nach welchem der Wert wieder auf 1.445 abfällt. Semantische Verschiebungen lassen sich über eine Analyse von Kollokationen ermitteln. So weist Storjohann (2007) in einer Analyse, die ebenfalls auf das DeReKo zurückgreift, nach, dass Globalisierung zunehmend signifikant häufig in der Nachbarschaft negativ besetzter Ausdrücken (wie Armut, Angst etc.) auftritt und aktuell vor allem negativ gerahmt ist. Die statistisch signifikantesten Kollokationspartner von globali* im DeReKo sind übrigens Welt (in der/einer globalisierten [...] Welt) und das schon von Hermanns (2003, 412) diskutierte, oben erwähnte Zeitalter (im Zeitalter der Globalisierung). Dies zeigt eindrücklich, dass Globalisierung nicht nur ein Schlagwort im Sinne von Hermanns (1994) ist, welches kraft seiner deontischen Bedeutung massiv „auf die öffentliche Meinungsbildung (inclusive Willensbildung)“ einwirkt, sondern, wie auch Liebert (2003) zeigt, ein Schlüsselwort unserer Zeit – im Sinne einer „komprimierte[n] [und kontrovers diskutierten; F.P.] Antwort auf […] gesellschaftliche Grundfragen“ (Liebert 2003, 67) und im Sinne eines Schlüssels zum Verständnis vieler rezenter gesellschaftlicher Debatten, zu denen die Debatte um die so genannte ‚Anglisierung‘ zweifellos zählt.

1.2 Anglisierung Klagen über fremdsprachliche Einflüsse auf das Deutsche und Bestrebungen zur Eindeutschung von Fremdwörtern gibt es zumindest seit dem Mittelalter (vgl. z. B. Kilian/ Niehr/Schiewe 2010, 22). Derzeit ist es vor allem der weltweite Einfluss des Englischen, durch den sich Sprachkritiker zum Handeln aufgerufen fühlen (wenn in diesem Artikel von Sprachkritikern bzw. Sprachkritik die Rede ist, so sind stets laienlinguistische Sprachkritiker und laienlinguistische Sprachkritik gemeint, also bewertende  

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Betrachter und Betrachtungsweisen von Sprache und Sprachgebrauch, die nicht primär sprachwissenschaftlichen Interessen verpflichtet sind; vgl. dazu Kilian/Niehr/ Schiewe 2010, 56). Die so genannte ‚Anglisierung‘ des Deutschen wird in allen drei großen Sprachgebieten des Deutschen in Europa beklagt. So schreibt der Schweizer Sprachkreis Deutsch der Bubenberg-Gesellschaft (2005) auf seiner Internetseite: Die Dominanz der Sprache der hegemonialen Supermacht (US-Englisch) als ‚lingua franca‘ befördert die weltweite ‚McDonaldisierung‘ und bedroht damit andere Sprachen. Einem ‚Englishonly-Europa‘ mit einer weiteren kulturellen Amerikanisierung muss eine alternative Sprachenpolitik mit neutralen Lösungen entgegengesetzt werden, die Multikulturalität und Sprachenvielfalt in Europa sichert.

Auch der stellvertretende Obmann der österreichischen Interessengemeinschaft Muttersprache Graz, Gerhard Kurzmann, kritisiert die „geradezu fatale[…] ‚Anglisierung‘ des Deutschen“ und fordert: Es ist hoch an der Zeit, mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln und der sprachlichen ‚McDonaldisierung‘ unserer Sprache, wenn nötig auch mit Sprachgesetzen nach französischem Vorbild, entgegenzutreten. (Kurzmann 2003)

Deutschlands größter privater Sprachverein ist der Verein Deutsche Sprache (VDS) mit einer Mitgliederzahl von „derzeit [= 2014; F.P.] 36.000 Menschen aus nahezu allen Ländern, Kulturen, Parteien, Altersgruppen und Berufen“. Der 1997 gegründete Verein hat sich das Ziel gesetzt, das Deutsche „vor dem Verdrängen durch das Englische zu bewahren“ und „der Anglisierung der deutschen Sprache entgegen[zu]treten“ (VDS 2014d). In der Ausgabe 2014 des vom VDS jährlich neu aufgelegten AnglizismenIndex beklagt Keck (2013, 278) „die Verballhornung der deutschen Sprache durch unnötige Anglizismen“ und stellt heraus: ‚Amerikanisierung‘ ist nicht mehr und nicht weniger als ein anderer Ausdruck für ‚Kulturimperialismus US-amerikanischer Prägung‘. Die weitverbreitete Verwendung von Anglizismen ist der sprachliche Ausdruck eben jener Amerikanisierung, die den deutschsprachigen Raum voll erfasst hat. […] im Großen und Ganzen lassen wir uns bereitwillig – und nicht zuletzt auch sprachlich – disneyfizieren, cocakolonisieren [sic!] und mcdonaldisieren. (Keck 2013, 279)

Als Symptom des Anglisierungsprozesses wird vor allem eine subjektiv wahrgenommene Zunahme von ‚Fremdwörtern‘ – vor allem von ‚Anglizismen‘ – im Deutschen benannt, wobei allerdings zumeist nicht expliziert wird, was darunter konkret verstanden wird (vgl. Spitzmüller 2005a, 173–176; Pfalzgraf 2006, 74). Insgesamt ist der Begriff jedoch enger gefasst als in der Linguistik, wo unter Anglizismen in der Regel alle lexikalischen Phänomene gefasst werden, die durch Sprachkontakt zum Englischen geprägt sind (vgl. die Definition des Anglizismen-Wörterbuchs: „aus oder nach englischem Vorbild entstandene freie und gebundene Morpheme, Komposita und Mehrwortlexeme“; Busse 2001, *66). Im neopuritischen Diskurs ist der Ausdruck

Aktuelle Diskurse zu Entlehnungen und moderner Sprachpurismus

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in der Regel auf formal (graphematisch und oder phonologisch) saliente Entlehnungen beschränkt. Bezüglich einer angeblich stattfindenden ‚Anglisierung‘ bzw. ‚Amerikanisierung‘ des Deutschen wird, wie die obigen Zitate bereits gezeigt haben, auch häufig von einem US-amerikanischen Kulturimperialismus und einer McDonaldisierung der Sprache und Kultur gesprochen (vgl. detailliert dazu Ritzer/Stillmann 2003). Damit werden Zusammenhänge zwischen sprachlicher ‚Anglisierung‘ und kulturell-wirtschaftlicher ‚Amerikanisierung‘, ‚Globalisierung‘ und ‚McDonaldisierung‘ hergestellt. Nicht selten wird angenommen, dass es sich hierbei um eine gewollte ‚Amerikanisierung‘, eine Art zielgerichteten ‚Kulturimperialismus‘ handelt. ‚Anglisierung‘ (als angeblich stattfindender sprachlicher Prozess) gilt somit nur als Teil (und Symptom) eines umfassenderen (und nach Meinung einiger: strategisch gesteuerten), seitens der Kritiker unerwünschten sozialen Wandelprozesses, der zunehmend mit dem Etikett Globalisierung versehen wird.

1.3 Sprachpurismus Trotz Definitionsversuchen seit den 1960er-Jahren (vgl. Thomas 1991, 10; Pfalzgraf 2009a, 138) ist es bisher noch nicht zu einer gefestigten Terminologisierung des Begriffs Sprachpurismus gekommen (vgl. z. B. Langer/Davies 2005, 4). Zweckmäßig erscheint die von Thomas (1991, 12) vorgeschlagene Arbeitsdefinition von Sprachpurismus als Manifestation des Wunsches eines Teils der Sprachgemeinschaft, ihre Sprache zu bewahren, und/oder sie von vermeintlichen Fremd- bzw. anderen unerwünschten Elementen (auch betreffend die Dialekte, Soziolekte und Stilebenen dieser Sprache) zu befreien. Purismus kann auf alle sprachlichen Ebenen abzielen, betrifft aber vor allem die Lexik. Zu beachten ist allerdings, dass Sprachpurismus sowohl im medialen als auch im wissenschaftlichen Diskurs auch als Stigmawort verwendet wird, weswegen sich Anglizismenkritiker eher selten selbst als Puristen bezeichnen, sondern sich in der Regel von einer solchen Zuschreibung distanzieren (vgl. Spitzmüller 2005a, 239–241). Dies ist bei einer terminologischen Verwendung des Ausdrucks mitzubedenken.  

1.4 Phasen und Diskurstypen Historisch können sechs Phasen des Sprachpurismus in Deutschland unterschieden werden: (1.) das Barock, (2.) das frühe 18. Jahrhundert bzw. die Zeit der Aufklärung, (3.) die Zeit von der Französischen Revolution bis zu den Karlsbader Beschlüssen (1789–1819), (4.) das frühe 19. Jahrhundert, (5.) die Zeit von der Reichsgründung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (1871–1945) und (6.) die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. präziser: von der deutschen Wiedervereinigung 1990 bis zur Gegenwart (vgl. Kirkness 1998; Pfalzgraf 2009a).

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Mit Blick auf die ersten fünf Phasen vom Barock bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hat Gardt (1999; 2001a,b) vorgeschlagen, in jeder dieser Phasen aufgrund der spezifischen Argumentationsweise, Begrifflichkeit und Zielsetzung der Akteure vier Typen von Fremdwortdiskursen zu unterscheiden, die er als sprachkritische, sprachstrukturelle, sprachideologische und sprachpädagogisch-sprachsoziologische Fremdwortdiskurse bezeichnet. Sie treten je nach sprachpuristischer Phase in unterschiedlicher Konstellation und Intensität auf. Zur Zeit der Aufklärung etwa überwiegt der sprachpädagogisch-sprachsoziologische Fremdwortdiskurs deutlich; während der Zeit des deutschen Faschismus hingegen ist der sprachideologische Fremdwortdiskurs prävalent. Solche „purismustypischen Diskurse“ (Pfalzgraf 2006, 66) finden sich, wie Pfalzgraf (2006) zeigt, auch in der sechsten sprachpuristischen Phase, sie sind allerdings in verschiedenen Diskursdomänen unterschiedlich ausgeprägt. In den Publikationen staatlich geförderter Vereinigungen und Organisation sowie in sprachwissenschaftlichen Publikationen wird kaum purismustypisch argumentiert. Anders in den Publikationen privater Sprachschützer und in jenen privater Vereinigungen und Organisationen mit sprachpflegerischen Zielen (sowie auch im massenmedialen Diskurs; vgl. hierzu Spitzmüller 2005a): Hier finden sich alle vier Diskurstypen, allerdings in sehr unterschiedlicher Stärke (vgl. dazu ausführlicher unten Abschnitt 2.2.1‒ 2.2.4). Am häufigsten sind in Pfalzgrafs Korpus Argumentationen, die typisch für den sprachideologischen Purismusdiskurs sind, also Sprachpflege im Sinne einer ‚Wahrung‘ bzw. eines ‚Schutzes‘ von Identität/Nation/Kultur verstehen. Weniger häufig als diese treten Argumentationen auf, die typisch für sprachkritische Purismusdiskurse sind, also vor allem stilistisch/ästhetisch argumentieren. Noch seltener sind sprachstrukturelle Argumente, die das Ideal eines ‚homogenen‘ bzw. ‚logischen‘ Sprachsystems propagieren. Argumente schließlich, die typisch für den sprachpädagogischsprachsoziologischen Purismusdiskurs sind, Sprachpflege also in den Dienst von Aufklärung, Bildung oder Verständigung stellen, kommen in Pfalzgrafs Korpus kaum vor (zu einem anderen Ergebnis kommt allerdings Spitzmüller 2005a, 309, mit Blick auf den massenmedialen Diskurs; er sieht diesen Diskurstypus dort ebenfalls stark vertreten). Insgesamt zeigt sich, dass der Sprachpurismus der sechsten Phase einerseits stark an frühere Formen des Purismus anknüpft und dass der Großteil der „Topoi, die den Argumentationen zugrunde liegen, und auch die Argumentationen selbst nicht neu sind“ (Spitzmüller 2005a, 309), andererseits aber auch einige Eigenheiten und Spezifika aufweist, weshalb Pfalzgraf (2006) vorschlägt, den gegenwärtigen Sprachpurismus als Neopurismus von früheren Formen abzugrenzen. Der folgende Abschnitt arbeitet einige dieser Eigenheiten und Spezifika heraus.

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2 Der gegenwärtige Sprachpurismus Rezente sprachpuristische Aktivitäten gehen vor allem von privaten Vereinigungen und Organisation mit sprachpflegerischen Zielen (im Folgenden: Sprachschutzvereine) sowie von einzelnen privaten Sprachschützern (im Folgenden: Einzelpersonen) aus. Daher stehen diese stehen im Zentrum der folgenden Ausführungen. Der Fokus liegt dabei auf den vereinseigenen Publikationen sowie auf Publikationen in Buch- und Aufsatzform von Einzelpersonen, weniger auf dem in Zeitungen, Zeitschriften und Internetforen ausgetragenen massenmedialen Diskurs, an dem sich die genannten Akteure aber ebenfalls zentral beteiligen (vgl. dazu Spitzmüller 2005a). Die zumeist purismuskritischen Diskursbeiträge staatlich geförderter Vereinigungen und Organisation mit sprachpflegerischen Zielen (etwa der Gesellschaft für deutsche Sprache, des Instituts für deutsche Sprache; oder des Goethe-Instituts) sowie die verstreuten, zumeist (aber nicht immer) ebenfalls eher purismuskritischen Bemerkungen einzelner Sprachwissenschaftler in den Medien werden ebenfalls nicht ausführlich diskutiert (vgl. dazu Pfalzgraf 2006; zu letzterem auch Spitzmüller 2005a, 311–361).

2.1 Akteure Der größte und einflussreichste Sprachschutzverein im deutschsprachigen Raum ist der bereits erwähnte Verein Deutsche Sprache (VDS). Gegründet wurde er 1997 als Verein zur Wahrung der deutschen Sprache (VWdS) von dem Dortmunder Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler Walter Krämer, der seitdem Vorsitzender ist. Im Lauf seines Bestehens hat sich der VDS von einem ausschließlich gegen Anglizismen gerichteten Verein zu einer breiter agierenden Organisation gewandelt, die sich inzwischen vielen sprachverwandten Themengebieten annimmt (vgl. Pfalzgraf 2011). Dies spiegelt sich in den Sprachnachrichten (SN) wider, der in einer Auflage von 40.000 Exemplaren viermal pro Jahr erscheinenden Vereinszeitschrift. Ein Blick in die Satzung (VDS 2014c) zeigt jedoch, dass der ‚Kampf gegen Anglizismen‘ immer noch das Hauptziel des Vereins ist. Dem VDS nahe steht der IFB-Verlag, in dem zahlreiche anglizismenkritische Publikationen (häufig von im VDS engagierten Autoren) erscheinen. Ebenfalls bedeutend ist der Erlanger Verein für Sprachpflege (VfS), der die Zeitschrift Deutsche Sprachwelt (DSW) vierteljährlich in einer Auflage von 25.000 Exemplaren herausgibt. Der schon früher existente, zwischenzeitlich aber aufgegebene VfS wurde im Jahr 2000 als Herausgeber für die DSW wiederbelebt. Die DSW ist spendenfinanziert und wird kostenlos an ‚Sprachfreunde‘ in Deutschland und Österreich verschickt. Schriftleiter der DSW ist Stefan Paulwitz, derzeit auch Vorsitzender des VfS (vgl. für Details Pfalzgraf 2003a,b; 2006, 96–129). Weitere wichtige Akteure sind nicht in Vereinen organisierte, teilweise prominente Einzelpersonen (wie etwa Wolf Schneider und Dieter E. Zimmer) deren Publikatio-

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nen zum Teil kommerziell und in hohen Auflagen, vielfach aber auch im Selbstverlag erscheinen. Mittlerweile gibt es eine so große Menge an thematisch relevanten Druckwerken, von Wörterlisten und ‚Übersetzungshilfen‘ über humoristisch gedachte Werke bis hin zu polemischen Schmähschriften, dass der Markt nur als unübersichtlich bezeichnet werden kann (für Details vgl. Pfalzgraf 2005; 2006, 200–283). Die Werke von Dieter E. Zimmer ragen aus dieser großen Menge heraus. Zimmer ist studierter Germanist und Anglist, ehemaliger Redakteur der Wochenzeitung Die Zeit, Herausgeber der Werke Nabokovs und Übersetzer zahlreicher literarischer Werke. Wichtig für die Anglizismendiskussion sind insbesondere die Aufsätze ‚Neuanglodeutsch‘ (1997) und ‚McDeutsch‘ (2005). Diese greift die folgende Darstellung daher exemplarisch heraus.

2.2 Argumentationsmuster Im Folgenden werden die für den gegenwärtigen Purismusdiskurs typischen Argumentationsmuster vorgestellt. Die Darstellung folgt den in Abschnitt 1.4 eingeführten vier Diskurstypen.

2.2.1 Sprachideologische Argumentationen Die meisten Argumente, die Sprachschutzvereine und Einzelpersonen vorbringen, lassen sich dem sprachideologischen Purismusdiskurs zuordnen (vgl. ausführlich Pfalzgraf 2006, 62 f.). In den Kontext dieses Diskurstyps fällt nach Gardt (2001, 33) „der Fremdwortpurismus in seiner kulturpatriotischen bis nationalistischen Begründung“. Beim sprachideologischen Diskurs wird Sprache stets als wesentlicher Teil deutscher Kultur und Sitten angesehen. Wesentliches Argument ist, dass ‚die deutsche Sprache‘ – und mit ihr auch ‚die deutsche Kultur‘ und ‚die deutschen Sitten‘ – derzeit übermäßig stark von den USA beeinflusst (‚amerikanisiert‘) seien. Als Ursache hierfür wird immer wieder der verlorene Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistische Diktatur angeführt, die zu einem angeblichen Verlust an Selbstbewusstsein unter den Deutschen geführt hätten. Als positives Gegenbeispiel zum angeblich amerikahörigen Deutschland wird wiederholt Frankreich und seine Sprachgesetzgebung genannt (vgl. Pfalzgraf 2006, 68–91). Sprachideologische Motive finden sich bei den Sprachschutzvereinen an zentraler Stelle. Der VDS gibt auf seiner Internetseite als wesentliches Ziel aus, „unsere deutsche Muttersprache […] vor dem Verdrängen durch das Englische zu bewahren“ und „der Anglisierung der deutschen Sprache entgegentreten“ zu wollen (VDS 2014d). Auch in rezenten Ausgaben der Sprachnachrichten wird die „Verdenglischung des Deutschen“ (VDS 2013a) und eine „globalisierte[…] Sprachverarmung“ (Feltes 2013) beklagt. Die ‚Globalisierung‘ wird in den Sprachnachrichten seit 2002 immer wieder  



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als Ursache der angeblichen ‚Anglizismenschwemme‘ genannt (vgl. Pfalzgraf 2009b, 218). Häufig wird ‚Globalisierung‘ dabei mit weltumspannender ‚Amerikanisierung‘ gleichgesetzt: Diese Anglisierung der deutschen Sprache hängt mit der weltweiten Ausbreitung des American Way of Life zusammen, hinter dem die politische und wirtschaftliche Macht der USA steht und durch den sich die Lebensformen vieler Länder und deren Sprachen verändert haben. (VDS 2014a)

Nach Ansicht vieler Diskursakteure führe die „Dominanz des Englischen“ dazu, „dass allein die anglo-amerikanische Weltsicht bestimmend wird und andere Kulturen […] nivelliert werden“ (Kratzsch 2013). Im Falle Deutschlands sei dies auch eine historisch bedingte Selbstnivellierung: Der freiwillige Verzicht der Deutschen auf ihre Muttersprache zugunsten von Englisch (eigentlich Amerikanisch) ist viel mehr als ein linguistisches Problem: Es ist ein Ausdruck des schlimmsten Traumas der deutschen Geschichte. Kurzum, viele Deutsche wollen keine Deutschen mehr sein. Und da die Muttersprache das tragende Element der menschlichen Identität ist, was liegt näher, als dass man sich dieser Muttersprache entledigt. Ein Sprichwort sagt alles: „Besser ein halber Ami als ein ganzer Nazi.“ (Alexander 2013)

Besondere ‚Schuld‘ wird dabei den sozialen Akteuren zugewiesen, die nach Auffassung der Puristen den öffentlichen Sprachgebrauch dominieren: Werbetreibenden, Führungspersonen der Wirtschaft und Politikern, denen – wie im Folgenden Andrea Nahles – vorgeworfen wird, „keine Gelegenheit vergehen [zu lassen], die Sprache ihres Herrenvolkes auch in Deutschland zu verbreiten“ (VDS 2013c). Die „sich für politisch korrekt haltende[n] Gegner“ (Krämer 2013a) puristischer Bestrebungen werden ganz im Sinne des PC-kritischen Diskurses (vgl. dazu den Beitrag von Tereick i. d. Bd.) als Vertreter einer „politisch dominierenden Mehrheitsmeinung in Deutschland“ (Krämer 2013b) charakterisiert, die sich im Gegensatz zu den Puristen aber aus falsch verstandener Zurückhaltung und Solidarität mit den USA nur nicht trauten, Tatsachen zu benennen und jene, die es täten, „gerne als Nationalismus in die rechte Ecke“ stellten (Krämer 2013a). Mit stigmatisierenden Denominationen wie Dummschwätzer, Sprachverhunzer (VDS 2013b), rückgratloser Zeitgeistritter, Abwracker (Krämer 2013b), Modefuzzi oder Amitümler (VDS 2013a) ist der Verein dabei nicht zimperlich. Als notwendiger Schritt zum ‚Schutz‘ des Deutschen werden immer wieder gesetzliche Maßnahmen gefordert. So existiert eine Arbeitsgruppe im VDS (2014b), die sich intensiv dieses Themas annimmt (vgl. hierzu detailliert Pfalzgraf 2008). Der bisherige Höhepunkt diesbezüglicher Bemühungen des VDS ist eine 2011 eingebrachte Petition mit dem Ziel, Deutsch als Landessprache in das Grundgesetz aufzunehmen (vgl. Bundestag 2011). Zwar war der Vorstoß nicht erfolgreich, doch hat der Verein bereits angekündigt, bald „einen neuen Anlauf für Deutsch ins Grundgesetz zu wagen“ (VDS 2013c).

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Der Verein für Sprachpflege (VfS) argumentiert in vielerlei Hinsicht ähnlich wie der VDS, ist aber zum Teil radikaler. So werden etwa vehement eine Überlegenheit des Deutschen gegenüber dem Englischen behauptet und ein genetisch-genealogisches Reinheitsideal propagiert (vgl. detailliert Pfalzgraf 2006, 100–129). Auch ist der VfS im Gegensatz zum VDS deutlicher politisch ausgerichtet, der Verein beschäftigt sich auch mit weit über Sprache hinausgehenden politisch-gesellschaftlichen Themenstellungen (vgl. Pfalzgraf 2006, 129). So kritisiert der Schriftleiter der DSW die „Entwicklung der deutschen Sprache zwischen Amerikanisierung, Abkürzungslust und Ausländereinfluss“ (Paulwitz 2012b). Neben Anglizismen geht es in der DSW auch um die Rechtschreibreform, die Frakturschrift, das sog. ‚Kiezdeutsch‘ und um Political Correctness. Generell werden diese Themen aus einem nationalkonservativen Winkel betrachtet. Ähnlich wie der VDS befürchten auch die Akteure des VfS eine schleichende ‚Amerikanisierung‘ der deutschen Sprache und ganz Deutschlands, die mit ‚Globalisierung‘ gleichgesetzt wird: „Berlin soll englischer werden“, heißt es in der DSW (2012b). „Der Parlamentspräsident will die Hauptstadt stärker globalisieren“, denn: „Manchen ist tatsächlich das Straßenbild deutscher Städte noch immer nicht genug amerikanisiert“. Kommentiert wird hier ein Vorschlag, in Berlin englischsprachige Hinweisschilder aufzustellen. „Wenn aber die Verwaltung der deutschen Hauptstadt überall in Berlin englische Schilder aufstellt“, so die DSW, „ist das ein schwerer Eingriff in die Sprachkultur […] Was soll dieser Angriff auf Deutsch als Leitsprache? Soll Englisch zweite Amtssprache in Berlin werden?“ Als Grund für die ‚Amerikanisierung‘ wird auch in der DSW eine durch den Nationalsozialismus bedingte nationale Identitätsstörung benannt, die mit Verweis auf eine Nebenbemerkung in der Times (1960) wiederholt auch „linguistic submissiveness“ der Deutschen genannt wird (vgl. dazu bereits Bach 1965, 420). So sieht Schnedermann (2012) den Grund für die von ihm diagnostizierte „grausame Verarmung der deutschen Sprache“ in der deutschen Mentalität und Geschichte: „Die Nazi-Katastrophe hat noch immer eine starke Auswirkung auf die Vitalität des deutschen Volkes und damit auch auf seine Sprache.“ Eine durch das ‚Nazi-Trauma‘ bedingte ‚übertriebene‘ politische Korrektheit führe überdies dazu, dass „Sprachpfleger gern in die ‚rechte Ecke‘ gestellt“ würden (Hildebrandt 2012). Auch Dieter E. Zimmer, einer der prominentesten Anglizismengegner unter den nicht in Sprachpflegevereinen engagierten Akteuren, argumentiert stark sprachideologisch. Sein im Purismusdiskurs viel zitierter Aufsatz ‚Neuanglodeutsch‘ (Zimmer 1997; vgl. dazu ausführlich Pfalzgraf 2006, 202–211) sieht in der ‚Anglisierung‘ eine „Bedrohung für das Überleben der deutschen Sprache“ (Zimmer 1997, 72) und eine „Pidginisierung“ welche das Deutsche „primitiv“ mache (Zimmer 1997, 71). Als nationales Kulturgut sei „Sprache genauso bewahrenswert […] wie Kathedralen oder Käsesorten“ (Zimmer 1997, 44). Auch Zimmer glaubt die Ursachen für den Anglizismengebrauch in einer durch den Nationalsozialismus und den verlorenen Zweiten Weltkrieg entstandenen „deutschen Identitätskrise“ zu erkennen: Die Deutschen

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wollen „sich nur darum drücken […], die deutsche Geschichte auf sich zu nehmen“, daher sei jetzt „Amerika die Leitkultur“ (Zimmer 1997, 31). Dieselben Argumentationsmuster finden sich auch im acht Jahre später erschienenen Aufsatz ‚McDeutsch‘ (2005; vgl. hierzu ausführlich Spitzmüller 2005b): „Verdeutschungsversuche“ stünden heutzutage generell unter „Nationalismusverdacht“. „Jeder Anglizismenkritik werden automatisch politische (nämlich ‚rechte‘, nationalistische) Motive unterstellt“ (Zimmer 2005, 107). „Vielleicht hängt es mit dem ‚sehr deutschen‘ Minderwertigkeitsgefühl zusammen“ (Zimmer 2005, 162). Allerdings rückt als Ursache für die derzeitige „Anglisierung“ (Zimmer 2005, 113) des Deutschen nun die „Globalisierung der mündlichen und schriftlichen Kommunikation“ (Zimmer 2005, 131) ins Zentrum, durch die sich letztlich „mit dem immer intensiveren Kontakt der Kulturen auch das Denken“ globalisiere (Zimmer 2005, 155). Als zentrale Begründungsfigur rückt die ‚Globalisierung‘, die zumeist als eine ‚globale Amerikanisierung‘ begriffen wird, generell ab der Jahrtausendwende zunehmend ins Zentrum des sprachideologischen Diskurses. Aufgrund seiner Geschichte wird Deutschland hierbei als besonders ‚anfällig‘ (und mithin als besonders ‚schutzbedürftig‘) betrachtet.

2.2.2 Sprachkritische Argumentationen Der sprachkritische Diskurstyp, der sich im Neopurismus ebenfalls häufig findet (vgl. Pfalzgraf 2006, 64 f.), inkludiert nach Gardt (2001, 33) „Fragen der rhetorisch-stilistischen Gestaltung von Sprache durch Fremdwörter“ und impliziert „ein Ideal bzw. eine Ethik der Kommunikation im Zusammenhang mit der Fremdwortverwendung“. In diesem Kontext werden Anglizismen durch Geschmacksurteile beschrieben, und dies stets in negativ-abqualifizierender Weise: sie sind Kauderwelsch, Sprachverschnitt, Engleutsch, Denglisch, Unfug, Unsinn, schwachsinnig, grotesk, abartig, pervers, dämlich, dumm, usw. Wer Anglizismen verwendet, wird als Narr, Sprachpanscher, Sprachverhunzer, Anglomane, Anglonarr, Schimpanse, Chaot, etc. stigmatisiert (vgl. dazu ausführlich Niehr 2011). Hinzu kommt die Annahme, dass Anglizismen entweder aus ‚Gedankenlosigkeit‘ oder primär zum Zweck des Prestigegewinns (‚Imponiergehabe‘) verwendet würden. In diesem Zusammenhang wird Anglizismengebrauch als Ausdruck modisch-oberflächlicher Teilnahme an aktuellen gesellschaftlichen Strömungen verurteilt. Zudem wird angenommen, dass die Werbewirtschaft aus Gründen der Profitmaximierung ein Interesse daran habe, Konsumenten durch Anglizismen zu verwirren, um sie so zu willenlosen Verbrauchern umzuerziehen. Der VDS bedient sich dieser ästhetischen Argumentationen sehr stark (vgl. Pfalzgraf 2006, 68‒91). Im Anglizismengebrauch sehen die Akteure des Vereins einen Ausdruck von ‚Pseudogelehrtheit‘, ‚Pseudoweltläufigkeit‘ und ‚modischer Oberflächlichkeit‘, ‚Imponiergehabe‘, ‚Prestigegewinn‘ und ‚Gedankenlosigkeit‘ (vgl. Pfalzgraf 2006, 90 f.; Spitzmüller 2005a 281‒283). So spricht Krämer (2013a) mit Bezug auf die  



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„dummen Anglizismen“ von einer „modischen Manager-Angebersprache“ und lobt den CSU-Politiker Ramsauer als bekennenden „Gegner des unsäglichen deutschenglischen Sprachgemansches“. Demgegenüber wird der „Duden, der kritiklos jedem noch so dummen Anglizismus seinen Gütestempel aufdrückt“ (Krämer 2013b), scharf kritisiert: Das orthographische Nachschlagewerk sei „leider zum billigen Handlanger von Modefuzzis und Amitümlern aller Art verkommen“, weil „das gedankenlose Aufnehmen dummer Anglizismen aller Art diesen erst den offiziellen Gütestempel aufgedrückt“ habe (VDS 2013c). Er sei „damit das Einfallstor für überflüssiges sprachliches Imponiergehabe aller Art“ (Krämer 2013b). Weiter heißt es: Unter dem Kommando rückgratloser Zeitgeistritter ist diese einstmalige Ikone deutscher Sprachkultur zu einem Eimer für Sprachmüll verkommen, in den jeder Abwracker mit dem Segen dieser ehemaligen Sprachwächter seinen Bruch entsorgen darf. (Krämer 2013b)

Auch hier spielt die Globalisierung als Begründungsfigur eine Rolle. So heißt es in einem beipflichtenden Leserbrief zur Duden-Kritik in den Sprachnachrichten: Der einst kleine, aber feine Sprachverlag des Duden ist zum Anhängsel eines Großkonzerns, zum Wegbereiter der anglo-amerikanischen Sprachverwahrlosung geworden. Seine Autorität hat der Allesfresser Duden längst verloren. (Kinder 2013)

Ganz ähnlich argumentiert der VfS. Auch er prangert ‚Imponiergehabe‘ und ‚Pseudogelehrtheit‘ an (vgl. dazu ausführlicher Pfalzgraf 2006, 100–129). In den letzten Jahren hat sich der VfS in der Stigmalexik dabei dem stärkeren VDS angenähert. Das zeigt sich etwa daran, dass das vom VfS/der DSW um die Jahrtausendwende durchgängig verwendete Stigmawort Engleutsch in aktuellen Ausgaben nicht mehr vorkommt und von Denglisch abgelöst wurde (vgl. DSW 47–50/2012). Bei ihren Geschmacksurteilen wird auch die DSW gelegentlich scharf. Der Gebrauch von Anglizismen sei „idiotisch“ und „ungebildet“ (Zick 2012a), eine „Stillosigkeit“ und „Gossensprache“ (DSW 2012a). Die „Eitelkeit der Sprachpanscher“ und ihr „schädliches Verhalten hinsichtlich der Kommunikation und des kreativen Denkens“ werden kritisiert (Schnedermann 2012). Man findet, dass „unsere Muttersprache gröblich verhunzt wird“ (Mussi 2012), den Vereinsmitgliedern „schlackern dank ‚Kiezdeutsch‘ und Denglisch die Ohren“ (Meinert 2012). Insgesamt muss aber festgehalten werden, dass der VfS sich mit pejorativen Urteilen deutlich stärker zurückhält als der VDS. Auch ist in der DSW ein tendenzieller Rückgang von Diskursen zu Anglizismen bemerkbar. Der letzte untersuchte Jahrgang der Druckausgabe der DSW (50/2012) befasst sich weniger mit Anglizismen als mit der Rechtschreibreform, dem ‚Kiezdeutsch‘, der Frage der Schreibschrift in der Grundschule und mit allgemeinen sprachlichen Themen. Auch in Zimmers (1997) Aufsatz ‚Neuanglodeutsch‘ finden sich sprachkritische Argumentationsmuster (vgl. Pfalzgraf 2006, 210). Anglizismen werden als „verstümmelte Wörter“, „Wortbruchstücke“ und „Wortbastarde“ bezeichnet, die man „nach Gebrauch […] gerne wegwerfen [darf]“ (Zimmer 1997, 23). Sie hätten „keine Geschichte und keine Aura außer ihrer blanken Neuheit“ und seien mithin „noch auf lange Zeit

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für jede Literatur ungeeignet“ (Zimmer 1997, 24). In Zimmers neuerem Aufsatz (2005) ist der Ton weniger aggressiv, sprachkritische Argumentationsmuster finden sich aber auch dort. Zimmer (2005, 155) bezeichnet Anglizismen als „Kauderwelsch“, schreibt ihnen eine „Bedeutungsabschwächung“ (Zimmer 2005, 118) zu, bewertet Anglizismengebrauch als „modischen Putz“, „Wichtigtuerei und Imponiergehabe, sonst dienen sie [die Anglizismen; F.P.] keinem erkennbaren Zweck“ (Zimmer 2005, 153). Dafür hätten sie gravierende Folgen, denn „unter ihrem Einfluss wird die im Deutschen mögliche Gedankenwelt der angloamerikanischen immer ähnlicher“ (Zimmer 2005, 116). Es sei gewissermaßen eine ‚Globalisierung des Denkens‘ mit Tendenz zur (offenbar ‚typisch angloamerikanischen‘) Oberflächlichkeit im Gange.

2.2.3 Sprachstrukturelle Argumentationen Der sprachstrukturelle Diskurstyp, dessen Argumente sich bei Sprachschutzvereinen und Einzelpersonen weniger häufig finden, kreist nach Gardt (2001, 33) um „grammatische und lexikalisch-systematische Fragen im Bezug auf Fremdwörter“ (vgl. detailliert auch Pfalzgraf 2006, 60ff.). Er zeigt sich vor allem in der Ablehnung des ‚Vermischens‘ englischer und deutscher Wörter, mithin in der Angst vor einer übermäßigen Aufnahme von Anglizismen in die Lexik des Deutschen. Diese Angst wird durch eine purismustypische Wassermetaphorik ausgedrückt: Das Deutsche werde überschwemmt von einer Anglizismenflut, die immer mehr anschwölle anstatt bald zu versiegen. Hinzu kommt Krankheitsmetaphorik: Das Deutsche wird als lebender Organismus betrachtet, der eine wesenhafte Entwicklung durchläuft; nämlich von der Geburt über die Blüte bis hin zu Verfall und Tod. Anglizismen werden als virenartige Eindringlinge angesehen; sie würden das einstmals gesunde Deutsche verseuchen und krank machen, was schließlich zum Sprachtod führe (vgl. dazu ausführlich Spitzmüller 2005a, 192‒257). Viele Texte des VDS bedienen sich einer solchen Metaphorik (vgl. Pfalzgraf 2006, 68‒91). So liest man auf der Internetseite des Vereins etwa: „Die deutsche Sprache wird seit Jahren von einer Unzahl unnötiger und unschöner englischer Ausdrücke überflutet“ (VDS 2014a). Interessanterweise finden sich aber in rezenten Ausgaben der Sprachnachrichten nur noch wenige dem sprachstrukturellen Purismusdiskurs zuzuordnende Äußerungen, von denen die meisten überdies durch den Kontext, in dem sie gemacht werden, zugleich auch dem sprachkritischen Purismusdiskurs zugeordnet werden können. Die Wassermetaphorik findet sich in den vier neuesten Ausgaben der Sprachnachrichten nur noch in Abdrucken fremder Texte. Dies deutet auf eine verstärkte Tendenz des VDS zu sprachideologischen und sprachkritischen Argumentationen hin. Der VfS (vgl. ausführlicher Pfalzgraf 2006, 100‒129) hingegen greift nach wie vor gerne auf die Überschwemmungsmetaphorik zurück. Ein Beispiel von vielen aus der Vereinszeitschrift:

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Die Dämme sind gebrochen, Angloamerikanismen überschwemmen unsere Sprache wie ein Tsunami und begraben damit immer mehr deutsche Wörter und Redewendungen unter sich. Hinzu kommen die nachlässige Verwendung der Grammatik und die damit verbundene langsame Auflösung ganzer Bereiche in ihr, die katastrophale Rechtschreibung in den Druckmedien und die schlechte Sprache im Hörfunk und Fernsehen. (Hildebrandt 2012)

Besonders stark ausgeprägt und auch etwas anders ausgerichtet als in den Publikationen der Sprachschutzvereine ist der sprachstrukturelle Diskurstyp bei Zimmer (1997; vgl. Pfalzgraf 2006, 202‒211). Zimmer bedient sich ebenfalls der Wassermetaphorik, bemerkenswerter ist aber sein pseudowissenschaftliches Argument, der „Tiefencode des Deutschen“ werde durch die „Anglisierung“ „irreparabel beschädigt“ (Zimmer 1997, 71; vgl. dazu Pfalzgraf 2006, 210; Spitzmüller 2005a, 118 f.), ein Argument, das im medialen Diskurs ein großes Echo gefunden hat (vgl. Spitzmüller 2005a, 292) und dort bald als wissenschaftlicher Befund kolportiert wurde (vgl. Spitzmüller 2005a, 118). In Zimmer (2005) ist der Ton insgesamt weniger scharf, doch treten sprachstrukturelle Argumente weiterhin häufig auf. Trotz zahlreicher Entgegnungen seitens der Sprachwissenschaft (vgl. etwa Eisenberg 2001, bes. S. 193, und Hohenhaus 2001) propagiert der Autor auch 2005 noch seine sprachwissenschaftlich problematischen Thesen über einen angeblichen „Tiefencode“ (Zimmer 2005, 145) des Deutschen, unmöglicher „phonologischer“ (Zimmer 2005, 136 f.), „graphematischer“ (Zimmer 2005, 137 ff.) und „morphologischer Integration“ (Zimmer 2005, 138 ff.) und angeblich nicht integrierbaren Verben wie z. B. downloaden (Zimmer 2005, 143), und er hält den ihm widersprechenden Sprachwissenschaftlern überdies vor, linkspolitisch verblendet zu sein (vgl. dazu kritisch Spitzmüller 2005b).  









2.2.4 Sprachpädagogisch-sprachsoziologische Argumentationen Der sprachpädagogisch-sprachsoziologische Diskurstyp, der in den hier untersuchten Publikationen der Sprachschutzvereine und Einzelpersonen am seltensten zu finden ist, hebt nach Gardt (2001, 33) „auf die Korrelation von Bildung und Fremdwortbeherrschung sowie Kognition und Fremdwortbeherrschung“ ab (vgl. auch Pfalzgraf 2006, 63 f.). Zu diesem Diskurstyp kann man etwa das in den hier untersuchten Publikationen gelegentlich (und im massenmedialen Diskurs sehr häufig; vgl. Spitzmüller 2005a, 274–281) vertretene Argument ansehen, dass Anglizismen ‚Sprachbarrieren‘ seien, die es mittels Eindeutschung zu beseitigen gelte, da sie sonst, wie einige argumentieren, zu einer sozialen Spaltung führten und Bürger, die des Englischen nicht mächtig seien (nach Auffassung vieler Puristen insbesondere ältere Menschen und ehemalige DDR-Bürger), ausgrenzten. So argumentiert auch der VDS in einigen Publikationen (vgl. Pfalzgraf 2006, 68– 91): „Dieses ‚Imponiergefasel‘ grenzt viele Mitbürger aus, die über keine oder nur eingeschränkte Englischkenntnisse verfügen“, liest man auf der Internetseite des Vereins (VDS 2014d). Urban (2013) schreibt von „unverständlichen, hochtrabenden  

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[…] Anglizismen“, Gröger (2013) von „Anglizismen […, die] umständlicher sind und zu Missverständnissen führen“, Süß (2013) wünscht sich, dass englische Fußballterminologie „aus Verständlichkeitsgründen durch deutsche ersetzt“ und so „für alle Menschen verständlich“ wird, Schrammen (2013a) „wünscht sich deutsche Werbung, die er versteht. Ohne Englisch“ und nach Backes (2013) verstehen Fernsehzuschauer „die englischen Titel nicht“. Auch nach Meinung des VfS korreliert die Bildung der Sprecher mit der Beherrschung von Anglizismen (vgl. Pfalzgraf 2006, 127 f.). Anglizismengebrauch errichte daher Sprachbarrieren, die es mittels Eindeutschung zu beseitigen gelte. So kritisiert Hildebrandt (2012): „Für große Teile der Bevölkerung ist die Sprache nicht mehr verständlich“. Zick (2012b) vermutet, „dass der größte Teil der Bevölkerung überhaupt kein Englisch versteht“, laut Paulwitz (2012a) soll Sprache „verständlich und frei von entbehrlichen Fremdwörtern“ sein.  

3 Schlussbemerkung Der Sprachkontakt zum Englischen (primär im Bereich der Lexik) ist seit der deutschen Wiedervereinigung ein zentrales Thema öffentlicher Sprachreflexion, seit der Jahrtausendwende wird er zunehmend vor dem Hintergrund der sog. Globalisierung betrachtet, die von den Neopuristen meistens mit Amerikanisierung oder gar Kulturimperialismus gleichgesetzt wird. Damit ist auch eine wesentliche gesellschaftliche Ursache dieses Diskurses benannt: Die Suche nach einer sozialen Position vor dem Hintergrund nationalstaatlicher Ordnungsmuster. Die Wiedervereinigung hat offenbar in einigen sozialen Gruppen das Bedürfnis geweckt, die Rolle der Nation als sozialem Orientierungsrahmen und den gerade für Deutschland traditionell hoch konstitutiven Konnex von Sprache und Nation neu zu diskutieren – zu einem mehrfach prekären Zeitpunkt, an dem sich einerseits Deutschland als ‚Nation‘ neu auszurichten begann, an dem aber andererseits das Nationenkonzept selbst immer stärker unter Beschuss zu geraten schien. Das Anheben der Globalisierungsdebatte im selben Jahrzehnt ist dessen deutlichster Ausdruck. Wie dieser Artikel gezeigt hat, hat man aber offenbar gerade im Globalisierungsbegriff und der gesellschaftsfähigen Globalisierungskritik diskursiv wirkmächtige Erklärungsmuster gefunden, um den Neopurismus im 21. Jahrhundert zu verankern. Zwar ist der Ton der Debatte in den letzten zehn Jahren insgesamt etwas weniger rau geworden (sieht man von den hier nicht besprochenen extremistischen Sprachschützern ab; vgl. hierzu Pfalzgraf 2003a,b; 2005; 2006), der Neopurismus selbst hat sich aber offenbar etabliert und seine diskursiven Muster, die sich seit seinem Einsetzen kaum verändert haben, haben sich verfestigt.

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Aktuelle Diskurse zu Entlehnungen und moderner Sprachpurismus

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Falco Pfalzgraf

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Christa Dürscheid und Sarah Brommer

13. Schrift und Schreiben in der gegenwärtigen Sprachreflexion Abstract: Im vorliegenden Beitrag werden verschiedene Aspekte rund um das Thema Schreiben behandelt, die in der Öffentlichkeit immer wieder Anlass zu Diskussionen geben. Dazu gehören nicht nur Fragen zur Rechtschreibkompetenz und zum Einfluss neuer Kommunikationsformen auf das Schreiben. Auch die Frage, was einen guten Text ausmacht und wie Schüler dazu angeleitet werden können, gute Texte zu schreiben, spielt im öffentlichen Diskurs eine Rolle, wird aber mehr noch in der Schreibforschung und in der Schreibdidaktik diskutiert. Zunächst legen wir anhand ausgewählter Beispiele dar, welche Themen im öffentlichen Diskurs vorherrschend sind (Abschn. 1). In einem zweiten Schritt zeigen wir auf, welchen Stellenwert Schrift und Schriftlichkeit in unserer literalen Gesellschaft haben (Abschn. 2). Die folgenden beiden Abschnitte behandeln grundlegende Aspekte der Rechtschreibung und der Schreibkompetenz, wie sie sowohl in der Öffentlichkeit als auch im wissenschaftlichen Diskurs thematisiert werden: Was ist eine gute Rechtschreibung (Abschn. 3)? Was sind gute Texte (Abschn. 4)? Unser Augenmerk richtet sich hier – wie es auch im öffentlichen Diskurs geschieht – auf das Produkt des Schreibens, den Text, und nicht auf den Schreibprozess. Da es bei allen diesen Fragen um das Adjektiv gut geht, wird diesem Thema abschließend ein eigener Abschnitt gewidmet: Was heißt gut (Abschn. 5)? Hier machen wir deutlich, dass die Erwartungshaltung des Rezipienten in der Beurteilung von Texten eine wichtige Rolle spielt. In diesem Kontext wird auch das Konzept der Angemessenheit diskutiert, denn auch dieses lässt, wie das Adjektiv gut, einen großen Interpretationsspielraum zu.  



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Schreiben im Diskurs Die gute Schrift Gute Rechtschreibung Gute Texte Gut, gut, gut Literatur

1 Schreiben im Diskurs Am 29.11.2011 publizierte der Rat für deutsche Rechtschreibung auf seiner Website (siehe unter http://www.rechtschreibrat.com) eine Pressemitteilung, die unter der Überschrift „Ratsvorsitzender Zehetmair besorgt um deutsche Sprache – gemeinsame https://doi.org/10.1515/9783110296150-014

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Christa Dürscheid und Sarah Brommer

Anstrengung gefordert“ stand. Darin hieß es u. a., dass „der Sprache und insbesondere ihrer Rechtschreibung hohe Bedeutung beigemessen, aber im Umgang mit ihr nachlässig verfahren wird.“ In den Medienberichten, die damals auf diese Pressemitteilung folgten, wurde Hans Zehetmair, der von 2004 bis 2016 den Vorsitz im Rechtschreibrat hatte, ergänzend dazu mit den Worten zitiert, dass es sich aus seiner Sicht bei Twitter- und SMS-Texten um „Fetzenliteratur“ handle und dass heute bedauerlicherweise immer weniger geschrieben und gelesen werde (vgl. Die Welt, 02.01.2012: Sprachexperte geißelt Fetzenliteratur auf Twitter). Wie dieses Zitat zeigt, das aus prominentem Munde stammt, gibt es in den Medien immer wieder einen Anlass, über das Thema Schreiben zu berichten und Experten (wie hier Hans Zehetmair), Lehrer oder besorgte Eltern zu diesem Thema zu Wort kommen zu lassen. Lange Zeit wurden solche Berichte durch den öffentlichen Diskurs über die Rechtschreibreform noch zusätzlich befeuert. So kann man in den Arbeiten von Oliver Stenschke (2005), Susanne Künzi (2012) und Nadine Schimmel-Fijalkowytsch (2018) im Detail nachlesen, wie intensiv dieser Diskurs geführt wurde. Die Auswertungen der Pressetexte in den beiden erstgenannten Arbeiten beziehen sich aber in erster Linie auf die 1990er-Jahre, was insofern nicht verwundert, als es zu dieser Zeit zahlreiche Ereignisse rund um die Rechtschreibreform gab. Doch selbst in den letzten Jahren stößt man noch auf Zeitungsartikel zu diesem Thema. Dazu sei hier nur eine kleine, chronologisch geordnete Auswahl gegeben: 01.08.2013 Westfälische Nachrichten: Kritiker fordern eine Reform der Reform 09.09.2013 Neue Osnabrücker Zeitung: Bis heute umstritten. Rechtschreibreform mit Fehlern 12.01.2014 Berliner Zeitung: Prozess der Vereinfachung sollte noch weiter gehen 02.09.2014 Bild: Deutsche Sprache, irre Sprache? Einmal Tunfisch mit Ketschup, bitte! Die absurden Auswirkungen der Rechtschreibreform 22.10.2014 Spiegel online: Wie die Rechtschreibreform in die Köpfe kommt 01.08.2015 Die Zeit: Neue Rechtschreibung: „Das war überzogen“ 10.08.2016 Deutschlandfunk: 20 Jahre Rechtschreibreform. Die Kritik reißt nicht ab 12.08.2016 Der Tagesspiegel: „Neue“ Rechtschreibung ist für manche noch immer ein Gräuel 20.01.2018 Deutschlandfunk: Ist die Rechtschreibung am Ende? 01.08.2018 Berliner Morgenpost: 20 Jahre Rechtschreibreform – als „daß“ zu „dass“ wurde  

Im vorliegenden Beitrag wird es nun aber nicht um die Rechtschreibreform gehen, sondern generell um die Frage, wie das Thema ‚Schreiben‘ in der Öffentlichkeit verhandelt wird – und in diesem Kontext ist die Rechtschreibreform nur ein Teildiskurs, um den es in den letzten Jahren zudem sehr viel ruhiger geworden ist. Andere Aspekte rückten stattdessen in den Vordergrund der Medienberichterstattung. So wird in den Medien die Frage angesprochen, ob das Schreiben am Computer dazu führt,

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Schrift und Schreiben in der gegenwärtigen Sprachreflexion

dass das Schreiben von Hand verlernt wird, oder es wird darüber diskutiert, ob Kinder überhaupt noch die Schreibschrift lernen sollten und man stattdessen nicht der Druckschrift den Vorzug geben solle. Daneben gibt es auch Artikel, in denen die Typographie im Zentrum steht. Das ist z. B. der Fall, wenn eine Zeitung ihre Leser über das neue Layout informiert und die Vorzüge dieses Relaunchs darstellt. Oft werden solche Neuerungen in Leserbriefen und Online-Foren recht emotional diskutiert. Auch daran sieht man, dass die Textgestalt für die Leser eine wichtige Rolle spielt und als eigenständiges Phänomen wahrgenommen wird. Diesem Umstand wurde in der Schriftlinguistik inzwischen Rechnung getragen; die „Sichtbarkeit der Schrift und schriftlicher Texte“ (Spitzmüller 2013, 2) ist in den Blickpunkt der Forschung gerückt. Das zeigt sich z. B. dann, wenn nach dem ideologischen Potential von Schrifttypen gefragt wird. Auch hierzu finden sich Äußerungen im öffentlichen Diskurs, so z. B. in einem Blogbeitrag vom 09.01.2014, in dem die Frage gestellt wird: „Muss man Nazi sein, um Fraktur zu mögen?“. Halten wir also fest: Über die Rechtschreibreform hinaus werden in den Medien viele weitere Aspekte zum Schreiben thematisiert (so auch die Alphabetisierung Erwachsener oder die Frage, ob in der Schule noch Diktate geschrieben werden sollten). Einige dieser Themen werden immer wieder aufgegriffen, andere spielen im öffentlichen Diskurs eher eine marginale Rolle. Im Folgenden sei nochmals eine kleine Auswahl an Artikelüberschriften gegeben, um die Themenvielfalt zu illustrieren: 30.03.2011 Kölner Stadtanzeiger: Guter Stil ist gefragt – auch im Netz 28.11.2011 Die Zeit: Schreiben in der Schule. Voll eklich wg schule *stöhn* 27.08.2012 Kleine Zeitung: Was Personalchefs auf die Palme bringt: Rechtschreibfehler und Schlamperei – eine Umfrage zeigt die K.o.-Kriterien bei der schriftlichen Bewerbung auf 12.09.2013 süddeutsche.de: Analphabeten in Deutschland. Manchmal fehlt der richtige Buchstabe 11.11.2013 Focus Schule Online: Bitte zum Diktat! Wie gut sind Sie in Rechtschreibung? 27.03.2014 Frankfurter Allgemeine Zeitung: Sprachnotstand an der Uni. Studenten können keine Rechtschreibung mehr 26.03.2015 Nordbayrischer Kurier: Schrift als Kunst: Die Schönheit der Form kennenlernen 01.04.2015 Spiegel Online: Umfrage unter 2000 Pädagogen: Lehrer beklagen schlechte Handschrift bei Schülern 12.08.2016 Süddeutsche: Wer viel liest, der schreibt auch richtig? 11.07.2017 Bayern3: Wieso eine gute Rechtschreibung beim Flirten so wichtig ist 03.12.2017 Die Zeit: Schrift: Wie das Schreiben das Denken verändert 14.07.2018 Deutschlandfunk: Rechtschreibung in den Sozialen Medien. Ich bin doch kein Bebi! 16.11.2018 Der Tagesspiegel: Keine Empfehlung zum Gendersternchen  





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Christa Dürscheid und Sarah Brommer

09.02.2019 21.02.2019 03.02.2019 01.03.2019

Welt: Rechtschreibung von Studenten. Die Generation Z schreibt „Is gut“ – oder schickt ein Emoticon Rhein-Neckar-Zeitung: Was Linguisten bei Twitter und Facebook lernen Süddeutsche Zeitung: Die Wörter zähmen. Therapieideen für Kinder mit Lese-Rechtschreib-Störung Bayrischer Rundfunk: Tablet statt Bücher: Besuch im digitalen Klassenzimmer

Welche dieser Themen sind es nun aber, die in den Medien wiederkehrend verhandelt werden, die tendenziell also eher im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen? Die Antwort liegt auf der Hand: Es sind Fragen rund um die Schreibkompetenz, wobei die Medienberichte, die dieses Thema aufnehmen, meist nicht nur die Rechtschreibung betreffen, sondern generell das Schreiben von Texten. Dabei geht es in den Artikeln oft um die Frage, welche Auswirkungen das SMS- und Internetschreiben haben könnte (vgl. dazu Dürscheid/Wagner/Brommer 2010 aus linguistischer Sicht) und wie es um die Schreib- und Lesekompetenz in unserer mediengeprägten Zeit bestellt ist. Das zeigen auch die Kommentare, die im Anschluss an die oben erwähnte Pressemitteilung des Rats für deutsche Rechtschreibung erschienen. So hieß es in dem oben bereits erwähnten Zeitungsartikel „Sprachexperte geißelt Fetzenliteratur auf Twitter“ vom 02.01.2012: Der Rechtschreibrats-Chef Hans Zehetmair schlägt Alarm: Twitter, Anglizismen und Abkürzungen wie „HDL“ gefährden die Sprachkompetenz ganzer Generationen. „Fetzenliteratur“ auf Twitter oder in SMS bedroht nach Ansicht des Rechtschreibrats-Vorsitzenden die Sprachkompetenz junger Leute. „Eine junge Generation schreibt heute – um eine Liebe zum Ausdruck zu bringen – keine Briefe mehr, sondern „HDL“ – „Hab Dich lieb“, bemängelte er. „Unsere Zeit ist so schnelllebig geworden. Da müssen Sie sich nur die Twitter-Literatur ansehen, in der es keine ganzen Sätze mehr gibt.“

Wie man an diesem Textauszug sieht, geht es hier weniger um die Rechtschreibung im Besonderen als um „die Sprachkompetenz ganzer Generationen“ – diese ist es, die als ‚gefährdet‘ angesehen wird. Damit gesellt sich der Artikel zu vielen anderen, in denen eher ein pessimistisches Bild des heutigen Sprachgebrauchs gezeichnet wird. Nicht zuletzt deshalb sahen sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften dazu veranlasst, einen Band herauszugeben, der der Frage nachgeht, wie es „tatsächlich um Reichtum und Armut der deutschen Sprache bestellt ist“ (Klappentext). Dieser Erste Bericht zur Lage der deutschen Sprache (vgl. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften 2013) greift – wie auch der Zweite Bericht (vgl. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften 2017) – Themen auf, denen, so heißt es im Vorwort,

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Schrift und Schreiben in der gegenwärtigen Sprachreflexion

in aktuellen Sprachdiskussionen großes und dauerhaftes Interesse entgegengebracht wird. Einer der Beiträge aus dem Ersten Bericht stammt von Peter Eisenberg und trägt den Titel „Anglizismen im Deutschen“. Dieser sei eigens erwähnt, denn der Anglizismengebrauch ist es, der – neben Abkürzungen wie HDL – im öffentlichen Diskurs häufig als Beispiel für die Gefährdung der „Sprachkompetenz ganzer Generationen“ (s. obiges Zitat) genannt wird (vgl. dazu auch Pfalzgraf, in diesem Band). Es soll hier jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass solch kritische Stimmen die allein vorherrschenden im Diskurs über die Schreibkompetenz seien; man findet durchaus auch andere Meinungen (vgl. dazu Abschn. 4). Grundsätzlich kann das Thema Schrift und Schreiben also aus ganz verschiedenen Perspektiven betrachtet werden, je nachdem, welcher Aspekt im jeweiligen Bericht in den Vordergrund gestellt wird. Oft kommt es auch vor, dass solche Beiträge von den Lesern ausführlich kommentiert werden. So erschien am 28.03.2013 in Spiegel online unter der Überschrift „Rechtschreibung bei Schülern: „Ich fant den Film gemein“ ein Bericht über eine vergleichende Studie zur Schreibkompetenz von Viertklässlern, die in den Jahren 1972 und 2002 und schließlich nochmals im Jahr 2012 durchgeführt wurde (vgl. Steinig/Betzel 2014). Zu diesem Bericht wurden 596 Leserkommentare geschrieben; der letzte stammt vom 15.04.2015. Das wirft eine Frage auf, der im nächsten Abschnitt nachgegangen werden soll: Woran mag es liegen, dass es augenscheinlich ein solch großes öffentliches Interesse am Thema Schreiben gibt? Dass dies der Fall ist, kann hier zwar nur vermutet werden (aktuelle Diskurs-Untersuchungen liegen uns nicht vor); die hohe Zahl solcher Leserkommentare weist aber darauf hin, dass diese Annahme ihre Berechtigung hat. Und nicht zuletzt zeigen ja auch die Emotionalität und Intensität, mit denen der Diskurs über die Rechtschreibreform geführt wurde (vgl. dazu u. a. Stenschke 2005), dass das Thema (Recht-)Schreiben einen Großteil der Bevölkerung bewegt. Oliver Stenschke weist in der Einleitung zu seiner Arbeit auf einen weiteren Umstand hin, der darauf schließen lässt, dass das Interesse an der (Recht-)Schreibung groß ist. Er stellt fest:  

[D]er Rechtschreibduden stand in den Jahren 1996 bis 2000 in der von Focus veröffentlichten Jahres-Bestseller-Liste auf Platz eins bei den Sachbüchern, teilweise dicht gefolgt von der Bertelsmann-Rechtschreibung, die zum Beispiel 1997 immerhin einen respektablen fünften Platz belegt. (Stenschke 2005, 1)

Und selbst im Jahr 2018 – also in einer Zeit, wo die Diskussion um die Rechtschreibreform keine Rolle mehr spielt – hat es der Rechtschreibduden (2017 in der 27. Auflage erschienen) auf der Bestseller-Liste von media control einmal sogar auf Platz 6 geschafft (vgl. https://www.charts.de/buch-charts ).  

