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German Pages 573 [574] Year 2023
Handbuch Phänomenologie
Handbuch Phänomenologie herausgegeben von
Emmanuel Alloa, Thiemo Breyer und Emanuele Caminada
Mohr Siebeck
ISBN 978-3-16-161983-0 (Leinen) ISBN 978-3-16-154560-3 (Broschur) eISBN 978-3-16-161984-7 DOI 10.1628/978-3-16-161984-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Minion Pro und der Syntax gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Phänomenologie als lebendige Bewegung (Emmanuel Alloa, Thiemo Breyer, Emanuele Caminada) . . . . . . . 2 1. Zum Handbuch – eine Gebrauchsanleitung . . . . . . . . . . . . 2 2. Was ist Phänomenologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 3. Hintergründe und Orientierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 4. Wider die Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 5. Phänomenologie und/als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 11 6. Metaphysik und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 7. Wozu Phänomenologie heute? – Ein Ausblick . . . . . . . . . . . 14 B. Historische Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
I. Anfänge der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1. Husserl im Kontext (Emanuele Caminada) . . . . . . . . . . . . . 18 2. Münchener und Göttinger Kreis (Matthias Schloßberger) . . . . 24 3. Die Freiburger Jahre (Emanuele Caminada) . . . . . . . . . . . . 27 4. Martin Heideggers Sonderstellung (Emmanuel Alloa) . . . . . . 31 5. Phänomenologie im Nationalsozialismus (Emmanuel Alloa, Emanuele Caminada) . . . . . . . . . . . . . . 38 6. Heideggers Schwarze Hefte. Eine Bestandsaufnahme (Dieter Thomä) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
II. Rezeptionen der Phänomenologie (Marco Cavallaro) . . . . . . . . . 53 1. Deutscher Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. Französischer Sprachraum (Frankreich, Belgien) . . . . . . . . . 57 3. Niederländisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 4. Italienisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 5. Mittel- und Osteuropa (deutsch, polnisch, tschechisch/slowakisch, russisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 6. Nordeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 7. Angloamerikanischer Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 8. Spanisch und portugiesisch (Spanien, Portugal, Lateinamerika) 63 9. Japanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 10. Koreanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 11. Chinesisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 12. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
III. Wendungen der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 1. Realistische Wendung (Matthias Schloßberger) . . . . . . . . . . 67 2. Existenzialistische Wendung (Jens Bonnemann) . . . . . . . . . . 76
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Inhaltsverzeichnis
Hermeneutische Wendung (Inga Römer) . . . . . . . . . . . . . . 85 Dekonstruktion (Iris Laner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Responsive Wendung (Regula Giuliani) . . . . . . . . . . . . . . . 103 Theologische Wende (Peter Gaitsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Kosmologische Wende (Ovidiu Stanciu) . . . . . . . . . . . . . . 119 Phänomenologie und Analytische Philosophie (Søren Overgaard) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 9. Naturalisierung der Phänomenologie (Thiemo Breyer) . . . . . . 138 3. 4. 5. 6. 7. 8.
C. Werkzeugkasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
I. Grundkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1. Korrelation: Phänomenologie als Korrelationsforschung (Emmanuel Alloa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Intentionalität: Bewusstsein als Akt (Thiemo Breyer) . . . . . . . 153 3. Evidenz: Anschauliche Wahrheit (Julia Jansen) . . . . . . . . . . 157 4. Konstitution: Was das Bewusstsein leistet (Nicolas de Warren) . 162 5. Gegenständlichkeit: Gegenstand und Gegebenheitsweise (Tobias Keiling) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 6. Positionalität: Stellungnahme, Einstellung, Haltung (Christopher Erhard) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 7. Zeitbewusstsein: Retention, Impression, Protention (Nicolas de Warren) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 8. Gegenwärtigung und Vergegenwärtigungen: Wahrnehmung, Erinnerung, Fantasie (Emmanuel Alloa) . . . . . . . . . . . . . . 185 9. Leiblichkeit: Orientierung und Bewegung (Maren Wehrle) . . . . 192 10. Perspektivität und Horizontalität: Situation, Feld, Welt (Marco Cavallaro) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 11. Intersubjektivität: Ego und Alter Ego (Christian Ferencz-Flatz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 12. Habitualität: Passivität, Gewohnheit, Tradition (Maren Wehrle) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 13. Lebenswelt: Praktisch, ontologisch, transzendental (Karl-Heinz Lembeck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 14. Historizität: Geschichtlichkeit und Generativität (Karl-Heinz Lembeck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
II. Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 1. Deskription (Andrea Staiti) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 2. Epoché (Andrea Staiti) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Eidetische Variation (Thiemo Breyer, Julia Jansen) . . . . . . . . . 234 4. Reduktion (Dieter Lohmar) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 5. Statische und genetische Methode (Jagna Brudzińska) . . . . . . 245
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D. Wirkfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
I. Logik und Sprachphilosophie (Emmanuel Alloa, Andris Breitling) 254 1. Mathematische Voranfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 2. Von der Mathematik zur Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 3. Logische Bedeutung und sprachlicher Ausdruck . . . . . . . . . 262 4. Phänomenologie der ›sprechenden Sprache‹ . . . . . . . . . . . . 266 5. Einsätze und Entwicklungen phänomenologischen Sprachdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 5.1. Phänomenologische Motive in der Sprachwissenschaft . . . 270 5.2. Hermeneutische Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . 271 5.3. Dekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 5.4. Ethik der antwortenden Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 5.5. Phänomenologie und analytische Sprachphilosophie . . . . 274
II. Erkenntnistheorie und Metaphysik (Paul Livingston) . . . . . . . . . 274 1. Gibt es eine phänomenologische Metaphysik? . . . . . . . . . . . 274 2. Kritik des Repräsentationalismus: Internalismus, Externalismus und Cartesianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 3. Konzeptualismus vs. Nonkonzeptualismus: Die Dreyfus-McDowell-Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 4. Die Transformationen des Transzendentalen: Der Schatten Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 5. Formales, materiales und historisches Apriori . . . . . . . . . . . 286 6. Sinn, Wahrheit und Zeit: Kann die Phänomenologie eine realistische Philosophie sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
III. Ethik und Normen (Emanuele Caminada) . . . . . . . . . . . . . . . 294 1. Werttheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1.1. Werte und Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 1.2. Ethos und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 1.3. Emotive Schichtung und Werthierarchie . . . . . . . . . . . 300 1.4. Werten und Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 2. Das Problem der Normativität. Von der Wertethik zur Verantwortungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2.1. Ideales Sollen. Von Husserl zur Rechtsphänomenologie . . 303 2.2. Ethik der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 2.2.1. Heideggers Verwerfung der Wertethik . . . . . . . . . 306 2.2.2. Sartres Phänomenologie der Freiheit . . . . . . . . . . 306 2.2.3. Ricœurs Hermeneutik der Verantwortung . . . . . . 308 2.3. Levinas: Verantwortung als Antwort . . . . . . . . . . . . . 309 2.3.1. Von-Angesicht-zu-Angesicht (vis-à-vis) . . . . . . . . 310 2.3.2. Stellvertretung und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . 311 3. Kritische Phänomenologie: auch eine Ethik? . . . . . . . . . . . . 312
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Inhaltsverzeichnis
IV. Psychologie und Psychiatrie (Thomas Fuchs, Samuel Thoma) . . . . 316 1. Zum Verhältnis der Phänomenologie zu Psychologie und Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 2. Phänomenologische Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 3. Phänomenologie und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . 319 4. Phänomenologische Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 5. Phänomenologische Psychopathologie einzelner Erkrankungen 323 5.1. Melancholische Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 5.2. Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 5.3. Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 5.4. Borderline-Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . . . . . 329 6. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
V. Anthropologie und Ethnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 1. Philosophische Anthropologie (Oliver Müller) . . . . . . . . . . . 333 1.1. Phänomenologie und Anthropologie in ihren ›Gründungsphasen‹: Konkurrenz und Kritik . . . . . . . . 334 1.1.1. Gefährliche Parallelaktionen . . . . . . . . . . . . . . 334 1.1.2. Seinesgleichen geschieht: Die philosophische Anthropologie wird ›begründet‹ . . . . . . . . . . . . 335 1.2. Entfremdungen und Annäherungen in der Zeit nach 1945 . 337 1.2.1. Existenziale Anthropologien als Antwort auf die anthropologische Herausforderung . . . . . . . . . . 338 1.2.2. Beginn der interdisziplinären Ausweitung des Programms der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . 339 1.3. Es wächst zusammen, was zusammengehört . . . . . . . . . 340 1.3.1. Zeit der Entspannung: ›Unorthodoxe‹ Studien zwischen Phänomenologie und Anthropologie . . . . 340 1.3.2. Überwindung der Anthropologie-Phobie . . . . . . . 341 1.3.3. Die Geburt der phänomenologischen Anthropologie aus dem Geist der Psychopathologie . . . . . . . . . . 342 1.4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 2. Ethnologie (Hans Peter Hahn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 2.1. Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 2.2. Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 2.3. Existenzialistische Ethnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 2.4. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
VI. Sozialphilosophie und Soziologie (Hans Bernhard Schmid, Gerhard Thonhauser) . . . . . . . . . . . . 354 1. Ist Phänomenologie Solipsismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 1.1. Ist Sozialität transzendentalphänomenologisch zu erfassen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
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2. Ist eine phänomenologische Gesellschaftstheorie möglich? . . . 359 2.1. Muss Gesellschaftstheorie der transzendentalen Phänomenologie den Rücken kehren? . . . . . . . . . . . . . 360 2.2. Ist Subjektivität diskursiv oder systemisch zu reformulieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 3. Kann empirische Sozialforschung phänomenologisch betrieben werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 3.1. Welche Rolle spielt die lebensweltliche Situierung für das Wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 3.2. Was trägt die Phänomenologie der Lebenswelt zur empirischen Sozialforschung bei? . . . . . . . . . . . . . . . 365 4. Was ist Gemeinschaft eigentlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 4.1. Was heißt ›Dasein ist immer schon Mitsein‹? . . . . . . . . 367 4.2. Taugt Phänomenologie zu Sozialkritik? . . . . . . . . . . . 369 5. Gibt es eine Phänomenologie der Pluralperspektive? . . . . . . . 371 5.1. Was ist kollektiv an der kollektiven Intentionalität? . . . . . 371 6. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 VII. Politische Philosophie (Thomas Bedorf ) . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 1. Husserls Staatsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 2. Totalitarismuskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 3. Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 4. Radikale Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 5. Die politische Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 6. Situiertheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 7. Politische Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 8. Phänomenologien der Rassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . 391 VIII. Feministische Theorie und Gender Studies (Christina Schües) . . . . 393 1. Feministischer Aufbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 1.1. Simone de Beauvoir: Das zweite Geschlecht . . . . . . . . . 394 1.2. Die Gebürtlichkeit der Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 398 2. Gender Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 2.1. Differenztheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 2.2. Poststrukturalismus und Phänomenologie . . . . . . . . . . 407 3. Feministische Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 3.1. Beschreibende, angewandte Phänomenologie . . . . . . . . 411 3.2. Transformationen der Phänomenologie . . . . . . . . . . . 412 3.3. Feministische Phänomenologie und Interdisziplinarität . . 413 IX. Medien- und Kulturwissenschaften (Emmanuel Alloa, Eva Schürmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 1. Vermittelte Unvermitteltheit oder: Der Topos der Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
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2. Phänomenologie der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 3. Phänomenologie der Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 4. Phänomenologie der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 5. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
X. Ästhetik und Künste (Christian Grüny) . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 1. Positionen und Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 1.1. Edmund Husserl: Bild und Fantasie . . . . . . . . . . . . . . 433 1.2. Roman Ingarden: Ontologie des ästhetischen Gegenstands 435 1.3. Martin Heidegger: Kunst und Ereignis . . . . . . . . . . . . 436 1.4. Jean-Paul Sartre: Imagination und Negation . . . . . . . . . 438 1.5. Maurice Merleau-Ponty: Bild und Werden der Welt . . . . 439 1.6. Mikel Dufrenne: Sinnliches und Ausdruck . . . . . . . . . 441 1.7. Henri Maldiney: Form und Rhythmus . . . . . . . . . . . . 443 2. Felder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 2.1. Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 2.2. Skulptur, Land Art und Architektur . . . . . . . . . . . . . 446 2.3. Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 2.4. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 2.5. Tanz und Performance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 2.6. Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451
XI. Kognitions- und Lebenswissenschaften (Thiemo Breyer) . . . . . . . 452 1. Kognitionswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 1.1. Begriffe und Paradigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 1.2. Kritik der Künstlichen Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . 456 1.3. 4E Cognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 2. Lebenswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 2.1. Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 2.2. Ökologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 2.3. Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 2.4. Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 E. Apparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
I. Hilfsmittel und Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474
II. Ausgaben phänomenologischer Hauptwerke . . . . . . . . . . . . . . 477
III. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557
A. Einleitung
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A. Einleitung
Phänomenologie als lebendige Bewegung 1. Zum Handbuch – eine Gebrauchsanleitung In ihrer mehr als 120-jährigen Existenz hat sich die Phänomenologie zu einem Forschungsunternehmen entwickelt, dessen weitreichende Verästelungen – selbst für seine Protagonist:innen – kaum noch zu überblicken sind. Was schon die Expert:innen beklagen, gilt für Neueinsteigende allemal. An allgemeinen Einführungen oder spezialisierter Fachliteratur zu einzelnen Epochen, Figuren oder Themen mangelt es dabei keineswegs, wohl aber an einem Handbuch, in dem sowohl der Vielfalt der historischen Entwicklungen als auch dem berechtigten Wunsch nach innerer systematischer Kohärenz Rechnung getragen wird. Vorliegendes Buch hat die Absicht, diese Lücke zu schließen, um auch in deutscher Sprache ein Kompendium bereitzustellen, das Orientierung in einem immer unübersichtlicher werdenden Feld bietet, dessen Entwicklungslinien und Diskussionskontexte rekonstruiert und komplexe operative Begriffe der Phänomenologie verständlich und problemorientiert aufarbeitet. Leitend ist dabei die Vorstellung, dass man ein Handbuch für verschiedene Zwecke nutzen können soll: Der Band kann daher durchaus in linearer Reihenfolge gelesen werden, was zumal für Leser:innen geeignet scheint, die an der vielschichtigen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte interessiert sind. Für all diejenigen, die eher an einer bündigen Darstellung bestimmter Fragenkomplexe oder Konzepte Bedarf haben, sind ebenfalls Zugriffe über einzelne ausgewählte Lemmata und Themenblöcke möglich. Bereits seit geraumer Zeit gibt es Überblicksdarstellungen zu einzelnen regionalen Strömungen der Phänomenologie (etwa Waldenfels’ Phänomenologie in Frankreich [Waldenfels 1983/1998], von Gondek und Tengelyi um eine Neue Phänomenologie in Frankreich ergänzt [Gondek/Tengelyi 2011]), dazu kommt in den letzten Jahren eine begrüßenswerte Vielzahl an personen zentrierten Handbüchern (etwa zu Husserl, Heidegger, Scheler oder Blumenberg). Diverse Nachschlagewerke geben ferner über einzelne Anwendungsbereiche der Phänomenologie Auskunft (z. B. zu Leiblichkeit oder phänomenologischer Metaphysik). Im Unterschied zu den bereits vorliegenden Bänden – mehr dazu in den Hilfsmitteln [ E.I], die ebenfalls in die englischsprachige Literatur einführen – ist dieses Handbuch weder auf einzelne Richtungen innerhalb der Phänomenologie noch auf das Œuvre einer ihrer Vertreter:innen fokussiert; vielmehr soll die phänomenologische Bewegung in ihrer historischen und systematischen Breite und Vielfalt möglichst umfassend dargestellt werden. Dieser Ansatz spiegelt sich in der Architektonik des Handbuchs wider, das einen historischen ( B), einen begriffsanalytischen und methodischen ( C) sowie einen angewandten Teil ( D) umfasst. Der historische Teil setzt mit einem Abriss über die Anfänge der Phänomenologie bei Husserl, den Kreisen seiner Anhänger:innen und Schüler:innen, sowie bei Heidegger ein, dem eine gewisse Sonderstellung in dieser Entwicklung zukommt ( B.I). Hieran anschließend werden
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die wichtigsten internationalen Rezeptionslinien nachgezeichnet, die deutlich machen, wie sich die Phänomenologie schrittweise weltweit ausgebreitet hat ( B.II). Im Unterschied zu existierenden ideengeschichtlichen Rekonstruktionen – allen voran der frühe Klassiker The Phenomenological Movement von Herbert Spiegelberg (1960/1994) – lässt sich die Geschichte der Phänomenologie unserer Einschätzung nach schon seit Längerem nicht mehr überzeugend in eine lineare Entwicklungsgeschichte zwängen. Aus der Ansicht heraus, dass sich der Reichtum phänomenologischer Ansätze weniger in einem unabänderlichen Verfahrensmodus niederschlägt als gerade auch in den zahlreichen internen Kontroversen darüber, was Phänomenologie überhaupt ist bzw. wie sie praktiziert werden soll, wurde für die Darstellung der jüngeren Vergangenheit eine dynamischere Form gewählt. Die These, die sich damit verbindet, ist die folgende: Die wechselhafte Geschichte der Phänomenologie muss – jenseits der jeweiligen geografischen, kulturellen und zeithistorischen Rahmenbedingungen – auch und zunächst als eine Reihe systematischer ›Wendungen‹ nachgezeichnet werden, die teils aufeinander folgten, teils aber auch parallel verliefen. Mit jeder dieser Wendungen (realistische, existenzialistische, hermeneutische, dekonstruktive, responsive, theologische, kosmologische, analytische, naturalisierende) bekommt die Phänomenologie eine jeweils eigene Gestalt bzw. windet sie sich vielfach aus einem rein phänomenologischen Kontext heraus, um neue methodische Wege zu beschreiten. Diese dynamische Konzeption der Entwicklungsgeschichte legt somit das Augenmerk auf die Streitplätze und Kontroversen, aber auch auf die maßgeblichen Impulse, die bei der Genese einflussreicher philosophischer Schulen im 20. Jahrhundert von der Phänomenologie ausgingen. In diesem Sinne zeigt dieser Abschnitt auf, wie sich einflussreiche Strömungen wie etwa die Hermeneutik oder die Dekonstruktion aus der Phänomenologie herausgebildet und sich in kritischer Distanznahme verselbstständigt haben ( B.III). Der nächste Teil ( C) ist begriffsanalytisch ausgerichtet und bietet einen systematischen Zugang zur phänomenologischen Arbeitsweise. Anhand zentraler Grundkonzepte ( C.I) und Methoden ( C.II) wird gleichsam der Werkzeugkasten für phänomenologische Analysen zusammengestellt und anhand einschlägiger Beispiele erläutert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf operativen Begriffen und Verfahren, die in zahlreichen Werken von Phänomenolog:innen Verwendung finden. Da sich auch die späteren Generationen immer wieder auf ihn bezogen haben – ob in Anerkennung oder im Widerspruch –, kommt Edmund Husserls Werk hierbei besonders viel Raum zu; doch auch alternative Konzeptionen und Gegenentwürfe erhalten entsprechende Erwähnung. Besonders umfangreich ist der angewandte Teil ( D). Die anhaltende Relevanz der Phänomenologie wird hier in elf philosophischen und interdisziplinären Wirkfeldern erläutert (Logik und Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie und Metaphysik, Ethik und Normen, Psychologie und Psychiatrie, Anthropologie und Ethnologie, Sozialphilosophie und Soziologie, Politische Philosophie, Feministische Theorie und Gender Studies, Medien- und Kulturwissenschaften, Ästhetik
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und Künste sowie Kognitions- und Lebenswissenschaften). In jedem dieser Wirkfelder geht es einerseits um die genuin phänomenologischen Beiträge auf diesem Gebiet, andererseits aber auch darum, wie in den jeweiligen Disziplinen auf Werkzeuge und Motive phänomenologischer Provenienz rekurriert wurde. Als Hilfsmittel und Einladung zur eigenständigen Erschließung der phänomenologischen Tradition und zur Anwendung ihrer Methoden auf aktuelle Probleme bietet das Handbuch schließlich einen umfangreichen Apparat mit den einschlägigen Primär- und Sekundärquellen ( E). 2. Was ist Phänomenologie? Die Phänomenologie ist eine der wichtigsten Strömungen der modernen Philosophie, die das philosophische Denken im 20. Jahrhundert maßgeblich mitprägte und auch heute noch auf vielfältige Weise fortwirkt. Einflussreiche Denkrichtungen wie Existenzialismus, Strukturalismus, Hermeneutik oder postmoderne Theorien beziehen sich auf die Phänomenologie und wären ohne dieses Fundament nicht zu verstehen. Ferner handelt es sich um eine philosophische Zugangsweise, die gerade auch in außerphilosophischen Kontexten eine erhebliche Anziehungskraft ausübt. Die bewusste Zurückhaltung mit Blick auf metaphysische oder sonstige Vorannahmen, um zunächst der genauen deskriptiven Erfassung der Phänomene und ihrer erfahrungsmäßigen Zusammenhänge den Vorrang einzuräumen, ist sicherlich ein Grund dafür, dass gegenwärtig in den unterschiedlichsten Wissensfeldern auf die Phänomenologie zurückgekommen wird – von den oben genannten Bereichen bis hin zu Pädagogik und Therapeutik. Diese erstaunlich diversen Ansatzpunkte und Anwendungsgebiete der Phänomenologie zeugen von ihrer Vielseitigkeit und ihrem möglichen Praxisbezug und belegen, dass sie heute mehr denn je – in einem Theoriekontext, in dem es an alternativen methodischen Ansätzen keineswegs mangelt – eine beharrliche Attraktivität aufweist. Freilich hat dieser Erfolg auch etwas Zweischneidiges: Dass der Ausdruck ›Phänomenologie‹ heute in den unterschiedlichsten Zusammenhängen Verwen dung findet, und zwar weit über die Philosophie hinaus, sorgt für eine unübersichtliche Gemengelage. In Anbetracht dieser unspezifischen und oft verwirrend widersprüchlichen Verwendungsweisen ist eine Begriffsklärung vonnöten, zu der dieses Handbuch einen Beitrag leisten soll. Dabei ist ›Phänomenologie‹ freilich kein eingetragenes Markenzeichen und so ähnelt die gegenwärtige Situation zuweilen derjenigen des 19. Jahrhunderts: Wenn in der Philosophie des Geistes oder in Teilen der Soziologie von ›Phänomenologie‹ die Rede ist, dann meist im Sinne einer Hilfsdisziplin, die sich einer detaillierten Beschreibung erstpersonal zugänglicher Sachverhalte verschreibt, und zwar zunächst unabhängig von jeder kausalen Erklärung. Diesem allgemeinen Verständnis entsprechen die zahlreichen Begründungsversuche einer neuen Wissenschaft, die unter dem Namen
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›Phänomenologie‹ im 19. Jahrhundert kursierten und die vor allem anstrebten, eine propädeutische Disziplin für die positiven Wissenschaften wie auch für die Philosophie zu entwickeln. Während diese Art von Phänomenologie eher dem antiken Motto des ›Aufstellens der Phänomene‹ (tithenai ta phainomena) gleicht, einer behelfsmäßigen Vorstufe also, um dann mit der eigentlichen Erklärung der Naturerscheinungen zu beginnen, geht es der Phänomenologie als philosophischer Tradition darum, den Kontakt zum ›Boden der Erscheinungen‹ stets beizubehalten. Um diese Tradition und den damit verbundenen Ansatz geht es in diesem Handbuch. Wissenschaftstheoretisch zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie sich nicht nur als vorläufige Propädeutik, sondern als philosophische Aufklärungs- und Begründungsinstanz profiliert, die aus dem Rückbezug auf die Anschauung ihre Rechtfertigung zieht. Ferner ist sie dadurch bestimmt, dass sie jedes Phänomen in seiner Wechselbeziehung mit subjektiven Erfahrungsakten erforscht, die das jeweilige Phänomen originär zur Anschauung bringen. Phänomenologie kann daher als eine Philosophie der Erfahrung bezeichnet werden, die Erfahrungsgegenstände und Erfahrungsakte durch Aufweis ihrer jeweiligen strukturellen Unterschiede sowie ihrer korrelativen Wechselverhältnisse beschreibend erfasst und auslegt. Diese Grundorientierungen sind zu berücksichtigen, wenn es darum geht, dieses historisch wie systematisch umrissene Verständnis der Phänomenologie, die mit dem Denkansatz Husserls und seiner Nachfolger:innen mit der Phänomenologie tout court identifiziert wird, von anderen, älteren wie neueren Verwendungen dieses Ausdrucks zu unterscheiden. Gern bemüht wird er etwa in der gegenwärtigen dynamischen Psychologie oder in den Consciousness Studies. Auch in Forschungsprogrammen, die phänomenologische Grundannahmen stark modifizieren oder in explizitem Gegensatz zu ihnen stehen, wird der Titel ›Phänomenologie‹ in Anschlag gebracht – so etwa bei der ›Neurophänomenologie‹ (Francisco Varela), die Bewusstseinszustände primär zu dem Zweck analysiert, um sie mit neurophysiologisch gewonnenen Daten zu korrelieren, oder bei der ›Heterophänomenologie‹ (Daniel Dennett), die konsequent eine Dritte-Person-Perspektive einnimmt. In der neueren Philosophie des Geistes wird der Begriff ›Phänomenologie‹ ferner zur Charakterisierung erstpersonaler Empfindungsqualitäten des Sehens, Hörens usw. verwendet. Jede Sinneserfahrung hat demzufolge eine eigene ›Phänomenologie‹, also eine Art und Weise des Erlebtwerdens (what it is like). Da sich intentionale Erlebnisse wie Wahrnehmung, Erinnerung oder Imagination, wie sie von der Phänomenologie (verstanden als spezifischer philosophischer Ansatz) konstitutionsanalytisch untersucht werden, aber eine komplexe Struktur aufweisen und sich nicht auf Empfindungsqualitäten reduzieren lassen, ist diese Begriffsverwendung irreführend. Anstatt von der ›Phänomenologie mentaler Zustände‹ zu sprechen, wäre es sinnvoller, diese Dimension als ›phänomenale Charakteristik‹ oder ›subjektive Erlebnisqualität‹ zu bezeichnen. Hiermit zusammenhängend ist zu beachten, dass die häufig anzutreffende Attribution ›phänomenologisch‹ für introspektive Verfahren und durch sie gewonnene Be-
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funde im Kontext der Epistemologie und Psychologie ebenfalls zu unspezifisch ist, da sich die philosophische Phänomenologie gerade nicht für individuell variierende subjektive Erlebnisinhalte interessiert, sondern für die allgemeinen Strukturen von Erfahrung als deren Ermöglichungsbedingungen. Zwar setzt die phänomenologische Beschreibung mit der Perspektive der ersten Person ein, zielt aber auf intersubjektive Validierbarkeit und objektive Gültigkeit. So gehört es beispielsweise notwendig zu jeder Erfahrung eines dreidimensionalen Objekts, dass dieses eine wahrgenommene Vorder- und eine nicht wahrnehmbare Rückseite hat, wobei diese Rückseite sichtbar wird, wenn sich der Gegenstand dreht oder man sich um ihn herumbewegt. Visuelle Objekte zeigen sich nie von allen Seiten gleichzeitig, sondern immer nur perspektivisch ›abgeschattet‹, wie es bei Husserl heißt. Diese Wesensnotwendigkeit kann durch einen erstpersonalen Zugang erkannt werden, ist aber nicht auf die subjektive Wahrnehmungsweise einer spezifischen Person reduzierbar, sondern gilt als allgemeine Eigenschaft einer jeden Erscheinung von dreidimensionalen Gegenständen und korrelativ dazu als allgemeine Bestimmung eines jeden Wahrnehmungsvorgangs. In Anbetracht dieser zuweilen widersprüchlichen Auslegungen ist immer wieder moniert worden, wie schwierig es für Außenstehende, aber auch für interessierte Lai:innen bzw. für Anfänger:innen sei, sich selbst ein Bild zu machen und einen Überblick über die wichtigsten Begriffe und Verfahren der Phänomenologie zu verschaffen, andererseits jedoch auch ein Verständnis für ihre historischen Entwicklungen, Verwerfungen und internen Auseinandersetzungen auszubilden. Denn tatsächlich liegt ein Reiz der phänomenologischen Herangehensweise darin, dass sie durch ihre Orientierung an der Erfahrung und ihren Gegenständen ergebnisoffen bleibt. Ihre immer wieder neu ansetzenden Bestimmungsversuche stellen somit selbst eine lebendige Bewegung dar, die in der Annäherung an die jeweiligen Objekte und Themen immer auch mitverhandelt, worin der Sinn der Phänomenologie selbst liegt. 3. Hintergründe und Orientierungen Im historischen Sinne kann die Phänomenologie als philosophische Denkweise betrachtet werden, die von Edmund Husserl um 1900 maßgeblich geprägt und von seinen Nachfolger:innen, den Mitgliedern des Göttinger und des Münchener Kreises, den Schüler:innen in Freiburg und sodann zunehmend auch international, in Mittel- und Osteuropa sowie in Frankreich etwa durch Figuren wie Maurice Merleau-Ponty oder Jean-Paul Sartre, fortgeführt wurde. Interessierte, die aus unterschiedlichen Ländern nach Deutschland kamen, um Phänomenologie zu studieren (unter anderen William Ernest Hocking, Alexandre Koyré, Hajime Tanabe, Dorion Cairns, Marvin Farber, Emmanuel Levinas und José Ortega y Gasset), sorgten weiterhin dafür, dass die phänomenologische Tradition auch in anderen Regionen, speziell in Nordamerika, Ostasien, Spanien und Lateinameri-
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ka weitergeführt wurde. Von Anfang an verstand sich die Phänomenologie dabei nicht als ›Schule‹, die der festgefügten Agenda eines Begründers verschrieben ist, sondern als philosophische Forschungsgemeinschaft, die zwar die prägenden Impulse Husserls aufnahm, diese aber in verschiedene Richtungen wendete. Einen frühen Kristallisationspunkt für die Phänomenologie als intellektuelle Bewegung stellt das ab 1913 herausgegebene Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung dar, das Husserl mit Alexander Pfänder, Moritz Geiger, Max Scheler und Adolf Reinach herausgab. Ein Jahrzehnt nach der Einstellung dieses editorischen Projekts gründete Marvin Farber 1940 im Namen der »International Phenomenological Society« die Zeitschrift Philosophy and Phenomenological Research, wodurch er gemeinsam mit zahlreichen Vertretern der frühen phänomenologischen Bewegung (unter anderen Aron Gurwitsch, Alfred Schütz, Felix und Fritz Kaufmann, Gerhart Husserl und Herbert Spiegelberg), die nach 1933 aus Europa emigrieren mussten, das Programm des Jahrbuchs in Nordamerika unter neuen historischen Bedingungen fortsetzte. Wie im vorliegenden Handbuch in den diversen Kapiteln zu den Wendungen nachzulesen ist ( B.III), findet die Rezeption der Phänomenologie nach dem Zweiten Weltkrieg auch wieder verstärkt in Europa sowie in anderen Teilen der Welt statt, was sich in Neugründungen von Forschungsinstitutionen, -organen und -zeitschriften niederschlägt. Heute gibt es weltweit über 120 phänomenologische Fachgesellschaften und ebenso viele spezialisierte Publikationsorgane. Der Nachlass Husserls wird am Husserl-Archiv in Leuven (Belgien) in enger Zusammenarbeit mit den Archiven in Köln, Freiburg, Paris und New York weiterhin erschlossen und mittlerweile auch digital zugänglich gemacht. Darüber hinaus gibt es eine wachsende Zahl von Forschungs- und Editionsinstitutionen, die neue Schwerpunkte bearbeiten, Werkausgaben vorbereiten und bislang unzugängliche Bestände der phänomenologischen Tradition einsehbar machen. Zur ersten Kategorie gehören etwa das »Center for Subjectivity Research« in Kopenhagen, das »Center for Advanced Research in Phenomenology« in Memphis oder das »World Phenomenology Institute« in Bridgewater. Zur zweiten können das »Michel-Henry-Archiv« (Beirut und jetzt Louvain-la-Neuve), das »Bernhard-Waldenfels-Archiv« in Freiburg, das »Marc-Richir-Archiv« oder das »Eugen-Fink-Zentrum« (beide in Wuppertal) gerechnet werden. Ein Dachverband (OPO – »Organization of Phenomenological Organizations«) hat sich zudem zum Ziel gesetzt, die diversen Einzelverbände miteinander zu vernetzen. Mit den institutionell unabhängigen »Open Commons of Phenomenology« werden schließlich neue Wege der digitalen Zusammenarbeit beschritten. Im systematischen Sinne steht Phänomenologie für einen bestimmten Ansatz in der Philosophie, der sich dadurch auszeichnet, dass er die ›Phänomene‹, also die Bewusstseinserscheinungen, beschreibend zur Geltung bringen und auf ihre allgemeinen Strukturen und Konstitutionsbedingungen hin analysieren will ( C. II.1). Von Husserl stammt die programmatische Aufforderung, die Sachen so, wie sie sich uns im Bewusstsein zeigen, in ihrem je spezifischen Sinn, ernst zu neh-
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men und als die eigentliche Evidenzquelle für philosophische Reflexionen anzuerkennen. Phänomenolog:innen wollen sich »nicht mit ›bloßen Worten‹ […] zufrieden geben«, sondern »auf die ›Sachen selbst‹ zurückgehen« (Hua XIX, 10). Jeder Begriff, jedes Urteil und jede Theorie sollen in ihrer eigenen, erfüllten oder erfüllbaren Anschauung belebt werden. Ein wichtiges Motiv ist dabei die ›Urteilsenthaltung‹, die sich im Terminus Epoché ( C.II.2) ausdrückt: Obwohl Dinge in der Regel immer in bestimmte Bedeutungs- und Handlungszusammenhänge eingebettet sind, die gleichsam den Rahmen dafür abgeben, was wir in ihnen sehen und wozu wir sie verwenden, sieht der phänomenologische Zugang vor, dass wir erst einmal von unseren gängigen Kategorisierungen und Bewertungen absehen. Eingedenk der Tatsache, dass wir den Objekten oder Sachverhalten nie wertneutral begegnen, sondern jeder Zugang immer schon durch ›Vor-Urteile‹ belastet ist, verpflichtet sich die Phänomenologie einer methodischen Urteilsenthaltung, um die Dinge in ihrer jeweiligen Erscheinungsweise freizulegen. »Alle Erklärung muss fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten«: Der Satz stammt von Wittgenstein (1951/2009, § 109), könnte aber genauso gut von Husserl sein. Die Phänomene in ihrer jeweiligen Gegebenheitsweise deskriptiv einzuholen, steht im phänomenologischen Pflichtenheft tatsächlich an erster Stelle, was freilich nicht bedeutet, dass diese Beschreibung ein Selbstzweck wäre, denn ansonsten käme man über eine »Bilderbuchphänomenologie« (Scheler 1913/1916, 11) tatsächlich nicht hinaus. Beschreiben und Verstehen korrelieren miteinander: Beschreibungen haben einen explizierenden Wert; je besser man etwas beschreiben kann, desto besser hat man es verstanden und umgekehrt. Im Übergang von der natürlichen zur phänomenologischen Einstellung ( C. II.2) wird nicht nur der Gegenstand von seinen praktischen und instrumentellen Verflechtungen befreit, es findet zudem ein Rückbezug auf die Erfahrung selbst statt, die den Anfangs- und Zielpunkt jeder phänomenologischen Untersuchung darstellt. Dieser erfahrungsbasierte Ansatz steht in einer Spannung zu unterschiedlichen Spielarten des philosophischen Denkens, wodurch sich die Konturen der Phänomenologie schärfen lassen. Von einer hermeneutisch-philologischen Interpretation der Tradition hebt er sich beispielsweise dadurch ab, dass der Ausgang nicht von schriftlichen Überlieferungen und deren intertextuellen Bezügen, sondern von der jeder Person zugänglichen unmittelbaren subjektiven Erfahrung genommen wird, die dann auf ihre Wesensgesetzlichkeiten und somit intersubjektiven Gültigkeiten hin untersucht wird. Die Phänomenologie ist eine lebendige Bewegung auch deshalb, weil sie, wenn sie sich durchaus von historischen Thesen leiten lassen kann, in ihrer Auslegung jedoch nicht historisch ausgerichtet, sondern an der Wiedergewinnung der leibhaftigen Probleme, der ›Sachen selbst‹ interessiert ist. Von rationalistischen Epistemologien grenzt sich die Phänomenologie des Weiteren insofern ab, als sie sich unvoreingenommen den vielfältigen Bewusstseinssphären widmet, ohne einen historisch geprägten Verstandes- oder Vernunftbegriff für das Wesentliche zu erklären. Von der Semiotik und anderen Theorien der Symbolisierung unterscheidet sich die Phänomenolo-
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gie dahin gehend, dass sie den Gedanken ablehnt, die Wirklichkeit erschiene uns immer nur im Spiegel der Zeichen: Laut Husserl sind es, wie bereits erwähnt, die erscheinenden Dinge selbst, nicht ihre symbolisch kodierten Darstellungen, um die es geht. Von anthropologischen Theorien grenzt sie sich insofern ab, als kein ›Wesen‹ des Menschlichen den Analysen zugrunde gelegt wird: Beschrieben werden Strukturen, die für sämtliche bewusstseinsfähige Wesen gelten (hieran knüpfen neuerdings Auseinandersetzungen mit dem Geist der Tiere an). Zu normativen Theorien geht die Phänomenologie wiederum auf Abstand, insoweit sie zwar nicht die Bewertung von Handlungen ablehnt, diese aber zunächst einmal selbst als ›Phänomene‹ in einem jeweiligen Sinnkontext beschrieben wissen will. Auch Werte erscheinen – auf einer viel grundlegenderen Ebene als in den expliziten Leitorientierungen eines Kollektivs – als eingebettet in implizite Handlungsnormen, Sprech- oder Denkmuster. Von triebhaften Regungen und leiblichen Empfindungen, affektiven Dispositionen und emotionalen Äußerungen, über die soziale und kulturelle Konstitution der Lebenswelt bis hin zu symbolischen Artikulationsformen und abstraktem Denken will die Phänomenologie demnach idealerweise eine umfassende Beschreibung des gesamten Erlebnisspektrums erarbeiten. Betrachtet man die gesamte Entwicklung der Phänomenologie bis heute mit Blick auf übergreifende Grundkonzepte, so ist der Begriff der Intentionalität ( C.I.2) ein zentrales verbindendes Element, dem sich die meisten Phänomenolog:innen verpflichtet sehen und das sie in unterschiedlichsten Bereichen als analytisches Werkzeug einsetzen. Intentionalität steht zunächst ganz allgemein für die Tatsache, dass Bewusstsein ein ›Bewusstsein von etwas‹ ist. Damit ist auch ausgedrückt, dass sich Bewusstseinszustände nie in sich selbst erschöpfen, sondern stets auf etwas gehen, das über die jeweilige Gegebenheitsweise hinausweist. Schon bei Husserl weitet sich die Idee auf viele Bewusstseinssphären aus – so unterscheidet er mehrere Klassen intentionaler Akte mit ihren jeweiligen Gegenständen, d. h. in ihrer konkreten Korrelation ( C.I.1), etwa Wahrnehmen– Wahrgenommenes, Fühlen–Gefühltes, Fantasieren–Fantasiertes, Wollen–Gewolltes usw. An ihn anknüpfende Denker:innen bauen diese Beschreibungen in spezifischen Hinsichten aus: So bestimmt etwa Edith Stein die Einfühlung als genuinen Modus intentionaler Bezugnahme und studiert ihre intersubjektiven Korrelate, Max Scheler differenziert Formen der Sympathie und die in diesen gegebenen Werteigenschaften (im Nachfühlen, Mitfühlen oder sich mit den anderen eins Fühlen), Maurice Merleau-Ponty widmet sich dem Leib als Medium des Weltbezugs, dem leiblichen ›Ich kann‹ und seiner ›motorischen Intentionalität‹, Paul Ricœur entwickelt eine Theorie des Willentlichen und Unwillentlichen, Jean-Paul Sartre intensiviert die Beschäftigung mit der Intentionalität der Fantasie und des Bildbewusstseins, und so ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele anführen.
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4. Wider die Orthodoxie Obwohl Husserl der Phänomenologie zweifellos ihre prägnante Gestalt verliehen und der phänomenologischen Forschung wegweisende methodische Richtlinien gegeben hat, haben sich im Grunde alle wichtigen nachfolgenden Phänomenolog:innen auf die eine oder andere Weise kritisch mit seinem transzendental phänomenologischen Programm auseinandergesetzt, sich davon distanziert und ihre eigenen Ansätze entwickelt. In diesem Sinne spricht Ricœur von der Geschichte der Phänomenologie bekanntermaßen als einer Geschichte »husserlscher Häresien«, die von den inneren Spannungen im Werk Husserls abzweigen, welches aufgrund seiner Komplexität keine lineare Orthodoxie zulasse (Ricœur 1953/2004, 182). Gleichwohl gibt es eine kontinuierliche Sensibilität phänomenologischer Denker:innen für Fragen der Methode, der kritischen Selbstvergewisserung über die Grundlagen der eigenen Herangehensweise, das Bestreben nach einer vorurteilslosen Haltung den zu untersuchenden Phänomenen gegenüber, aber auch bestimmte thematische Schwerpunkte (wie Intentionalität, Korrelation, Affektivität, Wahrnehmung, Leiblichkeit, Sozialität, Lebenswelt, Transzendentalität und vieles mehr), die immer wieder aufs Neue bearbeitet werden. Hierin zeigt sich ein sich durchhaltender Stil der Phänomenologie als Forschungshabitus und als Denkkollektiv. Von ihrem methodischen Selbstverständnis her impliziert die Phänomeno logie als Praxis eine fortwährende kritische Reflexion, die nichts – und insbeson dere nicht ihre eigenen Erkenntnisse – für gegeben und selbstverständlich hält. Aufgrund der perspektivischen Natur unseres Weltzugangs ist die Annäherung an die Dinge immer nur vorläufig und approximativ. Somit erzeugt die Phänomenologie auch kein festes System von Wahrheiten, sondern stellt als »Arbeitsphilosophie« (Hua VI, 104) eine dynamische Bewegung der Annäherung an das Wesentliche von Erfahrung dar. Auf dem Spiel steht dabei auch eine veränderte Einstellung den Dingen gegenüber: Diese werden nun in ihrem ›Wie‹ analysiert. Dies entspricht der Einübung eines spezifischen Blicks, auf das sich die verschiedenen Autor:innen immer wieder berufen haben. Die gesamte Phänomenologie – so Merleau-Ponty – bestehe darin, neu zu lernen, die Welt zu sehen (réapprendre à voir le monde). Hier tun sich des Weiteren Übergänge zur Ästhetik auf: Schon Husserl äußerte Hugo von Hofmannsthal gegenüber die Vermutung, dass sich phänomenologische und ästhetische Blickübungen darin ähnlich seien, dass sie funktionale Geltungszusammenhänge zugunsten eines Interesses an den spezifischen Darbietungsweisen der Dinge zurückstellen (Hua Dok III/7, 133 ff.). Die phänomenologische Haltung ist grundsätzlich von den Motiven der Perspektivität, Pluralität und Unabschließbarkeit gekennzeichnet, weshalb es sinnvoll ist, auch innerhalb der Phänomenologie nach Komplementaritäten in den Herangehensweisen zu suchen. So gibt es schon bei Husserl eine Reihe von unterschiedlichen Methoden (statische und genetische, empirisch-deskriptive und eidetische, empirisch-faktische und transzendentale usw.), die sich im Laufe seines
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Denkens herausbilden, einander dabei aber nicht wie auf einer Stufenleiter ablösen ( C.II). Vielmehr ergänzen sie sich gegenseitig und eröffnen in Kombination ein differenziertes Verständnis der infrage stehenden Probleme. Und bei allen Absetzungsbestrebungen und aller gezielten Kritik ergänzen sich auch die unterschiedlich gelagerten phänomenologischen Ansätze verschiedener Autor:innen, etwa Husserls häufig als allzu intellektualistisch, essenzialistisch oder theoretizistisch apostrophiertes Denken und die Betonung des Historischen, Hermeneutischen und Praktischen bei Heidegger. Gegen Husserls Fokussierung auf Gegenständlichkeit und Objektivität betont Merleau-Ponty wiederum das Eingelassensein in Wahrnehmungsfelder und in ein Milieu der Sinnhaftigkeit. Entsprechend erscheint der Leib hier auch eher als Medium denn als Ding, weil er immer nur am Rand des Aufmerksamkeitsfeldes präsent ist, nie aber selbst frontal in den Blick genommen werden kann ( C.I.9). Gegen Husserls vermeintlichen Cartesianismus, dem angelastet wird, aus der originären Zugänglichkeit des Ich so etwas wie Intersubjektivität und das Alter Ego ableiten zu wollen, betont etwa Levinas, dass die Begegnung mit dem Anderen dem eigenen Selbstbezug vorausgeht, womit sich Perspektiven einer Ethik der Alterität eröffnen, die selbst wiederum in den Kontext einer Phänomenologie der Fremderfahrungen gehört ( D.III). 5. Phänomenologie und/als Wissenschaft Das Diktum ›Zu den Sachen selbst‹ ist in erster Linie als Kritik am Szientismus zu verstehen und damit einhergehend als Forderung, den ursprünglichen Weltbezug offenzulegen, der vor aller wissenschaftlichen Objektivierung liegt und jede wissenschaftliche Praxis mehr oder weniger explizit leitet. Diese natürliche Welt der alltäglichen Erfahrung ist der Boden, von dem alle Erkenntnisinteressen und wissenschaftlichen Thematisierungen notwendig ihren Ausgang nehmen und ihren Sinn erhalten ( C.I.13). Wissenschaft ist so gesehen nie voraussetzungslos, sondern muss auf ihre lebensweltlichen Bedingungen hin freigelegt und nach ihren Begründungsansprüchen befragt werden. Unkritische Übernahmen wissenschaftlicher Aussagen oder eine Reduktion des Erscheinenden auf objektivierbare Prozesse sind für Husserl einer ontologischen Naivität geschuldet. Wissen von der Welt, einschließlich das wissenschaftliche, wird stets von Erkenntnissubjekten gewonnen, die aus ihrer jeweiligen Perspektive die Welt betrachten und die Resultate ihrer Forschungen interpretieren. Die vorwissenschaftliche Welt der Doxa und die wissenschaftliche Welt der Episteme sind demnach eng miteinander verflochten – diese Verflochtenheit näher und an konkreten Sinnvollzügen auszuweisen, ist eine wesentliche Aufgabe der Phänomenologie. Parallel zu dieser Kritik am Szientismus und der Gefahr, die ›Substruktionen‹ wissenschaftlicher Modellbildungen als die ›eigentliche‹ oder ›wahre‹ Welt hinter der bloß subjektrelativen alltäglichen Erfahrungswelt zu postulieren, interessieren sich viele Phänomenolog:innen auch für den Fortschritt der Wissenschaften
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und die hieraus erwachsenden Herausforderungen an die Philosophie. Daher ist es nicht verwunderlich, dass einerseits sich das Themenspektrum der phänomenologischen Forschung im Laufe der Zeit erweitert und ausdifferenziert und andererseits eine zunehmende wissenschaftstheoretische Reflexion stattfindet. So gibt es heute zahlreiche phänomenologische Studien beispielsweise zur Digitalisierung und Virtualisierung der Lebenswelt, zur Modifizierung des Leibkörpers durch technische und medizinische Möglichkeiten oder zur Transformation sozialer Bezüge durch neue kommunikative und mediale Instanzen sowie zum Verhältnis der Phänomenologie zu wissenschaftlichen Bereichen wie etwa der Kognitionswissenschaft, Neurowissenschaft, Ethnologie oder Linguistik. Neben dieser Bestimmung des Verhältnisses zwischen Phänomenologie und den empirischen Wissenschaften ist zu betonen, dass Husserl die Phänomenologie selbst als »strenge Wissenschaft« (Hua XXV) verstanden wissen wollte, allerdings eben nicht als Tatsachenwissenschaft, sondern als Wesenswissenschaft des Bewusstseins. Programmatisch formuliert er: Phänomenologie bezeichnet eine an der Jahrhundertwende in der Philosophie zum Durchbruch gekommene neuartige deskriptive Methode und eine aus ihr hervorgegangene apriorische Wissenschaft, welche dazu bestimmt ist, das prinzipielle Organon für eine streng wissenschaftliche Philosophie zu liefern und in konsequenter Auswirkung eine methodische Reform aller Wissenschaften zu ermöglichen. (Hua IX, 277)
Auch andere Hauptvertreter:innen der frühen phänomenologischen Bewegung teilen mit Husserl die Überzeugung, dass »der Phänomenologie ein unbegrenztes Feld streng wissenschaftlicher und höchst folgenreicher Forschung eigentümlich ist«, das sowohl »für die Philosophie selbst als auch für alle anderen Wissenschaften fruchtbar gemacht werden muß.« (Husserl et al. 1913, vi). Obwohl nicht alle Phänomenolog:innen dieses fundationalistische Programm teilen, bleiben nach wie vor bei zahlreichen phänomenologischen Ansätzen das Interesse für inter- und transdisziplinäre Begriffsarbeit lebendig, sei es im Bereich der Psychopathologie, der Emotionsforschung, der medical humanities, der Mensch-Maschine-Interaktionen, der wearable technologies, aber auch der Ökologie oder der Mensch-Tier-Beziehungen. Für Theorien der Praxis spielt der Bereich des verkörperten oder impliziten Wissens eine große Rolle. Darüber hinaus werfen die phänomenologischen Studien zu Normalität wichtige Erträge für sozialwissenschaftliche Reflexionen über gesellschaftliche Normen ab. Die später im Handbuch erörterten Wirkfelder ( D) belegen die gegenwärtig äußerst regen und vielfältigen Wechselbewegungen zwischen phänomenologischen und einzelwissenschaftlichen Forschungen.