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Christa Dürscheid und Sarah Brommer

2 Die gute Schrift Wie aus den bisherigen Ausführungen hervorgeht, betrachten wir hier ausschließlich die geschriebene, nicht die gesprochene Sprache. Unser Ausgangspunkt ist also nicht die Frage, wie ein bestimmter Sprachgebrauch – gleich, ob mündlich oder schriftlich – von der Öffentlichkeit beurteilt wird (z. B. die Verwendung von Anglizismen) oder was generell als gutes resp. schlechtes Deutsch gelten könnte (vgl. dazu Androutsopoulos, in diesem Band). Vielmehr geht es hier nur um solche Aspekte, die auf die graphische Ebene von Sprache, auf die mediale Schriftlichkeit (vgl. dazu Koch/Oesterreicher 1994) bezogen sind. Dass es ein großes Spektrum solch schriftbezogener Themen gibt, ist offensichtlich; einige wurden im vorangehenden Abschnitt bereits genannt. Aus fachwissenschaftlicher Sicht lassen sich noch weitere Aspekte nennen. Darunter fallen bspw. Forschungen zur Handschrift (vgl. Gredig i. V.), zur Schreibdidaktik (vgl. Günther 2010), zur Schriftgeschichte, zur Schrifttypologie (z. B. die Unterscheidung von Alphabetschriften und Silbenschriften) oder zur Graphematik (vgl. Dürscheid 2016). All das sind Themen, die in der Linguistik behandelt werden – und dies teilweise recht kontrovers. Beispielsweise gibt es in der Schriftgeschichtsforschung eine lange Disputation über die Anfänge der Schriftkultur (vgl. Haarmann 2002), und auch die Frage, in welcher Relation die Schreibung zur Lautung steht (s. die Kontroverse um die Autonomie- vs. Dependenzhypothese), ist keineswegs unumstritten (vgl. Neef 2005). Solche Dispute werden aber nur in der Fachwelt, nicht in der Öffentlichkeit geführt, sie gehören nicht zu den Themen alltagsweltlicher Sprachreflexion. Anders ist es mit Fragen rund um Rechtschreibung und Schreibkompetenz. Dabei handelt es sich um populäre Themen, die eine Reihe von Fragen aufwerfen, welche sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit gestellt werden (vgl. dazu die Abschnitte 3 und 4). Damit kommen wir zu einem Aspekt, der bereits weiter oben angesprochen wurde: Woran mag es liegen, dass ein solch großes öffentliches Interesse am Thema (Recht-)Schreiben besteht? Und ergänzend dazu: Warum werden an die geschriebene Sprache so hohe Erwartungen herangetragen? So wurde im vorangehenden Abschnitt der frühere Ratsvorsitzende Hans Zehetmair mit den Worten zitiert, dass es in Twitter-Nachrichten keine ganzen Sätze mehr gebe. Daraus lässt sich im Umkehrschluss folgern, dass seine Erwartung die ist, Texte müssten aus ganzen Sätzen bestehen. Und tatsächlich ist dies ein Merkmal, das immer wieder mit gutem Schreiben in Verbindung gebracht wird – und dies, obwohl auch in stilistisch elaborierten Texten nicht-satzwertige Sequenzen vorkommen können (z. B. Satzäquivalente wie „Ende gut, alles gut“ oder selbständig vorkommende Nebensätze vom Typ „Doch wohin das wohl führen wird?“). In Bezug auf die gesprochene Sprache gibt es solche Normvorstellungen nicht in gleichem Maße. Beispielsweise würde man wohl niemandem einen Vorwurf machen, der auf die Frage „Wann können wir uns heute treffen?“ die knappe Antwort „Erst um 12.“ gibt. Allenfalls würde man daran Anstoß nehmen, dass die Antwort unhöflich ist  







Schrift und Schreiben in der gegenwärtigen Sprachreflexion

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(da z. B. keine weitere Begründung genannt wird), nicht aber, dass sie aus syntaktischer Hinsicht unvollständig ist. Im Gegenteil: Es wäre nachgerade seltsam, wenn man in einer solchen Sequenz eine Antwort wie „Wir können uns erst um 12 treffen.“ erwarten würde. Allerdings stellt sich hier die Frage, ob dies tatsächlich damit zusammenhängt, dass eine Äußerung mündlich, nicht schriftlich erfolgt. Ist hier nicht vielmehr der Umstand ausschlaggebend, dass es sich um eine dialogische Situation handelt (eine Frage-Antwort-Sequenz) und das Auftreten von elliptischen Konstruktionen in einer solchen Interaktion unauffällig ist – und zwar unabhängig davon, ob sie mündlich oder schriftlich erfolgt? Tatsächlich gibt es ja auch schriftliche Äußerungen, die unvollständige Sätze enthalten, ohne dass dies den Beteiligten bei der Lektüre überhaupt auffallen würde. Das illustriert der folgende konstruierte WhatsApp-Dialog: A: „Ich bin noch im Büro. Wo bist du?“ B: „An der Uni. Komme aber gleich nach Hause.“ Für die Akzeptabilität solcher Äußerungen spielt also weniger die Unterscheidung von gesprochener und geschriebener Sprache eine Rolle als vielmehr die Unterscheidung von Monologizität und Dialogizität. Das führt uns zu der Frage, was die geschriebene von der gesprochenen Sprache unterscheidet und – darauf aufbauend – warum das Schreiben einen so hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft hat und so viele Erwartungen daran geknüpft sind. An anderer Stelle wurden die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache bereits ausführlich behandelt (vgl. Dürscheid 2016, 24–34); deshalb seien hier nur die Aspekte genannt, die im vorliegenden Kontext relevant sind. Für den prototypischen Fall gilt, dass das geschriebene Wort dauerhaft ist, die gesprochene Sprache flüchtig: Einmal gesagt, ist eine Äußerung nicht mehr zurückholbar; im Schreiben dagegen ist sie konserviert. Ein weiterer Unterschied ist der, dass die Produktion und die Rezeption der Äußerung im Geschriebenen zeitlich entkoppelt sind, im Gesprochenen nicht. Der Leser hat hier nicht unmittelbar die Möglichkeit, Nachfragen zu stellen oder gar den Schreiber zu unterbrechen. Zwar ist Ersteres in neueren Kommunikationsformen wie z. B. WhatsApp-Konversationen doch möglich, da sich hier die Kommunikation quasi-synchron vollzieht (vgl. Dürscheid/ Frick 2016), dennoch gilt, dass das Schreiben im prototypischen Fall anderen Rezeptionsbedingungen als das Sprechen unterliegt. Darauf weist auch Eisenberg hin, wenn er schreibt:  



Die geschriebene Sprache unterscheidet sich sowohl materiell als auch im Gebrauch von der gesprochenen. Gewöhnlich wird ein geschriebener Text nicht in derselben Situation gelesen, in der er niedergeschrieben wurde, die schriftliche Kommunikation ist ‚zerdehnt‘ (Ehlich 1983). (Eisenberg 2013, 285)

Damit zusammen hängt ein weiterer Unterschied: Die gesprochene Sprache ist dialogisch ausgerichtet, die geschriebene monologisch. Doch auch das trifft nur auf den prototypischen Fall zu. So wurde weiter oben am Beispiel der WhatsApp-Kommunikation schon darauf hingewiesen, dass die Dialogizität im Geschriebenen ebenfalls eine

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Rolle spielen kann, und umgekehrt kann es im Mündlichen Äußerungsformen geben, die eher monologisch sind (z. B. Vorträge). Damit kommen wir zu einem ebenso trivialen wie grundsätzlichen Punkt: Die Frage nach den Unterschieden zwischen gesprochener und geschriebener Sprache kann nur deshalb gestellt werden, weil wir in unserer Kultur über Schrift verfügen. Dass dies keineswegs selbstverständlich ist, zeigt nicht nur die Schriftgeschichte; es gibt auch heute noch schriftlose Kulturen (vgl. Haarmann 2002). In dem Kapitel „Kulturen ohne Schrift und die Herausforderung des Gedächtnisses“ (Haarmann 2002, 10–16) merkt Harald Haarmann dazu an, dass dort, wo keine Schrift verwendet wird (wie z. B. im Amazonasgebiet Brasiliens), „der Europäer ‚Primitivität‘ zu erkennen glaubt“ (Haarmann 2002, 11), an anderer Stelle spricht er kritisch von einem „alternativlose[n] zivilisatorische[n] Idealbild von Schriftkultur“ (Haarmann 2002, 10). Ob das zutrifft, sei hier dahingestellt; es sei aber zumindest darauf verwiesen, dass die Schrift keineswegs immer nur als ‚gut‘ angesehen wurde. Vielmehr gibt es eine lange Tradition der Schriftkritik, die von Platon bis Rousseau reicht (vgl. dazu ausführlich Köller 1988, 154–156; siehe auch Stein 2006, 20–22). Fakt aber ist, dass wir uns als literalisierte, schriftgeprägte Menschen nur schwer vorstellen können, wie Gesellschaften, die nicht über Schrift verfügen, zu kulturellen Leistungen in der Lage sind. Hinzu kommt noch ein anderer Aspekt: Die Schrift ist – so das berühmte Diktum von Assmann (1992) – „das kulturelle Gedächtnis“, über die Schrift wird das Kulturgut an die nachfolgende Generation übermittelt. Zwar mag man einwenden, dass heute ein Großteil der Informationen nicht mehr über Schriftzeichen, sondern digital gespeichert ist, doch es ist, wie Haarmann (2002, 10) zu Recht betont, immer noch die Schrift, mit der diese Informationen verfügbar gemacht werden. Die Schrift ist, wie Haarmann (2002, 10) weiter schreibt, das Medium, das es uns ermöglicht, „mit dem Wissen über unsere Welt umzugehen“. Von daher verwundert es nicht, dass das Geschriebene im Vergleich zum Gesprochenen in unserer Gesellschaft einen höheren Stellenwert hat. Peter Stein (2006, 18) beschreibt in seiner Kulturgeschichte des Schreibens diesen Umstand mit den folgenden Worten:  



Die wichtigste Qualitätsveränderung, die durch die Ingebrauchnahme der Schrift eintrat, ist die temporale Entwicklung des kulturellen Gedächtnisses. Die Stimme der Schrift spricht nicht nur zu den Lebenden, sie memoriert auch nicht nur das Vergangene – sie spricht über die Zeiten hinweg vor allem zu den Nachgeborenen in der Zukunft.

Damit soll hier nicht behauptet werden, dass es in oralen Kulturen nicht auch Möglichkeiten gebe, das Vergangene zu memorieren und Wissen zu tradieren (vgl. dazu ausführlich Assmann 1992). Doch weist Jan Assmann auch darauf hin, dass das kulturelle Gedächtnis eine Affinität zur Schriftlichkeit hat. Er schreibt:

Schrift und Schreiben in der gegenwärtigen Sprachreflexion

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In schriftlosen Kulturen [...] gehören Tänze, Spiele, Riten, Masken, Bilder, Rhythmen [...] in sehr viel intensiverer Weise zu den Formen feierlicher Selbstvergegenwärtigung und Selbstvergewisserung der Gruppe. (Assmann 1992, 59)

Halten wir also fest: Die Wertschätzung von Schrift in unserer Gesellschaft resultiert daraus, dass a) die geschriebene Sprache andere Funktionalitäten aufweist als die gesprochene (s. die Gegenüberstellung weiter oben) und dass b) die Schrift als eine kulturelle Errungenschaft gilt, als hohes Gut, das zudem noch mühsam erworben werden muss. Doch bei allen Vorzügen der Schrift benennt Peter Stein auch deren Grenzen: „Schrift ist schwierig, kann erst ab einem bestimmten Alter erlernt und durchaus wieder vergessen werden“ (Stein 2006, 21). Wir kommen nun zu einer letzten, diesen Abschnitt abschliessenden Frage: Was ist ein ‚gutes Schriftsystem‘? Bekanntlich gibt es drei basale Schrifttypen: Alphabetschriften, Silbenschriften und logographische Schriften, die sich darin unterscheiden, welches das jeweils kleinste Element ist, das sie graphisch repräsentieren: der einzelne Laut, die Silbe oder das Wort (vgl. Coulmas 1981). Unter diesen gilt die Alphabetschrift als die Schrift, welche die höchste Funktionalität und Flexibilität aufweist. Tatsächlich genügt hier ein relativ kleines Inventar an Zeichen, um auf der Basis von Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln schreiben zu können (vgl. dazu Eisenberg 2013, 288–293). Es verwundert deshalb nicht, dass es in der Forschung zur Schriftgeschichte Arbeiten gibt, in denen die Alphabetschrift als der (glanzvolle) Endpunkt einer langen kulturgeschichtlichen Entwicklung angesehen wird (z. B. Gelb 1952; vgl. dazu aber auch kritisch Stein 2006, 56–58). Doch muss die ‚Güte‘ eines Schriftsystems immer in Relation zu der Sprache gesehen werden, die durch dieses Schriftsystem repräsentiert wird. So lässt sich die Frage stellen, ob der Wechsel von einer logographischen Schrift zur Alphabetschrift für das Chinesische sinnvoll sei (vgl. dazu Dürscheid 2016, 77–79). Man kann die Perspektive aber auch umkehren: Welche Argumente könnte es dafür geben, für das Deutsche ein anderes, nicht-alphabetisches Schriftsystem zu verwenden? Diese Frage mag abwegig erscheinen, aber gerade weil sie so abwegig ist, macht sie deutlich, dass viele von einem alphabetzentrierten Standpunkt ausgehen, wonach eine ‚gute Schrift‘ eine alphabetische Schrift ist.  

3 Gute Rechtschreibung Ausgehend von der Frage nach der ‚guten Schrift‘ wenden wir uns nun dem ‚guten Schreiben‘ zu. In diesem Zusammenhang fällt zunächst auf, dass ‚gutes Schreiben‘ oft gleichgesetzt wird mit ‚gutem Rechtschreiben‘. Zwar ist es so, dass Schreiben unterschiedliche Aspekte tangiert und je nach Kontext verschieden weit gefasst wird – auch in der Wissenschaft gibt es keine eindeutige Definition von ‚Schreiben‘ (vgl. Sieber 2006, 209). Doch im Urteil der Öffentlichkeit – und darum geht es ja im vorliegenden Beitrag – steht meist die Rechtschreibung im Fokus, nicht zuletzt, da sie

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es ist, die in einem Regelwerk durch Paragraphen festgeschrieben ist, und sich deshalb Richtiges vom Falschen, Gutes vom Schlechten (vermeintlich) problemlos unterscheiden lässt. Wie man die Rechtschreibung systematisch beschreiben kann, inwieweit innerhalb der Rechtschreibnorm Variation möglich ist und welcher Stellenwert einer guten Rechtschreibung zukommt: Um diese Fragen soll es im Folgenden gehen. Wie bereits weiter oben erwähnt, liegen einer Alphabetschrift wie dem Deutschen Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln (GPK) zugrunde. Auf Basis dieser GPK-Regeln lässt sich die Schreibung allerdings nicht eindeutig bestimmen, da es in vielen Fällen keine Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen Graphem und Phonem gibt: Ein Graphem kann mehr als ein Phonem repräsentieren, und umgekehrt kann ein Phonem unterschiedlich verschriftet werden. So wird die Buchstabenfolge als /x/ (wie in Dach), als /ç/ (Lerche), als /k/ (Christ), als /ʃ/ (Charme) oder als /tʃ/ (Chip) gesprochen. Das lange gespannte /e:/ wiederum wird graphisch als (Weg), als (sehr) oder als (See) dargestellt. Für die Verschriftungen einer Lautfolge gibt es also oftmals verschiedene Varianten, und das Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung legt unter diesen möglichen Varianten eine (in Einzelfällen auch mehrere) als die orthographisch zulässige fest. Neben den Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln lassen sich in Anlehnung an die einschlägige Literatur (z. B. Eisenberg 2016) noch eine Reihe weiterer Prinzipien formulieren, um das deutsche Schriftsystem zu erfassen. Dazu zählen in erster Linie das morphologische Prinzip (Stammschreibung) und das silbische Prinzip (vgl. dazu ausführlich Eisenberg 2013, 296–317), aber auch das Kriterium der Lesbarkeit und das historische Prinzip. Mit Hilfe dieser Prinzipien lässt sich beispielsweise erklären, warum das Wort Stämme nicht geschrieben wird: Die Schreibung von statt vor

, , ist im Deutschen möglich, da nicht bedeutungsunterscheidend, und verhindert einen überlangen Anfangsrand der Silbe, was wiederum der Lesbarkeit zugutekommt (vgl. Eisenberg 2016, 71–78). Weiter zeigt der Buchstabe in Stämme (anstelle von ) die Verwandtschaft zur Singularform Stamm an (morphologisches Prinzip). Die Konsonantenbuchstabendopplung lässt sich im Singular mit dem vorangehenden kurzen betonten Vokal erklären (analog: voll, dünn, dumm) und macht im Plural neben der Verwandtschaft zu Stamm deutlich, dass der Laut /m/ sowohl zur ersten Silbe (Endrand) als auch zur zweiten Silbe (Anfangsrand) gehört (silbisches Prinzip). Das morphologische Prinzip, das auf der Verwandtschaft von Wörtern basiert, hat einerseits eine identifizierende Funktion (vgl. Haus – Häuser), andererseits eine differenzierende Funktion (vgl. Lied vs. Lid). Mithilfe des historischen Prinzips lässt sich beispielsweise die Schreibung von lieb erklären: Im Mittelhochdeutschen wurde lieb mit Diphthong gesprochen (/liəb/), und trotz der Monophthongierung im Frühneuhochdeutschen blieb diese auf der mittelhochdeutschen Lautung basierende -Schreibung erhalten. Ein weiteres Kriterium, welches bei der Rechtschreibung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, ist die Berücksichtigung des Schreibusus. Dieser kann mitunter in Widerspruch zur Wortgeschichte stehen, wie es bei dem Wort Quäntchen der Fall ist.  

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Obschon sprachgeschichtlich von „Quent“, einer früher üblichen Gewichtsbezeichnung abgeleitet (diese ihrerseits von lat. „quintus“) und daher bis zur Neuregelung von 1996 mit zu schreiben (Quentchen), hat sich aufgrund der Assoziation zu Quantum die Schreibung mit etabliert. Diese wurde im Zuge der Rechtschreibreform denn auch zur richtigen Schreibweise erhoben, dem Schreibusus wurde damit Rechnung getragen – in Einzelfällen wie diesem zu Lasten der Wortgeschichte. Daran wird ein wichtiger Aspekt sichtbar: Auch wenn die Rechtschreibung oft als restriktiv, mitunter sogar als willkürlich wahrgenommen wird, ist sie auch und vor allem ein Abbild des Schreibgebrauchs. Dass eine Schreibweise oftmals nur eine unter mehreren möglichen Verschriftungen ist, führt zum nächsten Aspekt: den Schreibvarianten. Schreibvarianten bestehen auch innerhalb der Rechtschreibnorm, sie sind entweder frei wählbar oder syntaktisch-funktional bzw. semantisch bedingt und sie betreffen verschiedene Regelbereiche (wie die Graphem-Phonem-Korrespondenz, die Groß- und Kleinschreibung und die Getrennt- und Zusammenschreibung). An dieser Stelle soll anhand einiger ausgewählter Beispiele ein kurzer Überblick über verschiedene Arten von Schreibvarianten gegeben werden; für eine weiterführende Auseinandersetzung mit dem durchaus problematischen Status von Schreibvarianten sei auf Joachim Jacobs (2007) und Peter Eisenberg (2009b) verwiesen. Ein Grund für Schreibvarianten im Bereich der Graphem-Phonem-Korrespondenz ist der oben beschriebene Umstand, dass bei der Frage nach der richtigen (im Sinne von: orthographisch zulässigen) Schreibung verschiedene Rechtschreibprinzipien konkurrieren können. Wenn es für die Berücksichtigung sowohl des einen als auch des anderen Prinzips und so für zwei verschiedene Schreibweisen gute Gründe gibt, erlaubt das Regelwerk in Einzelfällen beide Varianten. Ein Beispiel hierfür ist selbstständig/selbständig: Seit der Rechtschreibreform ist neben der Schreibweise selbständig auch die Schreibweise selbstständig zugelassen. In der Regel liegt in diesen Fällen freie Variation vor, d. h. die Entscheidung für die eine oder die andere Schreibweise ist beliebig und hat keine Auswirkung auf den Inhalt der Aussage (vgl. auch Orthographie vs. Orthografie). Auch im Bereich der Groß- und Kleinschreibung gibt es solche Schreibvarianten, die laut Regelwerk zulässig sind und nicht aus dem Kontext resultieren, sondern beliebig eingesetzt werden können (wie z.B. recht oder Recht bekommen). Anders ist es in Fällen syntaktisch-funktional bedingter Variation, wie sie ebenfalls im Bereich der Groß- und Kleinschreibung auftritt. Hier verändert die eine oder andere Schreibweise die Bedeutung (vgl. Er findet das gut. vs. Er findet das Gut.). In diesem Fall handelt es sich selbstverständlich nicht um im Regelwerk zulässige Schreibvarianten, bei denen wahlweise die eine oder andere Schreibung verwendet werden könnte. Vielmehr folgt die Entscheidung aus dem Verwendungskontext. Ebenfalls keine freie Variation besteht, wenn die Getrennt- bzw. Zusammenschreibung eines Wortes zu einem Bedeutungsunterschied führt. So ist es ein Unterschied, ob jemand auf der Treppe schwer gefallen ist (adverbial gebrauchtes Adjektiv schwer + Verb fallen) oder jemandem eine Sache schwergefallen ist (Verbpartikel schwer + Verb  

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fallen), das Verb also in der idiomatisierten Bedeutung ‚Mühe bereiten‘ gebraucht wird. Nicht immer ist jedoch klar, ob noch eine wörtliche oder schon eine übertragene Bedeutung vorliegt, oftmals ist der Übergang fließend (z. B. mit etwas Schwierigem fertig werden/fertigwerden). Auch können Kombinationen aus Adjektiv und Partizip entweder als Wortgruppe oder als Zusammensetzung aufgefasst werden – im ersten Fall muss getrennt geschrieben, im zweiten Fall zusammengeschrieben werden (z. B. allein erziehend/alleinerziehend). In Fällen wie diesen gibt es Argumente sowohl für die eine als auch für die andere Schreibweise, und beide Schreibweisen sind zulässig. Neben diesen inhaltlichen Fragen kommt noch ein grundsätzlicher Aspekt hinzu: Wenn im Regelwerk genau eine Schreibung vorgegeben ist, kann dies einerseits als Vereinfachung, andererseits aber auch als Gängelei empfunden werden (vgl. Gallmann 2004, 38). Ersteres würde gegen eine Variantenschreibung sprechen, Letzteres dafür. So wurde denn auch der Status von Schreibvarianten, gerade im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung, im Zuge der Rechtschreibreform von 1996 und ihrer Modifikationen in den Folgejahren kontrovers diskutiert – sowohl in der Wissenschaft (vgl. Jacobs 2007, Eisenberg 2009b) als auch in der Öffentlichkeit. Auch hierzu seien einige Artikelüberschriften aus Zeitungen genannt: 02.02.2004 Frankfurter Allgemeine Zeitung: Rechtschreibreform. Fehler werden „Varianten“ 11.04.2005 Deutschlandfunk: Rechtschreibreform: Getrennt- und Zusammenschreibung in der Diskussion 22.07.2006 Frankfurter Allgemeine Zeitung: Rechtschreibreform. Zahlreiche Widersprüche 01.08.2007 NWZ online: Schüler durch das Dickicht der Varianten führen 01.08.2011 Focus: Rechtschreibreform. Die größten Aufreger 29.06.2017 Abendzeitung München: Neue Rechtschreibung: Nie mehr „Ketschup“ 31.07.2018 Hannoversche Allgemeine: Schlechte Noten im Diktat. Die Rechtschreibkompetenz deutscher Schüler hat nachgelassen. Braucht es noch eine Reform? 01.08.2018 Deutschlandfunk: 20 Jahre neue Rechtschreibung. Pro und contra Reform  



In dem hier an dritter Stelle genannten Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22.07.2006 wurde seinerzeit kritisch angemerkt: „Noch nie war der Variantenreichtum in der deutschen Rechtschreibung so groß wie nach der Reform der Reform.“ Tatsächlich ist die Zahl der zulässigen Schreibvarianten groß, doch dies ist nicht erst seit der Rechtschreibreform der Fall (vgl. Eisenberg 2009b, 12–15). Eine Konsequenz daraus ist, dass der Rechtschreibduden seit seiner 24. Auflage von 2006 (wie auch in Duden online) bei Schreibvarianten eine bestimmte Schreibweise empfiehlt (optisch kenntlich gemacht durch die farbliche Hinterlegung des entsprechenden Wortes). Auch interne orthographische Richtlinien einzelner Verlage (bspw. der Frankfurter Allgemeinen Zeitung) verfolgen bis heute das Ziel, die Zahl der Schreibvarianten

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dadurch zu begrenzen, dass sie den Mitarbeitern bestimmte Varianten empfehlen. Um jedoch eine bewusste, auf den jeweiligen Kontext bezogene Entscheidung für die eine oder andere Schreibvariante zu ermöglichen, hat sich der Rat für deutsche Rechtschreibung in einem Beschluss vom 22.09.2006 für ein gleichberechtigtes Nebeneinander der zugelassenen Varianten ausgesprochen (vgl. dazu unter www.schriftdeutsch.de/orth-akt.htm#131, ): Es ist nicht Intention des Rates für deutsche Rechtschreibung, dass vom Rat beschlossene Varianten in den allgemeinen Rechtschreibungswörterbüchern durch Empfehlung nur einer Variante eingeschränkt werden.

Vor diesem Hintergrund lassen sich Schreibvarianten als Spiegel differenzierter Ausdrucksmöglichkeiten interpretieren. Und die bewusste Entscheidung für die eine oder andere Schreibweise kann ein Indikator nicht nur für richtiges, sondern mehr noch für ein gutes (Recht-)Schreiben sein. Wenden wir uns nun abschließend der Frage zu, welcher Stellenwert der Rechtschreibung in unserer Gesellschaft zukommt. Hier ist zunächst anzumerken, dass der Anspruch, der diesbezüglich an einen Text gerichtet wird, variiert. Je nachdem, in welcher Kommunikationssituation ein Text steht, an wen er gerichtet ist, welche Funktion er erfüllt, werden – bewusst und unbewusst – andere Erwartungen an diesen Text herangetragen. So variiert die Erwartungshaltung beispielsweise je nach Textsorte: Gesetzestexte werden mit einem höheren Qualitätsanspruch gelesen als Ansichtskarten aus dem Urlaub. Auch ist der Anspruch an gedruckte Texte hinsichtlich ihrer formalen Korrektheit tendenziell größer als an Texte, die ‚nur‘ am Bildschirm rezipiert werden. Der materielle Träger scheint ein Faktor für die Einstellung zu sein, mit der ein Text gelesen wird – und damit auch für eine größere bzw. geringere Toleranz gegenüber Schreibfehlern. Der unterschiedliche Anspruch spiegelt sich auch im Grad der orthographischen Korrektheit der Texte wider. Gerade bei Zeitungen und Zeitschriften, die sowohl als Print- als auch als Online-Ausgabe erscheinen, lässt sich in dieser Hinsicht ein Unterschied feststellen. Aufgrund des größeren Zeitdrucks und des damit einhergehenden fehlenden Korrektorats und Lektorats finden sich in den Online-Ausgaben von Zeitungen auffallend mehr Rechtschreib- (und auch Grammatik‑)fehler. Dass dies von den Lesern nicht nur registriert, sondern auch offen kritisiert wird, belegen Leserzuschriften, die solche Fehler thematisieren. Der folgende Kommentar bezieht sich auf einen Text, in dem eine Deutschlehrerin in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung über ihren Schulalltag berichtet und die Konjunktion dass mit dem Pronomen das verwechselt.

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Abbildung 1: Verwechslung der Konjunktion dass mit dem Pronomen das http://www.sueddeutsche. de/bildung/lehrer-blog-zu-drogen-high-durch-pflanzenduenger-1.1915223  

Nicht nur von Normautoritäten (und als solche gelten Lehrpersonen) wird eine richtige Rechtschreibung erwartet, auch im Alltag wird diese immer wieder eingefordert und in Zeitungen, Zeitschriften, offiziellen Schreiben etc. als selbstverständlich angesehen. Das ist auch von Seiten der Wirtschaft der Fall, wenn es um die Schreibkompetenzen zukünftiger Auszubildender geht (vgl. dazu ausführlich Brommer 2007, 330–332). Zudem besteht in der Gesellschaft offenkundig ein allgemeines Bedürfnis nach Orientierung im „Rechtschreibdschungel“ (www.neue-rechtschrei bung.de). Sichtbar wird dies nicht nur an den Verkaufszahlen des Dudens (s. o.) und an der kaum überschaubaren Menge an Ratgeberliteratur zum Thema Rechtschreibung. Daneben finden auch Rechtschreibratgeber im Internet (wie bspw. www.neuerechtschreibung.de oder www.grammatikdeutsch.de) und allgemeine Ratgeberseiten großen Zuspruch. Ratsuchende können auf diesen Seiten Fragen zu ganz verschiedenen Themen und so auch zur richtigen Schreibung stellen und erhalten dazu Hinweise von anderen Lesern, die in der Regel mehr oder weniger kundige Laien sind (so auf http://www.gutefrage.net/frage/wie-ist-s-richtig-rechtschreibung, vgl. auch http:// www.netmoms.de/fragen/detail/rechtschreibung-16487354, ). Dass eine gute Rechtschreibkompetenz nicht trotz, sondern gerade auch mit der zunehmenden Mediennutzung als wichtig erachtet wird, zeigt sich im öffentlichen Diskurs ebenfalls (vgl. Brommer 2007, 334). Dazu seien hier nur sechs Artikelüberschriften aus verschiedenen Zeitungen genannt: 19.06.2013 Spiegel online: Richtige Rechtschreibung ist – auch heute noch – die Basis für schulischen und beruflichen Erfolg. 11.03.2015 Frankfurter Allgemeine Zeitung: Mangelnde Bildung: Rechtschreibung lehren! 20.09.2017 In Franken: Internet-Nutzer legen Wert auf Rechtschreibung und Grammatik 23.03.2018 Börsenblatt: Rechtschreibung ist ein Thema für das gesamte Leben 17.12.2018 Frankfurter Allgemeine: Länderkooperation: Für bessere Rechtschreibung 03.01.2019 Welt: Rechtschreibung der Grundschüler ist inakzeptabel  

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Doch nicht nur der Öffentlichkeit, auch der Sprachwissenschaft ist das Thema Rechtschreibung ein großes Anliegen. So gab es auf dem Deutschen Germanistentag 2013 eine Sektion mit dem Titel „Deutsche Orthographie in Wissenschaft, Unterricht, Gesellschaft“. Im Rahmen dieser Sektion wurden zwölf Thesen formuliert und in den Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes publiziert, die den Stellenwert von Orthographie in Schule und Gesellschaft hervorheben (vgl. Orthographie in Wissenschaft, Unterricht und Gesellschaft 2014, 102–104). Die erste dieser Thesen, die orthographisches Wissen und Können als grundlegende Kompetenz beschreibt, lautet: Gründliche Kenntnisse der Orthographie des Deutschen sind ein wesentlicher Bestandteil der sprachlichen Bildung. Sie ist auf mehreren Ebenen eine wichtige Grundlage für die Handlungsfähigkeit in unserer demokratischen Gesellschaft: Orthographisches Wissen und Können ist konstitutiv für die schriftsprachliche Verständigung und das Verstehen von Texten, der Erwerb von Orthographie als Analyse, Abstraktion und Einüben in den Gebrauch von Symbolen stärkt die kognitive Entwicklung, die Auseinandersetzung mit Geschriebenem erweitert die Fähigkeit im Umgang mit sprachlicher Vielfalt und trägt damit zur Ausweitung sozialer Kompetenzen bei.

Sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft scheint also Konsens darüber zu bestehen, dass Rechtschreibkenntnisse unabdingbar sind. Gleichzeitig wird der Rechtschreibung in unserer Gesellschaft eine wichtige kommunikative Funktion beigemessen. Denn unabhängig davon, ob der Schreiber beim Verfassen eines Textes die Normen befolgt oder sie – bewusst oder unabsichtlich – nicht erfüllt: Der Rezipient nimmt Notiz davon und zieht gegebenenfalls Rückschlüsse daraus. Ist der Schreiber nur unachtsam oder nicht an einer korrekten Schreibung interessiert? Bricht er absichtlich mit den bestehenden Normen (wie es bspw. häufig in der Werbung geschieht)? Oder beherrscht er die Rechtschreibung nicht, was auf mangelnde Allgemeinbildung schließen lassen könnte? Wir sehen daran: Aus dem hohen Stellenwert, der der Rechtschreibung beigemessen wird, resultiert ihre kommunikative Funktion; gleichzeitig aber ist diese kommunikative Funktion auch ein Grund für das Prestige der Rechtschreibung.

4 Gute Texte Angesichts des Ansehens, das die Rechtschreibung genießt, verwundert es nicht, dass sie auch eine wichtige Rolle in der Beurteilung von Texten spielt. Dabei ist das Befolgen der Rechtschreibregeln weder ein notwendiges noch ein hinreichendes Kriterium für einen guten Text. So gibt es gute Texte, die nicht wenige Rechtschreibfehler aufweisen, gleichzeitig muss ein orthographisch korrekter Text noch kein guter Text sein. Was für das Befolgen bzw. Missachten der Rechtschreibregeln gilt, gilt gleichermaßen für alle formalen Vorgaben: Die ‚Güte‘ eines Textes lässt sich nicht daran ermessen, in welchem Ausmaß der Text formal korrekt ist (vgl. dazu auch Fix 2008). Vielmehr ist zwischen ‚richtigen‘ und ‚guten‘ Texten zu unterscheiden. In diese

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Richtung gehen auch die Überlegungen von Eisenberg (2009a), der einen Unterschied zwischen ‚richtigem‘ und ‚gutem Deutsch‘ macht. Peter Eisenberg nimmt hier einen Beitrag von Dieter E. Zimmer zum Anlass („Alles eine Sache des Geschmacks? Von wegen!“, erschienen in DIE ZEIT vom 26. Juli 2007, 43), um sich ausführlich mit der Frage nach dem ‚guten Deutsch‘ auseinanderzusetzen. Notwendige Bedingungen für gutes Deutsch sind laut Zimmer zum einen die Richtigkeit, zum anderen die Angemessenheit im Sprachgebrauch. Hinzu komme – und dies ist nach Zimmer die dritte, die entscheidende Bedingung – das Vorhandensein eines Sprachbewusstseins. Dieses Sprachbewusstsein erlaube, so legt Zimmer in dem genannten ZEIT-Artikel dar, „die kontrollierte Verwendung von Sprache, die Einschaltung einer bewussten Prüfungsinstanz zwischen Denken und Sprechen“. Ein solches Sprachbewusstsein ist jedoch individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Aus diesem Grund bleibt gutes Deutsch eine „elitäre Angelegenheit“ (Eisenberg 2009a, 62) und steht nicht jedem Menschen gleichermaßen zur Verfügung. Demzufolge ist gutes Deutsch mehr als richtiges Deutsch. Welche Rolle spielt dann aber die sprachliche Richtigkeit? Und was macht letztlich einen guten Text aus? Formale Korrektheit lässt sich überprüfen; die Güte eines Textes ist aber nicht in derselben Weise überprüfbar. Damit kommen wir zu der Frage, welche Erwartungen in der Öffentlichkeit an einen guten Text herangetragen werden. Diese Frage ist eng verknüpft mit dem alltagssprachlichen Verständnis von ‚Text‘ und ‚gutem Deutsch‘. Denn wie wir sehen werden, ist in der öffentlichen Wahrnehmung ‚gutes Deutsch‘ vornehmlich schriftbasiert, ebenso wie ein Text im Alltagsverständnis eine schriftbasierte, in sich abgeschlossene Einheit darstellt (vgl. dazu den Eintrag zu „Text“ in Duden online). Gute Texte sind darüber hinaus, so die vorherrschende Meinung, regelkonform und hinsichtlich Wortwahl und Satzbau wohlgeformt, d. h. sie weisen beispielsweise keine umgangssprachliche Lexik und keine unvollständige Syntax auf. Solche im alltagsweltlichen Urteil wichtigen Merkmale sind Zimmers Ansicht nach generell Kriterien für gutes Deutsch (vgl. Eisenberg 2009a, 62). Sie lassen sich auf das beziehen, was Peter Koch und Wulf Oesterreicher (1994) als „konzeptionell schriftlich“ bezeichnen. In ihrem Modell unterscheiden sie Äußerungsformen hinsichtlich ihrer graphischen bzw. phonischen Realisierung (medial schriftlich vs. medial mündlich) und ihrer stilistischen Gestalt, d. h. der Konzeption (mehr oder weniger konzeptionell schriftlich bzw. mündlich). Außerdem legen sie dar, welche Kommunikationsbedingungen (wie z. B. raumzeitliche Nähe der Kommunikation oder Vertrautheit der Kommunikationspartner) mit welchen sprachlichen Merkmalen korrelieren. Demnach zeichnet sich konzeptionelle Schriftlichkeit („Sprache der Distanz“) bspw. durch „eine durchstrukturierte semantische Progression und eine explizite Verkettung zwischen Sequenzen im Text“ (Koch/Oesterreicher 1994, 590) sowie einen komplexeren Satzbau aus; für konzeptionelle Mündlichkeit („Sprache der Nähe“) hingegen sind umgangssprachliche Ausdrucksweisen, Ellipsen und Reduktionsformen wie ich hab anstatt ich habe charakteristisch. Dazu ist anzumerken, dass Koch/ Oesterreicher ihre Charakterisierung konzeptioneller Schriftlichkeit auf monologisch  





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ausgerichtete Texte beziehen. In Texten hingegen, die durch Dialogizität gekennzeichnet sind (wie z. B. WhatsApp-Nachrichten), sind Stilmerkmale wie beispielsweise ein elliptischer Satzbau vollkommen unauffällig (vgl. dazu Abschn. 2). Dialogisch ausgerichtete Texte stellen jedoch im Bewusstsein der Öffentlichkeit keine prototypischen Texte dar. Vielmehr scheinen in der öffentlichen Wahrnehmung prototypische Texte solche Texte zu sein, die konzeptionell schriftlichen Charakter haben. An diese Auffassung knüpft auch der oben bereits erwähnte Erste Bericht zur Lage der deutschen Sprache an. Wie hier im Vorwort zu lesen, ist es das Anliegen der Autoren, mit diesem Band den öffentlichen Diskurs zum Thema Schreiben mit „wissenschaftlich fundierte[n] Informationen“ zu ergänzen. Als Datengrundlage für die Befunde dienen belletristische Texte, Zeitungstexte, Gebrauchsprosa (Ratgeber, Rechtstexte u. a.) und wissenschaftliche Texte, wie Barbara Seelig in ihrem Beitrag im Anhang des Buches darlegt. Auffallend daran ist, dass es sich hierbei allesamt um Texte handelt, die tendenziell konzeptionell schriftlich sind. Der Bericht bezieht sich somit auswahlbedingt (nur) auf solche Texte, die vorrangig auch den Beurteilungsmaßstab der öffentlichen Wahrnehmung bilden. Ausgehend von dem alltagssprachlichen Verständnis von ‚Text‘ kommen wir nun zu dem entscheidenden Kriterium für die Beurteilung von Texten: die individuelle Erwartungshaltung des Lesers. Ob ein Text ein guter Text ist bzw. als guter Text wahrgenommen wird, entscheidet sich daran, inwieweit er den Erwartungen des Lesers gerecht wird. Es ist davon auszugehen, dass zweierlei diese Erwartung prägt: Erstens ist es das durch die öffentliche Sprachkritik vermittelte Wissen darüber, wie ein Text eines bestimmten Texttyps (vgl. Heinemann 2000) beschaffen sein sollte. Dabei ist anzumerken, dass das von der Sprachkritik gezeichnete Bild von guten Texten bzw. gutem Deutsch in erster Linie sprachpflegerisch motiviert und somit sprachkonservativ ist (vgl. Schrodt 2014, 268). So stellt Eisenberg (2009a, 62) fest, es sei „geradezu bestürzend“, wie direkt die Auflistung von Merkmalen für gutes Deutsch, die Dieter E. Zimmer zusammengestellt hat, an Listen erinnert, die im 19. Jahrhundert gängig waren. Zweitens prägt die individuelle Erwartungshaltung des Rezipienten sein implizites Textmusterwissen, also seine unbewusste, über Erfahrung gewonnene Kenntnis, wie ein Text dieses Texttyps (z. B. eine Gebrauchsanweisung) gewöhnlich beschaffen ist (vgl. Heinemann 2000, 516–519, siehe auch Fix 2008, 9–13). Dieser Aspekt des Musterwissens führt uns zu der Frage nach dem Normenverständnis, das der Textbeurteilung im öffentlichen Diskurs zugrunde liegt (vgl. dazu auch Niehr 2018). Die öffentliche Sprachkritik orientiert sich, wie oben dargelegt, tendenziell an konzeptionell schriftlichen Texten und richtet sich eher an einem präskriptiven Normenverständnis aus, das mit Begriffen wie ‚Regel‘, ‚Konvention‘, ‚Vorschrift‘ oder ‚Anweisung‘ assoziiert werden kann. In der Linguistik kann hingegen – stark vereinfacht und ungeachtet unterschiedlicher wissenschaftstheoretischer Ansätze – von einem Wandel gesprochen werden, der von einem präskriptiven Normenverständnis hin zu einem pragmatischen, gebrauchsbasierten Normenver 







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ständnis geführt hat (vgl. Kupietz/Keibel 2009; Zifonun 2009). Dieser Normenbegriff lässt sich in Verbindung bringen mit ‚Regelmäßigkeit‘, ‚Gesetzmäßigkeit‘, ‚Normalität‘, ‚Praxis‘. Daran anknüpfend kann man zugespitzt festhalten, dass das öffentliche Normenverständnis eher auf „Regeln schaffende oder Regeln vor-schreibende Normen“ abzielt: „SOLL-Sätze [werden] an eine für anders erkannte Realität heran[getragen] in der Absicht, diese Realität zu ändern“ (Nussbaumer 1991, 22). Dem Anliegen eines gebrauchsbasierten Normenverständnisses hingegen entsprechen „Regeln festschreibende Normen“: „Der Inhalt der Norm ist das, was der Fall ist“ (ebd.). Die Norm wird demnach anhand des tatsächlichen Sprachgebrauchs ermittelt. Oder anders gesagt: Der durchschnittliche Sprachgebrauch stellt die Norm – also die unauffällige Mitte – dar, mit welcher ein einzelner Text verglichen und damit der Grad seiner Typizität (vgl. Feilke 1996, 166) bestimmt werden kann. Entsprechend definiert Ulla Fix (2012, 29) einen guten Text als „typischen Vertreter seiner Klasse“. Als ‚gut‘ angesehen wird also, was das typische Muster erfüllt. Dabei ist zu bedenken: Entspricht ein Text in diesem Sinne dem Muster, liegt er ‚nur‘ im Durchschnitt, er fällt nicht negativ auf, sticht aber auch nicht positiv hervor. Unabhängig davon, welches Normenverständnis zugrunde liegt, muss ein guter Text bestimmten Erwartungen an formale Korrektheit, Aufbau, Wortwahl, Kohärenz, Leserführung u. a. genügen. Damit kommen wir zur Aufgabe der Schule. Ein zentrales Ziel in der Vermittlung von Schreibkompetenz ist es, dass die Schüler Texte verfassen können, die diese Ansprüche erfüllen. Hartmut Günther (2010, 131f.) stellt dazu fest:  

Kinder kommen in die Schule, um von Wissenden Lesen und Schreiben zu lernen und so in einer literalen Kultur wie der unseren sprachlich handlungsfähig zu werden, insbesondere mit jeder Art von Texten und Sprachformen mündlich wie schriftlich umgehen zu können. Diese Text- und Sprachformen sind durch die Bank genuin schriftlich oder schriftbasiert: Erzählungen, Berichte, Wörterbücher, Satzperioden, Vorträge etc., auch wenn sie im phonischen Medium daherkommen.

Im Mittelpunkt der schulischen Schreibausbildung steht demnach die Erziehung zur Schriftlichkeit. Konzeptionell schriftliche Texte stellen hier das Bildungsideal dar. Doch damit lässt sich nicht in allen Fällen das Ziel vereinbaren, die Schüler dazu zu befähigen, gute Texte zu verfassen. Deutlich wird dies, wenn wir einen Blick auf das interaktionsorientierte Schreiben werfen (vgl. zu diesem Terminus Storrer 2017). Dazu gehören Schreibweisen, die dazu geeignet sind, Mündlichkeit zu simulieren (z. B. durchgängige Majuskelschreibung oder Buchstabenwiederholungen wie in Das war SOOO schön; vgl. dazu Brommer 2012a). Auffälligkeiten wie diese entsprechen nicht den Erwartungen an konzeptionelle Schriftlichkeit, sie erfüllen nicht einmal die Vorgaben für sprachliche Richtigkeit; sie können aber funktional und bezogen auf den kommunikativen Zweck des Textes durchaus angemessen sein. Die Angemessenheit kann also mitunter der Richtigkeit zuwiderlaufen (vgl. Brommer 2012b, 43, siehe auch Brommer 2015). Martin Fix (2008, 33) schätzt das Kriterium der Angemessenheit gar als ausschlaggebend für die Güte eines Textes ein. Er schreibt, dass sich die Textqualität „nur in Bezug auf die Angemessenheit an die pragmatische Funktion, nicht  

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anhand isolierter Textsortennormen beschreiben“ lässt. In diesem Sinne sind ‚gute Texte‘ in erster Linie angemessene Texte, ungeachtet dessen, ob sie die Kriterien konzeptioneller Schriftlichkeit erfüllen und ob sie – gemessen an formalen Vorgaben zu Orthographie und Grammatik – richtig sind.

5 Gut, gut, gut In unseren Ausführungen zu Schrift und Schreiben spielt das Adjektiv gut eine entscheidende Rolle. Es steht nicht nur in den Abschnittsüberschriften, es ist der rote Faden, der sich durch den ganzen Beitrag zieht. So ging es nach einem Überblick über die Themen, die im öffentlichen Diskurs rund um das Schreiben verhandelt werden (Abschn. 1), um die ‚gute Schrift‘ (Abschn. 2), dann legten wir den Schwerpunkt auf die ‚gute Rechtschreibung‘ (Abschn. 3) und das Schreiben von ‚guten Texten‘ (Abschn. 4). Das Wörtchen gut sollte hier jeweils andeuten, in welche Richtung der öffentliche Diskurs über das Schreiben geht. Denn wie wir gesehen haben, enthalten die Medienberichte oft nicht nur eine Bestandsaufnahme (z. B.: Wie schreiben die Studierenden heute? Wie schreiben Schülerinnen und Schüler?), sondern auch eine Wertung (Schreiben sie gut? Schreiben sie schlecht?). In diesem Zusammenhang wurde auch gezeigt, dass solche Wertungen immer relativ sind. Sie hängen davon ab, welche Textsorte man betrachtet, welche Normen man ansetzt, welche Erwartungen man mit dem Schreiben von ‚guten‘ Texten verbindet – und nicht zuletzt, ob man eher die Rechtschreibung oder den Schreibstil im Blick hat. So kann es durchaus sein, dass man einen Text in orthographischer Hinsicht als gelungen betrachtet, in stilistischer Hinsicht aber als schlecht. Das bringt uns nun zu der abschließenden Frage, wie sich die Bedeutung von ‚gut‘ allgemein, d. h. unabhängig von einzelnen Themenfeldern (wie z. B. der Rechtschreibung), fassen lässt und welche Vorschläge man hierzu in der Fachliteratur findet. So trägt der oben bereits erwähnte Beitrag von Peter Eisenberg im Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache den Titel „Richtig gutes und richtig schlechtes Deutsch“. Dieser Titel lässt vermuten, dass man hier Informationen dazu findet, was aus sprachwissenschaftlicher Sicht ‚gutes Deutsch‘ bzw. – mit Blick auf unser Thema – ‚gutes Schreiben‘ ist. Doch Eisenberg (2009a, 53) stellt gleich zu Beginn klar:  





Wenn ein Sprachwissenschaftler das Thema ‚Richtig gutes Deutsch‘ aufgreift, kann mit einem gewissen Recht erwartet werden, dass er sich um die immer wieder geforderte sprachwissenschaftliche Explikation des Begriffs bemüht. Um es gleich zu sagen: Das wird nicht geschehen.

In der Folge begründet er diesen Standpunkt ausführlich, dann folgt der Versuch eines Brückenschlages zwischen der Sprachwissenschaft auf der einen und dem Anliegen im öffentlichen Diskurs auf der anderen Seite. Im Ganzen kann der Beitrag mit Gewinn gelesen werden, doch gibt er, wie bereits erwähnt, keine abschließende Antwort auf die Frage, was gutes Deutsch ist (plädiert aber dafür, sich von Seiten der

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Sprachwissenschaft weiterhin an dieser Diskussion zu beteiligen). Wenden wir uns deshalb einem anderen Titel zu, der ausschließlich der Frage nach dem ‚guten Deutsch‘ gewidmet ist, von Armin Burkhardt herausgegeben wird und sich an eine breite Leserschaft richtet. Dieser Band will, so heißt es im Klappentext, „wissenschaftlich begründeter Anstoß sein, wieder vermehrt über die Frage der Sprachnormen nachzudenken und zu diskutieren.“ Im Buch stößt man denn auch auf interessante, für unser Thema vielversprechende Beiträge mit Titeln wie „Was ist eine ‚gute‘ Aussprache?“, „Was sind gute Entlehnungen bzw. gute Verdeutschungen?“, „Was ist ein gutes Alltagsgespräch?“. Darunter ist auch ein Beitrag von Margot Heinemann, der unter der Überschrift „Was ist ein guter Text?“ steht. Jedoch ist dieser Beitrag – anders als es der Titel verspricht – letztlich wenig erhellend: Er kommt zu dem Schluss, „dass es den GUTEN TEXT AN SICH (Hervorhebung im Orig.) nicht gibt (oder er noch nicht gefunden wurde)“ (Heinemann 2007, 169). Ein weiterer Beitrag aus dem Band, der von Barbara Sandig stammt, trägt den Titel „Guter Stil“. Hier wird einleitend auf die Bedeutung des Wörtchens gut Bezug genommen. Dies führt uns zurück zu der Frage, wie sich die Bedeutung dieses Wortes genauer fassen lässt. Barbara Sandig (2007, 157) schreibt dazu: Das Wort gut bedeutet: ‚bezogen auf einen Bewertungsmaßstab über dem Durchschnitt liegend‘, überdurchschnittlich. Ein Bewertungsmaßstab gibt eine Skala vor mit den Polen ganz schlecht bis hervorragend o. ä. […]. Bewertungsmaßstäbe können größeren oder kleineren Gruppen eigen sein: einer ganzen Kultur, einer Subkultur, einem Verein …  

Weiter führt Sandig aus, dass es konventionelle Bewertungsmaßstäbe gebe, die in einer Gesellschaft fraglos gelten, und andere, die als Normen institutionell gesetzt sind und deren Verletzung sanktioniert wird. Zu Letzteren zählt sie die Rechtschreibnorm, und tatsächlich ist diese ja nicht nur institutionell gesetzt, sondern in einer amtlichen Regelung festgeschrieben. Daraus ließe sich nun folgern, dass auf der Ebene der Rechtschreibung die Frage, was als ‚gut‘ gilt, schnell beantwortet ist. Doch was heißt es, wenn man von einem Schüler sagt, er habe eine gute Rechtschreibung? Bedeutet dies, dass alle seine Texte fehlerfrei sind? Oder heißt es nur, dass sich in seinen Texten – im Vergleich zu den Texten seiner Mitschüler – wenige bis gar keine Rechtschreibfehler finden? Um nochmals auf unsere vorherigen Ausführungen zurückzukommen: Gut lässt sich demnach nicht nur als ‚musterhaft‘ im Sinne eines gebrauchsbasierten Normenverständnisses (gut = typisch = durchschnittlich), sondern auch als ‚musterhaft‘ im Sinne von ‚beispielhaft‘, ‚nachahmenswert‘ verstehen. Gut kann auch meinen, dass eine bestimmte Leistung über dem Durchschnitt liegt, was aber nicht notwendigerweise heißt, dass sie perfekt ist. Das gilt ebenso für die Feststellung, jemand verfüge über einen guten Stil, wie für die Aussage, er habe eine gute Rechtschreibung. In beiden Fällen beurteilt man nicht den einzelnen Text, sondern gewissermaßen den ‚Texter‘, d. h. denjenigen, der hinter dem Text steht. Was die Rechtschreibung betrifft, so bedeutet dies, dass es nicht darum geht, ob in einem einzigen Text, um mit Sandigs  

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Worten (2007, 157) zu sprechen, die institutionell gesetzten Normen eingehalten werden. Das lässt sich durch die Konsultation eines Rechtschreibwörterbuchs schnell überprüfen – und somit lässt sich auch schnell eine Aussage dazu machen, ob der Text richtig geschrieben ist. Eine gute Rechtschreibung ist aber mehr als das. Es ist die Fähigkeit, über viele Texte hinweg (quasi) fehlerfrei schreiben zu können. Dabei stellt sich wiederum die Frage nach dem Bewertungsmaßstab: Welche Personengruppe gilt als Vergleichsgröße bei der Bestimmung dessen, was überdurchschnittlich ist? Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit man einen Schreiber als einen guten Rechtschreiber beurteilt? Hier wiederum sind nur kontextabhängige Antworten möglich; ein einzelner Text, der der Rechtschreibnorm entspricht, ist in diesem Sinne (d. h. produktbezogen) zwar gut (= richtig), als Hinweis auf eine gute (= überdurchschnittliche) Rechtschreibung (d. h. produzentenbezogen) genügt das aber nicht. Abschließend sei nun nochmals auf die Lesart des Adjektivs gut eingegangen, die nicht auf Überdurchschnittlichkeit, sondern auf Musterhaftigkeit und Prototypizität Bezug nimmt (vgl. dazu auch Brommer 2015). Folgt man den Ausführungen von Ulla Fix zum Thema ‚Andersschreiben‘, dann ist ein guter Text „ein typische[r] Vertreter seiner Klasse“ (Fix 2012, 29). Weiter bringt Fix, wie bereits weiter oben dargelegt, die Kategorie ‚Erwartung‘ ins Spiel und führt aus, dass diese eine bestimmte Verhaltensdisposition sei, die der Rezipient einnehme und von seinem Wissen über Normen (System-, Regelwissen) und Muster (prototypisches Wissen) gespeist sei. Nach Fix kommen solche Erwartungen sowohl beim Verfassen von Texten als auch bei der Textrezeption und der damit zwangsläufig einhergehenden Textbewertung zum Tragen (vgl. Fix 2008, 12 und 18). Sie sind also prinzipiell auf künftige, noch ausstehende Handlungen gerichtet. Doch kann man dies auch retrospektiv deuten. Danach gilt, auf dem Konzept der Prototypizität aufbauend (in dem auch zugestanden wird, dass ein subjektives, vom eigenen Sprachempfinden abhängiges Moment enthalten ist): 1. Ein guter Text ist ein Text, der den Erwartungen des Rezipienten entspricht. 2. Die Erwartungen des Rezipienten an einen Text resultieren aus seinem Wissen über die Normen und Muster, die für einen Text dieser Textsorte gelten. Bezogen auf das gute Schreiben bedeutet dies, dass ein gutes Schreiben ein Schreiben ist, das die Erwartungen des Lesers erfüllt. Gut rückt damit in die Nähe von angemessen. Dabei ist jedoch zweierlei zu beachten: Zum einen liegt die Beurteilung eines Textes als ‚gut‘ bzw. als ‚angemessen‘ auf verschiedenen Bewertungsebenen. Ein Text kann aufgrund linguistischer Kriterien als angemessen gelten, muss aber vom Leser nicht als gut empfunden werden. Zum anderen ergibt sich daraus die Konsequenz, dass der Maßstab für die Bewertung, zugespitzt gesagt, nur an die Einschätzung des jeweiligen Rezipienten gebunden ist. Diese aber kann, je nach den Erwartungen, die an einen Text herangetragen werden, stark variieren. Und selbst wenn es für bestimmte Textsorten (z. B. Bewerbungsschreiben per Post, Nachrichten auf Twitter) bestimmte Erwartungshorizonte gibt, so weisen auch diese große Unterschiede auf. Was für die einen im Kontext von Twitter als passende Ausdrucksweise  









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Christa Dürscheid und Sarah Brommer

erscheint, mag für die anderen ein Grund zur Besorgnis sein. Hinzu kommt, dass es in unserer Gesellschaft tief verwurzelte Normen gibt, die solche Bewertungen steuern und eine gruppenstiftende Funktion haben können. So ist denn auch das Kriterium der Angemessenheit letztlich variabel und führt uns zu der Frage, ob das, was als ‚angemessen‘ gilt, überhaupt intersubjektiv bestimmbar ist (vgl. dazu aber Kilian/ Niehr/Schiewe 2013). Das würde aber auch bedeuten, dass die Antwort auf die Frage, was angemessen ist, jedem Einzelnen selbst überlassen werden muss. Doch damit würde man es sich zu leicht machen: Denn nicht nur in der Schule wird vermittelt, was es heißt, einen Text zu schreiben, der dem Konzept der Angemessenheit genügt; wie wir gesehen haben, besitzen wir alle eine Vorstellung davon, was in einem Text angemessen bzw. unangemessen ist. Es gibt also gute Gründe dafür, das Konzept der Angemessenheit operationalisierbar zu machen.

6 Literatur Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München. Brommer, Sarah (2007): „Ein unglaubliches Schriftbild, von Rechtschreibung oder Interpunktion ganz zu schweigen“ – Die Schreibkompetenz der Jugendlichen im öffentlichen Diskurs. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 35, 3, 315–345. Brommer, Sarah (2012a): Lachen, weinen, schreien mittels Tastatur – Ein konzentrisches Modell zur graphostilistischen Normerweiterung. In: Der Deutschunterricht: Orthographische und grammatische Spielräume 1/2012, 25–35. Brommer, Sarah (2012b): Textadäquatheit als Indiz für Schreibkompetenz – warum „falsches“ Schreiben in den neuen Medien „richtig“ ist. In: Germanistische Mitteilungen, 38, 1, 25–46. Brommer, Sarah (2015): Sprachliche Muster als Indikator für die Angemessenheit eines Textes – Grundlagen einer automatisierten Text- und Stilanalyse. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur, 2, 121–130. Burkhardt, Armin (Hg.) (2007): Was ist gutes Deutsch? Studien und Meinungen zum gepflegten Sprachgebrauch. Mannheim. Coulmas, Florian (1981): Über Schrift. Frankfurt a. M. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hg.) (2013): Reichtum und Armut der deutschen Sprache. Erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache. Berlin/Boston. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hg.) (2017): Vielfalt und Einheit der deutschen Sprache. Zweiter Bericht zur Lage der deutschen Sprache. Tübingen. Dürscheid, Christa (2016): Einführung in die Schriftlinguistik. Mit einem Kapitel zur Typographie von Jürgen Spitzmüller. 5., aktualisierte und korrigierte Auflage. Göttingen. Dürscheid, Christa/Franc Wagner/Sarah Brommer (2010): Wie Jugendliche schreiben. Schreibkompetenz und neue Medien. Mit einem Beitrag von Saskia Waibel. Berlin/New York. Dürscheid, Christa/Karina Frick (2016): Schreiben digital. Wie das Internet unsere Alltagskommunikation verändert. Stuttgart. Ehlich, Konrad (1983): Development of writing as social problem solving. In: Florian Coulmas/Konrad Ehlich (Hg.): Writing in Focus. Berlin, 99–131.  

Schrift und Schreiben in der gegenwärtigen Sprachreflexion

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Christa Dürscheid und Sarah Brommer

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Birte Arendt

14. Wie sagt man hier? Bewertungen von Dialekt, Regionalsprache und Standard im Spannungsfeld regionaler Identität und sozialer Distinktion Abstract: Der Artikel fokussiert die Beurteilung insbesondere dialektaler, sowie regional- und standardsprachlicher Äußerungen als Spracheinstellungen. Ausgehend von allgemeinen Befunden zu sprachinduzierten Kategorisierungsprozessen, zur Kontextsensitivität sowie zur Relation zwischen Einstellung und Verhalten werden aktuelle Befunde in vertikaler Perspektive, bezogen auf das Dialekt-Standard-Kontinuum, und horizontaler Blickrichtung, bezogen auf die Binnendifferenzierung der Dialektbeurteilungen, präsentiert. Zentral sind hierbei sozial orientierte Identitätsprozesse auf der Basis stereotyper Zuschreibungen an Dialektsprecherinnen und -sprecher sowohl unter Laien als auch in den Medien. Exemplarisch werden qualitative Befunde zu puristischen Normen und präskriptiven Korrekturen anhand des Niederdeutschen vorgestellt, die als Einstellungsmanifestationen den Gebrauch prägen.  

1 2 3 4 5 6

Dialektbeurteilungen als Spracheinstellung Spracheinstellungen: Sprecherbewertung, Kontextsensitivität und Sprachgebrauch Dialektbeurteilungen im Überblick Beurteilungen von Niederdeutsch Fazit Literatur

1 Dialektbeurteilungen als Spracheinstellungen Bewertungen von Sprachen und Sprachgebrauch, insbesondere kritischer und explizit evaluativer Art, werden in der deutschsprachigen Öffentlichkeit überwiegend nicht von Linguistinnen und Linguisten – aufgrund ihrer „Wertungsabstinenz“ (Schneider 2011, 73) – getätigt, sondern von linguistischen Laien (vgl. Schneider 2011; Kilian/ Niehr/Schiewe 2010, 56ff.). Studien zur Laienlinguistik (vgl. Antos 1996) und zur laienlinguistischen Sprachkritik und -reflexion (vgl. Paul 1999; Spitzmüller 2005; Kilian/Niehr/Schiewe 2010) zeigen sehr deutliche Schnittstellen zwischen öffentlich präsentierten Sprachthematisierungen und Kommentaren von Sprecherinnen und Sprechern, die – aufgrund unterschiedlicher diskursiver Bedingungen in den Kommunikationsbereichen Wissenschaft und Öffentlichkeit – zugleich partiell in einem  

https://doi.org/10.1515/9783110296150-015

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Birte Arendt

eklatanten Widerspruch zu linguistischen Sprachkonzepten stehen. Auf der Grundlage dieser Befunde widmet sich der folgende Beitrag maßgeblich Äußerungen linguistischer Laien, ihrem (meta-)sprachlichen Wissen, ihren emotiven Bewertungen und subjektiven Wahrnehmungen. Gleichwohl darf diese Ausrichtung nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Laien, auch den öffentlich wahrnehmbaren, um eine heterogene Akteursgruppe handelt, die Sprachbewertungen in diversen Rollen und mit polyfunktionaler Ausrichtung tätigt. Die Erforschung von Sprach- und insbesondere Dialekteinstellungen bildet spätestens seit den 1970er-Jahren – ausgehend von einer soziolinguistischen Orientierung (vgl. Kerswill 2004) – einen Bestandteil dialektologischer Forschung, wo sie als ‚subjektive‘ von ‚objektiven‘ Sprachdaten abgegrenzt werden. Dieser Untersuchungskomplex ist heute im Spannungsfeld von Dialektsoziologie (vgl. Mattheier 2005) und Wahrnehmungsdialektologie (vgl. Anders 2010) angesiedelt und tangiert zugleich Studien zur Sprachideologie (vgl. Moschonas in diesem Band) und Folk Linguistics (vgl. Preston in diesem Band; Garrett 2010, 179 ff.). Sprachbeurteilungen sind der linguistischen Forschung zumeist nur in mittelbarer Art zugänglich: Allein durch einen rekonstruktiven Zugriff auf Anschlusshandlungen, wie z. B. Antworten zu metasprachlichen, dialektevaluativen Fragen oder Kommentare zu sprachlichen Stimuli, werden Beurteilungen und mithin Wissensbestände zu verschiedenen Varietäten erschließbar. Neben der Fokussierung auf kommunikative Anschlusshandlungen bildet die Untersuchung des Gebrauchs in verschiedenen Kontexten eine Möglichkeit, zumeist implizites Wissen über Verwendungsdomänen und Gebrauchsnormen sowie über den Zusammenhang von Sprache und Identität, von regionaler und sozialer Verortung entlang des Kontinuums zwischen Dialekt und Standard zu untersuchen. Die zentralen, das Einstellungsobjekt benennenden Termini Dialekt, Regionalsprache und Standardsprache werden innerhalb der Linguistik heterogen, mit partiell unterschiedlichen Referenzbereichen zumeist aber in Relation zueinander verwendet und stark diskutiert, wodurch eine Definition sowie deren Differenzierung an dieser Stelle notwendig, wenngleich auch nur eingeschränkt möglich ist (vgl. zur Diskussion der Termini u. a. Mattheier 1990, 2005; Britain 2004; Wiesinger 1980). Grundsätzlich unterscheiden sich die Varietäten hinsichtlich ihres regionalen Geltungsbereichs, ihrer sprachstrukturellen Differenzen zueinander (Fokussiert werden hierfür die phonetische sowie die morphologische Ebene.), ihren Gebrauchsdomänen sowie ihrer Kodifizierung. Für den deutschen Sprachraum ist vor allem in Bezug auf die ober- und mitteldeutschen Mundarten von einem vertikal gegliederten Dialekt-Standard-Kontinuum auszugehen, dessen Ausprägungen in distinkten regionalsprachlichen Sprachlagen unterschiedliche Dialektalitätsgrade aufweisen (vgl. Schmidt/Herrgen 2011; Kehrein 2012). Im Rahmen dieses Beitrages wird Dialekt in Übereinstimmung mit der deutschsprachigen Tradition als eine kleinräumig begrenzte Varietät angesehen, die sich durch distinkte Merkmale auf verschiedenen Sprachebenen von der Standardsprache  





Bewertungen von Dialekt, Regionalsprache und Standard

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unterscheidet und als nicht kodifizierte Varietät insbesondere in der mündlichen informellen Alltagskommunikation verwendet wird. Die Regionalsprache, partiell auch als regionaler Gebrauchsstandard, Substandard, Umgangssprache und landschaftliches Hochdeutsch bezeichnet, ist weniger kleinräumig sprachlich geprägt, allgemein verständlich, markiert einen größeren Sprachraum, verfügt über „eine gemeinsame großlandschaftliche Oralisierungsnorm als Prestigesprachlage“ (Kehrein 2012, 37; vgl. Schmidt/Herrgen 2011) und bildet die allgemein gebräuchliche mündliche Kommunikationsbasis. Dieser Definition entsprechen partiell auch dialektal markierte Sprechweisen, die z. B. in den Medien verwendet werden und sich durch eine deutliche Nähe zum Pol der Standardsprache auszeichnen. Durch die Kombination prototypischer Merkmale in Form von spezifischen Clustern wird bei der medialen Stilisierung eine dialektale Färbung indiziert, die als Markierung intendiert ist. Die Standardsprache besitzt überregionale Geltung, zeichnet sich nicht durch kleinräumig begrenzte Formen aus, unterliegt einer Kodifizierung (vgl. Ammon 1995) und bildet die Grundlage der schriftlichen Kommunikation. Differenzen bestehen zugleich auf evaluativer Ebene, da die Standardsprache sowie deren Gebrauch prestigebesetzt sind (vgl. Abschn. 3.1). Die Heterogenität der Bezeichnungen des Einstellungsobjektes innerhalb der Linguistik setzt sich als Problem innerhalb alltagsweltlicher Sprachbewertung von Laien in Form der rekonstruktiven Gegenstandskonstitution fort, da eben z. B. insbesondere in Fragebogenerhebungen nicht eindeutig zu klären ist, welches Referenzobjekt mit den Dialektbezeichnungen, wie z. B. Pfälzisch, verbunden wurde, welche Dialektmerkmale assoziiert wurden und von welchem Dialektkonzept die Laien ausgehen (vgl. Arendt 2011). Der enge Zusammenhang zwischen Sprache und Identität gehört zu den Prämissen linguistischer, insbesondere soziolinguistischer Forschung. Identität kann mit LaBelle (2011, 174) als Art, wie Menschen sich selbst präsentieren und die Art, wie sie von anderen wahrgenommen und bewertet werden, definiert werden. Die sprachlichen Identitätsbildungsprozesse werden von sprachlichen Äußerungen und deren Einordnung auf der Basis von Sprachwissen und mithin von Spracheinstellungen entscheidend geprägt. Innerhalb aktueller metapragmatischer und sprachideologischer Studien wird dieser Aspekt unter den Stichworten soziale Indexikalität und Positionierung diskutiert (vgl. Spitzmüller 2013). Dem Dialekt als räumlich begrenzter Sprechweise wird maßgeblich die Funktion attestiert, die Sprechenden in einem geographischen Kontinuum zu verorten und somit regionale Identität zu manifestieren. In diesem Beitrag wird es darüber hinaus aber auch darum gehen, dass mit dialektalem Sprechen auch soziale Identitätsaspekte kommuniziert werden können. Das Ziel des Beitrages ist es, vor dem Hintergrund einer knappen theoretischen Präzisierung von Spracheinstellungen im zweiten Teil, im dritten Abschnitt empirische Befunde aus quantitativ orientierten Befragungen und Gebrauchsanalysen aus den Massenmedien zu referieren. Der vierte Teil fokussiert das Niederdeutsche, da die Bewertungen hier eine lange, auch schriftlich fixierte Geschichte haben und anhand  





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dessen exemplarisch vertiefte, qualitative Einsichten zu restriktiven Sprachnormen präsentierbar sind. Der Beitrag unterliegt einer notwendigen Beschränkung auf empirische Befunde zur Sprach- und Bewertungssituation in Deutschland. Diese Spezialisierung verdankt sich der Einsicht, dass die Dialektbeurteilungen maßgeblich vom Verhältnis der Dialekte zu einer möglichen überregionalen Verkehrssprache, wie es in Deutschland das Standarddeutsche darstellt, sowie von sprachhistorischen Entwicklungen, der sprachstrukturellen Gliederung des Dialekt-Standard-Kontinuums sowie usuellen Gebrauchsmustern abhängen. Dadurch sind die Dialektbeurteilungen je nach fokussiertem Sprachenraum unterschiedlich. Zur Situation in der deutschsprachigen Schweiz vergleiche exemplarisch Christen/Ziegler 2008; Hofer 2002; in Österreich Soukup 2009 und in Europa sowie unter globaler Perspektive Garret 2010; Nelde 1990; Trudgill 1999.