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6. Metaphysik und Methodik Besonders der Dialog mit den empirisch verfahrenden Wissenschaften markiert gleichwohl auch Differenzen. Die Phänomenologie gibt sich, trotz ihrer häufig sehr kleinteiligen Beschreibungen, nicht mit beobachtbaren Kontingenzen oder individuellen Bewusstseinsinhalten zufrieden (ein Vorwurf, der immer wieder an sie gemacht wird), sondern sucht nach allgemeinen – genauer: eidetischen ( C. II.3) – Strukturen der Erfahrung. Während sie einerseits von empirisch-induktiven Ansätzen abzugrenzen ist, hebt sie sich innerhalb der Philosophie andererseits wiederum von logizistisch-deduktiven Methoden ab. Gegenüber manchen analytischen Richtungen kommt es der Phänomenologie nicht vornehmlich auf die Analyse der Sprache, die Formalisierung von Argumenten und deren Vergleich oder Verknüpfung mit Mitteln der Logik an. Der Anspruch besteht vielmehr darin, die Erfahrungsgrundlagen von Propositionen und logischen Operatoren zu erkunden, und zwar bis in die basalen Vorgänge der rezeptiven Sinnesschichten hinein. Husserls Ansatz in seiner transzendentalen Vertiefung, die er 1913 mit dem ersten Band der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie der Öffentlichkeit vorstellte, zeichnet ferner die Konturen einer phänomenologischen Kritik der Vernunft vor, die Rationalität aus der Erfahrung erhellt und jenseits von traditionellen Dichotomien, wie z. B. diejenigen zwischen Verstand und Sinnlichkeit, Vernunft und Gefühl oder Geist und Körper, neu bestimmt. Methodisch versucht Husserl anhand der Epoché – also der Ausschaltung des natürlichen Glaubens an das unabhängige Sein der Welt und der Einklammerung sämtlicher Meinungen und Theorien über sie – sowie durch die unterschiedlichen Varianten der Reduktion ( C.II.4) – also dem aktiven Rückgriff auf die Konstitutionsleistungen des Bewusstseins –, diese Sphäre des Erscheinens zu eröffnen und zu erkunden. Ob sich Phänomenolog:innen im Gefolge Husserls dessen transzendental philosophischem Verständnis verpflichtet sehen oder nicht: Ein Minimalkonsens scheint jedenfalls auch in den folgenden Generationen darin zu bestehen, dass phänomenologisches Arbeiten zunächst einmal nicht über rationalistische Rechtfertigungsschlaufen verfährt. Neben der Einklammerung alltäglicher Geltungen werden auch bestimmte Begründungsverhältnisse außer Kraft gesetzt. Ganz allgemein lässt sich festhalten, dass es der Phänomenologie nicht um eine Klärung von Kausalfragen geht (›Auf welche Ursache geht das Phänomen p zurück?‹), der sich die Naturwissenschaften verschreiben, sondern um eine Klärung von Sinnfragen (›Worin liegt die Bedeutung des Phänomens p?‹). Gerade weil sie die Sinnzusammenhänge von Erfahrungstatsachen freilegen will, sieht eine phänomenologische Herangehensweise gezielt von natürlichen bzw. alltäglichen Auffassungen ab: Als was mir etwas landläufig gilt, tritt zurück zugunsten einer Analyse der Art und Weise, wie uns etwas jeweils erscheint. Ein und derselbe Gegenstand kann dabei wahrgenommen, erinnert, herbeigesehnt, gehasst oder verworfen werden, ohne dass die jeweiligen Gegebenheitsweisen aus den Eigenschaften des
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Gegenstandes selbst gänzlich abgeleitet werden könnten. Die jeweiligen Gegebenheitsweisen ergeben sich vielmehr daraus, dass man auf Gegenstände ganz unterschiedlich bezogen sein kann. Gerade in der differenzierenden Beschreibung dieser Bezugsweisen besteht das Kerngeschäft der Phänomenologie. Insofern sich die Phänomenologie dem Wie der Erscheinung zuwendet, klammert sie die Frage nach dem Was im Sinne einer ontologischen Bestimmung zunächst aus. Gegenüber einem metaphysischen Realismus hebt sie die Konstitutionsleistung des Bewusstseins hervor, ohne die ein Zugang zur Welt nicht möglich wäre. Wird sie hierdurch aber selbst zu einem Idealismus, wie mitunter der Vorwurf vonseiten aktueller neorealistischer Positionen in der Metaphysik lautet ( D.II)? Gewiss nicht im herkömmlichen Sinne, da Konstitution ( C.I.4) nicht gleichbedeutend mit Konstruktion ist. Die Phänomenologie fragt nicht, wie eine präexistente, bewusstseinsexterne Realität von psychischen Wesen subjektiv wahrgenommen wird, sondern was es für eine Welt überhaupt bedeutet, als real und bewusstseinsunabhängig erfahren werden zu können. Sie fragt also nach den Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Erscheinungsweise, d. h. nach der Konstitution des Wie der Erscheinung. Wäre die Welt bloß eine Erzeugung unseres Bewusstseins, müsste sie diesem Bewusstsein gleichsam verfügbar und für es transparent sein. Doch weist die phänomenologische Beschreibung gerade die Unverfügbarkeiten in der Erfahrung und die Transzendenz der Welt sowie des Anderen auf. Für Husserl sind es beispielsweise Enttäuschungserfahrungen und das ›Widerstreitsbewusstsein‹, die zu einer genauen Deskription und einer Analyse der Bewusstseinsvorgänge auf ihren unterschiedlichen Schichten motivieren. Für Heidegger sind es die Störungen in pragmatischen Vollzügen, die die Reflexion herausfordern. Bei Levinas ist es das Gesicht des Anderen, das einen unhintergehbaren ethischen Impuls setzt und uns in unserer Verantwortlichkeit in die Pflicht nimmt. All diese Erfahrungen von Alterität und Widerstand sind Anzeichen dafür, dass wir die Welt nicht hervorbringen, sondern in sie als verleiblichte und soziale Wesen eingelassen sind und den Weltphänomenen ihren Sinn in immer neuen, und teils auch konfligierenden, Entwürfen und Deutungen abringen müssen. 7. Wozu Phänomenologie heute? – Ein Ausblick Mit Blick auf die teils recht versprengten Einsatzpunkte der Phänomenologie stellt ein Phänomenologie-Handbuch bereits seit Längerem ein Desiderat dar. Was das avisierte Zielpublikum betrifft, ist zu sagen, dass der vorliegende Band zunächst einmal für Studienanfänger:innen sowie allgemein interessierte Lesende ohne besondere Vorkenntnisse gedacht ist und die diversen sachlichen Zusammenhänge in didaktischer Aufarbeitung erschließen soll. Wissen schaft ler:innen und Forschende sollen sich des Handbuchs als Nachschlagewerk aber ebenso bedienen können, um sich über einzelne Probleme und Diskussions
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kontexte zu informieren. Die verschiedenen Abschnitte bieten daher einen Überblick über einschlägige Quellen und Sekundärliteratur zur weiteren Vertiefung. Schließlich richtet sich das Handbuch an Praktiker:innen, Therapeut:innen oder Pädagog:innen, die gegebenenfalls bereits mit phänomenologischen Methoden arbeiten und ihr eigenes Verständnis hiervon kritisch weiterentwickeln möchten. Gegen eine vage Ausweitung des Ausdrucks ›Phänomenologie‹ ebenso wie gegen Vereinseitigungen und Verkürzungen ist das Handbuch in seiner Anlage einer Aufarbeitung phänomenologischer Grundmotive verpflichtet, bei der der Geist der kritischen Auseinandersetzung leitend ist. Anstelle einer Privilegierung bestimmter Personen, Themen oder Rezeptionskontexte ist es den Herausgebern ein besonderes Anliegen, der Phänomenologie in ihrem internen Pluralismus, in ihren teils widerstreitenden Genealogien sowie in ihren vielfältigen Verästelungen gerecht zu werden. Gerade darin bietet das Handbuch, so unsere Über zeugung, auch Ressourcen für mögliche kritische Interventionen im Gegenwartsdiskurs. In Anbetracht immer komplexerer Modellierungsversuche der Wirklichkeit tritt die Phänomenologie, zu Husserls Zeiten wie heute, zunächst mit dem – von Theodor W. Adorno in einer paradoxen Formel festgehaltenen – Anspruch auf, eine »theoriefreie Theorie« sein zu wollen (Adorno 1956/1971, 131). Tatsächlich stellte sich Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Hua VI) erst einmal als Kritik der geometrisierend-mathematisierenden Rasterung des Realen dar, deren mittelbarer Anschauungsverlust eine fundamentalere Sinnkrise nach sich zieht. Ein Jahrhundert später sieht die Lage etwas anders aus, und Husserls emphatisches Plädoyer klingt hier und da obsolet, doch in der Sache bleiben – beispielsweise angesichts einer immer stärkeren Digitalisierung und Automatisierung lebensweltlicher Abläufe – viele Argumente triftig. Das immer wieder bemühte Motiv von Kritik und Krise legt jedenfalls nahe, dass es sich bei der Phänomenologie um eine Philosophie mit erhöhtem Krisenbewusstsein und zeitdiagnostischem Potenzial handelt, die ihre eigenen methodischen Grundvoraussetzungen und Werkzeuge stets kritisch mitreflektiert. In ihrer Betonung alltäglicher Zugänglichkeit liegt ferner eine Tendenz, die als Kritik an monopolisierendem Expert:innenwissen und an Hyperspezialisierung gedeutet werden darf. Ob das Primat dabei der Anschauung gegeben wird wie bei Husserl, der praktischen Sorge wie bei Heidegger oder dem leibmotorischen Zur-Welt-Sein wie bei Merleau-Ponty (die Liste ließe sich unschwer fortsetzen) – stets handelt es sich um ein Primat der Vollzüge, bei denen die Relationen vor den Relata liegen. Dieser Vorrang der Bezogenheit, mit dem man das Prinzip der Korrelation ( C.I.1) wiedergeben kann, hat zur Folge, dass man auch die phänomenologische Beschreibung in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten denken muss. Beschreibungen halten nicht nur Sachverhalte fest, sie erschließen sie und sind insofern gegenstandskonstituierend. Umgekehrt können sie auch transformativ wirken: Ähnlich wie ein Roman Zugang zu völlig ungeahnten Erfahrungslagen
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A. Einleitung
verschafft, die dazu führen, dass sich ein gesteigertes Problembewusstsein für fremde Perspektiven bildet, können Beschreibungen einen tiefgreifenden Einstellungswechsel hervorrufen. Die Welt unterschiedlich zu beschreiben, ist bereits – den Marx’schen Feuerbach-Thesen zum Trotz – ein erster Schritt, um sie zu verändern. Die Phänomenologie darf diesbezüglich als eine situierte Epistemologie aufgefasst werden, die bei aller Aufmerksamkeit für die beschriebenen Gegenstände um die reflexive Rückwirkung dieser Praxis auf sich selbst weiß. Die Perspektive der Akteure zu berücksichtigen, heißt dabei auch, deren leibpraktische Voraussetzungen mit zu bedenken sowie ihre jeweilige Position als Affizierte, Wahrnehmende, Denkende oder Sprechende. Kaum verwunderlich ist von daher, dass die Phänomenologie bereits seit Längerem für Anliegen der interkulturellen Philosophie herangezogen wird, aber auch für Fragen des gendering oder der ethnischen Identifizierung. Kognitiven Dissonanzen zwischen den leiblichen Eigenerfahrungen und dem objektivierenden Blick von außen kann durch die phänomenologische Leib-Körper-Differenz ( C.I.9) Rechnung getragen werden. Ob bei zwischenmenschlichen Anerkennungsdefiziten, in der Traumatherapie oder in der Schmerzforschung: Drittpersonale Ansätze stoßen spätestens hier an klare Grenzen. Unlängst wurde daran erinnert, dass die Phänomenologie bereits in den Nachkriegsjahren sowohl feministischen Theorien (Simone de Beauvoir) wie postkolonialen Analysen (Frantz Fanon) Anstöße gab. Dass die Phänomenologie jüngst gerade im angloamerikanischen Kontext als Critical Phenomenology neu in Stellung gebracht wird, ist eine erfreuliche Entwicklung, sollte aber gleichwohl nicht vergessen machen, dass jede ambitioniert betriebene Phänomenologie im Kern bereits eine solche kritische Tragweite besitzt. Mit der unerlässlichen Betonung der Jeweiligkeit des Erscheinens bei gleichzeitiger Suche nach allgemeinen Strukturen, der spezifischen Seinsweise und der Situiertheit des Denkens wie des Wahrnehmens bezieht die Phänomenologie bereits, und zwar in jeder Hinsicht, Stellung. Aufgrund dieser Anlage widersetzt sie sich allzu schnellen Vereinfachungen ebenso wie Großnarrativen, die häufig dann bemüht werden, wenn ein Phänomengefüge besonders unübersichtlich wird. In solchen Momenten mag man sich an Husserls Haltung erinnern, die er all jenen Studierenden im Seminar entgegenbrachte, die mit großen Thesen und spekulativen Erklärungsversuchen auftraten. Die skeptische Aufforderung ließ dann nicht auf sich warten: ›Geben Sie mir Kleingeld‹. Emmanuel Alloa, Thiemo Breyer, Emanuele Caminada
B. Historische Entwicklungen
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B. Historische Entwicklungen
I. Anfänge der Phänomenologie 1. Husserl im Kontext Wann beginnt die Geschichte der Phänomenologie? Rückblickend stimmen die Hauptvertreter:innen der ersten Generation mit Husserl darin überein, dass die Phänomenologie um 1900 entstanden sei. Die bahnbrechende Bedeutung von Husserls Logischen Untersuchungen (1900/01) stellt niemand ernsthaft in Abrede. Vielen gelten sie als das ›Gründungswerk‹: In dieser Schrift kommt das Selbstverständnis der frühen Phänomenologie paradigmatisch zum Ausdruck. Der Begriff ›Phänomenologie‹ war um 1900 allerdings weder neu noch an einen bestimmten philosophischen Ansatz gebunden. Phänomenologie bezeich nete allgemein die Lehre von den Phänomenen, d. h. der Art und Weise, wie etwas im Bewusstsein erscheint. Bereits seit dem späten 18. Jahrhundert kursierte der Begriff im wissenschaftstheoretischen Sinne: Der von Johann Heinrich Lambert aus dem griechischen phainomenon gebildete Neologismus ›Phänomenologie‹ sollte zur Abgrenzung einer neuen, vornehmlich an ›Erscheinungen‹ orientierten Disziplin dienen, die sich nicht wie die ›Ätiologie‹ mit Ursachen oder Ursprüngen, sondern mit einer beschreibenden Morphologie als Vorstufe etwaiger positiv-wissenschaftlicher Erklärungen befasst. Um 1800 gibt Hegel dem Begriff dann eine ganz andere, spekulative Wendung, die im 19. Jahrhundert und darüber hinaus wirkmächtig geblieben ist. Mit diesem geistphilosophischen Verständnis hat Husserls methodische Aufnahme des Begriffs um 1900 wenig zu tun. An Husserls eigenem Werdegang lassen sich bereits einige der Motive seines wissenschaftstheoretischen Neuanfangs nachvollziehen. So studiert Husserl zunächst Mathematik in Leipzig und Berlin. Der Philosophie wendet er sich dann zu, um einen Ausweg aus der Grundlagenkrise der Mathematik zu finden (ausführlicher D.I.1). Während sein Lehrer Karl Weierstraß bemüht war, die Arithmetik (bzw. die reine Analysis) durch den Begriff der Zahl zu begründen, ist Husserl der Ansicht, erst die geistige Operation des Zählens könne als Fundierung dienen. In Wien, wo er sein Studium fortsetzt, hört er Vorlesungen von Franz Brentano, dessen Methode der psychologischen Deskription er für die Analyse mathematischer Rechenverfahren adaptiert. Von Brentano übernimmt Husserl auch andere wichtige Grundideen: das Konzept der Intentionalität ( C.I.2), die Unterscheidung zwischen eigentlichem und uneigentlichem Vorstellen bzw. Intuition und Signifikation ( C.I.3) sowie die Einteilung des psychischen Lebens in Akte des Vorstellens, Urteilens und Liebens bzw. Hassens. Mit der Schrift Über den Begriff der Zahl 1887 habilitiert sich Husserl schließlich in Halle unter der Leitung von Carl Stumpf, einem Schüler Brentanos. Die Verbindung von Mathematik, Psychologie und Philosophie, die schon ein anderer Lehrer Husserls in Leipzig – Wilhelm Wundt – vorbereitet hatte, wird von Stumpf noch konsequenter weitergeführt. Stumpfs Methodologie bestimmt zugleich auch Husserls Position innerhalb der Brentano-Schule, nicht zuletzt dank
I.1. Husserl im Kontext
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Stumpfs Verständnis von ›Phänomenologie‹ als Wissenschaft, an der »Psychologen mit Naturforschern […] zusammenarbeiten […], d. h. eine bis zu den letzten Elementen vordringende Analyse der sinnlichen Erscheinungen in sich selbst.« (Stumpf 1907, 21) In der Philosophie der Arithmetik (1891), Husserls erstem eigenständigem Buch, wird Stumpfs Analyse der phänomenalen »Verschmelzung« herangezogen, um die Relation zwischen Teilen und Ganzem durch den Begriff der »figuralen Momente« neu zu bestimmen (Hua XII, 203 f.). Husserl vollzieht hier bereits einen als ›phänomenologisch‹ zu bezeichnenden Schritt. Parallel zu Christian von Ehrenfels’ Aufsatz »Über ›Gestaltqualitäten‹« (1890) und in Auseinandersetzung mit Ernst Machs Deutung der qualitativen Eigenschaften von geometrischen Figuren kommt Husserl zu dem Schluss, dass es anschauliche Eigenschaften gibt, die dem Ganzen zukommen und dabei nicht aus Teileigenschaften abgeleitet werden können ( D.I.1). Die Philosophie der Arithmetik beschert Husserl auch über die mathematischen Fachkreise hinaus Aufmerksamkeit, weil sie den Anspruch auf eine allgemeine Neubegründung der Logik beinhaltet, insofern diese laut Husserl durch eine Aktpsychologie begründet werden muss. Welcher weitreichende Anspruch mit diesem neuartigen, deutlich über Brentano und Stumpf hinausweisenden Verständnis von Phänomenologie einhergeht, bekundet sich sodann in den Logischen Untersuchungen (1900/01), die dem bis dato in Halle als Privatdozent lehrenden Husserl einen Ruf auf ein Extraordinariat in Göttingen einbringen. Die breit rezipierten Logischen Untersuchungen und das Motto der Rückkehr ›zu den Sachen selbst‹ wird von vielen als Gelegenheit zur endgültigen Abkehr vom herrschenden (neu-)kantianischen Konstruktivismus wahrgenommen: Phänomenologie ist dieser Auffassung gemäß eine allgemeine Erschei nungs wissenschaft, die anders als im Kantianismus über das Sinnliche hinaus auch andere Arten von Anschauung in Betracht zieht, wie z. B. die ›kategoriale Anschauung‹. Mit diesem Ausdruck weist Husserl auf die Erfahrungsgrundlage des kategorialen Denkens hin, deren methodische Herauspräparierung Aufgabe der eidetischen Variation ( C.II.3) ist. Husserls Behandlung der kategorialen Anschauung spielt eine maßgebliche Rolle für die frühe, realistische Rezeption der Logischen Untersuchungen. Dass Wesensstrukturen anschaulich erfasst werden können, wird in diesem realistischen Verständnis zur Grundlage einer neuen phänomenologischen Ontologie: Das Apriori ist nicht subjektabhängig, sondern gilt als gegeben. Die phänomenologische Arbeit besteht demnach vornehmlich darin, ein solches Apriori zu erforschen und die entdeckten ›Wesen‹ (bzw. ›Essenzen‹ oder ›Eide‹) systematisch nach Regionen zu ordnen. Während das positive Programm einer phänomenologischen Wesenslehre immer wieder kritisiert wird – nicht zuletzt, weil einige darin die Entstehung einer »neuen Scholastik« vermuten (anerkennend Stein 2002, 200; abschätzig Cohen 1902, 56; B.III.1) –, wird Husserls Widerlegung des Psychologismus dagegen geradezu einhellig anerkannt. Im ersten Teil der Logischen Untersuchungen, den Prolegomena zur reinen Logik, wird diese Widerlegung vorgenommen, d. h. die
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B. Historische Entwicklungen
Widerlegung der Annahme, dass logische Gesetzmäßigkeiten durch eine Beschreibung von psychischen Prozessen naturalistisch erklärt werden könnten. Diese weit verbreitete Ansicht wurde Ende des 19. Jahrhunderts von namhaften Wissenschaftlern vertreten: Wilhelm Wundt, Theodor Lipps, John Stuart Mill, Ernst Mach, Richard Avenarius, Christoph Sigwart und Johann Eduard Erdmann. Husserl weist nach, dass der Psychologismus zu einem problematischen Relativismus in Bezug auf die Wahrheitsansprüche der Logik führt. Er argumentiert, dass aus der Tatsache, dass etwas im Bewusstsein erscheint (z. B. die Einsicht in einen mathematischen Satz), nicht folgt, dass das Gemeinte selbst ein psychisches Phänomen ist. Jeder beliebige psychische Akt (des Meinens, Verstehens, Einsehens usw.) ist auf eine ideale Bedeutung hin orientiert, die als intentionaler Inhalt fungiert. Während ein Urteilsakt als empirisches Vorkommnis real ist, kann sein Urteilsinhalt durchaus ideal und damit von den historischen, psychologischen und sonstigen Umständen seines Zustandekommens unabhängig sein. Husserls damit verbundene Idee eines Reichs von idealen Wahrheiten ›an sich‹ weist auf Bolzanos Wissenschaftslehre und Lotzes Interpretation der platonischen Ideen hin, denen Husserl – so seine eigene Einschätzung – »entscheidende Einflüsse« verdankte (Hua XXII, 156; Beyer 1996). Die genauen Bezüge zwischen objektiven Wahrheiten und subjektiven Evidenzerlebnissen intentionalanalytisch auszulegen, ist eine Hauptanstrengung des husserlschen Werks. Vertreter:innen der sogenannten »analytischen Phänomenologie« ( B.III.8) haben hervorgehoben, dass für Husserls Abwendung vom Psychologismus eine kritische Rezension seiner Philosophie der Arithmetik durch Gottlob Frege aus dem Jahr 1894 eine maßgebliche Rolle gespielt habe (Føllesdal 1958). Freges Einfluss beginnt jedoch bereits in der Phase zwischen 1887 und 1891, als Husserl sich während der Ausarbeitung seiner Habilitationsschrift mit Freges Grundlagen der Arithmetik auseinandersetzt (Hua Dok III/6, 111; Ierna 2017, 28 f.). Entscheidender als Freges Rezension scheint Husserls in denselben Jahren erfolgte Beschäftigung mit Kazimierz Twardowskis Werk Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen (1894) zu sein. Anhand des Problems gegenstandsloser Vorstellungen (z. B. Täuschungen) stellt Twardowski Brentanos These infrage, wonach allen Vorstellungen ein Objekt in der Außenwelt entspreche. Twardowskis Dichotomie vom innerem ›Inhalt‹ und äußerem ›Gegenstand‹ überzeugt Husserl allerdings nicht. Denn damit verdopple sich im Fall gewöhnlicher Vorstellungen, denen ein äußerer Referent entspricht, das Objekt der Intentionalität in ein internes Bild und ein externes Objekt. Husserl hält eine solche »Bildertheorie« der Intentionalität für »widersinnig« (Hua XIX/1, 439) und lehnt ebenfalls die Ansicht ab, dass das intentionale Objekt sich nur indirekt durch Zeichen im Bewusstsein manifestiere (Hua III/1, 89 f.). Der intentionale Gegenstand kann Husserl zufolge unmittelbar vorgestellt werden. Die Lösung des Problems der gegenstandslosen Vorstellungen ist demnach durch die Beschreibung unterschiedlicher Bezugsmodi und nicht durch das Postulat verschiedener Bezugsobjekte zu finden ( C.I.2). Die Entwicklung seines Intentionalitätsbegriffs zeigt, wo
I.1. Husserl im Kontext
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sich Husserls eigenständige Position innerhalb der Brentanoschule verorten lässt. Die neuere historisch-systematische Forschung hat gezeigt, in welchem Maße Husserls Ansatz der lebhaft geführten Debatte der österreichischen bzw. mittel europäischen Philosophie verpflichtet ist, die vorwiegend antikantianisch, analytisch-beschreibend und nichtspekulativ geprägt war (Mulligan 1986; 2001; 2006; B. Smith 1994; Rollinger 1999; Benoist 2001b). Über Brentano hinaus seien hier als wichtige Figuren in diesem geistesgeschichtlichen Kontext noch Bernard Bolzano, Ernst Mally, Anton Marty, Alexius Meinong und Kazimierz Twardowski erwähnt. Ab 1901 ist Husserl in Göttingen tätig, zuerst auf einer außerordentlichen, ab 1906 dann auf einer ordentlichen Professur. Laut Zeitzeugen leidet Husserl in dieser Phase unter einer gewissen Isolation. Es dauert mehrere Jahre, bis sich in Göttingen ein Kreis enthusiastischer Anhänger:innen um ihn bildet ( B.I.2). Dank der Psychologismus-Kritik, des neuen Begriffs von Intentionalität, der einen direkten, anschaulichen Bezug zu den ›Sachen selbst‹ verspricht, sowie der Auslegung der kategorialen Anschauung, die ein neues Verständnis von Ontologie ermöglicht, werden die Logischen Untersuchungen schließlich von einer ganzen Generation als Durchbruch in der philosophischen Diskussion gefeiert. Nun kommt der Begriff ›Phänomenologie‹ in der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen nicht so dezidiert vor, wie man es in dem Grundlagenwerk einer neuen philosophischen Bewegung vermuten könnte. Erst nach dem Erscheinen der Logischen Untersuchungen ringt sich Husserl dazu durch, zwischen ›phänomenologischer‹ und ›deskriptiv-psychologischer‹ Methode deutlich zu unterscheiden. Etwa ab 1904 distanziert er sich vom Begriff ›deskriptive Psychologie‹ und macht sich mehr und mehr den Begriff ›Phänomenologie‹ zu eigen, durch den das spezifisch apriorische Moment stärker betont werden soll (Hua Dok III/2, 123 f.). Um diese Distanz zu markieren, ist Husserl in den folgenden Jahren bemüht, seinen Ansatz terminologisch umzugestalten. Diese Umwandlung betrifft sowohl zentrale Begriffe der Intentionalitätsanalyse (z. B. Materie und Qualität, Noesis und Noema; C.I.2) als auch die Methodologie, etwa durch die Einführung der Epoché ( C.II.2). Erklärtes Ziel ist es, die Phänomenologie als Grundlagenwissenschaft der Philosophie zu etablieren, als eine neue Kritik der Vernunft, wobei der Vernunftbegriff erweitert wird, um nun auch Werturteile und praktische Akte zu umfassen (Hua VII, 6). Diese größeren konzeptionellen Veränderungen stellt Husserl der breiteren Öffentlichkeit in den ursprünglich auf drei Bänden angelegten Ideen für eine reine Phänomenologie und phänomenologische Philosophie vor, deren erster Teilband 1913 erscheint. Jenseits der terminologischen Unterscheidungen und methodologischen Vertiefungen ergeben sich in den Göttinger Jahren (1901–1916) drei große Neuerungen in Husserls Ansatz: 1. Phänomenologie als ›reine Phänomenologie‹ wird von der deskriptiven Psychologie nicht nur durch ihren eidetischen Charakter, sondern vor allem durch die Einführung der transzendentalen Reduktion ( C. II.2) unterschieden, die auf einer vertieften Auslegung des intentionalen Set-
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B. Historische Entwicklungen
zungscharakters beruht ( C.I.6). 2. Dem Bewusstsein wird nun auf der Basis des Gedankenexperiments der ›Weltvernichtung‹ in Gestalt der Reduktion ontologischer Vorrang zugeschrieben (Hua III/1, 103 f.). 3. Das Bewusstsein wird nicht mehr als Bündel von Akten, sondern als egologische Struktur verstanden (Hua III/1, 97 f.). Innerhalb der frühen phänomenologischen Bewegung löst der erste Band der Ideen ab 1913 eine größere Kontroverse aus, nicht zuletzt aufgrund des dort eingeführten ›reinen Ego‹. Dabei ist zu bemerken, dass die Konzeption dieses ›reinen Ego‹ als phänomenologisch ausweisbare Struktur trotz der damit verbundenen kantschen Motive vornehmlich in enger Auseinandersetzung mit Theodor Lipps’ Psychologie und im Zuge der Gespräche mit Alexander Pfänder in Seefeld 1905 entwickelt wird (Schuhmann 1973; Hua XIII, 1 f.). Mit Blick auf die unmittelbare Rezeption dieser Konzeptualisierung ist es vor allem die noch unklare Darstellung des Verhältnisses zwischen ›Reduktion‹ und ›Weltvernichtung‹ sowie die hiermit verknüpfte idealistische Metaphysik, die zu einer vehementen Ablehnung des neuen Ansatzes seitens zeitgenössischer Phänomenolog:innen führt ( B.II.1). In den mit Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie untertitelten Ideen I legt Husserl nämlich nur die Leitlinien fest, die die Deutung seiner Phänomenologie als Transzendentalphilosophie bestimmten und die erst in den angekündigten – aber nie erschienenen – zweiten und dritten Büchern ihre philosophische Tragweite hätten zeigen sollen. Die operative Einführung der Methode der Reduktion erfolgt dabei schon 1907 mit den ersten ›genetischen‹ Ansätzen (Rizzoli 2008) und wird dann ab 1910 durch Analyse der inaktuellen Motivationszusammenhänge von Erinnerung und Einfühlung auf die passive und die intersubjektive Sphäre erweitert (Hua XIII, 111 f.). Diese methodologische Entfaltung ist allerdings im ersten Band der Ideen nicht ersichtlich, da sie erst in den konkreten Untersuchungen zur Konstitution und Wissenschaftstheorie, die für den zweiten Band geplant waren, direkte Anwendung findet. Im Ausgang von der ›Entdeckung der Natur‹ und ›des Gemeingeistes‹ in den neuzeitlichen Natur- und Geisteswissenschaften beansprucht Husserl in seinen Ideen II, die Verhältnisse zwischen der Phänomenologie und den Wissenschaften der physischen Natur, der Psyche und des Geistes mitsamt ihren material-apriorischen Disziplinen (d. h. der Ontologie der Natur, der Psyche und des Sozialen) aufzuklären (Caminada 2019). Wichtige Impulse für den zweiten Band der Ideen kommen aus Avenarius’ und Machs Empiriokritizismus in Bezug auf die Konstitution der Natur als auch von Dilthey und Pfänder hinsichtlich der Konstitution der geistigen Welt (M. Sommer 1984). Husserl will diesen zweiten Band allerdings – trotz der tatkräftigen Unterstützung seiner ersten Assistentin Edith Stein – nicht veröffentlichen. Erst in den 1950er-Jahren wird der Band schließlich auf der Grundlage der in zwei Teile gegliederten Stein’schen Ausarbeitung als Ideen II (Hua IV) und Ideen III (Hua V) publiziert, während Husserls zugrunde liegende Entwürfe erst vor Kurzem erschlossen wurden (Hua IV–V).
I.1. Husserl im Kontext
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Die gedankliche Entwicklung von den Logischen Untersuchungen zu den Ideen ist auch äußeren Umständen geschuldet. 1905 führt Husserl in Berlin ein Gespräch mit Wilhelm Dilthey, dem er rückblickend eine entscheidende Bedeutung zumisst (Hua XIII, xxxiii). Mehr noch als Diltheys methodische Unterscheidung zwischen erklärender und beschreibender Psychologie ( C.II.1) imponiert Husserl Diltheys wissenschaftstheoretische Rezeption der Logischen Untersuchungen: Dilthey sieht in Husserls Ansatz das methodische Potenzial für eine Begründung der Geisteswissenschaften (Dilthey 1905, 329, 333). Dieser Austausch mit Dilthey dürfte Husserl in dem Ansinnen bestärkt haben, dass die Phänomenologie deutlich im wissenschaftlichen Fächerspektrum positioniert werden muss. Mit der Veröffentlichung der programmatischen Schrift »Philosophie als strenge Wissenschaft« (1911) im ersten Band der von ihm mit herausgegebenen internationalen Zeitschrift Logos profiliert sich Husserl in der akademischen Landschaft. Bemerkenswert ist der Anspruch dieser neuen Zeitschrift für Philosophie der Kultur schon allein deswegen, weil Husserl mit den bedeutendsten deutschen Geisteswissenschaftlern seiner Zeit im Herausgeberbeirat steht. Dazu gehören der Philosoph und Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken, der Jurist Otto von Gierke, der Historiker Friedrich Meinecke, die Neukantianer Heinrich Rickert und Wilhelm Windelband, der Soziologe Georg Simmel, der Soziologe und Nationalökonom Max Weber, der Theologe Ernst Troeltsch und der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin. Für die Leserschaft dieser weit über die Fachphilosophie hinauszielenden Zeitschrift macht sich Husserl die öffentlichkeitswirksame Diktion einer phänomenologischen Widerlegung des Naturalismus und des Historismus zu eigen. Mit der Publikation der Ideen I im ersten Band des Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung positioniert sich Husserl zudem als Hauptvertreter einer neuen philosophischen Strömung, was ihm zwar Sympathien auf neukantianischer Seite einbringt, aber zu Verstimmungen mit den anderen Mitherausgebern des Jahrbuchs führt (Max Scheler, Alexander Pfänder, Moritz Geiger und Adolf Reinach). Ein Richtungsstreit entbrennt darüber, was als (reine) Phänomenologie zu verstehen ist. Die Vertreter:innen einer dezidiert realistisch-eidetischen Ausrichtung der Phänomenologie stehen Husserls transzendental-idealistischer Wendung, mit der er sich programmatisch und terminologisch an Kant orientiert, ablehnend gegenüber. Nach Ansicht vieler ist Husserl schon in den Logischen Untersuchungen in den Psychologismus zurückgefallen, weshalb man sich weiterhin an die ›Prolegomena‹ hielt. Husserl erwidert, seine frühen Anhänger:innen hätten die Logischen Untersuchungen einseitig rezipiert und die philosophische Relevanz der Korrelation ( C.I.1) nicht hinreichend gewürdigt. Vor allem die Mitglieder des Münchener Kreises wenden sich dagegen, die Phänomenologie ausschließlich mit der Figur Husserls zu identifizieren, und betonen mit Verweis auf Pfänders Phänomenologie des Wollens (1900) und Lipps’ Methode der beschreibenden Erlebnisanalyse, dass ein phänomenologischer Ansatz – als eidetisch-deskriptive Psychologie – in München schon vor Husserl ent-
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wickelt worden war. Husserl seinerseits rezipiert die Beiträge dieser Denker mit großer Sorgfalt, aber auch aus einer gewissen Distanz heraus. Er schätzt ihre Entwicklungen im Bereich der phänomenologischen Ontologie, insbesondere in der Psychologie und der Werttheorie. Um diese frühe Rezeption umfassender zu verstehen, lohnt es sich, im Folgenden den Fokus auf drei verschiedene universitäre Umfelder zu legen, die für die frühe phänomenologische Bewegung maßgeblich waren: München, Göttingen und Freiburg. Emanuele Caminada
2. Münchener und Göttinger Kreis Obwohl Husserls Logische Untersuchungen, wie bereits erwähnt, in systemati scher Hinsicht häufig als Gründungsdokument der Phänomenologie angesehen werden, beginnt deren Geschichte streng genommen später. Die Geschichte der Phänomenologie, verstanden als Geschichte der »Phänomenologischen Bewegung«, beginnt jedoch später. Ein junger Münchener Student, Johannes Daubert, der unter der Leitung von Theodor Lipps an einer Dissertation über das »Wirklichkeitsbewusstsein« arbeitet (Schuhmann 2003, 109), stößt zufällig auf Husserls Logische Untersuchungen. Die Lektüre beeindruckt ihn so nachhaltig, dass er in den Pfingstferien auf dem Fahrrad zu Husserl nach Göttingen fährt, um sich mit dem Autor zu unterhalten. Das Gespräch zieht sich über mehrere Stunden hin, und Husserl soll mit den Worten kommentiert haben: »Hier ist jemand, der meine Logischen Untersuchungen gelesen und voll verstanden hat.« (Schuhmann 1973, 72) Daubert stellt daraufhin den Kontakt zu einem Kreis junger Philosophen her, die bei Theodor Lipps in München studieren (Schmücker 1956, 1; Spiegelberg 1960, 171). Diese zeigen sich vor allem von Husserls Kritik des Psychologismus und der an Brentanos Wiederentdeckung der Intentionalität anschließenden Theorie des Bewusstseins beeindruckt. In den darauffolgenden Jahren – und bis ca. 1920 – findet zwischen München und Göttingen ein reger Austausch statt. Die Phänomenologie wird erstmals zu einem kollektiven Unterfangen und es bildet sich eine Gruppe heraus, die in der Geschichte der Philosophie als ›frühe Phänomenologie‹ oder auch als ›Münchener‹ bzw. ›Göttinger Kreis‹ bezeichnet wird (Salice 2015). Organ des regelmäßigen Austauschs ist der ›Akademische Verein für Psychologie‹, den Theodor Lipps bereits 1895 in München gegründet hatte. Lipps selbst ist (gemeinsam mit seinem Schüler Alexander Pfänder) mit der Entwicklung einer deskriptiven Psychologie beschäftigt, d. h. einer Beschreibung von Erlebnisgegebenheiten, die sich von einer erklärenden naturwissenschaftlichen Psychologie distanziert (T. Lipps 1903). Adolf Reinach stößt 1901 zum Münchener Kreis hinzu, Moritz Geiger 1904, Max Scheler 1906; weitere wichtige Mitglieder sind Hedwig Conrad-Martius und Theodor Conrad. Bestimmte Fragestellungen der Philosophie um 1900 sind ganz wesentlich von Lipps geprägt worden, etwa durch
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seine Arbeiten über die Einfühlung. Typisch für die deskriptive Psychologie Münchener Prägung sind die Studien Pfänders über die Phänomenologie des Wollens (Pfänder 1900/1963) oder diejenigen Geigers über Stimmungen und Gefühle (Geiger 1911a; 1911b; vgl. dazu Frechette 2012). Der Austausch zwischen München und Göttingen ist in den ersten Jahren intensiv: Wilhelm Schapp, ein Göttinger Schüler Husserls, spricht von einer regelrechten »Invasion aus München« (Schapp 1959, 20 f.). Nach dem Münchener Vorbild kommt es auch in Göttingen bald zur Gründung einer ›Philosophischen Gesellschaft‹. Einige von Husserls Göttinger Schüler:innen wie Jean Héring, Alexandre Koyré, Roman Ingarden, Hans Lipps und Edith Stein koordinieren den Austausch mit den Münchener Kolleg:innen. Ob man in München oder in Göttingen tätig ist, verrät dabei bereits Einiges über die eigene philosophische Positionierung. Als Husserl 1916 von Göttingen nach Freiburg berufen wird, wird die geografische Zuordnung nur noch ausgeprägter. Die geografische Entfernung wird gar als Ausdruck grundsätzlicher inhaltlicher Unterschiede angesehen (»Antithese Freiburg–München«; Avé-Lallemant 1975), die in der Regel an der Unterscheidung zwischen einer idealistischen bzw. transzendentalen (Husserl) und einer ontologischen bzw. realistischen (Pfänder, Geiger, Reinach, Scheler) Ausrichtung festgemacht werden ( B.III.1). Bereits anlässlich eines Besuchs der Münchener Gruppe in Göttingen 1907 – so Wilhelm Schapp im Rückblick – habe Reinach Husserl eine »Wendung zur Marburger Schule« vorgeworfen, die damals »schon in München bemerkt worden war«. Im Herbst 1907 schreibt Reinach an Conrad, Daubert meine, »daß man eigentlich bezweifeln könne, ob die Phänomenologie, wie man sie in München betreibe, bei Husserl ihre Wurzel habe« (Smid 1982, 116; T. Conrad 1992, 83). Aber führten die früh markierten Divergenzen tatsächlich dazu, dass sich die Münchener und die Göttinger schon am Beginn der »Phänomenologischen Bewegung« grundsätzlich voneinander entfremdeten? Wohl kaum: Reinach z. B. spricht 1909 von der neuen »von Husserl eingeleiteten Bewegung« (Schuhmann/Smith 1987, 15). Dafür spricht auch, dass schließlich unter Husserls Hauptherausgeberschaft das Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung ins Leben gerufen wird, dessen erster Band 1913 erscheint. Im nicht gezeichneten (und vermutlich von den fünf Herausgebern Husserl, Reinach, Geiger, Scheler, Pfänder gemeinsam verfassten) Vorwort zur ersten Ausgabe heißt es, es sei nicht ein Schulsystem, das die Herausgeber verbinde, sondern die gemeinsame Überzeugung, die Probleme der Philosophie könnten »nur durch Rückgang auf die originären Quellen der Anschauung und die aus ihr zu schöpfenden Wesenseinsichten« gelöst werden (Husserl et al. 1913, vi). Die Veröffentlichung der Ideen I im ersten Band des Jahrbuchs wird für viele Phänomenolog:innen der ersten Generation zum Stein des Anstoßes. Dietrich von Hildebrand, der im Sommer 1909 für ein Promotionsstudium zu Husserl nach Göttingen gekommen war, erinnert sich, er habe 1913 mit Bedauern zur Kenntnis genommen, »daß Husserl sich von den großen Entdeckungen in der
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ersten Auflage der ›Logischen Untersuchungen‹ ganz abgewandt hatte und daß seine Philosophie ganz immanentistisch wurde und einen radikalen Transzen dentalismus darstellt.« (Hildebrand 1975, 78) Auch der von Husserl hoch geschätzte Johannes Daubert spricht sich deutlich gegen Husserls Idealismus aus (Schuhmann/Smith 1985). Levinas berichtet, Héring, Ingarden, Koyré, Conrad, Conrad-Martius und Pfänder seien über die Ideen I als »Rückkehr zum transzendentalen Idealismus« überrascht gewesen (Levinas 1985, 28). Conrad weist in seinem Anfang der 1950er-Jahre verfassten Bericht über die Anfänge der phänomenologischen Bewegung darauf hin, dass es eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der Reduktion gegeben habe: Wenn eine Reduktion nötig sei, dann könne das Seiende in seinem Sein und »ebenso das Sein selber nicht nach seinem Wesen befragt werden. Dann schließe man alle Ontologie aus«: »Phänomenologie ohne Reduktion, so könnte man etwas groß sagen, war der Standpunkt der ›Münchner‹« (T. Conrad 1992, 83). Die Annahme der Notwendigkeit einer methodologischen Reduktion dürften um 1907 tatsächlich nur wenige Phänomenolog:innen mitgetragen haben. Hingegen betonen auch unter denjenigen, die Husserls transzendentale Wende nicht mitmachen wollten, viele die herausragende Bedeutung der eidetischen Variation ( C.I.3). Bei anderen, z. B. bei Reinach und Pfänder, ist die Frage nach der Bedeutung der Reduktion nicht so leicht zu beantworten, da sie in ihren Veröffentlichungen keine explizite Theorie der Reduktion entwickeln und sich auch nicht positiv auf diesbezügliche Arbeiten anderer beziehen. Anders als Conrad und Spiegelberg behauptet Héring, dass (mindestens einige) Schüler:innen Husserls die Reduktion durchaus akzeptierten, dem ontologischen Primat des Bewusstseins allerdings widersprächen (Héring 1959, 27 f.). Eine erste öffentliche Rückbesinnung auf die Geschichte der frühen phänomenologischen Bewegung stammt von Scheler, der 1922 einen bis heute hilfreichen Überblick über die Gemeinsamkeiten und Divergenzen gibt: Wesentliche Bedeutung für die Phänomenologie habe, so Scheler, die von Husserl eingeführte phänomenologische Reduktion, die er jedoch als Wesensschau verstehe. In historischer Perspektive könne die Phänomenologie als ›Erneuerung eines intuitiven Platonismus‹ angesehen werden, allerdings ohne platonische Ideenverdinglichung. In der Beantwortung grundsätzlicher Fragen, in der Auffassung und Methode der Phänomenologie, würden die ihr nahestehenden Forscher:innen aber oft weit auseinandergehen. Vor allem sei die »Wendung Husserls, nach der auch bei Aufhebung aller Dinge ein ›absolutes Bewußtsein‹ erhalten bliebe, […] fast von allen von ihm angeregten Forschern abgelehnt worden« (Scheler 1922, 196–204, hier 203). Noch ein anderer Umstand ist von entscheidender Bedeutung, um die Entwicklung der frühen Phänomenologie richtig einzuschätzen. Der erste Band des Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung erscheint 1913, also nur ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, der eine markante Zäsur für die Philosophie allgemein, aber für die Phänomenologie im Besonderen darstellt (Vongehr/
I.3. Die Freiburger Jahre
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de Warren 2017). Besonders stark trifft die ›Mobilmachung‹ den international aufgestellten Göttinger Kreis. Während die männlichen deutschen Staatsbürger eingezogen werden oder sich freiwillig zum Kriegsdienst melden, können nur wenige ausländische Studierende weiterhin am akademischen Leben teilnehmen (wie z. B. Roman Ingarden). Andere wiederum werden entweder aufgrund von vermeintlich feindlichen Tätigkeiten inhaftiert (Winthrop Bell) oder wechseln die Fronten (Alexandre Koyré). Unter den Schülerinnen bleibt vor allem Edith Stein, nachdem sie freiwillig Frontdienst leistete, ab 1916 in Husserls Umfeld. Husserls enger Vertrauter in Göttingen, Adolf Reinach, fällt 1917 im belgischen Diksmuide. Die lebendige Diskussionsgemeinschaft des Göttinger Kreises wird vom Krieg zerschlagen, erhalten blieb sie lediglich im Medium der schriftlichen Korrespondenz. Hérings und Reinachs Idee, ein internationales Institut für phänomenologische Forschung zu gründen, bleibt unter diesen Umständen Wunschdenken. Aufgegriffen wird sie – wenn auch unter geänderten Vorzeichen – in den 1920er-Jahren, als das Ehepaar Theodor Conrad und Hedwig Conrad-Martius mit finanzieller Unterstützung von Winthrop Bell gemeinsam mit Jean Héring, Alexandre Koyré, Hans Lipps, Edith Stein und Alfred von Sybel auf der Obstplantage der Conrads im pfälzischen Bergzabern eine phänomenologische Forschungsstätte einrichten (Feldes 2015). Matthias Schloßberger
3. Die Freiburger Jahre 1916 wird Husserl als Nachfolger von Heinrich Rickert nach Freiburg berufen. Mit diesem Ruf bestätigt sich das Verhältnis von kritischer Auseinandersetzung und gegenseitiger Beeinflussung zwischen Phänomenologie und Neukantianis mus (Staiti 2017b). Schon die ›Prolegomena‹ zu den Logischen Untersuchungen hatten diese unerwartete Wahlverwandtschaft eingeleitet, als die von dem Neukantianer Friedrich Albert Lange vorgelegte Deutung der Logik als apodiktisch und apriorisch gelobt wurde. Rickerts Schüler Emil Lask sieht in Husserls Idee der reinen Logik einen begrüßenswerten Abschied vom Subjektivismus der Transzendentalphilosophie. In Marburg und in der ›Südwestdeutschen Schule‹ werden Husserls ›Prolegomena‹ mit Enthusiasmus aufgenommen (Natorp 1901; Rickert 1915, 275), wobei Vertreter dieser Richtung die antikantische Annahme einer kategorialen Anschauung bzw. eines synthetischen Apriori sowie das damit verbundene ontologische Programm der Logischen Untersuchungen, insbeson dere das Postulat eines ›idealen Seins‹ der wahren Sätze an sich, dezidiert ablehnen (Cohen 1902; Natorp 1918; Rickert 1920, 29). Husserls programmatische Schrift »Philosophie als strenge Wissenschaft« greift Alois Riehls Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und weltanschau licher Philosophie auf. In der Marburger Schule sucht vor allem Paul Natorp die
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B. Historische Entwicklungen
systematische Nähe zur Phänomenologie. Sein Einfluss auf Husserls Widerlegung des Psychologismus, auf die transzendentale Ausgestaltung der Phänomenologie und auf die Entwicklung der genetischen Phänomenologie ist schon früh hervorgehoben worden (I. Kern 1964). Husserl beruft sich ferner auf Wilhelm Windelbands Programm einer Begründung der Geisteswissenschaften, das auch für Rickerts Werk leitend ist, vor allem durch die Ablehnung des Naturalismus. Genau genommen ist eher von einer weltanschaulichen als von einer methodologischen Nähe zwischen Phänomenologie und Neukantianismus zu sprechen, was sich etwa in Ernst Cassirers Diktum einer »Gemeinsamkeit der Aufgaben« (Hua Dok III/5, 7) ausdrückt. Husserls Freiburger Jahre stehen unter dem Zeichen der Ausarbeitung und Vertiefung seines systematischen, transzendentalphänomenologischen Ansatzes. Vor diesem Hintergrund ist allerdings zu betonen, dass diese von Husserl vorgenommene Umgestaltung der Phänomenologie, mit der sie von der deskriptiven Psychologie scharf getrennt wird, ein neuartiges Verständnis von Transzendentalphilosophie hervorbringt, das nicht nur auf Kant, sondern auch auf Hume, Locke und Descartes als Vorläufer Bezug nimmt. Im Gegensatz zur spekulativen Tradition des Deutschen Idealismus verteidigt Husserls Transzendentalphilosophie den Vorrang der Erfahrung. Anders als der britische Empirismus erkennt er neben der sinnlichen Erfahrung jedoch auch andere Formen der Anschauung an und kann empiristische Impulse aufgreifen, ohne sich dem traditionell hiermit einhergehenden Nominalismus zu verpflichten. Daraus ergibt sich eine in der Erfahrung fundierte Transzendentalphilosophie, die gegenüber beiden philosophischen Hauptrichtungen der Neuzeit – Rationalismus und Empirismus – eine neue Auffassung des Apriori vertritt: Apriorische Strukturen werden dem Erscheinenden nicht übergestülpt oder aus diesem hypothetisch abgeleitet, sondern in und mit der Erfahrung selbst gegeben (Hua VII). Phänomenologie gibt sich daher, selbst noch in ihrer transzendentalen Ausprägung, das Ziel, das Apriori durch die Methode der eidetischen Variation anschaulich zu erfassen. Schließlich ist auf die konstitutive Rolle der sogenannten ›transzendentalen Intersubjektivität‹ ( C.I.11) hinzuweisen, in deren konkretes soziales Gefüge das konstituierende Bewusstsein notwendig eingebettet ist. Besonders prägend für die Freiburger Jahre ist in dieser Hinsicht Husserls Vertiefung der genetischen Methode ( C.II.5). Obwohl 1919 eine Freiburger ›phänomenologische Gesellschaft‹ begründet wird, bildet sich in Freiburg kein ›Kreis‹ aus wie in Göttingen. Bei Husserl arbeiten zunächst Edith Stein (1916–1918), dann Ludwig Landgrebe (1924–1930) und Eugen Fink (1928–1938) als Forschungsassistent:innen, die sich vor allem der Transkription, Umarbeitung und Ordnung des wachsenden Bestands von Husserls Forschungsmanuskripten widmen. Tatsächlich arbeitet Husserl nur selten an publikationsreifen Texten, sondern hält täglich seine phänomenologischen Beschreibungen und Gedankenexperimente protokollarisch fest. Diese Protokolle sind fast ausschließlich in Gabelsberger Stenografie verfasst; sie wachsen in den Freiburger Jahren auf ca. 40.000 Manuskriptseiten an.
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Martin Heidegger wirkt zwischen 1916 und 1923 als Lehrbeauftragter für Phänomenologie. Nach Heideggers Berufung nach Marburg wird der für völkisches Gedankengut zugängliche Oskar Becker Lehrassistent. Wie heterogen das engere Umfeld Husserls Ende der 1920er-Jahre ist, zeigt sich auch an der von Heidegger herausgegebenen Festschrift zum 70. Geburtstag Husserls, in der neben der Göttinger und Münchener Generation (Conrad-Martius, Kaufmann, Koyré, Ingarden, Hans Lipps, Stein) auch Heidegger, Becker und der Rassentheoretiker Ludwig Ferdinand Clauß vertreten sind (1929). Das Umfeld ist dabei ausgesprochen international. Zu den Student:innen der Freiburger Jahre zählen unter anderen Karl Löwith, Gerda Walther, Hajime Tanabe, Aron Gurwitsch, Hendrik Pos, Hans-Georg Gadamer, Rudolf Carnap, Marvin Farber, Günther Stern (ab 1930 Günther Anders), Aurel Kolnai, Emmanuel Levinas, Dorion Cairns, Jan Patočka, Satomi Takahashi, Herbert Marcuse, Tomoo Otaka, Zagorka Mićić und José Ortega y Gasset. In den 1920er-Jahren mehren sich dann auch die internationalen Anfragen und Einladungen an Husserl: Die japanische Zeitschrift Kaizo gibt eine Reihe von Aufsätzen zum Thema ›Erneuerung‹ in Auftrag, die Husserl als ethische Neuorientierung im Zeichen einer Wertethik der Humanität deutet (Hua XVII, 3–94). 1922 wird er eingeladen, seinen philosophischen Ansatz in London und Cambridge vorzustellen, wo er unter anderen George Moore trifft, der – wie viele Analytiker der ersten Stunde – Husserls Logische Untersuchungen mit großem Interesse gelesen hatte. Die Encyclopaedia Britannica lädt Husserl ein, einen Eintrag zur Phänomenologie für ein anglophones Publikum zu verfassen. 1928 trägt Husserl in Amsterdam und Groningen, 1929 in Paris und Straßburg vor. Besondere Wirkung entfalten die ›Pariser Vorträge‹, die er im Amphithéâtre Descartes der Sorbonne unter dem Titel Cartesianische Meditationen hält und die Emmanuel Levinas zusammen mit Gabrielle Peiffer und unter der Aufsicht von Alexandre Koyré wenig später ins Französische übersetzt (Husserl 1931). Im selben Jahr veröffentlicht Husserl endlich das neue Werk Formale und transzendentale Logik (Hua XVII), während Boyce Gibson erstmals eine englische Übersetzung von Husserls Ideen I publiziert, zu der Husserl ein eigenes Vorwort verfasst, mit dem er rückblickend die Intentionen dieses Buches zu verdeutlichen versucht (Husserl 1930). Mit Husserls Emeritierung 1929 wird auch das Jahrbuch eingestellt. Spätestens hiermit endet die Hoffnung der ersten Phänomenolog:innen, phänomenologische Forschung als kollektives Projekt zu betreiben. Immer deutlicher waren schon zuvor Spannungen zutage getreten: Unvereinbar schienen die Gegensätze zwischen Husserl, den realistischen Ansätzen und Heidegger im Jahrbuch geworden (Schuhmann 1990), sodass Husserl das Jahrbuch 1934 rückblickend verbittert als ein Mittel bezeichnet, mit dem seine eigenen Schüler:innen seine Lebensarbeit unterminierten, ja sogar »zu Nichte« machten (Hua Dok III/6, 437). Für Husserl beginnt nach seiner Emeritierung eine Zeit der Demütigungen, die ab 1933 zudem noch mit seiner jüdischen Herkunft in Verbindung stehen
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B. Historische Entwicklungen
( B.I.5). Erst 1935 gelingt es Husserl wieder, zu Vorträgen ins Ausland zu reisen. In Wien und Prag spricht er vor einem interessierten Publikum über ›Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit‹ und über das aufklärerische Ideal einer rationalen Lebensführung gegenüber positivistischen Einengungen des Vernunftbegriffs. Gegen rassistische Ideologien erinnert er an die konstitutive kosmopolitische Haltung der Philosophie. Das Vortragsmanuskript hierzu mündet in sein letztes Werk, dessen erster Teil 1936 unter dem Titel »Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie: Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie« in der in Belgrad herausgegebenen Zeitschrift Philosophia erscheint. Bis zum Sommer 1937 arbeitet Husserl an dieser Schrift, die das Konzept der ›Lebenswelt‹ ( C.I.13) in methodologischer und systematischer Absicht ausarbeitet (Hua VI). Insgesamt sind die Freiburger Jahre von der Diskrepanz gekennzeichnet, dass Husserl einerseits eine immer breitere Anerkennung seiner Leistungen erfährt, sich andererseits von seinen Anhänger:innen zunehmend missverstanden fühlt. Den von ihm vorgespurten Weg der transzendentalen Ausgestaltung der Phänomenologie schlägt nach ihm kaum jemand noch ein. Auf Heidegger hält Husserl große Stücke, da er der Einzige ist, dem er zutraut, die Phänomenologie auf einen neuen Boden zu stellen. Schließlich muss Husserl dennoch verbittert feststellen, dass Heidegger unter einer solchen Neufundierung etwas vollkommen anderes versteht. Die Warnungen ehemaliger Studierender, was Heideggers Auslegung betrifft, ignoriert Husserl lange Zeit (Stein 1921/2001; Feldes 2015) und unterstützt diesen 1923 bei der Berufung nach Marburg sowie schließlich 1928 als Nachfolger auf seinen eigenen Freiburger Lehrstuhl. Dass in Sein und Zeit ein gänzlich neues Programm entworfen wird, war Husserl offenbar völlig entgangen. Erst nach Heideggers Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik (1929) vertieft sich Husserl gründlich in Sein und Zeit (Breeur 1994) und stellt mit Enttäuschung fest, dass es sich hierbei um eine »zeitgemäße[…] Ontologie des Irrationalismus« handelt (Hua Dok III/7, 15). Husserl beteuert, dass Heideggers »›Existenz‹-philosophie […] den radikalen wissenschaftlichen Grundsinn meiner [Husserls] Lebensarbeit in sein Gegenteil verkehrte und diese selbst als etwas ganz Überwundenes mit großem Lob entwertete, als etwas, das jetzt noch zu studieren überflüssig sei.« (Hua Dok III/3, 493) Nach Schelers frühem Tod 1928 und als Nachfolger Husserls wird Heidegger Anfang der 1930er-Jahre als der prominenteste Vertreter der phänomenologischen Bewegung wahrgenommen. Die Annäherung an den Neukantianismus, die Husserl nach der transzendentalphilosophischen Wende vollzogen hatte, lehnt Heidegger ab und argumentiert offensiv sowohl gegen das Wiederaufleben der Wertphilosophie als auch gegen den Marburger Neukantianismus. Emblematisch für diese Kontroverse ist der Disput über Kant zwischen Cassirer und Heidegger in Davos 1929, der das Selbstverständnis vieler Philosoph:innen des 20. Jahrhunderts prägen wird (Friedman 2000/2004). Zu betonen ist, dass die positive Rezeption (Levinas 1931/1994) ebenso wie die Kritik (Ryle 1929; Kraft
I.4. Martin Heideggers Sonderstellung
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1932; Lukács 1977; Bredekamp/Wind 1998) Husserl auf die Rolle des Wegbereiters eines ganz neuen Ansatzes reduziert, der in Heidegger kulminiert ( B.I.4). Exemplarisch in dieser Hinsicht ist Levinas’ Ausspruch, dass er, als er 1928 eigentlich wegen Husserl nach Freiburg fuhr, dort Heidegger entdeckt habe (Levinas 1931/1994). Emanuele Caminada
4. Martin Heideggers Sonderstellung 4.1. Heidegger und die Phänomenologie
Martin Heidegger (1889–1976) nimmt innerhalb der Geschichte der Phänomenologie eine Sonderstellung ein. Noch im Jahre 1928 soll Edmund Husserl – mutmaßlich kurz bevor er sich an die Lektüre von Sein und Zeit machte – zu Heidegger gesagt haben: »Sie und ich sind die Phänomenologie« (Cairns 1976, 9). Husserl wähnte sich offenbar nach wie vor in dem Glauben, sein Universitätsassistent würde wie verabredet die Phänomenologie in Richtung einer Religionsphänomenologie weiterentwickeln (ähnlich wie Oskar Becker die Phänomenologie auf dem Gebiet der Mathematik zur Anwendung bringen sollte, D.I.1.2). Das Missverständnis hätte größer nicht sein können: Husserl, der Heidegger noch 1926 die Edition seiner Vorlesungen zum Zeitbewusstsein anvertraut hatte, ist schätzungsweise völlig daran vorbeigegangen, dass sich dieser mittlerweile in eine ganz andere Richtung weiterentwickelt hatte. Kurz danach kam es zum Bruch, und Heidegger selbst ging, nachdem er Husserls Lehrstuhlnachfolge im Herbst 1928 an der Universität angetreten hatte, nicht nur dem Lehrer gegenüber auf Distanz, sondern auch der Phänomenologie allgemein. Bis heute gehen die Meinungen darüber augenfällig auseinander, ob Heidegger innerhalb der Phänomenologie eine Rolle zugewiesen werden soll und wenn ja welche. Gerade bei dem Richtungsstreit ab den 1920er- und 1930er-Jahren, der die späteren Wendungen vorwegnimmt, auf die in den späteren Kapiteln ausführlicher eingegangen wird, hat sich Heideggers Einfluss spürbar – mittelbar oder unmittelbar – ausgewirkt. Ob durch die Wiederaufnahme heideggerscher Denkmotive oder aber in frontaler Abgrenzung zu dessen Denkstil: Auf die eine oder andere Weise haben sich die späteren Generationen ausnahmslos alle auf Heidegger bezogen, sodass es unausbleiblich ist, seiner Figur ein eigenes Kapitel zu widmen. Dass sich Heidegger im allerbesten Fall nur ein Jahrzehnt lang explizit als Phänomenologe verstand und sein eigener Denkweg weniger »in« (GA 14, 91 ff.) der Phänomenologie zu finden ist als vielmehr in einer Durchquerung »durch« die Phänomenologie hindurch hin zu einem neuen Seinsdenken (Heidegger 1963, xvii), bedeutet gleichwohl nicht, dass von seinem Werk nicht auch entscheidende reflexive und kritische Impulse für das Selbstverständnis der Phänomenologie ausgingen. Heideggers eigenwilliges Phänomenologieverständnis
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B. Historische Entwicklungen
lässt sich am besten dadurch nachvollziehen, dass zunächst einmal sein intellektueller Werdegang rekonstruiert wird. Heidegger hat mehrfach dargelegt, dass in seinem Werdegang vor allem zwei Werke einen bleibenden Eindruck hinterließen: (1) Franz Brentanos Dissertation Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (1862), die er 1907 während seines Theologiestudiums entdeckt und extensiv rezipiert und die sein bleibendes Interesse an Aristoteles und der Seinsfrage maßgeblich prägt; (2) Husserls Logische Untersuchungen, denen er attestiert, einen regelrechten »Zauber« (GA 14, 93) auf ihn ausgeübt zu haben. 1911 gibt Heidegger das Theologiestudium in Freiburg auf und schreibt sich in der Philosophie ein. 1919 macht ihn Husserl schließlich zu seinem Assistenten und Lehrbeauftragten. Die folgenden Jahre stehen noch ganz im Zeichen des phänomenologischen Projekts. Als Heidegger 1923/24 nach Marburg wechselt, bietet er als erste Vorlesung eine »Einführung in die phänomenologische Forschung« an (GA 17), in denen freilich schon andere Einflüsse spürbar sind, nicht zuletzt des Aristotelismus sowie der Lebensphilosophie. Das frühe Hauptwerk Sein und Zeit (1927), das ihm deutschlandweit Aufmerksamkeit einbringt, geht bereits ganz eigene Wege, obwohl es aber noch ausdrücklich dem Lehrer Husserl »in Verehrung und Freundschaft« gewidmet ist. In der Absicht stellt es sich in den Dienst einer »Erschließung der ›Sachen selbst‹«, und ausführlich wird an die griechischen Komponenten des Phänomenologiebegriffs (aus phainomenon und logos) erinnert. Die Aufgabe der Phänomenologie bestünde dann darin, so Heidegger, dasjenige, »was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen« (SuZ, 34). In den Kasseler Vorträgen (1925) wird dies ähnlich formuliert: »Phänomenologie ist also Ansprechen und Bestimmen dessen, was sich von ihm selbst her zeigt« (GA 80/1, 134). In diversen, auch späteren Texten wird Husserls Phänomenologie durchaus anerkennend verteidigt, etwa in Hegels Begriff der Erfahrung, wo gegen die hegelsche Phänomenologie des absoluten Geistes das relative Phänomenologieverständnis Husserls gelobt wird, das die konkrete Rückbindung an das notwendige ›Äußerliche‹ nie leugnet (GA 32, 19–24). Doch im Grunde ist bereits mit Sein und Zeit der Bruch mit Husserl vollzogen, was diesem selbst nicht entgangen ist, wie man aus Husserls Lesenotizen zu Sein und Zeit entnehmen kann (veröffentlicht in Breeur 1994). 4.2. Die 1920er-Jahre: Faktizität und Praxis
In § 55 seiner Ideen stellt Husserl diese wichtige Behauptung auf: »Alle realen Einheiten sind Einheiten des Sinnes« (Hua III/1, 120). Heidegger knüpft hier unmittelbar an, wenn er im Kriegsnotsemester von 1919 von der Phänomenalität des Sinns spricht. Darin müsse jede ernsthafte Philosophie ihren Ausgangspunkt nehmen, eben weil wir nicht zunächst Werten begegnen, ja nicht einmal zunächst Seiendem oder Dingen, sondern erst einmal schlicht nur »Bedeutsamkeiten« (GA 55/57, 70–73). Philosophie muss also zunächst einmal Sinn erschließen und er-
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schließen, wie es zu solchen Bedeutsamkeitsordnungen kommt. Husserls Freilegung der sinngebenden Vollzüge wird als bahnbrechende Leistung anerkannt, die Heidegger allerdings nicht weit genug geht: Es sei falsch, das Apriorische nur als das logisch Frühere anzusehen; darin müsse wieder der Bezug zur zeitlichen Vorgängigkeit vernommen werden (GA 20, 99). Zeitlichkeit wird geradezu zum Leitfaden von Heideggers Analysen in den 1920er-Jahren. Husserl, der das Interesse seines ehemaligen Assistenten an der Zeitfrage sehr wohl erkannt hat, überträgt ihm 1926 die Herausgabe seiner (von Edith Stein edierten) Vorlesungen zum inneren Zeitbewusstsein. Für Heidegger zeigt sich an Husserls bewusstseinsphilosophischer Behandlung der Frage allerdings, dass sie methodisch viel zu eng gefasst ist. Denn durch die Möglichkeit, nicht nur das Zeitbewusstsein zu erfassen, sondern auch so etwas wie Geschichtlichkeit in ihrer transindividuellen Faktizität, kann man dem Anspruch gerecht werden, jede Form von Sinn zu beschreiben. Schon in der Vorlesung von 1925 zur Geschichte des Zeitbegriffs, die gleichsam eine Vorform des zwei Jahre später veröffentlichten Werkes Sein und Zeit darstellt, hebt Heidegger ein Grundmerkmal zeitlicher Phänomene heraus: Sie sind »ek-statisch«, ruhen also niemals, sondern treiben gewissermaßen aus sich hinaus. Was für zeitliche Gegenstände gilt, trifft jedoch auch für denjenigen zu, der sie erlebt: das Subjekt bzw., in Heideggers Begrifflichkeit, das Da-Sein. Das Da-Sein ist stets an eine konkrete Stellung gebunden, allerdings immer schon auf die Welt hin entworfen, und greift sich selbst vorweg, nämlich auf Seiendes, das selbst erst durch diese Bezugnahme seinen Sinn erhält. Das Da-Sein ist zunächst nicht anders definiert als dadurch, dass es um sein Sein in der Welt geht. Während Husserl betont, die Wesensanalyse müsse vom Faktum absehen, rehabilitiert Heidegger den Vorrang des Faktischen und des Praktischen. Durch die praktische Bezogenheit sind wir immer schon anderswo, und diese praktische Transzendenz führt dazu, dass wir in unserem Da-Sein immer auch schon auf anderes hin ›entworfen‹ sind. Das »Sein des Intentionalen« (GA 20, 157), das bei Husserl unerörtert bleibt, müsse in dem jeweiligen Vollzugscharakter gedacht werden. Der konkrete Vollzug im intentionalen Entwurf ist bei Heidegger somit (i) praktisch und (ii) zeitlich gedacht. Dass das Da-Sein immer schon aus der jeweiligen Situation heraus auf anderes hin ›entworfen‹ ist, ist einerseits praktisch zu verstehen (im Sinne von alltäglichen Vollzügen, dem sogenannten ›Besorgen‹), aber auch zeitlich, insofern sich ein Dasein auch in die Zeit hinein entwirft. In seiner Betonung des zeitlich-existenziellen Selbstentwurfs liefert Heidegger der existenzialistischen Wendung ( B.III.2) – etwa Karl Jaspers oder Jean-Paul Sartre – wichtige Anregungen. Ausgehend von einer raumzeitlichen Verortung in einem »Da« findet ein Zukunftsentwurf statt, der zugleich so viel ist wie eine Selbstauslegung. Indem es seine eigenen Möglichkeiten auslegt, entfaltet ein Dasein nichts anderes als seine Wirklichkeit. Dieses fortwährende Auslegen setzt keine besondere theoretische Einstellung voraus, sondern fällt mit dem Leben selbst zusammen, so Heidegger, »es ist überhaupt kein Sichverhalten zu … (Intentionalität), sondern ein Wie des Daseins selbst« (GA 63, 15).