2 Spracheinstellungen: Sprecherinnen- und Sprecherbewertung, Kontextsensitivität und Sprachgebrauch Die diversen heterogenen Definitionen von Spracheinstellungen verdanken sich unterschiedlichen theoretischen Fundierungen zwischen (Sozio-)Linguistik und Sozialpsychologie (vgl. dazu auch den Beitrag von Soukup in diesem Band). Grundsätzlich lassen sich die folgenden Charakteristika festhalten: Spracheinstellungen sind individuell ausgeprägte, sozial bedingte, kollektiv verankerte metasprachliche Bewertungsstrukturen, die in der Sprachsozialisation erworben und in Interaktionen manifestiert, tradiert und modifiziert werden. Objekt der Beurteilung sind Sprachen, Sprachgebrauch und/oder Sprechergruppen. Einschlägig für diesen Forschungsbereich ist das aus der Sozialpsychologie entlehnte Konzept der Einstellung, das auf der Grundlage des Drei-Komponenten-Modells von Katz/Scotland (1959) Einstellungen als Kombination der drei konzeptionell unterschiedlichen Arten von Erfahrungen und Reaktionen in Bezug auf ein Objekt nicht allein in affektiver, sondern zugleich in kognitiver und volitiver Hinsicht begreift (vgl. Bierhoff 1998, 237). Als Zugänge zu Spracheinstellungen können metasprachliche Äußerungen, das Sprachverhalten oder direkte Reaktionen auf perzipierte Sprachäußerungen (vgl. Abb. 1) dienen. Jede dieser Einstellungsmanifestationen bietet immer nur einen Ausschnitt aus dem Komplex der Spracheinstellungen eines Individuums.

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Abbildung 1: Dreipoliges Modell von Spracheinstellungsmanifestationen (Arendt 2011, 137)  

Zur Erhebung von Einstellungsäußerungen haben sich sowohl direkte als auch indirekte sowie quantitativ und qualitativ ausgerichtete Methoden etabliert, die je unterschiedliche Aspekte des Gegenstandes erfassen (vgl. Abschn. 3.2 vs. 4.2 sowie Vandermeeren 1996). Im vorliegenden Beitrag werden Einstellungsäußerungen sowie Sprachverhalten fokussiert. Die Reaktionen auf perzipierte Sprachäußerungen bilden einen Schwerpunkt der Wahrnehmungslinguistik. Da Sprachen erstens nicht als Epiphänomen wahrnehm- und beurteilbar sind, und der konkrete Sprachgebrauch zweitens sozialsymbolisch bedeutsam werden kann, sind deren Bewertungen aufs Engste mit Bewertungen von Sprecherinnen und Sprechern sowie sozialen Gruppenbildungsprozessen verbunden, die als semiotischer Prozess aktuell durch Sprachideologiestudien beforscht werden (vgl. Irvine/Gal 2000; Androutsopoulos 2010b). Das führt zumeist zur wechselseitigen Attribuierung von evaluativen Charakteristika sowohl an eine sprachliche Varietät in Abhängigkeit von prototypischen Sprechergruppen als auch an die Nutzerinnen und Nutzer dieser Varietät in Abhängigkeit vom Wissen z. B. über typische Verwendungskontexte. Spracheinstellungen sind allgegenwärtig und „permeate our daily lives“ (Garrett 2010, 1). Wenngleich nicht alle Spracheinstellungen öffentlich artikuliert werden, so darf ihre kategoriale Ordnungsfunktion in Bezug auf sprachliche Varietäten wie auch auf deren Nutzerinnen und Nutzer nicht unterschätzt werden. So belegen laut Ammon (2006, 1769) zahlreiche Studien, dass in Deutschland „bevorzugt in den bildungsfernen, unteren Sozialschichten ländlicher Regionen“ am konsequentesten Dialekt verwendet und erhalten wird, wodurch Dialekt in ausgeprägter Form als sozial markiert gilt. Grundlage dieser zumeist von Auto- und Heterostereotypen sowie Vorurteilen (vgl.  

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Riehl 2000; Bourhis/Maass 2005; Garrett 2010, 32 f.) geprägten sprachinduzierten Kategorisierungsprozesse ist erstens die sozialsymbolische Funktion von Sprache: Durch die Variabilität des Sprachgebrauchs können die Varianten und mithin die dialektalen Varietäten einen semiotischen Mehrwert erhalten, der als mehr oder weniger bewusster Ausdruck von Identität gedeutet wird (vgl. Hess-Lüttich 2004). Da diese Attribuierungen zumeist unbewusst ablaufen, sind sie einerseits schwer erforschbar – das Kriterium der sozialen Erwünschtheit führt in Befragungen zumeist zu toleranten Antworten, die Stereotype und Klischees vermeiden (vgl. Riehl 2000) – andererseits aber die für sprachlich bedingte soziale Urteilsbildung insbesondere in der Schule hochgradig relevant (vgl. Neuland 1988). Zweitens weisen zahlreiche Studien darauf hin, dass Dialekte nur schwer von Soziolekten zu trennen sind und Dialektgebrauch die Sprechenden sowohl regional als auch sozial verortet (vgl. Chambers/Trudgill 1980). Aktuelle linguistische Studien betonen auf der Basis von Theorien der interpretativen Soziologie, insbesondere der Konversationsanalyse, und der diskursiven Psychologie die Kontextsensitivität von Sprachthematisierungen (vgl. Tophinke/Ziegler 2006; Arendt 2011). Das heißt, dass die Äußerungen mit dem Kontext interagieren und in Relation zu ihm interpretiert werden müssen: Sie sind einerseits von ihm abhängig durch typische Restriktionen, z. B. in Bezug auf mögliche Akteursrollen eines Kommunikationsbereiches (vgl. Antos 1996; Spitzmüller 2005; Arendt 2010; Kilian/Niehr/ Schiewe 2010). Andererseits konstituieren die Äußerungen selbst den Kontext, wenn von einem reflexiven Kontextbegriff ausgegangen wird und die Spracheinstellungsäußerungen als Kontextualisierungs- und Positionierungsaktivitäten begriffen werden. Im Rahmen dieser Kontextsensitiviät wird auch die Gegenstandskonstitution in der Erhebung reflektiert, wenn z. B. die bei Laien und Linguistinnen und Linguisten unterschiedlichen Dialektkonzepte problematisiert werden (vgl. Mattheier 2005; Arendt 2011). Zugleich führten diese Einsichten auf methodischer Ebene zu einer verstärkt qualitativen Orientierung wie z. B. in diskurslinguistischen Studien (vgl. Spitzmüller 2005; Arendt 2010). Wenngleich ein enger Zusammenhang zwischen der Bewertung einer Varietät und dem Sprachgebrauch besteht (vgl. Mattheier 2005), Sprecherinnen und Sprecher bestimmte Sprachvarietäten in ihren Einstellungen und Verhaltensweisen mit bestimmten kommunikativen Domänen assoziieren (vgl. Vandermeeren 1996) und einige Spracheinstellungsuntersuchungen mit einem Anspruch an die Daten herangegangen sind, zukünftigen Gebrauch vorherzusagen (vgl. Plewnia/Rothe 2012, 20 ff.), so ist die Interaktion der verschiedenen Einstellungsmanifestationen bei weitem nicht monokausal und linear (vgl. Garrett 2010, 24 ff.). Vielmehr zeigten sich in Studien vermehrt Inkonsistenzen, z. B. dergestalt, dass die Befragten ein Sprachverhalten realisieren, das sie in bewussten Reflexionen ablehnen. Diese „Unstimmigkeiten“ lassen sich erstens aus der unterschiedlichen Art der Wissensbestände erklären: Usuelles unreflektiertes Gebrauchswissen steuert maßgeblich das konkrete Sprachverhalten, explizites reflektiertes metasprachliches Wissen steuert den verbalisierten Kommentar in Befragungen. Zweitens hängt der Gebrauch einer Sprache auch von weiteren  













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Faktoren wie Kompetenz, früherem Verhalten, Verhaltensalternativen (vgl. Vandermeeren 1996) sowie sozialsymbolischen Komponenten ab (vgl. Hess-Lüttich 2004). Drittens sind sowohl die geäußerten Spracheinstellungen als auch der konkrete Sprachgebrauch in die jeweiligen Kontexte eingebettet und erfüllen dort u. U. spezifische Funktionen. Und viertens sind grundsätzlich ganz unterschiedliche Arten des Dialektgebrauchs hinsichtlich Gebrauchsmustern und Dialektalitätsgrad zu unterscheiden, was in Befragungen zumeist unberücksichtigt bleibt.  

3 Dialektbeurteilungen im Überblick Die Bewertung von dialektalen Sprechweisen, Varianten oder Sprechergruppen erfolgt nach ähnlichen Mustern wie die Beurteilung anderer sprachlicher Varietäten. Die Forschung zu laienlinguistischer Sprachkritik weist darauf hin, dass beispielsweise metasprachliche Metaphern wie Sprachverfall, negativ konnotierte Sprachvermischung im Gegensatz zu positiv konnotierter Sprachreinheit, übergreifende Bewertungsstrukturen sprachlicher Phänomene im Alltagswissen anzeigen (vgl. Kilian/ Niehr/Schiewe 2010, 86 ff.). Gleichwohl gibt es hinsichtlich der sozialen Dimension eklatante Unterschiede zwischen Dialekt und Standardsprache, da die kommunikative Reichweite und der Gebrauch des Dialektes in Deutschland vergleichsweise gering sind. Es zeigt sich hier deutlich, dass die Beurteilung nicht auf der Grundlage phonologisch-morphologischer Elemente einer spezifischen Varietät erfolgt (vgl. Hundt 2011), sondern dass diese als distinktiv wahrgenommenen sprachstrukturellen Besonderheiten mit semiotischem Sinn aufgeladen und entsprechend interpretiert werden (vgl. auch Maitz/Elspaß 2011). Obgleich die Beurteilung von Varietäten wie auch den Dialekten historisch gebunden sind und auf tradierten Sprach- und Sprachnormenkonzepten beruhen, können an dieser Stelle die historischen Dialektbeurteilungen nicht referiert werden. Erwähnenswert ist in Deutschland dennoch eine maßgeblich seit dem 19. Jahrhundert beginnende Tendenz zur Dialektvermeidung (vgl. Polenz 1999, 232ff.), was mit einer Pejorisierung – der zunehmend als ungebildet geltenden Dialektsprecherinnen und -sprecher (vgl. Mattheier 1980, 161) – und Marginalisierung der Dialekte einherging. Verstärkt wurde Letzteres, da die bürgerliche Schicht zur Inszenierung ihrer Identität den Nachweis von Bildung, transportiert durch eine Standardsprachkompetenz, nutzte (vgl. Linke 1995). Eine dezidierte Mundartwelle in den 1970er-Jahren sah Dialekte als Bereicherung der Ausdrucksmöglichkeiten an und führte zu einer Steigerung des Dialektgebrauchs. Im Zuge der Bernstein-Rezeption kam es zu einer Sensibilisierung für dialektinduzierte Schulschwierigkeiten, denen man in der Reihe „HochdeutschDialekt kontrastiv“, den so genannten ‚Fehlerheften‘, begegnen wollte (vgl. Ammon 2006, 1769). Bei allem guten Willen dieser Kompensationsbemühungen wurde mit dieser Betrachtung der Topos von dialektbedingten Schulschwierigkeiten, der spätestens seit dem 19. Jahrhundert nachweisbar ist, weiter tradiert.  

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3.1 Vertikale Dimension: warme Dialekt- und kompetente Standardsprecherinnen und -sprecher Die Beurteilung räumlich gebundener Sprechweisen wie den Dialekten erfolgt nicht losgelöst von anderen sprachlichen Varietäten, sondern stets in Relation dazu. Um diese Relationen zu verdeutlichen, werden im Folgenden die Bewertungen von Dialekt zunächst in einer vertikalen Dimension im Vergleich mit der Standardsprache vorgestellt (3.1) und dann in einer horizontalen Perspektivierung unterschiedliche Dialektbeurteilungen verglichen (3.2). Die referierten Studien sind primär quantitativ ausgerichtet. Abschließend wird die Dialektverwendung in der Öffentlichkeit exemplarisch anhand des Fernsehens beleuchtet (3.3). Die sozial und kognitiv tendenziell defizitären Attribuierungen an Dialektsprecherinnen und -sprecher haben eine lange Tradition. Aktuell konnten Schoel/Stahlberg (2012) das Stereotyp „Hochsprache = Kompetenz“ bestätigen, das zur kollektiven Zuschreibung von mehr Kompetenz an eine standardnutzende Sprechergruppe im Vergleich zu einer dialektnutzenden Gruppe führt. Letzterer wurde im Gegensatz dazu „Wärme“ zugeschrieben. Diese Attribuierung lässt sich neben der historischen Tradierung mit typischen Verwendungskontexten der unterschiedlichen Varietäten erklären: Während dialektale Varietäten in Deutschland primär in informellen Situationen maßgeblich in der Familie genutzt werden, zeigt sich in der institutionellen wie auch massenmedialen Öffentlichkeit die Dominanz des Standarddeutschen (vgl. Stickel 2012, 312). Charakteristika der Kommunikationssituation in Bezug auf mögliche Themen, Vertextungsstrategien, mediale Realisierungen und kognitive wie emotionale Anforderungen werden zumeist pauschalisierend auf die prototypisch verwendete Varietät übertragen.

3.2 Horizontale Dimension: Beurteilungen verschiedener Dialekte Während im oberdeutschen Sprachraum noch häufig Dialekt – in den Ausprägungen der verschiedenen Sprachlagen – genutzt wird, zeigt sich für den mitteldeutschen Raum eine abnehmende Tendenz (vgl. Plewnia/Rothe 2012, 10 f.), die sich für den niederdeutschen Sprachraum in der Dominanz einer standardnahen Umgangssprache verstärkt (vgl. Möller 2008). Diese regional unterschiedlichen Dialektgebrauchsmuster prägen auch die Beurteilung der einzelnen Dialekte im Vergleich zueinander. Mit der Bewertung von deutschen Dialekten befassen sich zahlreiche Studien (vgl. exemplarisch Stickel/Volz 1999; Hundt 1992, 2011; Plewnia/Rothe 2012). Im Folgenden werden quantitativ orientierte Umfragen vorgestellt. Jede Erhebung von Dialektbewertungen sieht sich mit dem Problem konfrontiert, zwischen linguistischem Fachwissen und laienlinguistischem Alltagswissen vermitteln zu müssen. Werden die dialektologischen Bezeichnungen für Dialekte bei der Befragung genutzt (vgl. Hoberg 2008), sind sie zwar fachwissenschaftlich gut aus 

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wertbar, den Befragten jedoch möglicherweise unverständlich. Werden die Befragten selbst nach ihren Dialektbezeichnungen gefragt (vgl. Plewnia/Rothe 2012), ist unter Umständen nicht zweifelsfrei erschließbar, auf welche sprachliche Varietät mit welchem Dialektalitätsgrad rekurriert wird. Das Merkmal der Kontextsensitivität zeigt sich hier dahingehend, dass die konkrete Fragenformulierung das nominelle Ergebnis wie auch die Interpretation in entscheidendem Maß beeinflusst. Ob die Befragten bei ihren Antworten in Bezug auf Sympathie, Beliebtheit, Gebrauch, Kompetenz etc. eine Art von Basisdialekt, Regionalsprache oder standardnaher, dialektal minimal markierter Umgangssprache im Kopf hatten, lässt sich mit derartigen Befragungen nicht sicher eruieren (vgl. Hundt 2011, 83f.). Plewnia/Rothe (2012) ermittelten in einer repräsentativen Befragung mit offenen Fragen Norddeutsch und Bairisch als ‚sympathischste‘ Dialekte. Am ‚unsympathischsten‘ waren Sächsisch, Bairisch und Alemannisch. Hoberg (2008) kommt mit geschlossenen Fragen zu ähnlichen Ergebnissen, allerdings gelten dort Bairisch, Norddeutsches Platt und Berlinisch als ‚beliebteste‘ und Sächsisch, Berlinisch und Bairisch als ‚unbeliebteste‘ Dialekte. Es zeigt sich, dass die einzelnen Dialekte durchaus unterschiedlich eingeschätzt werden. Hierfür sind laut Plewnia/Rothe (2012) die Faktoren (1) Bekanntheit der Dialekte, (2) Herkunft der Befragten und (3) eigene Dialektkompetenz maßgeblich. Ebenso wie die Bewertung korreliert laut Plewnia/ Rothe (2012, 22) der Gebrauch des Dialektes mit zahlreichen Faktoren wie Wohnort, Bildung und politischer Orientierung. Auf der Grundlage von erhobenen Selbstaussagen kommen Plewnia/Rothe (2012, 22) zu dem Schluss, dass insbesondere Personen, „die aus Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen stammen, in eher kleineren Wohnorten leben, über einen Hauptschulabschluss oder den Abschluss der Mittleren Reife verfügen und ihre politische Orientierung eher rechts einordnen“, von sich behaupten, Dialekt besonders häufig zu sprechen. Das durch die repräsentative Befragung ermittelte Bild der typisierten Dialektsprecherinnen und -sprecher deckt sich hinsichtlich des Bildungsgrades im Umkehrschluss mit den oben vorgestellten Aussagen zur Kompetenzzuschreibung für Standardsprecherinnen und -sprecher in experimentellen Settings. Die Spracheinstellungen scheinen zumindest in diesem Bereich und für diese Bundesländer eine Entsprechung in objektiven Daten zu haben. Hundt (2011) kommt in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Theorien zur Sprachbewertung zu dem ähnlichen Schluss, die unterschiedliche Bewertung von Dialekten aus der Normdekrethypothese (social connotation hypothesis), d. h. aus außersprachlichen Faktoren, zu erklären.  

3.3 Dialektgebrauch und -urteile in der Öffentlichkeit: ländlichbäuerisches Image und Humorfunktion Einerseits zeigen Gebrauchsuntersuchungen für das 21. Jahrhundert in quantitativer Hinsicht eine abnehmende Tendenz des Mundartgebrauchs im Alltag (vgl. Hoberg

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2008, 30). Andererseits dokumentieren varietätenlinguistische Studien in qualitativer Hinsicht eine Ausweitung der Dialektnutzung in schriftsprachlichen Kontexten insbesondere im Internet. In Bezug auf Chats oder Weblogs in Deutschland bilden regionalsprachliche Schreibungen eine wichtige schriftkulturelle Ressource (vgl. Tophinke 2008). Gleichwohl ist hierbei ein eher selektiver, auf Salienz basierender Dialektgebrauch beobachtbar, der auch als Dialektstilisierung (vgl. Coupland 2001; Birkner/Giles 2008) beschrieben werden kann, bei welchem überwiegend großräumige, lexikalisch und phrasal gebundene Regionalismen genutzt und zumeist vereinzelt eingesetzt werden. Diese Äußerungen fungieren als sinnstiftende Kontextualisierungshinweise vielfältiger Art: Sie können kommunikationsorganisatorische Aufgaben übernehmen, als Informalitätsindikator fungieren, indem sie eine informelle Situation kontextualisieren (vgl. Tophinke 2008), als sequenzgebundenes Gliederungssignal im Sinne einer Kontrast- und Reliefbildung (vgl. Denkler 2011, 165f.) oder als „identitätsbezogene Symbolisierungsakte“ im Sinne sozialer Affiliation und Abgrenzung operieren (Birkner/Gilles 2008, 123 ff.; Spitzmüller 2013). Der folgende Abschnitt widmet sich dem Dialekt- und Regionalsprachgebrauch sowie den Dialektbewertungen in den Massenmedien in exemplarischen Befunden. Erstens sollen dadurch öffentlich präsentierte Sprachgebrauchsmuster und medial inszenierte Dialektsprecherinnen und -sprecher konturiert werden, um daraus zweitens Aussagen über die mehr oder weniger explizite mediale, das heißt öffentliche, Vermittlung von Dialekteinstellungen zu treffen. Stickel (2012, 312) kommt auf der Grundlage eines Korpus’ von Studien zur Bewertung und dem Gebrauch des Deutschen in Deutschland zu dem Schluss, dass die Standardsprache in den Medien so verbreitet ist wie nie zuvor. Gleichzeitig ist eine seit den 1970er-Jahren anhaltende „Regionalisierung der Programme“ mit stärkeren oder schwächeren Auswirkungen für den dialektalen Sprachgebrauch insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu beobachten (vgl. Müller-Sachse 2001), die jedoch kontextuellen Beschränkungen dergestalt unterliegen, dass dialektale Äußerungen für spontansprachliche, dialogische (vgl. Burger 2005, 365), emotionale, gemütshafte (vgl. Straßner 1983, 1519) Passagen verwendet werden. Insbesondere werden dialektale Sprechweisen bzw. Dialektstilisierungen im Humorbereich genutzt (vgl. Birkner/ Gilles 2008; Schröder 1995). Diese funktionale Geltung besitzt eine lange Tradition, die sich bereits früh in literarischen Werken zeigte und zumeist auf stereotypen Vorstellungen von sozial differenzierten Sprachgruppen und ihren Kommunikationsbereichen beruht (vgl. Schröder/Stellmacher 1989; Schröder 2005; Linke 1995). In Kombination mit weiteren Charakteristika, wie z. B. der Kleidung, erfüllen die dialektalen Äußerungen neben der bzw. durch die regionale Verortung die Funktion sozialer Abgrenzung bis hin zur Stigmatisierung, die nach der maßgeblich auf Platon zurückgehenden Degradationstheorie (vgl. Kotthoff 1996, 11 f.) ein zentrales Merkmal der Humorgenese darstellt. Die historisch zunächst als Negativurteil verstandene Funktionseinschränkung des Dialektes auf Humoriges wird im Laufe der Zeit zu einem umgedeuteten zunehmend positiv konnotierten Autostereotyp (vgl. Schröder 1995).  





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Explizite massenmediale Dialektthematisierungen und -beurteilungen orientieren sich zumeist an simplifizierenden Darstellungen quantitativer Erhebungen (vgl. Hundt 2011, 88) und sind vergleichsweise selten, weshalb sie kaum eine systematische Analyse lohnen. Im Folgenden soll deshalb exemplarisch einer der seltenen Ausschnitte derartiger Inhalte genauer betrachtet werden. Um den Dialektgebrauch und die Bewertung von Dialekten ging es in der Sendung RTL-extra vom 15.11.2010 mit thematischem Bezug zur massenmedial verbreiteten Dating-Show für Landwirte Bauer sucht Frau. In der Sendung kamen als „Sprach- bzw. Dialektexperten“ die Moderatorin Inka Bause, ein Komiker und Stimmenimitator sowie eine Standarddeutschdozentin für Schwäbischsprecherinnen und -sprecher zu Wort. Neben der unter wissenschaftlicher Perspektive verkürzt erscheinenden Darstellung einzelner Dialekte, die primär aus der regionalsprachlich dominierten Präsentation von Klischees bestand, wurde durch den Komiker insgesamt ein Bild problematischen Dialektgebrauchs gezeichnet: Es kristallisierten sich die folgenden Kernaussagen heraus: 1) Dialekt und Bauer, das gehört zusammen. 2) Dialektgebrauch ist beim sozialen Aufstieg hinderlich und 3) Das Sächsische ist der unbeliebteste Dialekt. Der nun folgende exemplarische Fokus auf das Kinderprogramm verdankt sich dem Umstand, dass die Medien einen relevanten Faktor in der metasprachlichen Sozialisation spielen und die Adressatengruppe diese prägenden Einflüsse zumeist nicht als Form medialer Überzeichnung interpretiert und entsprechend unkritisch konsumiert. Das erhöht die problematische Wirkung: Studien englischsprachiger Kindersendungen konnten z. B. zeigen, dass dialektale bzw. standardabweichende Sprechweisen primär zur Stereotypisierung genutzt wurden (vgl. Adger/Christian 2006; Lippi-Green 1997). Das nun stellvertretend im Zentrum der Ausführungen stehende Vorabendprogramm (19 bis 20 Uhr) des kinderzentrierten öffentlich-rechtlichen Senders KiKa in Deutschland ist auf Adressaten im Vor- und Grundschulalter ausgelegt. Während die Moderatorinnen und Moderatoren der Wissenssendungen „pur plus“, „Willy Wills Wissen“, „Wissen macht ah!“ und „Checker Chan/Toby“ dominant standardsprachlich sprechen, finden sich Abweichungen von der Standardsprache, die in Form von Clustern verschiedener Merkmale als dialektale bzw. regionalsprachliche Markierung wahrnehmbar sind, nur in belustigenden Teilen der Sendung. Beispielhaft sei auf die Figur „Ronny Danger – der schlechteste Stuntman der Welt“ im Block „das Letzte“ der Sendung „pur plus” verwiesen, dem durch seine kognitiven Defizite gehäuft Missgeschicke passieren. Die Abweichung zur Standardsprache erfolgt wie bei medialen Dialektstilisierungen üblich prominent auf phonetischer Ebene, was bei der Figur des Ronny Danger jedoch keine klare Einordnung der Sprechweise in einen distinkten dialektalen Bereich zulässt, sondern lediglich eine regionalsprachliche Verortung im mitteldeutschen Raum erlaubt. Als dialektale Markierungen lassen sich z. B. die auslautende Koronalisierung des [ç] zu [ʃ], die mitteldeutsche Konsonantenschwächung von [t] zu [d] sowie zahlreiche für den Sprachraum typische Entrundungen feststellen. Für erwachsene Hörerinnen und Hörer sind die Standardabweichungen m. E. eindeutig als räumlich gebunden und in diesem Sinne  











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als dialektal markiert wahrnehmbar. Die Kinder, deren (alltags-)dialektologisches Wissen im Vergleich zu Erwachsenen noch gering ist, nehmen diese Sprechweisen zunächst als standardabweichend wahr, was sich in sprachlichen Imitationen der Figuren durch die Kinder sehr gut zeigt, und assoziieren diese Cluster mit der lächerlichen Figur. Da die kindlichen Rezipienten ihre metasprachlichen Urteilsstrukturen erst aufbauen, verhelfen derartige Inszenierungen zu stereotypen Festschreibungen des reziproken Zusammenhangs zwischen dialektal markiertem Sprechen und kognitiven Defiziten wie auch zwischen standardsprachlichem Sprechen und Kompetenz. Damit werden stereotype und stigmatisierende Bilder von typischen Dialektsprecherinnen und -sprechern entworfen, was zugleich als Form der medial inszenierten sozialen Registrierung (enregisterment) aufgefasst werden kann (vgl. Spitzmüller 2013).

4 Beurteilungen von Niederdeutsch Im Folgenden wird das Niederdeutsche unter evaluativen Aspekten näher beleuchtet. Diese Fokussierung verdankt sich zum einen der Spezifik und Komplexität der sprachlichen Situation im Norden Deutschlands (vgl. Arendt et al. 2017) und zum anderen einer notwendigen Eingrenzung auf ein Dialektgebiet, wenn im Folgenden auch qualitative Befunde zu konkreten Sprachtopoi und artikulierten Sprachnormen referiert werden. Gleichwohl sind die Ergebnisse z. B. zu puristischen Normen auf volitiver Ebene mit anderen Dialekten durchaus vergleichbar.  

4.1 Gegenwärtige Bewertungs- und Gebrauchstendenzen Das 21. Jahrhundert ist von einem weiter wachsenden Kontrast zwischen umfassender Wertschätzung und institutioneller Förderung – nominell durch die sog. „Europäische Sprachcharta“ insbesondere im Bereich der Politik und der Bildung (vgl. Arendt 2014; Arendt i.Dr.) – und abnehmender Kompetenz und geringem Gebrauch geprägt. Möller (2008) konstatiert auf der Basis einer repräsentativen Erhebung an 800 Personen der nördlichen Bundesländer von 2007, dass im Vergleich zur GETAS-Umfrage 1984 die Anzahl der kompetenten Sprecherinnen und Sprecher um mehr als die Hälfte – von 35 % auf 14 % – zurückgegangen und es derzeit eher unüblich ist, die niederdeutsche Sprache im Alltag zu benutzen. Eine jüngere Erhebung bestätigt die Zahlen (vgl. Adler et al. 2016). Wenngleich sie trotz kulturbetrieblicher und medialer Ausbaubereiche, wie z. B. durch die niederdeutschen Bühnen oder niederdeutsche Radiosendungen, eher eine Sprache des Nahbereichs bildet, zeigt sich eine Tendenz zu emblematischen Verwendungsweisen insbesondere im Bereich des Marketing. Auf der Basis des LinguisticLandscape-Ansatzes (vgl. Gorter/Marten/Van Mensel 2012; Garrett 2010, 142ff.) bestätigen Spiekermann/Weber (2013) am Beispiel der Stadt Münster die These vom nieder 

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deutschen Kulturgutstatus und proklamieren, dass die im Stadtbild sichtbare Schriftlichkeit nur noch „Relikt historischer Benennungsvorgänge oder Mittel marketingorientierter Strategien“ ist und das Niederdeutsche im Alltag seine Vitalität verloren habe. Im Folgenden werde ich dominant qualitative Befunde zu Niederdeutschbeurteilungen unter Laien – vorrangig unter Jugendlichen – vorstellen, die der These der verlorenen Vitalität widersprechen. Qualitativ orientierte Einstellungsstudien wie die folgende arbeiten prominent mit diskurs- wie auch konversationsanalytischen Analysemethoden (vgl. Spitzmüller 2005; Tophinke/Ziegler 2006; Arendt 2010). Damit ist es möglich, präskriptiv-puristische Gebrauchsnormen wie auch Entwicklungstendenzen aufzuzeigen, die eine Erklärung des sinkenden Gebrauchs genuin aus den Spracheinstellungen anbieten. Die Daten stammen aus narrativen Interviews, die individuelle Relevanzsysteme ebenso erfassen können wie explizit verbalisierte, metasprachliche Sinnkonstruktionen. Die meisten Jugendlichen in Norddeutschland haben mit dem Niederdeutschen primär rezeptive sprachsozialisatorische Erfahrungen in Gesprächen mit ihren Großeltern gemacht. Als quasi „dritte“ Generation ist – ähnlich wie in Migrationsgenerationen – bei einigen von ihnen eine verstärkte Rückwendung zur ersten Generation sowie eine positive Niederdeutschbewertung einhergehend mit angestrebtem Sprachgebrauch zu beobachten (vgl. Arendt 2006; Arendt 2012a; Arendt 2017a, 301 f.).  

4.2 Qualitative Einsichten: Sprechangst, Stigmatisierung und puristisches Ideal innerhalb einer Dialektgemeinschaft In einer Studie zum niederdeutschzentrierten Netzwerk „Plattdüütschkring“ von 2011 zeigt sich dieses Bild sehr deutlich (vgl. Arendt 2012a). Eine Gruppe Sprachinteressierter im Alter von 25 bis 70 Jahren trifft sich vierzehntägig, um gemeinsam Niederdeutsch zu sprechen. Eine Befragung von vier jüngeren Mitgliedern zeigte die besondere Wertschätzung des Netzwerkes erstens als Schutzraum vor möglicher Stigmatisierung des Niederdeutschgebrauchs in einer standardsprachlichen Öffentlichkeit und zweitens als Übungs- und Erprobungsraum ohne präskriptive Korrekturen dogmatischer Normautoritäten. Die Befragten berichten davon, dass sie von anderen, zumeist älteren Niederdeutschsprecherinnen und -sprechern, korrigiert wurden. Dies stellt eine oft erwähnte und beobachtete Erfahrung der Scham nicht nur der jüngeren Sprecherinnen und Sprecher dar, wie sie auch von sogenannten „New Speaker“ anderer Minderheitensprachen berichtet wurde (vgl. Jaffe 2015, 37 f.). All diese Äußerungen lassen ein normatives Bewusstsein für eine anzustrebende Richtigkeit erkennen. Gleichzeitig ist der Gebrauch der Netzwerkmitglieder selbst von einer Differenzordnung geprägt, die als Ideal einen größtmöglichen Dialektalitätsgrad aufweist (vgl. Arendt 2012a). Die Befunde und geschilderten Erfahrungen der Nichtakzeptanz von älteren Sprecherinnen und Sprechern, die sich als Normautoritäten inszenieren und wahr 

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genommen werden, decken sich mit den Ergebnissen einer Studie innerhalb von vier Familien auf der Insel Usedom. Bei der Bewertung niederdeutschen Sprechens dominiert eine strenge kontradiktorisch aufgebaute Norm, die standardfernes „reines“ Niederdeutschsprechen als richtig wertet und „Vermischungen“ als falsch, als Zeichen von sprachlicher Inkompetenz und in übersteigerter Form als Anlass zum Sprechverbot. Diese normativen Auffassungen sind als Ausdruck einer Richtigkeitsideologie (correctness) interpretierbar, wie Preston (2010, 13) sie als typisch für die Folk Linguistics beschrieben hat. Auffällig erscheint hierbei, dass es weniger um mögliche ‚Vermischungen‘ in horizontaler Dimension, also mit anderen niederdeutschen Dialekten, geht, sondern alleine um die Annäherung an das Standarddeutsche. Die hier dominierenden Sprach-, Richtigkeits- und Reinheitstopoi (vgl. Arendt 2010, 209ff.) verengen den Gestaltungsspielraum niederdeutschen Sprachgebrauchs, manifestieren sich in präskriptiven Korrekturen und führen darüber hinaus zu Sprechangst insbesondere bei den Jugendlichen. Das Ideal des reinen Sprachgebrauchs ist aus anderen Studien zur Laienlinguistik hinlänglich bekannt und kann auch als Ursache sogenannter Hyperdialektalismen (vgl. Lenz 2005) angesehen werden. In Bezug auf das Niederdeutsche aber bedeutet dieser Anspruch, 400 Jahre Sprachkontakt mit typischen Interferenzerscheinungen zu negieren und ein Ideal der absoluten Differenz zum Standarddeutschen zu etablieren. Wenngleich der Sprach- bzw. Abstandstopos (vgl. Arendt 2012b) in Bezug auf das Niederdeutsche mehr als bei anderen deutschen Dialekten hierfür eine Basis bildet, erscheint dieser volitive Aspekt der Einstellung in Bezug auf einen zu fördernden Gebrauch, wie ihn die Sprachencharta vorsieht, kontraproduktiv. Insgesamt ist das Sprechen und Schreiben von Niederdeutsch durch zahlreiche restriktive Überzeugungen geprägt, die gleichsam wie Bausteine eine „gebrauchsverhindernde Mauer“ bilden (vgl. Arendt 2012b, 114).

4.3 Niederdeutschgebrauch im Internet am Beispiel von YouTube Das Internet gilt gemeinhin als normentoleranter in Bezug auf den Sprachgebrauch als die analoge Alltagskommunikation und ermöglicht hierbei insbesondere dialektale Schriftlichkeit. Eine spezifische Bedeutung für die Herstellung einer Öffentlichkeit für dialektalen Sprachgebrauch besitzt hierbei die Videoplattform Youtube, da hier erstens Videos jenseits des massenmedialen Mainstreams angeboten werden und somit Aussagen über verschiedene ggf. alternative dialektgebundene Gebrauchsmuster gemacht werden können. Zweitens ermöglicht eine Analyse der Anschlusskommunikation in Form von Kommentaren und dem Like-Aufkommen Aussagen zu deren Akzeptanz und Bewertung. Im Folgenden werden Befunde referiert, die auf der Analyse der je zehn meistfrequentierten Youtube-Videos aus dem Jahr 2012 basieren, die mit niederdeutsch, platt und plattdeutsch verschlagwortet wurden.

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Die Sprachwahl ist eindeutig: 50 % der analysierten Videos ist niederdeutschsprachig – das ist im Vergleich zu den Ergebnissen aus anderen Formen der InternetKommunikation, wie z. B. dem Chat überraschend, wo niederdeutsch kaum realisiert wurde (vgl. Christen 2005). Zugleich ist eine thematische Tendenz dergestalt feststellbar, dass Niederdeutsch in den Unterhaltungsvideos (50 % des Korpus) verwendet wird und sich bei den Videos zum Sprachwissen (42 %) ein hochdeutscher oder gemischter Sprachgebrauch findet. Die funktionale Geltung des Niederdeutschen entspricht damit traditionellen Verwendungsweisen. Eine Analyse des Like-Aufkommens zeigt mit 94 % Likes eine nahezu ausschließlich positive Wertung. Das ist m. E. damit zu erklären, dass die Videos aufgrund der insgesamt geringen Zugriffszahlen nicht unter den Top-Ten gelistet werden, sondern die Rezeption meist das Ergebnis einer gezielten Suche war, die positiven Bewertungen also primär von Sprach- bzw. Niederdeutschinteressierten stammen. Zwei Drittel der 1093 analysierten Kommentare sind standardsprachlich verfasst. Jedoch sind 14 % der Kommentare niederdeutschsprachig, überwiegend als Reaktion auf niederdeutschsprachige Unterhaltungsvideos, weshalb die Sprachwahl als Ergebnis von Primingeffekten interpretierbar ist. Die Kommentare erfüllen eine wichtige kontextualisierende Funktion für die Videos, indem sie die Rezeption maßgeblich prägen. Androutsopoulos (2010a, 209) spricht von den Kommentaren dementsprechend als „encasing events“, die „local language ideologies“ (Androutsopoulos 2010a, 221) transportieren. Sie dienen der Herstellung einer – zumeist – pseudonymen kanalreduzierten Online-Identität, weshalb Sprachwahl und Sprachbewertung bei der Positionierung entscheidende Bausteine bilden. Insgesamt sind insbesondere die positiven Äußerungen beispielhaft für den Tenor der Kommentare: Niederdeutscher Sprachgebrauch wird wertgeschätzt und die fehlende Kompetenz bedauert. Präskriptive Korrekturen sind kaum vorhanden. Insofern bildet das Internet – wie auch soziale analoge Netzwerke – einen Schutzund Übungsraum bei Gebrauchsangst. Des Weiteren fehlt die Artikulation des sonst weit verbreiteten Normideals, demzufolge Niederdeutsch von alten ländlichen Sprecherinnen und Sprechern gesprochen werde, und aus den Kommentaren ist kein puristisch-konservatives Normideal erkennbar, wie es für den Laiendiskurs über das Niederdeutsche sonst kennzeichnend ist. Parallelen bestehen in der Wertschätzung des Niederdeutschen. Der Sprach-Dialekt-Status ist streng kontradiktorisch kodiert und wird in zahlreichen Kommentaren relevant gesetzt. Wie auch im Laiendiskurs üblich wird mehr über Niederdeutsch als auf Niederdeutsch gesprochen, weshalb der Einschätzung von Reershemius (2010) zuzustimmen ist, das Internet nicht als Raum zur Niederdeutschförderung überzubewerten, gleichwohl aber als möglichen und vor allem nötigen Schutzraum anzusehen.  



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Birte Arendt

5 Zusammenfassung und Fazit Ausgehend von einer Einordnung der Dialektbeurteilungen als Spracheinstellungen mit unterschiedlichen Manifestationen wurde gezeigt, dass diese kollektiv tradierten metasprachlichen Bewertungsstrukturen das Sprachverhalten prägen, kategoriale zumeist stereotypgebundene Attribuierungsprozesse in Bezug auf Sprecherinnen und Sprecher steuern und einem historischen Wandel unterliegen. In Bezug auf das Spannungsfeld zwischen Dialekt und Standardsprache wurde die Situation in Deutschland dergestalt charakterisiert, dass trotz einer explizit geäußerten Wertschätzung der Dialekte – maßgeblich basierend auf öffentlichen Gebrauchsmustern – Standardsprecherinnen und -sprecher als kompetenter wahrgenommen werden als Dialektnutzerinnen und -nutzer und somit der Dialektgebrauch mitnichten ausschließlich eine regionale, sondern zugleich eine soziale Verortung realisiert. In den Medien, insbesondere im Kinderfernsehen, werden zumeist stereotype und partiell stigmatisierende Vorstellungen typischer Dialektnutzerinnen und -nutzer präsentiert, die eine funktionale Einengung des Dialekts auf ländlich-bäuerliche und humorzentrierte Gebrauchskontexte tradieren. In Bezug auf das Niederdeutsche wurden puristisch-konservative Normideale, die sich in präskriptiven Korrekturen manifestieren, akzentuiert, die die Sprachbeurteilung und mithin auch den Gebrauch prägen. Das Internet stellt als normentoleranterer Kommunikationsbereich gleichwohl einen Schutzraum vor derartigen Korrekturen und somit einen Übungsraum dialektalen Sprechens und Schreibens bereit. Die Befunde zeigen klar die verhaltenssteuernde Funktion der Spracheinstellungen, wenngleich nicht von einer monokausalen Verknüpfung auszugehen ist. Gleichwohl liegt der Schlüssel zur Förderung des Dialektgebrauchs, wie sie in Bezug auf das Niederdeutsche betrieben wird, in den zumeist impliziten Normen und stereotypen Attribuierungen, wie sie sich in Spracheinstellungen und ihren Artikulationen manifestieren und durch welche sie auch geändert werden können – und müssen.

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Birte Arendt

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Birte Arendt

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Jannis Androutsopoulos

15. Ethnolekt im Diskurs: Geschichte und Verfahren der Registrierung ethnisch geprägter Sprechweisen in Deutschland Abstract: Der Beitrag rekonstruiert die Genese und Entwicklung des öffentlichen Diskurses rund um die Sprache von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund, die in der Öffentlichkeit unter Namen wie Kanakisch, Türkendeutsch und Kiezdeutsch und in der Linguistik als Ethnolekt oder Multiethnolekt diskutiert wird. Auf Grundlage sozio- und diskurslinguistischer Forschungsansätze wird argumentiert, dass im metasprachlichen Diskurs Vorstellungen von einer ‚neuen Sprache‘ konsolidiert werden. Dabei wird sprachliche Variabilität rekontextualisiert, verdichtet, stereotypisiert und mit sprachideologischen Leitvorstellungen über das Verhältnis von Sprache und Zugehörigkeit versehen. Der Beitrag zeigt auf, wie sich dieser Diskurs in der deutschen Öffentlichkeit der letzten 25 Jahre in parallel verlaufenden und interdiskursiv verflochtenen Diskursebenen entfaltet hat. Besonderes Augenmerk gilt der Beteiligung von Sprachwissenschaftler/innen im journalistisch geführten Metasprachdiskurs.  

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Einleitung Ethnolektdiskurs: Abriss einer Mediendiskursgeschichte Registrierung und Sprachideologie im Ethnolektdiskurs Welche Daten? Herausforderungen und Lösungen Registrierungspraktiken Akteure im Ethnolektdiskurs: Die Rolle von Sprachwissenschaftler/innen Schlussfolgerungen

1 Einleitung Wenige Sprachthemen haben die deutschsprachige Öffentlichkeit in den letzten 25 Jahren so sehr bewegt wie die Sprache von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund – eine Sprache, die in der Öffentlichkeit unter Namen wie Kanakisch, Türkendeutsch und Kiezdeutsch bekannt wurde und in der linguistischen Diskussion als Ethnolekt oder Multiethnolekt klassifiziert wird. Dieser Beitrag greift auf sozio- und diskurslinguistische Forschung zurück, um den öffentlichen Diskurs zu diesem Thema – den Ethnolektdiskurs – in seiner Entstehung, Entwicklung und Wirkweise zu untersuchen. Erkenntnisleitend ist die These, dass die gesellschaftlich  

https://doi.org/10.1515/9783110296150-016

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Jannis Androutsopoulos

geteilte Vorstellung von einem Ethnolekt erst in einem metasprachlichen Diskurs entsteht, der durch seine mediale Dissemination und institutionelle Autorität öffentliche Wirksamkeit gewinnt. Damit knüpft der Beitrag an eine Prämisse der soziolinguistischen Sprachideologieforschung an, die Barbara Johnstone wie folgt auf den Punkt bringt: Einzelsprachen und Sprachvarietäten sind “products of culturally and historically situated, reflexive, ex post facto discourse about discourse”, oder einfacher: “languages are created in discourse” (Johnstone 2011, 3). Die Vorstellung von einer Sprache oder Sprachvarietät als abgeschlossenem Gebilde mit typischen Merkmalen und Sprecher/innen entsteht also erst in bzw. durch metasprachliche(r) Reflexion. Dieser Zugang soll die einschlägige interaktions- und varietätenlinguistische Forschung (vgl. Deppermann 2007, 2013; Keim 2004; Selting/Kern 2006; Wiese 2007, 2013) nicht ersetzen, sondern ergänzen. Wie kommt es dazu, so meine Ausgangsfrage, dass in einem bestimmten historischen Zeitpunkt aus der hoch komplexen Sprachvariation des erlebten und dokumentierten Alltags die Vorstellung von einer ‚neuen Sprache‘ bzw. einem ‚neuen Dialekt‘ aufkommt? Wie verfestigt sich diese Vorstellung? Wie kommt sie in verschiedenen Diskursebenen und Teildiskursen (Jäger 2001) zum Ausdruck? Auf den Punkt gebracht: Wie entsteht aus sprachlicher Variation gesellschaftliches Sprachwissen? Noch an dieser Stelle soll der Terminus Ethnolekt kritisch beleuchtet werden. Dieser Terminus schließt durch das Grundwort Lekt an ein etabliertes Paradigma der Varietätenforschung an (vgl. Dialekt, Soziolekt), während das Bestimmungsmorphem Ethno- das Merkmal der Ethnizität als Hauptunterscheidung gegenüber anderen Varietäten anführt. Was dabei genau mit Ethnizität gemeint ist, bleibt meist unklar (Franceschini/Haubrichs 2011). Fest steht, dass der Ethnolektbegriff nicht jegliches „Deutsch der Migranten“ (Deppermann 2013) bezeichnet, sondern Sprechweisen von (jungen) Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren bzw. aufgewachsen sind. Das Attribut ethnisch verweist auf die heteroethnische bzw. nichtdeutsche Abstammung dieser Sprecher/innen und deutet an, dass ihre Sprechweisen durch andere Sprachen, kulturelle Traditionen und Loyalitäten in einer näher zu bestimmenden Art und Weise mitgeprägt sind. Die soziolinguistische Kritik an diesen Begriff geht in zwei Richtungen. Die erste hebt hervor, dass Sprecher/innen der fraglichen neuen Varietäten keinen einheitlichen ethnolinguistischen Hintergrund haben, so dass besondere Varietätenmerkmale nicht auf Interferenzen durch eine einzige Kontaktsprache zurückgehen, sondern auf eine Vielzahl von Hintergründen und Sprachkontakten. Dieser Argumentation entspricht der von Michael Clyne (2000) geprägte Terminus Multiethnolekt, den z. B. Heike Wiese (2013) für Kiezdeutsch und Pia Quist (2008) für entsprechende Entwicklungen im Dänischen verwenden. Die zweite Art von Kritik betrifft die Vorstellungen von Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit, die durch die Zuschreibung eines LektCharakters diskursiv hervorgebracht werden (Jaspers 2008, Cornips et al. 2015). Zielscheibe dieser Kritik sind auch akademische Linguist/innen, die durch ihre terminologischen Zuordnungen ein sprachliches Subsystem postulieren, ohne dass dessen  

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Stabilität und Abgeschlossenheit empirisch nachgewiesen wäre. Die Rede von einem neuen Lekt, so die kritische Schlussfolgerung, muss nicht ‚Fakten‘ entsprechen, sondern schafft vielmehr selbst neue Fakten in der fachlichen und öffentlichen Wahrnehmung. Wird vor dieser Folie in diesem Beitrag dennoch mit dem Ethnolektbegriff gearbeitet, dann vor allem deshalb, weil hier nicht spontane Sprechstile im Spiel stehen, sondern ein öffentlicher Metasprachdiskurs (Spitzmüller 2005), in dem Vorstellungen von einer ‚neuen Sprache‘ mit scheinbar klaren Grenzen und stereotypisierten Sprechern sehr wohl vorherrschen. Der Ethnolektbegriff wird also als sprachideologischer Begriff verstanden. Als solcher verweist er nicht auf die empirisch feststellbare Systemhaftigkeit bestimmter Sprechweisen, sondern auf ihre diskursive Konstruktion als stabile, regelhafte, wiedererkennbare und mehrheitlich stigmatisierte Marker ethnischer Alterität in Deutschland.

2 Ethnolektdiskurs: Abriss einer Mediendiskursgeschichte 2.1 Das Aufkommen: Kanak Sprak Die gesellschaftliche Wahrnehmung migrationsinduzierter Sprachvariation im Deutsch der Nachkriegszeit beginnt spätestens mit dem sog. Gastarbeiterdeutsch der ab den 1960er-Jahren angeworbenen, ausländischen Arbeitskräfte. Ab wann genau sozial markierte Sprechweisen auch bei in Deutschland aufwachsenden migrantenstämmigen Jugendlichen wahrgenommen werden, kann nicht exakt datiert werden. Als vermutlich früheste Dokumentation können die in den späten 1980er-Jahren aufgezeichneten Gespräche der Turkish Power Boys, einer Frankfurter Jugendbande mit vorwiegend türkischem Hintergrund, gelten (Tertilt 1996, Auer 2003, Dirim/Auer 2004). Auf der öffentlichen Diskursbühne stellt das 1995 publizierte Buch von Feridun Zaimoglu, Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, einen Ausgangspunkt für den Ethnolektdiskurs dar. Das lässt sich nicht nur an der Popularität der Bezeichnungen Kanak Sprak bzw. Kanaksprak in den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahre ablesen (Androutsopoulos/Lauer 2013), sondern auch durch korpuslinguistische Evidenz erhärten. Im Deutschen Referenzkorpus sind diese beiden Bezeichnungen noch vor 1995 nicht belegt, und schlägt man dort Kollokationen mit dem Suchwort Zaimoglu nach, findet sich Kanak an erster Stelle und noch vor Kollokationen mit den Wörtern Feridun und Schriftsteller. Dabei handelt Zaimoglus Buch nicht primär von Sprache, sondern besteht aus 24 Monologen marginalisierter junger Menschen türkischer Herkunft, die von ihrem Leben als Kanaken in Deutschland erzählen. Das Titelwort Sprak ist als Metonymie zu verstehen, steht also für die Erzählungen im Buch, und die Verformung von Sprache zu Sprak dient nicht nur dem poetischen Zweck der Reimbildung, sondern ikonisiert (vgl. Abschn. 3) die diese

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Jannis Androutsopoulos

Erzählungen prägende Alterität. Im Vorwort portraitiert Zaimoglu den Kanaken als einen neuen Typus von Migrantennachkommen, dessen Identität sich durch Abgrenzung von der ihn stigmatisierenden Mehrheitsgesellschaft einerseits, den Normen und Werten der Elterngeneration andererseits konstituiert. Sprache wird als Sinnbild dieses prekären Zwischendaseins positioniert: Der Kanake spricht seine Muttersprache nur fehlerhaft, auch das „Allemanisch“ ist ihm nur bedingt geläufig. Sein Sprachschatz setzt sich aus „verkauderwelschten“ Vokabeln und Redewendungen zusammen, die so in keiner der beiden Sprachen vorkommen. [...] Längst haben sie einen Untergrund-Kodex entwickelt und sprechen einen eigenen Jargon: die „Kanak-Sprak“, eine Art Creol oder Rotwelsch mit geheimen Codes und Zeichen. (Zaimoglu 1995, 13)

Die Erzählungen selbst beruhen auf der Nachdichtung von ins Deutsche übersetzten Gesprächsprotokollen, die Zaimoglu durch Interviews in türkischer Sprache gewonnen und überarbeitet hat. Dadurch unterscheiden sie sich sowohl vom wissenschaftlich dokumentierten Sprachgebrauch türkischstämmiger Jugendlicher als auch vom Duktus anderer Migrationsliteratur (Yildiz 2004; Pfaff 2005). Jenseits literarischer Fachkreise scheinen jedoch der Duktus der Erzählungen und die Bezeichnung Kanak Sprak ein Stück weit als authentische Dokumentation sprachlicher Gegebenheiten wahrgenommen worden zu sein. Beim gegenwärtigen Forschungsstand ist jedenfalls nicht anders zu erklären, dass sich kurz nach der Rezeption des Buchs Kanak Sprak als generische Bezeichnung für nicht-standardsprachliche Formen, die mit marginalisierter Jugend türkischer bzw. sonstiger migrantischer Abstammung assoziiert werden, zu etablieren beginnt. In dieser Entwicklung wird die Bezeichnung Kanak Sprak zum Signifikanten von bereits im Umlauf befindlichen sozialen Wertvorstellungen und Stereotypen. Sie dient fortan als Projektionsfläche für Vorstellungen von jugendlichen Migrantengangs, denen Kategorisierungen wie Schläger oder Lans und Verhaltensstereotypen wie aggressiv, asozial, gewaltbereit, kriminell usw. entsprochen haben. Die später durch die Ethno-Comedy popularisierte und ins Lächerliche gezogene Furcht einflößende Qualität ‚kanakischer‘ Sprechstile war bereits in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre unter Jugendlichen geläufig. In Feldforschung, die ich 1997 bis 1999 in Heidelberg durchgeführt habe (Androutsopoulos 2001a, b), äußert sich u. a. ein türkischstämmiger Student aus Heidelberg folgendermaßen zu den damals als Türkendeutsch geläufigen Sprechstilen:  

Das ist Furcht einflößend. Ich denke diese ethnischen Gruppen wissen, dass die Deutschen Angst vor ihnen haben. Und wenn jetzt ein deutscher Bub bei dieser Gang kommt mit nem deutschen [unauffällig ausgesprochen] „hey warum schaust du so blöd“ das wird überhaupt gar nicht geachtet, aber wenn der Deutsche jetzt sagen würde [ethnolektal ausgesprochen] „warum machst du mich so dumm an?“, also denk ich, das ist schon...

‚Kanakisch‘ zu sprechen stellte diesem Bericht zufolge auch unter türkischstämmigen Jugendlichen eine stilistische Wahl mit klarer sozialer Bedeutung dar. Einen ähn-

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lichen Schluss legt die 2001 angefertigte Arbeit von Eksner (2007) nahe. Auf Grund von Feldforschung beschreibt Eksner, wie türkischstämmige Jugendliche in BerlinKreuzberg, die üblicherweise Türkisch oder ein lokal unauffälliges Umgangsdeutsch sprechen, in Konfliktsituationen mit Deutschen ihr ‚krasseres Deutsch‘ verwenden, um eine bedrohliche Identität zu projizieren. Daher spricht Eksner in Analogie zu Rampton (1995) von einem „stilisierten türkischen Deutsch“ (so ihr Buchtitel). In beiden Fällen müsste man also von einem sozialen Stil sprechen, der von der lokalen Umgangssprache auffällig divergiert und mit sozialer Delinquenz assoziiert wird, bei dem jedoch grundsätzlich eine Wechselmöglichkeit im Sprachrepertoire vorhanden ist (vgl. Auer 2013; Quist 2008). Dies ist ein wichtiges Detail, das in den meisten medialen Stilisierungen der darauffolgenden Zeit verloren geht.

2.2 Die Popularisierung: Späte 1990er- und frühe 2000er-Jahre Repräsentationen eines migrantisch geprägten Deutsch hat es freilich noch vor Kanak Sprak gegeben, z. B. im Film von Rainer Maria Fassbinder, Angst essen Seele auf (1974) mit der Figur des Marokkaners Ali, eines Zuwanderers der ersten Generation. Ab Mitte der 1990er-Jahre kommen mediale Repräsentationen von jüngeren Figuren und ihrer Sprache auf, die intertextuell mehr oder weniger direkt mit dem Diskurs um Kanak Sprak verbunden sind und sich über mehrere Genres und Medienangebote erstrecken (Androutsopoulos 2001a). Rückblickend hat vor allem die damalige Ethno-Comedy interdiskursiv nachgewirkt, darunter die Comedy-Duos Mundstuhl sowie Erkan und Stefan, deren Figuren und Darbietungen in den späten 1990er-Jahren weitläufig mit Labels wie Kanaksprak bzw. Türkendeutsch assoziiert werden (Androutsopoulos 2001a; Kotthoff 2004). Diese Figuren verkörpern das soziale Stereotyp des ungebildeten, angeberischen und machohaften „Ghettojugendlichen“ (Kallmeyer/Keim 2004, 54). Sie sind mit einer semiotischen Homologie aus Jogginganzügen, Goldketten, Pitbulls, Kleinkriminalität und Schlägereigeschichten ausgestattet, und ihr sprachlicher Duktus verbindet empirisch dokumentierte, lautliche und grammatische Merkmale ethnolektaler Sprechweisen mit lexikalischen und grammatischen Eigenkreationen der Comedykünstler. Der Modecharakter dieser Stilisierungen zum Ende der 1990er-Jahre wird an zahlreichen Indikatoren erkennbar (Androutsopoulos 2001a, b). Im Januar 1999 schrieb der Schauspieler Moritz Bleibtreu einen Beitrag mit dem Titel „Warum es auf einmal cool ist, wie ein Ausländer Deutsch zu sprechen“. Dort heißt es (Bleibtreu 1999, 24):  

Und jetzt ist eben Türken-Slang angesagt. Auch eine absolute Bereicherung. Man spricht bewußt gebrochenes Deutsch, ignoriert die Grammatik und verwendet Wörter wie „kraß“ oder „korrekt“ mit hartem „r“. Fast alle meine Freunde sind Türken, und wir reden manchmal tagelang nur so. „Kommst du Hamburg?“ – „Nee, komme München.“ [...] In den sechziger Jahren, als die ersten türkischen Gastarbeiter kamen, wäre so eine Sprache jedenfalls undenkbar gewesen. [...] Das Selbstbewußtsein der Türken meiner Generation ist viel größer. Sie sind wie die deutschen

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Jugendlichen hier aufgewachsen, haben eine ähnliche Geschichte. Und aus diesem gemeinsamen Lebensgefühl entsteht jetzt wunderbarerweise eine gemeinsame Sprache. Während die Politiker noch endlos diskutieren, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland ist oder nicht, haben die Jungs und Mädels Multikulti längst umgesetzt.

Nicht jede Rezeption jener Zeit fällt derart sozialintegrativ aus. In anderen Medienangeboten wird Ethnolektales ob seines Belustigungspotenzials kommerziell ausgeschlachtet, z. B. im populären Glossar Kanakisch (Freidank 2000) und in Verfremdungen deutschen Kulturguts in der Bildzeitung (Märchen auf Kanakisch un so). Die dort dargebotenen Inszenierungen von ‚kanakischen‘ Sprachformen, Sprecherfiguren und ihren Handungen ziehen migrationsgeprägtes Deutsch ins Lächerliche und weisen immer wieder rassistische Züge auf (vgl. Androutsopoulos 2011; Gerdes 2006). Auch in sog. ‚Multikulti-Komödien‘ der frühen 2000er-Jahre sind Sprechweisen zu finden, die zwischen Ethnolekt und Gastarbeiterdeutsch pendeln. In Filmen wie Kebab Connection (Regie Anno Saul, 2004) und Süperseks (Regie Torsten Wecker, 2004) sprechen junge türkischstämmige Protagonist/innen ein unauffälliges Umgangsdeutsch. Der Duktus der Ethno-Comedy ist bei ihnen nur noch als vereinzeltes Zitat zu finden, das auf intertextuelles Wissen der Rezipienten verweist und es dadurch in seiner gesellschaftlichen Geltung bestätigt. Dafür sind die Sprechstile von Antagonisten und Nebenfiguren von klischeehaftem ‚Kanakisch‘ und Gastarbeiterdeutsch geprägt (vgl. Androutsopoulos 2012). Auch in der Rapmusik jener Zeit tauchen ethnolektale Sprechweisen nur zur Fremdstilisierung auf. Sie karikieren marginale Akteure im kulturellen Milieu des Hip-Hop und sind von der Künstlerstimme deutlich abgegrenzt (Androutsopoulos 2007). Bei Rappern mit migrantischer Abstammung (z. B. Azad, Bushido, Eko Fresh, Kool Savas) sind allenfalls einzelne ethnolektale Merkmale als Teil des eigenen unmarkierten Sprechstils zu verzeichnen, allen voran die Koronalisierung des ich-Lauts, türkische Diskursmarker wie Lan sowie ein hoher Anteil an Assimilationen, die auch beim spontan gesprochenem Ethnolekt dokumentiert sind (Keim 2004). Rückblickend kann die erste Hälfte der 2000er-Jahre als Phase der transmedialen Vervielfältigung des Ethnolektdiskurses bezeichnet werden. Ethnolektale Stilisierungen kommen in einer Reihe von Mediengattungen auf und werden journalistisch und sprachwissenschaftlich aufgegriffen. Ethnolektale Sprechstile sind jedoch keine Identifikationsfläche für migrationsstämmige Künstler/innen.  



2.3 Wendepunkte: Grup Tekkan und Rütlischule Das Jahr 2006 markiert einen mit zwei Diskursereignissen verbundenen Wendepunkt in der Entwicklung von Ethnolektdiskursen. Für bundesweite Aufmerksamkeit sorgen zunächst Grup Tekkan, drei türkischstämmige Jugendliche aus dem pfälzischen Germersheim, die es im Frühjahr 2006 mit ihrem im Internet veröffentlichter Videoclip Sonnenlicht zur medialen Aufmerksamkeit brachten (Androutsopoulos 2007; Auer

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2013). Bemerkenswert ist dabei, wie ein lautliches Merkmal ihrer Darbietung, die ischKoronalisierung, in Schlagzeilen aufgegriffen wird und dadurch öffentliche Sichtbarkeit erlangt. Ein zweites Ereignis war die Debatte um die sog. Rütlischule, eine Hauptschule in Berlin-Neukölln, deren Lehrer im März 2006 in einem offenen Brief den Berliner Bildungssenator zur Schließung der Schule aufrufen, weil sie der Gewalt durch Schüler nicht mehr standhalten könnten. Dies löste eine bundesweite Debatte um das Scheitern der Integration aus, in der die Sprache von ‚Problemjugendlichen mit Migrationshintergrund‘ intensiv thematisiert wird. An Auszügen aus diesem transmedial geführten Diskurs stellt Androutsopoulos (2007) drei sprachideologische Themen fest: Normferne, Fremdheit und Negativität. Das Motiv der Normferne kommt z. B. durch die Bewertung von Ethnolekt als ‚schlechtem Deutsch’ zum Ausdruck. Das Motiv der Fremdheit zeigt sich in der Beschreibung von Ethnolekt als Sprache ‚einer anderen Welt‘, in der Gegenüberstellung mit ‚der deutschen Sprache‘ und nicht zuletzt im Gebrauch der gleichen Konzeptmetaphern wie im Anglizismen- und Migrationsdiskurs. Negativität wird sichtbar in der ständigen Verbindung von Ethnolekten mit der migrantenstämmigen Problemjugend, den aggressiven Comedy-Figuren und den ‚Bösen‘ der filmischen Welt. Etwa zur gleichen Zeit warnt der sprachpuristische Verein Deutsche Sprache in rassistischem Duktus „vor einer durch den angeblichen Siegeszug des ‚Türkendeutsch‘ verursachten‚ voranschreitenden grammatischen Demenz“ (Gerdes 2006, 37). Ethnolektales Deutsch wird in dieser Phase zu einer ernsthaften gesamtgesellschaftlichen Angelegenheit sowie zum Gegenstand politischer Positionierung und sprachlicher Moralisierung.  

2.4 Die Kiezdeutsch-Ära Ab 2007 werden die Bezeichnungen Kanaksprak und Türkendeutsch allmählich abgelöst vom Terminus Kiezdeutsch, der sich als neuer Leitbegriff medialer und fachlicher Ethnolektdiskurse etabliert. Von der Linguistin Heike Wiese geprägt (Wiese 2006, 2011, 2013) und v. a. durch ihr 2012 erschienenes Buch Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht popularisiert, beinhaltet der Terminus eine norddeutsche Bezeichnung für ‚Stadtteil‘ anstelle der ansonsten üblichen, ethnisierenden Bestimmungswörter. (Wieses erster Beitrag zum Thema trägt im Titel noch die Bezeichnung Kiez-Sprache und die Erläuterung „Kanak Sprak“, vgl. Wiese 2006.) Wiese beschreibt Kiezdeutsch als Multiethnolekt mit grammatischen Regelmäßigkeiten, die nicht als Interferenzen durch einzelne Migrantensprachen zu erklären sind, sondern im gesprochenen Umgangsdeutsch angelegte Tendenzen aufgreifen und generalisieren. Ihre darauf aufbauende These, Kiezdeutsch sei als Dialekt des Deutschen zu betrachten, löste eine fachliche und öffentliche Debatte aus und zog heftige, mitunter persönlich gerichtete und rassistisch geprägte Diffamierungen nach sich (Wiese 2015, 2017). In der Presse ist das Stichwort ‚Kiezdeutsch‘ in Medienberichten vom Jahr 2012 um ein Vielfaches frequenter als andere Benennungen (Androutsopoulos/Lauer 2013). Medienbeiträge wie der  

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Videobericht Kiezdeutsch wird gesellschaftsfähig (Spiegel Online 2012) lassen die Tragweite dieser Debatte erkennen. Während der Erwerb und Gebrauch von Kiezdeutsch laut Wiese primär mit multiethnischen urbanen Räumen und nicht mit dem Migrationshintergrund der Sprecher/innen verbunden sind (Wiese 2013), wird in journalistischen Beiträgen jener Zeit Kiezdeutsch sehr wohl Sprecher/innen mit Migrationshintergrund zugeordnet, was Wieses sprachpolitische Argumentation unterwandert (vgl. Abschn. 6). Eine bemerkenswerte Entwicklung dieser Zeit ist der Eingang des Gegenstandes Ethnolekt in Deutschlehrbücher. Dies geschieht vor der Folie früherer didaktischer Behandlungen von Sprachvarietäten (Kiesendahl 2015; Maitz 2015) und bedient sich eingespielter didaktischer Übungsmuster, etwa der ‚Übersetzung‘ von (fingierten) Äußerungen in das Standarddeutsche. Nach Gerdes (2006) gab es bereits 2003 solche Unterrichtsvorschläge in DaF-Lehrwerken, die sich Dialogen und Sprachmitteln aus der Ethno-Comedy bedienen (vgl. Kap. 2.2) und die Grenze zwischen Stilisierung und tatsächlichem Sprachgebrauch dadurch verwischen. Ab 2008 finden sich solche Unterrichtseinheiten für die Sekundarstufe in Deutschlehrbüchern mehrerer Verlage (Androutsopoulos 2011). Alle mir bekannten Unterrichtseinheiten bedienen sich rassistischer Benennungen wie Dönerdeutsch (Oldenbourg Verlag, vgl. Notzon o.J.), unhinterfragter Dichotomien zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Migranten‘ sowie Pauschalbeschreibungen der Sprache von ‚Migrantenkindern‘. Die Kiezdeutsch-Debatte markiert also eine Zäsur, bei der gesellschaftliches Wissen über ethnolektales Deutsch soweit verbreitet und verfestigt ist, dass ihre sprachdidaktische Behandlung legitim erscheint.  



2.5 Post-Kiezdeutsch: Die Konsolidierung Weitere Diskursereignisse mit der Tragweite der Kiezdeutsch-Debatte sind nach 2012 nicht zu verzeichnen. Seitdem kann insofern von einer Konsolidierungsphase gesprochen werden, als dass die Vorstellung von einem ethnolektalen Deutsch, das unter Jugendlichen mit (gelegentlich auch ohne) Migrationshintergrund geläufig sei und typische Merkmale aufweise, soweit gesamtgesellschaftlich eingespielt ist, dass sie aus ganz verschiedenen Anlässen in verschiedenen thematischen Zusammenhängen aufgegriffen werden kann. Ethnolektales Deutsch gehört nunmehr zum kollektiven Sprachwissen über den Varietätenhaushalt des Deutschen, dieses Wissen wird vielfach vorausgesetzt und kann daher auch beiläufig und spontan abgerufen werden (vgl. Androutsopoulos/Lauer 2013). Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen. Das erste ist das Zusammenspiel von Haftbefehl und POL1Z1STENS0HN (Androutsopoulos 2017). Haftbefehl, einem Offenbacher Gangsta-Rapper kurdischer Abstammung, gelang im Sommer 2013 mit dem Song und Videoclip Chabos wissen wer der Babo ist ein bundesweiter Chart-Erfolg. Sein Sprechstil wird im Feuilleton ethnisiert und zum Teil rassistisch charakterisiert,

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jedoch nicht, zumindest nicht in erster Linie, mit Kiezdeutsch direkt gleichgesetzt. Es gilt u. a. als Kreolisches Deutsch, Deutsch-Pidgin, Deutsch-türkisches Kauderwelsch, Polyglottes Offenbacherisch mit Migrationshintergrund. Am salientesten ist dabei nicht Haftbefehls Aussprache, in der allenfalls die (regionalsprachlich übliche) ich-Koronalisierung und ein (regional untypischer) gerollter R-Laut hervorstechen, sondern sein Wortgebrauch, der Elemente aus mehreren Sprachen aufgreift, kürzt und neu kombiniert. Zwei Jahre später, im November 2015, erscheint ein Videoclip des Fernsehmoderators und Medienunterhalters Jan Böhmermann unter dem Parodienamen POL1Z1STENS0HN mit dem Titel Ich hab Polizei. Es ist eine Rap-Parodie über das polizeiliche Gewaltmonopol, gegen das keine Gang ankommen könne. Dass dabei der Rapper Haftbefehl die Zielscheibe der Parodie darstellt, wird an der äußeren Ausstattung der von Böhmermann verkörperten Rapper-Figur deutlich, während die sprachliche Ausstaffierung typische ethnolektale Merkmale wie die ich-Koronalisierung und Nominalphrasen ohne Definitartikel und Präpositionen beinhaltet. In der Rezeption dieses Parodievideos wurde Böhmermann sprachliche Diskriminierung vorgeworfen, weil er durch das Aufgreifen von sprachlichen Klischees eine Belustigung auf Kosten von Menschen mit Migrationshintergrund und ihrer Sprache fördere. So schrieb der HipHop-Experte Marcus Staiger:  

so sieht es also aus, wenn sich Deutschlands „intelligentester Satiriker“ (stern) über die Unterschicht und Gangstarap lustig macht. Weißt du, ich habe es schon immer gehasst, wenn mich irgendwelche Leute mit einem lauten „Yo!“ und so komischen Handzeichen begrüßten, nur weil sie wussten, dass ich irgendwas mit HipHop zu tun habe. [...] Und ganz genau so kommt deine neueste Parodie daher. „Rap, das ist doch diese Musik, wo die Kanacken nicht richtig Deutsch können, die Präpositionen weglassen und die ganze Zeit „isch“ statt „ich“ sagen. Voll lustig, wenn man das nachäfft. Isch mach disch Krankenhaus. Muhahahahahaha.“ Ehrlich gesagt habe ich gedacht, dass diese Art des Humors nach dem Tod von Stefan und Erkan ein für allemal ausgestorben ist. Dank dir kommen jetzt die lebenden Toten zurück. (Staiger 2015)

Das zweite Beispiel ist die neuere deutsche Ethno-Comedy, eine Nische kultureller Produktion, in der Ethnolektdiskurse aufgegriffen und verarbeitet werden. Anders als in den späten 1990er-Jahren wird die neue Ethno-Comedy von Künstler/innen mit diversem Hintergrund produziert und fast ausnahmslos auf YouTube bzw. in den Sozialen Medien disseminiert vgl. Kotthoff 2004; Kotthof/Stehle 2014). Hier treten ethnolektale Merkmale in der Rede einzelner Figuren auf, und zwar entkoppelt von manchen Sozialklischees der früheren Ethno-Comedy. Ein Beispiel ist die von der türkischstämmigen Künstlerin İdil Baydar erschaffene Figur Jilet Ayse, eine Berlinerin mit Migrationshintergrund und Berliner Schnauze. Ihre Sprache stimmt in mehreren Merkmalen mit dem von Wiese beschriebenen Berliner Kiezdeutsch überein und durchbricht diverse Gender- und Verhaltensstereotype, mit denen ethnolektales Deutsch assoziiert wird. Der Hamburger Ömsen produziert seit Sommer 2016 eine Serie mit dem Titel Ausländer gegen Deutsche, in der zwei von Ömsen gespielte Figuren eine vorgegebene Situation getrennt voneinander, aber direkt nacheinander bewältigen, so dass an ihren Handlungen und Sprechweisen ihre vermeintliche eth-

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nische Typik vorgeführt wird. Die Figur des Ausländers ist dabei mit ethnolektalen Merkmalen und Wechsel in das Türkische ausgestattet, die des Deutschen mit einer norddeutschen Umgangssprache und Hamburgischen Merkmalen. Auch knapp 20 Jahre nach der frühen Ethno-Comedy (vgl. Abschn. 2.2) stehen ethnolektale Merkmale also weiterhin auf der Unterhaltungsbühne, allerdings mit zwei wichtigen Unterschieden zur Phase ihres Aufkommens: Sie werden deutlich als sprachliche Stereotypen gerahmt, und die soziale Typik ihrer Sprecherfiguren verändert sich. Auch eine Deethnisierung einzelner ethnolektaler Merkmale ist gelegentlich zu verzeichnen, wenn sie im fiktionalen Diskurs nicht mehr mit Heteroethnizität, sondern mit sozialer Schicht bzw. sozialem Milieu gekoppelt werden, so z. B. in der sehr erfolgreichen Komödie Fack ju Göthe (2013; vgl. Reershemius/Ziegler 2015). Ob diese Deethnisierung weitere Bahnen durch den Mediendiskurs ziehen wird, ist derzeit nicht abzuschätzen.  



3 Registrierung und Sprachideologie im Ethnolektdiskurs Zwei Ansätze sind in der bisherigen europäischen Forschung über öffentliche Ethnolektdiskurse zum Tragen gekommen: Die Kritische Diskursanalyse (Jäger 2001; Reisigl 2007; Spitzmüller/Warnke 2011) und die Sprachideologieforschung, der im Folgenden das Gros der Aufmerksamkeit gilt (vgl. Stroud 2004; Milani 2010; Milani/Johnson 2008; Kerswill 2014; Busch i. d. Bd.). Da eine ausführliche Darstellung den Rahmen des Beitrags sprengen würde, werden aus ihren Reihen nur einzelne Konzepte aufgegriffen. Ziel ist es zu zeigen, wie sie den Gegenstand theoretisch beleuchten, aber auch, wie der Ethnolektdiskurs die Wirkweise diskursiver und sprachideologischer Prozesse exemplarisch beleuchtet. Dass der Ethnolektdiskurs ein sprachideologischer Diskurs ist, erkennt man daran, wie sich an ihm drei zentrale Bestimmungsmerkmale des Sprachideologiebegriffs (Kroskrity 2004) abbilden. Erstens handelt er nicht von der deutschen Sprache in abstracto, sondern von sozial zugeordneten Erscheinungsformen des Deutschen. Sprechweisen und soziale Gruppen werden im Diskurs eng miteinander verwoben. Zweitens wird der Ethnolektdiskurs von unterschiedlichen sozialen Akteuren, die sich für ihre Beiträge verschiedener Formen der Herstellung von Öffentlichkeit bedienen, produziert und disseminiert (vgl. Abschn. 6). Darunter fallen nicht nur Massenmedien als historisch zentraler Schauplatz sprachideologischer Produktion und Reproduktion (Johnson/Milani 2010), sondern auch die Wissenschaft, Bildungsinstitutionen und Soziale Medien. Beiträge entstehen nach den Regeln ihrer je spezifischen Diskursebene (Jäger 2001). In Produkten der Unterhaltungsindustrie z. B. wirken Schauspieler/ innen und Drehbuchautor/innen als sprachideologische Akteure, in der Linguistik sind es Linguist/innen, in der Produktion von Bildungsmaterialien Lehrwerkautor/  



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innen usw. Durch die wechselseitige Thematisierung und Durchdringung dieser Teildiskurse, wie man sie unter der Federführung von Journalist/innen sowie in Sprachlehrbüchern beobachten kann, entsteht eine stark ausgeprägte Interdiskursivität (vgl. Abschn. 6.). Drittens bringen Ethnolektdiskurse interessensgeleitete Deutungen von Sprache und Gesellschaft hervor und laufen mitunter darauf hinaus, soziale Machtverhältnisse fortzuschreiben. Die Bewertung einer bestimmten Sprachform als illegitim, etwa als schlechtes oder bedrohliches Deutsch, ist eng verbunden mit der sozialen Bewertung ihrer typischen bzw. imaginierten Sprecher/innen als ebenfalls illegitim, randständig, fremd, möglicherweise gefährlich usw. Nicht das Sprechen über ethnolektales Deutsch an und für sich, sondern die spezifische Art und Weise seiner Repräsentation ist eine Ressource der sozialen und politischen Positionierung (Spitzmüller 2013). Die diskursive Entstehung des ethnolektalen Deutsch entspricht dem Vorgang, den Asif Agha (2003, 2007) als Registrierung (enregisterment) modelliert hat. Grundlegendes Merkmal von Registrierung ist es, dass eine sprachliche Form in einem oder mehreren diskursiven Akten mit einer sozialen Kategorie bzw. Aktivität in Verbindung gebracht wird – beispielsweise wenn man über die Konstruktion Ich gehe Bahnhof sagen würde: „Nur Migrantenkinder sprechen so!“. Registrierte sprachliche Formen können verschiedenen Strukturebenen entstammen, so im Fall Ethnolekt die ischAussprache des ich-Lauts, nackte Nominalphrasen (ich gehe Schule) und Routineformeln wie ich schwör. Registrierte Formen fügen sich zusammen in ko-okkurrierende Bündel, die Agha Repertoires nennt (Agha 2003, 231; Agha 2007, 147 ff.). Die diskursiven Akte einer Registrierung können in verschiedenen Genres bzw. Textsorten mit jeweils unterschiedlicher Reichweite vollzogen werden (Agha 2003, 245; 2007, 150 f.). Ethnolektales Deutsch wird also immer wieder registriert, wenn Zeitungsbeiträge, Deutschlehrbücher, Forschungsbeiträge, literarische Erzählungen, Stand-Up-Comedy usw. bestimmte Wörter, Aussprachen, Konstruktionen mit der Kategorie ‚Türkendeutsch‘ bzw. ‚Kiezdeutsch‘ oder mit einem (fingierten) typischen Sprecher dieser Varietäten in Verbindung bringen. Bildlich gesprochen ähnelt der Registrierungsprozess einer Endlosschleife, die immer wieder mit neuen Beispielen, Anlässen, Figuren usw. versehen wird, ohne ihre Grundstruktur zu verlieren. Während solche diskursiv hergestellten Verbindungen zwischen Sprachformen und Sprechergruppen unterstellen, eine prädiskursiv erfassbare sprachliche Realität zu beschreiben, muss das keinesfalls immer so sein. Wie u. a. Spitzmüller (2013) aufzeigt, handelt es sich bei den Kopplungen eines Registrierungsprozesses nicht zwingend um empirisch beobachtbare Fakten, sondern auch um kulturelle Modelle bzw. stereotype Zuordnungen, deren diskursive Relevanz als aufführbares Sprachwissen nicht (mehr) von ihrer empirischen Validität abhängt. – Frei formuliert: Wenn es mir ins argumentative Klischee passt, dass Migrantenkinder Isch mach disch Messer sagen, wie es mir dieser soeben gelesene Medienbeitrag nahelegt, dann ist es nicht so wichtig, ob sie es tatsächlich tun. – Die in der Registrierung geschaffenen Zuordnungen können nun den Sockel für weitreichende Schlussfolgerungen, Bewertungen und  





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Implikationen bilden. Wer so spreche, so könnte eine nahe liegende Implikation sein, könne oder wolle nicht ‚besser‘ sprechen, könnte faul, asozial, nicht vertrauenswürdig, gar gefährlich sein. Von hier aus ist es nicht weit zur sprachlichen Diskriminierung. Treibende Kraft im Registrierungsprozess ist die Standardsprachideologie (Milroy/Milroy 1999), definiert als Idealvorstellung von einer abstrakten Standardsprache, die als Maßstab für die Bewertung anderer Sprech- und Schreibweisen gesetzt wird. Dass Ethnolekte am Ideal der Standardsprache be- und abgewertet werden, sieht man bereits am Vorgehen akademischer Linguist/innen, die Ethnolekte in Gegenüberstellung zur Standardsprache beschreiben, weiterhin in sprachdidaktischen Behandlungen, die den Ethnolekt als eine Ansammlung von Abweichungen von der Standardsprache präsentieren, nicht zuletzt in Zeitungsglossaren, die vermeintlich unverständliche Wörter und Wendungen ins Hochdeutsche übersetzen – eine Praktik, die als ständige Erinnerung des nationalen Publikums an das sprachlich Gemeinsame, Verbindliche, Richtige fungiert. Beispielsweise lauten zwei Lernziele in einer von mir untersuchten Unterrichtseinheit (Lesch-Schumacher/Schumacher 2009): „Auffällige Eigenarten des Ethnolekts beschreiben können“ und „Abweichungen vom Standarddeutsch erkennen und kategorisieren können“. Praktiken, die auf der Standardsprachideologie fußen, sind soweit normalisiert, dass man sie nicht mehr als bemerkenswert wahrnimmt. Deutlich wird, dass Linguist/innen und Lehrbuchautor/innen bei der Normalisierung der Standardsprachideologie eine zentrale Rolle spielen (vgl. auch Abschn. 5). Ferner sind die drei von Judith Irvine und Susan Gal (2000) formulierten semiotischen Prozesse der Bildung von Sprachideologien anzuführen. Der Prozess der Ikonisierung (iconization) beinhaltet „a transformation of the sign relationship between linguistic features (or varieties) and the social images with which they are linked“ (Irvine/Gal 2000, 37f.). Die Relation zwischen einer Sprachform und sozialer Gruppe verändert sich dabei so, dass die Sprachform nicht mehr als indexikaler Verweis auf die Sprechergruppe verstanden wird, sondern als deren natürlicher Wesenszug bzw. Abbild. Bestimmte Aspekte von Sprache erscheinen dadurch als „pictorial guides to the nature of groups“ (Kroskrity 2004, 507) bzw. als „transparent depiction of the distinctive qualities of the group“ (Woolard 1998, 19). So wie der Dialekt zur Ikone der ‚armen‘ oder ‚ungebildeten‘ Leute gemacht werden kann, kann auch der Ethnolekt zur Ikone einer ‚anderen‘, ‚fremden‘, ‚bedrohlichen Welt‘ werden. Eine Spielart von Ikonisierung findet sich bereits in Zaimoglus Kanak Sprak, wo die unvollständige Beherrschung von Türkisch und Deutsch sinnbildlich für die Zwischenposition ihrer Sprecher zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft steht. Noch zwei Jahrzehnte später wird Ethnolekt in deutschdidaktischen Unterrichtseinheiten als symbolischer Ausdruck der Erfahrung von „Migranten der zweiten und dritten Generation [...] zwischen den Kulturen“ (Lesch-Schumacher/Schumacher 2009, 2) verwendet. Im medialen Ethnolektdiskurs der 2000er-Jahre ist die Koronalisierung des ich-Lauts (isch) nicht bloß frequentativ auffallend für den Sprachgebrauch bestimmter Migran-

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tenjugendlichen, sondern wird zu einem ihrer Erkennungskennzeichen stilisiert, immer wieder zu ihrer sozialen Charakterisierung herangezogen und mit moralischen Implikationen versehen. Der zweite Prozess, erasure (zu Deutsch: Auslöschung oder Ausblendung), vereinfacht die Komplexität des Sprachgebrauchs, indem bestimmte Sprachphänomene bzw. Sprecher/innen oder Praktiken unsichtbar gemacht werden (Irvine/Gal 2000, 38). Variationsphänomene, die sprachideologischen Leitvorstellungen nicht entsprechen, werden heruntergespielt, so dass Gruppen bzw. Sprachen als einheitlich erscheinen. In unserem Fall kann Auslöschung z. B. so aussehen, dass Neuköllner Hauptschüler in der journalistischen Darstellung nur ethnolektal sprechen, während die Variabilität ihres Sprachgebrauchs aus dem Blickfeld der Berichterstattung verschwindet. Eine zentrale Leistung der Auslöschung im Ethnolektdiskurs besteht darin, die Sprachrepertoires von Individuen und Gruppen unsichtbar zu machen und dadurch Sprechergruppen auf nichtstandardsprachliche Sprechweisen zu reduzieren, die dann in der oben beschriebenen Art und Weise ikonisiert werden können. Beim dritten Verfahren, von Irvine/Gal fraktale Rekursivität (fractal recursivity) genannt, wird eine im Diskurs etablierte, sprachideologische Opposition auf eine andere Ebene oder Dimension übertragen. Im deutschsprachigen Ethnolektdiskurs ist die sprachliche Opposition zwischen Standarddeutsch und Ethnolekt mit der sozialen Opposition zwischen Muttersprachlern und Migranten verbunden. Diese sprachliche Opposition kann nun auf eine der beiden sozialen Gruppen bezogen werden, um innerhalb dieser eine ähnlich strukturierte Binnenunterscheidung zu erzeugen. Beispielsweise kann in einer Reportage oder einem Film eine Migrantenpopulation hinsichtlich ihrer Sprachlichkeit in zwei Gruppen aufgeteilt werden: Die ‚Erfolgreichen‘ sprechen ‚besseres Deutsch‘, werden also als sprachlich näher zu den ‚Muttersprachlern’ präsentiert, während die ‚Nichterfolgreichen’ stärker ethnolektal markiert sprechen. Eine rekursive sprachideologische Struktur beschreibt mit anderer Terminologie Heike Wiese (2015, 359) am Beispiel von an sie gerichteten, anonymen Diffamierungen im Internet (vgl. Abschn. 2.5). Als Deutsche, die Kiezdeutsch erforscht und verteidigt, wird Wiese aus Sicht mancher anonymen Kritiker näher an dieses Objekt herangerückt und in stilisiertem Ethnolekt adressiert. Sprachideologische Rekursivität findet man auch im Film Fack ju Göthe (2013), wo der Protagonist, der angehende Lehrer Zeki Müller, eine Entwicklung durchlebt, die ihn mit den Normen und Werten der Institution Schule versöhnt. Am Ende dieser Entwicklung ist sein Sprachduktus und der seiner Schüler/innen viel standardnäher als zum Filmbeginn (Reershemius/Ziegler 2015).  

4 Welche Daten? Herausforderungen und Lösungen Die intermediale und interdiskursive Strukturierung des Ethnolektdiskurses stellt die Datengewinnung vor Herausforderungen. Ein aus einem Einzelmedium kompiliertes

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Korpus, so umfangreich es auch sein mag, läuft Gefahr, wichtige Diskursereignisse nicht oder nur indirekt abzubilden und kann nicht erfassen, wie verschiedene semiotische Modalitäten in den Metasprachdiskurs eingesetzt werden. Auf Grundlage meiner eigenen Forschung unterscheide ich einen qualitativ-ereignisbasierten, einen korpuslinguistisch orientierten und einen ethnografisch-rezeptionsorientierten Zugang, die im Folgenden umrissen werden. Als qualitativ-ereignisbasiert bezeichne ich eine Datensammlung, die nicht primär auf eine Mindestanzahl von Belegen abzielt, sondern auf die Dokumentation typischer Fälle innerhalb eines Diskursereignisses in einer möglichst weiten Streuung über Einzelmedien und Genres hinweg. Ende der 1990er-Jahre war es mein (damals implizites) Ziel, eine möglichst große Bandbreite von Unterhaltungsangeboten mit ‚Kanaksprak‘ über mehrere Einzelmedien hinweg (Radio, Film, Karikaturen, Webseiten) exemplarisch zu dokumentieren. Ereignisbasiert kann eine so vorgehende Korpusbildung dann genannt werden, wenn ein bestimmtes diskursives Ereignis als Dreh- und Angelpunkt für die Datensammlung dient. Eine ereignisbasierte Korpusbildung folgt gewissermaßen der medialen Intervallstruktur des Ethnolektdiskurses, seiner Fortschreibung entlang einzelner Diskursereignisse, und verfolgt das anvisierte Diskursereignis transmedial, über Einzelmediengrenzen hinweg. Allerdings kann ein solches Korpus recht klein ausfallen. Eine korpuslinguistische Datenerhebungsstrategie stellt gewissermaßen das Gegenteil des qualitativ-ereignisbasierten Vorgehens dar. Ihr Ziel ist eine möglichst umfangreiche Datensammlung auf der Grundlage eines möglichst großen Textkorpus wie des Deutschen Referenzkorpus oder einer Pressedatenbank. Androutsopoulos/ Lauer (2013) kompilieren auf Basis der Datenbank Nexis ein Korpus mit den Suchbegriffen Kiezdeutsch, Kanak Sprak, Kanakisch, Türkendeutsch, Ethnolekt über den gesamten Zeitraum der Bestände, wobei die Rohauswahl durch mehrere Filterkriterien auf insgesamt 167 Texte eingeschränkt wurde. Davon enthalten 82 Texte das ab 2007 belegte Label Kiezdeutsch. Dieses Korpus mag zwar klein sein, umfasst jedoch jeden in Nexis verzeichneten Text mit dem Ausdruck Kiezdeutsch. Ein solches Korpus ermöglicht aufgrund seines Umfangs, seiner ereignisübergreifenden Ausdehnung und der Vergleichbarkeit der einzelnen Texteinheiten, die in der Regel allesamt Pressetexte sind, einen systematischeren linguistischen Zugang zum untersuchten Diskurs. Allerdings bilden Nexis und andere Datenbanken die deutschsprachige Presselandschaft nicht lückenlos ab, Angebote bestimmter Pressekonzerne sind überrepräsentiert. Eine dritte Möglichkeit der Datengewinnung ist die Arbeit mit Produzent/innen und Rezipient/innen von Medientexten. Dies geht einher mit einer Verschiebung des Erkenntnisinteresses von den Strukturen des Diskurses selbst zu seiner Rezeption im Alltag bzw. zur Sprachbewusstheit derjenigen, die fiktionale Figuren mit ethnolektalen Sprechweisen ausstatten. In meiner eigenen Forschung habe ich solche Verfahren ergänzend und flankierend zur qualitativ-ereignisbasierten Datensammlung über die Frühphase von Kanak Sprak in den späten 1990ern eingesetzt. In narrativen Inter-

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views mit jungen Erwachsenen und Jugendlichen, die über persönliche Kontakte im Rhein-Neckar-Kreis rekrutiert wurden, konnte untersucht werden, ob mediale und nichtmediale ethnolektale Sprechweisen in der Wahrnehmung der Beteiligten einander entsprechen, wie die Beteiligten auf einzelne mediale Angebote reagieren, wie einzelne Medienfragmente aufgegriffen und recycelt werden. Hinzu kamen einzelne Interviews mit Medienunterhaltern wie Erkan und Stefan. Diese Erkenntnisse waren entscheidend für die Modellierung des Kreislaufs, der mit dem Motto „From the screens to the streets and back again“ versehen (Androutsopoulos 2001b) und später weiterentwickelt wurde (Auer 2003). Im diskurslinguistischen Mainstream sind Zugänge dieser dritten Art randständig, denn das Interesse richtet sich grundsätzlich nur auf Metasprachdiskurse in der öffentlichen Sphäre, dies auf Basis von möglichst großen Korpora. Allerdings kann eine Anreicherung der Korpusstruktur entlang der hier skizzierten Linien Erkenntnisvorteile bieten, die ein großes Pressekorpus nicht ermöglicht. Sie hilft, die Verbindung von Texten mit ihren Kontexten der Produktion und Rezeption aufzuzeigen und tatsächliche (nicht nur theoretisch modellierte) Auswirkungen des öffentlichen Diskurses auf private Meinungsbildung und Praktiken der Anschlusskommunikation aufzudecken.

5 Registrierungspraktiken Im Folgenden werden konkrete sprachliche Registrierungsverfahren unter die Lupe genommen. Wie wird das Diskursobjekt ‚Ethnolekt‘ im Journalismus, in der Sprachdidaktik und Sprachwissenschaft benannt, definiert, klassifiziert, verglichen, veranschaulicht und gedeutet? Im Verhältnis zu bekannten Ansätzen der Diskurslinguistik sind diese Verfahren am ehesten mit den Diskursstrategien des DiskursHistorischen Ansatzes zu vergleichen (Reisigl 2007). Bezogen auf den DIMEAN-Ansatz (Spitzmüller/Warnke 2011) sind es Verfahren auf Satz- bzw. Propositionsebene sowie transtextuelle Diskursverfahren.

5.1 Benennung Der Ethnolektdiskurs ist durch eine Vielzahl von Sprachbenennungen bzw. Labels geprägt. Bereits Mitte der 2000er-Jahre konnten im Deutschen und anderen germanischen Sprachen mehr als 20 solcher Benennungen identifiziert und nach den semantischen Merkmalen ihrer Grund- und Bestimmungswörter näher untersucht werden (Androutsopoulos 2007). Bei den Grundwörtern sind drei semantische Merkmale relevant. Das Merkmal ‚Sprache‘ (vgl. Stadtteilsprache, Kiez-Sprache), das Merkmal ‚Nationalsprache‘ (Kanakendeutsch, Emigrantendeutsch) und das Merkmal ‚Nonstandard‘ (Türken-Slang, Ghettoslang). Ethnolektbenennungen schließen soweit an ein etabliertes terminologisches Paradigma an, in dem neue Varietäten das Merkmal einer

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eigenständigen, durch das Erstglied näher spezifizierten ‚Sprache‘ erhalten. Die Bestimmungswörter heben zwei miteinander eng verbundene Merkmale hervor: Lokalität und Heteroethnizität. Ethnolekte werden als Sprache des ‚Ghettos‘ (Ghettodeutsch), der Nachbarschaft (Kiezdeutsch), der ‚Straße‘ (niederländisch straattaal) oder einzelner migrantisch geprägter Stadtteile (Rinkeby-Schwedisch) benannt. Manche Bestimmungswörter bezeichnen eine spezifische Ethnizität (Türkendeutsch), andere eine Art kollektiven Migrantenstatus (Kanaken-, Migrantendeutsch, weiterhin die Ableitungen Ausländisch, Kanakisch, Migrantisch). Wieder andere kodieren ethnische Alterität metonymisch: Dönerdeutsch, Lan-Sprache, norwegisch Kebab-Norsk. Die Vielfalt an Benennungen bestätigt zwei Erkenntnisse der Sprachideologieforschung: Erstens, dass in Phasen soziolinguistischer Wandlungsprozesse neue Labels vermehrt auftreten und in Debatten um gesellschaftlich umstrittene Sprachentwicklungen aufeinanderstoßen (Androutsopoulos 2011; Cornips et al. 2015; Jaspers 2008). Und zweitens, dass Benennungen nicht nur Mittel der Kategorisierung sind, sondern oft gleichzeitig auch der Bewertung. Benennungen vom Typ Emigrantendeutsch blenden interethnische Diversität aus und schaffen damit eine Betrachtungsperspektive, der alles ‚Fremde‘ gleich ist. Labels wie Dönerdeutsch setzen eine Sprechweise und indirekt auch ihre Sprecher/innen einem billigen Nahrungsmittel gleich und können als Erscheinungsformen eines alltäglichen Rassismus (vgl. Hill 1995) betrachtet werden. Hier wird auch die sprachpolitische Dimension des Labels Kiezdeutsch, das auf eine ethnisierende Bestimmung verzichtet und stattdessen den Aspekt der Lokalität enthält, erneut erkennbar. Allerdings hat die sprachideologische Debatte der Kiezdeutsch-Phase (Abschn. 2.4) offenbar zur Prägung noch stärker abwertender, mitunter rassistischer Benennungen geführt, die im journalistischen Diskurs nicht zu belegen sind. Wiese (2015) dokumentiert in dem an sie gerichteten Hassdiskurs Labels wie Tarzandeutsch, Assigestammel, Arab-Türk-Kurdensprache. Wer diese einführt und wie sie in den medialen Umlauf geraten, ist unklar. In journalistischen Beiträgen und sprachdidaktischen Unterrichtseinheiten werden Labels referenzidentisch austauschbar verwendet. Beispielsweise wird eine Sendung von Deutschlandradio Kultur vom 6. April 2006 so anmoderiert, dass sechs verschiedene Benennungen, die sich denotativ und konnotativ unterscheiden, koreferenziell angeführt werden: Kanaksprak, Sprachgemisch, Ethnolekt, Emigrantendeutsch, Migrantenslang, Slang ihrer türkischen oder arabischen Mitschüler (Androutsopoulos 2015, 219). Dabei belässt es der moderierende Journalist nicht bei wissenschaftlich legitimierter Terminologie (in diesem Fall Ethnolekt), sondern verwendet weitere Labels, ohne ihr Verhältnis zueinander zu erörtern. Ethnolekt und Sprachgemisch erscheinen dadurch gleich geeignet und legitim. Ähnliches findet man in Deutschlehrbüchern. So führt eine Unterrichtseinheit (Laasch-Schumacher/Schumacher 2009) mehrere aneinandergereihte Labels an, ohne ihre denotativen und konnotativen Unterschiede zu verdeutlichen: Ethnolekt, Jargon, Kanak Sprak, „Kanakensprache“, Kiezdeutsch, Kiezsprache, Mischsprache, Slang, Türkenslang. Solche Reihungen mögen zwar als Beitrag zur Vermittlung von Fachterminologie motiviert sein, ihr Nebeneffekt

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ist jedoch eine Verschleierung sachlicher Unterschiede und Verharmlosung abwertender Konnotationen.

5.2 Klassifizierung, Normenvergleich und soziale Verortung Mit Klassifizierung sind Äußerungen gemeint, die Ethnolekt – in der jeweils gewählten Benennung – definieren und in Verhältnis zu anderen metasprachlichen Kategorien setzen. Ist er eine Sprache, ein Stil, ein Soziolekt, eine neue Jugendsprache, ein Jugendjargon oder vielmehr ein Sprachgemisch? Solche Zuordnungen werden mit Ausnahme der fiktionalen Unterhaltungsangebote in allen untersuchten Diskursebenen vollzogen. Sie sind beteiligt an der Reproduktion einer soziolinguistischen Hierarchie (Indexikalitätsordnung, Blommaert 2007), in der das Konstrukt ‚Ethnolekt‘ gegenüber anderen Varietäten herabgestuft wird und seinen Platz als stigmatisierte Sprechweise einnimmt. Syntaktisch geht es hier oft um Prädikativkonstruktionen wie in den folgenden kurzen Auszügen: ‚Kiezdeutsch‘ lautet ein Begriff für den Jugendslang mit türkisch‑arabischem Akzent, den auch deutschstämmige Jugendliche nachahmen. (Berliner Morgenpost, 12.12.2011) Ist Kiezdeutsch ein neuer Dialekt oder nur ein Jugendslang der Parallelgesellschaft? (GeneralAnzeiger 10.3.12, Vorspann)

Ähnlich wird im unten abgedruckten Textbeispiel das Label Kiezdeutsch mit der Apposition Mischung aus Deutsch, Türkisch und Arabisch erklärt. Auch eine Zeitungsschlagzeile wie Fremdsprache Kiezdeutsch (Bonner Generalanzeiger, 24.06.2009) oder die Phrase Das als ‚Kiezdeutsch‘ verharmloste ‚Türkendeutsch‘ (private Email, vgl. Wiese 2015, 364) verbinden ihren Referenten mit sprachlicher Fremdheit. Mit Normenvergleich meine ich Äußerungen, die in diesem sprachideologisch abgesteckten Rahmen ausgewählte Merkmale des Ethnolekts in Relation zu standardsprachlichen Regelformen setzen oder nach Standardnormen bewerten und korrigieren. Hier ein Beispiel aus einer Unterrichtseinheit des Cornelsen-Verlags zum Thema „Zwischen Dialekt, Denglisch und PC – Sprache und Sprachkritik“ (Schurf/Wagener 2010, 120): Migrantenkinder haben teilweise einen Sprechstil mit reduziertem Satzbau, fehlenden Präpositionen und Artikeln, falschen Flexionsformen sowie eigenen Wendungen. Dieser reduzierte Sprachstil ist auch in die deutsche Jugendsprache übergegangen. Erörtert, ob der beschriebene Sprachstil, Umgangssprache und Dialekte denselben Stellenwert haben.

Dies steht unter fünf Impulssätzen, darunter Hast du Zigarette?, isch morgen nischt komme und dann gibt es schon mal paar Stress. Neben der Exemplifizierung ethnolektaler Leitmerkmale (vgl. Abschn. 5.3) wird hier das Klischee des rauchenden, schwänzenden Stresssuchers vergegenwärtigt. Die Übungsanleitung vermeidet ein eindeuti-

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ges Label (stattdessen: der beschriebene Sprachstil), dieses kommt aber im Kontext der Unterrichtseinheit mehrmals vor. Es fehlt hier der Platz um deutlich zu machen, wie problematisch solche sprachdidaktischen Impulse sind. Dass das zweitgenannte Beispiel als Nebensatz syntaktisch normkonform und völlig unauffällig wäre, sei als nur ein Kritikpunkt genannt. Der Normenvergleich, der mit der unten anzusprechenden Exemplifizierung eng zusammenspielt, ist der Standardsprachideologie verpflichtet, denn erst die Idealisierung der Standardsprache als Maßstab aller Vergleiche bildet die Basis für die Konzeption von Ethnolekt als Abweichung. In sprachwissenschaftlichen Beiträgen dient der Normvergleich mitunter forschungspraktischen Zwecken. Sind größere Korpora oder Kontrolldaten andersethnischer Sprecher oder deutscher Erstsprachler/innen aus der gleichen Umgebung nicht verfügbar, ist der kodifizierte Standard der wohl einzig praktikable Referenzpunkt, um ethnolektale Daten überhaupt linguistisch beschreiben zu können. Unter soziale Verortung sind Äußerungen zu verstehen, die die metasprachliche Kategorie Ethnolekt bzw. einzelne ethnolektale Sprachmerkmale mit sozialen Kategorien oder Räumen in Verbindung bringen. Für das Label Kiezdeutsch stellt die Pressediskursanalyse von Androutsopoulos/Lauer (2013) die Kategorien jugendlich, migrantenstämmig sowie die Assoziation mit statusniedrigen Stadtteilen Berlins als zentrale soziale Zuschreibungen fest. So weist das Wort Berlin ein deutlich höheres Vorkommen in diesem Textkorpus auf als andere Stadtnamen. Bei Kiezdeutsch fällt die persistente Ethnisierung durch Zuordnung zu Sprecher/innen mit Migrationshintergrund auf. Formulierungen wie ‚Ich‑mach‑dich‑Messer‘‑Dialoge türkischer Jugendlicher (Berliner Morgenpost, 17.11.2009) registrieren es immer wieder mit Heteroethnizität. Das folgende Beispiel, der erste Teil eines Beitrags des Nachrichtenmagazins Focus aus dem Jahr 2008 (Trojanowski 2008), zeigt exemplarisch, wie soziale Verortung und andere Diskursverfahren im Text arbeiten und sich in einer einzelnen Repräsentation verdichten: Oberüberschrift: Jugendsprache Überschrift: Red isch Deutsch oda was? Bildunterschrift: In den multiethnischen Bezirken deutscher Großstädte entwickelt sich eine neue Sprache Vorspann: In Großstädten unterhalten sich Jugendliche oft in „Kiezdeutsch“, einer Mischung aus Deutsch, Türkisch und Arabisch. Ob darunter ihre Deutschkenntnisse leiden, ist unter Experten umstritten. Text: Wenn du nisch abhaust, Lan, machisch disch Messa, Alta! Ischwör!“ – Ein 13-jähriger Junge auf dem Berliner U-Bahnhof Kottbusser Tor unterbricht sein Telefonat und baut sich drohend vor einem viel größeren auf. Der zögert, zieht es dann aber doch vor, schnell zu verschwinden. Zeit für den 13-jährigen, sich wieder seinem Gespräch zu widmen. „Sie so: ‚Lassma treffen. Isch so: ‚Hasttu Handy bei? Ischwör Alta, war so.“ Die Szene könnte aus dem Programm der Comedians Erkan & Stefan stammen.

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In diesem Beispiel werden Klassifizierung, Verortung und Exemplifizierung vollzogen. Kiezdeutsch wird klassifiziert, indem es als Mischung aus Deutsch, Türkisch und Arabisch beschrieben wird. Sozial verortet wird es durch zwei Angaben. Eine (mit türkisch‑arabischem Akzent) verweist auf die Herkunft der typischen Sprecher, die zweite (den auch deutschstämmige Jugendliche nachahmen) markiert sie erneut als heteroethnisch. Auch die Bildunterschrift verbindet Kiezdeutsch mit Urbanität und Multiethnizität. Auf die Exemplifizierung wird im folgenden Abschnitt eingegangen.

5.3 Sprachliche Exemplifizierung Dass der Gegenstand ‚Ethnolekt‘ durch Beispiele veranschaulicht wird, scheint unumgänglich. Weniger trivial ist die Frage, welche Sprachformen zu diesem Zweck ausgewählt und wie sie dargestellt werden. Die in journalistischen Beiträgen angeführten Beispiele für ‚Kiezdeutsch‘ repräsentieren phonetisch‑phonologische, morphosyntaktische und lexikalische Merkmale. Im ‚Kiezdeutsch‘‑Textkorpus stellen Androutsopoulos/Lauer 2013 in einer nach der Typik angeordneten Reihenfolge folgende Merkmale fest (die Schreibweisen der Originalbelege bleiben unverändert): – Durch die Schreibform isch repräsentierte Koronalisierung des ich-Lauts, /iç/ zu [iʃ], v. a. in den Pronominalformen isch, disch. – Generalisierung bestimmter Verben, z. B. Hast du U-Bahn?, Machstu rote Ampel?, Ich mach dich Messer. – Wegfall von Präpositionen und Artikeln in lokalen Präpositionalphrasen: Ich geh Schule, Wir sind Görlitzer Park, Heute fahre ich Kino. – Unsicherheit beim Kasus: Ich werd zweiter Mai fünfzehn. – Aufforderungspartikeln musstu/mussu (sprecherexklusiv) und lassma (sprechinklusiv). – Diskursmarker, die v. a. dem Türkischen und Arabischen entlehnt sind: Yalla (‚los geht’s‘), wallah/vallah (‚wirklich/echt‘), Lan (‚Mann‘). – Jugendsprachliche Wörter, z. T. lexikografisch als ‚vulgär‘ markiert: Opfer, ficken, mies, Alter.  







Das weit häufigste Merkmal, die isch-Schreibung, kommt in 81 % aller Texte (n=67) im untersuchten ‚Kiezdeutsch‘-Pressekorpus vor. Es besteht also eine enge Verbindung – eine Kollokation auf Textebene – zwischen der Benennung Kiezdeutsch und der ischSchreibform. Weder dies noch die meisten anderen oben gelisteten Merkmale sind spezifisch für Kiezdeutsch. Mit Ausnahme von musstu und lassma, die Wiese als neu grammatikalisierte Partikeln beschreibt, sind sie seit Anfang der 2000er-Jahre im medialen Umlauf nachweisbar (Androutsopoulos 2001a, 2007; Gerdes 2006) und werden als eingespielte Illustrationsmittel immer wieder recycelt. Diesen selbstbezüglichen Verweis des Mediendiskurses auf vorangehenden Mediendiskurs erkennt man

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an Äußerungen wie Ich mach dich Messer oder Hast du U-Bahn? (vgl. Androutsopoulos 2011, 109–113), die außerhalb des Mediendiskurses überhaupt nicht belegt sind. Das oben angeführte Textbeispiel zeigt drei Praktiken der Exemplifizierung auf Textebene. Die erste ist die sehr verbreitete Einsetzung von Leitmerkmalen in Schlagzeilen (Androutsopoulos 2007; Androutsopoulos/Lauer 2013; Androutsopoulos 2015). Die Schlagzeile im Beispiel führt die isch-Form an, benutzt eine Vereinfachung der Schreibform bei oder > oda, um umgangssprachliche Assimilation zu repräsentieren (und dadurch vermutlich ein insgesamt saloppes Sprechen zu indizieren) und baut propositional den bereits bekannten Kontrast zwischen Deutsch und dem Ethnolekt auf. Eine mögliche Inferenz könnte lauten: Es sei bei dieser Sprechweise wohl gar nicht klar, ob sie noch Deutsch sei oder nicht. Die Einsetzung von Leitmerkmalen in Schlagzeilen zeigt, dass Journalisten ein leserseitiges Vorwissen über Ethnolekt und seine Leitmerkmale voraussetzen, ein Sprachwissen, das freilich durch frühere Berichterstattung und fiktionale Inszenierungen mit aufgebaut wird. Androutsopoulos/ Lauer (2013) zeigen, dass im Zuge der Berichterstattung über Wieses Buch (2012) auch Schlagzeilen wie Lassma forschen (Stern, 15.03.2012) aufkommen, die ethnolektale Leitmerkmale propositional auf Wieses Buch bzw. Forschung beziehen. Die zweite am Textbeispiel erkennbare Exemplifizierungspraktik ist die fingierte Authentisierung der exemplifizierenden Äußerungen. Ob diese Dialogszene tatsächlich so stattgefunden hat, geht aus dem Medienbeitrag nicht hervor. Nach meiner Einschätzung ist sie erfunden. Ethnolektale Leitmerkmale werden jugendlichen Figuren in den Mund gelegt und dadurch als authentisch dargestellt. Man sieht hier die isch-Variante, die neue Aufforderungspartikel lassma, Formeln wie ich mach dich Messer und ich schwör, die Anrede Lan, weiterhin umgangssprachlich übliche Ellipsen wie bei ich so und war so sowie Verfremdungen im Schriftbild (machisch, Hastu). Die Differenz zwischen Kiezdeutsch und Deutsch wird gleich angesprochen, Kiezdeutsch gilt als Mischung, die Deutschkenntnisse womöglich bedrohen könnte. Eng damit verbunden ist die dritte Praktik, nämlich die inhaltliche Ausgestaltung von Exemplifizierungen, die nicht nur sprachliche Differenz vorführen, sondern auch Verhaltensweisen der exemplarischen Sprecher typisieren. Der hier fingierte Sprecher wird als bedrohlich und vermutlich gewaltbereit porträtiert. Diese propositionale Manipulation der die Leitmerkmale tragenden Äußerungen ist kein Einzelfall. Man findet sie auch 2006 im Spiegel-Titelbericht Die verlorene Welt (vgl. Abschn. 2.3) und 2008 in einem Fernsehbeitrag, in dem ein Linguist Tafelsätze in einer Sprache namens Ethnolekt vorliest und bewertet (Androutsopoulos 2011). Bei den Praktiken der Exemplifizierung geht es also nicht nur darum, ob die repräsentierten Sprachmerkmale im philologischen Sinne ‚authentisch‘ sind. Nicht nur wie die typisierten Ethnolektsprecher reden, sondern auch was sie sagen, ist sprachideologisch von Belang. Diese Zusammenführung von Form und Inhalt bereitet den Boden für die Ikonisierung des Ethnolekts (Abschn. 3).

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5.4 Dichotome Deutungsrahmen In einem früheren Beitrag (Androutsopoulos 2007) diskutiere ich die hier beschriebenen Verfahren mit dem Begriff ‚Binarismen’. Gemeint ist, dass Berichte über ethnolektale Phänomene immer wieder auf adversative Konstruktionen mit zwei entgegengesetzten Deutungsrahmen zurückgreifen, wobei eine der beiden Deutungen im Kontext als zutreffender herausgestellt wird. Stellen z. B. Ethnolekte eine Verfallserscheinung oder sprachliche Kreativität dar? Sind sie eine Bedrohung oder Bereicherung für die deutsche Sprache? Solche offenbar bewertenden und oft kulturpessimistisch gefärbten Rahmungsalternativen greifen die in der Jugendsprachforschung sowie im Diskurs zu Sprache in den Neuen Medien bekannte Polarität von ‚Bedrohung‘ und ‚Bereicherung‘ auf (Neuland 2008). Soweit ähnelt der Ethnolektdiskurs anderen rezenten Metasprachdiskursen, in denen Heteroethnizität keine Rolle spielt. Es gibt aber auch Unterschiede, nämlich neue Dichotomien, die im früheren Jugendsprachdiskurs nicht zu finden sind. Die wichtigste ist die auf Sprechergruppen bezogene Grenze zwischen ‚Uns‘/‚Deutschen‘ und ‚Anderen‘/‚Ausländern‘, eine Grenze, die mit der Unterscheidung zwischen ‚Deutsch‘ und ‚Ethnolekt‘ verwoben ist. Ausschlaggebend dabei ist kein spezifischer ethnischer Hintergrund, sondern die Heteroethnizität der vermeintlichen Ethnolektsprecher, ihre unumgängliche Differenz zur diskursiv konstruierten Ingroup der ‚Muttersprachler‘. Auffallend oft geschieht dies indirekt und stillschweigend, indem z. B. eine ‚Nachahmung‘von Ethnolektmerkmalen durch ‚deutsche Jugendliche‘ festgestellt und sogar beklagt wird:  



Auch die Vorsitzende des Landes-Schülerausschusses, Beatrice Knörich, kann sich mit dem Stummeldeutsch in unserer Stadt nicht anfreunden: „Das klingt voll daneben. Ich finde es äußerst bedenklich, dass auch deutsche Jugendliche mittlerweile so sprechen.“ (Berliner Kurier, 16.02.2012)

Die Stigmatisierung von ‚Kiezdeutsch‘ wird hier durch die Abwertung Stummeldeutsch und das Prädikat klingt voll daneben zum Ausdruck gebracht, die soziale Dichotomie durch die Kontrastierung zu ‚deutschen Jugendlichen‘. Ob der Ausdruck Stummeldeutsch der journalistischen Perspektive entspricht oder zitiert wird, bleibt unklar. Deutlich wird hingegen, dass dieser Diskurs nach dem Prinzip des ius sanguinis, der Zugehörigkeit durch Abstammung operiert: Die Migrantenjugendlichen sind a priori keine ‚deutschen Jugendlichen‘, denn Deutsch steht für Abstammung und nicht für Staatsangehörigkeit. Diese im Grunde rassistische Wir/Sie-Dichotomie, bei der Sprecher qua Abstammung aus dem Kollektiv ausgegrenzt und in ihrer Sprachlichkeit stigmatisiert werden, dokumentiert auch Wiese (2017, 349) in an sie gerichteten E-Mails mit Bezug auf die Rezeption ihrer Medienauftritte. Kiezdeutsch wird vom ‚guten Deutsch‘ genauso getrennt gehalten wie seine Sprecher von ‚den Deutschen‘. Es liegen also dichotomisierende Deutungsrahmen zweierlei Art vor. Einerseits alternative sprachpflegerische Deutungen der Sprechweise, andererseits eine doppel-

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te Opposition (vgl. Abschn. 3) von Sprache und Ethnizität. Beide Dichotomien sind auch im Bildungsdiskurs präsent. Die Unterrichtseinheit des Raabe-Verlags (LeschSchumacher/Schumacher 2009) etwa arbeitet durchgehend mit der bereits mehrmals angesprochenen Assoziation von Fremdheit. Die Ausgrenzung des Ethnolekts aus der Nationalsprache Deutsch wird schon in den Überschriften erkennbar, die ihn mit Attributen wie fremde Töne, Importe, Minderheitensprache versehen und dem gesprochenem Alltagsdeutsch gegenüberstellen.

6 Akteure im Ethnolektdiskurs: Die Rolle der Sprachwissenschaftler/innen Am Ethnolektdiskurs nehmen Journalist/innen, Linguist/innen, Pädagog/innen, Künstler/innen, Vertreter/innen politischer oder kultureller Institutionen, hin und wieder auch Jugendliche teil. Was sie jeweils sagen, richtet sich aus diskurstheoretischer Sicht nach den Formationsregeln der Diskursebene, in der sie operieren (zu Foucaults Begriff der Diskursformation vgl. Jäger 2001; Spitzmüller/Warnke 2011). Nicht alle Aussagen sind in allen Teildiskursen möglich. In Film und Comedy können dank der poetischen Lizenz des fiktionalen Dialogs auch spielerische Schmähungen von gesellschaftlichen Minderheiten und ihren Sprechweisen geäußert werden, die in anderen Teildiskursen undenkbar wären. Technische Aussagen, etwa phonologische oder prosodische Beschreibungen ethnolektaler Sprachformen, finden sich nur im linguistischen Teildiskurs. Für die Presse wären sie zu kompliziert, in Unterhaltungsgenres allenfalls zur Parodie geeignet. Andererseits sind bestimmte Äußerungen sehr wohl über mehrere Teildiskurse verstreut. Die Aussage etwa, dass Ethnolekte eine Abweichung von der Standardsprache darstellen, wird man in linguistischen und journalistischen Beiträgen genauso finden wie in Unterrichtseinheiten, in einer genreadäquaten Formulierung vielleicht sogar in einem Filmdialog. Ein übergreifender Ethnolektdiskurs mit gesamtgesellschaftlicher Reichweite entsteht erst durch die Verzahnung von solchen Teildiskursen in einem bestimmten historischen Zeitfenster. Zentrale Mechanismen dieser Verzahnung sind aus diskurstheoretischer Sicht die Interdiskursivität (Bezugnahme auf andere Teildiskurse bzw. Diskursebenen) und Intertextualität (Bezugnahme auf einzelne Prätexte). Ausschnitte aus einzelnen Diskursen werden zusammengeführt, aufeinander bezogen, miteinander verglichen und kontrastiert, und zwar nach den Regeln desjenigen Teildiskurses, in dem die intertextuelle Kompilation vollzogen wird. Im Fall des Ethnolektdiskurses geschieht dies v. a. im Journalismus und der Sprachdidaktik. Für die Berichterstattung über Sprache und Gesellschaft ist es ja konstitutiv, Fragmente aus mehreren Diskursebenen selegierend und moderierend aufeinander zu beziehen. Die dabei zitierten oder erwähnten Akteure werden identifiziert durch ihre Profession (Linguisten, Psychologieprofessorin, Lehrer) oder durch Typisierungen wie Sprachexperten, Sprach 

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forscher oder Sprachhüter, die aus journalistischer Sicht leicht miteinander kontrastiert und polarisiert werden. Die Details dieser Zusammenführung tragen zum Aufbau einer je nach Publikationsorgan, Textsorte und Thema variablen Dramaturgie der Berichterstattung bei. Auch deutschdidaktische Unterrichtseinheiten leben von einer facettenreich ausgestalteten Präsentation des Gegenstandes anhand von Materialien aus Wissenschaft, Journalismus und Populärkultur und sind in diesem Sinne hochgradig interdiskursiv geprägt. So findet man in einer Unterrichtseinheit des RaabeVerlags (Lesch-Schumacher/Schumacher 2009) Auszüge aus dem Buch Kanak-Sprak (1995), einem im Jahr 2000 von mir aufgezeichneten Interviewgespräch mit den Comedians Erkan und Stefan, einem Text aus dem Glossar von Freidank (2000), einem Spiegel-Bericht von 2006 mit dem Titel „Die verlorene Welt“ (vgl. Androutsopoulos 2007), einem Polylux-Video von 2007 (vgl. Androutsopoulos 2011) und dem oben angeführten Focus-Beitrag von 2008. Untersucht man nun journalistische Beiträge zum Ethnolektdiskurs auf die darin vorkommenden Akteure, nehmen akademische Linguist/innen eine zentrale Stellung ein. Eine scharfe Trennung zwischen journalistischer und wissenschaftlicher Repräsentation, zwischen Medienbeiträgen und Fachexpert/innen ist im Ethnolektdiskurs genauso wenig aufrechtzuerhalten wie im Anglizismendiskurs. Vielmehr ist hier die Linguistik „selbst Akteurin mit eigenen (berechtigten) Interessen“ (Spitzmüller 2006, 259). Aus journalistischer Sicht ist die Einbeziehung akademischer Expert/innen in die metasprachliche Berichterstattung unabdingbar. Ihnen wird die Definition und Klassifizierung neuer Sprachphänomene in der Regel überlassen, und zwar auch dann, wenn ihre Positionen im Laufe des Medienberichts angefochten oder unterwandert werden, wie gleich noch zu zeigen ist. Akademische Forscher/innen stehen ihrerseits unter gestiegenem Druck, ihre Ergebnisse in der Öffentlichkeit vorzustellen und mediale Aufmerksamkeit zu gewinnen. Wie behandeln Journalist/innen sprachwissenschaftliche Stellungnahmen zum Ethnolektdiskurs? Im ‚Kiezdeutsch‘-Textkorpus konnten drei Aspekte untersucht werden: Wie Expertenbeiträge gerahmt werden, wie der Gegenstand ‚Ethnolekt‘ gerahmt wird und wie Polarisierungen zwischen den Diskurspositionen akademischer und nichtakademischer Akteure inszeniert werden (Androutsopoulos 2015). Für die Rahmung von Expertenbeiträgen werden, wie im deutschsprachigen Journalismus üblich, Verben des Redens bzw. Handelns herangezogen und variiert. Dabei werden akademischen und nichtakademischen Akteuren jeweils andere verba dicendi zugeordnet, um ihre illokutionäre Absicht bzw. Einstellung zum Gesagten interpretativ zu signalisieren. Während z. B. die zitierten oder paraphrasierten Stellungnahmen von Heike Wiese durch metapragmatische Verben wie loben, betonen, versichern oder plädieren eingeführt werden, sind Verbalausdrücke, die Kritik oder Ablehnung signalisieren (kritisieren, befürchten), nichtakademischen Akteuren vorbehalten: Sprach-Experten warnen vor dem „Kiezdeutsch“, Experten laufen Sturm gegen die Verschandelung. Der zweite Bereich ist der journalistische Umgang mit dem Label Kiezdeutsch, das immer wieder umschrieben und durch andere, vermutlich als geläufiger angenom 

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mene Kategorisierungen ersetzt wird. Oft wird Kiezdeutsch im Ko-Text als Slang bzw. Jargon expliziert, allerdings entstehen dadurch Assoziationen von Gruppenspezifik und Unverständlichkeit, die nicht der fachlichen Begriffsbestimmung angehören. Die journalistische Umschreibungsarbeit geht so weit, dass Kiezdeutsch immer wieder reethnisiert wird, etwa wenn es heißt: Spiegelt die Kiezsprache der türkischstämmigen Jugendlichen das Integrationsproblem? (Die Welt, 4.6.2009). Wird Kiezdeutsch Sprechern mit türkischem Hintergrund zugeordnet und ‚deutschstämmigen Jugendlichen‘ gegenübergestellt, so wird dadurch immer wieder die Registrierung vollzogen, die durch den Terminus Kiezdeutsch eigentlich vermieden werden sollte. Typisch für den Ethnolektdiskurs sind weiterhin Polarisierungen, die die oben beschriebenen Deutungsmuster aufgreifen und konkreten Diskurspositionen zuordnen. Solche Polarisierungen werden manchmal innerhalb der Sprachwissenschaft inszeniert. In Stellungnahmen einiger Linguist/innen wird Wieses These von Kiezdeutsch als Dialekt relativiert oder ausdrücklich abgelehnt (vgl. auch Wiese 2015, 347; Auer 2013) und stattdessen von einer Jugendsprache oder einem Sprachkontaktphänomen gesprochen. Im folgenden Beispiel wird die Gegenüberstellung in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen mit teilweise parallelisierten Konstruktionen (Manche Wissenschaftler ... einen neuen Dialekt. Für andere ... eine dialektübergreifende Variante) realisiert. Die redaktionelle Bemühung um Kontrastierung lässt sich an der lexikalischen Varianz zwischen Linguistin und Sprachwissenschaftlerin ablesen. ‚Kiezdeutsch‘ und die sogenannte ‚Kanakensprache‘ erfreuen sich [...] wachsender Beliebtheit. Manche Wissenschaftler, wie die Potsdamer Linguistin Heike Wiese, sehen in der Ausdrucksweise einen neuen Dialekt. Für andere, wie die Mannheimer Sprachwissenschaftlerin Rosemary Tracy, sind sie dagegen eine dialektübergreifende Variante und ‚eine völlig normale Erscheinung, überall, wo Sprachen in Kontakt kommen‘. (Stuttgarter Zeitung, 17.03.2012)

Noch häufiger werden Akteure aus der Wissenschaft (Wissenschaftler, Sprachforscher, Germanistin) solchen aus anderen Institutionen, die als Sprachhüter und Sprachschützer identifiziert werden, gegenübergestellt. Die Personen, die im Einzelfall diese Diskursposition bekleiden, reichen von Vertretern sprachkonservativer Vereine (Verein Deutsche Sprache, Verein für Sprachpflege) bis zur Ex-Präsidentin des Goethe Instituts Jutta Limbach, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen. Das zweite Beispiel entstammt einem Bericht des Nachrichtenmagazins Spiegel, in dem Limbach und Wiese über mehrere Absätze hinweg abwechselnd referiert und zitiert werden. Sprachschützer haben davor gewarnt, stammelndes ‚Kiez-Deutsch‘ als Dialekt aufzuwerten. Stattdessen sollten Sprachforscher stärker die Bedeutung von Standarddeutsch betonen, forderte der Chefredakteur der ‚Deutschen Sprachwelt‘, Thomas Paulwitz, anlässlich des ‚Internationalen Tages der Muttersprache‘ an diesem Dienstag. (General-Anzeiger, 21.02.2012) Dass Politiker und Sprachhüter wie die Präsidentin des Goethe-Instituts Jutta Limbach das ganz anders sehen, ist Wiese sehr wohl bewusst. Erst kürzlich hat Limbach sich wieder besorgt über die Gefährdung der deutschen Sprache geäußert. In vielen Vierteln unserer Großstädte, so meint

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sie, nehme die Zahl der Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu, die weder das Hochdeutsche noch die Sprache ihrer Eltern, etwa das Türkische, korrekt beherrschten. Mit dem Ergebnis, dass aus lauter Unbeholfenheit nur noch in Infinitiven geredet werde. (Spiegel, 15.10.2007)

Es ist die Diskursposition der Sprachhüter und Sprachschützer, von der aus kritische bis ablehnende Haltungen zu ethnolektalen Sprechweisen geäußert werden. Mal sind Ethnolekte demnach ein Ergebnis ‚schlechter Sprachförderung‘, mal werden sie als schlicht ‚falsch‘ erachtet, als ‚Gestammel‘ herabwürdigt oder wie in der Stellungnahme Limbachs mit sog. ‚Halbsprachigkeit‘ assoziiert (kritisch dazu vgl. Wiese 2011). Von dieser Diskursposition aus wird Ethnolekt, wie bereits ausgeführt, von der ‚deutschen Sprache‘, für die er eine ‚Bedrohung‘ oder ‚Gefährdung‘ darstelle, auf Distanz gehalten. Was aus dieser Diskursposition gesagt werden kann, markiert die Grenze des Sagbaren im metasprachlichen Pressediskurs. Dass diese Grenze in der Online-Welt weit ins Extreme verschoben ist, dokumentiert Wiese (2015). Problematisch ist m. E. dabei, dass diese Stellungnahmen, die hin und wieder unverhohlen diskriminierend ausfallen, in der journalistischen Rahmung nicht, jedenfalls nicht immer, entsprechend markiert werden, sondern gleichermaßen legitim und plausibel erscheinen wie wissenschaftliche Stellungnahmen. Hinter der eingespielten Deutungsfigur der ‚Bedrohung‘ entsteht somit, auch unintendiert, Raum für Aussagen, die sprachlichen Nationalismus und die Exklusion sozialer Gruppen fördern.  