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B. Historische Entwicklungen
Wie ambivalent Heidegger in den 1920er-Jahren der Phänomenologie Husserls gegenüber ist, davon zeugen zahlreiche Auslassungen. In der Vorlesung zur Geschichte des Zeitbegriffs sagt er eingangs von sich, er sei Husserl gegenüber nach wie vor ein »Lernender« (GA 20, 168), beklagt jedoch wenig später, dass Husserls Phänomenologie »in der Grundaufgabe der Bestimmung ihres eigensten Feldes unphänomenologisch« sei und nach wie vor »unter dem Bann einer alten Tradition« stehe (GA 20, 178). Die nötige Neufundierung der Phänomenologie, die Heidegger als dringlich ansieht und die er, der Klarheit willen, meist unter anderen Begriffen wie ›hermeneutische Phänomenologie‹, ›Fundamentalontologie‹ oder ›Ereignisdenken‹ fasst, entzündet sich in erster Linie an Husserls Bewusstseinsphilosophie. Laut Heidegger krankt Husserls Phänomenologie daran, dass sie zwar die Intentionalitätsstruktur des Bewusstseins herausgearbeitet hat (›alles Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas‹), doch außen vor lässt, worin das ›Sein‹ des Bewusstseins besteht. In der Behauptung, das »reine Sein« des Bewusstseins analysieren zu wollen, und zwar unter Auslassung aller alltäglich-praktischen Geltungszusammenhänge, kommt die spezifische Seinsweise des Bewusstseins – so Heidegger – als solche nie in den Blick. Zwar erkennt er an, dass Husserl durchaus einen Unterschied macht zwischen einem »Sein des Bewußtseins« und einem »Sein als sich im Bewußtsein ›bekundendes‹ ›transzendentes‹ Sein« (so die explizite Formulierung in den Ideen; Hua III/1, 159), doch die Fundamentaluntersuchung über diese grundlegende Unterscheidung, die Husserl in Aussicht stellt, werde fatalerweise nie eingeholt. Durch Husserls letztlich primär erkenntniszentriertes Unterfangen bleibe nicht nur die spezifische Seinsart des Bewusstseins (das Bewusst-Sein) im Dunkeln, sondern auch der ontologische Status all dessen, was im Bewusstsein erfahren wird. Grund dafür sei die Privilegierung einer bestimmten Einstellung zur Welt, ohne dabei anderen Weltzugängen – nicht zuletzt praktisch-pragmatischer Art – hinreichend Rechnung zu tragen. Das Sein, das Husserl zulässt, ist bewusstes Sein, so Heidegger, und er trifft damit eine folgenschwere Vorentscheidung. Bevorzugt wird eine Haltung, »die ganz und gar nicht natürlich ist, sondern eine ganz bestimmte theoretische Haltung in sich schließt, eine solche, für die alles Seiende a priori als gesetzlich geregelter Ablauf von Vorkommnissen im räumlichzeitlichen Auseinander der Welt gefaßt wird« (GA 20, 155 f.) Anstelle einer Analyse davon, was es für Dinge heißt, im Bewusstsein gegeben zu sein (und darin zu ›in‹-existieren), bedarf es Heidegger zufolge einer Analyse dessen, was es für ein Seiendes heißt, in der Welt zu sein. Für Husserl bestand der Transzendenzcharakter des Bewusstseins darin, dass der Bewusstseinsakt stets über sich selbst hinausweist und sich das, was im Bewusstsein erfahren wird, nicht erschöpft in dem, was im Bewusstsein gegeben ist. Laut Heidegger jedoch ist die transzendentale Überschreitung nicht auf die Intentionalitätsstruktur des Bewusstseins beschränkt: Dass wir auf Dinge bezogen sind, die über das hinausgehen, was wir von ihnen erleben, hat zu tun mit einer »ursprünglichen Trans-
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zendenz: dem In-der-Welt-Sein« (GA 26, 170). Obwohl sich Heidegger dagegen verwehrt, seine Analytik des Daseins als Anthropologie rubriziert zu wissen, ist sie dennoch von vielen Schülern dahin gehend interpretiert worden: Wenn es in der Vorlesung 1929/30 über Welt – Endlichkeit – Einsamkeit heißt, der Stein sei »weltlos«, das Tier »weltarm« und der Mensch »weltbildend« (GA 29/30, 290– 293), dann werden hier Thesen über die anthropologische Differenz (oder sogar Sonderstellung) aufgestellt, die einerseits von der philosophischen Anthropologie (Plessner) und Zoologie (Uexküll, Portmann) kritisch diskutiert wurden, aber auch von der späteren Phänomenologie des Lebens (Hans Jonas). In der Welt zu sein, heißt Heidegger zufolge, immer schon in einem Bewandtniszusammenhang zu stehen, immer schon auf Dinge bezogen zu sein. Anstatt also zu fragen, wie ein Subjekt zu einem Objekt kommt, gilt es vielmehr zu begreifen, wie wir immer schon in Dingbeziehungen verstrickt sind. Diese Verhältnisse, in die die menschliche Existenz eingelassen ist, sind allerdings je auch Anlass dazu, sich zu sich selbst zu verhalten und sich selbst zu bestimmen. Das Dasein ist dann, Heidegger zufolge, »ein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht« (SuZ, §§ 79, 406). Der Sinn der Existenz ist ganz durch das »Vorlaufen zum Tode« (SuZ, § 53) geprägt – ein Denkmotiv, an dem sich verschiedene Schüler kritisch abarbeiten (laut Levinas, der Husserl und Heideggers Vorlesungen in diesen Jahren in Freiburg hört, sei die erste Erfahrung des Todes diejenige des »Todes der Anderen« [Levinas 1995; B.III.5 und D.III.2.2.4], während Hannah Arendt gar gleich der Todesanalytik eine »Philosophie der Gebürtlichkeit« entgegenhält; D.VIII.2). Wichtig ist ferner der Deutungscharakter des Daseins. Heidegger nennt dies, in einer Neubestimmung des von Schleiermacher her vertrauten Ausdrucks ›Hermeneutik‹. Gemeint ist damit eine Auslegungs tätigkeit, die nicht nur den Sinn historisch entfernter Texte betrifft, sondern die Existenz selbst (GA 60, 15): Hier sind die Anzeichen einer hermeneutischen Wendung zu verzeichnen ( B.III.3), die später von Autoren wie Gadamer oder Ricœur weitergeführt wird. 4.3. Die ›Kehre‹: Vom Sinn des Daseins zur Wahrheit der Seinsgeschichte
In den 1930er-Jahren findet in Heideggers Denken eine Umorientierung statt, die gemeinhin auch als ›Kehre‹ bezeichnet wird. In der Forschung wird bis heute gestritten, welche Reichweite diesem Ausdruck, den Heidegger selbst mehrfach verwendet, letztlich zuzumessen ist. Nach außen hin bilden 1929 die Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? und dann vor allem die Davoser Disputation mit Ernst Cassirer im Sommer desselben Jahres ein Schlüsselmoment: Während der Neukantianismus die metaphysische Frage weitgehend aus der akademi schen Diskussion verdrängt hatte, beanstandet Heidegger deren wert- und kulturphilosophischen Kurs. Die Davoser Disputation, die vor einer Hörerschaft zahlreicher später namhafter Intellektueller abgehalten wurde – Rudolf Carnap, Herbert Marcuse, Norbert Elias, Leo Strauss, Joachim Ritter oder Emmanuel Le-
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vinas –, wurde von vielen Teilnehmern im Rückblick als Titanenkampf beschrieben, in dem zwei unvereinbare Auffassungen von Philosophie aufein ander prallten. Dem alteuropäischen Humanismus Cassirers hält Heidegger eine heroisch gewendete Analytik der Endlichkeit menschlicher Existenz entgegen, die vor metaphysischen Abgründen nicht mehr zurückschreckt. Von Kant ausgehend, an dem sich der Deutungsstreit entzündet, hangelt sich Heidegger zurück an die Anfänge der europäischen Metaphysik. Man hat es dabei mit einer ganz eigentümlichen Verwandlung phänomenologischer Denkstücke zu tun: Während Heidegger einerseits (etwa im Hegel-Seminar) die Zugehörigkeit zu jedweder Art von »Phänomenologie« von sich weist (GA 32, 40), wird nun wieder vermehrt die Metaphorik der Evidenz bemüht, wenn auch freilich unter verändertem Vorzeichen. Während es in Sein und Zeit noch hieß, dass »Ontologie […] nur als Phänomenologie möglich« (SuZ, 35) sei, geht es Heidegger nun darum, den Sinn des Seins als etwas Entzogenes (und damit gerade nicht selbst in Erscheinung Tretendes) zu denken. Jenseits der formalen Reduktion beschwört Heidegger nun ein Seinsgeschehen, das sich ›lichtet‹ und historisch ›verdeckt‹ bzw. vergessen wurde. Goethes Gedanken über das »Urphänomen«, das in den frühen Vorlesungen noch mit dem Urphänomen des Lebens gleichgesetzt wurde, wird in den Jahren nach der Kehre mit dem griechischen Wahrheitsbegriff (a-lētheia als wortwörtliche »Un-Verborgenheit«) in Verbindung gebracht (GA 59, § 4). Im Sinne der von Heidegger konzeptualisierten ontologischen Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden habe die abendländisch-metaphysische Tradition immer nur das einzelne (ontische) Seiende denken können, nie aber das (ontologische) Verhältnis zum Sein selbst, das sich nicht durch Eigenschaften erfassen, sondern nur als »Zuruf« seines ereignishaften »Geschicks« erfahren lässt. »Seinsgeschichte« benennt dabei weniger einen historischen Ablauf als ein »Schicksal« des Seins (GA 71). Autoren wie Nietzsche und Hölderlin spielen in dieser ›seinsgeschichtlichen Kehre‹ eine wichtige Rolle, zu guter Letzt aber auch Platon selbst. Dessen Ideal des Philosophen, der den Staatenlenker lenkt, dürfte ein einflussreiches Vorbild abgegeben haben, als Heidegger 1933–1934 das Freiburger NS-Rektorat übernahm. Ob man darin den Ausdruck des eigenen Scheiterns vermuten muss oder nicht (zu den Verstrickungen in den Nationalsozialismus ausführlicher B.I.6): Jedenfalls verschiebt sich die Begrifflichkeit Heideggers ab der Mitte der 1930er-Jahre. An die Stelle einer schon in Sein und Zeit noch weithin ›dezisionistischen‹ Semantik (›Entschluss‹, ›Erschließung‹, ›Entwurf‹, bzw. ›Ermächti gung‹ in der »Rektoratsrede« von 1933) tritt nun ein Vokabular, das umgekehrt vielmehr das Passive und das Ereignishafte betont. Beherrschbarkeitsfantasien jeder Art deutet Heidegger im Kontext seiner modernekritischen Auslassungen in den Nachkriegsjahren als Inbegriff eines »berechnenden Denkens«, das noch ganz auf die Objektivierung und Zurichtung des »Seienden« aus sei, anstatt sich für die »Lichtung des Seins« selbst zu öffnen (GA 5, 337). Seine viel diskutierte Technikkritik, die er 1949 prominent in den sogenannten Bremer Vorträgen darlegt, deutet die
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moderne Technik allgemein als »Ge-Stell«, die das Sein auf Verfügbarkeit zurichtet (GA 79, 3–80; siehe auch D.IX). Diese Situation sei, so Heidegger, bereits durch seinsgeschichtlich-metaphysische Weichenstellungen entstanden, die ihren Anfang im aristotelischen Substanzdenken nehmen und über Descartes’ Repräsentationalismus selbst noch Husserls Phänomenologie der Bewusstseins konstitution leiten. Als er 1966/67 gemeinsam mit dem ehemaligen Schüler Eugen Fink, der eine Schlüsselrolle in der Archivierung von Husserls Nachlass gespielt hatte und seit 1948 in Freiburg eine Professur für Philosophie und Pädagogik innehatte, ein Seminar über Heraklit durchführt, hält er dem husserlschen Konzept der »Konstitution« ein Denken des »Zum-Vorschein-Kommens« entgegen (Heidegger/Fink 1970). 4.4. Ist Heideggers Denken noch Phänomenologie?
Der Bruch mit der husserlschen Phänomenologie scheint mit Sein und Zeit unumkehrbar vollzogen zu sein, jedenfalls entfernt sich auch das spätere Denken Heideggers immer stärker von Husserls Bewusstseinsphilosophie. Er habe versucht, so hält er Anfang der 1950er-Jahre rückblickend fest, »das Wesen der Phänomenologie ursprünglicher zu denken, um sie auf diese Weise eigens in ihre Zugehörigkeit zur abendländischen Philosophie zurückzufügen« (GA 12, 91). Dennoch ist es wohl kein Zufall, wenn Heideggers Denken immer wieder aus einer phänomenologischen Perspektive gelesen und gedeutet wurde. Seine zahlreichen detaillierten und anschaulichen Phänomenanalysen – von der Langeweile zur Gelassenheit und vom Werkzeug bis hin zu Malerei und Skulptur – sprechen dafür, dass diese Lesart keine Überstrapazierung darstellt. Aus Heideggers eigener Interpretation heraus ist festzustellen, dass er, bei aller Kritik, auf erstaunlich hartnäckige Weise an dem Phänomenologiebegriff festhält. Noch in den späten Zähringer Seminaren (1973) verwendet er ihn affirmativ, wenn auch in verschobener Bedeutung. Der »ursprüngliche Sinn der Phänomenologie« (GA 15, 399), heißt es dort, sei tautologisch, insofern er darin besteht, dasjenige zu zeigen, was sich zeigt. Das bedeutet freilich wiederum, dass solches, was sich zeigt, nie restlos eingesehen wird. Die Phänomenologie müsse zu einer ›Phänomenologie des Unscheinbaren‹ werden, darin aber weniger Methode als vielmehr ›Denkweg‹. Bereits in dem autobiografisch gehaltenen Text »Mein Weg in die Phänomenologie« von 1963 stand zu lesen, die Phänomenologie sei »in ihrem Eigensten keine Richtung«, sondern vielmehr »die zu Zeiten sich wandelnde und nur dadurch bleibende Möglichkeit des Denkens, dem Anspruch des zu Denkenden zu entsprechen« (GA 14, 101). Heidegger fügt hinzu: »Wird die Phänomenologie so erfahren und behalten, dann kann sie als Titel verschwinden zugunsten der Sache des Denkens« (GA 14, 101). Emmanuel Alloa
[Der Verfasser dankt Michael Großheim (Rostock) für wichtige Hinweise, die in die Erarbeitung dieses Kapitels eingingen.]
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B. Historische Entwicklungen
5. Phänomenologie im Nationalsozialismus Wer die Phänomenologie im ideengeschichtlichen Kontext des 20. Jahrhunderts – und zumal der 1930er- und 1940er-Jahre – verorten will, kommt um die Frage nach ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus nicht herum. Mit Hitlers Machtergreifung kam die phänomenologische Bewegung in Deutschland als kollektives Projekt an ein vorläufiges Ende; Fortsetzung fand sie allenfalls auf unterschiedlichen Emigrationswegen in anderen Sprachräumen ( B.II.1–2). Während dieser Tatbestand in vielen historischen Schilderungen zur Sprache kam, stellt die genaue Aufarbeitung der Phänomenologie unter der NS-Herrschaft bis heute eine Forschungslücke dar. Der erste Abschnitt dieses Kapitels gibt einen Überblick über einzelne Biografien und Haltungen sowie die damit verbundenen Schicksale. Daran anschließend wird die Frage aufgeworfen, inwiefern die Fälle direkter politischer Verstrickung (Martin Heidegger dürfte hierbei der weithin prominenteste Fall sein), aber auch die seltenen Fälle einer phänomenologisch begründeten Teilnahme am politischen Widerstand gegen die Naziherrschaft ein allgemeines Urteil über das Verhältnis von Phänomenologie und Parteinahme erlauben. 5.1. Situationen 5.1.1. Jüdische Phänomenolog:innen
Die Umstände sind bekannt: Ab 1933 mussten die Akademiker:innen jüdischer Herkunft zunehmend mit Verfolgung und Terror rechnen. Für einige wurde dadurch gar ihr Schicksal besiegelt: Der Lebensweg von Edith Stein, die sich nach ihrer Tätigkeit als Phänomenologin in Freiburg und ihrem politischen Einsatz in Breslau für die liberale DDP 1922 hatte taufen lassen und 1933 in den Karmeliterorden eingetreten war, endete 1942 in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Auch der Phänomenologe und Existenzialist Paul Ludwig Landsberg, der bereits früh vor den Gefahren des Nationalsozialismus warnte, wurde 1944 im KZ Sachsenhausen ermordet. Die meisten anderen Studierenden jüdischer Abstammung (Spiegelberg, Kaufmann, Schütz, Gurwitsch, Metzger, Stern, Gurian, Szilasi, Plessner, Arendt) verließen Deutschland ohnehin infolge der Verhängung der Rassegesetze. Unter ihnen bekannten sich nur Gurwitsch und Metzger zum jüdischen Glauben. Der bereits 1928 emeritierte Husserl, der sich wohl aufgrund seines Alters selbst nicht zutraute, seinen Kindern in die USA zu folgen, setzte seine Hoffnung auf die Gründung eines phänomenologischen Instituts in Prag, nicht unweit seiner Heimatstadt Proßnitz. Die Verhandlungen dazu scheiterten allerdings Ende 1935. Das Berufsbeamtengesetz, mit dem im April 1933 alle »nichtarischen« Beamten entlassen wurden, traf Moritz Geiger, der seit 1923 Ordinarius in Göttingen war. Er emigrierte in die USA und unterrichtete bis zu seinem Tode 1937 am Vassar College, Poughkeepsie. Nachdem 1935 der Lehrstuhl des inzwischen emeritierten Alexander Pfänder von dem überzeugten
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Nationalsozialisten Hans Grunsky besetzt wurde, waren alle noch lebenden Protagonisten der ersten Generation der phänomenologischen Bewegung außerhalb der deutschen Akademie. 5.1.2. Martin Heidegger
Der Nachfolger auf Husserls Lehrstuhl, Martin Heidegger ( B.I.4), übernimmt am 21. April 1933 das NS-Rektorat der Universität Freiburg und tritt zehn Tage später, am 1. Mai, der NSDAP bei. Bereits ein Jahr darauf legt er das Amt des Rektors frühzeitig nieder, unterstützt die NS-Herrschaft allerdings weiter. Ob und, wenn ja, zu welchem Zeitpunkt, in welchem Umfang und aus welchen Beweggründen es zur Ernüchterung kam, ist bis heute umstritten. Ausgeschlossen werden darf jedenfalls, dass die Niederlegung des Rektorats etwas mit einem politischen Gesinnungswandel zu tun haben könnte: Heidegger, der in seiner Rektoratsrede 1933 noch von der »Selbstbehauptung der deutschen Universität« träumt (GA 16, 107–117), stört sich offenbar daran, dass sein ehrgeiziges Ansinnen im Ministerium und in der Hochschulpolitik auf wenig Verständnis stößt. Noch 1936 ist er Mitglied des Ausschusses für Rechtsphilosophie und plant in Berlin eine (im weiteren Verlauf nie umgesetzte) nationalsozialistische Dozentenakademie. In Heideggers Rektoratszeit fällt die Aberkennung aller Rechte von Husserl aufgrund »nichtarischer« Herkunft (dass dieser zum Protestantismus konvertiert war, spielt keine Rolle) und in der zweiten Auflage von Sein und Zeit von 1941 tilgt Heidegger die Widmung an den Lehrer. Als Rektor erwirkt er die Absetzung verschiedener (jüdischer und nichtjüdischer) Kollegen, setzt sich allerdings auch für bestimmte jüdische Studenten wie Karl Löwith oder seinen Assistenten Werner Brock ein. Im Zuge der Entnazifizierung nach Kriegsende wird von einer Kommission ein Lehrverbot – und zwar bis zur Emeritierung 1951 – verhängt. Heidegger weigert sich hartnäckig, zu seinen NS-Jahren offen Rede und Antwort zu stehen, bis zu dem sogenannten, nur zur posthumen Veröffentlichung freigegebenen Spiegel-Interview von 1966 (GA 16, 652–683). Die unlängst publizierten Notizbücher aus dieser Zeit, die sogenannten Schwarzen Hefte, haben für neuen Diskussionsstoff in Forschung und Feuilleton gesorgt, nicht zuletzt aufgrund der dort enthaltenen explizit illiberalen und antisemitischen Bemerkungen ( B.I.6). 5.1.3. Sympathisanten und Opportunisten
Die Prominenz des »Falls Heidegger« überschattete andere Konstellationen, die sich durchaus divers gestalten. Eine unverhohlen nationalsozialistische Gesinnung lässt sich vor allem bei Ludwig Ferdinand Clauß (1892–1974) und Oskar Becker (1889–1964) nachweisen. Becker, der einen der seltenen Beiträge einer phänomenologischen Fundierung der Mathematik vorlegt ( D.1), wird Mitglied im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) und will die arische Rassenkunde
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B. Historische Entwicklungen
gemeinsam mit Clauß metaphysisch begründen. In Aufsätzen wie »Nordische Metaphysik«, die er 1938 in der völkischen Zeitschrift Rasse veröffentlicht, behauptet er, der Rhythmus in Nietzsches Dionysos-Dithyramben sei identisch mit dem Willen zur Macht und gebe den Takt für den Marschrhythmus der SA vor. Becker schlug zum Entsetzen Löwiths sogar den Terminus »Parametaphysik« vor, um seine Neubegründung der Philosophie auf »Blut und Boden« zu bezeichnen (Löwith 1986/2007, 46 ff.). Während sich an der Universität Freiburg durchaus auch eine Gruppe oppositioneller Professoren sammelte, darunter der mit der Familie Husserl befreundete Nationalökonom Walter Eucken, liebäugeln verschiedene Phänomenologen im Husserl-Umfeld mit der NS-Ideologie, darunter Hans Reiner und Dietrich Mahnke, die Mitglieder der SA wurden, wie auch ehemalige Mitglieder des Göttinger Kreises, darunter Alfred von Sybel, Hans Lipps und Friedrich Neumann. Lipps tritt sogar in die SS ein, während dem inzwischen zum Germanistikprofessor ernannten Neumann aufgrund seines Parteibuchs eine rasante Karriere als Rektor der Göttinger Universität beschieden war. Ludwig Landgrebe, dem eine Schlüsselrolle in der Archivierung von Husserls Nachlass zukommt, bemüht sich 1932 noch, die »Leistung und Funktion« des Nationalsozialismus objektiv zu würdigen, denn eine »Entscheidung ›für‹ oder ›gegen‹« sei genauso unmöglich wie die Entscheidung gegen ein »Elementarereignis« (HuDok III/4, 299 f.). Trotz der beinahe vollständigen Deportation der jüdischen Familie seiner Frau fällt Landgrebe erst nach der Verfolgung und Hinrichtung der Attentäter vom 20. Juli 1944 zum ersten Mal ein kritisches Urteil über den »Führer« und bezeichnet seine Hoffnungen in die NS-Bewegung als »Irrtum«. Den Einmarsch der Alliierten 1945, denen seine Frau und Kinder das Leben verdanken, nimmt er gleichwohl nicht als Befreiung, sondern als beklagenswerte Invasion wahr. Einige Schüler Husserls und Heideggers haben nach Kriegsende eigenen Aussagen zufolge bewusst den Weg in die Altphilologie und damit in ein unpolitischeres Refugium gesucht. Walter Bröcker (1902–1992), der sich 1934 in Freiburg mit einer Arbeit über Aristoteles habilitierte und dessen berühmtester Doktorand, Hans Blumenberg, die Phänomenologie später in Richtung einer philosophischen Anthropologie weiterentwickelte, war in dieser Zeit überzeugtes SA-Mitglied. Sein Kollege Hans-Georg Gadamer (1900–2002), der 1923 in Freiburg Vorlesungen von Husserl und Heidegger besucht hatte, begab sich, wie er nach dem Krieg darlegte, in »innere Emigration« und vermied – über die Beschäftigung mit klassischer Philologie und Platon-Studien –, sich in allzu politischen Gefilden zu bewegen. Das hinderte ihn gleichwohl nicht, am 11. November 1933 (wie Heidegger, Lipps, Mahnke und im Übrigen auch Nicolai Hartmann) das »Bekenntnis der Professoren an den Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler« zu unterschreiben und zwei Lehrstuhlvertretungen von vertriebenen jüdischen Professoren zu übernehmen, bis zum Antritt einer ordentlichen Professur in Leipzig 1939. Im besetzten Paris hält er 1941 am Deutschen Institut im Auftrag des NS-Regimes einen Vortrag über Herder, der dessen Geschichtsphilo-
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sophie antiaufklärerisch und volksspezifisch auslegt. Einige völkische Passagen in seinen Aufsätzen und Vorträgen aus dieser Zeit werden bei Nachkriegsveröffentlichungen wegretuschiert. In dem 1942 bei Klostermann publizierten Vortragstext »Volk und Geschichte im Denken Herders« ist noch von »Blut, Klima und Landschaft« die Rede und davon, dass durch Herder »das Wort ›Volk‹ in Deutschland […] eine neue Tiefe und eine neue Gewalt« gewinnt (Gadamer 1941, 23). 5.1.4. Katholischer Widerstand
Sucht man unter den phänomenologienahen Forscher:innen dieser Jahre nach einer eindeutigen NS-kritischen Front, wird man vor allem in den von Scheler beeinflussten katholischen Kreisen fündig, die sich in ihrer antikapitalistischen Kritik der Moderne mit dem Gedanken einer auf Körperschaften und Stände basierenden Gesellschaft gegen Liberalismus wie Totalitarismus gleichermaßen einsetzten. Dietrich von Hildebrand (1889–1977) war der einzige Phänomenologe nichtjüdischer Herkunft, der sich öffentlich gegen das Regime bekannte. Der Sohn eines berühmten Bildhauers, dessen im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 1916 veröffentlichte Dissertation einen ersten Versuch einer Phänomenologie der ethischen Stellungnahme vorlegt, gab in den 1930erJahren in Wien die hitlerfeindliche Zeitschrift Der Christliche Ständestaat heraus. Der schließlich nach dem Anschluss zur Emigration in die USA gezwungene von Hildebrand wetterte zwar als Dollfuß-Sympathisant gegen das Hitler-Regime, verteidigte aber gleichwohl Österreich als ›Hort des wahren Deutschtums‹. Eine zweite Figur ist der ungarnstämmige Aurel Kolnai (1900–1973), dessen Phäno menologie negativer Emotionen (Angst, Ekel, Hochmut) jüngst wiederentdeckt wurde und der in den 1930er-Jahren in Wien ebenfalls antitotalitäre Aufsätze publizierte, darunter 1933 »Der Inhalt der Politik«. Es handelt sich um ein vornehmlich gegen Carl Schmitt gewandtes Pamphlet: Politik verlaufe nicht entlang des Freund-Feind-Schemas, sondern der diskursiven Auseinandersetzung über das gemeinsame Schicksal. 1938 erscheint sein Buch Der Krieg gegen den Westen, eine umfassende Analyse der NS-Ideologie, speziell deren antiaufklärerische und konterrevolutionäre Dimension. Auch Kolnai ging schließlich ins Exil, um dann nach dem Krieg in London (1955–1968) und zuletzt an der Marquette University in Winsconsin (1968–1973) eine phänomenologische Ethik analytischer Prägung auszuarbeiten. Waldemar Gurian (1902–1954) wiederum, ein in St. Petersburg geborener Publizist jüdisch-armenischer Abstammung, war 1923 bei Max Scheler mit einer Arbeit über die Jugendbewegung promoviert worden. Er setzte sich für einen katholisch-demokratischen Widerstand ein. 1932 veröffentlichte Gurian, auf den die Charakterisierung Carl Schmitts als »Kronjuristen des Dritten Reichs« zurückgeht, unter dem Pseudonym Walter Gerhart eine Kritik der antisemitischen Metaphysik des aufsteigenden Nationalsozialismus. 1937 folgt er, nach einem Schweizer Exil, einem Ruf auf eine Professur an der US-Universität Notre Dame und gründet 1939 dort die Zeitschrift Review of Politics. Paul Ludwig
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Landsberg (1901–1944), der wie Gurian bei Scheler in Köln promoviert wurde, musste 1933 die Bonner Universität wegen seiner jüdischen Herkunft nach Spanien verlassen, bevor er aufgrund des spanischen Bürgerkrieges nach Paris floh. Ab 1937 lehrte er an der Sorbonne und schloss sich der personalistischen Bewegung um Emmanuel Mounier an. Er gab dieser zunächst politisch neutralen (und dem Faschismus gegenüber ambivalenten) Gruppe wichtige Impulse, vor allem durch seinen Aufruf zum Engagement der Intellektuellen gegen den Totalitarismus und durch seine Analyse der Propaganda des »Dritten Reichs«. Er engagierte sich im französischen Widerstand und starb 1944 im KZ Sachsenhausen. 5.1.5. Liberale und marxistische Faschismuskritiker
Der phänomenologisch inspirierte niederländische Linguist Hendrik J. Pos (1898–1955), dem Merleau-Pontys Sprachdenken viel verdankt, war Vorsitzender des antifaschistischen Bundes »Comité van Waakzaamheid«. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Niederlande wird er 1939 verhaftet und interniert, zunächst im KZ Buchenwald und dann 1941 im Arbeitslager bei Haaren. Nach dem Krieg organisiert er 1948 den Weltkongress der Philosophie in Amsterdam zum Thema »Freiheit«, bei dem er sich weigert, Nicolai Hartmann und Martin Heidegger aufgrund ihrer öffentlichen Unterstützung des Naziregimes einzuladen. Genauso kritisch gingen Helmuth Plessner (1892–1985) und Herbert Marcuse (1898–1979) mit Heidegger ins Gericht. Plessner, der bei Husserl in Göttingen und Freiburg gehört hatte und in Köln als Kollege von Max Scheler wirkte, warnte bereits 1926 vor den Gefahren des totalisierenden Gemeinschaftsideals kommunistischer und rassistischer Prägung. 1933 verließ er Deutschland und ging in die Niederlande. In Groningen hielt er 1934 eine Vorlesungsreihe, in der er nach den ideengeschichtlichen Gründen der politischen Verführbarkeit des deutschen Bürgertums suchte (1935; 1959 unter dem Titel Die verspätete Nation neu erschienen). Marcuse, der sich von 1929 bis 1932 in Freiburg aufhielt, wurde von Husserl selbst an Max Horkheimer empfohlen, der ihm 1933 die Leitung der Genfer Zweigstelle des aus Frankfurt emigrierten Instituts für Sozialforschung überantwortete. 1934 veröffentlicht er den Aufsatz »Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung«, in dem er mit Heidegger und dessen Rolle im Nationalsozialismus scharf ins Gericht geht. Aus dem amerikanischen Exil fordert er 1947 Heidegger auf, sich vom NS-Regime öffentlich zu distanzieren, was dieser im Antwortschreiben allerdings ablehnt mit dem Hinweis, dass er sich nicht mit jenen ehemaligen Nazianhängern gemein machen möchte, die in »der widerlichsten Weise ihren Gesinnungswechsel« (GA 16, 431) bekunden.
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5.1.6. Die Rettung von Husserls Nachlass
Für die Geschichte der Phänomenologie sind gleichwohl nicht nur die Exilsgeschicke einzelner Protagonist:innen von Belang, sondern auf lange Sicht sogar vorrangig das Schicksal von Husserls umfangreichem Nachlass. Nach der Verhängung des Lehr- und Prüfungsverbots 1933 arbeitet Husserl, unterstützt durch Ludwig Landgrebe und Eugen Fink, mit Hochdruck an der Archivierung seiner Forschungsaufzeichnungen. Der Plan, über den »Cercle Philosophique de Prague« dort ein Institut zur Erschließung und Erforschung seines Nachlasses zu gründen, das sich am Vorbild des von seinem Jugendfreund und ersten Präsidenten der Tschechoslowakei, Tomáš Masaryk, begründeten Brentano-Archivs orientieren sollte, misslingt schließlich 1935. Angesichts von Drangsalierungen eines im selben Haus wohnenden SA-Manns ziehen Edmund und Malvine Husserl 1937 aus der Wohnung in der Freiburger Lorettostraße aus. Wenig später erkrankt Husserl nach einem Sturz an einer Rippenfellentzündung und verstirbt am 27. April 1938. Die Rettung von Husserls Nachlass gelingt erst 1938 nach Husserls Tod durch den Einsatz eines belgischen Studenten und Franziskanermönchs, Pater Herman Leo Van Breda (Horsten 2021). Unter abenteuerlichen Umständen und im diplomatischen Koffer der belgischen Botschaft werden die Manuskripte während der Münchener Krise im Herbst 1938 von Freiburg nach Leuven in Sicherheit gebracht. Van Breda gewinnt mehrere Mitarbeiter, um Husserls Nachlass editorisch zu erschließen. Als erster internationaler Besucher des Husserl-Archivs kommt der junge Maurice Merleau-Ponty 1939 nach Leuven. 5.1.7. Eine französische Fortsetzungsgeschichte
Nachdem der Phänomenologie in Deutschland ein abruptes Ende bereitet wird, wird Frankreich zu einem wichtigen Durchgangsort für Geflüchtete. Während einige von ihnen nach Nordamerika weiterreisen, lassen sich andere auch vor Ort nieder und tragen dabei wesentlich zur Etablierung der Phänomenologie in französischer Sprache bei. Der in Vilnius 1901 geborene und mit seiner Familie vor den Pogromen geflüchtete Aron Gurwitsch (1901–1973) war in Göttingen mit einer Dissertation über Phänomenologie und Gestaltpsychologie promoviert worden und habilitierte sich 1933 mit einer phänomenologischen Klärung des weberschen Begriffs des Miteinanderseins in Berlin. Zwischen 1934 und 1939, vor seiner Auswanderung in die USA, verdingt er sich als Lehrbeauftragter für Wissenschaftsgeschichte an der Sorbonne und hält die ersten systematischen Vorlesungen zur Phänomenologie und Gestaltpsychologie. Diese Vorlesungen sind für viele Hörer prägend, unter ihnen auch Merleau-Ponty. Parallel dazu konstituiert sich der Straßburger Kreis um den Religionsphänomenologen Jean Héring (1890–1966), der auch maßgeblich für die Husserl-Rezeption in Frankreich wird. Hérings Schüler Emmanuel Levinas, selbst ein aus Litauen stammender jüdischer Student, verfasst mit Husserls Theorie der Anschauung (1930/2019)
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die erste Husserl-Monografie. Während Gurwitsch sich mit dem Nationalsozialismus erst im US-amerikanischen Exil auseinandersetzte, veröffentlicht Levinas seine Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus bereits ein Jahr nach der Machtergreifung (Levinas 1934/2007). Welche Bedeutung für Levinas’ Denken, dessen gesamte Familie ermordet wurde, die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur besitzt, das belegt die Widmung seines Spätwerks Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht: »Dem Gedenken der nächsten Angehörigen unter den sechs Millionen durch die Nationalsozialisten Ermordeten, neben den Millionen und Abermillionen von Menschen aller Konfessionen und aller Nationen, Opfer desselben Hasses auf den anderen Menschen, desselben Antisemitismus« (Levinas 1974/1992, 7). Verschiedene später prominent gewordene Phänomenologen kommen während des Krieges in Arbeitslager: Neben Levinas, der die Jahre von 1942 bis 1945 im Stalag XI B, Fallingbostel, verbringt, verfolgt Paul Ricœur zunächst die politischen Ereignisse im Arbeitslager als Mitglied des »Cercle Pétain« der Inhaftierten, um sich dann allmählich vom Pétain-Regime zu distanzieren, während Jean-Paul Sartre nach wenigen Monaten Haft dank der Intervention des Vichy-Anhängers Drieu la Rochelle befreit wurde. Es kommt zu unerwarteten intellektuellen Begegnungen, etwa wenn Ricœur in dem polnischen Arbeitslager Wietzendorf an der Übersetzung von Husserls Ideen arbeitet und bei dieser Gelegenheit den dort ebenfalls internierten italienischen Phänomenologen Enzo Paci (1911–1976) kennenlernt. 1941 wird in Paris die kurzlebige Gruppe »Socialisme et liberté« gegründet, der unter anderem auch der aus dem Arbeitslager freigekommene Sartre sowie Merleau-Ponty und Simone de Beauvoir angehören. Kurz vor Ankunft der Alliierten 1944 schließt sich Sartre Camus’ Zeitschrift Combat an und profiliert sich als Widerstandsintellektueller, indem er sich aktiv für die épuration (»Bereinigung«) der Kollaborateure einsetzt. Der aus der französischen Kolonie Martinique stammende Frantz Fanon (1925–1961), dessen von Sartre und Merleau-Ponty inspirierten Analysen der Rassifizierung heute zu den Standardwerken dekolonialer Literatur gehören, weigerte sich, für das Vichy-Regime zu kämpfen, und ließ sich nach Nordafrika einschiffen. Als er doch noch eingezogen wird und 1944 an der Vogesen-Front kämpft, wird er Opfer des strukturellen Rassismus in der französischen Armee, eine Erfahrung, die später prägend wird für Werke wie Schwarze Haut, weiße Masken (Fanon 1952/1980). 5.1.8. Spanien und Lateinamerika
Der Intellektuelle José Ortega y Gasset (1883–1955) gilt manchen als der Hauptvertreter des spanischen Existenzialismus. Ortega y Gasset, der sich um die Phänomenologierezeption in der spanischsprachigen Welt verdient machte, hatte verschiedene Schüler nach Freiburg an Husserl und Heidegger vermittelt, darunter José Gaos (1900–1969) und Xavier Zubiri (1898–1983). Während Zubiri, der bemüht war, eine existenzialistische Phänomenologie mit der modernen Phy-
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sik vereinbar zu machen und in Deutschland mit Albert Einstein und Max Planck korrespondierte, im Zuge des Spanischen Bürgerkriegs nach Madrid zurückkehrte, dort aber ab 1942 vom Franco-Regime akademisch mundtot gemacht wurde, wählt Gaos, der zwischendurch Rektor der Universität Madrid ist, 1938 den Weg ins lateinamerikanische Exil und hat als Professor an der mexikanischen UNAM in den Nachkriegsjahren eine Schlüsselstellung für die Entwicklung einer latein amerikanischen Tradition der Phänomenologie. Zubiris zeitweilige Assistentin María Zambrano (1904–1991), die sich auch an Ortega y Gassets Zeitschrift Revista de Occidente beteiligt, unterstützt während des Bürgerkriegs aktiv die republikanische Front. Als diese zusammenbricht, folgen Jahre des Exils: Paris, Kuba, Puerto Rico und vor allem Mexiko. 1945 veröffentlicht Zambrano eine düstere Zeitdiagnose (La agonía de Europa), in der sie Husserls Krisis-Schrift auf die Geschehnisse des Weltkonflikts anwendet. Den Hintergrund eines ihrer bekanntesten Bücher, die Antigone-Interpretation Antigones Grab (1967), bilden die Erfahrungen ihrer von der Gestapo in Frankreich gefolterten Schwester Araceli. 5.1.9. Nordamerika
Frankreich wurde eine wichtige Zwischenstation bei der Etablierung der Phänomenologie in Nordamerika. In Paris begegnen sich an der Sorbonne Aron Gurwitsch und Alfred Schütz (1899–1959). Der gebürtige Wiener Schütz, der später als Vertreter einer phänomenologisch orientierten Soziologie in den USA Generationen prägte, musste Österreich nach dem Anschluss aufgrund seiner jüdischen Herkunft verlassen und ging 1938 nach Paris. Während er als Rechtsberater der Pariser Bank Gaston-Dreyfus&Co. vielen jüdischen Exilant:innen hilft, lernt er den litauischstämmigen Phänomenologen Aron Gurwitsch kennen. Beide emigrieren wenig später in die USA und beteiligen sich am Aufbau der »New School for Social Research«, an der viele Exilintellektuelle wie auch Hannah Arendt lehren. Arendt, die bereits von Berlin aus und dann in Paris für die zionistische Flüchtlingsorganisation tätig gewesen war, äußert ihre Geringschätzung gegenüber den »gleichgeschalteten« Intellektuellen und fordert aktiven Widerstand. In dem kurzen, schon in New York verfassten Essay »We Refugees« (1943) verarbeitet sie ihre eigene Erfahrung in den Internierungslagern vor dem Hintergrund der Kategorie des staatenlosen Flüchtlings. Für die amerikanische Rezeption von Belang sind ihre Aufsätze über Existenzphilosophie, die kurz nach Kriegsende erscheinen, in denen sie Heideggers Schriften äußerst kritisch beurteilt, Camus und Jaspers hingegen vorbehaltlos verteidigt. Arendts erstem Ehemann, Günther Anders (1902–1992), war ein ähnliches Exilsschicksal beschieden. Der Sohn des Entwicklungspsychologen und Mitbegründers der Hamburger Universität, Willhelm Stern, hatte in Freiburg bei Husserl und Heidegger studiert und wurde bei Husserl mit einer Arbeit über logische Sätze promoviert. In Marburg lernt er in einem Seminar Heideggers Hannah Arendt kennen; beide heiraten wenig später. Nach einer kurzzeitigen Tätigkeit als Assistent Max Schelers in
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Köln 1926 zieht das Ehepaar nach Frankfurt, wo sie gemeinsam an ihrem Buch über Rahel Varnhagen und er an einem Habilitationsprojekt über Musikphäno menologie arbeiten. Nach dem Scheitern von Anders’ Habilitation – und damit dem Ende akademischer Perspektiven – geht das Ehepaar Stern-Arendt 1931 nach Berlin, wo der Nachname Stern durch das Pseudonym ›Anders‹ ersetzt wird. Anders verkehrt in Bertolt Brechts Kreis und leitet unter anderem eine Lektüre-Gruppe zu Hitlers Mein Kampf. Als die Gestapo nach der Machtergreifung 1933 seinen Namen in Brechts Notizbuch entdeckt, beschließt der jüdischstämmige Anders, Deutschland unverzüglich zu verlassen, und flieht nach Paris. Alle Juden in Deutschland, so hält er rückblickend fest, hätte Hitler automatisch in »politische Flüchtlinge« verwandelt, er habe aber obendrein als Philosophieren der Hitlerdeutschland verlassen müssen, »denn philosophieren ist ja das Gegenteil von ›doxa‹, geradezu das Sich-nicht-gleichschalten« (Anders 1982, 279). Anders’ in dieser Zeit entstandener Roman Die molussische Katakombe handelt von Erfahrungen von Totalitarismus und Widerstand. Während sich Arendt, die wenig später nach Paris nachzieht, mit ihrer Tätigkeit für die zionistischen Flüchtlingsorganisationen über Wasser halten kann, tut sich Anders beruflich schwer. Als die Ehe wenig später zerbricht, emigriert er 1936 in die USA, von wo er dann den Abwurf der Atombombe über Hiroshima und Nagasaki mitverfolgt – eine einschneidende Zäsur in seinem Intellektuellenleben, die er später in seiner zivilisationskritischen Technikphänomenologie verarbeitet. Es wäre dennoch unrichtig, die nordamerikanische Phänomenologie nur als eine Geschichte europäischer Geflüchteter darzustellen: Eine Schlüsselfigur ist der US-Amerikaner Dorion Cairns (1901–1973), der von Harvard aus sein Studium bei Husserl in Freiburg fortgesetzt hatte. Cairns setzte sich politisch für den Kriegseintritt der USA gegen Nazideutschland ein und verteidigte zugleich vor der amerikanischen Öffentlichkeit den Wert der deutschen Kultur. Mit Gurwitsch führt er einen Briefwechsel über die kulturellen Wurzeln der Nazi-Ideologie (Cairns/Gurwitsch 1991) und wird für seine Tätigkeit als Vernehmer von Kriegsgefangenen für die Air Corps an der italienischen Front ausgezeichnet. Alfred Schütz holt ihn 1954 an die »New School«, wo er in den 1960er-Jahren mit Aron Gurwitsch Phänomenologie unterrichtete. 5.2. Verstrickungsanfälligkeiten der Phänomenologie?