7 Schlussfolgerungen Was lernt man aus dem Fall Ethnolekt über Sprache im Urteil der Öffentlichkeit? Vier Punkte können zusammenfassend festgehalten werden. Der erste führt zurück zur Prämisse dieses Beitrags: Im öffentlichen Diskurs wird sprachliche Variation durch metapragmatische Reflexion in eine Varietät verwandelt. Diese Reflexion, gestützt durch institutionelle Autorität und professionelle Praktiken der semiotischen Inszenierung, greift indexikale Bedeutungen auf, die sich bereits im sozialen Umlauf befinden, und potenziert sie, verleiht ihnen gesamtgesellschaftliche Reichweite, spitzt sie interpretativ zu und transformiert sie weiter. Dadurch erreicht eine soziolinguistische Registrierung auch Menschen, die an sich keinen erlebten Kontakt zur fraglichen Sprachvarianz haben (Androutsopoulos 2001b; Auer 2003) und führt nicht nur zur Erweiterung des kollektiven Sprachwissens, sondern auch zur Bildung von Bewertungsstrukturen, die wiederum die Grundlage für eine Abwertung, Stigmatisierung und Exklusion sozialer Gruppen bilden können (Androutsopoulos 2011; Wiese 2015). Eine linguistische Untersuchung der öffentlichen Repräsentation von Sprachvarietäten kann und sollte daher nicht bei der Frage stehen bleiben, ob die repräsentierten Sprachmerkmale mit empirisch dokumentierter Sprachvariation übereinstimmen oder nicht. Zweitens sieht man, dass nicht alles am untersuchten Ethnolektdiskurs neu und einmalig ist. Auch in anderen Metasprachdiskursen, etwa über Anglizismen oder die

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Rechtschreibreform, geben einzelne Diskursereignisse den Anlass dafür, dass ein Sprachphänomen mit Fragen der nationalen Identität in Verbindung gebracht wird. Dafür ist die intermediale, transmediale und interdiskursive Struktur des untersuchten Ethnolektdiskurses in starkem Maße ausgeprägt. Intermedial, da Repräsentationen aus einem Medium in andere Medien überführt werden (z. B. Comedy-Performance in gedruckten Medienbeiträgen); transmedial, indem bestimmte Diskursereignisse in verschiedenen Medien gleichzeitig bearbeitet werden (Fall Rütlischule); und interdiskursiv, indem Elemente verschiedener Teildiskurse sich vermengen (Comedy im Deutschunterricht). Dass verschiedene Medien in einem Registrierungsprozess eine Rolle spielen, wird in der Forschung zwar angesprochen (u. a. Agha 2003; Irvine/Gal 2001; Johnson 2011), die hier dokumentierte, starke Ausprägung der intermedialen und interdiskursiven Dimension gibt jedoch Anlass zur Frage, ob Registrierungsprozesse in mediatisierten Gesellschaften vielleicht grundsätzlich transmedial verlaufen, und ruft zum Beschreiten neuer Wege bei der Erstellung von diskursanalytischen Korpora auf. Ein dritter Punkt ist die sprachliche Diskriminierung, die in Teilen des Ethnolektdiskurses manchmal unverhohlen, häufiger jedoch implizit und unauffällig zum Tragen kommt. Die Untersuchung bestätigt den diskurs- und soziolinguistischen Befund, dass in spätmodernen westlichen Gesellschaften Sprache das letzte Gebiet eines offen aussprechbaren Rassismus darstellt (vgl. Hill 1995; Milani 2010; Stroud 2004; Wiese 2015). Zugegeben ist eine ausdrückliche Entmenschlichung und Herabwürdigung aufgrund von Sprache im öffentlichen Ethnolektdiskurs nicht vorherrschend, sieht man einmal vom halböffentlichen Kreislauf der Social Media ab, dem in der zukünftigen Forschung mehr Aufmerksamkeit zukommen sollte. Frappierend und sprachpolitisch bedrückend ist jedoch die weitgehende Normalisierung des Abstammungsprinzips im journalistischen und sprachdidaktischen Diskurs. Offensichtlich wird Ethnolekt nicht einfach wie eine neue Jugendsprache oder eine andere Nonstandardvarietät behandelt, sondern als etwas, das außerhalb des imaginierten deutschen Sprecherkollektivs steht und dieses bedroht. Sieht man von gelegentlichen sprachlichen ‚Nachahmungen‘ ab, können Ethnolektsprecher diesem Diskurs zufolge nie ‚Deutsche‘ sein, sondern immer nur ‚die Anderen‘. Dass bei dieser Dichotomie die Staatsangehörigkeit und somit geltendes Verfassungsrecht keine Rolle spielt, und dass die Ausgrenzung ganzer Sprechergruppen sozialpolitischen Anliegen rund um Migration und Integration zuwiderläuft, ist offensichtlich. Dieser Ausgrenzungstopos (Wiese 2017) ist nicht zuletzt deshalb sprachpolitisch und -didaktisch alarmierend, weil er im Grunde mit Prämissen des aufkommenden Nationalismus und Rechtspopulismus übereinstimmt. Welche sprachpolitische Verantwortung kommt in diesem Gefüge Sprachwissenschaftler/innen zu? Rückblickend fällt (selbst)kritisch auf, wie leicht(fertig) Linguist/innen – der Verfasser eingeschlossen – ethnisierende Labels wie Türkendeutsch, Türkenslang und Kanakischdeutsch in ihren Publikationen aufgegriffen haben. Man mag sich dadurch einen Anschluss an aktuelle gesellschaftliche Diskurse erhoffen, indirekt werden jedoch sprachideologische Deutungen reproduziert. Und  



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während solche Labels ausdrücklich als Laienbezeichnungen aufgegriffen wurden, wurde in der Vergangenheit nicht wirklich nachgefragt, wessen Perspektive sie genau repräsentieren. Kritische Bewusstheit über die sprachideologischen Implikationen von Benennungspraktiken ist für die Zukunft nicht nur wünschenswert, sondern erforderlich. Das Gleiche gilt für zentrale Züge und Topoi des Ethnolektdiskurses, die bis dato in den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft unkritisch reproduziert werden. Es mag durchaus sein, dass Lehrbuchautor/innen und Linguist/innen Dichotomien zwischen Ethnolekt und Deutsch als dialogische Reaktion auf öffentliche Sprachideologien aufgreifen und diese eigentlich relativieren bzw. widerlegen wollen – sie reproduzieren sie dennoch. In ihrer Betätigung als öffentlich auftretende Sprachexpert/innen dürfen Linguist/innen nicht dem Trugschluss aufsitzen, dass eine fachliche Stellungnahme, so differenziert und zutreffend sie auch ausfallen mag, an sich zur Aufklärung beiträgt, solange die Rahmung dieser Stellungnahme im journalistischen Endprodukt sich der Kontrolle der wissenschaftlichen Akteure entzieht. Voraussetzung für eine in der Öffentlichkeit engagierten Sprachwissenschaft, diesen Schluss kann man am Beispiel Ethnolektdiskurs ziehen, ist nicht nur der Wille zur öffentlichen Aufklärung über Sprache und Gesellschaft, sondern auch die Kompetenz, die Rekontextualisierung der eigenen Beiträge im intermedialen Kreislauf antizipieren und mitbestimmen zu können.

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16. Sprache und Diskriminierung: Soziale Ungleichheit als Gegenstand emanzipatorischer Sprachpolitik Abstract: Wenn Sprachkritik zur politischen Handlung wird, spricht man von Sprachpolitik. Der Beitrag stellt nach einer Definition von Sprachpolitik verschiedene theoretische Begründungen für politisch motivierte Sprachregulationen vor und kombiniert dabei Zugänge aus der Privileg-Theorie, der Critical-Whiteness- und der Intersektionalitätsforschung sowie Vorschläge zur Erhöhung von antidiskriminierender Sprachsensibilität mit Ansätzen der (Linguistischen) Diskursanalyse. Dabei werden verschiedene Formen von Sprachregulationen erläutert. Es handelt sich größtenteils um Selbstverpflichtungen der ‚Political Correctness‘, von denen einige jedoch auch bereits gesetzlich verankert wurden. Im dritten Abschnitt werden Gegenargumente zusammengefasst sowie praktische Risiken und theoretische Dilemmata von Sprachpolitik dargestellt.  

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Einleitung Motivation und Ziele politischer Sprachregulation Gefahren politischer Sprachregulation Fazit Literatur

1 Einleitung Politik und Sprache hängen auf so vielfältige Weise zusammen, dass ihrer Verquickung seit Jahrhunderten unzählige Schriften gewidmet werden (vgl. Chilton 2004, 3–29). Meist beschäftigen sich diese dann, von der antiken Rhetorik über Victor Klemperer bis zur Kritischen Diskursanalyse, mit der Rolle der Sprache als politischem Werkzeug, als Mittel zu Persuasion und Propaganda. Schon immer hat Menschen aber auch die Frage interessiert, was geschieht, wenn Sprache zum Gegenstand von Politik wird (vgl. Joseph 2006). Unter welchen Umständen wird die Beschäftigung mit Sprache zu Sprachpolitik? Wenn ich hier von Sprachpolitik rede, so verstehe ich Politik im Sinne von engl. politics als ‚staatlich-institutionelle, gesetzlich verankerte Sprachregeln‘, aber auch allgemeiner im Sinne von engl. policy: ‚Sprachregulationen, (selbstauferlegte) Sprachregeln‘. Der Gegenstandsbereich einer Untersuchung zu Sprachpolitik reicht also von Phänohttps://doi.org/10.1515/9783110296150-017

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menen des staatlichen Sprachenschutzes bis hin zu individuellen Praktiken der ‚Political Correctness‘. Ohnehin handelt es sich in den (wenigen) Fällen, in denen sprachregulative Maßnahmen bereits gesetzlich verankert wurden, historisch üblicherweise um eine Entwicklung von policies zu politics, d. h. die Entwicklung des Regulariums lag zeitlich vor dessen gesetzlicher Verankerung. Im Folgenden werden mich bestimmte Formen von Sprachpolitik interessieren: Jene, die sich auf den Umgang mit und die Repräsentation von gesellschaftlicher und sprachlicher Vielfalt richten und sich als Ziel setzen, Ungerechtigkeit und systematische Diskriminierung subversiv zu unterlaufen. Das heißt, dass das weite Feld der Forschung zu Sprachpolitik in Nationalstaaten hier unberücksichtigt bleibt (vgl. dazu einschlägig Jaffe 1999 und Ricento 2009). Auch die noch weiter reichende Frage, was überhaupt (eine) Sprache sei, und die Untersuchung von Sprachideologien (vgl. dazu die Beiträge von Busch und Moschonas in diesem Band) können unter dem Stichwort Sprachpolitik verhandelt werden. Unter den Maßnahmen antidiskriminierender Sprachpolitik sind jene der ‚Political Correctness‘, die den sprachlichen Umgang mit gesellschaftlich marginalisierten und an einer oder mehreren Dimensionen diskriminierten Gruppen regulieren, vermutlich die bekanntesten und meist diskutierten (dazu historisch Kapitzky 2000). Dazu gehören aber auch die politische Förderung von Minderheitensprachen sowie die geplante Öffnung des öffentlichen Diskurses, um Diskriminierten den Zugang zu ermöglichen. Insgesamt unterscheiden sich die sprachpolitischen Bewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts von der Sprachpolitik etwa eines Joachim Heinrich Campe, der – in seinen aufklärerischen Anfängen – versuchte, durch Übersetzungen lateinischer und französischer Fachwörter die breite Masse am politischen Diskurs zu beteiligen (vgl. Orgeldinger 1999; Schiewe 1998), darin, dass sie von Betroffenen ausgehen. Dies sowohl in dem Sinne, dass es von Diskriminierung Betroffene sind, die die entsprechenden Regularien entwerfen und allererst durchsetzen, als auch in dem Sinne, dass, wo Nichtbetroffene etwa an der politischen Umsetzung beteiligt sind, diese sich um eine Perspektivenübernahme bemühen. Dies schützt selbstredend nicht vor aufklärerischem Paternalismus – doch ist die Reflexion über die Rolle von Verbündeten (engl. allies) – also Nichtbetroffenen, die die entsprechende Praxis unterstützen – substantieller Bestandteil der sprachpolitischen Überlegungen. Durch das World Wide Web ist die sprachpolitische Debatte bedeutend verbreitert worden. Das Web hat einiges dazu beigetragen, marginalisierten Gruppen eine Stimme zu geben – wenn dies auch weiterhin nicht heißt, dass sie tatsächlich gehört würden (zu Gentrifizierungseffekten im Web vgl. erhellend Park/Leonard 2014). Da nicht wenige Ansätze aktueller Sprachpolitik bisher sogar nur online zu finden sind und/oder nur dort in theoretischer Tiefe diskutiert werden, wird dieser Beitrag, wo nötig, auf die entsprechenden Online-Quellen Bezug nehmen. Grundsätzlich liegt sprachpolitischen Maßnahmen eine bestimmte Vorstellung von der ‚Macht der Sprache‘ zugrunde. Dem Sprachgebrauch wird ein entscheidender  



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Anteil an der Gestaltung von Gesellschaft zugesprochen und es wird ein enges Verhältnis von Sprache und Denken sowie häufig auch die Möglichkeit der gegenseitigen Beeinflussung angenommen (vgl. Tereick 2009). Wenn Einzelne oder Gruppen sprachpolitisch tätig werden, ist dies daher meist in politische Handlungen nichtsprachlicher Art eingebettet, die es erschweren können, Politik und Sprachpolitik streng voneinander abzugrenzen. Sprachpolitik geht so gut wie immer mit allgemeinerem politischen Aktivismus und weiteren Maßnahmen wie der Forderung nach Quoten einher. Diese Ausrichtung an allgemeinen gesellschaftlichen Fragen kann den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit oder – wenn sich Linguist_innen mit dem Thema beschäftigen – des Nicht-linguistisch-Seins nach sich ziehen. Sprachpolitik ist jedoch, auch wenn sie mit weiteren Forderungen einhergeht, immer sprachbezogen. Die Vorschläge für Regularien sind sprachlich und die konkreten Umsetzungsideen häufig Ausdruck sprachlicher Kreativität. Das Ziel ist dabei durchaus bescheiden und kritisch reflektiert: Auch wenn Ideen der Social Justice (sozialen Gerechtigkeit) zum theoretischen Maßstab genommen werden, wird nicht etwa allumfassende Gerechtigkeit oder die ideale Gesellschaft angestrebt – sondern der sprachliche Ausdruck von Solidarität (vgl. Scholz 2008) und das Schaffen kleiner Schutzräume für von Diskriminierung Betroffene (vgl. Hornscheidt 2012; AG Feministisch Sprachhandeln 2014). Entsprechend wird der Sprache auch nicht eine unverhältnismäßig magische Funktion zugeschrieben oder von ihr erwartet, dass sie Unterdrückungsverhältnisse umkehren könne. Emanzipation und die Aufhebung sozialer Schranken ist nur in kleinem Rahmen möglich. Das Hauptziel der hier im Fokus stehenden Sprachpolitik ist hingegen, ein Bewusstsein für Vielfalt und Sensibilität für personenbezogene sprachliche Varianz zu entwickeln. In diesem Beitrag geht es nicht um eine Auflistung konkreter sprachpolitischer Maßnahmen (vgl. dazu Tereick 2014), sondern um die Darstellung der Hintergründe. Um jedoch die Anschaulichkeit zu erhöhen, werden einige sprachpolitische Vorschläge umgesetzt, so etwa das Großschreiben/Kursivsetzen der Ausdrücke „Schwarz“ und „weiß“ beim Bezug auf menschliche ‚Hautfarben‘ (eine übliche Praxis, um selbige als Konstrukte zu markieren und auf die Willkürlichkeit des Standards weiß hinzuweisen), das Trigger-Sternchen (Ausblendung von Bestandteilen von Triggerwörtern) sowie der Trans_Gender_Gap.

2 Motivation und Ziele politischer Sprachregulation Zum Verständnis antidiskriminatorischer Sprachkritik und aller hier beschriebenen sprachpolitischen Maßnahmen ist entscheidend, dass sie – und zwar durchaus nicht unkritisch oder unreflektiert, sondern auf Grundlage der entsprechenden Forschung von Foucault bis bell hooks – unter der Annahme geschehen, dass es unterdrückende Machtverhältnisse gibt. Gesellschaftliche Ungleichheit wird damit als Ungerechtigkeit interpretiert (ohne dass das Ziel der Sprachpolitik notwendigerweise „Gerechtigkeit“

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sein müsse). Dies ist wichtig zu wissen, um die beschriebenen sprachpolitischen Maßnahmen einordnen zu können. Denn stimmt man dem Befund einer repressiven Gesellschaft nicht zu, müssen alle beschriebenen Maßnahmen notwendig sinnlos erscheinen (was nicht heißen soll, dass sie nicht auch dann sinnlos oder kontraproduktiv erscheinen können, wenn man ihr zustimmt – dazu Abschnitt 3). Antidiskriminatorische Sprachpolitik adressiert also aus kritischer Sicht Exklusionsmechanismen des Diskurses. Dazu gehört auch, staatliche und gesellschaftliche Institutionen – im Falle von Wissenschaft auch die Universität und das eigene Fach selbst – als hoch exklusive und exkludierende Räume zu erkennen. Dabei versucht sie stets zu berücksichtigen, dass diese Ausschlussmechanismen sehr stabil sind und die bloße Absicht, sie aufzulösen, nichts ändert. Entsprechend versucht sie, eine beständige Reflexion und kreative Veränderung anzuregen. Sie bemüht sich zudem konsequent um die Übernahme der Betroffenenperspektive; somit steht die Beschäftigung mit Ungerechtigkeit eher im Fokus von Sprachpolitik als jene mit Gerechtigkeit. Des Weiteren sind folgende Grundannahmen zum Verständnis des sprachpolitischen Anliegens nötig: – Der diskriminierende Diskurs ist mächtig. Dies bedeutet insbesondere: – Eine Kritik an diskriminierenden Sprachhandlungen kann unabhängig von der Intention der Sprecher_in erfolgen. – Der öffentliche Diskurs ist exklusiv und exkludierend. Um ihn zu öffnen, bedarf es kreativer Subversion und nicht nur der bloßen Beteiligungsabsicht. – Eine beständige Reflexion und kreative Weiterentwicklung der Sprachpraktiken ist nötig. – Es handelt sich um Vorschläge und Selbstregulationen, die Individuen oder Gruppen sich selbst geben. – Als zentrale Ziele emanzipatorischer Sprachpolitik können gelten: – Gesellschaftliche Diversität abzubilden. – Eine Erhöhung der Sensibilisierung bei Betroffenen wie Privilegierten für die Gemachtheit und die Prozesshaftigkeit der diskursiven Strukturen: Jemand ist nicht behindert, sondern wird behindert, ist nicht Frau oder Mann, sondern wird frauisiert/typisiert usw. – Das Empowerment der Betroffenen und die Schaffung von Räumen für Beteiligung. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht das betroffene Individuum. So erklärt es sich, dass die Metonymie der Stimme, die erhoben wird, für Sprachpolitik von zentraler Bedeutung ist (vgl. Ausdrücke wie in my own voice, make your voice heard, eine Stimme geben, gehört werden). Ähnliches gilt für die Metapher von der Sichtbarkeit der marginalisierten Gruppe und der einzelnen Betroffen (die Rede ist vom Sichtbarwerden, aus der Deckung kommen, von visibility, Unsichtbarkeit etc.). Im Folgenden werden verschiedene Praktiken vorgestellt, anhand derer Betroffene sich Raum im

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öffentlichen Diskurs nehmen und ihre Hörbarkeit und Sichtbarkeit erhöhen, und mittels derer Nichtbetroffene ihnen Raum geben, ihnen zuhören und sie wahrnehmen. Es wird angestrebt, sich der gesellschaftlichen Vielfalt bewusst zu werden, aus Betroffenenperspektive zu denken, die eigenen Privilegien zu reflektieren und indirekte Ausgrenzung zu vermeiden. Sprachpolitik beginnt dann als individuelle Entscheidung einer Person oder Gruppe und kann in einem Aushandlungsprozess institutionalisiert werden. Schon seit Political Correctness vom Fahnen- zum Stigmawort (vgl. Hermanns 1994, 19) geworden ist, eignet es sich nur noch mit Zusatzaufwand als selbstgewählte Bezeichnung (vgl. Daniel 2013). Mit zunehmender Postmodernisierung wird zudem nicht mehr davon ausgegangen, es könne einen ‚korrekten‘ Sprachgebrauch geben – daher sprechen die hier vorgestellten Ansätze eher von (trans_)feministischen, kritischen oder antidiskriminierenden Sprachpraktiken; sie verwenden also Ausdrücke, die entweder die theoretisch-politische Verortung oder den diskurs-subversiven Prozess beschreiben. Eine übersichtliche Zusammenstellung aktueller antidiskriminierender Sprachpraktiken mit weitergehenden Literaturhinweisen findet sich in der Handreichung der AG Feministisch Sprachhandeln (2014). Ihr Ziel ist eine sprachliche Reflexion intersektional betrachteter Macht- und Unterdrückungsverhältnisse. Die vorgestellten Maßnahmen reichen von den etablierten und politisch bereits verfestigten Vorschlägen der feministischen Linguistik (vgl. Guentherodt u. a. 1980) bis zu aktuellen kreativen Vorschlägen.  

2.1 Feminismus 3.0: Intersektionalität und Empowerment Wenn sich Sprachpolitik feministisch nennt, meint sie damit heutzutage meist etwas anderes als vor vierzig Jahren (vgl. Hornscheidt 2012). Während die feministische Theorie des „Second Wave Feminism“ zwischen sex, dem ‚natürlichem Geschlecht‘, und gender, dem ‚sozialen Geschlecht‘, unterschied, betrachten die Gender Studies spätestens seit Butler (1990) und mit dem zunehmenden Einfluss von Trans_genderForschung beides als konstruiert und als unmöglich voneinander trennbar. Das Konzept der Zweigenderung an sich wird im „Third Wave Feminism“ kritisiert und sprachlich zerlegt (vgl. Hornscheidt 2012, 73ff.). Entsprechend interessiert sich feministische Forschung auch nicht mehr für Themen wie die ‚Unterdrückung der Frauen durch die Männer‘ (und hat dies jenseits medialer Stilisierungen ohnehin nur selten getan), sondern für wesentlich komplexere gesellschaftliche Beziehungen. Dadurch rücken Themen wie die Prozesse der ‚Frauisierung‘ und ‚Typisierung‘, in denen Personen das weibliche bzw. männliche Geschlecht zugeschrieben und letzteres als ‚typisch‘ konstruiert wird (vgl. AG Feministisch Sprachhandeln 2014, 39), oder die Entwicklung hegemonialer Männlich-

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keitsbilder (vgl. Baur/Luedtke 2008) in den Fokus. Entsprechend gilt: „Feminism is for everybody“ (hooks 2000, x). Zudem erstreckt sich der Fokus der Untersuchungen weit über die Dimension Gender hinaus. Innerhalb der linguistischen Forschung wurden eindimensionale Untersuchungen in Bezug auf Gender durch mehrdimensionale Studien abgelöst, die auch Aspekte wie class und ethnicity berücksichtigen (vgl. Cameron 2005). Der Blick erweiterte sich auf verschiedene marginalisierte Gruppen, die nun sichtbar wurden, und die (sprachlichen) Diskriminierungsprozesse – insbesondere betreffend Menschen mit Behinderungserfahrung, People of Colour (PoC), frauisierte Personen, trans_gender Personen, Menschen mit als niedrig markierter sozialer Herkunft und homosexuelle/queere Personen. Dabei ergibt sich schnell die Frage, anhand welcher Maßstäbe diese Gruppen identifiziert werden. Wieso sind nicht auch „Nerds“, „unsympathische Menschen“ oder „katholische Kolumnisten“ als unterdrückte Gruppen zu beschreiben? Hier können folgende Fragen helfen: Liegt eine systematische Unterdrückung vor? Lässt sich eine Benachteiligung, etwa in der Berufswelt, statistisch nachweisen? Gab es in der Vergangenheit oder gibt es in der Gegenwart Beispiele für die Verfolgung von Menschen, denen das entsprechende Privileg fehlte? Wenn eine Person sämtliche Privilegien besitzt bis auf das fragliche, wird sie dann deswegen diskriminiert? Wichtig ist zudem, dass zu dem Aspekt der Diskriminierung strukturelle Macht treten muss. Dies erklärt beispielsweise, warum es ‚umgekehrten Rassismus‘ (reverse racism), also Rassismus von People of Colour gegen Weiße, im Sinne dieses Diskriminierungskonzepts nicht geben kann (vgl. z. B. Smith/Jacobson/Juárez 2011, 43): Damit Rassismus im Sinne struktureller Diskriminierung vorliegen kann, bedarf es eines ideologischen Systems, das diese stützt, wie es etwa in den jahrhundertealten Theorien der weißen Vorherrschaft (white supremacy) vorliegt. Welche Eigenschaften schließlich in Forschung und Öffentlichkeit als Diskriminierungsdimensionen anerkannt werden, ist letztlich also Gegenstand eines Indizienprozesses. In Bezug auf die Dimensionen race, class und gender ist dieser sehr weit fortgeschritten, so dass zunehmend komplexere Fragen ins Interesse der Forschung rücken. Der entscheidende theoretische Schritt für die Betrachtung des Zusammenhangs verschiedener Diskriminierungsformen war die Entwicklung der Intersektionalitätstheorie durch Crenshaw (1989; deutsche Übersetzung: Crenshaw 2013) und Hill Collins (2000, 45) – beide von Mehrfachdiskriminierung betroffene Schwarze Forscherinnen. Crenshaw (1989) beschreibt als intersectionality die ‚Überlappung‘ verschiedener Diskriminierungsformen bei mehrfach diskriminierten Individuen, speziell Schwarzen Frauen, und beobachtet, dass die Diskriminierung, die sie erfahren, weit mehr ist als die Summe einzelner Diskriminierungen (Crenshaw 1989, 153). Zudem kritisiert sie, dass Formen des Aktivismus sowie die Herausbildung von Gruppenidentität meistens nur in einer Dimension geschehen. Sie macht einen interessanten argumentationstheoretischen Grund dafür aus (vgl. Crenshaw 1989, 153 f., meine Formalisierung – J.T.): Wenn Diskriminierung – ob in öffentlichen Debatten  



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oder vor Gericht – argumentativ nachgewiesen werden soll, kann dies nur in einer Dimension geschehen. So eignet sich folgende Beweislage B: (B) Personen mit Merkmal a, b und c werden statistisch/in belegtem Einzelfall gegenüber Personen mit Merkmal a, b und nicht-c begünstigt,

um zu belegen, dass Personen, denen Merkmal c fehlt, strukturell bzw. in einem bestimmten Einzelfall diskriminiert werden. Durch die intersektionale Variante B’: (B’) Personen mit Merkmal a, b und c werden statistisch/in belegtem Einzelfall gegenüber Personen mit Merkmal a, nicht-b und nicht-c begünstigt.

lässt sich jedoch weder eine Diskriminierung durch das Fehlen des Merkmals b noch durch jenes des Merkmals c nachweisen. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn bei Einstellungen zum Beispiel systematisch weiße Männer gegenüber Schwarzen Frauen begünstigt werden, lässt sich weder Rassismus noch Sexismus eindeutig nachweisen – dies kann jedoch, da entsprechende Gesetze monodimensional angelegt sind, von zentraler Bedeutung sein: Eine Firma kann etwa den Vorwurf des Sexismus mit dem Verweis auf zahlreiche – weiße – Frauen in Führungspositionen und den Vorwurf des Rassismus durch einen hohen Anteil von – männlichen – PoC juristisch entkräften und im Rahmen der Gesetzgebung nicht dafür zu belangen sein, dass sie alle Schwarzen Frauen entlassen hat; die Juristin Crenshaw (1989, 146 ff.) veranschaulicht dies an realen Fällen. Sie zeigt auf, dass Nachweise und Analyse von intersektionaler Diskriminierung wesentlich komplexer erfolgen müssten als bisherige Debatten und Gerichtsprozesse. In der Nachfolge Crenshaws wurde Intersektionalität als Konzept auf die theoretische Ebene verlagert und bezog sich nunmehr auf die Überlagerung verschiedener Systeme von Diskriminierung (vgl. Walgenbach 2012) – wobei bezeichenderweise sowohl Crenshaw als auch Hill Collins häufig aus der Geschichte des Begriffs ausgeschlossen und der Begriff von weißer Wissenschaft appropriiert wurde (vgl. Okolosie 2013). Zudem wird beobachtet, dass der Begriff genutzt wird, um einzelne Diskriminierungsdimensionen zu relativieren und eindeutige Positionierungen vermeiden zu können (vgl. Hornscheidt 2013), weshalb zum Teil der Begriff der Interdependenz bevorzugt wird (vgl. Walgenbach 2012), nach Schüssler Fiorenza (2007) auch Kyriarchie (‚Herrschaft der Herrschenden‘). Die Betrachtung des mehrfach diskriminierten Individuums gehört trotz der Abstrahierung der Perspektive weiterhin zur Kernmotivation emanzipatorischer Sprachpolitik. Ziel der sprachpolitischen Maßnahme ist in erster Linie das Empowerment (vgl. Hill Collins 2000), d. h. die (Selbst-)Ermächtigung, betroffener Personen und die Beteiligung von marginalisierten Gruppen im öffentlichen Diskurs. Die Unterdrückungs- und Gewalterfahrung betroffener Individuen ist daher Ausgangspunkt für sprachpolitische Maßnahmen, ohne die sich jene kaum verstehen lassen. Dass dem N-Wort eine Triggerfunktion unabhängig vom Verwendungskontext zukommt (vgl. Kilomba 2009; Eggers 2008; Sow 2008, 112–126; Tereick 2014), lässt sich nur ver 



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stehen, wenn hunderte Jahre Kolonialherrschaft mitgedacht werden. Ähnliches gilt für die Dimension sexueller Diskriminierung. Die Kritik an einzelnen Vergew*ltigungswitzen lässt sich nur vor dem Hintergrund der persönlichen und kollektiven Erfahrung sexualisierter Gewalt nachvollziehen (vgl. Brownmiller 1993). Auf individueller wie struktureller Ebene ermöglicht das Konzept der Intersektionalität, komplexe Diskriminierungssysteme zu analysieren. Nur der Einbezug weiterer Dimensionen als Gender etwa lässt einen analytischen Zugang darauf zu, warum Trans_frauen lange aus der feministischen Bewegung ausgeschlossen waren, da sie von Cis-Frauen als ‚Männer‘ konzeptualisiert wurden (vgl. Serano 2013). Eine intersektionale Betrachtung lässt sowohl Raum dafür, die individuelle Diskriminierungserfahrung von Trans_frauen und ihre Exkludierung als gewaltvollen Akt zu beschreiben, als auch dafür, die Motivation der Cis-Feministinnen zu verstehen. Sie ermöglicht damit die Betrachtung verschiedener Unterdrücksformen im Vergleich, ohne diese etwa gegeneinander aufzuwiegen („Oppression Olympics“).

2.2 Privilegien in intersektionaler Betrachtung Aus dem Konzept der Intersektionalität folgt nicht nur die zunehmende Berücksichtigung marginalisierter Gruppen, sondern auch, dass die Beschäftigung mit Privilegien (vgl. Case u. a. 2012) – struktureller Begünstigung – ebenso wichtig ist wie die (sprachliche) emanzipatorische Auseinandersetzung von Marginalisierten mit Diskriminierungsprozessen. Als erste wissenschaftliche Fundierung einer solchen Betrachtung eigener Privilegien kann die Forschungsrichtung der Critical-Whiteness-Studien gelten (vgl. Arndt 2007; Wachendorfer 2001), die es ermöglichten, die für viele konfliktreiche Situation, an einer Dimension diskriminiert, an anderer aber privilegiert zu sein (z. B. als weiße Frau; vgl. Lemmle 2012), zu analysieren und zu verstehen. Privilegien sind vor allem durch Unsichtbarkeit ausgezeichnet (vgl. Wachendorfer 2001): Zum einen begreifen strukturell privilegierte Personen sich selbst nicht als privilegiert – die entsprechende Eigenschaft ist einfach ‚normal‘. Zum anderen tritt die Unsichtbarkeit der systematischen Diskriminierung hinzu: Als nicht betroffene Person nimmt man Diskriminierung entweder gar nicht oder nicht als Regelmäßigkeit wahr. Das Vorhandensein systematischer rassistischer Diskriminierung in Deutschland ist etwa den meisten weißen Menschen nicht bewusst. Für antirassistischen (sprach)politischen Aktivismus ist daher der Verweis auf Fälle dokumentierter Polizeigewalt und fehlender Strafverfolgung in Deutschland – wie die Schicksale der von weißen Polizisten getöteten N’deye Mareame Sarr, Christy Schwundeck und Oury Jalloh (vgl. Sow 2008, 134–140; Otoo 2013) – Ausgangspunkt für das Bewusstmachen der diskriminierenden Struktur. Die auch sprachliche Musterhaftigkeit der Fälle wird analysiert und reflektiert, wie etwa die im Rahmen von Strafverfolgung häufig auftauchende Behauptung, ein rassistischer Hintergrund „könne ausgeschlossen  



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werden“ (vgl. Hartl 2013). Die Sensibilisierung für diese Muster kann dabei helfen, neue Fälle einzuordnen. Aus Betroffenenperspektive wurden etwa die Verbrechen des sog. Nationalsozialistischen Untergrunds schnell als rassistisch identifiziert; aus privilegierter Perspektive hingegen bedurfte es dazu der Aufdeckung der Terrorgruppe (vgl. Paul 2012), und selbst die Aufdeckung war noch kein Anlass für kritische Selbstreflexion (vgl. Chervel 2012). Ein beginnendes Hinsehen auf das eigene unsichtbare Privileg kann hingegen dazu führen, die unsichtbare diskriminierende Struktur wahrzunehmen. So schildert etwa Praschl (2011), wie er aus nicht betroffener Perspektive heraus begann, eine Vorstellung von der Allgegenwärtigkeit von sexueller Gewalt gegen Frauen zu erhalten, indem er anfing, sich für die entsprechenden Erfahrungen der Frauen in seinem Umfeld zu interessieren. Die mit einem Sich-Bewusstmachen von Privilegien einhergehende sprachliche Praxis ist, sich mit Diskussionsbeiträgen zurückzuhalten und nur zuzuhören oder sich vor einer Stellungnahme zumindest entsprechend zu positionieren (z. B. „Ich bin weiß und cis-männlich“).  

2.3 Indirekte Ausgrenzung: Mikroaggressionen Eine privilegierte Position macht neben dem Vorhandensein systematischer Diskriminierung überhaupt auch die vielen Formen unsichtbar, die Diskriminierung annehmen kann. So wird im öffentlichen Bewusstsein, wenn überhaupt über Rassismus geredet wird, dieser meist in extremistischen Kreisen oder gar ausschließlich in anderen Ländern verortet (vgl. Sow 2008, 17). Dass sich ‑istische Strukturen jedoch durch den gesamten Alltag ziehen und dass sie durch einfache Aussagen beständig reproduziert werden, kann aus nicht betroffener Perspektive leicht ausgeblendet werden. Den verschiedenen Abstufungen aggressiver Handlungen widmet sich ausführlich Sue (2010a), indem er beschreibt, dass neben offenen Aggressionen wie -istischer Gewalt und Schimpfwörtern (z. B. Sp*sti, N****, Schl*mpe, Asoz*aler), die von offen -istisch eingestellten Menschen vollzogen werden, auch noch Mikroaggressionen existieren, die den Vollziehenden meistens nicht bewusst sind. Solche indirekten Ausgrenzungen sind nicht allein sprachlicher Natur – auch Akte, wie etwa instinktiv die Handtasche festzuklammern, wenn einem eine Schwarze Person entgegenkommt, gehören dazu (eine populärwissenschaftliche Übersicht zum Thema rassistischer Ausgrenzungen liefert Sue 2010b) – sie werden aber entscheidend über Sprache vollzogen. Da die Verwendung des Ausdrucks Aggression in der Bedeutung ‚aggressive Handlung‘ im Deutschen im Gegensatz zum Englischen eher ungewöhnlich ist, übersetze ich nicht nur mit Mikroaggression, sondern alternativ mit indirekte Ausgrenzung, um einen Ausdruck zu verwenden, der wie engl. aggression sowohl die Handlung selbst als auch ihren Auslöser/Effekt bezeichnen kann.  

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Die Auseinandersetzung mit indirekter Ausgrenzung beginnt mit dem Bewusstsein dafür, dass es sich um aggressive Akte handelt. Aus privilegierter Perspektive erscheinen Fragen wie „Wo kommen Sie her?“ zunächst als ‚normale‘, unmarkierte Smalltalk-Beiträge. Aus Betroffenenperspektive handelt es sich jedoch um Ausgrenzungen, da sie die angesprochene Person als ‚anders‘ markieren (to other, andern) und übergriffig in deren persönlichen Bereich eindringen. Die Kritik an Sprachhandlungen wie dem unbedarften White-Privilege-Smalltalk kann darin liegen, auf unbewusste Implikaturen (wie ‚Sie sind nicht von hier/Sie gehören nicht dazu‘ im Falle von „Wo kommen Sie her?“) und Präsuppositionen (wie zum Beispiel ‚Das Opfer ist Ausländer/Fremde‘ im Falle von „Die Tat geschah aus Ausländerfeindlichkeit/Fremdenfeindlichkeit“, was sogar die Übernahme der Perspektive der Täter_in bedeutet) hinzuweisen. Das Ziel der sprachpolitischen Maßnahme kann aber auch sein, die Perspektive in Bezug auf lebensweltliche Diversität zu erweitern, indem man sich bewusst macht, dass etwa die Frage „Und was haben Sie studiert?“ einen extrem homogenen Raum voraussetzt und zusätzlich manifestiert. Sich eine solche Frage ‚abzutrainieren‘, kann daher das Bewusstsein für Diversität insgesamt erhöhen. Da die Kritik an sprachlichen indirekten Ausgrenzungen direkt in der Erfahrung von Betroffenen wurzelt, setzt die Übernahme der kritischen Einstellung wiederum eine Perspektivenübernahme voraus. Dass etwa der Kommentar zur körperlichen Erscheinung oder die Frage zur Familienplanung keinesfalls unschuldige Interessensbekundung oder „Kompliment“ ist, sondern der Angesprochenen ihren diskursiven Platz zuweist, kann einer nicht betroffenen Person erst dann bewusst werden, wenn sie sich veranschaulicht, dass Betroffene diesen sprachlichen Handlungen musterhaft und systematisch ausgesetzt sind. Erst dann kann sie auch verstehen, warum ihre eigene Aussage die Ausgrenzung perpetuiert und warum es für die Betroffenen schwer ist, den vermeintlichen ‚Einzelfall‘ davon losgelöst zu betrachten. Sprachpolitische Maßnahmen zur Vermeidung indirekter Ausgrenzung haben daher zum einen den Zweck, auf den ausgrenzenden Effekt ganz unabhängig von der Intention de_r Sprechenden aufmerksam zu machen. Ein Einüben entsprechender Sprachpraxis dient dazu, die eigenen Gewohnheiten, die eigene Neugier (‚Welches Geschlecht hat diese Person? Warum sieht sie anders aus? ...‘) unter Kontrolle zu bekommen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass die -istische Struktur der gesellschaftliche Normalfall ist – dass etwa alle in Deutschland Sozialisierten mit Rassismus, Sexismus usw. aufgewachsen sind (vgl. Sow 2008) –, dass die Reproduktion dieser Strukturen auf sehr subtile Weise geschieht und dass deren Unterlaufen Übung voraussetzt. Daher ist Kritik an einer ausgrenzenden Sprachhandlung auch immer Sprachkritik und nicht (per se) Kritik an der sich äußernden Person.

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3 Gefahren politischer Sprachregulation Auch wenn Forderungen antidiskriminatorischer Sprachpolitik aus Betroffenenperspektive formuliert sind und meist darin ihren Ursprung haben, kommt es dennoch häufig vor, dass die Person, die eine entsprechende Kritik äußert, selbst vom entsprechenden -ismus nicht betroffen ist. Dies macht die Lage komplizierter. Dem spezifischen Problem von ‚Verbündeten‘ widme ich mich im folgenden Abschnitt und komme im darauf folgenden zu allgemeineren Kritikpunkten bezüglich emanzipatorischer Sprachpolitik.

3.1 Die Risiken der Verbündeten Seit dem Beginn der Gay-Rights-Bewegung in den USA und ersten Solidaritätsbekundungen durch Heterosexuelle in den 1970er-Jahren werden Nichtbetroffene, die sich für eine marginalisierte Gruppe einsetzen, allies – im Deutschen Verbündete oder Bündnispartner – genannt (vgl. Kendall 2003). Verbündete nehmen in den Antidiskriminierungsbewegungen eine ambivalente Rolle ein (vgl. Geek Feminism Wiki 2014) – Scholz (2008, 151) spricht von einem „Paradox“. Zum einen sind sie wichtige Multiplikator_innen: So hat ein Mann, der sich feministische Positionen zu eigen macht, eine größere Wahrscheinlichkeit, als glaubwürdige Stimme wahrgenommen zu werden. Zudem verfügen Verbündete häufig eher über die entsprechenden Publikationskanäle. Eine weiße Person hat eine größere Chance, eine antirassistische Position innerhalb eines weißen Raumes wie der Universität sichtbar zu machen. Gleichzeitig laufen Verbündete Gefahr, die Erfahrungen der Betroffenen zu appropriieren und sich überzuidentifizieren oder die Betroffenen zu bevormunden (vgl. Scholz 2008, 162). Deswegen wird betont, dass es wichtig ist, dass Verbündete Kontakt zu Betroffenen haben und dass sie sich um eine privilegbewusste Perspektivenübernahme und eine aktive politische Beteiligung bemühen (vgl. Kendall 2003). Vor allem kann ally keine Selbstzeichnung sein, sondern ist ein Prädikat, das von Betroffenen vergeben wird (vgl. Utt 2013). Die Kritik an Verbündeten kann Teil einer allgemeineren, auch polemischen, Kritik an emanzipatorischer Sprachpolitik werden, wenn etwa von übertriebener Selbstzerfleischung und obsessiver Beschäftigung mit dem Thema ausgegangen wird: Wenn man sich den ganzen Tag darüber Gedanken machen muss, wie man möglichst so redet, dass man niemanden auf die Füße tritt, bleibt das nicht ohne Folgen für die geistige Freiheit. (Fleischhauer 2013)

Ähnlich kritisiert – von der anderen politischen Seite – Klaue (2013) die Selbsteinschränkung von Verbündeten. Wenn etwa eine heterosexuelle Bloggerin (Hennig 2013) ihr Privileg abwägt und überlegt, ihren Freund nicht mehr öffentlich zu

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küssen, um den heteronormativen Diskurs dadurch nicht zu reproduzieren und ein Modell für „Critical Hetness“ entwirft, so sieht er damit die Prüderie der 1950er-Jahre wieder auferstanden. Auf diese Weise kann Kritik an einzelnen sprachpolitischen Maßnahmen schnell zu einer allgemeinen Kritik an der ‚Linken‘ oder an der prüden und generell verwirrten Jugend werden.

3.2 Backlash-Positionen und Kritik Von Beginn an wurden Vorschläge zur Political Correctness heiß diskutiert und sprachpolitische Maßnahmen waren und sind heftigen Gegenbewegungen ausgesetzt. Ich kann mich den zahlreichen Backlash-Positionen hier nicht differenziert widmen – eine anschauliche und ausführliche Übersicht mit Kritik liefert Derailing (2014). Ich diskutiere dies nur an einem Beispiel: Das häufigste Gegenargument gegen politisch motivierte Sprachregulierungen ist vermutlich, dass die begrifflichen Unterscheidungen, die eingeführt werden, um Diversität sichtbar zu machen, Diskriminierung nicht etwa dekonstruieren, sondern überhaupt erst konstituierten oder zementierten. Verwandt ist dem der Vorwurf des umgekehrten -ismus (reverse racism/sexism, vgl. Abschnitt 2.1). Einen reverse racism kann es jedoch schon aus rein begrifflichen Gründen nicht geben (vgl. Nittle 2014) – da Rassismus bzw. White Supremacy ein Herrschaftssystem beschreibt, könnte er ‚in die andere Richtung‘ nur dann existieren, wenn es ein entsprechendes Herrschaftssystem gäbe. Die Verwendung des Ausdrucks reverse racism/sexism zeigt daher nur, dass die sprechende Person mit einem anderen Begriff von Rassismus/Sexismus arbeitet. Damit wird eine Diskussion schnell zur Grundsatzdebatte und dreht sich nicht mehr um die sprachpolitische Maßnahme. Auch wenn intersektionale Ansätze des Third-Wave- aus dem Second-WaveFeminismus heraus kritisiert werden, so hat dies häufig den Grund unterschiedlicher theoretischer (und praktischer) Voraussetzungen. So wurden zu Beginn der zweiten Frauenbewegung feministische Forderungen häufig mit Verweis auf Klassismus abgeschmettert, so dass das Einbeziehen weiterer Diskriminierungsdimensionen leicht den Verdacht erwecken kann, das ‚kernfeministische‘ Anliegen solle untergraben werden (vgl. Tereick 2014). Gänzlich innerhalb des gleichen theoretischen Frameworks bewegt sich hingegen die Kritik von Wettig (2012). Sie kritisiert, dass komplizierte neue Sprachregelungen vor allem den Effekt hätten, eine exklusive Gruppe zu schaffen, der diese Praktiken bekannt sind, während alle anderen, insbesondere Menschen ohne akademische Ausbildung, aus ihr ausgeschlossen seien: Eine solche Herangehensweise schafft mehr Rassismen, Klassismen und Sexismen, als sie zu bekämpfen vorgibt. Denn all diejenigen, die nicht die Zeit oder die Bildung haben, sich die neuen Konstruktionen anzueignen, laufen ständig Gefahr, sich schuldig zu machen. Schlimmer noch:

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Die Akademikerin muss die Friseurin mit Hauptschulabschluss und einem Stundenlohn von sieben Euro ermahnen. Die deutsche Studentin verbietet dem Aktivisten aus Afghanistan den Mund. (Wettig 2012)

Damit macht sie darauf aufmerksam, dass die vorgeschlagenen sprachpolitischen Maßnahmen diskursiv instrumentalisiert werden und vor allem an den Dimensionen Klassismus und Ableismus selbst massiv ausgrenzend wirken können, und dass – wie alle Ideologien – auch der Ansatz der Social Justice totalitäres Potential hat. Auf ein weiteres theoretisches Problem machte die Internetaktion einer Gruppe Jugendlicher aufmerksam (vgl. Tiku 2012). Diese hatten auf tumblr die Identität einer jungen Person geschaffen, die sich u. a. als „otherkin“ (Mensch, der sich einer anderen Spezies angehörig fühlt, in diesem Fall Katze) und „trans-asian“ (weiße Person, die überzeugt ist, asiatisch zu sein) bezeichnete und viel Solidarität erfuhr. Als die Gruppe die „pangender asexual demiromantic trans-asian cat“ schließlich als Fake aufdeckte, begleitete sie dies mit einer fundierten Kritik an der Social-Justice-Bewegung im World Wide Web:  

I find it so utterly absurd that a movement whose original purpose was to defend the rights of POC, trans* individuals, and other oppressed groups has been co-opted by people who believe they are dragons [...]. I think what happened is that the SJ [Social Justice] movement’s message of acceptance was somehow generalized to mean that if you don’t accept everything, you are a bigot — and the outcasts of the internet [...] latched onto that [...]. But [...] it trivializes the struggles of people who actually suffer from oppression (people laughing at you on the internet is not oppression). (Tiku 2012)

Der Beitrag schneidet substantielle Fragen an: Was ist Ungerechtigkeit und Unterdrückung genau und wie ist diese etwa von Unfreundlichkeit und Unhöflichkeit abzugrenzen? Er weist darauf hin, dass die ermächtigende Wirkung, die von antidiskriminierender Sprachpolitik ausgeht, selbstredend auch genutzt werden kann, um Solidarität einzufordern, wo keine strukturelle Diskriminierung vorliegt. Gleichzeitig liefern die Kritiker_innen damit bereits einen Ansatz zu einer Lösung des Problems, indem sie andeuten, dass Unterdrückung sich letztlich immer messbar zeigt – z. B. in Arbeitsmarktzahlen oder in Experimenten, die eine bestimmte Diskriminierungsdimension fokussieren. Und auch wenn man für diese Messbarkeit meist wieder eine eindimensionale Vergleichssituation wie in der in Abschnitt 2.1 genannten Beweislage (B) heranziehen muss – dass es keine systematische strukturelle Diskriminierung von Menschen gibt, die sich für Katzen halten, ist zumindest relativ plausibel nachzuweisen, zumal es keinen Hinweis auf ein entsprechendes ideologisches System oder Mikro- oder Makroaggressionen an der Dimension Trans-Katze vs. Cis-Katze gibt. Letztlich bleibt nur die beständige Diskussion, Reflexion und kreative Selbstüberwachung. Kreativität ist ohnehin das entscheidende Moment diskursiver Subversion (vgl. Jones 2010). Sie reicht von der Dichterin Chrystos, die aufgrund der rigiden US-Sprachpolitik ihre Vatersprache Menominee nie gelernt hat (Chrystos  

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1997, 14) und sich daher dafür entschied, die Herrschaftssprache „Englisch [...] herumzuschubsen“ (ebd., 26, 14) zurück bis zum Dadaismus, dessen Sprachexperimente auch Kritik an der sprachlichen Kriegsmobilisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren – noch immer gilt: „Das Wort [...] ist eine öffentliche Angelegenheit ersten Ranges“ (Ball 1988: 39). So kommt neben den vorgestellten (politics und policies) schließlich auch noch eine dritte Bedeutung von Sprachpolitik ins Spiel: Politisch mit Sprache umzugehen, gerade ohne Regeln aufzustellen, sondern indem man sie auf den Kopf stellt. Auf diese Weise werden auch die sprachpolitischen Regularien immer wieder hinterfragt und neu motiviert und so verhindert, dass sie zum Automatismus verkommen.

4 Fazit „Language is political from top to bottom“ (Joseph 2006, 17). Meiner Einschätzung nach sind daher Sprachpolitik und Praktiken politischer Sprachregulation als legitimer empirischer Untersuchungsgegenstand der Linguistik zu sehen und ist die theoretische Fundierung von Sprachpolitik selbst ein mögliches Anliegen linguistischer Forschung, ohne dass sie dabei notwendig in den Verdacht der zirkelschließenden Durchpolitisierung geraten müsste. Das Anliegen linguistisch fundierter Sprachkritik wird häufig mit einer Erhöhung des Varianzbewusstseins beschrieben (vgl. Arendt/Kiesendahl 2011, 9; Kilian/Niehr/ Schiewe 2013). Gemeint ist in diesen Fällen sprachliche Varianz im engeren Sinne: die Vermittlung von Wissen über sprachliche Varietäten, insbesondere verschiedene Dialekte und Soziolekte. Da auch das Anliegen linguistisch fundierter politischer Sprachkritik und Sprachpolitik die Erhöhung des Bewusstseins für – personen- und gruppenbezogene – sprachliche Varianz ist, lässt sie sich an entsprechende Modelle direkt anschließen. Hinzu tritt bei emanzipatorischer Sprachkritik die politische Motivation, (unter anderem) über neue sprachliche Bezeichnungen das Bewusstsein für die Varianz von Lebensweisen zu erhöhen – möglicherweise für mehr politische, vor allem jedoch für mehr „menschliche Korrektheit“ (Richter 2013).

5 Literatur Abagond, Julian (2010): The tone argument. In: Abagond. 500 words a day on whatever I want, 24.07.2010. http://abagond.wordpress.com/2010/07/24/the-tone-argument/.. AG Feministisch Sprachhandeln der Humboldt-Universität zu Berlin (Hg.) (2014): Was tun? Sprachhandeln – aber wie? Berlin. http://feministisch-sprachhandeln.org/. Arendt, Birte/Jana Kiesendahl (2011): Einleitung. In: Birte Arendt/Jana Kiesendahl (Hg.): Sprachkritik in der Schule: Theoretische Grundlagen und ihre praktische Relevanz. Göttingen, 9–15.

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17. Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch: Sprachrichtigkeit und Normen als metasprachliches Thema Abstract: Sprachrichtigkeit und Sprachnormen sind ein verbreitetes Thema im Urteil der Öffentlichkeit. In der linguistischen Forschung wird dieses Thema vor allem seit den 1990er Jahren aus unterschiedlichen Perspektiven und mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen diskutiert. Der vorliegende Beitrag widmet sich zunächst den Sprachnormkonzepten und skizziert das Normativitätsdilemma, welches zwischen Linguistik und laienlinguistischer Öffentlichkeit besteht. Mit welchen soziolinguistischen Ansätzen die sprachideologisch geprägten Richtigkeitsvorstellungen und das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach sprachlicher Homogenität beschrieben werden können, wird anschließend thematisiert. Zentrale Felder metasprachlicher laienlinguistischer, aber auch linguistischer Bewertung von richtigem bzw. gutem Sprachgebrauch sind Sprachkritik, Sprachratgeber und Sprachberatung, die in einzelnen Abschnitten dargestellt werden. Der Rolle von sprachlichen Zweifelsfällen und ihren Klassifizierungsmöglichkeiten widmet sich der abschließende Abschnitt.  

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Einleitung Sprachnormen Sprachrichtigkeit und Sprachnormen als sprachideologisches Dispositiv Das (Laien-)Bedürfnis nach Sprachrichtigkeit und sprachlicher Homogenität Laienlinguistische und linguistische Sprachkritik Laienlinguistische und linguistische Sprachratgeber Sprachberatung Zweifelsfälle im metasprachlichen Diskurs Literatur

1 Einleitung Wer über den Sprachgebrauch anderer öffentlich urteilt – denn selten urteilen Individuen öffentlich über den eigenen Sprachgebrauch (Neuland 1996, 115) –, hat eine Vorstellung von bzw. Erwartung durch Sprachnormen. Der Grad an Explizitheit und Ausdifferenzierung dessen, was gutes oder schlechtes Deutsch sei, mag zwichen Sprachexperten und linguistischen Laien sehr unterschiedlich sein (vgl. Polenz 1980, 9). Der Begriff des guten Deutsch ist zunächst vage. Die folgenden Bedeutungsmöglichkeiten gelten im Umkehrschluss auch für schlechtes Deutsch: https://doi.org/10.1515/9783110296150-018

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Sprachrichtigkeit und Normen als metasprachliches Thema

Gutes Deutsch kann normativ reguliertes (‚richtiges‘) Deutsch oder reines Deutsch (d. h. frei von exogenen Einmischungen), aber auch ein über den Mundarten stehendes, ‚gehobenes‘ Deutsch sein; weiterhin kann damit ein stilistisch angemessenes, semantisch anspruchsvolles, pragmatisch wirksames oder auch nur ein klares, gut verständliches oder elegantes Deutsch gemeint sein. (Cherubim 2007, 33)  

Ganz gleich, um welchen Bedeutungsaspekt von gutem Deutsch es sich handelt, alle Sprecher verfügen über solche Sprachrichtigkeitsvorstellungen und -erwartungen, die sie im Laufe ihrer sprachlichen Sozialisation erwerben (vgl. den Beitrag von Busch zur Sprachideologieforschung in diesem Band). Je nach sozialer Rolle, die die Beurteilenden einnehmen, sind die Folgen für diejenigen, deren Sprachgebrauch beurteilt wird, unterschiedlich schwerwiegend. Das Sprachrichtigkeitsurteil einer Lehrerin über die Rechtschreibung eines Schülers kann gravierendere Folgen für den Schüler haben als etwa jenes eines Zeitungslesers in einem Leserbrief über den Schreibstil eines Journalisten. Das Urteil der Kommilitonen über einen Germanistikstudenten, der beim Referat über seinen Korpus spricht, den er analysiert habe (und nicht das Korpus im Sinne einer seinem Referat zugrunde liegenden Textsammlung), fällt anders aus als jenes von TV-Sehern über eine renommierte Linguistin, die im Interview von der [flɛkˈtsi̯͜ o:n] spricht und die [flɛˈksi̯o:n] (‚Flexion‘) meint.

2 Sprachnormen Die exemplarisch genannten sprachlichen Handlungen verstoßen entweder gegen sprachliche Normen oder widersprechen zumindest bestimmten sprachlichen Erwartungen. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Normbezugsebenen werden die Normverstöße auch sehr unterschiedlich ‚geahndet‘. Um es vorsichtiger zu formulieren: Die Rezipienten reagieren je nach Normbezugsebene durchaus unterschiedlich. Am einen Ende der Bewertungsskala liegt der ‚Fehler‘ der Linguistin bei der Aussprache des Fachwortes Flexion, den wohl die meisten linguistischen Laien wie auch Experten gar nicht wahrnehmen bzw. einfach überhören, der jedoch durchaus einer ist, wenn man sich an der gegenwärtigen Orthophonie orientiert (vgl. Mangold 2005, 334). Erkennen die Kommilitonen die falsche Genuswahl des Germanistikstudenten beim Terminus Korpus und somit die daraus resultierende unfreiwillige Komik, so kann das zu Gelächter im Hörsaal führen, das vom betroffenen Studenten durchaus als Gesichtsverlust (Face-Threatening Act) empfunden werden kann. Am anderen Ende der Skala steht die Sanktion für den Schüler mit Rechtschreibschwäche: Er bekommt schlechte Noten und hat im Extremfall aufgrund seiner Rechtschreibschwäche schlechtere Chancen auf seinem Bildungsweg.

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2.1 Forschungslage Sprachrichtigkeit und Sprachnormen als metasprachliches Thema wurden und werden in der linguistischen Forschung nicht nur aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und analysiert, sondern oft auch kontroversiell innerhalb der Scientific Community diskutiert. Zum Stellenwert sprachlicher Normen sowohl aus laienlinguistischer als auch aus Expertensicht und zum Umgang mit sprachlichen Normen existiert eine Fülle an Forschungsliteratur. Literaturhinweise dazu können daher nur Empfehlungscharakter und keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit haben. So haben sich mit dem Umgang mit Normen aus Expertenperspektive u. a. Burkhardt (2007), Dovalil (2006), Eichinger/Kallmeyer (2005) und Niehr (2014) auseinandergesetzt. Zur Normeneinstellung aus Laienperspektive sei exemplarisch auf Antos (1996), Cuonz/Studler (2014), Davies/Langer (2006), Eichinger (2011), Gärtig (2010), Grondelaers/Kristiansen (2013), Plewnia/Rothe (2012), Scharloth (2005) und Spitzmüller (2005) verwiesen. Mit dem Spannungsfeld zwischen Linguistik, Laien und Didaktik hinsichtlich sprachlicher Normen haben sich u. a. Hennig/Müller (2009) und Roth (2011) beschäftigt. Zur Sprachkritik liegen u. a. Arbeiten von Kilian/Niehr/Schiewe (2016) und Spitzmüller u. a. (2002) vor. Diese Liste ist fast beliebig erweiterbar, was einerseits zeigt, wie weit das Forschungsfeld (geworden) ist, wie schwierig es aber auch andererseits (geworden) ist, methodische und thematische Abgrenzungen vorzunehmen.  







2.2 Definitionen: explizite – implizite, statuierte – subsistente Norm Wer, wie eingangs erwähnt, über den Sprachgebrauch anderer urteilt und gutes von schlechtem Deutsch zu trennen vermag (oder glaubt), hat jedenfalls eine Vorstellung von bzw. Erwartung durch Sprachnormen. Was aber sind Sprachnormen? Der Blick in sprachwissenschaftliche Lexika verrät, dass Sprachnormen soziale Erwartungen sind, „[…] die innerhalb der Möglichkeiten des Sprachsystems die Formen des angemessenen Sprachgebrauchs bestimmen“ (Bußmann 2008, 655). Sprachnormen beeinflussen je nach Sprechsituation „[…] die Auswahl und Organisation der sprachlichen Mittel wie Aussprache, Wortwahl, Satzkomplexität […] u. a“ (ebd.). Sprachnormen als Teil sozialer Normen führen bzw. zwingen die Sprecher zu situationsabhängig angemessenem (Sprach-)Verhalten. Mit Hilfe bzw. infolge von Sprachnormen nehmen Sprecher abhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht und ihrer sozialen Rolle eine „angemessene Differenzierung von öffentlichem/privatem, mündlichem/schriftlichem Sprechen oder die Wahl und korrekte Gestaltung von Textsorten“ vor (ebd.).  

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Sprachrichtigkeit und Normen als metasprachliches Thema

S[prachnormen] beruhen entweder implizit auf einem Konsens der Sprecher, oder sie sind explizit festgesetzt und legitimiert durch Kriterien wie Verbreitung, Alter, Strukturgemäßheit und Zweckmäßigkeit („präskriptive Norm“). (Bußmann 2008, 655)

Glück (2010, 647) verweist auf die oftmalige, aber fälschliche Gleichsetzung von Sprachnorm mit Standardvarietät. Auch Nonstandardvarietäten wie z. B. Dialekte unterliegen Sprachnormen. Allerdings gelten für diese andere Aspekte als für Standardvarietäten. So fungieren bei Standardvarietäten z. B. Lehrer, ganz allgemein Amtspersonen als Autoritäten, die für die Einhaltung der Sprachnorm in bestimmten Situationen (z. B. im Schulunterricht) zuständig sind. Bei Verstößen gegen die Sprachnorm der Standardvarietät sind die Sanktionen institutionell geregelt (z. B. durch Noten oder durch Versetzung), während Sprachnormverstöße in Dialekten zwar durchaus auch sanktioniert werden, allerdings ist die Sanktion nicht institutionell geregelt, sondern hochgradig situativ gebunden und implizit (z. B. durch Belächeln, Missbilligen oder Ausgrenzen eines Gesprächspartners, der den Dialekt der Peer Group nicht oder nicht richtig beherrscht (zum Verhältnis von Sprachnorm und Standardsprache vgl. auch den Beitrag von Moschonas in diesem Band)). Die von Bußmann (2008) und Glück (2010) vollzogene Unterscheidung zwischen expliziten und impliziten Sprachnormen geht auf Gloy (1975) zurück, der Normen allgemein in subsistente und statuierte unterteilt. Subsistente Normen bilden sich als stillschweigende, implizite Übereinstimmung zwischen den Sprachbenutzern. Im Gegensatz dazu sind statuierte Normen explizit, indem sie z. B. in Wörterbüchern und Grammatiken kodifiziert und damit nachschlagbar sind. In der Sprachnorm-Definition, die Gloy liefert, ist diese Dichotomie erkennbar:  











Sprach-Normen […] sind […] Erwartungen und/oder explizite Setzungen modaler Sachverhalte, die ihrem Inhalt zufolge die Bildung, Verwendungsabsicht, Anwendung und Evaluation sprachlicher Einheiten der verschiedensten Komplexitätsgrade regulieren. (Gloy 1987, 121)

Linguistische Laien, die über gutes oder schlechtes Deutsch diskutieren, referieren meist auf die Standardvarietät als Bezugsgröße mit statuierter Norm und übersehen gerne, dass viele der diskutierten Situationen des sprachlichen Handelns auf subsistenten Normen beruhen. Übersehen wird aber auch, dass statuierte Sprachnormen nicht zwangsläufig in sich homogen und invariant sein müssen. Wenn man spezifische Sprachphänomene in den Blick nimmt, zeigt sich, […] dass auch viele statuierte Normen Variationen zulassen, etwa bei Genitiv- oder Pluralbildung oder der Rektion von Nominalphrasen nach Präpositionen. Das heißt, dass die in Grammatiken und Wörterbüchern kodifizierte Standardsprache selbst immer auch schon wieder ihr eigenes – und prinzipiell gegebenes – Potential zur Veränderung offenbart. (Bittner/Köpcke 2008, 76)

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2.3 Normbewusstsein Sprachliche Normen sind nicht nur in ihrer Art unterschiedlich beschaffen, sie unterscheiden sich auch darin, auf welchen Teilbereich der Sprache sie sich beziehen. Die Sprecher sind mehr oder weniger stark bestrebt, ihr sprachliches Handeln an die für den betreffenden Teilbereich gültige Norm anzupassen. Das Normbewusstsein der Sprachgemeinschaft ist in Bezug auf die Teilbereiche des Deutschen unterschiedlich stark ausgeprägt. So besitzt die Schreibungsnorm im Deutschen heute einen hohen Verbindlichkeitsgrad. Dadurch dient die orthographische Regelung Schreibern meist als wichtige Orientierungsgröße normgerechten Schreibens. Für viele Sprachteilnehmer dürfte der Griff zum Rechtschreibwörterbuch einen zentralen Stellenwert haben; und wenn es nicht dieser ist, dann zumindest der Rückgriff auf Rechtschreibkorrekturprogramme oder Rechtschreib-Online-Ratgeber. Innerhalb der Schriftlichkeit ist jedoch von einem abgestuften Normbewusstsein auszugehen. Je nach Textsorte, je nach Beziehung zwischen Sender und Empfänger und je nach dem Medium, in dem ein Text geschrieben wird, variiert der Grad des Strebens nach Normgemäßheit. So achten z. B. die Teilnehmer eines Computer-Chats gemeinhin weniger auf orthographische Korrektheit, als sie dies beim Schreiben eines offiziellen Briefes oder eines wissenschaftlichen Aufsatzes täten. (Ewald 2013)  

Im anderen Medium sprachlichen Handelns, der gesprochenen Sprache, ist das Normbewusstsein deutlich geringer ausgeprägt. Verstöße gegen die wesentlich weniger verbindliche Aussprachenorm (Orthophonie) werden dementsprechend als weniger gravierend wahrgenommen, wenn den Bezugsrahmen die Standardlautung darstellt. Orthophonische Standardabweichung wird […] sogar als Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Region oder Gruppe wohlwollend toleriert, so etwa bei Sprechern von Hörfunkbeiträgen der Regionalsender. (Ewald 2013).

Hier wechselt wiederum der Bezugsrahmen, indem gutes Deutsch eine der regionalen Varietät entsprechend angepasste, massenmedial vermittelte Varietät darstellt, die durch keine statuierte Aussprachenorm kodifiziert ist.

2.4 Zielnorm und Gebrauchsnorm Ein Grund für die unterschiedlichen Sprachrichtigkeitsauffassungen zwischen sprachinteressierter, laienlinguistischer Öffentlichkeit und der Sprachwissenschaft liegt in sehr unterschiedlichen Vorstellungen davon, was unter einer ‚Sprachnorm‘ zu verstehen ist. Wieder ist es Klaus Gloy, der mit seiner begrifflichen Differenzierung in Zielnorm und Gebrauchsnorm zur Klärung der Gründe für die divergenten Auffassungen beiträgt:

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Es gibt nur ein verlässliches Kriterium, (zwei) disjunkte Klassen von Normen zu bilden; es lautet: repräsentiert das, was als Norm angesprochen wird, in irgendeiner Weise eine Sollensforderung oder nicht? Wird die Frage bejaht, dann wird der Komplex sogenannter Zielnormen angesprochen, wird sie verneint, handelt es sich um sogenannte Gebrauchsnormen (Gloy 1975, 21).

Die moderne Sprachwissenschaft versteht sich als deskriptiv orientierte Wissenschaft. Entsprechend dieser deskriptiven Ausrichtung ist Sprachnormenforschung für sie vornehmlich Gebrauchsnormen-Forschung. Im Gegensatz dazu versteht die laienlinguistische Öffentlichkeit sprachliche Normen eher als Zielnormen. Diese komplementäre Verteilung der Normklassen auf die Sprachwissenschaft einerseits und die laienlinguistische Öffentlichkeit andererseits bezeichnet Hennig in Anlehnung an die IDSGrammatik (Zifonun 1997, 6) als ‚Normativitätsdilemma‘ und veranschaulicht dies am Umgang mit grammatischen Zweifelsfällen: Dass Sprachbenutzer Schwierigkeiten damit haben, sich auf die Existenz mehrerer Varianten einzulassen, wissen wir aus der Sprachberatung: Auf Hinweise der Sprachberater, dass beide zur Debatte stehenden Varianten ihre Berechtigung haben, reagieren die Ratsuchenden oft mit Fragen wie „Wie heißt es denn nun richtig?“ oder „Welche Variante ist richtiger?“ (Hennig 2009, 29)

Das Normativitätsdilemma zwischen Sprachwissenschaft und laienlinguistischer Öffentlichkeit aufzulösen erschwert umso mehr, dass das Bedürfnis nach klaren, eindeutigen Regeln nicht bloß auf sprachliche Zweifelsfälle beschränkt bleibt, sondern als allgemein kulturell-gesellschaftliches Stereotyp stark im Denken der Sprechergemeinschaft verankert zu sein scheint. Variation verunsichert – nicht nur in Sprache, sondern auch in Kultur und Politik –, während Konstanz und Stabilität Sicherheit und Ruhe verheißen (vgl. Hennig 2009, 29).

3 Sprachrichtigkeit und Sprachnormen als sprachideologisches Dispositiv 3.1 Soziale Stratifizierung Die in der Soziolinguistik verankerte Sprachideologieforschung leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, das Normativitätsdilemma zwischen Sprachwissenschaft und laienlinguistischer Öffentlichkeit (vgl. Abschnitt 2.4.) hinsichtlich der Einstellungen zu Sprachrichtigkeit und Sprachnormen zu klären (vgl. den Beitrag von Busch zur Sprachideologieforschung i. d. Bd.). Sie geht davon aus, dass Sprache und die mit ihr verbundenen sprachlichen Handlungen stets mit Wertvorstellungen in einem kulturellen und sozialen Rahmen verbunden sind. Ziel der Sprachideologieforschung ist es nicht, ‚richtige‘ oder ‚falsche‘ Einstellungen der laienlinguistischen Öffentlichkeit und teilweise auch der Sprachwissenschaft als solche kenntlich zu machen, sondern  



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ihr Fokus ist vielmehr auf die soziale Evaluation von Sprache und Sprachgebrauch ungeachtet einer Richtig-falsch-Dichotomie gerichtet: Ideologies about language, or linguistic ideologies, are any sets of beliefs about language articulated by users as a rationalization or justification of perceived language structure and use. (Silverstein 1979, 193)

Nach Auffassung der Sprachideologieforschung sind Sprachideologien sozial stratifiziert. Das bedeutet, dass sprachliche Handlungen je nach sozialem Kontext unterschiedlich bewertet werden. Blommaert (2005) greift diesen Ansatz auf und entwickelt ein Konzept der orders of indexicality: While performing language use, speakers […] display orientations towards orders of indexicality – systematically reproduced, stratified meanings often called ›norms‹ or ›rules‹ of language and always typically associated with particular shapes of language (i.e. the ›standard‹, the prestige variety, the usual way of having conversation with my friends etc.). […] Stratification is crucial here: we are dealing with systems that organise inequality via the attribution of different indexical meanings to language forms (e.g. by allocating ›inferior‹ value to the use of dialect varieties and ›superior‹ value to standard varieties in public speech). (Blommaert 2005, 73)

Für die Bewertung einer Variante, einer Varietät oder einer Sprache ist es demzufolge unerlässlich, sie immer im jeweiligen sozialen Setting, in welchem sie von den beteiligten Akteuren verwendet wird, zu verorten. Abhängig von den beteiligten Akteuren und ihren Einstellungen zur jeweiligen Varianten-, Varietäten- oder Sprachwahl im sozialen Setting differiert die Bewertung der jeweiligen kommunikativen Praxis. Was für eine soziale Gruppe gutes Deutsch ist, beurteilt eine andere soziale Gruppe als schlechtes Deutsch, weil sich ihre Bewertungsmaßstäbe und der diskursive Rahmen, in welchem sie sich bewegen, voneinander unterscheiden. Spitzmüller (2013, 284) veranschaulicht dies an folgendem Beispiel: ›Ethnolektales‹ Deutsch etwa mag in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft als Zeichen mangelnder Sprachkompetenz gelten, in bestimmten sozialen Gemeinschaften gilt es aber als Zeichen von Kompetenz, als Ausweis von Gruppenidentität und als Statussymbol. Dasselbe gilt umgekehrt auch für ›standardnahes‹ Deutsch.

Wer an Begriffe wie gutes Deutsch, schlechtes Deutsch denkt, wird dies tendenziell mit standardnahem Deutsch als Bewertungsrahmen verbinden, weil der Diskurs darüber und in dieser Terminologie meist in einer bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit erfolgt. Nach dem Modell der Sprachideologieforschung könnte gutes Deutsch jedoch genauso ethnolektales Deutsch sein, wenn es aus Sicht der sozialen Gruppe von z. B. deutschen Jugendlichen mit Migrationshintergrund um ihre Bewertungsmaßstäbe für situativ angemessenes sprachliches Handeln in der Peer Group geht. Spitzmüller betont daher zurecht, dass das  

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[…] Konzept der sozial stratifizierten Evaluation von Sprache und sprachlichen Handlungen […] ausgesprochen hilfreich [ist] zur Erklärung von Kommunikationskonflikten, sprachideologischen Debatten und nicht zuletzt auch des Einsatzes von Sprache zur sozialen Stratifizierung selbst. (Spitzmüller 2013, 285)

3.2 Sprachmanagement Neben dem Stratifizierungsmodell hat die Theorie des Sprachmanagements eine Heuristik entwickelt, Sprachrichtigkeits- und Sprachnormurteile von Akteuren, die diese metasprachlich thematisieren, zu beschreiben und einzuordnen. Diese Theorie (Language Management Theory) ist eine Weiterentwicklung der Sprachplanungstheorie seit den 1970er Jahren und wurde von Jiři V. Neustupný und Björn H. Jernudd (Jernudd/Neustupný 1987; Neustupný/Nekvapil 2006) ausgearbeitet. Ausgangspunkt der Theorie ist ein Sprachproblem für den einzelnen Akteur, das in der alltäglichen Kommunikationspraxis Störungen oder Schwierigkeiten verursacht. Das Sprachproblem stellt sich nach dieser Theorie erst und ausschließlich in konkreten Interaktionen, d. h. auf der Mikroebene der sozialen Prozesse, als solches heraus. Es wird also von den Sprechern, d. h. den Betroffenen selbst identifiziert und nicht von außenstehenden, soziale Autorität symbolisierenden und institutionell verankerten Individuen wie etwa Linguisten, Politikern oder Sprachpflegern.  



Das induktive Vorgehen im Rahmen des Sprachmanagements hat schließlich auch den erheblichen Vorteil, dass Sprachprobleme nicht übergeneralisiert, d. h. nicht als allgemein und ‚objektiv‘ gegeben betrachtet werden: Was für eine konkrete Sprechergruppe problematisch ist, muss bei weitem nicht auch für eine andere Gruppe problematisch sein. (Maitz 2010, 16)  

Das Sprachmanagement, welches in den vier Phasen (a) Registrierung des Sprachproblems, (b) Bewertung, (c) Planung der Korrektur und (d) Umsetzung erfasst wird, verdeutlicht die Komplexität der metasprachlichen Tätigkeit eines individuellen Akteurs. Der Fokus auf die Mikroebene des sozialen Prozesses, von dem der linguistische Laie hinsichtlich eines für ihn relevanten sprachlichen Problems genauso tangiert werden kann wie der linguistische Experte, ermöglicht je nach betroffenem Individuum und seiner entsprechend unterschiedlichen metasprachlichen Handlung differenzierende Rückschlüsse über den Zusammenhang von Sprachrichtigkeits- und Sprachnormurteilen und sozialer Gruppe, der sich das betroffene Individuum zurechnet oder der es zugerechnet wird. Mit diesem Ansatz vermeidet die Sprachmanagementtheorie jene verallgemeinernden Normurteile, die in den Normierungsansprüchen einer Zielnorm (vgl. Abschnitt 2.4.) vor allem in der laienlinguistischen Sprachpflege häufig zu finden sind. Im Gegensatz dazu plädiert Eisenberg, wenn es um die Erstellung von Sprachratgebern geht, für die Orientierung am Sprachgebrauch des geschriebenen Standards und damit für das Konzept einer Gebrauchsnorm:

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Viel zu viele Normdiskurse verlaufen bis heute so, daß jemand den Sprechern mitteilt, dies oder jenes sei richtig, eben weil bestimmte normsetzende Instanzen die Sprache entsprechend verwenden oder es in genau dieser und nicht jener Weise entschieden haben […]. Man sollte auch die über einhundertfünfzig Institutionen nicht vergessen, die sich in Deutschland für die Pflege des guten und richtigen Deutsch zuständig fühlen. Dem ganzen Agglomerat von Normierungsansprüchen und ihren Traditionen, die auf einen Fetisch Hochsprache gerichtet sind, entrinnt man am ehesten durch konsequente Orientierung am Sprachgebrauch. (Eisenberg 2007, 217)

4 Das (Laien-)Bedürfnis nach Sprachrichtigkeit und sprachlicher Homogenität Während die moderne Linguistik als deskriptive Wissenschaft ihren Aufgabenbereich in der Analyse und Deduktion der zugrundeliegenden Regeln und Prinzipien des Sprachgebrauchs in allen seinen grammatischen, textuellen, regionalen sowie sozialen Facetten sieht, ist die laienlinguistische Sprachgemeinschaft mehrheitlich an anderem interessiert: Sie will wissen, was richtig ist und was als gutes Deutsch gelten kann. Linguistische Laien interessieren sich dabei vor allem für Fragen bzw. Zweifelsfälle der Rechtschreibung, Aussprache, Grammatik und des Stils – Fragen, die vornehmlich die Sprache als System betreffen und für deren Beantwortung möglichst einfache, variantenfreie und im täglichen Sprachgebrauch leicht umsetzbare Normen bzw. Regeln Orientierung geben sollen. Einer gewissen Normenabstinenz der Sprachwissenschaft steht demnach eine gewisse Normensehnsucht der Sprachbenutzer gegenüber, die sich in der Wahrnehmung der verschiedenen Sprachberatungsangebote sowie im Erwerb von Sprachratgebern oder anderen Nachschlagewerken äußert. (Burkhardt 2007, 9)

Diese Diskrepanz ist nichts Neues, denn „different concepts of language norms and language variability have always been central to misunderstandings between linguists and non-linguists“ (Elspaß/Maitz 2012, 200). Die geringe laienlinguistische Akzeptanz gegenüber Variantenvielfalt resultiert aus der Vorstellung einer unveränderlichen, in sich homogenen Standardsprache. Zugespitzt formulieren dies Topalović/Elspaß folgendermaßen: Man stellt sich vor, dass es ein ‚perfektes‘ Deutsch gibt, glaubt, dass es von Schriftstellern wie Thomas Mann geschrieben wurde, dass es auch irgendwo in der Gegend von Hannover gesprochen wird und dass dessen ‚Reinheit‘ heute eigentlich nur noch von ‚Sprachhelden wie Bastian Sick oder Wolf Schneider‘ […] verteidigt wird. (Topalović/Elspaß 2008, 42)

Dass es eine homogene, variantenbefreite und invariante Standardsprache gibt, könnte höchstens als Zielnorm konstruiert werden. Die moderne, an Gebrauchsnormen orientierte Linguistik weiß, dass Homogenität hinsichtlich der standardsprachlichen Norm ein Konstrukt ist. Davon unterscheidet sich allerdings die laienlinguistische

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Wahrnehmung, welche zudem von Sprachpflegern nicht selten ideologisiert wird. Zu der von (Milroy/Milroy 1985, 22 f.) begrifflich als Standardsprachenideologie beschriebenen Entwicklung haben im deutschsprachigen Raum allerdings auch  

Traditionen des Deutschunterrichts in Schulen, in denen etwa die verschiedenen Varietäten des Deutschen (innere Mehrsprachigkeit) bis vor wenigen Jahren nicht oder kaum thematisiert wurden,[…] nicht zuletzt aber auch Autoren populärer ‚Sprachratgeber‘ beigetragen. (Topalović/ Elspaß 2008, 42, 43)

Dessen ungeachtet stellt der, wenn auch vom sprachlichen Mythos einer homogenen Idealsprache (vgl. Maitz 2010, 4–6) verstellte Anspruch auf Sprachrichtigkeit ein nicht unwesentliches Selektionskriterium für schulisches und berufliches Fortkommen dar. Gewissermaßen als Auftrag an die eigene Zunft, die deutsche Sprachwissenschaft, stellen Topalović/Elspaß daher nüchtern fest: Ob wir also wollen oder nicht: Es ist in unserer Gesellschaft wichtig, dass man sich in bestimmten Situationen mündlich, vor allem aber schriftlich nicht nur angemessen, sondern auch grammatisch korrekt ausdrücken kann. (Topalović/Elspaß 2008, 41)

5 Laienlinguistische und linguistische Sprachkritik Eines der zentralen Felder, wo Sprachrichtigkeit und Sprachnormen verhandelt werden, ist die Sprachkritik. Während sich die moderne Linguistik als deskriptive Wissenschaft versteht und daher über Sprache und Sprachgebrauch lediglich beschreibende Aussagen macht, geht die Sprachkritik einen Schritt weiter, indem sie den Sprachgebrauch auch metasprachlich bewertet. Sprachgebrauchsweisen beruhen auf Normen. Sie können aber auch als Ausdruck eines individuellen Sprachgebrauchs gesehen werden. Das Verhältnis ist wechselseitig: „Normen schlagen sich im individuellen Sprachgebrauch nieder, individueller Sprachgebrauch kann Normen stützen oder auch hervorbringen.“ (Kilian/Niehr/Schiewe 2013, 303) Normen ihrerseits fußen auf den Möglichkeiten des Sprachsystems, sie können das Sprachsystem aber auch verändern. Diese Dreiecksbeziehung von Sprachsystem, Norm und Sprachgebrauch macht sich die Sprachkritik zum Gegenstand. Dabei steht für sie die Bewertung von sprachlichen Registern und Stilen, also Facetten des Sprachgebrauchs im Mittelpunkt. Im Falle der linguistischen Sprachkritik hat das zur Folge, dass der Äußerungskontext in die Bewertung stets mit einbezogen werden muss. „Insofern sind die sprachkritischen Grundlagen stets im Rahmen einer pragmatischen Sichtweise angesiedelt“ (ebd., 304). In der laienlinguistischen Sprachkritik hingegen spielt der Äußerungskontext oft eine geringe bis gar keine Rolle: Sprachsystem und Sprachgebrauch werden hier aufeinander bezogen, indem oft ohne Rücksicht auf den Kontext ein als richtig und unveränderlich postuliertes Sprachsystem als Maßstab für sprachkritische Urteile dient (vgl. ebd. sowie Niehr in diesem Band).

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5.1 Laienlinguistische Sprachkritik Besonders die in der populären Sprachratgeberliteratur und im Feuilleton geübte Sprachkritik geht von einem auf Invarianz und Homogenität basierenden Systembezug aus und beurteilt richtiges und gutes Deutsch ohne Rücksicht auf den Kontext, in dem sprachliche Handlungen stets vollzogen werden (vgl. Schiewe 2007, 369). Diese metasprachlichen Urteile im öffentlichen Diskurs lassen sich lesen als Zeichen eines vortheoretischen alltagsweltlichen Sprachbewusstseins (vgl. Sieber/Sitta 1992). Im Gegensatz zur linguistischen Sprachkritik lassen die metasprachlichen Bewertungen der laienlinguistischen Sprachkritik eine Reihe von Fehlschlüssen und Mythen erkennen, auf die bereits Klein 1986 hingewiesen und die Neuland aufgelistet hat: – Sprachkompetenz wird auf die zumeist schriftsprachliche Beherrschung von Grammatik und Orthographie reduziert, – diese werden nach vermeintlich allgemeingültigen und unveränderbaren Normen geregelt, – systematische Abweichungen in Dialekten und Soziolekten werden als ‚Fehler‘, diese wiederum als Zeichen für Intelligenz- und Bildungsmängel angesehen, – Sprachentwicklung wird im Rahmen einer Dekadenzvorstellung als ‚Sprachverfall‘ gewertet, – Sprache selbst wird nicht als Summe von Konventionen oder Gebräuchen gesehen, sondern als ein ‚Haus‘ oder ‚Gebäude‘ vergegenständlicht, das ohne pflegendes und reinigendes Bemühen verkomme und verwildere. (Neuland 1996, 115) Dieses vortheoretische alltagsweltliche Sprachbewusstsein der laienlinguistischen Sprachkritik ist geprägt von einer restriktiven Vorstellung von Sprache: [N]icht die Vielfalt möglicher Sprachgebräuche, sondern das Bewahren einer „richtigen“ Sprache, des „guten Deutsch“ wird angestrebt; nicht der eigene, sondern je ein fremder Sprachgebrauch wird kritisiert: der der heutigen Jugend, der Presse, der Politiker. (Neuland 1996, 115)

Der große Erfolg bzw. die breite Rezeption laienlinguistischer Sprachkritik, wie etwa die großen Auflagenzahlen der Sprachglossensammlungen Bastian Sicks zeigen, ist wohl weniger darin begründet, dass durch sie tatsächlich die Sprache der sprachinteressierten Laien-Öffentlichkeit ‚gepflegt‘, von (schmutzigen?) Fremdwörtern ‚gereinigt‘ etc. werde, sondern wohl vielmehr in einer Art Echokammer-Effekt: Die laienlinguistische Öffentlichkeit erfährt durch die sprachlichen Mythen der populären Sprachpfleger, Sprachratgeber etc. die Bestätigung ihrer eigenen sprachlichen (und anderen) Vorurteile. Das unterhält und vermittelt ein Gefühl der Sicherheit und Bestätigung. Erkenntnisgewinn, der durch den Wissenstransfer der linguistischen Sprachkritik gewonnen werden könnte, verlangt Differenzierungsanstrengung und verunsichert potenziell, weil er die Revision erworbener Wissensinhalte, die sich als Mythen herausstellen, erfordert.

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5.2 Linguistische Sprachkritik In der linguistischen Sprachkritik lassen sich zwei Positionen erkennen: eine soziolinguistisch orientierte Richtung, die den Sprachgebrauch als gesellschaftliches Phänomen auffasst und Sprachnormen nur als Spiegelungen des Sprachgebrauchs und demzufolge Sprachnormen als soziolinguistische Konzepte anerkennt. Für diese Richtung ist eine auf sprach(gebrauchs)verändernde Wirkung abzielende, angewandte Sprachkritik in hohem Maße fragwürdig. Letztere repräsentiert die zweite Richtung linguistischer Sprachkritik. Die Akteure dieser Richtung gehen davon aus, dass eine differenzierte Reflexion über Sprache als System und im Gebrauch durchaus zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Menschen beitragen kann (vgl. Langer 2013, 325). Die beiden Richtungen eint ihre Ablehnung der Homogenitätsideologie der laienlinguistischen Sprachkritik. Beide gehen von einer Vielzahl von Sprachgebräuchen und von Varietäten aus, welche u. a. regional, sozial, funktional voneinander zu unterscheiden sind.  

Sie besitzen eine gewisse Regelhaftigkeit, weisen Normen auf und machen je nach Kontext, Anlass der Sprachverwendung und zu realisierender Sprachfunktion unterschiedliche Formen des Sprachgebrauchs nicht nur möglich, sondern nötig. (Schiewe 2007, 370)

Im Gegensatz zur wirkungsskeptischen, stark deskriptivistisch orientierten Richtung der linguistischen Sprachkritik ist letztere zwar nicht präskriptiv im Sinne von Vorschriften, mit denen das Sprachverhalten der Menschen gesteuert werden soll. Diese Richtung der Sprachkritik will durch sprachliche Urteile den Rat suchenden Laien aber durchaus Orientierung bieten. Jürgen Schiewe, einer der Repräsentanten dieser Richtung, sieht die Aufgabe einer wissenschaftlich begründeten Sprachkritik darin, dem Laien Orientierung zu geben und dadurch gelingende Kommunikation zu befördern: Gutes Deutsch bedeutet also ein Deutsch, das die Relevanz und Gewichtung bestehender Normen abwägt und diese Normen gemäß der Kommunikationsabsicht zum Zwecke gelingender Kommunikation im jeweiligen Text realisiert. (Schiewe 2007, 377)

Publikationsreihen wie ‚Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur‘ vertreten diese Richtung, deren Namen zugleich Programm ist: Gutes Deutsch ist aus Sicht der heutigen Sprachkritik mehr als richtiges Deutsch, und manchmal kann und muss es sogar anderes als richtiges Deutsch sein. Gutes Deutsch ist in erster Linie angemessenes Deutsch, darüber hinaus auch prägnantes und, wo möglich, variierendes Deutsch. Um gutes Deutsch zu sprechen und zu schreiben, braucht man neben einem Wissen über die Regeln der Grammatik auch ein Wissen darüber, in welcher Situation man zu wem über welchen Gegenstand wie sprechen oder schreiben sollte, damit die Kommunikation glücken kann. (Schiewe 2007, 379)

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6 Laienlinguistische und linguistische Sprachratgeber 6.1 Laienlinguistische Sprachratgeber Laienlinguistische, populäre Sprachratgeber haben eine lange Tradition (vgl. Corr 2014). Für die deutsche Sprache gibt es sie seit etwa 500 Jahren (Greule 2000, 318). Fasst man die Definition von laienlinguistischen Sprachratgebern weit, so handelt es sich um Bücher, in denen „Ratschläge zum Gebrauch der Muttersprache“ (Greule 2000, 318) gegeben werden. Darunter fallen historische Buchsorten wie Anstandsbücher, Antibarbari, Briefsteller, Deklamierbücher, Formularbücher, Gesprächsbücher, Populärrhetoriken, Titularbücher etc. Heute verbreitet sind vor allem die modernen Korrespondenzhilfen, Lexika für sprachliche Zweifelsfälle, Populärrhetoriken, Gebrauchsgrammatiken, Rechtschreib-Ratgeber, normative Stilfibeln und Ausbildungsliteratur für Werbetexter, Redakteure etc. (vgl. Antos 1996, 26). Die populäre Ratgeberliteratur hat sich insbesondere seit dem 19. Jahrhundert stark ausgebreitet, einer Zeit, in der die modernen Standardsprachen kodifiziert, festgeschrieben und für alle verbindlich wurden (Topalović/Elspaß 2008, 43). Die populäre Ratgeberliteratur bildet bis heute einen wesentlichen Teil der Laien-Linguistik, der vor allem seit Antos 1996 große Aufmerksamkeit auch vonseiten der Sprachwissenschaft zuteil wurde. Kennzeichen der Laien-Linguistik ist, dass sie „eine Sprach- und Kommunikationsbetrachtung für Laien und häufig genug auch eine, die von Laien betrieben wird“ (Antos 1996, 25), ist. Der Begriff ‚Laien-Linguistik‘ deckt sich dabei in weiten Teilen mit dem, was man ‚normative‘ oder ‚präskriptive Linguistik‘ nennen könnte. Sie umfaßt aber mehr: deskriptive, enzyklopädisch ausgerichtete und/oder unterhaltende Darstellungen zu sprachlich-kommunikativen Themen oder Problemen. (Antos 1996, 25)

Waren schon im 19. Jahrhundert die präskriptiven Stilfibeln Gustav Wustmanns ein Verkaufserfolg, so zeigt der enorme Erfolg von Autoren wie Ludwig Reiners, Wolf Schneider bis hin zu den ‚Zwiebelfisch‘-Kolumnen und Büchern Bastians Sicks mehr als 100 Jahre nach Wustmann, dass nach wie vor eine breite Öffentlichkeit nicht nur an sprachlichen Fragen interessiert ist, sondern auch willens, sich belehren und zuweilen unterhalten zu lassen, um zu erfahren, wie richtiges und/oder gutes Deutsch beschaffen sei. Charakteristisch für diese Tradition ist es, eigene Stilnormen und Geschmacksurteile, die wiederum bestimmten „Stilmoden“ folgen können, als allgemeingültige Sprachnormen zu präsentieren. (Breindl 2016, 106)

Die teilweise heftige Kritik, die Sicks Publikationen auf Seiten der Linguistik ausgelöst haben, darf angesichts der linguistischen Schwächen dieser Ratgeber nicht über-

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raschen (vgl. Maitz/Elspaß 2007; Ágel 2008; Topalović/Elspaß 2008; Meinunger 2008; Elspaß/Maitz 2012). Überraschen mag vielmehr die Sehnsucht nach – linguistisch nicht haltbaren – Richtig-oder-Falsch-Urteilen, die die Laien einfordern und die von der Fachlinguistik aus dem wissenschaftsethischen Grund, wider besseres (Fach-) Wissen nicht über ein gewisses Maß hinaus simplifizieren zu dürfen, nicht befriedigt werden können. Mit ein Grund für die Unversöhnlichkeit der Standpunkte mag sein, dass auch hier zwei grundsätzlich unterschiedliche Konzepte von ‚Norm‘ einander gegenüberstehen: auf der einen Seite die laienlinguistischen Autoren à la Sick sowie Leser der Ratgeberliteratur, die ein Zielnorm-Konzept verfolgen; auf der anderen Seite die professionelle moderne Linguistik, deren Forschungsparadigma Gebrauchsnormorientiert ist (vgl. Abschnitt 2.4.). Die unterschiedlichen Norm-Konzepte, die entsprechend unterschiedliche Vorstellungen von sprachlicher Korrektheit nach sich ziehen, ändern jedoch nichts an der Tatsache des nach wie vor hohen Stellenwertes sprachlicher Normen im Deutschen: Solange sprachliche und besonders grammatische Korrektheit in einer Gesellschaft einen hohen Status hat und dies insbesondere schulisches und berufliches Fortkommen in nicht geringem Maße mitbestimmt, sind Fragen von Laien nach der Korrektheit einzelner sprachlicher Formen sehr berechtigt […]. (Topalović/Elspaß 2008, 43)

6.2 Linguistische Sprachratgeber: Grammatiken und Nachschlagewerke zu sprachlichen Zweifelsfällen Während Journalisten, Lehrer und andere sprachinteressierte Personengruppen, die meist aus der Schreibpraxis kommen, als Autoren eine lange Tradition laienlinguistischer Sprachratgeberliteratur bilden, hat die Sprachwissenschaft dieses Thema erst recht spät entdeckt. Das liegt vermutlich daran, dass Laien-Linguistik und somit die Bedürfnisse der Sprachöffentlichkeit erst in den 1990er Jahren in den linguistischen Fokus gerückt sind (vgl. Antos 1996). Neigen zahlreiche laienlinguistische Autoren nach wie vor zu Sprach- und Sprachgebrauchsurteilen mit sprachpuristischen bis hin zu kulturpessimistischen Zügen, wobei sie ihre am Homogenitätsideal orientierten Sprachrichtigkeitsurteile unterhaltsam zu verpacken versuchen, so konzentriert sich die von der Linguistik stammende Ratgeberliteratur auf sprachliche Zweifelsfälle, die sich als „Schnittstelle zwischen öffentlichem Interesse und sprachwissenschaftlichen Bemühungen“ (Hennig 2009, 15) besonders gut eignen. Nach Klein (2006, 581) wäre es daher sinnvoll, […] die Analyse sprachlicher Zweifelsfälle systematisch und möglicherweise auch institutionell zu einem Verbindungsglied zwischen öffentlichem Sprachbewusstsein und linguistischer Analyse zu erheben.

Als sprachlicher Zweifelsfall kann nach Klein (2003, 2) eine sprachliche Einheit (Wort/Wortform/Satz) verstanden werden, bei der sich kompetente Sprecher beim

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Auftreten von (mindestens) zwei Varianten nicht sicher sind, welche der beiden Formen (standardsprachlich) korrekt ist. Formseitig sind die beiden Varianten eines Zweifelsfalls „[…] oft teilidentisch […] (z. B. dubios/dubiös, lösbar/löslich, des Automat/des Automaten, Rad fahren/radfahren, Staub gesaugt/staubgesaugt/ gestaubsaugt)“ (ebd.). Wenn ein Variantenpaar gehäuft in Sprachberatungsstellen, in laienlinguistischen Sprachratgebern oder als Eintrag in Nachschlagewerken vorkommt, so kann dies als Indiz dafür gelten, dass es sich um einen sprachlichen Zweifelsfall handelt (vgl. Klein 2006, 585). Im Unterschied zum Zielnorm-Ansatz laienlinguistischer Ratgeberliteratur negieren linguistische Sprachratgeber zwar keineswegs Bewertungstermini wie richtiges, falsches, (in)korrektes, gutes, schlechtes Deutsch, ihr Rat bei sprachlichen Zweifelsfällen basiert aber auf dem Konzept einer Gebrauchsnorm und bezieht daher umfangreiche Korpusrecherchen, die in die Bewertung der Varianten einfließen, mit ein. So trägt z. B. das Duden-Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle schon im Titel „Richtiges und gutes Deutsch“ (Duden 2011). Es bewertet also, lässt aber immer klar erkennen, auf welche Gebrauchsnorm es sich bezieht: die geschriebene Standardvarietät, als deren Bezugsgröße der „Sprachgebrauch der überregionalen Presse“ (Eisenberg 2007, 217) definiert wird. Mit diesem „praktisch orientierten Normbegriff“ (ebd., 213) grenzen sich linguistische Sprachratgeber wie das Duden-Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle von den rein deskriptivistischen Postulaten der modernen (Sozio-)Linguistik ab, in der Sprachnormen  



als gesellschaftliche Konventionen verstanden [werden], die, wie soziale Normen allgemein, ausgehandelt und tradiert werden. Sie müssen weder kodifiziert noch explizit formuliert sein, d. h. es kann sich um implizite Normen handeln. (Eisenberg 2007, 213)  

Wörterbücher und Grammatiken sprachlicher Zweifelsfälle beurteilen, wenn sie den Anspruch linguistisch fundierter Ratgebung haben, nicht, ob Varianten oder Varietäten per se gut oder schlecht seien, sondern ausschließlich, ob die Wahl bestimmter Varianten eines Zweifelsfalls der als Gebrauchsnorm gewählten Varietät entspricht. Was Bearbeiter von Grammatiken und Wörterbüchern sprachlicher Zweifelsfälle machen, ist das zu sagen, was ein Linguist höchstens sagen kann bzw. zu sagen befugt ist, nämlich zu welcher Sprache, Varietät oder Register eine spezifische Sprachverwendungsform gehört, nicht aber, ob sie dazu gehören dürfte oder sollte. (Maitz/Elspaß 2009, 66)

7 Sprachberatung Wie bei den Sprachratgebern geht es auch in der Sprachberatung in erster Linie um die (Er-)Klärung sprachlicher Zweifelsfälle, die durch die Entwicklungsdynamik und das vorhandene innere Varianten- und Varietätenspektrum des Deutschen wie jeder natürlichen Sprache zustande kommen. Betrachtet man die historische Entwicklung der

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Sprachberatung, so hat sich die Beratungskommunikation in den letzten Dezennien des 20. Jahrhunderts von schriftlicher Kommunikation in Form von Briefkorrespondenzen zunächst auf telefonische und mit dem Zugang breiter Bevölkerungsschichten zum Internet ab der Jahrtausendwende zunehmend auf E-Mail-Kommunikation verlagert. „Im interaktiven Web wird nun Sprachberatung auf Ratgeberplattformen, Foren, Nutzercommunities und Blogs angeboten“ (Breindl 2016, 90). Während die telefonische Sprachberatung in der Regel von Institutionen mit linguistischer Expertise getragen bzw. betrieben wird, lassen sich im interaktiven Web Expertenplattformen von Laienplattformen unterscheiden: Auf ersteren agieren linguistisch ausgebildete Berater, die im Wesentlichen die […] Anforderungen an eine wissenschaftlich fundierte Sprachberatung erfüllen. Unter Laienplattformen sollen Internet-Communities verstanden werden, in denen die Nutzer selbst als Ratsuchende, Ratgebende, Ratkommentierende interagieren. (Breindl 2016, 90)

7.1 Telefonische Sprachberatung Speziell die linguistisch ausgebildeten Ratgeber in der telefonischen Sprachberatung stehen vor dem Problem, linguistische Sachverhalte, die sprachlichen Zweifelsfällen zugrunde liegen und die für eine linguistisch adäquate Erklärung notwendig wären, mangels vertieften Interesses der Ratsuchenden sowie mangels Zeit kaum eingehender erklären zu können. Wermke schildert dieses Problem anhand der Duden-Sprachberatung: Die durchschnittliche Gesprächsdauer liegt bei der Duden-Sprachberatung deutlich unter zwei Minuten. Die alltägliche Erfahrung ist es, dass die Fragesteller häufig auch gar nicht an ausführlicheren Erklärungen ihres sprachlichen Problems interessiert sind. (Wermke 2007, 365 f.)  

Nicht unbeachtet sollte dabei der Unterschied zwischen kommerziellen Sprachberatungen wie der Duden-Sprachberatung und nichtkommerzieller Beratung wie etwa jener der Gesellschaft für deutsche Sprache bleiben (weiterführende Literatur zur telefonischen Sprachberatung findet sich bei Klein 2003, Abschn. 2.2). Während Erstere vorwiegend mit Fragen konfrontiert sind, die von normativen Erwartungen geleitet sind (Wie heißt etwas richtig? Wie schreibt man etwas richtig?), fragen Anrufer bei Letzteren häufig nicht nach dem Wie, sondern nach dem Warum eines sprachlichen Phänomens, was mehr Erklärungszeit und auch entsprechende Akzeptanz bei den Anfragenden erfordert (vgl. Stetter 1995, 38 f.). Vor allem in den nicht explizit normierten Bereichen der Sprache, wo es eher um Fragen der Angemessenheit geht,  

[…] bekommt das Diktum des Sprachberaters schnell normativen Charakter, ob er das nun beabsichtigt oder nicht. Diese normative Funktion wird der Sprachberatung oft genug regelrecht abgenötigt. (Wermke 2007, 366)

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7.2 Internetplattformen Expertenplattformen wie http://canoo.net/blog von Dr. Bopp, Grammatik in Fragen und Antworten des IDS Mannheim (http://hypermedia.ids-mannheim.de/call/public/ fragen.ansicht), http://grammatikfragen.de von der Universität Gießen, http://www. duden.de/sprachwissen/sprachratgeber oder http://www.sprachlog.de/ versuchen, „eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit herzustellen“ (Breindl 2016, 91). Dass dabei durchaus Diskrepanzen zwischen dem Selbstbild der Rat anbietenden Experten und den ratsuchenden Nutzern auftreten, zeigt der Erfahrungsbericht von Hennig/Koch aus ihrer Beratungspraxis der Gießener Plattform http:// grammatikfragen.de: Da es zur Arbeitsweise der Seite gehört, auf der Basis von Gebrauchsdaten nahezulegen, sich der Mehrheit anzuschließen, ist die gegebene Antwort noch nicht in Stein gemeißelt. Es wird deutlich gemacht, dass es auch die Option gibt, sich gegen die Empfehlung zu entscheiden, was teils honoriert und teils abgelehnt wird, wie die folgende Rückmeldung illustriert: „Mein Bedürfnis, eine klare, mit richtig oder falsch bewertete Entscheidung zu bekommen, konnten leider nicht erfüllt werden. Wir (alle Sprecher der deutschen Sprache) haben keine Sprachakademie (mehr), keine normende und bewertende Autorität, wie es früher einmal der DUDEN war. Heutzutage wird nirgends noch eine Norm definiert, überall werden Tendenzen behauptet.“ (25.04.2013) Hier wird exakt auf den Punkt gebracht, was dem vermuteten Bedürfnis der Personen, die Sprachberatungen nutzen, entspricht. Die Entscheidung zwischen Richtig und Falsch soll abgenommen und eine Norm festgelegt oder bekräftigt werden. (Hennig/Koch 2016, 76)

Bei Laienplattformen wie http://www.gutefrage.net/tag/deutsch/, dem Portal „Wer weiß was? „Deutsche Sprache“ (http://www.wer-weiss-was.de/), dem „Das Forum für die deutsche Sprache“ (http://www.konjugation.de/) oder dem Usenetforum de.etc. sprache.deutsch (http://faql.de/forum.html), bei denen die asymmetrische ExpertenLaien-Kommunikation fehlt, sind die Positionen, auf welches Normkonzept sich die Nutzer bei ihren metasprachlichen Aktivitäten beziehen, deutlich diffuser und heterogener als bei den Expertenplattformen: [N]eben Geschmacksurteilen finden sich tradierte Normen, Gemeinplätze, kommunikative Strategien – aber eben auch linguistisches Wissen um Systematik, Variation und Dynamik von Sprache. (Breindl 2016, 107)

8 Zweifelsfälle im metasprachlichen Diskurs Im Unterschied zu Performanzfehlern, die jeder Sprecher im alltäglichen Sprachgebrauch macht und die er retrospektiv problemlos als Fehler identifizieren kann, weil die fehlerhaften Formulierungen nicht in seinem sprachlichen Usus verankert sind, ist sich der – auch muttersprachlich kompetente – Sprecher bei sprachlichen

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Zweifelsfällen unsicher, ob die gewählte Variante korrekt ist. Hier hilft ihm der Rückbezug auf den eigenen Usus nicht. Sprachliche Zweifelsfälle generieren daher immer ein, wenn auch (bei Laienlinguisten) nur rudimentäres, metasprachliches Bewusstsein. Wolf Peter Klein spricht in diesem Zusammenhang von „Stolpersteine[n] in der natürlichen Kommunikation, die zum Ausgangspunkt von sprachreflexiven Gedanken und Äußerungen werden können.“ (Klein 2003, 2.1.b.) Die laienlinguistischen und linguistischen Sprachratgeber in Form von Populärrhetoriken, Stilfibeln, modernen Korrespondenzhilfen u. a. (vgl. Abschnitt 6.1.), die Gebrauchsgrammatiken und Nachschlagewerke zu sprachlichen Zweifelsfällen (vgl. Abschnitt 6.2.), die Sprachberatungsstellen (vgl. Abschnitt 7), aber auch die Zweifelsfälle-Diskussionen in Sprachgesellschaften und Sprachvereinen, nicht zuletzt im Sprachunterricht in den Schulen sind in Publikationen, Diskussionen und Institutionen gegossener Ausdruck dieses metasprachlichen Bewusstseins. Klein (2003, 2.1.c.) weist darauf hin, dass die (laienlinguistischen) Sprecher bei den sprachlichen Zweifelsfällen und dem, was unter gutem oder richtigem Deutsch verstanden wird, eine explizit normativ geregelte oder zumindest regelbare, geschriebene Standardsprache als Entscheidungsinstanz imaginieren: „Die sprachlichen Zweifelsfälle sind also nicht in ein neutrales metasprachliches Bewusstseinfeld integriert, sondern in ein stark normativ geprägtes“ (ebd.). Der Fokus auf die geschriebene Standardsprache als Entscheidungsinstanz liegt bei den orthographischen Zweifelsfällen auf der Hand. Aber auch die Beurteilung von Grammatikalität ist in den metasprachlichen Diskursen und somit offenbar auch im Bewusstsein der Sprecher fast immer an der Schriftsprache orientiert (vgl. Schneider 2005, 173). Mit Blick auf den allgemeinen Entstehungshorizont von Zweifelsfällen betont Klein:  

Erst im Kontext verschrifteter Sprachen, die ja generell wesentlich stärker standardisiert sind als unverschriftete, wird es verschärft zu Fällen sprachlichen Zweifels kommen. Darauf weist auch die Tatsache hin, dass Zweifelsfälle besonders häufig in Situationen auftauchen, in denen Schriftsprache produziert bzw. reflektiert wird […]. (Klein 2003, 2.3.)

Grammatische Zweifelsfälle sind aus linguistischer Sicht insofern interessanter als orthographische, als die deutsche Orthographie einen höheren Grad an Kodifizierung aufweist als die Grammatik. Während im Bereich der Orthographie aufgrund der verbindlichen Regeln des Rats für deutsche Rechtschreibung Zweifelsfragen zum überwiegenden Teil eindeutig entschieden werden können und somit eine in Betracht gezogene Variante als Fehler ausgeklammert wird, ist die Situation im Bereich der Grammatik weitaus komplexer, weil Varianz hier häufig systematisch begründbar ist […]. (Hennig 2009, 30)

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8.1 Zweifelsfälle nach Ebene im Sprachsystem Zweifelsfälle gibt es aber nicht nur im Bereich der Orthographie und Grammatik. Sie sind auf allen Ebenen des Sprachsystems zu finden. Es gibt phonetische, orthographische, morphologische (flexionsbedingte, wortbildungsbedingte), syntaktische, lexikalische, semantische und pragmatische Zweifelsfälle. Zu letzteren können auch Fragen des Stils gezählt werden. Folgende Phänomene auf der jeweiligen Systemebene finden sich häufig in den metasprachlichen Diskursen: 1. orthographische Ebene: Getrennt-/Zusammenschreibung staubsaugen/Staub saugen, radfahren/Rad fahren; Kommasetzung bei Infinitivgruppen (Wir hoffen, Ihnen hiermit geholfen zu haben/,/ und grüßen Sie herzlich), bei Aufzählungen (trockener französischer Rotwein/schönes, warmes Wetter), bei Vergleichen (Es wurde mehr ausgegeben als eingenommen/Es wurde mehr ausgegeben, als wir gedacht haben); Fremdwortschreibung (Ketchup/Ketschup); Groß- und Kleinschreibung von viel, wenig, ein, andere; Apostroph (Peter’s Bar); 2. morphologische Ebene: wegen mit Dativrektion; Fugenzeichen Rindsbraten/Rinderbraten; Pluralbildung von Fremdwörtern Praktika/Praktikas, starke/schwache Partizip II-Varianten wie gewinkt/gewunken; Verbindungen mit –mäßig (Stil): Stilmäßig hat sie guten Geschmack; Superlativ größtmöglich/st/e; Genitivendung bei dieses/diesen Jahres; 3. syntaktische Ebene: Verbzweitstellung in Nebensätzen mit weil; Perfektbildung mit haben/sein bei Positionsverben (habe gestanden/bin gestanden); attributive Partizipgruppen bei einem an einem schönen Teich gelegenen Bootshaus; Partizip als Adjektivattribut stattgefundene Exzesse, sich ereignete Eklats; 4. lexikalische Ebene: Genusschwankung der/das Virus; 5. semantische Ebene: derselbe/der gleiche; anscheinend/scheinbar; Drache/Drachen; 6. pragmatische Ebene: tun-Fügung mit Infinitiv (Registerwahl); Modalpartikelgebrauch eben/halt; Frau/Fräulein in der Anrede (Stil); ‚Papierdeutsch‘/‚Amtsdeutsch‘/‚Kanzleideutsch‘/Nominalstil (Funktionsverbgefüge in Wegfall kommen/ wegfallen; Substantivierung Nichtbefolgung, Außerachtlassung). Jenseits der Systemebene werden in der Ratgeberliteratur auch Zweifelsfälle mit sprachpolitischem bzw. Spracheinstellungs-Impetus verhandelt (z. B. Fremdwortgebrauch: Anglizismen/Amerikanismen) sowie textsortenspezifische Zweifelsfälle (vgl. Duden 2011, 15). Wie die Sprachratgeber und entsprechenden Nachschlagewerke erkennen lassen, bilden die orthographischen Zweifelsfälle die größte Gruppe. Nicht übersehen werden sollte dabei, dass viele orthographische Zweifelsfälle auf Fragen zurückgehen, die nur in der Syntax (z. B. Kommasetzung) oder in der Morphologie (z. B. Großschreibung von Substantivierungen, Worttrennung) geklärt werden können. Beispiele für Zweifelsfälle auf der phonetischen Ebene werden oben nicht ange 





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führt, denn sie stehen „[…] vermutlich eher am unteren Ende der Frequenzskala.“ (Klein 2003, 2.3.)

8.2 Zweifelsfälle nach Entstehungsursache Zweifelsfälle können aber auch nach der Ursache ihrer Entstehung klassifiziert werden. Wolf Peter Klein (2003, 2.3.) differenziert nach diesem Kriterium Zweifelsfälle, die durch die Existenz von Sprachwandel, Sprachkontakt, Regiolekten/Dialekten, Fachsprachen, Stillagen, Regelkonflikten im Sprachsystem oder durch gesellschaftlich relevante metasprachliche Interventionen entstehen. In sprachpraktischer Perspektive schlägt Klein eine Klassifikation der sprachlichen Zweifelsfälle nach unterschiedlichen Klärungsmöglichkeiten vor, die bei einer Anfrage in einer Sprachberatungsstelle idealiter möglich sind. Die folgenden Beispiele sind der Klassifikation Kleins (2003, 2.4.) entnommen: Klassifikationskriterium: Frequenz 1. Freie Variation: a und b ohne Restriktionen gebräuchlich (richtig) (z. B. siebte/siebente, gern/gerne, Das Dorf wird der/in die Stadt eingegliedert.) 2. Graduelle Variation: a gebräuchlicher (richtiger) als b (z. B. das/der Balg, magerer/magrer, dubios/dubiös, des Diesels/des Diesel) 3. Null-Variation: a ist gebräuchlich (richtig), b ist nicht gebräuchlich (falsch) (z. B. Felsblöcke/Felsblocks, Er oder ich hat/habe das getan.)  





Klassifikationskriterium: Gebrauchskontext 1. Stilistische Variation: a hat andere stilistische Konnotation als b (z. B. baldmöglichst/möglichst bald, größer als/denn ich, jeder/jedweder) 2. Regionale Variation: a standardsprachlich, b regiolektal (z. B. Erlasse/Erlässe, die Ersparnis/das Ersparnis, Ochse/Ochs) 3. Fachsprachliche Variation: a standardsprachlich, b fachsprachlich (z. B. Mütter/Muttern, Klage über/gegen, die Niete/der Niet) 4. Umgangssprachliche Variation: a standardsprachlich, b umgangssprachlich (z. B. für das/fürs, Jungen/Jungens/Jungs (Pl.), herumlaufen/rumlaufen) 5. Historische Variation: a heute, b früher gebräuchlich (richtig) (z. B. Likör/Liqueur, Franzose/Franzman, Frömmigkeit/Frommheit) 6. Komplementäre Variation: im Sprachkontext x ist a richtig, im Sprachkontext y ist b richtig (z. B. hat/ist geflattert, der/das Moment, jährlich/jährig, lösbar/löslich). (Klein 2003, 2.4.)  











Die nach Sprachsystemebene, Frequenz, Gebrauchskontext und sprachpraktischer Klärungsmöglichkeit differenzierte Typologie von Klein (2003) zeigt, wie heterogen sprachliche Zweifelfälle sind. Verallgemeinernde Aussagen über die Zweifelsfälle per se sind aufgrund der Tatsache, dass Zweifelsfälle alle Ebenen des Sprachsystems tangieren, aus sehr unterschiedlichen Gründen entstehen und folglich auch sehr unterschiedlich in der Sprach(beratungs)praxis ‚geklärt‘ werden können, problematisch. Problematisch wäre aber auch die Verquickung von sprachlicher Unsicherheit

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in Form artikulierten sprachlichen Zweifels bei einzelnen Formulierungen mit sprachlicher Inkompetenz. Diejenigen, die oft bei Formulierungen in Zweifel geraten, verfügen in der Regel über ein höheres Maß an Sprachsensibilität und damit indirekt Sprachkompetenz als jene, die sich sicher wähnen – oft in Ermangelung der Kenntnis der Variantenvielfalt und Gebrauchsdifferenziertheit des Deutschen. Im mehr oder weniger reflektierten Bewusstsein der Zweifelsfälle drückt sich so nicht zuletzt die Tatsache aus, dass Legitimation in sprachlichen Dingen nicht in der individuellen Überzeugung, sondern in der komplex strukturierten Gemeinschaftlichkeit einer Sprache liegt, die paradoxerweise nur in individuellen sprachlichen Akten greifbar ist. (Klein 2003, 2.5.)

Ob freilich der einzelne zweifelnde Laie diesen Zustand positiv als Indiz seiner sprachlichen Kompetenz wahrnimmt, bleibt fraglich. Klein (ebd.) führt den von den meisten Sprechern wohl eher als eigene sprachliche Inkompetenz empfundenen Sprachzweifel auf deren Prägung durch den gesellschaftlichen, insbesondere den schulischen Umgang mit sprachlichen Zweifelsfällen zurück. Die Erfahrung des Einzelnen im Umgang mit sprachlichen Zweifelsfällen im Laufe seiner sprachlichen Sozialisation steht somit in engem Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen, mitunter durch Schule vermittelten Sprachbewusstsein. Bei vielen Zweifelsfällen existiert eine machtvolle Tradition der metasprachlichen Thematisierung, die im öffentlichen Sprachbewusstsein und vermutlich auch objektsprachlich weiterwirkt. […] Bei der Analyse der Zweifelsfälle müssen die sozialen Konsequenzen und Voraussetzungen dieser metasprachlichen Thematisierungen mitbedacht werden. (Klein 2003, 4.)

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Nina Janich

18. Sprache und Moral: Vom guten Sprechen als gutem Handeln Abstract: Der Artikel diskutiert, welche Rolle Moral in der öffentlichen Sprachbewertung und in der sprachwissenschaftlich begründeten Sprachkritik spielt bzw. spielen sollte. Es wird gezeigt, dass Sprecher für ihre Sprachhandlungen verantwortlich gemacht werden. Die öffentliche Sprachbewertungspraxis legt daher ein Verständnis von Sprachkompetenz nahe, das nicht nur auf die sprachliche Form und ihre Korrektheit, sondern auch auf die stilistische Angemessenheit und die inhaltliche und soziale Akzeptabilität von Sprachhandlungen ausgelegt ist. Es wird daher vorgeschlagen, Sprachkompetenz zusammen mit einer moralisch begründeten Bereitschaft zur Kooperation als Sprachkultiviertheit eines Sprechers aufzufassen, die in enger Wechselwirkung mit der Sprachkultur einer Sprachgemeinschaft steht. In einem zweiten Teil wird vor dem Hintergrund der bisherigen innersprachwissenschaftlichen Debatte um sprachwissenschaftliches Beschreiben vs. Bewerten vorgeschlagen, Moral und Moralität als Bewertungsdimensionen in eine sprachwissenschaftlich fundierte Sprachkritik zu integrieren und entsprechende Bewertungs kriterien sprachhandlungstheoretisch (z. B. über Handlungsmaximen und Argumentationsstandards) zu begründen.  



1 2 3 4

Hinführung Sprachliches Handeln und Moral Sprachkritisches Handeln und Moral Literatur

1 Hinführung Einführend ist kurz zu klären, was hier unter Moral zu verstehen ist: Mit Moral ist im Folgenden der „Inbegriff jener Normen und Werte, die durch gemeinsame Anerkennung als verbindlich gesetzt worden sind“ und als Handlungsanweisungen in Form von Geboten und Verboten vermittelt werden (Pieper 2017, 27), gemeint. Vor dem Hintergrund eines aus diesen Ge- und Verboten gebildeten Moralkodexes werden einzelne Handlungen von der Gemeinschaft als moralisch gut oder schlecht beurteilt. Moral ist damit ein Ordnungsbegriff, der in seiner inhaltlichen Ausgestaltung der konkreten Ge- und Verbote je nach gesellschaftlich-kulturellem Kontext bis zu einem gewissen Grad flexibel, dem Anspruch nach aber unveränderlich ist, und zwar weil Moral auf Moralität beruht. Moralität ist – wieder mit Pieper (2017, 35–39, bes. 37) – https://doi.org/10.1515/9783110296150-019

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Sprache und Moral

im Gegensatz zu Moral ein Prinzipienbegriff, der keinem geschichtlichen oder kulturellen Wandel unterworfen ist, weil er auf – so die Ethik – allgemeingültigen Basisnormen beruht (nach Pieper ist das selbst- und letztbegründende Prinzip hier die Freiheit). Die Ethik hat daher auch weniger die von ihr als kultur- und geschichtsunabhängig angenommenen Basisnormen (wie Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde, Gerechtigkeit usw.) für alle möglichen und vorhandenen Moralen zu bestimmen, sondern sie hat zu klären, wie diese Basisnormen angesichts unterschiedlicher Lebensumstände und Situationen anzuwenden und als moralisches Handeln umzusetzen sind (vgl. Pieper 2017, 27 f.). Welche Rolle spielt nun eine so verstandene Moral in der alltäglichen Kommunikation und welche Rolle kann, soll, muss oder darf sie in der sprachwissenschaftlichen Sprachreflexion spielen? Dies sind die Leitfragen des folgenden Beitrags. Sie machen bereits deutlich, dass zwei Ebenen oder Perspektiven grundsätzlich zu unterscheiden sind: (1) Welche Rolle spielt Moral im alltäglichen Sprechen und Schreiben bzw. in dessen öffentlicher Wahrnehmung? Hier geht es nicht zuletzt darum, was in der Öffentlichkeit unter ‚gutem‘ oder ‚schlechtem‘ Deutsch verstanden wird (vgl. z. B. den Sammelband von Burkhardt 2007, der mit „gutem Deutsch“ zuerst einmal einen „gepflegten Sprachgebrauch“, so der Titel, assoziiert). Damit hängt die Frage zusammen, was es heißt, die deutsche Sprache ‚gut‘ zu beherrschen, d. h. was unter sprachlicher und/oder kommunikativer Kompetenz zu verstehen ist. Die Kompetenzfrage wiederum verweist auf das Problem, ob Wissen und Können für ein erfolgreiches kommunikatives Handeln ausreichen – oder ob nicht zusätzlich eine kommunikative Handlungs- und Kooperationsbereitschaft vorausgesetzt werden muss, die möglicherweise (auch) moralisch zu bestimmen ist. (2) Nachdem damit die konkrete Sprachverwendung in den Blick genommen ist, lässt sich – weiterdenkend – auch noch eine Metaperspektive einnehmen: Welche Haltung nimmt die Sprachwissenschaft zur Bewertung von Sprachgebrauch ein? Und: Können Moral und Moralität Referenzpunkte einer sprachwissenschaftlichen Bewertung von Sprachgebrauch sein, oder führt dies über den Kompetenzbereich der Sprachwissenschaft hinaus? Von einer Meta-Metaebene aus ließe sich damit fragen: Welche Rolle spielt Moral im sprachwissenschaftlichen und sprachkritischen Reflektieren selbst? Hier geht es letztlich um die Kernfrage nach der Begründung sowie den Rechten und Pflichten einer sprachwissenschaftlich fundierten Sprachkritik, die in der Sprachwissenschaft spätestens seit der Auseinandersetzung zwischen Peter von Polenz und Dolf Sternberger um das „Wörterbuch des Unmenschen“ in den 1950er Jahren anhaltend kontrovers diskutiert wird (vgl. die historischen Überblicke bei Schiewe 1998, 242–249, Polenz 1999, 294–337, Dieckmann 2012, 43–60 und Dodd 2016; siehe auch den Beitrag von Niehr in diesem Band).  





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Nina Janich

Beide Ebenen – die des Sprachgebrauchs und die des sprachwissenschaftlichen Diskurses – spielen im Hinblick auf das Verhältnis von Sprachwissenschaft und Öffentlichkeit eine wichtige Rolle: Die Öffentlichkeit fordert von der Sprachwissenschaft, zum Beispiel im Rahmen von entsprechenden Sprachberatungsangeboten oder Expertisen in anderer Form, immer wieder Urteile über Sprachgebrauchsphänomene ein (Ebene 1). Die immer noch engagiert verteidigte Haltung, dass die Sprachwissenschaft zuerst einmal Sprachbeschreibung und auf dieser Basis Sprachreflexion, nicht aber Sprachbewertung leisten könne (vgl. z. B. Schwinn 1997, Gauger 1991, 1999, Podiumsdiskussion 2002, 128, 133), konfligiert mit den Normsetzungserwartungen und den zugrunde liegenden Sprachauffassungen der Öffentlichkeit (vgl. im Überblick z. B. bei Greule 1995 oder Dieckmann 2012, II.2) und stellt auch für die Sprachdidaktik eine Herausforderung dar (eine entsprechende Problematisierung findet sich bei Roth 2011; vgl. auch Neuland 1998). Öffentlich erwartet wird von der Sprachwissenschaft eine wissenschaftliche Expertise, die eben nicht nur die Diagnose stellt, sondern auf der Basis von Werturteilen auch Korrektur und Therapie vorschlägt (vgl. z. B. Zimmer 2007) (Ebene 2). Einige Sprachwissenschaftler haben darauf auch bereits mit konkreten Vorschlägen für eine sprachwissenschaftlich begründete Sprachkritik und Kriterien für ‚gutes‘ Deutsch reagiert (vgl. z. B. Pörksen 1994, Fix 1995, 2008, Roth 2004, Schiewe 2007, Kilian et al. 2013, 2016) oder gar eine kommunikative Ethik auf sprachwissenschaftlicher Grundlage zu entwickeln versucht (vgl. z. B. Wimmer 1984, 1990, Schmich 1987, Heringer 1990, Groeben et al. 1993, Bickes 1995, N. Janich 2004). Der Beitrag ist entsprechend zweigeteilt aufgebaut. Zuerst wird diskutiert, welche Rolle moralische Urteile in der öffentlichen Sprachbewertung spielen (Ebene 1) und welche Konsequenzen sich daraus für eine Bestimmung von sprachlich-kommunikativer Kompetenz sowie von Sprachkultur ergeben (in Anlehnung an N. Janich 2004). In einem zweiten Teil wird zur Relevanz moralischer Maßstäbe in einer sprachwissenschaftlich fundierten Sprachkritik Stellung bezogen (Ebene 2) (u. a. in Anlehnung an N. Janich 2013). Der Beitrag knüpft damit eng an andere Beiträge in diesem Band an, insbesondere an diejenigen von Niehr (8), Schiewe (10) und Rössler (19).  

















2 Sprachliches Handeln und Moral 2.1 Sprachgebrauch im öffentlichen Urteil – ein Beispiel Ein kurzes Textbeispiel aus der Presse soll verdeutlichen, dass jede sprachliche Handlung in der sozialen Interaktion Gegenstand von Bewertungen sein kann.