Die Geschichte der Phänomenologie mit ihren Irrwegen, Zwangsemigrationen und Neuanfängen ist unentwirrbar mit den politischen Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs verbunden. Lassen sich über die geschilderten Einzelschicksale hinaus allgemeine Schlüsse über das Verhältnis von Phänomenologie und politischer Haltung ziehen? Der tschechoslowakische Phänomenologe Jan Patočka, der sich bei Husserl in Freiburg 1936 habilitierte und als Dissident in Prag 1977 an den Folgen eines Polizeiverhörs starb, erklärte rückblickend, sein Berliner Studienaufenthalt kurz vor Hitlers Machtergreifung habe ihn grundlegend »politi-
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siert« (Patočka 1991, 395). Seine Ethik des Widerstands ist allerdings weniger seiner Husserl-Lektüre als vielmehr seinem eigenen tragischen Geschichtsbild geschuldet ( B.III.7). Patočkas Fall ist paradigmatisch: Ebenso wenig wie für die Nachkriegsautoren finden sich während der NS-Zeit viele Hinweis auf eine phänomenologische Herleitung für die jeweilige Parteinahme für oder gegen staatliche Gewalt. Aron Gurwitsch behauptet in dem Manuskript The Philosophical Roots of Nazism, die Geisteswissenschaften in Deutschland allgemein hätten in ihrer Betonung des »Verstehens« das Wirkliche letztlich nur noch als gegeben hinnehmen können: »[M]it dem Begriff ›Verstehen‹ verbindet sich in der Tat ein gewisses Einverständnis, eine Hinnahme bzw. gar eine Identifikation und in diesem Sinne eine Komplizenschaft mit dem Gegebenen, weil es wirklich ist« (zitiert nach Cairns/Gurwitsch 1991, 79). Gilt eine derartige Bemerkung womöglich für die phänomenologische Methode selbst? Nicht wenige Zeitgenossen waren dieser Meinung. Max Horkheimer, der 1920 zwei Semester in Freiburg bei Husserl studierte, sah in der Phänomenologie eine klassische Form von »traditioneller Theorie«, der er eine »kritische Theorie« meinte entgegenhalten zu müssen (Horkheimer 1937). Bei Walter Benjamin heißt es bekanntlich, den phänomenologischen Wesenheiten fehle der »historische Index« – und er fügte hinzu: »Heidegger sucht vergeblich, die Geschichte für die Phänomenologie abstrakt, durch die ›Geschichtlichkeit‹ zu retten« (Benjamin 1991, Bd. V, 577). Neben dieser ›Geschichtsvergessenheit‹ mehren sich vor allem die Angriffe auf Husserls Begriff der Wesensschau, die als Wegbereiterin jener Form von Esoterik und Okkultismus bezichtigt wurde. György Lukács sah in der husserlschen Methode bereits »imperialistische« und »irrationalistische« Tendenzen am Werk, die allerdings »erst durch Scheler und insbesondere durch Heidegger wirklich explizit wurden« (Lukács 1977, 16). Der Kunsthistoriker und Philosoph Edgar Wind (1900–1971), der zum ersten Kreis der WarburgSchule gehörte und später in die USA und nach Großbritannien auswanderte, bezeichnete Husserl als einen Blender und Mystagogen: »Im Winter 1919, ein Jahr nach dem Ende des letzten Krieges, studierte ich an der Universität Freiburg im Breisgau, wo ich den Ausführungen Edmund Husserls lauschte, ein Philosoph, der für seine neuere Methode höchsten Respekt genoss, den Gemeinplatz ins Obskure zu wenden. Er nannte sie ›Phänomenologie‹.« (Bredekamp/Wind 1998, 219) Eine Feststellung aufgreifend, die er schon 1925 in dem britischen Journal of Philosophy veröffentlichte, heißt es weiter: »Husserl hatte einen Lehrling namens Heidegger. 1919 war er ein Tutor, der die Verdunkelungen des großen Professors in einem eigenen, virtuosen Stil zurückgab.« (Ebd.) Als Jean-Paul Sartre 1946 an das US-amerikanische Smith College eingeladen wurde, an dem Wind zwischenzeitlich lehrte, warnte Wind vor dem »französischen Heidegger«. Er erinnerte in einem polemischen Artikel daran, dass der Sprachphilosoph und Logiker A.J. Ayer in der Zeitschrift Horizon nachgewiesen habe, dass Sartres Existenzialismus gegen alle logischen Gesetze verstößt, und sich ›progressive‹ Geister von Sartres Résistance-Nimbus nicht täuschen lassen sollten: Seine Rhe-
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B. Historische Entwicklungen
torik der existenziellen Angst besitze eine »teuflische Macht«, der kritische Intellektuelle nicht erliegen dürften (Bredekamp/Wind 1998, 220). Mit anderen Worten: Dass Husserl und Sartre sich anders als Heidegger nicht für den Nationalsozialismus engagierten, ändere nichts daran, dass ihr Denken als ›Gift‹ für die Demokratie wahrgenommen wurde. Winds in ihrer Schärfe unüberbotene Polemik veranschaulicht plastisch die Vorurteile, die viele – zumal angelsächsische – Zeitgenoss:innen in den Nachkriegsjahren gegenüber der Phänomenologie hegten. Sie mag einen Teil der Antwort darauf liefern, warum die vielen geflüchteten Philosoph:innen in Großbritannien und Nordamerika nicht alle mit offenen Armen empfangen wurden. Dass es innerhalb einer angelsächsisch-analytischen Tradition lange zu keiner nennenswerten Rezeption der Phänomenologie kam ( B.III.8), hat vielleicht auch etwas mit politischen Hintergrundüberlegungen zu tun. Viele der Mitglieder des Wiener Kreises und viele Logische Positivisten hatten zwar ebenfalls einen jüdischen Hintergrund, traten allerdings auch alle aus nicht nur persönlicher Weltanschauung, sondern aus philosophischen Gründen für demokratischen Pluralismus ein. Während Otto Neurath 1919 Mitglied der Münchner Räterepublik wurde und die argumentative Klarheit als Instrument zur größtmöglichen politischen Partizipation verteidigte, war Rudolf Carnap der Ansicht, expressionistisches Denken legitimiere den Autoritarismus und Austrofaschismus. Berühmt wurde, gerade auch in der angelsächsischen Welt, Carnaps Analyse von Heideggers Was ist Metaphysik?. Sätze wie ›Das Nichts nichtet‹ seien rundum inkon sistent und sinnlos. Carnap sprach der Metaphysik nicht jede Bedeutung ab, sie diene aber nur dazu, ein bestimmtes Lebensgefühl auszudrücken und nicht, um Tatsachen über die Welt auszusagen. Diese Aufgabe – den Ausdruck eines Lebensgefühls – erfülle sie allerdings auch nur sehr schlecht und solle sie daher besser an diejenige Kunst abtreten, die darin geübt ist: die Dichtung. Eine phänomenologische Beschreibung, die auf die Macht der Worte vertraut, um Strukturen ›erfahrbar‹ werden zu lassen, ist damit diesem logizistischen Verständnis der Philosophie gemäß prinzipiell nicht satisfaktionsfähig. Die Aufarbeitung der einzelnen Haltungen und Lebenswege im National sozialismus, die für andere philosophische Schulen und Disziplinen bereits detailliert stattgefunden hat, steht für die Phänomenologie noch aus. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass diese Rekonstruktion jedoch von der Aufarbeitung der historischen Wahrnehmung der Phänomenologie als Methode nicht losgelöst werden kann. Emmanuel Alloa, Emanuele Caminada
I.6. Heideggers Schwarze Hefte. Eine Bestandsaufnahme
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6. Heideggers Schwarze Hefte. Eine Bestandsaufnahme 6.1. Vier Themen
Dass Martin Heideggers Schwarze Hefte innerhalb dieses Handbuchs in einem eigenen Beitrag behandelt werden, liegt nicht an ihrem Stellenwert für die Geschichte der Phänomenologie, sondern an ihrer politischen Brisanz. Nach vollständiger Veröffentlichung werden die Schwarzen Hefte die Bände 94 bis 102 der Gesamtausgabe füllen. In diesen Notizbüchern, deren Name schlicht auf den schwarzen Einband zurückgeht und die Heidegger über einen Zeitraum von vierzig Jahren führte, finden sich viele Bemerkungen, die neue Schlaglichter auf sein Denken werfen. Gelegentliche Auslassungen zu Husserl erlauben auch hier, Heideggers Stellung zur Phänomenologie besser zu fassen. Eine im Spätsommer oder Herbst 1939 verfasste Notiz hält fest, Husserls Leistung sei zwar »von bleibender Wichtigkeit«, reiche aber »nirgends in die Bezirke wesentlicher Entscheidungen« (GA 96, 46). Hinter seinem »›Angriff‹ gegen Husserl« stehe in Wirklichkeit ein Einsatz gegen das »Versäumnis der Seinsfrage […], auf deren Grund die Machenschaft des Seienden die Geschichte zu bestimmen vermag« (GA 96, 47). Nach dem Zweiten Weltkrieg notiert er: »Ich bin an Husserl vorbeigegangen; das war eine schmerzliche Notwendigkeit.« (GA 97, 463) Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses an den Schwarzen Heften stehen jedoch die seit 2014/15 bekannten Aufzeichnungen aus den 1930er- und 1940erJahren, die eine heftige Debatte über Heideggers Antisemitismus und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus auslösten (vgl. unter anderem Heinz/Kellerer 2016; Homolka/A. Heidegger 2016; Farin/Malpas 2016; Gander/Striet 2017; Lapidot/Brumlik 2018; G. Fried/Polt 2018). Um diese Aufzeichnungen und um deren Beurteilung geht es in diesem Beitrag. Schon vor der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte hat die Forschung umfangreiche Belege beigebracht, die zeigen, dass Heideggers Mitwirkung am NSRegime ihn nicht nur als Person kompromittiert, sondern sich in seinem philosophischen Werk spiegelt. So sind die Schwarzen Hefte gewissermaßen ein Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen gebracht hat, das vorher schon öfter übergelaufen war. Gleichwohl bleiben vier Punkte bei der Deutung dieser Hefte und anderer Texte aus den 1930er- und 1940er-Jahren umstritten. (1) Wie sind die verschiedenen Textgattungen zu gewichten? Wie also steht es um das Verhältnis zwischen den Schwarzen Heften, den Vorlesungen, Seminar notizen und in jener Zeit publizierten Texten? Denkbar wäre einerseits, den provisorischen Charakter der Schwarzen Hefte zu betonen, ihnen also im Vergleich zu anderen Texten einen geringeren Grad von Autorisierung zuzuschreiben. Andererseits könnte der private Charakter dieser Notizen als Hinweis darauf genommen werden, dass sie seine Überzeugungen authentisch zum Ausdruck bringen. Ferner muss bedacht werden, dass Heidegger selbst deren Veröffentlichung vorgesehen hatte als abschließenden Teil der Gesamtausgabe. Tatsächlich handelt
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B. Historische Entwicklungen
es sich bei den Schwarzen Heften vorwiegend um fertig ausgearbeitete Texte, die man schwerlich als Gelegenheitsnotizen abtun kann. (2) Wie groß ist die Nähe zwischen Heideggers Philosophie und der national sozialistischen Ideologie in der Phase, die als heiße Zeit seines Engagements bezeichnet werden darf? Eine besondere Schwierigkeit bei der Durchführung dieses Vergleichs liegt darin, dass es sich bei der NS-Ideologie nicht um ein geschlossenes Gebilde, sondern um ein Konglomerat verschiedener Versatzstücke handelt (Rohkrämer 2020). (3) Auf welche Jahre lässt sich diese heiße Zeit genau eingrenzen? Im Mittelpunkt steht hier die Frage, welche Entwicklung Heideggers Denken nach seinem Rücktritt als Rektor der Universität Freiburg 1934 nimmt – eine Frage, die an Brisanz gewinnt, weil seine antisemitischen Ausfälle fast ausschließlich erst in den Schwarzen Heften ab 1938 auftreten (Trawny 2015, 34; Thomä 2016, 217– 221). (4) Wie verhält sich diese heiße Zeit zur Vor- und Nachgeschichte von Heideggers Denken, also insbesondere zu Sein und Zeit einerseits, zu den späten Texten über Ereignis, Geviert, Sprache und Technik andererseits? Gesucht wird hier – negativ gesagt – nach einer braunen Spur, die möglicherweise schon in den 1920er-Jahren erkennbar ist und/oder in die Nachkriegstexte hineinreicht. Zu prüfen ist – positiv gefragt –, welches philosophische Gewicht Heideggers frühen und/oder späten Texten zukommt. Im Rahmen eines Handbuchs zur Phänomenologie hat dabei die Deutung von Sein und Zeit besondere Bedeutung (Heinz/ Bender 2018). Im Rahmen dieses Beitrags müssen kurze Hinweise zu den ersten drei Punkten genügen. Der letzte Punkt soll näher erörtert werden. Zu (1): Heidegger hat sich nicht nur verschiedener Gattungen bedient – Ab handlung, Vortrag, Dialog, Gedicht usw. –, sondern war sich dessen bewusst, dass die Form auf den Inhalt durchschlägt. Auch die Frage des Adressaten, also der Ansprache des Publikums oder der Zwiesprache des Denkers mit sich selbst, hatte für ihn hohe Bedeutung. In den Schwarzen Heften heißt es, dass er in seinen »Vorlesungen« ein »Verstecken« praktiziere (GA 94, 257) und im »Betrieb« eine Maske« trage (GA 94, 305). Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass diesen Heften ein privilegierter Status als unverstellter Ausdruck seines Denkens zukommt. Bekräftigt wird dies durch das Motto des Hefts von 1947/48. Es stammt von Leibniz und lautet: »Qui me non nisi editis novit, non novit.« – »Wer mich nur aus meinen Veröffentlichungen kennt, der kennt mich nicht.« (GA 97, 325) Zu (2): Die langwierige Kontroverse, ob Heideggers Kollaboration mit den Nazis auf einem Missverständnis beruhe, an punktuellen Affinitäten hänge oder auf einer weitgehenden Übereinstimmung der Positionen beruhe, kann hier nicht rekonstruiert werden. Heidegger hat sich dankbar auf die dem NS-Funktionär Otto Wacker zugeschriebene Einschätzung berufen, in seiner Rektoratsrede komme ein »Privatnationalsozialismus« zum Ausdruck (GA 16, 381). Diese Formulierung legt eine Sonderrolle des Philosophen nahe. In die gleiche Kerbe scheint die
I.6. Heideggers Schwarze Hefte. Eine Bestandsaufnahme
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Unterscheidung zwischen »Vulgärnationalsozialismus« und »geistige[m] Nationalsozialismus« zu schlagen, die sich in den Schwarzen Heften findet (GA 94, 135, 142). Doch Heidegger selbst verwahrt sich gegen jene Lesart der Absonderung; denn mit dem ›geistigen Nationalsozialismus‹ meint er nicht seine private Agenda, sondern nichts anderes als die reale Bewegung, der er sich an den Hals wirft. So reagiert er 1933 unwirsch auf den Vorschlag, die nationalsozialistische Revolution »zu vergeistigen und zu veredeln«, und stellt die rhetorische Frage: »Mit welchem Geist vergeistigen? […] Der Geist ist schon da« (GA 36/37, 7). Verkörpert wird dieser Geist, wie Heidegger bekräftigt, von Adolf Hitler (GA 16, 189). Zu (3): Nicht nur der Grad der Übereinstimmung zwischen Heidegger und dem Nationalsozialismus ist umstritten, sondern auch deren Dauer. Während die meisten Interpreten Heideggers Distanzierung auf die zweite Hälfte der 1930erJahre datieren, behaupten andere, dass er den Nazis bis ins Jahr 1939 oder weit darüber hinaus die Treue gehalten habe (Faye 2009). Dazu scheint diese Notiz aus dem Jahr 1938/39 zu passen: »Aus der vollen Einsicht in die frühere Täuschung über das Wesen und die geschichtliche Wesenskraft des Nationalsozialismus ergibt sich erst die Notwendigkeit seiner Bejahung und zwar aus denkerischen Gründen.« (GA 95, 408) Doch die ›Bejahung‹ ist hier – anders als 1933 – nicht als Begrüßung gemeint, sondern als Anerkennung eines Tiefpunkts der Seinsgeschichte, durch den der andere Anfang überhaupt erst möglich wird (Di Cesare 2015, 114; Thomä 2017): »Wie soll der Tag kommen, wenn ihm die Nacht vorenthalten wird« (GA 95, 34)? Folgt man der These, dass Heidegger Ende der 1930er-Jahre auf Distanz zum Nationalsozialismus geht, so bleibt der irritierende Befund, dass er erst in dieser Phase Invektiven gegen die Juden in den Schwarzen Heften lanciert. Diese Angriffe besetzen nun – anders als die schon vorher auftretenden, eher beiläufigen antisemitischen Äußerungen (vgl. z. B. Heidegger 2005a, 51, 112, 116) – Schlüsselstellen seines Denkens. Erklären lässt sich dieser gewissermaßen verspätete Antisemitismus allenfalls so, dass Heidegger während der Hochphase seiner Identifikation mit den Nazis die von ihm empfundene »Beglückung« (GA 94, 111) durch keinen Seitenblick auf mögliche Widersacher beeinträchtigen will (GA 94, 153). Erst als er in die Defensive getrieben ist, nimmt er die Juden ins Visier. Zu (4): Welche Verbindungslinien lassen sich von den Schwarzen Heften zum Früh- und Spätwerk Heideggers ziehen? Diese – im Unterschied zu den vorausgehenden – philosophisch entscheidende Frage kann hier nur an zwei Beispielen verhandelt werden, in denen der Antisemitismus jeweils eine zentrale Rolle spielt. Sie sind unter den Überschriften ›Weltlosigkeit‹ und ›Machenschaft‹ zu fassen. 6.2. Weltlosigkeit
Ein Eintrag aus den Schwarzen Heften von 1938 lautet: »Eine der verstecktesten Gestalten des Riesigen und vielleicht die älteste ist die zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens, wodurch die Weltlosig-
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B. Historische Entwicklungen
keit des Judentums gegründet wird.« (GA 95, 97) Philosophisch relevant wird diese Notiz dadurch, dass sie einen Zentralbegriff aus Sein und Zeit aufruft: nämlich eben die ›Weltlosigkeit‹ und in eins damit die ›Welt‹ und das ›In-der-WeltSein‹. Im Rückschluss von der gerade zitierten Stelle ist die These aufgestellt worden, dass es sich schon bei der ›Welt‹ in Sein und Zeit um ein völkisches oder rassistisches Konzept handle, das implizit auf die Ausschließung und Diskriminierung vermeintlich weltloser Juden angelegt sei (Faye 2009). Analog hierzu ist die Frage gestellt worden, ob die in der Vorlesung 1929/30 (GA 29/30, 261–396) vorgenommene Unterscheidung zwischen ›weltbildendem Menschen‹, ›weltarmem Tier‹ und ›weltlosem Stein‹ den Boden dafür bereite, ›weltlose‹ Juden als physisches Material unterhalb der Stufe der Tiere anzusiedeln (Faye 2014, 311 f.). Diese Rückschlüsse, die letztlich auf eine Demontage von Heideggers Denken der 1920er-Jahre hinauslaufen, sind auf Kritik gestoßen. Der These, dass Heideggers Weltbegriff völkisch imprägniert sei, steht demnach entgegen, dass er seinerzeit zwar nicht explizit die Juden, aber z. B. die ›Senegalneger‹ für weltfähig gehalten hat (GA 56/57, 73 ff.) – übrigens in Abweichung von seinem Votum von 1938, ›Neger‹ hätten keine ›Geschichte‹ (GA 38A, 79–82). Darüber hinaus wird geltend gemacht, dass die Rede vom ›weltlosen Subjekt‹ in Sein und Zeit nicht einem rassistischen Vorurteil entspringe, sondern ihren Ort in der Descartes-Kritik habe, die diskutable Argumente gegen die Aufspaltung zwischen dem ›isolierten Subjekt‹ und der ›Außenwelt‹ vorbringe (SuZ, 206, vgl. 192, 211, 236, 316, 366, 388; vgl. GA 20, 163 f., 247 f., 329; vgl. Thomä 2019). Was schließlich die Befunde aus der Vorlesung von 1929/30 betrifft, so dienen sie gemäß Heideggers Systematik gerade dazu, den Unterschied zwischen ›Mensch‹ und ›Stein‹ ontologisch zu stabilisieren. 6.3. ›Machenschaft‹
Während die den Juden in den Schwarzen Heften zugeschriebene ›Weltlosigkeit‹ auf Heideggers frühe Philosophie verweist, steht die ihnen zur Last gelegte »Machenschaft« im Kontext der in den 1930er-Jahren einsetzenden und bis ins Spätwerk reichenden Auseinandersetzung mit der Technik als Gipfel der Seinsvergessenheit. In einer Notiz aus dem Jahr 1939 heißt es: »Die zeitweilige Machtsteigerung des Judentums […] hat darin ihren Grund, daß die Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen Entfaltung, die Ansatzstelle bot für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechenfähigkeit.« (GA 96, 46) Den Juden wird vorgehalten, die »Übermächtigung des Lebens durch die Machenschaft« zu betreiben (GA 96, 56). Das »›internationale Judentum‹« betreibe eine »machenschaftliche ›Geschichts‹-Mache« (GA 96, 133). Die Brisanz dieser Bemerkungen liegt darin, dass sie einen Schatten auf Heideggers Denken der Technik nach 1945 werfen. An dessen Ursprung steht, wie sich nun zeigt, eine Kampagne gegen jüdische ›Machenschaft‹, die in einem engen Zusammenhang mit den Überlegungen zu ›Macht‹, ›Maschine‹ und ›Tech-
II. Rezeptionen der Phänomenologie
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nik‹ steht: »Die Machenschaft, die diesen Zwang einrichtet und in der Herrschaft hält, entspringt dem Wesen der Technik, das Wort hier identisch gesetzt mit dem Begriff der sich vollendenden Metaphysik.« (GA 7, 97) Letztlich erweist es sich als irreführend, mit Bezug auf Heidegger überhaupt von Technikkritik (Vietta 1989) zu reden. Dass die Technik ihm zufolge in einem totalen Zerstörungswerk gipfle, mit dem die Metaphysik sich – angeblich unter Federführung der Juden – selbst erledige, wird von ihm vielmehr als notwendige Voraussetzung für den anderen Anfang begrüßt. »Die Geschichte des Seyns muß […] durch die Verwüstung hindurch.« (GA 69, 94) Der »letzte Akt« der »höchsten Vollendung der Technik«, so schreibt Heidegger 1941, »wird sein, daß sich die Erde selbst in die Luft sprengt und das jetzige Menschentum verschwindet. Was kein Unglück ist, sondern die erste Reinigung des Seins von seiner tiefsten Verunstaltung durch die Vormacht des Seienden.« (GA 96, 238) In dieser posthumanistischen Vision werden nicht nur die Juden, sondern die Menschen dem Verschwinden und der Vernichtung ausgeliefert. Die Tatsache, dass Heidegger Judentum und Machenschaft identifiziert, hat makabre Konsequenzen. Allgemein kann man sagen, dass sich bei ihm die Bedeutung des Jüdischen verdoppelt: Neben das Jüdische, welches an ein Volk oder einen Glauben gebunden ist, tritt bei ihm das »wesenhaft ›Jüdische‹ im metaphysischen Sinne«, also das ›Jüdische‹ in Anführungszeichen – eine Eigenschaft, die nach Heidegger allen Repräsentanten der ›Machenschaft‹ eigen ist, sogar denen, die »gegen das Jüdische« (ohne Anführungszeichen) »kämpf[en]« (GA 97, 20). Hier ist der Gipfel der Absurdität erreicht: Die nationalsozialistische Judenvernichtung wird gewissermaßen zum innerjüdischen Problem erklärt: also im Sinne der oben genannten Doppelung als Wendung des ›Jüdischen‹ gegen die Juden. Opfer und Täter werden in einen Topf geworfen. Diese Deutung steckt auch hinter Heideggers kalter Gleichstellung von »motorisierte[r] Ernährungsindustrie« und der »Fabri kation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern« (GA 79, 27). Zusammenfassend lässt sich sagen: Nach Kenntnis der Schwarzen Hefte zeigt sich, dass Heidegger seine eigene Husserl-Kritik als Teil einer Abrechnung mit der ›machenschaftlichen‹ Seinsvergessenheit deutet und dass seine ›Frage nach der Technik‹ nach 1945 direkt aus seinen Invektiven gegen die Juden hervorgeht. Umgekehrt wird allerdings auch deutlich, dass Heideggers frühe Philosophie des ›In-der-Welt-Seins‹ unabhängig von seinem Antisemitismus diskutiert werden kann. Dieter Thomä
II. Rezeptionen der Phänomenologie Dieses Kapitel bietet eine ›Kartografie‹ der Phänomenologierezeptionen in ihren historischen und sprachgeografischen Verästelungen. Es basiert auf der Pionierarbeit Herbert Spiegelbergs, unterscheidet sich aber davon insofern, als der Fokus
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B. Historische Entwicklungen
hier lediglich auf die »wider scene« (Spiegelberg 1994, 653) der phänomeno logischen Bewegung statt auf ihren Kern, d. h. die Philosophien der »founding fathers« (ebd., 19), gelegt ist. Der Begriff ›Rezeption‹ in Bezug auf die Phänomenologie kann zweierlei Anlässe für Bedenken geben. Erstens ist mit diesem Terminus gemeinhin die Aufnahme fremden Gedankenguts gemeint, das mehr oder weniger bereits vollständig existierte, bevor man es zu rezipieren anfing. Phänomenologie aber begann rezipiert zu werden, als ihr Gründer, Edmund Husserl, sie noch nicht als eine ›fertige‹ Wissenschaft etabliert hatte – was teilweise zu heftigen Streitigkeiten selbst innerhalb der frühen phänomenologischen Bewegung führte. Zweitens hängt Letzteres damit zusammen, dass jedes gemeinschaftliche Rezipieren den Zusammenhalt einheitlicher Traditionen fördert, während sich die phänomenologische Bewegung eher als Geschichte von »Häresien« (Ricœur 1953/2004, 182) kennzeichnen lässt. Dementsprechend will die folgende knappe Darstellung der Phänomenologien weltweit dazu beitragen, den Rezeptionsbegriff hinsichtlich der phänomenologischen Forschung neu zu denken. Da sich Ländergrenzen im Lauf der Geschichte verschieben, gibt es selbstverständlich keine genaue Deckung von Sprachräumen und staatlichen Gebieten. In Mitteleuropa gibt es seit Langem einen hohen Grad an Vielsprachigkeit und so wandeln sich auch Wissenschaftssprachen und Diskurslandschaften. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts galt zunächst Deutsch, dann Französisch und mittlerweile Englisch als lingua franca, im Fall der Phänomenologie fungieren diese drei Sprachen auch weiterhin als Hauptträger und -vermittler der phänomenologischen Debatten. Dies gilt auch in institutioneller und in publikationsstrategischer Hinsicht, wie beispielsweise die Buchreihe Phaenomenologica oder die Zeitschrift Phänomenologische Forschungen zeigen. Allgemein ist zu beachten, dass sich die Entwicklungs- und Wirkungsgeschichte der Phänomenologie nur verstehen lässt, wenn man die tiefgreifenden geopolitischen Brüche des 20. Jahrhunderts berücksichtigt. Im Zusammenhang der beiden Weltkriege sind die Migrationsgeschichten zahlreicher Phänomenolog:innen zu beachten. Schon früh sind Denker aus Russland oder Litauen wie beispielsweise Nicolai Hartmann (aus St. Petersburg stammend), Emmanuel Levinas (Kaunas) oder Aron Gurwitsch (Vilnius) zunächst nach Mitteleuropa (etwa nach Prag) gekommen, sodann nach Frankreich weitergezogen, um schließlich in die USA auszuwandern. Da viele Phänomenolog:innen jüdischer Herkunft waren, ist die Thematik der Entwicklung der Phänomenologie in der Diaspora eigens zu bedenken, was im vorliegenden kurzen Überblick freilich nicht eingehend geschehen kann. Im Folgenden werden daher vielmehr je nach Eignung sprachliche oder geografische Einordnungen vorgenommen, um die Richtungen und Tendenzen der Ausbreitung der Phänomenologie weltweit bis heute zu umreißen.
II.1. Deutscher Sprachraum
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1. Deutscher Sprachraum Auch wenn sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst eine philosophische Bewegung in Mitteleuropa mit Zentrum in Deutschland war, schlug die Phänomenologie umgehend in anderen Sprachräumen durch, was sich auch auf die deutschsprachige Philosophie auswirkte. Diese Rückwirkungen aus dem Ausland haben die phänomenologische Forschung in Deutschland, Österreich und der Schweiz bis heute wesentlich beeinflusst, ja sogar motiviert. Die »Gründungs- und Blütephase« (Waldenfels 1988, 143) der deutschen Phänomenologie entspricht dem sogenannten »phänomenologischen Frühjahr« (nach einem Ausdruck von Jean Héring, zitiert in Spiegelberg 1994, 166). Bereits in dieser Anfangsphase der phänomenologischen Bewegung kommen Rezeptionsdynamiken ins Spiel. Der Münchener Kreis bildete sich 1901 nach der Veröffentlichung von Husserls Logischen Untersuchungen auf Anregung ehemaliger Studenten wie Theodor Lipps und insbesondere Alexander Pfänder (1870– 1941) und Johannes Daubert (1877–1947). Er zeichnete sich durch sein Interesse an analytischer und deskriptiver Psychologie sowie an Problemen der Wertlehre und Ästhetik aus. Nach seiner Berufung in Göttingen begann Husserl dort eine Reihe von Studenten anzuziehen, die einen Gruppengeist entwickelten und 1907 die Initiative zur Gründung einer philosophischen Gesellschaft ergriffen ( B.I.2). Dessen Anhänger, die sich bald um Adolf Reinach (1883–1917) scharten, nahmen sich Husserls Devise »Zu den Sachen selbst« zu Herzen und verstanden die Phänomenologie vornehmlich als eine Philosophie der Essenzen (sprich »Wesensphänomenologie«) (ebd., 175). Sofern für beide phänomenologischen Kreise Phänomenologie etwas anderes als für Husserl zu diesem Zeitpunkt bedeutete, kann hier von kritischer Rezeption gesprochen werden. Anders verhält es sich mit der sogenannten ›Freiburger Gruppe‹ (ebd., 240 ff.; B.I.3). Bezeichnend für diese ist die Tatsache, dass in Freiburg, wo Husserl ab 1916 seine Lehrtätigkeit fortführte, kein Kreis von Schülern entstand, vielmehr eine heterogene Ansammlung von sich im Schatten Husserls bewegenden philosophischen Einzelgängern, sodass von einem Freiburger Stil des Philosophierens nicht die Rede sein kann (Orth 1989, 251; kritisch dazu Embree 2016). Auch hier wird jedoch Husserls Phänomenologie unterschiedlich rezipiert; denn was die meisten Freiburger Phänomenolog:innen vereint, ist ein viel breiteres Interesse an den metaphysischen Möglichkeiten der Phänomenologie im Unterschied zu ihren methodischen Problemen und mikroskopischen Analysen. Die politische und kulturelle Katastrophe der nationalsozialistischen Diktatur und ihres Antisemitismus sowie schließlich der Weltkrieg verursachten eine fundamentale Umwälzung des philosophischen Diskurses in Deutschland. Dies betraf im höchsten Maße die Phänomenologie, die aufgrund der jüdischen Abstammung ihres Hauptvertreters auf den Index der unerwünschten geistigen Bestrebungen gesetzt wurde. Der 1933 politisch erzwungene Exodus zahlreicher deutscher Phänomeno log:innen hinterließ im Nachkriegsdeutschland ein »Vakuum« (Waldenfels
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B. Historische Entwicklungen
1988, 158), in dem sich die existenzialistischen Züge des Denkens Heideggers malgré lui durchsetzten. Alle Philosophie in Deutschland – so schreibt noch 1958 Aron Gurwitsch an Alfred Schütz – stand »im Schatten Heideggers« und Husserl war »kaum mehr als dem Namen nach bekannt« (Schütz/Gurwitsch 1985, 434; B.I.4). Trotz dieser Situation kann man in Deutschland seit den 1950er-Jahren von einem »allmählichen Wideraufleben der phänomenologi schen Forschung« (Waldenfels 1988, 160) sprechen, das durch die Veröffentlichung der ersten Bände der kritischen Edition des husserlschen Œuvres in der Reihe Husserliana einen wesentlichen Impuls erhielt. Das Zentrum dieses neuen Anfangs wurde das von dem belgischen Franziskaner Herman Leo Van Breda 1938 gegründete Husserl-Archiv in Leuven (Horsten 2021), wo die erste Generation der deutschen Nachkriegsphänomenologie arbeitete: Neben Landgrebe und Fink, den sogenannten »Dioskuren des deutschen phänomenologischen Denkens« (Baptist 2002, 255), beispielsweise auch Stephan Strasser (1905–1991) sowie Walter Biemel (1918–2015). Charakteristisch für die Vermittlerrolle, die das Husserl-Archiv in Leuven spielte, ist die Tatsache, dass sein langjähriger Mit arbeiter Rudolf Boehm (1927–2019) nicht nur maßgeblich an der Gestaltung der Husserliana mitwirkte, sondern sowohl die erste (jedoch partielle) französische Übersetzung von Heideggers Sein und Zeit 1964 (mit Alphonse de Waelhens) sowie die erste deutsche Übersetzung von Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung (1966) lieferte. Ihm und seinem Kollegen Jacques Taminiaux (1929–2019) ist ferner zu verdanken, dass Van Breda Emmanuel Levinas’ wirkmächtige Schrift Totalité et infini in die Buchreihe Phaenomenologica aufnahm. Merleau-Pontys phänomenologischer Ansatz wäre ferner ohne seinen Forschungsaufenthalt 1939 an dem kurz zuvor gegründeten Husserl-Archiv in Leuven, wo er Zugang zu Transkriptionen von Husserls Ideen II und der Krisis-Schrift erhielt, nicht möglich gewesen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bemühte sich Van Breda um die Wiedereinführung der husserlschen Phänomenologie in Deutschland. Er setzte sich für die Gründung eines Husserl-Archivs in Freiburg ein, die 1949 erfolgte und dessen Leitung von Fink übernommen wurde. 1951 wurde ein weiteres Archiv in Köln eröffnet, auf dessen ersten Direktor, Karl-Heinz Volkmann-Schluck, 1956 Landgrebe folgte. Zu erwähnen sind des Weiteren Institutionen und Initiativen, die dazu gedacht waren, das phänomenologische Denken in Deutschland zu verbreiten, wie z. B. die 1971 gegründete Deutsche Gesellschaft für phänomenologische Forschung oder die seit 1975 veröffentlichte Zeitschrift Phänomenologische Forschungen. Bereits in dieser Anfangsphase profilierten sich in der phänomenologischen Landschaft unterschiedliche Richtungen, wie etwa die sogenannte ›Schule Landgrebes‹ (Mickunas 1991) in Köln, die sich für die Probleme des transzendentalen Bewusstseins, der Geschichte und der Metaphysik interessiert, oder die Mainzer Schule um Gerhard Funke mit ihrer starken Neigung zu kantischen und neokantischen Fragestellungen.