Sprache und Moral

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„Multikulturelle Schwuchtel“ – CDU-Bundestagsabgeordneter Nitzsche pöbelt wie ein Rechtsextremist Von Frank Jansen und Simone Wendler Berlin/Dresden – In der CDU gibt es erneut Aufregung über den sächsischen Bundestagsabgeordneten Henry Nitzsche. Der bereits mehrfach mit stramm rechten Parolen aufgefallene Christdemokrat soll im Juni bei einer Veranstaltung zum Thema Patriotismus „erstklassige NPDÄußerungen“ von sich gegeben haben, wie der jetzt zurückgetretene Vorsitzende des CDU-Stadtverbandes in Wittichenau (Landkreis Kamenz), Ludger Altenkamp, behauptet. […] Laut Altenkamp sagte der Bundestagsabgeordnete am 8. Juni bei einer Veranstaltung in Lieske (bei Kamenz), man brauche den Patriotismus, „um endlich vom Schuldkult runterzukommen“ – und damit „Deutschland nie wieder von Multikultischwuchteln in Berlin regiert wird“. […] Dass Nitzsche sich im Juni so ausgelassen hat, wie es Altenkamp ihm vorwirft, wird von einem CDU-Funktionär bestätigt, der an der Veranstaltung in Lieske teilgenommen hat. Altenkamp habe Nitzsche sofort zu einer Entschuldigung aufgefordert, erinnert sich Udo Witschas, Bürgermeister von Lohsa und Mitglied des Landesvorstands der CDU. […] Nitzsche hat der CDU schon mehrfach Ärger bereitet. Ende 2003 tönte er, eher werde einem Muslim „die Hand abfaulen“, als dass er CDU wähle. In der Union erntete Nitzsche harsche Kritik. Im Sommer 2005 fiel Nitzsche auf, als er mit der Parole „Arbeit, Familie, Vaterland“ in den Bundestagswahlkampf zog. […] Auch diesmal hagelte es Kritik […]. (Der Tagesspiegel online 30.11.2006, http://www.tagesspiegel.de/politik/multikulturelle-schwuchtel/780768.html, abgerufen 14.04.2019)

In diesem Textausschnitt wird mit sog. Originaltönen verdeutlicht, was ein bestimmter Politiker bei verschiedenen Anlässen wörtlich gesagt hat: Multikultischwuchteln in Berlin, um endlich vom Schuldkult runterzukommen oder Arbeit, Familie, Vaterland. Diese Äußerungen werden von den Autoren des Artikels durch Ausdrücke des Sagens und Meinens im Text bereits unmittelbar negativ bewertet: wie ein Rechtsextremist pöbeln, sich auslassen, tönen, stramm rechte Parolen. Zudem beschreiben die Journalisten auf einer Metaebene explizit, dass und wie auch andere an diesen Äußerungen Kritik geübt haben: gibt es erneut Aufregung über, wie es Altenkamp ihm vorwirft, „erstklassige NPD-Äußerungen“ (als Zitat markiert), Altenkamp habe Nitzsche sofort zu einer Entschuldigung aufgefordert, erntete Nitzsche harsche Kritik, hagelte es Kritik. Die hier geäußerte sowie beschriebene Kritik zeigt sehr klar, dass Kommunikationsteilnehmer einander Verantwortung dafür zuschreiben, dass und was und wie sie etwas in bestimmten Situationen sagen (alternativ immer mitgedacht: schreiben), insbesondere wenn sich die betreffenden Akteure auf der öffentlichen Bühne bewegen und als Repräsentanten einer sozialen Gruppe (hier: einer politischen Partei) auftreten. Es zeigt zudem, dass auch öffentlich vorgenommene Bewertungen selbst wieder Gegenstand von Zustimmung oder Ablehnung sein können. Solche Zuschreibungen von Verantwortung verdeutlichen, dass die Kommunikationsteilnehmer Sprechen (auch sprachbewertendes Sprechen) als Handeln werten: Als Handeln wird zunächst das bezeichnet, was in der Alltagssprache ‚absichtlich‘ und in der Sprache der Juristen ‚vorsätzlich‘ heißt. Sekundär gilt als Handeln, was versehentliche Nebenfolgen oder Nebenwirkungen hat, deren Vermeidbarkeit durch anderes Handeln zu erreichen ist.

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Nicht zum Handeln wird gerechnet, was unvermeidbar ist, wie das Erschrecken oder das Geschleudertwerden bei einem Verkehrsunfall [...]. Die Gemeinschaft zusammenlebender Menschen verlangt von ihren Mitgliedern diese Unterscheidungsfähigkeit, fordert sie gelegentlich (wie in Gerichtsverhandlungen) sogar ausdrücklich ein. Es geht also nicht primär um das Urteil einer Person über das eigene Tun und Erleiden, sondern primär um die Zurechnung von Verdienst und Schuld durch andere Menschen – und zwar, wie sich zeigen wird, im Rahmen wechselseitiger Verpflichtung. (P. Janich 2001, 27; Hervorhebung im Original)

Sprachliche Handlungen kann man wie auch andere Handlungen in einer bestimmten Art und Weise ausführen, oder man kann sie unterlassen; sie können im Hinblick auf die Ausführung gelingen/misslingen und mit Blick auf die verfolgten Zwecke erfolgreich oder nicht erfolgreich sein (zum hier vertretenen kulturalistischen Handlungsbegriff vgl. Hartmann 1996 und P. Janich 2014; ausführlicher für Sprachhandlungen N. Janich 2004, Kap. 2.2 und 2.3). Damit können sprachliche Handlungen dem Sprecher als Schuld oder Verdienst zugeschrieben werden, weil sie, anders als bloßes Verhalten, auch unterlassen werden können. Der Sprecher ist für ihre Ausführung, ggf. aber auch für ihre Unterlassung verantwortlich (z. B. bei einem ausbleibenden Glückwunsch, einer ausbleibenden Entschuldigung). Dies gilt auch für Handlungen, die spontan vollzogen werden oder die – wie sprachliche Bewertungshandlungen – auf möglicherweise unbewussten Einstellungen oder Emotionen basieren (vgl. die Diskussion des Handlungsstatus von Bewertungen und die etwas andere Position bei Bickes 1995, 12–15). Gerade im politischen Kontext ist dieser Handlungsstatus von Äußerungen gut zu erkennen: Nicht selten muss die Verantwortung für öffentlich vollzogene Sprachhandlungen explizit in Form eines Rücktritts von politischen Ämtern übernommen werden, sei es aus Gründen der sprachlichen Gestalt einer Rede (wie im Fall des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger 1988; vgl. Polenz 1989, Heringer 1990, 163– 176), sei es aus Gründen der vertretenen inhaltlichen Position (wie im Fall des Bundestagsmitglieds Martin Hohmann, der in seiner Rede zum Nationalfeiertag 2003 über die Juden als mögliches „Tätervolk“ gesprochen hatte; vgl. Roth 2006), sei es aus Gründen mangelnder Wahrhaftigkeit (wie im Fall des Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg 2011, der trotz gegenteiliger schriftlicher wie mündlicher Versicherungen in seiner Dissertation fremde Textteile und Texthandlungen als seine eigenen ausgegeben hatte; vgl. Lepsius/Meyer-Kalkus 2011). Die wenigen Beispiele zeigen, dass eine auf Verantwortungszuschreibungen beruhende öffentliche Kritik längst nicht nur mit Blick auf die formale Korrektheit von Äußerungen geübt wird. (Eine solche eingeschränkte Perspektive, die nicht selten zu einem Vorwurf mangelnder Sprecherkompetenz wird, wird häufig von der sog. Laienlinguistik eingenommen, prototypisch vertreten in den sprachkritischen Glossen von Bastian Sick; zur Kritik an dieser Kritik vgl. Meinunger 2008, bes. 163–175). Verantwortung wird auch zugeschrieben im Hinblick auf die stilistische wie pragmatische Angemessenheit bzw. Adäquatheit von Äußerungen: Im oben zitierten Beispiel wird beispielsweise nicht in erster Linie Kritik am stark umgangssprachlichen Niveau der  

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Formulierungen (runterkommen, Multikultischwuchtel) geübt, sondern an der Wortwahl und Plakativität der Äußerungen in Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt. Damit geht es nicht mehr nur um die sprachliche Form, sondern auch um die sich darin offensichtlich ausdrückende ideologische Haltung des Sprechers (d. h. in diesem Fall um die stilistische Nähe zu nationalsozialistischer Propagandasprache und die aufgrund dessen unterstellte rechtsextreme Haltung zu Homosexualität oder zum Islam; zur engen Verbindung von Sprachkritik und Einstellungskritik vgl. Hermanns 2011, 28 f.). Inwiefern geht es hier aber nun um Moral? Man konstruiere den Fall, in dem der oben zitierte Politiker Nitzsche seine Äußerungen in gepflegtem, rhetorisch geschliffenem Bildungsdeutsch vorgenommen hätte. Dann wären Aspekte wie Umgangssprachlichkeit, Drastik oder auch das Plakativ-Parolenhafte der Äußerungen als mögliche stilistische Kritikpunkte weggefallen. Dennoch wären die sprachlichen Äußerungen als Sprachhandlungen moralisch kritikwürdig gewesen, weil sie sprachlicher Ausdruck einer Haltung sind, die sich mit dem gemeinsamen Wertehorizont unserer Demokratie nicht vereinbaren lassen, und weil diese Haltung öffentlich im Rahmen einer bestimmten politischen Funktion und gesellschaftlichen Rolle geäußert wurden. Eine solche Kritik lässt sich aber nicht mehr nur über die sprachliche Form begründen, sondern muss genuin pragmatische Aspekte einbeziehen, ohne damit aber die konkrete Bezugsebene des sprachlichen Handelns zu verlassen (vgl. N. Janich 2004, 166–172; vgl. z. B. auch Groeben 2009 zu den argumentativ-moralischen Defiziten einer sog. „Hass-Sprache“).  





2.2 Sprachkompetenz, Sprachkultur und Sprachkultiviertheit Öffentliche Sprachbewertungen beziehen sich zusammengefasst offensichtlich auf verschiedene Aspekte des sprachlichen Handelns: (1) Natürlich spielt sprachliche Korrektheit in der öffentlichen Wahrnehmung eine wichtige und sehr präsente Rolle, und zwar aus gutem Grund, denn sprachliche Korrektheit ist das, was im Berufs- und im öffentlichen Leben als Standarderwartung gilt. Die präskriptive Wirkung von sprachlichen Normen ergibt sich daraus, dass sie als reziproke Erwartungserwartungen (Niklas Luhmann) funktionieren (vgl. N. Janich 2004, 48–55 und 2005a, 31–35): Weil ich erwarte, dass jemand erwartet, dass ich normgerecht spreche/schreibe, handele ich entsprechend – und diese Haltung erwarte ich auch bei anderen. Sprachliche Normverstöße haben daher immer auch perlokutionäre Effekte. (2) Des Weiteren ist die Ebene des Stils – sei er vulgärsprachlich, jugend- oder umgangssprachlich, dialektal oder elaboriert – ein ganz wesentlicher Aspekt öffentlicher Sprachwahrnehmung und Sprachbewertung (vgl. auch den Beitrag von Roth in diesem Band): Da Stil, verstanden als sprachliche Gestalt, immer zugleich sozial konnotiert ist (vgl. Feilke 1996, Fix 2004), verdeutlicht er die Einstellungen eines Sprechers zum kommunizierten Sachverhalt wie zu seinem

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Gegenüber (und nicht selten auch zu sich selbst). Er wird dadurch kommunikativ wirksam. (3) Wichtig ist aber auch der pragmatische Rahmen: es wird – wie unter 2.1 zu zeigen versucht wurde – nicht zuletzt auch bewertet, was von wem in welcher Situation zu wem oder über wen oder was gesagt wird, d. h. mit welchen Zielen und Interessen dieses Was von Seiten des jeweiligen Sprechers verbunden ist. (Zur terminologischen Klärung: Unter Zwecken werden intendierte Handlungsfolgen verstanden. Sie lassen sich unterscheiden in das Aufrechterhalten oder Verhindern von Sachverhalten [= Interessen] und das Erreichen von Sachverhalten [= Ziele]; vgl. Hartmann 1996, 78). Die Aufrichtigkeit des Sprechers spielt hier eine wichtige Rolle – nicht in obigem Nitzsche-Beispiel, denn hier sagt ein Politiker drastisch genau das, was er denkt, aber in anderen Fällen, die ebenfalls zu politischen Rücktritten geführt haben, zum Beispiel im Fall unternommener Dissertationsplagiate (von zu Guttenberg und anderen) oder falscher Auskünfte zum Lebenslauf (z. B. der SPDBundestagsabgeordneten Petra Hinz 2016). Doch geht es dabei letztlich ebenfalls um die Frage der Ziele und Interessen des Sprechers und die Legitimität der dafür ergriffenen Mittel – die Gültigkeit der Phrase „Der Zweck heiligt die Mittel“ hängt in diesem Sinne von der Legitimität des gesetzten Zweckes ab.  



Diese verschiedenen, eng ineinander greifenden Aspekte sprachlichen Handelns sowie die diesbezüglichen Bewertungsdimensionen spiegeln sich als zentrale Konstituenten im traditionsreichen Sprachkultur-Konzept der DDR-Germanistik (vgl. Forschungsüberblick bei Schnerrer 1994): Sprachkultur bezeichnet das Niveau eines angemessenen, normgerechten und schöpferischen Sprachgebrauchs in bestimmten Situationen, gegenüber bestimmten Partnern und unter Berücksichtigung des Gegenstandes der Kommunikation. (Ising 1977, 14)

Die Definition legt nicht eindeutig fest, ob mit Sprachkultur der Status quo einer Sprachgemeinschaft, wie er sich beispielsweise in Sprach- und Textzeugnissen widerspiegelt, gemeint ist oder – im normativen Sinn – ein noch anzustrebendes Kompetenz- und Reflexionsniveau einzelner Sprecher. Ein auf Isings Vorschlag aufbauendes und ihn weiter entwickelndes Konzept (vgl. N. Janich 2004, 2005b) unterscheidet daher genauer (1) Sprachkultur im engeren Sinn, der als Referenzgröße die historische Einzelsprache und damit der materielle Gesamtbestand an repräsentativen Sprach- und Textzeugnissen zugrunde liegt, und (2) Sprachkultiviertheit als (prinzipiell anzustrebendes) individuelles Sprach- und Sprachhandlungsvermögen, wobei Sprach- und Textzeugnisse hier als Mittel der Rekonstruktion dienen. Sprachkultiviertheit und Sprachkompetenz sind dabei nicht als synonym anzusehen, sondern als über- bzw. untergeordnet: Sprachkultiviertheit setzt Sprachkompetenz

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grundsätzlich voraus, ist aber mehr als das. Unter Sprachkompetenz wird hier das Vermögen verstanden, grammatisch korrekte Zeichenfolgen zu produzieren, sie als bedeutungstragend zu verstehen, sie in Text und Situation angemessen zu kontextualisieren sowie kreativ eigene Intentionen und kommunikative Anliegen zu versprachlichen; idealerweise können diese Versprachlichungen zudem selbstdistanziert reflektiert werden (vgl. N. Janich 2004, 88–141 mit weiteren Literaturverweisen). Sprachkultiviertheit – als Reflexionsterminus verstanden – impliziert nicht einen bestimmten Kenntnisstand oder Kompetenzgrad, sondern resultiert aus dem ständigen Bemühen um Wissens- und Kompetenzausbau und damit auch der Fähigkeit zur Sprachreflexion und Metakommunikation. Zudem setzt Sprachkultiviertheit – und hier kommt die Moralität eines Sprechers als Bezugspunkt moralischer Urteile über sein sprachliches Handeln ins Spiel – die Bereitschaft zur Kooperativität voraus (vgl. für das Folgende N. Janich 2013). Kooperativität meint, die Kommunikation und den Kommunikationspartner ernst zu nehmen. Kooperationsbereitschaft sollte vernünftigerweise auf der Einsicht basieren, dass kommunikativer Erfolg immer nur im Rahmen einer kommunikativen Gemeinschaft möglich ist (das Selbstgespräch wird als für die Fragestellung irrelevant ausgeschlossen; N. Janich 2004, 38): Rekursiv fremde Absichten im Zuge der Herausbildung miteinander geteilter Ziele erkennen zu können und damit erstens die geteilte Aufmerksamkeit auf Dinge richten zu können, die für die Zielerreichung relevant sind, sowie zweitens um Hilfe zu bitten bzw. Hilfe zugunsten des eigenen sozialen Status, aber ohne unmittelbaren Eigennutz anzubieten – all dies sind spezifische und einzigartige Fähigkeiten des Menschen (vgl. Tomasello 2011, Kap. 5, bes. 213). Der Anthropologe Tomasello (2011, z. B. 206f.) leitet daraus Kooperativität als ein evolutionär begründetes und begründbares Grundprinzip menschlicher Kommunikation ab und definiert Kommunikation als „eine Form gesellschaftlichen Handelns, konstituiert durch gesellschaftliche Konventionen, um gesellschaftliche Zwecke zu erreichen, welche zumindest auf einem gewissen geteilten Verstehen und geteilten Zielen der Benutzer beruhen“ (Tomasello 2011, 363). Kommunikative Kooperation ist dieser Argumentation zufolge notwendige Voraussetzung für die Bildung konventioneller Kommunikationsmittel und damit sprachlicher Arbitrarität. Erst Kooperation als evolutionär begründete Standarderwartung ermögliche Phänomene wie Lüge oder andere Formen strategischer Kommunikation (vgl. Tomasello 2011, 358–363; vgl. auch Dietz 2000, 92–106, bes. 99). Bickes (1995, 22) argumentiert sprachwissenschaftlich ganz ähnlich, wenn er die Charakteristika der menschlichen Sprache (d. h. Arbitrarität, Abstraktheit, Konventionalität, Möglichkeit der Selbstreferenz und Reziprozität, Temporalität, Modalität) als notwendige Basis für reflexive Prozesse versteht und sie damit als „Bedingungen der Möglichkeit kognitiver Autonomie“ (Bickes 1995, 20) festschreibt. Neben dem ‚Wissen‘ und dem ‚Können‘ geht es im Konzept der Sprachkultiviertheit demnach auch um ein (moralisch zu verstehendes) ‚Wollen‘, d. h. um Kooperativität als willentlichen und bewusstheitsfähigen Kompromiss zwischen dem Ver 





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folgen eigener Zwecke – also dem Anspruch auf Autonomie und damit eigener Freiheit – und dem Respekt vor der Freiheit der anderen (vgl. N. Janich 2004, 172–174; vgl. ähnlich Bickes 1995, 20): Wer aus moralischer Kompetenz moralisch handelt, vermag Rechenschaft abzulegen über die Gründe seines Tuns, wobei der letzte Grund aller Gründe eben das Prinzip der Moralität qua Freiheitsprinzip im Sinne von Autonomie ist: Freiheit, die sich um der Freiheit aller willen an Normen und Werte bindet, durch die der größtmögliche Freiheitsspielraum ermöglicht wird. Moralisch kompetent ist der mündige Mensch, der seine Entscheidungen nicht nur gegenüber sich selbst, sondern auch gegenüber seinen Mitmenschen zu verantworten vermag. Moralische Kompetenz und Verantwortung gehören untrennbar zusammen, sie sind die beiden Seiten einer Freiheit, die sich als Moralität versteht. (Pieper 2017, 38 f.)  

Mit anderen Worten: Sprachkultiviertheit, verstanden als sprachlich-kommunikative Mündigkeit im Sinne der Aufklärung (vgl. N. Janich 2013, vgl. auch Schiewe in diesem Band), muss die Fähigkeit und die Bereitschaft eines Sprechers implizieren, sein sprachliches und kommunikatives Handeln bewusst-absichtsvoll an Moralität zu orientieren und sich insbesondere im Fall konfligierender Normen bzw. Interessen und Ziele, „unter Berücksichtigung dessen, was in der Gemeinschaft gilt, [...] vor dieser Gemeinschaft bezüglich seiner Entscheidung zu rechtfertigen, mithin die Gründe offenzulegen, die ihn bewogen haben, so zu handeln, wie er gehandelt hat bzw. handeln möchte“ (Pieper 2017, 33). ‚Gute‘ sprachliche Handlungen zeichnen sich demnach nicht nur dadurch aus, dass sie im Hinblick auf die gewählten sprachlichen Mittel vernünftig und im Hinblick auf die gesetzten Zwecke funktional sind (Ebene der sprachlichen Äußerung), sondern dass zudem der Ausführende nicht nur seine Zwecke autonom zu setzen vermag, sondern auch die Folgen seiner Handlungen verantworten kann (Ebene des Sprechers; vgl. P. Janich 2014, 40). Wir unterstellen einander idealiter sowohl dieses Handlungsvermögen als auch Kooperativität genau deswegen, weil wir „einen berechtigten moralischen Anspruch darauf [haben], von anderen nicht verletzt, geschädigt, [sic] und in [... unserer] Selbstbestimmung unzulässig behindert zu werden“ (Dietz 2000, 207). Kooperativität schließt dabei Lüge, Täuschung und andere Formen strategischen Sprachhandelns als Formen von Kommunikation nicht aus (vgl. Grice 1980, 116 f.): Wer lügt, kündigt Kooperativität nicht auf und hört auch nicht auf zu kommunizieren, denn er will ja mit dieser Lüge erfolgreich seine Zwecke verfolgen – er verletzt das Kooperativitätsprinzip nur. Diese Verletzung ist aber moralisch durchaus kritikwürdig, weil sie gegen die Erwartung wechselseitiger Wahrhaftigkeit verstößt (zu einer möglichen Ausnahme von der Bewertung als moralischer Verstoß siehe die sog. Notlüge; vgl. z. B. Gardt 2008, 27). Der Begriff der Kooperativität ist als generelles Prinzip menschlicher Kommunikation demnach dem Begriff der Wahrhaftigkeit als einer Maxime neben anderen übergeordnet (vgl. 3.1 und 3.2) – Kooperativität wird in der Regel als Befolgung verschiedenster kommunikativer Maximen verstanden, setzt diese aber nicht grundsätzlich voraus (vgl. Grice 1980). Sprachkultiviertheit lässt sich dagegen nur dann jemandem  



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zuschreiben, wenn er kooperativ und wahrhaftig unter Berücksichtigung der jeweils gültigen Diskursmaximen sprachlich handelt (zu den Grice’schen und anderen Maximen vgl. ausführlicher 3.2).

2.3 Das Wechselspiel: Sprachkultur und Sprachkultiviertheit Sprachkultiviertheit lässt sich demnach zusammengefasst definieren als ein Anspruch an Sprecher, ihre Sprachkompetenzen auszubauen, aufgrund dieser Sprachkompetenz dann selbstverantwortlich und situationsspezifisch über ihren eigenen Sprachgebrauch zu entscheiden (im Bedarfsfalle auch: aufmerksam und distanziert zu reflektieren; vgl. Wimmer 1984, 20f., Neuland 2002, 9) sowie den Adressaten mit einem moralischen Willen zur Kooperation in diese Entscheidungen einzubeziehen und deshalb kommunikative Maximen zu befolgen (vgl. N. Janich 2004, Kap. 3.3). Wird ein solcher Anspruch als legitim erachtet, dann hat dies zur Konsequenz, dass aus einzelsprachlicher Perspektive auch ein entsprechendes „kommunikatives Milieu“ (Bickes 1995) sprachlicher Mittel und Möglichkeiten herrschen muss, das die Erfüllung des Anspruchs erst ermöglicht (z. B. Existenz soziolektaler Vielfalt, von Terminologien etc.; vgl. auch Schiewe 2007 zu den sprachkritischen Forderungen nach Prägnanz und Variation). Je mehr eine Muttersprache als Kultursprache ausgebaut ist, desto größer sind die (muttersprachlichen) Sprachkultiviertheits-Spielräume für ihre Sprecher (zu Merkmalen von Kultursprachen wie Literalität, Überregionalität, Polyfunktionalität oder Philologizität vgl. die historischen Analysen bei Warnke 1999, bes. 13–26; zum Merkmal der Sakralität vgl. Greule 2004). Die Situation mancher Klein- und Minderheitensprachen in Europa zeigt, dass das Bemühen um Spracherhalt und Sprachausbau durchaus keine Selbstverständlichkeit darstellt (vgl. Yu 2013, bes. Kap. 4 und 5). Dadurch wird nun das oben zunächst deskriptiv verstandene Konzept von Sprachkultur im engeren Sinn normativ erweitert und umgedeutet. Sprachkultur im engeren Sinn ist dann nicht mehr nur der vorhandene Bestand, sondern steht für ein (nutzbares wie ausbaufähiges) Kommunikationspotenzial:  

Damit findet das übereinzelsprachliche Prinzip der Sprachkultiviertheit seine Rückbindung an die jeweilige historische Einzelsprache, ohne die es nicht denkbar wäre: Erstens sind Erwerb und Ausbau sprachlichen Wissens und sprachlicher Kompetenzen prinzipiell nur im Kontext konkreter Sprachen möglich. Zweitens wird die Vielfalt sprachlicher Handlungsmöglichkeiten innerhalb einer Sprache dadurch erkannt, dass man liest und hört, wie andere sprechen, d. h. dass man sich die vorfindliche Sprachkultur im engeren Sinn aneignet. Drittens trägt man durch das im Rahmen von Sprachkultiviertheit bestehende Gebot, verantwortlich sprachlich zu handeln, selbst wieder zur Ausformung und Erweiterung der Sprachkultur im engeren Sinn bei. (N. Janich 2004, 197 f.)  



Die Sprachkultiviertheit einzelner Sprecher wird demnach letztlich dadurch ermöglicht, dass diese im Bewusstsein ihrer Kommunikationsgemeinschaft zur Elaborie-

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rung, Kodifizierung und Kultivierung ihrer Sprache sowie durch (auch politische) Sprachförderung und Sprachloyalität zur Sprachkultur im engeren Sinn aktiv beitragen (vgl. N. Janich 2004, 199–206; dies lässt sich zum Beispiel auch auf den Erhalt der Sprachkulturen nationalsprachlicher Wissenschaftssprachen beziehen, vgl. z. B. Ehlich 2000). Das Postulat von Hans Jürgen Heringer,  

Wahre Sprachkultur wäre, erst einmal die Mittel erschöpfend lernen, die uns die Sprache bietet, und die Fähigkeit, den Sprachgebrauch unserer Partner zu erahnen und zu berücksichtigen (Heringer 1990, 82),

müsste unter Einbeziehung der – handlungstheoretisch letztlich unumgänglichen – moralischen Perspektive daher modifiziert werden zu: Wahre Sprachkultiviertheit wäre, sich zu bemühen, die Mittel möglichst erschöpfend zu lernen, die uns die Sprachkultur unserer Sprachgemeinschaft bietet, und die Fähigkeit und den Willen, die Erwartungen und Erwartungserwartungen unserer Partner zu erahnen und zu berücksichtigen. (N. Janich 2013, 371)

3 Sprachkritisches Handeln und Moral 3.1 Moral als kontroverser Gegenstand der sprachwissenschaftlich-sprachkritischen Debatte Es wäre weit auszuholen, wollte man der bereits traditionsreichen Kontroverse über das Verhältnis von Sprachwissenschaft und Sprachkritik sowie, grundsätzlicher noch, von sprachwissenschaftlichem Beschreiben vs. Bewerten gerecht werden. Hierfür sei stattdessen auf den Beitrag von Niehr in diesem Band verwiesen, auf die Überblicke bei Schiewe (1998), Polenz (1999, Kap. 6.8), Dieckmann (2012), Dodd (2016) und Kilian et al. (2016, bes. Kap. 2.1 und 2.5) sowie auf Diskussionen beispielsweise in den Sammelbänden von Biere/Hoberg (1995), Spitzmüller et al. (2002; vgl. insbesondere Podiumsdiskussion 2002), Burkhardt (2007), Liebert/Schwinn (2009), Schiewe (2011), Kilian et al. (2013) oder Niehr (2014). An dieser Stelle soll vor allem auf die Rolle der Moral in dieser Debatte fokussiert werden. Das Kernproblem, um das sich die Kontroverse rankt, ist heute nicht mehr unbedingt die generelle Frage, ob sich die Sprachwissenschaft wie jede Wissenschaft zugunsten einer ‚objektiven‘ Beschreibung jeglicher Bewertung zu enthalten habe. Man hat vielfach erkannt und eingestanden, dass bereits Perspektivierungen auf bestimmte Fragestellungen, Erkenntnisinteressen und Untersuchungsgegenstände oft genug gewisse Wertungen implizieren: Man kommt nicht um die Einsicht herum, dass an sehr vielen Stellen der wissenschaftlichen Arbeit Wertungen und Setzungen eine Rolle spielen. Sollte man daraus schließen, dass die

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Wissenschaft gar nicht in der Lage ist, Tatsachen zu beschreiben, dass es womöglich gar keinen Unterschied zwischen Sprachwissenschaft und Sprachkritik gibt? Es gibt einen, doch ist er nicht prinzipieller, sondern gradueller Natur. (Gardt 2002, 49)

Ein Problem wird aber weiterhin darin gesehen, dass die Sprachwissenschaft keine ausreichenden und und vor allem keine sprachwissenschaftlich begründbaren Kriterien für eine sprachkritische Bewertung zur Verfügung stelle (vgl. ähnlich auch Auer in Podiumsdiskussion 2002, 133 f., oder Schwinn 1997):  

Der Linguist kann ja in der Tat auch selbst Sprachkritiker werden. [...] Nur muß er wissen, daß er dann explizit wertet und sich nicht, in seinen Wertungen, auf die Sprachwissenschaft berufen darf. Die Sprachwissenschaft liefert dann nur die solide Grundlage, auf der die Bewertungen erfolgen, wenngleich diese selbst dann nicht mehr durch diese Disziplin gedeckt sind. Denn die Sprachwissenschaft rein als solche bietet keine Möglichkeit der Bewertung. Die Bewertung muß anderswoher kommen. Sprachkritik kann nicht sprachwissenschaftlich begründet werden. (Gauger 1999, 101)

Wenn sich die Perspektive zudem von der konkreten sprachlichen Äußerung – wie oben unter 2 gezeigt – auf die für die Kommunikation relevanten Ziele und Interessen der jeweiligen Kommunikationsteilnehmer im Diskurs ausweitet, dann gehen selbst jene von Problemen bei einer linguistisch begründbaren kritischen Bewertung aus, die nicht nur zur linguistischen Beschreibung von Sprachgebrauch, sondern auch zu seiner sprachwissenschaftlich fundierten Kritik bereit sind (vgl. z. B. Felder 2009, Roth 2011, 159–162, Kilian et al. 2016, bes. 165). Trotz der also schon früh erhobenen Forderung nach Berücksichtigung der Sprecher als Sprachhandelnde (z. B. bei Greule 1982, Wimmer 1984, Schmich 1987, Polenz 1989), fehlt aufgrund dieses Kriterienmangels in der Regel eine Konkretisierung und Vertiefung des Sprecherbezugs (also bis hin zu dessen Zielen und Interessen) und erfolgt eine in diesem Sinne handlungsorientierte Sprachkritik daher nicht bis in letzte Konsequenz. Gegen den inzwischen traditionsreichen und nicht grundlosen Einwand, dass mit einer womöglich auch die (von ihr zugeschriebenen) Sprecherabsichten bewertenden Sprachkritik der Kompetenzbereich sprachwissenschaftlicher Argumentation verlassen werde, soll an dieser Stelle vor dem Hintergrund der Entwicklung der Sprachwissenschaft seit der sog. ‚pragmatischen Wende‘ argumentiert werden: Mit dem Perspektivenwechsel von einer reinen Sprachsystembetrachtung hin zur Berücksichtigung des auch instrumentalen und sozialen Charakters von Sprache hat sich die Sprachwissenschaft spätestens seit den 1970er Jahren wiederholt und an verschiedensten Stellen aus dem theoretischen und methodischen Inventar beispielsweise der Philosophie oder der Soziologie bedient und sich deren Kategorien – sprachwissenschaftlichen Fragestellungen entsprechend modifiziert und weiterentwickelt – zu eigen gemacht hat, ohne diese in der Folge weiterhin als per se nichtsprachwissenschaftliche zu empfinden (vgl. die Rezeption beispielsweise von Bühler, Austin, Searle, Grice, Wittgenstein, Habermas, Luhmann, Goffman u. a., vieles  





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davon zusammengefasst und sprachwissenschaftlich reflektiert bei Auer 2013; vgl. bestätigend auch die Position Schiewes zu sozial konstruierten Paradigmata und zeitspezifisch gültigen Denkstilen in jeder Wissenschaft in Podiumsdiskussion 2002, 140). Schwinn (1997, 45–61, 159–162) formuliert sehr konkrete Einwände gegen eine sprachwissenschaftlich begründete kommunikative Ethik oder kommunikative Moral, wie sie sehr prominent von Wimmer (z. B. 1984, 1990) oder Heringer (z. B. 1990) vorgeschlagen wurden. Er erliegt dabei aber mehreren Missverständnissen, die als prototypisch für die innersprachwissenschaftliche Sprachkritik-Kontroverse gelten können und hier daher stellvertretend unter Bezug auf Schwinn diskutiert werden: – Ein zentraler Kritikpunkt Schwinns (1997, 48) bezieht sich darauf, dass Wimmers Anspruch einer allgemein gültigen kommunikativen Ethik im Widerspruch stehe zur notwendigerweise immer situationsspezifischen Perspektive der Sprachkritik. Er unterscheidet dabei aber nicht zwischen Moralität als generellem Prinzipienbegriff und Moral als Ordnungsbegriff, d. h. zwischen einem generellen Handlungsprinzip, das seine Letztbegründung in Autonomie findet (vgl. Bickes 1995, bes. 20, siehe auch unter 1 und 2.2), und den sich daraus jeweils zeit-, kultur- und sprachgemeinschaftsabhängig ergebenden moralischen Prinzipien für das konkrete Handeln (vgl. Pieper 2017, 27, 35–39). – Auf der Identifizierung dieses vermeintlichen Widerspruchs basiert ein weiterer Kritikpunkt von Schwinn (1997, 48–50), nämlich die Grice’schen Konversationsmaximen als Beurteilungskriterien für eine kommunikationsethisch motivierte Sprachkritik heranzuziehen, wie dies u. a. Wimmer und Heringer tun (zu den Maximen genauer unter 3.2). Schwinn hält diesen Vorschlägen das faktische Vorkommen von Täuschung, Lüge, Beleidigung etc. insbesondere im politischen Sprachgebrauch entgegen und moniert, man könne nicht die Einhaltung der Maximen zum Definiens von Kommunikation erklären, um dann bei jedem Verstoß schließen zu müssen, hier werde gar nicht kommuniziert. Hier missversteht er den Zusammenhang von Kooperation und Kommunikation bzw. von Kooperation und Maximentreue (vgl. genauer unter 2.2): Kooperativität als Standarderwartung in jeder Kommunikation bedeutet nicht, dass nicht in Form verdeckter Sprachhandlungen absichtsvoll und strategisch gegen einzelne Maximen verstoßen werden könnte, um damit bestimmte Ziele zu erreichen. Schon Grice schließt alle möglichen Formen des Maximenverstoßes in das Kooperationsprinzip ein (vgl. Grice 1980, 116f.) – solche intendierten Verstöße setzen im Gegenteil die grundsätzliche Geltung der Maximen voraus, weil sie nur so ihre Funktion (z. B. Täuschung) erfüllen können. Unkooperativ handelt also nicht der, der gegen eine der Maximen verstößt und damit das Kooperationsprinzip strategisch verletzt, sondern einer, der Kommunikation gänzlich verweigert und damit das Kooperationsprinzip als solches aufkündigt. – Drittens geht Schwinn (1997, 51, 160–162) davon aus, man müsse vor jeder Kritik die Sprachhandlungen eines Sprechers immer vollständig verstehen, wenn man  









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der Situationsspezifik gerecht werden und nicht auf der Ebene einer idealen (und damit kontrafaktischen) Kommunikationssituation verharren wolle. Genau dieses vollständige Verstehen – so seine generelle Kritik an Sprachbewertungen – sei aber nicht möglich. Der Sprachkritiker sei immer auf die Beobachterposition verwiesen und könne damit nur jeweils aus Sicht seiner Eigenwelt Handlungen kompetent beurteilen. Dies ist nun jedoch ein Argument gegen den Erfolg von Kommunikation schlechthin: Obwohl wir tatsächlich nie genau wissen können, was im Anderen vorgeht, handeln wir doch in der Regel unter der grundsätzlichen Annahme seiner Wahrhaftigkeit (vgl. Habermas 1975, 134–136) und glauben, seine Ziele und Interessen aufgrund seines sprachlichen und nichtsprachlichen Handelns (spätestens aufgrund seiner Reaktionen auf unsere eigenen Handlungen) in etwa abschätzen und verstehen zu können. Es geht daher bei sprachwissenschaftlicher Sprachkritik darum zu versuchen, absichtsvoll die Perspektive des Anderen einzunehmen, indem die eigene Perspektive als eine solche erkannt und reflektiert wird, so dass man ein Urteil über fremdes Sprachhandeln selbst wieder verantworten kann (vgl. P. Janich 2014, 133–136). Sprachwissenschaftler und Sprachkritiker müssen demnach im besonderen Maße über transsubjektive Kompetenz verfügen (vgl. N. Janich 2004, 129–133). Schwinn übersieht demnach, dass Sprachkritik von Handlungsfolgen und Folgehandlungen gleichermaßen ausgehen muss und kann, um auf dieser Basis die Ziele und Interessen eines Sprechers im Hinblick auf Kotext und Situation zu rekonstruieren. Roth (2004, 72 f.) zieht – am Beispiel sprachwissenschaftlicher Politikberatung – aus dieser innersprachwissenschaftlichen Kontroverse die Konsequenz einer Trennung von Sprachkritik und Linguistik, die im Rahmen einer kritisch-kooperativen Sprachwissenschaft zusammenwirken könnten und sollten, nicht zuletzt um einer Sprachdidaktik zur notwendigen sprachreflexiven Dimension verhelfen zu können (vgl. Roth 2011). Unter Linguistik versteht Roth dabei im engen Sinn die auf das sprachliche System und damit die sprachliche Form fokussierte Grundlagendisziplin der Sprachwissenschaft. Sprachwissenschaft könne demnach auf linguistischer Basis angewandt und kritisch sein, ohne auf die reine Sprachbeschreibung reduziert zu werden. Im Fall einer sprachwissenschaftlichen Politikberatung hieße das zum Beispiel konkret (Roth 2004, Kap. 7): Auf eine sprachkritisch-normative „Beschreibung eines Sprach- und Kommunikationsideals für demokratische Politik“ auf der Basis der Rhetorik habe eine linguistisch-deskriptive „Analyse und Beschreibung faktischen Sprach- und Kommunikationsverhaltens im politischen Bereich“ zu folgen. Aus der Diskrepanz zwischen Ideal und faktischem Gebrauch könne dann eine politolinguistische Sprachberatung als Konnex von Linguistik und Sprachkritik die vorliegenden Probleme eruieren. Sprachkritische „Empfehlungen zur Behebung des Problems“ müssten wiederum deskriptiv-linguistisch überprüft, fundiert, präzisiert oder verworfen werden, um einen angemessenen Beratungsbeitrag zu ermöglichen.  



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Dieser Vorschlag ist eine mögliche Lösung, auch wenn er letztlich wieder suggeriert, man könne Sprachkritik von Sachkritik vollständig trennen (dass beides gerade in der politischen Kommunikation nicht zu trennen ist, betont z. B. Niehr 2011). Doch beugt sich Roth hier vielleicht zu schnell dem Diktat des „gängigen Sprachgebrauchs“ und definiert Sprachkritik als prinzipiell „außer- bzw. vorwissenschaftlich“ (Roth 2004, 73 und Kap. 3.5). Dies verwehrt es ihm, die von ihm entwickelte Methode einer systematischen Kombination von linguistischer Beschreibung und darauf aufbauender Kritik selbst als sprachwissenschaftlich und zugleich als sprachkritisch zu erklären (Roth 2004, 73). Mit anderen Worten: Zwar definiert Roth die Kombination von Linguistik und Sprachkritik als Sprachwissenschaft, die Sprachkritik selbst aber ordnet er als nicht mehr nur sprachwissenschaftlich ein. Dies suggeriert, dass nur der linguistische Part, nicht aber der sprachkritische, auf sprachwissenschaftlicher Methodik beruhe – obwohl eine solide methodische Fundierung der Sprachkritik, u. a. mittels der antiken Rhetorik, eines der zentralen Anliegen der Roth’schen Monographie ist (vgl. Roth 2004, Kap. 3.2, 3.4 und 3.6). Das Problem besteht aus meiner Sicht darin, dass Roth, wie viele andere an Sprachkritik interessierte Sprachwissenschaftler, zwar einen pragmatischen Zugang wählt, die Handlungstheorie aber sprachwissenschaftlich nicht konsequent umsetzt. Dort, wo die Sprachwissenschaft bereit ist, sprachliche Äußerungen als Handlungen aufzufassen, sind auch alle relevanten Aspekte dieser Handlungen in die sprachwissenschaftliche Betrachtung einzubeziehen. Was aber relevant an Handlungen ist, haben handlungstheoretische Ansätze ausreichend dokumentiert (vgl. 2.1). Die Argumentation, man könne hier nicht mehr mittels sprachwissenschaftlicher Kriterien Beurteilungen begründen, kann nur einen Rückschritt hinter einen pragmalinguistischen Konsens bedeuten, nämlich dass ein Sprechakt als auch sprachwissenschaftliche Kategorie nicht nur aus einem Äußerungsakt besteht, sondern eben auch aus Proposition, Illokution und Perlokution. Da die Sprachwissenschaft also seit der pragmatischen Wende sprachlich vermittelte Kommunikation als soziales Phänomen akzeptiert hat, ist nicht einzusehen, warum eine sprachwissenschaftlich begründete Sprachkritik, die sich kritisch mit den sprachlichen Mitteln zur Erreichung von Zwecken auseinander setzt, letztere von der Kritik aussparen sollte – und warum sie sich nicht an der Entwicklung und Begründung entsprechender Bewertungskriterien versuchen sollte (vgl. genauer 3.2). Werden die Zwecke nicht auch berücksichtigt, gerät Sprachkritik in Gefahr, inhuman zu sein:  



Die ethische Reflexion auf das moralische Ziel und die pragmatische Reflexion auf die angemessenen Mittel gehören in der Praxis untrennbar zusammen, soll nicht die Ethik eine praktisch folgenlos bleibende reine Theorie des menschlichen Willens und die Pragmatik eine hinsichtlich der Moralität der gesetzten Ziele unkritische Theorie des durch menschliches Tun Machbaren sein. Moralität der Zielsetzung und Wahl der richtigen Handlung ergänzen einander, d. h. ein moralisch gutes Ziel und ein pragmatisch gutes Mittel zur Erreichung des Ziels machen zusammen eine vollkommene Handlung aus. (Pieper 2017, 72 f.)  



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Wenn er also nicht auch nach dem moralisch guten Ziel sprachlicher Handlungen fragt, gerät der sprachkritische Sprachwissenschaftler spätestens bei persuasiver Kommunikation in ein methodisches Dilemma (nicht umsonst werden Möglichkeiten und Grenzen der sprachwissenschaftlichen Sprachkritik von Wimmer über Heringer und Schwinn bis Roth und Niehr vorzugsweise an Beispielen aus der politischen Kommunikation diskutiert): Was für den Sprecher funktional angemessen, weil in der Kommunikation erfolgreich ist, kann aus Sicht des Adressaten und seiner abweichenden Bedürfnisse womöglich längst nicht mehr als angemessen beurteilt werden (an Werbekommunikation diskutiert bei N. Janich 2012, an politischer Sprache bei Stefanowitsch 2018). Soll im Zuge von Sprachkritik also nicht nur das Machbare und seine funktionale Angemessenheit reflektiert und bewertet werden, sondern auch das in einer Gemeinschaft (moralisch) Akzeptable, dann müssen außer den Mitteln auch die Zwecke in den Blick genommen, und beides muss in Relation zueinander betrachtet werden.

3.2 Bewertungskriterien: Von der Sprach- zur Sprecherkritik Zu diskutieren bleibt abschließend also, ob und wie sprachwissenschaftlich begründbare Kriterien für eine wissenschaftlich fundierte Sprachbewertung entwickelt werden können, die geeignet sind, auch die moralischen Aspekte des sprachlichen Handelns systematisch und methodisch sinnvoll einzubeziehen (das Folgende nach N. Janich 2014). Der Schlüsselbegriff der sprachwissenschaftlich begründeten Sprachkritik lautet Angemessenheit oder auch Adäquatheit (vgl. z. B. Schiewe 2007, Niehr 2015): Um dieses sehr vage bzw. offene Kriterium näher zu bestimmen, schlägt schon Fix (1995, bes. 65–67) mit Blick auf die Sprachberatung vor, zwischen der Adäquatheit hinsichtlich instrumentaler Normen (zu beurteilen nach ‚richtig/falsch‘ bzw. ‚stimmig/ nicht stimmig‘), situativer Normen (zu beurteilen nach ‚situativ adäquat/inadäquat‘), ästhetischer Normen (zu beurteilen nach ‚wohlgeformt/nicht wohlgeformt‘) und parasprachlicher Normen (zu beurteilen nach ‚kulturell adäquat/inadäquat‘) zu unterscheiden. Ein weiterer prominenter Differenzierungsvorschlag, der sich stark an der antiken Rhetorik orientiert, stammt von Kienpointner (2005, bes. 195), nämlich die Unterscheidung von sachlicher Adäquatheit (= Angemessenheit auf der inhaltlichen Ebene), publikumsbezogener Passendheit (= Angemessenheit auf der Beziehungsebene) und situationsspezifischer Angebrachtheit (= Angemessenheit bzgl. der Gesprächssituation). Diese Ansätze werden von Kilian et al. (2013, 2016, Kap. 2.6) aufgegriffen und in einen Begriff der „funktionalen Angemessenheit“ überführt. Deren Spezifikum ist, dass sie weder als völlig flexibel im Sinne eines Relativismus noch als normativ im Sinne konkreter Formulierungsanweisungen zu verstehen ist, sondern als „eine Aufforderung, über die geeigneten Mittel nachzudenken, um gelingende Kommunikation wahrscheinlich(er) zu machen, und zwar unter Berück 

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sichtigung der Variablen Darstellung der Sache, Publikum und Situation“ (Niehr 2015, 108). Der über den Begriff der Funktionalität stark gemachte Situations-, Publikumsund Sachbezug als pragmatische Dimensionen einer linguistisch fundierten Sprachkritik lässt allerdings nur indirekt auf mögliche Kriterien für eine Kritik auch an den Zielen und Interessen des jeweiligen Sprechers schließen. Denn die Bewertung einer so verstandenen funktionalen Angemessenheit (oder: Adäquatheit plus Passendheit plus Angebrachtheit) kann sicherlich nicht aus der Perspektive des Sprechers allein (bzw. aus deren Rekonstruktion durch den Sprachkritiker) erfolgen, sondern muss zwingend auch die Perspektive des Rezipienten einbeziehen. Als deutlicher reziprokes Kriterium wird hier daher zusätzlich das der Akzeptabilität vorgeschlagen, das die Dimension der Perlokution stärkt (vgl. N. Janich 2012, 106 f.). So ist die von Kienpointner (2005, 195) gesetzte „Überparteilichkeit“ als Kriterium für sachliche Adäquatheit beispielsweise in Werbe- oder politischer Kommunikation weder der Fall noch wird sie vom Publikum erwartet: Parteilichkeit gegenüber einer Sache/einem Sachverhalt ist hier in einem gewissen Rahmen akzeptabel. Auch auf der Beziehungs- und Situationsebene entscheiden immer beide Kommunikationspartner über Passendheit und Angebrachtheit von Äußerungen. In der römischen Rhetorik-Lehre (Cicero, Quintilian) findet sich diese Idee von Angemessenheit bereits im ethischen Anspruch an den ‚perfekten‘ bzw. ‚guten‘ Redner (vgl. Ottmers 1996, 12, Niehr 2015, 102). Unter dieser reziproken Perspektive (d. h. funktional angemessen aus Sicht des Sprechers, kulturell, situativ und sozial akzeptabel aus Sicht des Adressaten) kommen nun wieder die Grice’schen Maximen in den Blick und die Frage, ob sie sich im Rahmen einer sprachwissenschaftlichen Argumentation als Bewertungsrahmen eignen und begründen lassen. Nicht nur von Wimmer (z. B. 1984, 1990) und Heringer (z. B. 1990), den beiden prominentesten Vertretern kommunikativ-ethischer Ansätze, werden die Grice’schen Maximen seit langem als mögliche Maßstäbe für die Einbindung der Dimension ‚Moral‘ diskutiert (vgl. z. B. auch Aufgaben der Sprachkultur 1999, N. Janich 2004, Fix 2008, Gardt 2008). Die Konversationsmaximen der Qualität, Quantität, Relation und Modalität sind von Grice ursprünglich im Rahmen einer pragmatischen Semantik als interpretative (!) Kategorien zur Entschlüsselung von Mitgemeintem entwickelt worden, nicht aber als normative Empfehlungen für guten Sprachgebrauch. Sie formulieren Erwartungserwartungen, die die Kommunikationsteilnehmer einander wechselseitig zuschreiben und gegen die sie unter Einhaltung des Kooperationsgebots verstoßen können, wenn sie mehr oder etwas anderes meinen, als sie sagen. Deshalb sind die genannten Versuche, die Maximen als normative Handlungsanweisungen für Sprecher umzudeuten, oft und zum Teil heftig kritisiert worden (stellvertretend z. B. Schwinn 1997, 58). Da Grice die Verstöße aber nur bei unterstellter Kooperativität als legitim und bedeutungsvermittelnd betrachtet und die Maximen selbst ja offensichtlich als Erwartungen an sprachliches Handeln verbreitet Zustimmung gefunden haben, spricht nichts dagegen, sie in einem nächsten Schritt explizit als kommunika 











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tive Handlungsanweisungen umzudeuten und Sprechern für Verstöße prinzipiell Verantwortung zuzuschreiben. Hier wird nun weiterführend vorgeschlagen, sie als Rahmen nicht nur für eine Sprach-, sondern auch für eine Sprecherkritik zu verwenden, denn insbesondere die Maxime der Qualität bezieht sich auf den Sprecher und die Erwartung seiner Wahrhaftigkeit. Damit ist nicht gemeint, dass zwingend wahr sein müsse, was ein Sprecher sagt, aber dass er ein ehrliches Interesse an einer wahrhaftigen (und auf dieser kooperativen Basis erfolgreichen) Kommunikation haben sollte. Da sprechend gehandelt wird, bleiben aber auch die Maximen der Modalität, Quantität und Relation letztendlich auf den Sprecher bezogen, denn die Art und Weise seines Sprachgebrauchs vermittelt gleichzeitig einen Eindruck von der Klarheit seines Denkens, von seiner Einstellung zu Sprache, Kultur, seinen Kommunikationspartnern und sich selbst (siehe ähnlich soziopragmatische Stilbegriffe wie bei Fix 2008, 13 f.). Als moralisches Leitkriterium hätte dann die Akzeptabilität zu gelten. Was jeweils für alle Kommunikationsteilnehmer akzeptabel ist, also nicht als inakzeptabler Maximenverstoß gewertet wird, ist zeit- und kulturspezifisch, aber auch domänenspezifisch je genauer zu konturieren (und damit löst sich der Widerspruch zwischen Allgemeingültigkeit und Situationsspezifik auf): So spielt Klarheit in der Werbung eine weniger wichtige Rolle als in Lehr-Lern-Zusammenhängen, Wahrhaftigkeit vor Gericht eine bedeutendere Rolle als in der alltäglichen Plauderei (vgl. weitere Beispiele bei N. Janich 2004, Kap. 3.4). Sollten die Ziele und Interessen des Sprechers in der Inszenierung und Persuasion (z. B. im politischen oder ökonomischen Kontext) liegen, dann ist auch auf Seiten des Adressaten ein aufgeklärter und mündiger Kommunikationsteilnehmer eine notwendige Voraussetzung, der domänenspezifische Diskursroutinen kennt und erkennt und die gesetzten Zwecke und die dafür gewählten Mittel seines Gegenübers zu prüfen und ggf. zu hinterfragen in der Lage ist (vgl. N. Janich 2012). Die Standards der „Argumentationsintegrität“ der Psychologen Groeben et al. (1993) sind ein Beispiel für eine entsprechende Ausdifferenzierung von Handlungsmaximen. Sie eignen sich (1) für eine sprachwissenschaftliche Aneignung, weil sie auf Argumentationstheorie und Sprechhandlungstheorie basieren, und binden (2) die moralischen Perspektive in die Sprachbewertung ein, indem sie als Unterlassungsmaximen formuliert werden können, die neben sachlichen Fehlern auch Unaufrichtigkeit und Ungerechtigkeit einbeziehen. Gleichzeitig sollen sie (3) zur Aufklärung von Adressaten einer unintegren Argumentation dienen (z. B. bei hate speech, vgl. Groeben 2009). Die Integritätsstandards umfassen folgende Maximen (im Überblick bei Groeben 2009, 124–126; detaillierter mit Blick auf Sprachkritik in Janich 2019/im Druck): – Fehlerhafte Argumentation: Unterlassung von Stringenzverletzung und Begründungsverweigerung. – Unaufrichtige Argumentation: Unterlassung von Wahrheitsvorspiegelung, Verantwortlichkeitsverschiebung und Konsistenzvorspiegelung. – Inhaltlich ungerechte Argumentation: Unterlassung von Sinnentstellung, Unerfüllbarkeit und Diskreditierung.  





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Ungerechte Interaktion: Unterlassung von Feindlichkeit, Beteiligungsbehinderung und Abbruch.

Diese Unterlassungsmaximen lassen sich im Detail weiter ausdifferenzieren (Groeben 2009, 126, Abb. 2), so dass sich damit detailliert arbeiten und analysieren lässt. Und sofern sich dabei die mit sprachlichen Handlungen verfolgten Zwecke aus der Beobachtung der Kommunikationssituation und der perlokutionären Effekte, aus dem Wissen über domänenspezifische Diskursroutinen und Diskursnormen, aus sprachlichen und nonverbalen Indikatoren rekonstruieren lassen, fällt dies auch in den Kompetenzbereich der Sprachwissenschaft, die mit der Erforschung von Höflichkeit (z. B. Haferland/Paul 1996), Streit (z. B. Spiegel 1995) und Lüge (z. B. Weinrich 1971) bereits bewiesen hat, dass sich sozial relevante Metaphänomene der sprachlichen Interaktion sprachwissenschaftlich analysieren lassen. Die Forderung nach der Moralität der Sprecher bezieht sich abschließend natürlich gleichermaßen auf die Sprachwissenschaftler, die sprachreflektierend und sprachkritisch tätig werden. Auch sie müssen nicht nur, wie allseits anerkannt, ihre Bewertungskriterien reflektieren und begründen, sondern auch ihre Ziele und Interessen. Das Wozu von sprachwissenschaftlich begründeter Sprachkritik wird in der innersprachwissenschaftlichen Sprachkritik-Diskussion in der Regel durchgängig thematisiert und begründet, nicht zuletzt um den Vorwurf zurückzuweisen, man wolle nur die uneinsichtige Laienlinguistik besserwisserisch belehren (so unterstellt z. B. bei Zimmer 2007; vgl. dazu ausführlich auch Spitzmüller 2005). Aber auch wenn Dieckmann (2012, 59) den Sprachkritik übenden Sprachwissenschaftlern bescheinigt, dass sie offensichtlich alle einen Modus gefunden hätten, wie sie Sprachbewertungen mit ihrem wissenschaftlichen Gewissen vereinen können, bleibt genau dies weiterhin eine relevante Frage. Ein moralisch sinnvolles, weil auf Autonomie abzielendes Ziel von sprachwissenschaftlich fundierter Sprachkritik ist der mündige Sprecher, der sich sowohl des Zwecks von Normen bewusst ist als auch deren Geltung reflektiert, der über ein seiner Lebenswelt angemessenes Repertoire an sprachlichen Registern ebenso verfügt wie über eine entsprechende Verwendungs- und Variationskompetenz, der selbst sprachkritisch aktiv werden und seine und fremde Interessen und Ziele vor dem Hintergrund der Situation und des kulturell-gesellschaftlichen Kontextes reflektieren kann, der seine eigene Freiheit behauptet und dabei zugleich Respekt vor der der anderen hat (z. B. Wimmer 1984, Neuland 1997, N. Janich 2004, 197f., 232–234). Bickes schließt in genau diesem Sinn den Kreis zwischen der Realität öffentlicher Sprachbewertung, dem Anliegen der sprachwissenschaftlich begründeten Sprachkritik und der Hoffnung auf Sprachkultur und eine – auch moralisch zu denkende – Sprachkultiviertheit des Einzelnen:  









Sie [die Sprachbewertungen] können die soziale Identität der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft fördern, indem sie einerseits die Konstitution und Verfeinerung von Regeln und Konventionen der Verständigung fördern. Sie stehen so im Dienst des Aufbaus kommunikativer Kom-

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petenz der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft. Sprachbewertungen erhalten andererseits ein kommunikatives Milieu, in dem der Erwerb kommunikativer Kompetenz möglich ist. Sie begünstigen ein freilassendes und kooperatives Gesprächsklima und bewahren sprachimmanente Freiheitsmerkmale. Sie verteidigen eine Gesprächswelt, in der sich eine nichtdeterminierte Reflexivität, persönliche Identität und menschliche Erkenntnistätigkeit frei entfalten können. (Bickes 1995, 25; Herv. i. Orig.)

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19. Neue Kommunikationsformen, neue Probleme? Zum Verhältnis von Sprachkompetenz und Mediengebrauch Abstract: Neue Kommunikationsformen sind seit den 1990er Jahren Forschungsgegenstand der angewandten Linguistik. Die auf Digitalität basierende SMS- , Internet- und WhatsApp-Kommunikation hat neue Kommunikationsgewohnheiten hervorgebracht. Anhand ausgewählter Phänomene wie Tippfehlern, sprachkritischen Kommentaren in Onlineforen und Piktogrammen in der WhatsApp-Kommunikation wird der Sprachgebrauch in neuen Kommunikationsformen analysiert und in Hinblick auf deren problematisches Potential diskutiert. Dabei kommt dem Bewertungskriterium der funktionalen Angemessenheit besondere Bedeutung zu. Demgemäß sind Sprachkompetenz und Mediengebrauch vor dem Hintergrund der Zweckgerichtetheit und Adressatenorientiertheit zu bewerten.  

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Vorwort und begriffliche Präzisierungen Neue Kommunikationsformen: SMS – E-Mail – Kommentarforen – WhatsApp Sprachgebrauch in neuen Kommunikationsformen – ausgewählte Phänomene Fazit Literatur

1 Vorwort und begriffliche Präzisierungen Mit der linguistischen Erforschung der SMS-Kommunikation und wenig später der E-Mail-Kommunikation wurde der Boden für ein ertragreiches Forschungsfeld bereitet, das der sog. Neuen Medien, respektive der neuen Kommunikationsformen, computer-mediated communication (CMC) oder digitalen Medien. Die Terminologie ist vielseitig und wird mitunter indifferent verwendet. Gemeinsam ist all dem die Eigenschaft der Digitalität, mittels derer die sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen vermittelt werden (vgl. Bittner 2003). Die Bezeichnung „Neue Kommunikationsformen“ ist nicht unproblematisch, ist doch nicht eindeutig bestimmbar, wie lange etwas als „neu“ bezeichnet werden sollte. So ist Dürscheid/Frick (2013, 151) zuzustimmen, wenn sie konstatieren: Wenn im Jahr 2001 die SMS-Kommunikation von Schlobinski et. al (2001, 6) als eine ‚neue Kommunikationsform’ bezeichnet wurde, war dies aus damaliger Sicht gerechtfertigt; mittlerweihttps://doi.org/10.1515/9783110296150-020

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le aber gilt das nicht mehr. Die SMS ist heute eine alte, eine gut bekannte Kommunikationsform. Will man dennoch an dem Attribut neu festhalten, um deutlich zu machen, dass es sich dabei um eine Kommunikationsform handelt, die an die Nutzung der neuen Medien gebunden ist (wobei auch dieser Terminus mittlerweile fraglich geworden ist), dann sollte man die SMS-Kommunikation als eine ‚alte neue Kommunikationsform’ bezeichnen und im Gegensatz dazu WhatsApp als ‚neue neue Kommunikationsform’.

Auch gibt es eine terminologische Debatte darüber, ob das Handy als Übertragungsmedium der SMS ein Computer ist oder nicht. Crystal (2011) und Herring (2007) betrachten das Handy als Computer und alle darüber verschickten Kurznachrichten als „computer-mediated communication“. Jucker/Dürscheid (2012) indes plädieren für den Terminus „Keyboard-to-Screen Communication“, da Mobilfunkgeräte ihrer Meinung nach nicht als Computer aufgefasst werden (vgl. Bahlo/König 2014, 9). Eine deutliche Zäsur zwischen den alten neuen Kommunikationsformen und dem, was wir heute unter Neuen Medien verstehen, stellt die Erfindung und kontinuierliche Weiterentwicklung des Web 2.0, auch „social web“ genannt, dar. Androutsopoulos (2010, 421) zufolge zeichnet sich das Web 2.0 insbesondere durch die Partizipation der Webnutzer sowie die umfassenden Infrastrukturen aus. Die strenge Trennung von Produzenten und Rezipienten der im Internet veröffentlichten Informationen ist nahezu aufgehoben, so dass das Web 2.0 einen neuen Akteurskreis der öffentlichen Textproduktion generiert. Dadurch werden neue Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten offeriert, die alte Kommunikationsgewohnheiten verändern. Vor diesem Hintergrund stellt sich berechtigterweise die Frage, ob neue Kommunikationsformen durch das Hervorbringen neuer Kommunikationsgewohnheiten auch zu neuen Problemen führen. Immer wieder wird in den Medien das Thema „Sprachverfall“ und „Verrohung der deutschen Sprache“ aufgeworfen (z. B. http://www.n-tv.de/panora ma/Deutsche-fuerchten- Sprachverfall-article274400.html; [Stand: 20.04.2015]). Laut der repräsentativen GfdS-Umfrage von 2008 befürchten 65 % der Befragten einen allmählichen Sprachverfall, deren Ursache 48 % darin sehen, dass in der Internetkommunikation „wenig auf eine gute Ausdrucksweise geachtet wird“ (Hoberg et al. 2008, 101). Die bisherigen Studien sprechen indes eine andere Sprache. So zeigt Storrer (2014), dass der „interaktionsorientierte Schreibstil“ der computervermittelten Kommunikation nicht auf die „redigierte Schriftlichkeit“ einwirkt und dass kompetente Sprecher durchaus fähig sind, ihren Schreibstil der jeweiligen Situation anzupassen. Die linguistische Sprachkritik geht grundsätzlich von einer Pluralität an Ausdrucksmöglichkeiten und sprachlichen Normen aus. Das zentrale Bewertungskriterium der Angemessenheit, das der bloßen grammatisch-orthographischen Korrektheit übergeordnet ist, entscheidet über den Grad an Sprachkultiviertheit. Diese besteht nach Janich (2005) darin, die vielfältigen sprachlichen und kommunikativen Möglichkeiten adäquat einzusetzen, was Schneider (2011) auch als „Sprachspielkompetenz“ beschreibt. Diesem Artikel liegt eine Zweigliedrigkeit in folgender Struktur zugrunde: In einem ersten Abschnitt werden ausgewählte neue Kommunikationsformen holz 

Neue Kommunikationsformen, neue Probleme?

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schnittartig charakterisiert und einschlägige Forschungsarbeiten skizziert. Der Kommunikations(platt-)form WhatsApp wird dabei mehr Aufmerksamkeit zuteil, da sie der meist genutzte Instant-Messaging-Dienst ist. In einem zweiten, umfangreicheren Teil wird der Aspekt „Sprache im Urteil der Öffentlichkeit“ relevant gesetzt und konkreter Sprachgebrauch in Neuen Medien analysiert. Veränderte Kommunikationsgewohnheiten (im Vergleich zum geschriebenen Standard) werden präsentiert, erläutert und in Beziehung zum sprachkritischen Ideal der Angemessenheit (vgl. Schiewe 2007) gesetzt.

2 Neue Kommunikationsformen: SMS – E-Mail – Kommentarforen – WhatsApp In diesem Abschnitt soll ein Forschungsüberblick zu den wesentlichen alten und neuen „neuen Kommunikationsformen“ gegeben werden. Beginnend mit der SMSKommunikation wird der Bogen geschlagen über die E-Mail-Kommunikation, als Repräsentantin für alte neue Kommunikationsformen, die Kommentarforen, als Vertreter einer Kommunikationsform des Web 2.0 und WhatsApp, als neue neue Kommunikationsform der Smartphone-Kommunikation.

2.1 SMS-Kommunikation Schlobinski et. al (2001) legen die erste umfangreiche Studie zur SMS-Kommunikation vor, die auf einer Datengrundlage von 760 Textnachrichten fußt (vgl. Dürscheid/Frick 2013, 150). Auch Androutsopoulos/Schmidt (2002) gehören zu den Vorreitern der empirischen Betrachtung der SMS-Kommunikation. Auffällig ist, dass die SMS-Kommunikation erst knappe 10 Jahre nach der ersten SMS am 3. Dezember 1992 als linguistischer Gegenstand Beachtung fand, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch international (vgl. Dürscheid/Frick 2013, 159). Mittlerweile, so Dürscheid/Frick (2013, 158), kann die Forschung auf zahlreiche SMS-Dialoge zurückgreifen, die in verschiedenen Datenbanken archiviert und aufrufbar sind. Die Autorinnen verweisen auf eine umfassende Bibliographie zur SMS-Kommunikation, die sich auf der Homepage des Schweizer Forschungsprojektes sms4science.ch befindet (http:// www.sms4science.org/?q=fr/node/4; [Stand: 20.04.2015]). Hier zeigt sich, dass die linguistische Betrachtung der SMS-Kommunikation mittlerweile ein umfangreich bearbeitetes Forschungsfeld ist. Mit der Erforschung der SMS-Kommunikation wurde der Grundstein für eine Linguistik computervermittelter Kommunikation gelegt.  



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2.2 E-Mail-Kommunikation Hinsichtlich der linguistischen Auseinandersetzung mit E-Mails sind mittlerweile zahlreiche Arbeiten entstanden, so dass die Aufarbeitung von E-Mails unter Berücksichtigung verschiedener sprachwissenschaftlicher Aspekte als verhältnismäßig gut erachtet werden kann. Im deutschsprachigen Raum ging es zu Beginn der E-Mail-Forschung primär um Vergleiche zwischen E-Mails und herkömmlichen Briefen (vgl. z. B. Günther/Wyss 1996). Pansegrau (1997) beschäftigt sich mit der „Dialogizität und Degrammatikalisierung in E-mails“, wobei sie insbesondere Anredeformeln und die vorhandene Toleranz gegenüber Orthographie-, Interpunktions- und Grammatikfehlern untersucht. Aufgrund dieser Kennzeichen  

wird argumentiert, daß E-mails nicht einen defizitären Stil, sondern eine zweckmäßige und kreative Anpassung an veränderte Kommunikationskanäle repräsentieren (Pansegrau 1997, 95).

Sehr umfangreiche Untersuchungen im Bereich E-Mail liegen auch von Runkehl/ Schlobinski/Siever (1998) vor. Die Autoren analysieren auf der Grundlage zahlreicher Korpora Merkmale wie durchgängige Kleinschreibung, die Verwendung von graphostilistischen Mitteln wie :-), Fehlertypen, Assimilationen (war’s), Iterationen (egaaaal), Anrede- und Verabschiedungsformeln, umgangssprachliche Lexik sowie Verbstämme in Asterisken (*freu*). Ihre Analysen zeigen, dass die E-Mail-Kommunikation sehr heterogen ist und von verschiedenen Faktoren abhängt. Sie stimmen Janich (vgl. 1994, 256f.) zu, dass Kommunikationssituation und Teilnehmerkreis bestimmend für die Wahl der Sprach- und Stilmittel sind. Zudem stellen sie abschließend fest, dass es sich bei der E-Mail-Kommunikation offenbar um einen elektronisch beschleunigten Brief handelt, da briefliche Textmuster in die E-Mail übernommen werden (vgl. Runkehl/Schlobinski/Siever 1998, 52). Mittlerweile besteht allerdings Konsens darüber, dass E-Mails neben der Digitalität auch andere unterscheidende Merkmale zum Brief aufweisen. Auch Dürscheid (1999, 21) untersucht sprachliche Merkmale in der Internetkommunikation und bezieht sich dabei insbesondere auf Chat, E-Mail und Usenet. Sie stellt (vor allem für den Chat) fest: „Das Motto scheint zu sein: ‚Schreib, wie Du sprichst‘ und ‚Schreib so schnell, wie du kannst‘“. Unterschiedliche Positionen gibt es zu der Frage, inwiefern der Computer als technisches Hilfsmittel für Produktion und Rezeption der Grund für einen spezifischen Sprachgebrauch ist (vgl. Weingarten 1997, Crystal 2009), oder ob vielmehr pragmatische Faktoren (Beziehung der Kommunikationspartner, Kommunikationszweck usw.) den Sprachgebrauch beeinflussen (vgl. z. B. Schmitz 2002). Bittner (2003) spricht sich für eine integrative Forschung der Sprach-, Kommunikations- und Medienwissenschaft aus, da die linguistische Forschung in der Vergangenheit mediale Einflüsse vernachlässigt habe. Er stellt die Digitalität als das qualifizierende Merkmal der „Neuen Medien“ in den Mittelpunkt. Auf der Grundlage  

Neue Kommunikationsformen, neue Probleme?

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von drei verschiedenen Korpora analysiert er die auf Digitalität basierte Sprache in E-Mails, privaten Homepages und Chats. Kiesendahl (2011) untersucht anhand von universitären E-Mails, ob und wie Status- und Rollenunterschiede sprachlich signalisiert werden. Sie stellt fest, dass Studierende in der Regel einen höheren Formalitätsgrad wählen, während Lehrende informeller antworten. Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit (Koch/Oesterreicher 1985; vgl. dazu kritisch u. a. Spitzmüller 2014) sowie Charakteristika computervermittelter Kommunikation, wie sie Runkehl/Schlobinski/Siever (1998) präsentierten, ließen sich nur vereinzelt nachweisen.  

2.3 Kommentarforen Kommentarforen oder auch Online-, Internet-, Ratgeber- und Diskussionsforen (die Bezeichnungen tauchen mitunter synonym auf) sind mit den technischen Neuerungen des Web 2.0 beliebte Kommunikations(platt-)formen geworden. Sie ermöglichen zu festgelegten Themen einen Erfahrungs- und Meinungsaustausch, der asynchron erfolgt. Der Grad der Öffentlichkeit ist sehr hoch, da prinzipiell jeder an der Kommunikation teilhaben kann. Mit den spezifischen Themen werden unterschiedliche Rezipienten angesprochen, so dass grundsätzlich von einer Forenspezifik auszugehen ist und verallgemeinerbare Aussagen zu dem Internetforum nicht zulässig sind, genau so wenig wie es die E-Mail oder das Gespräch gibt. Die Forschungsarbeiten zu linguistischen Phänomenen in der Forenkommunikation sind noch recht übersichtlich. Bei Hammel (2013) sind Normabweichungen von der Standardsprachlichkeit in Onlineforen und ihre Funktionalität im Fokus des Interesses. Arendt/Kiesendahl (2013a, b, 2014, 2015) untersuchen sprachkritische Kommentare in Onlineforen und stellen ein kritiklinguistisches Analysemodell vor, das eine mehrdimensionale Untersuchung von Sprachkritik in Onlineforen ermöglicht. Auch Bahlo/Becker/Steckbauer (2016) analysieren Äußerungen von sog. „Grammatik-Nazis“ in Onlineforen und reihen sich damit in die Forschung zu Sprachkritik in Onlineforen ein. Arbeiten, die verschiedene Forentypen gegenüberstellen und die kommunikativen Möglichkeiten und unterschiedlichen Sprachgebräuche en détail empirisch erfassen, sind bislang nicht offensichtlich.

2.4 WhatsApp-Kommunikation Mit der Entwicklung und dem rasanten Absatz internetfähiger Smartphones haben neben der klassischen SMS noch andere sog. Messenger-Systeme wie WhatsApp oder Telegram das Medienspektrum erweitert (vgl. Bahlo/König 2014, 8) und die schriftbasierte elektronische Kommunikation nachhaltig beeinflusst. Es handelt sich dabei um

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eine schriftbasierte, digitale „Keyboard-to-Screen-Kommunikation“, die – wie von Dürscheid/Frick (2013, 152) vorgeschlagen – genauer als Kommunikationsplattform zu bezeichnen ist, die ihrerseits mehrere Kommunikationsformen beinhaltet. Der WhatsApp-Messenger war im Jahr 2017 die meistgeladene kostenlose App (vgl. https://www.focus.de/digital/bestenliste-das-waren-2017-die-erfolgreichstenapps-fuer-iphone-und-ipad_id_7949369.html). Sie ist in Deutschland auf 91 % aller Smartphones installiert (vgl. Arens 2014, 81). Im Jahr 2018 nutzten 1,5 Milliarden Nutzer weltweit den Nachrichtendienst WhatsApp; im April 2015 waren es noch 800 Millionen Nutzer (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/285230/ umfrage/aktive-nutzer-von-whatsapp-weltweit/). Man kann also zweifellos davon sprechen, dass es sich hier um eine breit genutzte neue Kommunikationsplattform handelt, was auch die aktuelle JIM-Studie belegt, derzufolge ca. 87 % der deutschen 12- bis 19-Jährigen WhatsApp nutzen und nach eigenen Schätzungen durchschnittlich 36 Nachrichten täglich über diesen Messanger-Dienst erhalten (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2018, 36). Der Name des Programms ist motiviert durch die englische Redewendung „What’s up?“ („Wie geht’s?“) und dient dem kostenlosen Austausch von alltäglichen Nachrichten. Dahinter steht Dürscheid/Frick (2013, 162) zufolge folgende Botschaft: „So umstandslos, wie man sich mündlich nach dem Befinden von jemandem erkundigt, kann man es auch via WhatsApp tun.“ Dies impliziert, dass es sich um eine ursprünglich für den informellen Kommunikationsaustausch konzipierte Kommunikationsplattform handelt. Technische Voraussetzungen sind ein Smartphone oder Tablet sowie eine Internetverbindung. Darüber hinaus fallen keine Zusatzkosten an. Neben reinen Textnachrichten können auch Bilder, Videos und Sprachnachrichten unbegrenzt und kostenlos an eine oder mehrere Personen (bis zu 50) verschickt werden. Insbesondere die Möglichkeit der Gruppenkommunikation gehört zu den wichtigsten Eigenschaften von WhatsApp, die zugleich eine Abgrenzung zur SMSKommunikation darstellt und durch die Möglichkeit der Quasi-Synchronizität mehr Gemeinsamkeiten mit dem Chat aufweist (vgl. Dürscheid/Frick 2013, 163 bzw. 167). Eine Besonderheit bei der Textproduktion stellt die sog. virtuelle „Emoji-Tastatur“ dar, die eine Reihe an Emoticons und Piktogrammen (mehr als 2800) zur Verfügung stellt. Neben Smileys mit verschiedensten Gemütszuständen finden sich auch Pflanzen, Tiere und Gegenstände des Alltags, wie Kleidung, Gebäude, Fahrzeuge, Lebensmittel etc. Als einen Grund für die Nutzung der Emojis sieht Schlobinski die Sprachökonomie (vgl. http://www.dw.de/das-netz-spricht-emoji/a-17376451; [Stand: 12.12. 2018]). Allerdings ist das Aufsuchen des passenden Piktogramms nicht immer zeitökonomisch, so dass genauer zu prüfen ist, welche Motive Nutzer bei der Verwendung der Emojis haben. Eine erste exemplarische Analyse zur Funktion von Emojis/Piktogrammen legt Arens (2014, 88 ff.) vor. Sie bestätigt, dass nicht nur sprachökonomische Beweggründe die Verwendung von Piktogrammen erklären (z. B. wenn eine Sonne anstatt des Substantivs Sonne benutzt wird), sondern häufig auch additiv zum geschriebenen Wort Sprechereinstellungen zum Ausdruck bringen oder rein illustrati 





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ven Charakter haben. Daneben kommt es vor, dass Emojis ganze Schriftteile ersetzen und mitten im Satz statt des geschriebenen Wortes das Piktogramm steht (vgl. Dürscheid 2016, 459). Mittlerweile ist diese im Smartphone auswählbare Zusatztastatur aber auch für SMS und soziale Netzwerke nutzbar, so dass sie kein Alleinstellungsmerkmal der WhatsApp-Kommunikation darstellt. Mit der Entwicklung des Smartphones änderte sich sowohl für die SMS-Kommunikation als auch für WhatsApp die optische Darstellung der Textnachrichten. Während bei herkömmlichen Handys nur die einzelne Nachricht einer Person angezeigt wird, visualisieren Smartphones ganze Nachrichtenstränge in Form von Sprechblasen mit Rede und Gegenrede. So werden also ganze Dialoge auf einmal dargestellt, was Auswirkungen auf die Textproduktion hat, da bestimmte Kontextualisierungsmittel nicht mehr notwendig sind, wenn auf einen Blick der Kontext nachlesbar ist. Die Forschung zur WhatsApp-Kommunikation nimmt kontinuierlich zu. Mit Dürscheid/Frick (2013; 2016) liegen erste Publikationen zum Sprachgebrauch in WhatsApp vor. Die Autorinnen untersuchen erstmals die veränderten Produktionsbedingungen bei Smartphones, die unmittelbar Einfluss auf die Textproduktion der Kurznachrichten haben. Neben den technischen Eigenschaften der Kommunikationsform WhatsApp und den daraus resultierenden kommunikativen Praktiken gehen die Autorinnen auf den Vergleich von SMS und WhatsApp-Nachrichten hinsichtlich Nachrichtenlänge, Gruppenkommunikation, sprachlicher Charakteristika und anderes mehr ein. Arens (2014) knüpft hier an und untersucht in einer qualitativen Studie die multimedialen Möglichkeiten der WhatsApp-Kommunikation anhand von ca. 6600 Nachrichten in ihrem konkreten Kommunikationskontext. Zudem läuft aktuell ein gemeinsames Forschungsprojekt zwischen den Universitäten Bern, Zürich, Neuchâtel und Leipzig mit dem Titel „What’s up Switzerland?“ (vgl. http://www.whatsup-switzerland.ch/de/projekt/; [Stand: 20.04.2015]). Hierbei stehen Forschungsfragen im Mittelpunkt, wie die Beschreibung der Kommunikation über WhatsApp sowie die Erhebung von Unterschieden zwischen der SMS- und der WhatsApp-Kommunikation. Darüber hinaus ist von Interesse, in welchem Maße verschiedene Sprachen und Dialekte in WhatsApp benutzt werden. In das Korpus fließen WhatsApp-Dialoge aller vier Landessprachen ein.

3 Sprachgebrauch in neuen Kommunikationsformen – ausgewählte Phänomene In diesem Abschnitt wird zunächst ein theoretischer Umriss des pragmalinguistischen Bewertungskriteriums ‚Angemessenheit’ unternommen, um davon ausgehend anhand dreier Sprachbeispiele zu diskutieren, ob und inwiefern neue Probleme in neuen Kommunikationsformen präsent sind.

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3.1 Angemessenheit als pragmalinguistisches Bewertungskriterium Will man Sprachgebrauch beurteilen, ganz gleich ob es sich dabei um Sprache in Neuen Medien oder anderswo handelt, eignet sich das Kriterium der Angemessenheit in besonderer Weise. Die Beurteilung der Angemessenheit des Kommunikats wiederum bildet einen Kernbereich der linguistischen Sprachkritik, wenngleich sie als Aptum ursprünglich aus der antiken Rhetorik bekannt ist. Die Zeitschrift Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur hat 2015 ein Themenheft zu Angemessenheit als pragmalinguistisches Bewertungskriterium veröffentlicht (vgl. Arendt/Schäfer 2015). Linguistische Sprachkritik urteilt im Gegensatz zur populärwissenschaftlichen und laienlinguistischen Sprachkritik nicht nach dem kontradiktorischen Bewertungsmaßstab „richtig – falsch“, sondern sie bedient sich eines Bewertungskontinuums mit den Endpolen „angemessen“ und „nicht angemessen“. Zwischen diesen beiden Endpolen sind Abstufungen möglich, so dass der Text bzw. das Kommunikat präzise, differenziert und kontextadäquat beurteilt werden kann. Zu berücksichtigen sind hierbei die verschiedenen Faktoren, die am Kommunikationsprozess beteiligt sind, nämlich wie Schiewe (2007, 375) unter Rückgriff auf Cicero ausführt, „Anlass/Gegenstand“, „Publikum“ und „Situation“. Angemessenheit ist ein multifaktorielles Kriterium und auf den verschiedenen Ebenen des Sprachhandelns zu bewerten. Man wird also nicht allgemein formulieren können ‚dieser Text ist angemessen’, sondern, ‚dieser Text ist angemessen hinsichtlich der Darstellung des Gegenstandes oder des Publikums oder der Situation‘. (Schiewe 2007, 376)

Eine linguistische Sprachkritik bewertet, ob eine Äußerung innerhalb des konkreten Kommunikationskontextes zweckmäßig und geeignet ist, indem sie über die Wirkung von Sprachgebräuchen aufklärt. Insofern bietet sie wertvolle Hinweise auf dem von den Sprachbenutzern als unsicheres Terrain markierten Gebiet der Angemessenheit, denn immerhin gaben laut einer GfdS-Befragung 20 % der Deutschen an, Unsicherheiten beim Gebrauch der deutschen Sprache in der Kategorie „Ausdrucksweise, bei der Wortwahl: wie man sich angemessen ausdrückt“, zu haben (vgl. Hoberg 2008, 14). Schiewe betrachtet Angemessenheit (neben Prägnanz und Variation) als sprachkritisches Ideal. Da sie immer auf das konkrete Sprachhandeln angewandt wird, ist Angemessenheit ein genuin pragmatisches Kriterium und die Grundlage der Bewertung die Funktionalität sprachlicher Äußerungen. „Funktional ist eine Äußerung dann, wenn die Kommunikationsabsicht, die intendierte Sprachhandlung, also die Illokution, glückt.“ (Kilian/Niehr/Schiewe 2013, 304) und an anderer Stelle: Als funktional angemessen gilt ein Sprachhandeln dann, wenn unter Berücksichtigung bestehender Normen und der spezifischen Bedingungen der Kommunikationssituation die sprachlichen

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Mittel so eingesetzt werden, dass die Wahrscheinlichkeit, das Handlungsziel zu erreichen, optimiert wird. (Kilian/Niehr/Schiewe 2013, 298)

Ob das Handlungsziel erreicht wird, zeigt sich laut Janich (2013, 363) „in der Regel in den unmittelbaren und mittelbaren, sprachlichen und nichtsprachlichen Folgehandlungen der Adressaten.“ Somit sind es auch die Adressaten, die darüber entscheiden, ob ein Text angemessen ist oder nicht, und diese Entscheidung ist Janich (2013, 361) zufolge nur über den Begriff der Akzeptanz bzw. Akzeptabilität möglich. So lange auf der Ebene der Mittel Verstöße gegen die Angemessenheit noch beim Publikum akzeptabel sind, können sie (aus der Perspektive der Zwecksetzung) erfolgreich eingesetzt werden.

Es folgen nun drei Beispiele, die neue Phänomene und vielleicht auch Probleme neuer Kommunikationsformen illustrieren und vor der Folie der Angemessenheit diskutiert werden.

3.2 Tippfehler in E-Mails Gerade in der E-Mail-Kommunikation haben sich noch keine klaren Normen herausgebildet, so dass insbesondere hier Angemessenheit ausgehandelt werden muss, d. h. erst in der konkreten Kommunikation ist erkennbar, ob beide Kommunikationspartner gleiche Normvorstellungen haben oder nicht (vgl. Kiesendahl 2009, 330). Am Beispiel einer universitären E-Mail soll diskutiert werden, welche Probleme mit der (alten) neuen Kommunikationsform E-Mail einhergehen können. Dabei soll das Phänomen – und für einige durchaus Problem – der Tippfehler in den Blick genommen werden.  

Bsp. 1: Von: [email protected] Datum: 06. Mai 2007 12:24:23 An: [email protected] Betreff: Re: AP Master Liebe Frau , ich werde Mitte August an drei Tagen prüfen, es ist also kein problem, auch eine Master-AP durchzuführen. Zum verfahren: Wir sollten (am besten auf der basis der von Ihnen besuchten Hauptseminare) drei themenbereiche abstimmen. Sie müssten mir dann bis 7 Tage vor der Prüfung ein Thesenpapier mit 5 Thesen pro Thema mailen. Auf dieser Grudlage findet dann das Prüdungsgespräch statt (alos keine Referate etc., sondern eher „Diputationsstil“), Mit den besten Grüßen

Wir sehen hier eine E-Mail, die an einem Sonntagmittag von einem Professor versendet und vermutlich auch zu diesem Zeitpunkt geschrieben wurde. Die Wörter, die Tippfehler enthalten, sind durch Kursivierung markiert. Die Produktionsbedingungen

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des Schreibens am Computer oder der virtuellen Smartphone- oder Tablettastatur sind grundsätzlich andere als die eines handschriftlich verfassten Schriftstücks. So ist sich die Forschung einig, dass Tippfehler im Gegensatz zu Rechtschreibfehlern kein Ausdruck von mangelnder Sprachkompetenz sind, sondern vielmehr auf das Schreiben am Computer zurückzuführen sind (Kilian 2002, 64). Insofern sollten sie – ähnlich den Versprechern in der mündlichen Kommunikation – auch anders bewertet werden. In diesem Beispiel wird zumeist die Umschalttaste nicht betätigt, Buchstaben werden vergessen oder nebeneinander liegende Tasten gedrückt. Rein analytisch betrachtet, sind Tippfehler zunächst einmal Normabweichungen in zweierlei Hinsicht: Zum einen betreffen sie – ebenso wie bspw. konsequente Kleinschreibung – die Gestaltung des Schriftbildes, zum anderen sind sie aber auf der grammatisch-semantischen Ebene eine Abweichung von den Sprachsystemnormen, wenngleich sie in der privaten oder mindestens in der symmetrischen Kommunikation häufig toleriert werden. Um insgesamt adäquat zu sein, müssen Äußerungen stets einen bestimmten Grad von Richtigkeit aufweisen. Abweichungen von diesen Normen werden in der Regel – sofern es sich nicht um Varianten oder in anderen Existenzformen zulässige Ausdrucksweisen handelt – als Verstöße gegen die grammatische Richtigkeit empfunden. (Hartung 1977, 28)

Das bedeutet nicht unmittelbar, dass Tippfehler per se eine negative Zuschreibung seitens des Rezipienten zur Folge haben. Wenn die E-Mail von den Adressaten als reines Übermittlungsmedium verstanden wird, das den Zweck des schnellen Informations- und Datentransfers hat, kann das optische Erscheinungsbild als weniger relevant eingestuft werden. Bedeutsam wäre in diesem Fall allein, dass die Information übermittelt wird. Jedoch kann die Form häufig auch einen Zweitsinn generieren, interpretiert werden und eine Wirkung erzielen, die die Rezeption dessen steuert, was gesagt wird (vgl. Kiesendahl 2009, 221). In einer Online-Umfrage unter 78 Lehrenden und 100 Studierenden der Universität Greifswald konnte ermittelt werden, dass Studierende Tippfehler erstens wahrnehmen und zweitens eher negativ bewerten (Kiesendahl 2009, 221–224). Für sie sind Tippfehler ein Indikator für Zeitdruck, Nachlässigkeit und sogar Inkompetenz, wie die folgenden Kommentare exemplarisch zeigen: (1) „tippfehler sollten grundsätzlich nicht passieren, da sie das gefühl vermitteln, der dozent hatte gar keine zeit sich meinen fragen oder anregungen zu widmen.“ (2) „konsequente Kleinschreibung und Tippfehler zeugen von Nachlässigkeit und sollten nicht in E-Mails vorkommen. Sie zeigen mir, dass der Dozent mich nicht ernst nimmt.“ (3) „zeigt Inkompetenz“ Wenn Tippfehler als indexikalisches Zeichen für Inkompetenz betrachtet werden, zeigt dies, dass hier kein Bewusstsein für den Unterschied von Rechtschreib- und Tippfehlern vorhanden ist.

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Gleichzeitig gibt es Kommentare, die keine negative Attribuierung erkennen lassen, sondern auf die Zweckbestimmung der E-Mails als Kommunikationsform abheben: (4) „Da es dann schneller geht eine Email zu schreiben, finde ich das nicht schlimm, da ich weiß, dass die Dozenten sehr viele Emails beantworten müssen.“ (5) „Die Schreibweise ist egal, solange die Dozenten überhaupt antworten.“ Die Wahrnehmung und Bewertung von Tippfehlern kann also verschiedenartig erfolgen, so dass diese adressatenabhängig Angemessenheitsvorstellungen verletzen oder eben nicht. Ein Merkmal von Sprachkompetenz ist aber auch, ein Bewusstsein darüber, dass [a]lle Phänomene, die wahrnehmbar und interpretierbar sind, […] unter gewissen Umständen zu Zeichen werden [können] – dann nämlich, wenn sie tatsächlich wahrgenommen und interpretiert werden, was wiederum von der Situation und dem semiotischen Wissen der Kommunikationsteilnehmer abhängt. (Antos/Spitzmüller 2007, 43)

Interpretieren Rezipienten folglich, dass Tippfehler die Folge einer Textproduktion unter Zeitdruck sind und nutzen sie die Möglichkeit der Korrektur nicht, können Tippfehler zu Zeichen werden. Sie können damit nicht nur Kommunikationsprobleme im Sinne von Verständigungsproblemen evozieren, sondern auch hinsichtlich der sozialen Beziehung der Kommunikationspartner Probleme verursachen (dann nämlich, wenn z. B. Tippfehler als Folge von Schludrigkeit interpretiert werden und diese Ungenauigkeit für den Adressaten nicht akzeptabel ist).  

3.3 Sprachkritische Kommentare in Onlineforen Mit der Erfindung des Web 2.0 wurden neue kommunikative Räume geschaffen, die es nun auch den Rezipienten ermöglichen, aktiv Texte online zu stellen. Viele Zeitungsportale haben Kommentarforen unter die einzelnen journalistischen Artikel platziert, in denen sich die Leser zum Artikel äußern und austauschen können. Internetkommunikation gilt weitgehend als normentoleranter im Vergleich zum geschriebenen Standarddeutsch, dennoch gibt es häufig in Kommentarforen Äußerungen, die den Sprachgebrauch anderer User zum Thema haben, anstatt sich zur Sache des journalistischen Artikels zu äußern. In diesen sprachkritischen Äußerungen zeigt sich ein starkes Normbewusstsein. Unter sprachkritischen Äußerungen verstehen wir mit Arendt/Kiesendahl (2015, 164): [...] reaktive Sprachthematisierungen, die maßgeblich auf die ausdrucksseitige Realisation Bezug nehmen und diese retrospektiv als zumeist negativ bewertete Abweichung von Erwartungen rahmen. Grundlegend ist ein kontrastierendes Prinzip der In-Bezugsetzung von wahrgenom-

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menem sprachlichen Ausdruck und den Erwartungen und Ansichten über explizite und implizite Sprachnormen. Auf der Grundlage einer differenzierten Mittel-Zweck-Relation ist von einem polyfunktionalen Potenzial sprachkritischer Kommentare auszugehen. Das heißt, dass die sprachkritischen Kommentare z. B. als Belustigung, Aufklärung, Normentradierung und -regulierung oder zur Beseitigung von Verständigungsproblemen eingesetzt werden.  

Für solche laienlinguistischen Sprachkritiker kursiert auch der Begriff „GrammatikNazi“ (Bahlo/Becker/Steckbauer 2016). Gemeint sind damit Personen, die in der Öffentlichkeit, zumeist in informellen Situationen, andere Personen auf grammatische Unkorrektheiten oder sprachliche Lapsus hinweisen und maßregeln (vgl. Bahlo/ Becker/Steckbauer 2016, 276). Mit „Nazi“ wird jemand bezeichnet, der andere auf strikte und unnachgiebige Weise öffentlich maßregelt, der sich intolerant gegenüber anderen gibt und stur seine Meinung vertritt. Der bedeutungstragende Nukleus ist hier nicht mehr die Verbindung zum NS-Regime, zu Genozid und Holocaust, sondern der Bezug auf eine bestimmte Eigenschaft, nämlich der rigorosen Einhaltung und (unnachgiebigen) Einforderung von bestimmten Normen und Verhaltensweisen (die vornehmlich den Deutschen zugeschrieben werden: bürokratisch, korrekt, streng, penibel etc.). (Bahlo/Becker/Steckbauer 2016, 277).

Prototypische „Grammatik-Nazi“-Diskurse zeichnen sich dadurch aus, dass nicht auf inhaltlicher Ebene kritisiert wird, sondern lediglich Sprachsystemnormen benannt werden (Bahlo/Becker/Steckbauer 2016; Arendt/Kiesendahl 2014; 2015). Exemplarisch für diesen Befund sei auf Beispiel 2 verwiesen:

Bsp. 2: Quelle: http://www.bild.de/unterhaltung/tv/wer-wird-millionaer/guenther-jauch-ich-bindoch-schon-millionaer-29275856.bild.html [26.02.13, 16:59].  

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Der User Sven äußert sich inhaltlich zum journalistischen Artikel und begeht dabei einen Normverstoß auf grammatisch-semantischer Ebene, indem er ein nicht komparierbares Adjektiv im Superlativ verwendet. Daraus resultiert der sprachkritische Kommentar von Matt, der die Ausgangsäußerung negativ rahmt, was von 404 anderen Usern honoriert wird. Der Ausgangskommentar wird als sprachlich unangemessen markiert. Gleichzeitig wird der ursprüngliche – im journalistischen Artikel geführte – Diskurs gestört und durch den neuen Gegenstand „grammatische Fehler“ abgelöst. Zusammen mit dem Folgekommentar äußern bereits 468 Usern ihre Zustimmung, so dass der Sprachgebrauch von Sven – und damit die Ausdrucksseite seiner Äußerung – mehr Aufmerksamkeit erfährt als sein inhaltlicher Standpunkt. Über 400 Menschen markieren durch den „Gefällt mir“-Button, dass sie die inkorrekte Verwendung des Adjektivs einzige unangemessen finden. Wir haben es hier mit expliziter Wortgebrauchskritik zu tun. Über die Bewertung des Sprachgebrauchs erfolgt implizit auch eine Bewertung des Äußernden (vgl. Arendt/Kiesendahl 2014). Zudem wird der Wortgebrauch einzigster zwar kritisiert, aber nicht korrigiert. Es wird folglich nicht transparent gemacht, worin genau der Normverstoß besteht, was in sprachkritischen Onlinekommentaren häufig zu beobachten ist, da zumeist gar kein Verstehensproblem vorliegt (Arendt/Kiesendahl 2014; 2015). Diese Kommentare besitzen kein argumentatives Potenzial. So stellt sich die Frage, welche Funktion(en) derartige Sprachurteile übernehmen. Es geht in sprachkritischen Äußerungen weniger um die Sicherung des Verstehens als vielmehr um die Konstruktion und Darstellung einer Identität, und zwar einer wissenden und damit statushohen Identität, wodurch die sprachkritischen Äußerungen einen entscheidenden Beitrag zu relationalen Positionierungsaktivitäten liefern. Aus dem Fundus an Requisiten für die Statusetablierung werden sprachkritische Äußerungen bewusst als Instrument gewählt, um sich gegenüber seinen Interaktionspartnern höher zu positionieren. (Arendt/Kiesendahl 2014, 106)

Zu ähnlichen Befunden gelangen auch Bahlo/Becker/Steckbauer (2016, 283), wenn sie formulieren: Sie [die Grammatiknazis; JK] positionieren sich dabei selbst als normeinklagende Instanz, die auf der Grundlage festgeschriebener Regeln (z. B. in Form von Grammatiken) oder einfach nur aufgrund des eigenen (vermeintlichen) Wissens handeln. [...] Inhaltlich bleiben die Angriffe der Grammatik-Nazis auf das strikte Einfordern der Einhaltung des grammatischen bzw. ortografischen Systems beschränkt.  

Zudem weisen sprachkritische Kommentare in Onlineforen oftmals – wie auch in diesem Beispiel – selbst Abweichungen vom geschriebenen Standard auf, ohne dass sie Gegenstand einer Folgekritik werden. Der User Matt verwendet die konsequente Kleinschreibung, die in der (informellen) Onlinekommunikation mittlerweile Konvention ist, aber dennoch nicht den orthographischen Normen entspricht. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die artikulierte Normverletzung nur Mittel zum Zweck ist. Inhaltlicher Dissens wird auf der Ebene der Sprachkritik ausgetragen, anstatt sich auf

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eine inhaltliche Diskussion einzulassen. Dieser Aspekt wird auch im letzten Kommentar deutlich („Seit heute, hat Deutschland zwei ‚Oberlehrer‘ mehr“), der eine Kritik der Kritik zum Gegenstand hat und neuerdings vermehrt auftaucht. Kritisiert wird das „Oberlehrerhafte“, die Kritik am Sprachgebrauch anderer, denn wer sich an Rechtschreibfehlern stört, hat zur Sache nichts beizutragen und dem fehlt es an Argumenten. Diese Kritik der Kritik macht deutlich, dass für Ricardo der sprachkritische Kommentar in der Sache nicht angemessen ist. Für eine detaillierte Beschreibung der Formen, Funktionen und Wirkungen von sprachkritischen Kommentaren von Laien im Web 2.0 und einer Konturierung des Forschungsfeldes Kritiklinguistik sei auf Arendt/Kiesendahl (2014; 2015) verwiesen. Was anhand dieses Beispiels gezeigt werden sollte, ist 1., dass neue Kommunikationsformen – wie das Kommentarforum – Zugang zu sprachkritischen Äußerungen von Laien und damit von Laien attestierten Sprachproblemen ermöglichen und 2., dass die Vorstellungen darüber, was ein angemessener Sprachgebrauch ist, intersubjektiv verschieden sind.

3.4 Piktogramme in der WhatsApp-Kommunikation In diesem Abschnitt soll das Schreiben mittels Piktogrammen im Fokus stehen. In der SMS- und Chat-Kommunikation werden schon seit Jahrzehnten auf dem ASCII-Code basierende Emoticons verwendet. Das bedeutet, dass mittels Satz- und Sonderzeichen der Handy- oder PC-Tastatur um 90 Grad gedrehte Gesichter erzeugt werden, die primär den fehlenden nonverbalen und paraverbalen Kommunikationskanal substituieren sollen. Verhältnismäßig neu sind hingegen die auf Unicode basierenden Emoji-Zeichen, die weiter gefasst sind als Emoticons, da sie sich nicht nur auf den Ausdruck von Emotionen beschränken, sondern auch Pflanzen, Tiere und Gegenstände des alltäglichen Lebens abbilden. Das Schreiben mittels Piktogrammen bezeichnet Müller (2013, 205) als „ikonographetische Kommunikation“, Dürscheid/Frick (2013, 173) nennen es „piktorales Schreiben“. Bildzeichen ersetzen dabei sprachliche Zeichen teilweise oder vollständig, oder sie erfüllen eine additive Funktion, indem sie zuvor Geschriebenes kommentieren.

Bsp. 3: Piktorales Schreiben mit substituierender Funktion  

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In Bsp. 3 wird am Silvesterabend mitgeteilt, dass man sich offenbar verspätet auf den Weg gemacht hat. Das gewählte Emoticon drückt ein Bedauern aus, das in der Faceto-Face-Kommunikation vermutlich mimisch und prosodisch realisiert worden wäre. Nach der Verabschiedung werden ebenfalls additiv silvesterbezogene Emojis übermittelt, die stellvertretend für Freude stehen. Die Antwort auf diese WhatsApp-Nachricht erfolgt rein piktoral. Ein lächelndes Emoticon, gefolgt von ebenfalls ereignisbezogenen Symbolen. Während das Emoticon eine gesamte Äußerung („Ist ok – wir freuen uns“ oder Ähnliches) ersetzt und deutlich sprachökonomischer ist als das Tippen eines ganzen Satzes, haben die folgenden Bildzeichen eine rein illustrative Funktion.

Bsp. 4: Piktorales Schreiben mit illustrativer Funktion  

Auch in Bsp. 4 werden die Piktogramme additiv und illustrativ verwendet. Rein sprachlich wird alles kommuniziert, was notwendig für die Verabredung ist. Sprachökonomische Gründe sind hier folglich nicht ursächlich für das piktorale Schreiben. Vielmehr erweitern Piktogramme oftmals das Geschriebene um eine bildhafte Komponente und stehen in Beziehung zum bereits sprachlich geäußerten Referenzobjekt (vgl. Arens 2014, 100). Die hauptsächliche Funktion sieht Arens (2014, 101) darin, dass die Kommunikation „anschaulicher, lebendiger und interaktiver“ wird. Zu ergänzen ist die Lust am kreativen Sprach-Bild-Spiel, die bei den Rezipienten auch neue Interpretationsspielräume eröffnen können. Da Piktogramme, ebenso wie Emoticons, sprachliche Nähe erzeugen, sind sie in privaten Kommunikationssituationen weitgehend unproblematisch. In offizieller Schriftkommunikation indes kann der Gebrauch von Piktogrammen von den Adressaten als situativ unangemessen gerahmt werden. Die zuvor präsentierten Beispiele E-Mail-Kommunikation, Online-Foren und WhatsApp-Kommunikation stehen stellvertretend für kommunikative Phänomene, die in unterschiedlicher Weise auf die medialen Eigenschaften der Kommunikationsform zurückzuführen sind und die vom „klassischen“ Schriftbild abweichen. Die Frage, ob diese Phänomene tatsächlich Probleme illustrieren und Sprachkritik veranlassen, ist adressatenabhängig zu diskutieren. Abweichungen vom schriftsprachlichen Standard sind nicht per se Ausdruck mangelnder Sprachkompetenz, denn ein formeller standardsprachlicher Stil ist nicht in jedweder Kommunikationssituation erfolgreich. Man denke beispielsweise an die Kommunikation in einem Jugendforum, in dem andere  

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kommunikative Normen gelten als in einem Akademikerforum, und zwar insofern, als dass z. B. ein umgangssprachlicher Wortschatz unter Verwendung zahlreicher Emoticons oder Emojis oder auch Tippfehler im Jugendforum die kommunikative Norm sind und i. d. R. nicht sanktioniert werden. Die Einhaltung der Sprachsystemnormen wie die der Grammatik und Orthographie garantieren nicht zwangsläufig eine erfolgreiche Kommunikation. Vielmehr sind die Gebrauchsnormen des kommunikativen Handelns ausschlaggebend, und so kann es gerade die Gebrauchsnorm ‚konsequente Kleinschreibung‘ oder ‚Verwendung von Emoticons‘ sein, die ein Posting im Jugendforum zu einem funktional und situativ angemessenen Text werden lässt.  





Sie [die Gebrauchsnormen; JK] sind nicht mittels eines dichotomischen Maßstabs von ‚richtig – falsch‘ zu bewerten und zu vermitteln, sondern bewegen sich in einem Kontinuum von ‚angemessen – unangemessen‘. (Schiewe 2009, 99)

Sprachkompetenz beinhaltet aber eben auch, wie Janich (2013, 365) plausibel darlegt, „das Vermögen, Verantwortung für die Folgen zu übernehmen (bzw. diese überhaupt zu antizipieren!).“ Ein Handelnder hat stets Verantwortung für sein Sprachhandeln zu übernehmen, weil es aus einer selbstständigen Entscheidung resultiert, wie etwas zu welchem Zeitpunkt zu wem mit welchen sprachlichen Mitteln kommuniziert wird (vgl. Janich 2013, 364). Führt das Antizipieren der Folgen des eigenen Sprachhandelns zu einem akzeptablen Ergebnis, spricht gar nichts dagegen, Sprachspielräume – wie Schneider (2008) sie nennt – auszuschöpfen. Ist die Akzeptabilität aber in hohem Maße zweifelhaft, hat dies Auswirkungen auf die attestierte Sprachkompetenz des Äußernden.

4 Fazit Jeweils neue Kommunikationsformen stimulieren und provozieren die Öffentlichkeit zu metakommunikativen Urteilen, die teils in der Tradition der laienlinguistischen Sprachkritik stehen, die aber auch versuchen, der Spezifik neuer Kommunikationsformen samt deren Zwecke gerecht zu werden. Aus linguistischer Perspektive sollte dieser Zweckgerichtetheit Vorrang bei Beurteilungen eingeräumt werden. Sprache ist Bühler (1934) zufolge ein Organon, „ein Werkzeug, mit dem einer dem anderen etwas über die Dinge mitteilt“ (Bühler 1982, 28 f.). Sie ist Mittel zum Zwecke der Kommunikation und so verändern sich auch Kommunikationsgewohnheiten in Abhängigkeit vom verfolgten Zweck. Bereits in der Schule ist es wichtig, Sprachreflexion in unterschiedlichen Kommunikationsumgebungen, insbesondere aber auch am Beispiel Neuer Medien einzuüben, denn die Neuen Medien sind äußerst bedeutsam in der Schul- und Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen (vgl. im Folgenden Kiesendahl 2015). Laut der JIM-Studie von 2013 sind Kinder und Jugendliche im Alter von 12–19 Jahren täglich circa drei Stunden online. Davon entfallen rund 48 Minuten auf Online-Aktivitäten,  

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die im Zusammenhang mit der Schule stehen (vgl. http://www.mpfs.de/index.php? id=613; [Stand: 15.03.2016]). In Zeiten, in denen sich ein großer Teil der Kommunikation, der Informationsrecherche und der Freizeitgestaltung im Internet abspielt, ist der kompetente Umgang mit digitalen Medien umso wichtiger. Medienkompetenz ist eine Schlüsselkompetenz, die bereits in der Schule erworben werden sollte. Zur Medienkompetenz gehört aber nicht nur die technische Handhabung der digitalen Medien, sondern auch das Wissen darum, welches Medium in welcher Kommunikationssituation das geeignetste ist. Bislang sind Aufgaben, die Sprachreflexion am Beispiel der Sprachverwendung in Neuen Medien zum Gegenstand haben, in aktuellen Deutschschulbüchern ein eher randständiges Phänomen (vgl. Kiesendahl 2015). Hier wäre es wichtig, authentische Sprachdaten mit den Schülern zu diskutieren und in ihrem jeweiligen Kontext den Sprachgebrauch in Neuen Medien zu reflektieren. Dabei sollte nicht nur eine rezeptive Bewertungskompetenz ausgebildet werden, sondern auch das aktive Sprachhandeln, das sich am Kriterium der Angemessenheit orientiert, Bildungsziel sein.

5 Literatur Androutsopoulos, Jannis (2010): Multimodal – intertextuell – heteroglossisch: Sprach-Gestalten in „Web 2.0“-Umgebungen. In: Arnulf Deppermann/Angelika Linke (Hg.): Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton. Institut für Deutsche Sprache, Jahrbuch 2009. Berlin, 419–445. Androutsopoulos, Jannis/Gurly Schmidt (2002): SMS-Kommunikation. Ethnografische Gattungsanalyse am Beispiel einer Kleingruppe. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 36, 49–80. Antos, Gerd/Spitzmüller, Jürgen (2007): Was ‚bedeutet‘ Textdesign? Überlegungen zu einer Theorie typographischen Wissens. In: Kersten Sven Roth/Jürgen Spitzmüller (Hg.): Textdesign und Textwirkung in der massenmedialen Kommunikation. Konstanz, 35–48. Arendt, Birte (2010): Niederdeutschdiskurse. Spracheinstellungen im Kontext von Laien, Printmedien und Politik. Berlin. Arendt, Birte/Jana Kiesendahl (2013a): Funktionale Angemessenheit. Gesprächs- und lehrwerksanalytische Perspektiven. In: Jörg Kilian/Thomas Niehr/Jürgen Schiewe (Hg.): Sprachkritik. Göttingen. (= Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Heft 4/2013), 336–355. Arendt, Birte/Jana Kiesendahl (2013b): „Sprachkulturen im Web 2.0. Kritische und kritikwürdige Praktiken“. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. Themenheft 2/2013. Arendt, Birte/Jana Kiesendahl (2014): Sprachkritische Äußerungen in Kommentarforen – Entwurf des Forschungsfeldes „Kritiklinguistik“. In: Thomas Niehr (Hg.): Sprachwissenschaft und Sprachkritik. Perspektiven ihrer Vermittlung. Bremen, 101–130. Arendt, Birte/Jana Kiesendahl (2015): Sprachkritische Kommentare in der Forenkommunikation – Form, Funktion und Wirkung. In: Jörg Bücker/Elke Diedrichsen/Constanze Spieß (Hg.): Perspektiven linguistischer Sprachkritik. Stuttgart, 159–198. Arendt, Birte/Pavla Schäfer (Hg.) (2015): Angemessenheit. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. Themenheft 2/2015. Arens, Katja (2014): WhatsApp: Kommunikation 2.0. Eine qualitative Betrachtung der multimedialen Möglichkeiten. In: Nils Bahlo/Katharina König (Hg.) (2014): SMS, WhatsApp & Co. Gattungsanalytische, kontrastive und variationslinguistische Perspektiven zur Analyse mobiler Kommunikation. Münster, 81–106.

464

Jana Kiesendahl

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Neue Kommunikationsformen, neue Probleme?

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Kiesendahl, Jana (2015): Sprachreflexion am Beispiel „Neuer Medien“ – eine Bestandsaufnahme in aktuellen Deutschsprachbüchern. In: Jana Kiesendahl/Christine Ott (Hg.): Linguistik und Schulbuchforschung. Gegenstände – Methoden – Perspektiven. Göttingen, 199–216. Kilian, Jörg/Thomas Niehr/Jürgen Schiewe (Hg.): Sprachkritik. Göttingen. (= Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Heft 4/2013). Kilian, Jörg (2002): T@stentöne. Geschriebene Umgangssprache in computervermittelter Kommunikation. Historisch-kritische Ergänzungen zu einem neuen Feld der linguistischen Forschung. In: Michael Beißwenger (Hg.): Chat-Kommunikation. Sprache, Interaktion, Sozialität & Identität in synchroner computervermittelter Kommunikation. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Stuttgart, 55–78. Koch, Peter/Wulf Oesterreicher (1985): Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanisches Jahrbuch 36, 15–43. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.) (2018): JIM-Studie 2018. Jugend, Information, Medien. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. Stuttgart. (https://www.mpfs. de/fileadmin/files/Studien/JIM/2018/Studie/JIM_2018_Gesamt.pdf, [Stand: 12.12.2018]). Müller, Christina Margrit (2013): Wörter über Bilder(n). Linguistische Analyse von Tags und Notizen und ihren Relationen zum Bild in der Foto-Community Flickr. Dissertation Universität Zürich (unveröff.). Pansegrau, Petra (1997): Dialogizität und Degrammatisierung in E-mails. In: Rüdiger Weingarten (Hg.) (1997): Sprachwandel durch Computer. Opladen, 86–104. Runkehl, Jens/Peter Schlobinski/Torsten Siever (1998): Sprache und Kommunikation im Internet. Überblick und Analysen. Wiesbaden. Schiewe, Jürgen (1998): Die Macht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik von der Antike bis zur Gegenwart. München. Schiewe, Jürgen (2007): Angemessenheit, Prägnanz, Variation. Anmerkungen zum guten Deutsch aus sprachkritischer Sicht. In: Armin Burkhardt (Hg.): Was ist gutes Deutsch? Studien und Meinungen zum gepflegten Sprachgebrauch. Mannheim u. a., 369–380 (= Duden Thema Deutsch Band 8). Schiewe, Jürgen (2009): Sprachkritik in der Schule. Vorüberlegungen zu Möglichkeiten und Zielen eines sprachkritischen Unterrichts. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. Themenheft: Sprachkritik in der Schule, Heft 2/2009, 97–105. Schlobinski, Peter/Nadine Fortmann/Oliva Groß u. a. (2001): Simsen. Eine Pilotstudie zu sprachlichen und kommunikativen Aspekten in der SMS-Kommunikation. In: http://www.mediensprache.net/ networx/networx-22.pdf [15.03.2016]. Schneider, Jan Georg (2008): Spielräume der Medialität. Linguistische Gegenstandskonstitution aus medientheoretischer und pragmatischer Perspektive. Berlin/New York. Schmitz, Ulrich (2002): E-Mails kommen in die Jahre. Telefonbriefe auf dem Weg zu sprachlicher Normalität. In: Arne Ziegler/Christa Dürscheid (Hg.) (2002): Kommunikationsform E-Mail. Tübingen, 33–56. Spitzmüller, Jürgen (2014): Die dunkle Seite des Textes. ‚Mündlichkeit‘ als Hilfskonzept der Text- und Medienlinguistik. In: Elke Grundler/Carmen Spiegel (Hg.): Konzeptionen des Mündlichen – wissenschaftliche Perspektiven und didaktische Konsequenzen. Bern: (= Mündlichkeit 3), 32–46. Storrer, Angelika (2014): Sprachverfall durch internetbasierte Kommunikation? Linguistische Erklärungsansätze – empirische Befunde. In: Sprachverfall? Dynamik – Wandel – Variation. Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2013. Berlin/New York, 171–196. Weingarten, Rüdiger (Hg.) (1997): Sprachwandel durch Computer. Opladen.  



Sachverzeichnis Akkusativ, inhumaner 166, 173 Akzent 40–41 Akzeptabilität 123, 439–441, 455, 457, 462 Allies 384, 393 Amerikanisierung 294–295, 298–301, 305 Angemessenheit 220, 247, 309, 324, 326, 330, 428, 431, 439–440, 448–449, 453–455, 460, 463 Angemessenheit, funktionale 165, 180, 182, 255, 439–440, 447, 454 Anglisierung 291, 293–295, 298, 300–301, 304 Anglizismus 2, 59, 66, 108, 168–170, 177, 263, 269, 278, 281, 291, 294–295, 297–305, 359, 375, 377 Antwort, implizite und explizite 160 Aptum 182–183, 237, 454 Argumenation, integre 441 Aufklärung 67, 181, 218–223, 225–226, 228, 233, 236–237, 243, 246, 261, 295–296, 432 Aus-/Eingrenzung, soziale 110, 169, 192, 269, 304, 378 Ausgrenzung 391–392  









Diskurs 204–205, 208, 291–292, 294–305, 353, 355, 357–358, 360–365, 367, 369–371, 373–374, 376–378, 383, 386–387 Diskurs, metapragmatischer 18, 20, 23–24 Diskursanalyse 345  























Einheit 278–280, 283 Einheitlichkeit 268–269, 273–274, 276–280, 283 E-Mail 369, 447, 449–451, 455–456, 461 Embodiment, siehe Körper Empowerment 386 enregisterment, siehe soziale Registrierung erasure, siehe Löschung Ethik 167, 221, 425–426, 436 ethnolect, siehe Ethnolekt Ethnolekt 111, 353–354, 357–358, 360–361, 363–367, 369, 371–372, 374–377, 379 Exklusion, siehe Aus-/Eingrenzung, soziale Experte in eigener Sache 59, 63, 72–73 Experte 54–58, 61–67, 71–73, 75, 374–375, 379  

















Fachsprache 273, 275 feministische Linguistik 167–168, 174–176, 181, 387 Folk Linguistics 68–69, 140–141, 160–161, 334, 346 fractal recursivity, siehe fraktale Rekursivität Fraktale Rekursivität 117, 365 Fremdwort 39, 168–170, 176–177, 223–224, 229, 250, 254–255, 259, 263, 293–294, 296, 298, 301, 303–305 Funktion, kommunikative 34, 165, 174 Funktion, metapragmatische 19–20 Funktion, metasprachliche 14–16  

Bewertung, siehe Sprachbewertung Code 74, 97, 99, 270–271, 273–274, 276, 278, 283, 285, 304, 356 corrective, siehe Korrektivum  







Demokratie 182, 219, 235–238 Demokratisierung 218, 225–226, 228, 231, 234, 236–238 Denken 112, 218–220, 225, 229, 256 Denken, sprachgeschichtliches 191, 195, 211 Deutsch 66, 193–197, 199–209, 211, 244, 246, 248–249, 253–254, 262, 291, 293–295, 297–300, 304, 354–357, 359, 361, 363, 365–366, 369–374, 376, 379 Deutsch 301, 303 Deutungshoheit 1–2, 25 Dialekt 205, 207–211, 248, 295, 334, 336–337, 339–347, 354, 359, 364, 369, 376, 396, 453 Diskriminierung 41, 110, 126, 167, 181, 256, 361, 364, 377–378, 383–384, 386, 388–391, 394–395  

















https://doi.org/10.1515/9783110296150-021









Gens 191–195 gentil, siehe Gens geographic information system, siehe Geoinformationssystem Geoinformationssystem 148–149, 151 Globalisierung 110, 291–293, 295, 298–303, 305 Gouvernementalität 123–124 Grammatik 197, 248, 252, 255, 303–304, 357, 359, 371, 458–459, 462  









468

Sachverzeichnis

Griechisch, modernes, siehe Standardneugriechisch Grundrichtigkeit 252–254  

Habitus 121–123, 126 Handeln, sprachliches 68, 220, 425, 427–428, 431–432, 436–437 Handlung, sprachliche 429 Hegemonie 121  







Laienlinguistik 58, 67–71, 73–74, 165–166, 169–172, 180, 244, 246, 293, 333–334, 339–340, 346–347, 454, 458, 460, 462 language attitude, siehe Spracheinstellung language change, siehe Sprachwandel language ideology, siehe Sprachideologie language standard, siehe Sprachnorm Leichte Sprache 71–74, 237 Löschung 117, 365 Luxemburg 191, 202–210  







iconization, siehe Ikonisierung Denken, sprachgeschichtlichesDenken, sprachgeschichtliches 191, 195, 211 Identität 40, 191–193, 195–198, 200–205, 226, 250–251, 261, 268–269, 273–274, 277, 280–281, 285, 296, 299–300, 335, 338–339, 356–358, 364, 378, 442, 459 Ideologie 108, 118–120, 125 Ikonisierung 117, 127, 355, 364–365, 372 indexicality, siehe Indexikalität Indexikalität 15–20, 23–25, 114–117, 127, 134, 161, 335, 364, 377 inhumaner Akkusativ, siehe Akkusativ, inhumaner integre Argumentation, siehe Argumentation, integre Intersektionalität 383, 388–390 Kinderfernsehen 343, 348 Kommunikationsform 447–449, 451–453, 455, 460–462 Kommunikationsmaxime 237, 432–433, 436, 440–441 kommunikative Funktion, siehe Funktion, kommunikative Kompetenz 341, 344, 346–348 Kompetenz, kommunikative 425–426 Konstruktionismus 89–91, 96, 100 Kontextsensitivität 92–97, 101, 338, 341 Kooperation 425, 431–433, 436, 440 Körper 108–109, 126–128, 130, 270 Korrektheit, sprachliche 126, 151–153, 387, 429, 431, 448 Korrektivum 33–37, 47–48, 50 Kulturimperialismus 294–295, 305 Kulturnationalismus 200, 202, 210–211

Macht 107, 110, 118, 120, 124, 126, 233–234 Massenmedien 74 Matched-Guise-Technik 83, 87–89, 97–98, 151, 160 media discourse, siehe Mediendiskurs Medien 54, 56, 66, 196, 291–293, 295–297, 304, 342–343, 346, 348, 354, 357–359, 361–365, 367–368, 371, 373, 375, 378– 379 Mediendiskurs 65, 355 Medium, neues, siehe neue Medien Medium, soziales, siehe neue Medien Mehrsprachigkeit 111 Mental map 147–148 Metakommunikation 431 metalanguage, siehe Metasprache metalinguistic speech acts, siehe Sprechakt, metasprachlicher Metapragmatik 16–20, 22, 66, 71, 109, 114, 134, 335, 375, 377 metapragmatischer Diskurs, siehe Diskurs, metapragmatischer Metasemantik 17–20 Metasemiotik 14, 18 Metasprache 12–17, 21, 33–34, 47, 334, 336, 338, 344, 353–355, 366–367, 369, 373, 375, 377 metasprachliche Funktion, siehe Funktion, metasprachliche metasprachlicher Sprechakt, siehe Sprechakt, metasprachlicher Methodologie 83–87, 96, 101, 204 Mikroaggression 391 Moral 172–174, 221, 224–225, 359, 365, 424– 426, 429, 432, 434, 436, 438, 440, 442 Mundart, siehe Dialekt

Laie 54–59, 61–64, 67, 69, 71, 75, 379

Nationalismus 41



































   



































Sachverzeichnis

Nationalsprache 110, 196–198, 206, 211, 269, 274–275, 278, 282, 284, 367, 374 Nationalsymbol 194–195, 197, 202 Nationenbildung 110, 119, 193, 197, 199–200, 202, 231, 280 Neue Medien 362, 373, 378, 447–450, 454, 462– 463 Neutralität 40–41, 47 Niederdeutsch 335, 340, 344–348 Norm 1, 22, 31–32, 48, 75, 107, 179, 224, 270, 273, 277, 323, 325–329, 332, 356, 359, 365, 369–370, 424, 432, 439, 442, 462  













Öffentlichkeit 2–5, 8, 54–55, 65–66, 70, 199, 204, 207, 232–235, 238, 244–245, 256– 257, 261, 293, 299, 305, 333, 340–342, 345–346, 353, 355, 359, 362, 367, 375, 377, 379, 384, 386, 388–389, 451, 462 Orthographie, siehe Rechtschreibung  

perceptual dialectology, siehe Wahrnehmungsdialektologie permissive, siehe Permissivum Permissivum 34–36, 38 Political Correctness 1, 47, 167–168, 174–175, 299–300, 383–384, 387, 394 Positionierung, siehe soziale Positionierung pragmatischer Rahmen, siehe Rahmen, pragmatischer Präskriptivismus 31, 33–34, 37, 48–50, 345–347 prescriptivism, siehe Präskriptivismus Privileg 390 Purismus, siehe Sprachpurismus  







Rahmen, pragmatischer 430 Rationalismus 256–257 Rechtschreibung 1, 67, 249, 253, 263, 281, 300, 302, 304, 309, 311–314, 317–318, 320–323, 327–328, 330–332, 378, 456, 459, 462 Reflexivität 11–12, 15–16, 20–21 Registrierung, siehe soziale Registrierung response, implicit and explicit, siehe Antwort, implizite und explizite rhematization, siehe Ikonisierung Rhetorik 165, 183, 248, 257, 271, 383, 454  









Schreibkompetenz 309, 312–314, 326, 330 Schreibvariante 321 Schriftsystem 200–201, 317  





469

Selbstermächtigung, siehe Empowerment social psychology of language, siehe Sozialpsychologie der Sprache soziale Positionierung 11–12, 20, 23–24, 27, 107, 109, 112, 130, 132–134, 305, 335, 363, 369– 371 soziale Registrierung 21, 24, 26, 344, 353, 362– 363, 367, 376–378 Sozialpsychologie der Sprache 85, 141, 151, 161, 336 speaker evaluation, siehe Sprecher*innenevaluation speech act, siehe Sprechakt speech perception, siehe Sprachwahrnehmung Sprachbewertung 58, 69, 95–96, 99, 101–102, 108, 165–166, 170–174, 176, 178–183, 191– 193, 196, 218, 220, 225, 238, 244, 246, 293, 333–336, 338, 340–342, 345, 347–348, 368, 377, 426, 434–435, 437, 439, 442, 454, 459, 463 Sprachbewusstsein 226, 236 Sprachbiographie 130 Sprachdidaktik 237, 360, 364, 367–368, 370, 374–375, 378 Spracheinstellung 3, 83–85, 92–94, 96–101, 140–141, 151, 160–161, 333, 335–339, 341, 345, 348 Spracherleben 128, 130 Sprachgefühl 1 Sprachgemeinschaft 111–112, 126 Sprachgeschichte, Idee der, siehe Denken, sprachgeschichtliches Sprachgeschichtliches Denken, siehe Denken, sprachgeschichtliches Sprachgesellschaft 223–224, 243, 249, 255, 279 Sprachhandlung 95, 392, 454, 462 Sprachideal 243–245, 249, 254–255, 257, 260, 263 Sprachideologie 3, 16, 20, 22–23, 25, 33, 40, 47, 49, 68, 107–113, 115, 117–118, 120, 124–127, 130, 132, 135, 291, 296, 298, 300–301, 303, 334, 337, 347, 353–355, 359, 362, 364–365, 368–370, 372, 378, 384 Sprachkompetenz 1, 248, 339, 429–430, 433, 443, 447, 456–457, 461–462 Sprachkritik 2–3, 68, 70, 74, 165–166, 172–175, 178–182, 218–219, 226, 233–238, 276, 291, 293, 296, 301–303, 339, 369, 383, 385,  

































470

Sachverzeichnis

392, 396, 425–426, 429, 434–440, 442, 448, 451, 454, 457, 459–462 Sprachkultiviertheit 237, 429–434, 442 Sprachkultur 182, 225, 300, 302, 429–430, 433–434, 454 sprachliche Korrektheit, siehe Korrektheit, sprachliche sprachlicher Zweifelsfall, siehe Zweifelsfall, sprachlicher sprachliches Handeln, siehe Handeln, sprachliches Sprachmarkt 121, 123 Sprachnationalismus 177, 197–198, 205, 243, 298–299, 301, 377 Sprachnorm 32, 46–47, 49–50, 58, 73, 98, 110, 118, 120, 165, 179, 183, 226, 244, 249, 252, 256, 263, 276, 334, 339, 344, 346, 429, 448, 454, 456, 458–459, 462 Sprachphilosophie 12–14, 246–247 Sprachpolitik 2, 96, 100, 294, 378, 383–387, 389, 392–396 Sprachpurismus 49, 176–177, 223, 230–231, 234, 254–255, 278, 291–292, 294–301, 303–305, 344–346, 359, 375–376 Sprachreflexion 3, 8, 12, 67–69, 71, 96, 102, 107, 191–192, 196, 204–205, 210, 218, 220, 225, 237–238, 243, 305, 333, 386–387, 425– 426, 431, 462–463 Sprachregime 123 Sprachrichtigkeit 243, 246–247, 252, 255–256, 259, 263, 345 Sprachspaltung 283, 304 Sprachstufentheorie 12–13 Sprachursprung 247, 249, 261 Sprachverfall 69, 74, 269, 339, 448 Sprachwahrnehmung 140–141, 156, 160 Sprachwandel 48, 50, 95, 98, 112, 115, 161, 176, 244, 259, 275, 292 Sprechakt 33, 48, 438 Sprechakt, korrektiver, siehe Korrektivum Sprechakt, metasprachlicher 34–35, 37, 49 Sprechakt, permissiver, siehe Permissivum Sprecher*innenbewertung 336–337 Sprecher*innenevaluation 99, 102 Sprecher*innenevaluierung 84, 97–98 Staatsbildung 191, 193–194, 196, 198, 200–202 stancetaking, siehe soziale Positionierung standard language, siehe Standardsprache  



















Standard Modern Greek, siehe Standardneugriechisch Standard Standardsprache 48 Standarddeutsch 346 Standardisierung 31–32, 36–37, 47–48, 50, 110, 119, 226–227, 276 standardization, siehe Standardisierung Standardneugriechisch 35–36, 39, 41 Standardsprache 31–33, 40–41, 46–47, 50, 110, 199, 252, 276, 282, 334–335, 339–340, 342–345, 347–348, 356, 360, 364–365, 369–370, 374, 376–377, 449, 451, 457, 461 Standardsprachideologie 47, 50 Stereotyp 337–338, 342–344, 353, 355–357, 361, 363 Stil 99, 179, 258–259, 263, 295–296, 301–302, 311, 328, 332, 355–356, 358, 360, 369, 429, 461 Strukturwandel 54–55, 59, 67, 71, 73 Subjekt 124–126 Subjektivierung 124, 126, 132  





















Text 194, 210, 309, 315, 321, 323–329, 331–332, 357–358, 363, 366–367, 369–372, 374– 376, 454–455 Textqualität 326  



Urteil 1–4, 8  



























Variante 88, 93, 334, 337–339, 376, 456 Verbündete, siehe Allies Verein Deutsche Sprache 59, 66, 169, 294, 297– 304, 359, 376 Vergemeinschaftung 12, 192 Vergesellschaftung 192, 196 Vernunft 220 Verstand 225, 229 Verständigung 255, 260, 263–264, 268–270, 273–274, 278–281, 285, 296 Verständlichkeit 75, 169, 177, 229, 231–232, 238, 249, 258, 260, 279–280, 304–305 Verstehen 268–274, 278, 281, 285 Volk 192–196, 200–205, 207–210, 260–262 Volkslinguistik 67–68 Volkslinguistik, siehe auch Folk Linguistics  





















Wahrnehmungsdialektologie 3, 69, 140–143, 146–148, 151, 153–154, 156, 160–161, 334  

Sachverzeichnis

Wahrnehmungslinguistik 337 WhatsApp 1, 447–449, 451–453, 460–461 Wiedervereinigung 291, 295, 305  





Wirklichkeit 218–220, 235  

471