II.2. Französischer Sprachraum (Frankreich, Belgien)
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Nach 1970 änderten sich sowohl die Struktur als auch der Themenkomplex der deutschen Phänomenologie. Immer mehr Forscher:innen widmeten sich dem, was man als ›angewandte Phänomenologie‹ bezeichnen kann. Mehr als die Eta blierung unterschiedlicher phänomenologischer Schulen ist in dieser Zeit die Ausdifferenzierung verschiedener Anwendungsgebiete kennzeichnend. Ausnahmen hierfür sind der sogenannte ›Bochumer Zirkel‹ (Baptist 2002, 258) um Bernhard Waldenfels (*1934), der sich mit französischer Phänomenologie und Hermeneutik sowie Themen einer responsiven Phänomenologie beschäftigt ( B. III.5), und die ›Neue Phänomenologie‹ von Hermann Schmitz (1928–2021) und seinen Anhänger:innen, die sich als leiblich verankerte Philosophie unter anderem des Atmosphärischen versteht. Die vergangenen zwanzig Jahre haben den Spezialisierungstrend der phäno menologischen Forschung weiter bestätigt. Die deutsche Phänomenologie heute ist von verschiedenen Themenkonstellationen, Einflüssen aus benachbarten philosophischen Disziplinen (vor allem die Analytische Philosophie, aber auch Kulturphilosophie, Ästhetik und Philosophische Anthropologie sind zu nennen) und wissenschaftlichen Disziplinen (etwa Kognitionswissenschaften, Psychiatrie, Ethnologie, Medienwissenschaften) sowie politischen und öffentlichen Debatten inspiriert. Dabei werden klassische Themen wie Passivität, Generativität, Leiblichkeit und Erfahrung weiter zur Diskussion gestellt. Neue Forschungsgebiete wie feministische Phänomenologie, Phänomenologie der Interkulturalität und affektive Intentionalität werden entdeckt bzw. wiederentdeckt. Der Dialog mit der Analytischen Philosophie wird unter anderem in den Bereichen Sozialontologie und Emotionstheorie weitergeführt. Traditionell Angelegenheit der Analytischen Philosophie, rückt ab den 1990er-Jahren die Deutung neurowissenschaftlicher Ergebnisse ebenfalls in den Interessenshorizont der Phänomenologie. Anstoß zur Diskussion gab insbesondere die Entdeckung der sogenannten Spiegelneuronen, deren theoretische Konzeptualisierung nun zuweilen mit frühen phänomenologischen Analysen der Fremderfahrung in Beziehung gebracht wird. Für den Schweizer Kontext ist ferner die Tradition einer phänomenologisch orientierten Psychiatrie und Psychotherapie als relativ eigenständiger Weg zu nennen, wie sie sich beispielsweise in der Daseinsanalyse Ludwig Binswangers ( D.IV) oder in der Zusammenarbeit von Heidegger mit Medard Boss (›Zollikoner Seminare‹) manifestierte. 2. Französischer Sprachraum (Frankreich, Belgien) Die Phänomenologie wurde schon sehr früh im französischsprachigen Raum rezipiert. Von einer phänomenologischen Schule kann allerdings kaum gesprochen werden, da sich die französischsprachige Phänomenologie durch eigenständige und unorthodoxe Denker:innen wie Jean-Paul Sartre (1905–1980), Simone de Beauvoir (1908–1986), Emmanuel Levinas (1906–1995), Maurice Merleau-Ponty
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B. Historische Entwicklungen
(1908–1961) oder Paul Ricœur (1913–2005) profilierte. Ebenfalls entpuppt sich die Rede einer gradlinigen französischen ›Rezeption‹ der ›deutschen‹ Phänomenologie aus zweifachen Gründen als irreführend. Zum einen ist auf die Dynamik von »transferts et contre-transferts« (Monod 2011) zwischen Seine und Rhein hingewiesen worden, sodass die Aufnahme und Weiterentwicklung deutscher Ansätze in Frankreich wiederum Rückwirkungen auf die phänomenologische Forschung in Deutschland hatte. Zum anderen zeichnet sich die französische Phänomenologie durch ihre ausgesprochene Heterodoxie aus. In diesem Sinne charakterisiert Paul Ricœur die Entfaltung der phänomenologischen Bewegung als die Geschichte der sich aus den »Verlegenheiten« des husserlschen Werks selbst ergebenden »Häresien« (Ricœur 1953/2004, 182). Daraus ergaben sich eine »Lockerung einer orthodoxen Bestimmung des Begriffs Phänomenologie«, eine kritische Öffnung des phänomenologischen Denkens für außerphilosophische Bereiche (insbesondere Wissenschaft, Kunst und Politik) sowie ein kritischer Selbstbezug in Form einer »Rationalismuskritik im Rahmen der Phänomenologie und an der Phänomenologie« (Orth 1986, 9). Die französische Phänomenologierezeption lässt sich chronologisch in drei Hauptphasen einteilen. Die frühe Rezeptionsphase (1910–1939) entfaltet sich in vier Etappen (Dupont 2014, 154 ff.): (1) Anerkennung von Husserl als Psychologismus-Kritiker (Léon Noël, Victor Delbos), (2) Kontroversen über Husserls Ideen und seinen Logos-Aufsatz (Lev Shestov, Jean Héring), (3) Popularisierung der Phänomenologie (Bernard Groethuysen, Georges Gurvitch) und (4) Beginn eigenständiger Produktion (Levinas, Sartre, Merleau-Ponty, Gaston Berger, Raymond Aron, Jean Cavaillès und Albert Lautman). Die zweite Phase der französischen Rezeption der Phänomenologie beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Veröffentlichung von Paul Ricœurs Übersetzung von Husserls Ideen I (1950). Die Phänomenologie wird in den 1950erJahren in Frankreich die dominante philosophische Strömung. Ricœur (1935/ 1966) rückt die allgemeine Kennzeichnung der französischen Phänomenologie in dieser Phase unter die zentrale Rubrik »phénoménologie existentielle«. Die französische Existenzialphänomenologie ( B.III.2) folgt drei Grundmotiven: Leib, Freiheit und der Andere. Die Auseinandersetzung mit diesen Themen kommt besonders in den Arbeiten von Sartre, Merleau-Ponty, Levinas und Gabriel Marcel (1889–1973) zum Tragen. Obwohl die Existenzialphänomenologie als »via regia« (Waldenfels 1983/1998, 50) der französischen Phänomenologie gelten kann, lässt sich dennoch die Mannigfaltigkeit phänomenologischer Schriften in Frankreich zu dieser Zeit nicht auf eine einzige Formel bringen; vielmehr lassen sich zahlreiche interne Differenzen (›Seitenwege‹, ›kritische Kommentare‹ und ›Fluchtpunkte‹) in ihr erkennen. In den 1960er- und 1970er-Jahren wird die Phänomenologie von den strukturalistischen Tendenzen an den Rand des philosophischen Diskurses in Frankreich gedrängt, erlebt aber zu Beginn der 1980er-Jahre eine Renaissance. Die »neue Phänomenologie« zielt auf eine »wesentliche« und »systematische Trans-
II.4. Italienisch
59
formation« der Phänomenologie sowohl der Gründerfiguren als auch der ersten Generation französischer Phänomenolog:innen ab (Gondek/Tengelyi 2011, 11, 666). Dies erfolgt über ein neues Verständnis des Phänomens als »Sinnereignis«, das unabhängig von den Konstitutionsleistungen eines Subjekts zu betrachten ist. In dieser neuen Richtung profilieren sich zwei »phänomenologische Familien«, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Verhältnisse zur Tradition voneinander abweichen. Die um Jean-Luc Marion (*1946) kreisende »Familie« bevorzugt einen »integrativen Ansatz«, während die andere, die sich auf Marc Richir (1943–2015) beruft, sich durch ihren »differenzierten und polemischen Ansatz« auszeichnet (ebd., 25). Beide sind sich jedoch darüber einig, dass dem Phänomen Ereignischarakter zukommt. 3. Niederländisch Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Phänomenologierezeption in den Niederlanden und in Flandern durch den Neukantianismus und den Neuthomismus bestimmt (Kortooms 1997, 485). Ab den 1930er-Jahren büßten diese beiden Philosophietraditionen jedoch stark an Einfluss ein (Struyker Boudier 1980, 149). Die Phänomenologie trat bereits zu diesem Zeitpunkt in Dialog mit den Wissenschaften, wofür Hendrick Pos’ (1898–1955) phänomenologische Linguistik Zeugnis ablegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verankerte sich die Phänomenologie unter dem Einfluss des französischen Existenzialismus tiefer in der niederländischen Philosophie. Gleichzeitig entstanden Forschungszweige, die sich der Klärung der Beziehungen zwischen der Phänomenologie und den Wissenschaften, insbesondere den Geisteswissenschaften, widmeten. Die sogenannte ›Utrechter Schule‹ der phänomenologischen Psychologie gewann außerdem in den 1960er-Jahren dank der Arbeiten von Frederik Buytendijk (1887–1974) an internationaler Bedeutung. Seit den 1970er-Jahren wurde die Phänomenologie in den Niederlanden und in Flandern mit anderen Denkströmungen (wie Strukturalismus oder Kritische Theorie) konfrontiert und verlor allmählich an Relevanz. 4. Italienisch Durch Antonio Banfi (1886–1957) rückte die Phänomenologie in Italien erstmals in den Mittelpunkt des philosophischen Diskurses. Banfi kannte Husserl persönlich und deutete seine Phänomenologie im Sinne eines kritischen Rationalismus, was im Gegensatz zum dogmatischen Rationalismus des damals in Italien herrschenden Idealismus stand. Banfis Werke traten eine erste Welle von Studien zu Husserl los (Sofia Vanni Rovighi, Norberto Bobbio), die aber nach 1936 aufgrund des wachsenden Interesses an existenzialistischen Themen wieder abflachte. Luigi Pareyson (1918–1991), Nicola Abbagnano (1901–1990) und Enzo Paci (1911–
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B. Historische Entwicklungen
1976) waren zu dieser Zeit die wichtigsten Vertreter des Existenzialismus in Italien. Sie entwickelten einen vom deutschen und französischen Existenzialismus ( B.III.2) abweichenden Ansatz, den sie als »positiven Existenzialismus« bezeichneten und der dezidiert humanistische und emanzipatorische Motive in den Vordergrund stellte. Auf Anregung Pacis, der sich vom Existenzialismus seiner frühen Jahre in Richtung einer Phänomenologie als Relationismus bewegte, lebte Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre die Husserl-Forschung in Italien wieder auf, was eine zweite Welle der italienischen Phänomenologie erzeugte. Die neuen Vertreter wendeten die phänomenologische Methode unter anderem auf die Psychiatrie (Danilo Cargnello, Lorenzo Calvi, Ferdinando Barison, Franco Basaglia) und die Ästhetik (Luciano Anceschi, Dino Formaggio) an. Der interdisziplinäre Impuls der Phänomenologie prägte die regen Diskussionen der von Paci begründeten und herausgegebenen Zeitschrift aut aut. In den frühen 1970er-Jahren setzte sich die blühende italienische Phänomenologie mit der wichtiger werdenden Strömung des von Antonio Gramsci inspirierten italienischen Neomarxismus auseinander. Hieraus entstanden fruchtbare Integrationsversuche – vor allem wiederum bei Paci. Giovanni Piana (1940–2019) grenzte sich von seinem Lehrer Paci dann dadurch ab, dass er theoretische und ideologische Elemente der Phänomenologie scharf auseinanderhielt und einen Ansatz entwickelte, den er »phänomenologischen Strukturalismus« nannte (Piana 1996/2020). Durch eine selektive Fortführung des genetischen Ansatzes Husserls entwarf Piana eine originelle phänomenologische Ästhetik und Philosophie der Musik. Verwandt mit Pianas formalontologischen und gestalttheoretischen Interessen sind die Strömung der »experimentellen Phänomenologie« (Albertazzi 2013), die von dem Psychologen Gaetano Kanisza inspiriert wurde und von Paolo Bozzi vorangetrieben wird, und der Kombinatorik-Ansatz des Mathematikers Gian-Carlo Rota. Nach dem weltpolitisch entscheidenden Jahr 1989 verlor der Kommunismus an Einfluss, während sich die Ideen des französischen Poststrukturalismus in Italien auszubreiten begannen. Erst die Rückwendung zu Nietzsche und Heidegger Anfang der 1990er-Jahre brachte eine eigenständige hermeneutische Denkrichtung hervor, die etwa bei Carlo Sini (*1933) phänomenologische Wurzeln aufweist. 5. Mittel- und Osteuropa (deutsch, polnisch, tschechisch/slowakisch, russisch) Husserl beeinflusste eine Gruppe von Schüler:innen aus Mittel- und Osteuropa, die nach ihrem Studium in Göttingen bzw. Freiburg in ihre Heimatländer zurückkehrten, wo sie ihrerseits die Phänomenologie in originelle Richtungen weiterentwickelten und andere Akademiker:innen dazu inspirierten. Die Phänome-
II.6. Nordeuropa
61
nologie in Mittel- und Osteuropa vor dem Zweiten Weltkrieg ist als eine »pluralistische Bewegung« (Płotka/Eldrige 2020, 4) ohne klares Zentrum beschrieben worden, wobei es zu vielfältigen Rezeptionen und Neuinterpretationen Husserls kam, die nicht von einer bestimmten Lesart dominiert wurden. Dies trifft jedoch nicht mehr zu, sobald man das Augenmerk auf die mittel- und osteuropäischen Einzelregionen richtet. In den verschiedenen Ländern übernahm jeweils eine prominente Persönlichkeit die führende Rolle bei der Rezeption phänomenologischer Ideen. Beispiele hierfür sind Figuren wie Jan Patočka (1907–1977) in der Tschechoslowakei, Roman Ingarden (1893–1970) in Polen und Gustav Špeth (1879–1937) in Russland. Was die mittel- und osteuropäische Phänomenologie bis zum Zweiten Weltkrieg kennzeichnet, sind ihre Mehrsprachigkeit (über die jeweilige nationale Sprache hinaus wurde häufig auf Deutsch und Französisch geschrieben) und die Tatsache, dass sie sich in einem ständigen Dialog und in Konfrontation mit anderen Philosophierichtungen entwickelte – zu nennen sind hier insbesondere die strukturalistische Linguistik der Prager Schule, die Logik der Lwow-Warschauer Schule und der Irrationalismus im russischen Denken des 19. Jahrhunderts (Flack 2018). In der ehemaligen Sowjetunion (1922–1991) trat ferner als wichtiger und zeitweise einziger Gesprächspartner für die mittel- und osteuropäische Phänomenologie der Marxismus-Leninismus auf. Dies aber änderte sich in Russland (und entsprechend auch in anderen Ländern) bereits ab den 1960er-Jahren, seitdem sich die Phänomenologie als eigenständige Disziplin im mittel- und osteuropäischen Raum durchgesetzt hatte. 6. Nordeuropa Ein früherer Versuch, eine homogene phänomenologische Bewegung in Nordeuropa auszumachen (Føllesdal 1997), muss aus der Perspektive jüngster Forschungen als übertrieben bezeichnet werden (Heinämaa et al. 2003, 10). Die Phänomenologie ist im 20. Jahrhundert in keinem der skandinavischen Länder zu einer dominierenden philosophischen Orientierung aufgestiegen, im Gegenteil begegneten ihr viele führende Denker:innen der analytischen und pragmatistischen Philosophie mit Misstrauen. Erst ab den 1990er-Jahren vollzog sich in Nordeuropa eine bemerkenswerte Wende in der philosophischen Landschaft, die zu einer Wiederentdeckung der phänomenologischen Tradition und 2001 zur Gründung der Nordic Society for Phenomenology führte. Ein charakteristisches Merkmal der phänomenologischen Arbeit in den nordischen Ländern ist der ›Brückenschlag‹ zwischen verschiedenen Traditionen. Zu dieser Forschungslinie gehören etwa Dagfinn Føllesdals (*1932) frühe Arbeiten über Husserl und Frege sowie die Projekte von Jaakko Hintikka (1929–2015) in Finnland und von Dick Haglund (*1939) in Schweden, die auf eine fruchtbare Vereinigung der phänomenologischen Zugangsweise zu Sprache, Bedeutung und
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B. Historische Entwicklungen
Geist mit der analytischen Sprachphilosophie, Wittgenstein und dem Pragmatismus abzielen. Das in letzter Zeit gesteigerte Interesse an der Phänomenologie hat sich hauptsächlich in drei Forschungsrichtungen manifestiert: (1) Bei Philosoph:innen, die auf dem Gebiet der Philosophiegeschichte arbeiten, hat der Dialog mit dem aristotelischen, mittelalterlichen und cartesianischen Denken von phänomenologischen Analysen profitiert, vor allem vom Denken Heideggers, aber auch von Edith Stein, Hannah Arendt und Merleau-Ponty. (2) Die feministische Theorie und Kritik hat das phänomenologische Erbe ebenso reaktualisiert, insbesondere Merleau-Pontys und Levinas’ Studien über die Leiblichkeit, etwa bei der Untersuchung von Sexualität, Generativität und Differenz ( D.VIII). (3) Schließlich gab es in letzter Zeit eine Reihe von Versuchen, die phänomenologischen Analysen der Subjektivität und Intersubjektivität mit zeitgenössischen Diskussionen in den Kognitionswissenschaften ( D.XI), der Psychiatrie ( D.IV) und der Analytischen Philosophie des Geistes ( B.III.8) zu verbinden. Als wegweisende Forschungseinrichtung kann hier das seit 2002 bestehende »Center for Subjectivity Research« an der Universität Kopenhagen gelten, von dessen Direktor Dan Zahavi (*1967) auch die internationale Zeitschrift Phenomenology and the Cognitive Sciences mit herausgegeben wird. 7. Angloamerikanischer Sprachraum Obwohl Husserl 1922 einen Vortrag in London hielt, blieb die Rezeption der Phänomenologie im Vereinigten Königreich verhalten. Ein erneutes Interesse entwickelte sich erst recht spät, in den 1970er- und 1980er-Jahren, im unmittelbaren Dialog mit der Analytischen Philosophie, der insbesondere von Kevin Mulligan, Barry Smith und Peter Simons betrieben wurde. Ungleich stärker wirkte die Phänomenologie in den USA und in Kanada, wo die Ausbreitung in vier aufeinanderfolgenden Wellen verlief. Die erste lässt sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ansetzen, als eine Reihe amerikanischer Forscher aus Harvard bei Husserl in Göttingen studierte. Diese ›Vorläufer‹ der amerikanischen Phänomenologie (unter anderen William Hocking und Winthrop Bell) waren hauptsächlich am Vergleich der Positionen des klassischen amerikanischen Pragmatismus mit der deutschen Philosophie interessiert. Die zweite Welle fand in den etwa fünfzehn Jahren nach dem Ersten Weltkrieg statt. Sie wurde von einer Reihe namhafter amerikanischer Gelehrter geprägt, die bei Husserl in Freiburg studierten und dann in die Heimat zurückkehrten und dort sein Denken vertraten. Zu dieser nordamerikanischen »Freiburger Gruppe« (Ferri 2019, 21) gehören Figuren wie Dorion Cairns (1901–1973), Marvin Farber (1901–1980) und John Wild (1902–1972). Diese neue phänomenologische Tradition begann in den 1940erund 1950er-Jahren an der New School for Social Research in New York Wurzeln zu schlagen. Die dritte Welle bewegte sich dann in die entgegengesetzte Richtung.
II.8. Spanisch und portugiesisch (Spanien, Portugal, Lateinamerika)
63
Sie betraf nicht amerikanische Wissenschaftler:innen, die nach Europa gingen, sondern Europäer:innen, die in den 1930er-Jahren vor dem totalitären und antisemitischen Regime in Deutschland nach Nordamerika flüchteten. Dietrich von Hildebrand (1889–1977), Alfred Schütz (1899–1959), Aron Gurwitsch (1901– 1973) und Herbert Spiegelberg (1904–1990) können hierfür als Beispiele genannt werden. Schließlich lässt sich eine vierte Rezeptionswelle identifizieren, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann. Diese vierte Phase dauert seit über einem halben Jahrhundert an und setzt sich in der Gegenwart fort. Jüngst ist die Rede von der ›Rezeption‹ der Phänomenologie in Nordamerika oder gar von einer nordamerikanischen ›phänomenologischen Bewegung‹ infrage gestellt worden (Crowell 2015). Zum einen sei die Phänomenologie im Laufe der Zeit von anderen Bewegungen wie Hermeneutik, Dialektik und Existenzphilosophie abgelöst worden, zum anderen habe es in Nordamerika nie eine Rezeption der ›Phänomenologie‹ als solcher gegeben, sondern nur einen Rekurs auf einzelne Denker:innen der phänomenologischen Tradition. Demgegenüber gibt es durchaus spezifische Varianten der amerikanischen Phänomenologie selbst, wie z. B. die »kalifornische« bzw. »West-Coast-Phänomenologie« (Yoshimi et al. 2019) oder die »analytische Phänomenologie« (Crowell 2015, 195 ff.). Gekennzeichnet sind diese Ausprägungen durch ihr Verständnis der Phänomenologie als Methode, um sich Fragestellungen der Analytischen Philosophie anzunähern. Als Gegenbeispiel könnte man das Werk Anthony Steinbocks (*1958) anführen, das – ausgehend von Husserls Denken von Lebenswelt, Heim- und Fremdwelt – eine generative Deutung der Phänomenologie entwickelt hat, die vor allem Grenzprobleme – sogenannte ›vertikale Erfahrungen‹ wie mystische, moralische oder ökologische Erfahrung – fokussiert. 8. Spanisch und portugiesisch
(Spanien, Portugal, Lateinamerika)
Zentral für die Rezeption der Phänomenologie in Spanien sowie Lateinamerika ist José Ortega y Gasset (1883–1955). Schlüsselgedanke seiner Philosophie ist die Formel »Ich bin ich und mein Umstand« (Haro 2017, 255), was in engem Zusammenhang mit Husserls Gedanken der Intentionalitätskorrelation steht ( C.I.1). In Spanien übte Ortega auf die sogenannte ›Schule von Madrid‹ nachhaltigen Einfluss aus, deren Anhänger (Manuel García Morente, Xavier Zubiri, José Gaos, María Zambrano, Julían Marías und Antonio Rodriguez Huéscar) die Phänomenologie nicht als Doktrin, sondern als »Gedankenschmiede« (Lerín 2005, 14) verstanden. Als Konkurrenz zur Madrider Schule bildete sich die »Schule von Barcelona« (San Martín 2005, 288 ff.) als Kreis von Philosophen um Joaquín Xirau (1895–1946), die der Pädagogik eine zentrale philosophische Bedeutung beimaß.
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B. Historische Entwicklungen
Für die spanischen Phänomenolog:innen der ersten Generation spielte insbesondere Heideggers Denken eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der Phänomenologie; zugleich gab es aber zu dieser Zeit auch ein starkes Interesse an Scheler und seiner Phänomenologie der Gefühle (Vendrell Ferran 2009). Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte eine Generation, die nicht mehr bei Ortega studiert hatte. Unter deren Mitgliedern hatten insbesondere Antonio Millián-Puelles, Fernando Montero Moliner und Rábade Romeo starke Bezüge zur Phänomenologie. Dank ihrer Schüler:innen erfolgte in den 1980er-Jahren eine Wiederbelebung der Phänomenologie in Spanien. Was die heutige Lage betrifft, ist einigen Interpret:innen zufolge von einer gewissen »Vergessenheit« (Lerín 2005, 22) der Phänomenologie in Spanien zu sprechen, unter anderem als Folge der Verbreitung der Analytischen Philosophie. Ortegas Besuche in Argentinien 1916, 1928 und 1939 waren ausschlaggebend für die Einführung der Phänomenologie in Lateinamerika, wo sie als eine der »modernisierenden Bewegungen« (Hurtado 2006, 204) gilt, die im 20. Jahrhundert den Aufstieg der lateinamerikanischen Philosophie beförderte. Sie begann sich in Lateinamerika in den 1940er-Jahren (mit den Werken von Gaos, Xirau, Wagner de Reyna, Miro Quesada, Carlos Astrada und Francisco Romero) zu verbreiten und erreichte ihren Höhepunkt in den 1950er- und 1960er-Jahren. Nach dem Ende der Kubanischen Revolution im Jahr 1959 und der daraus folgenden Zunahme des Einflusses der marxistischen Philosophie begann das Interesse an der Phänomenologie in Lateinamerika jedoch zu verblassen. Hinzu kam, dass viele von denjenigen, die ursprünglich der Phänomenologie zuneigen, sich ab den 1970er-Jahren der Analytischen Philosophie, der Wissenschaftstheorie und dem logischen Neopositivismus zuwandten. Gleichwohl ist heute die phänomenologische Forschung in den meisten lateinamerikanischen Ländern vertreten und umfasst sowohl eine analytische als auch eine kulturphilosophische Ausrichtung, die den interkulturellen und interdisziplinären Dialog anstrebt. Ein Beispiel hierfür ist die Befreiungsphilosophie des – nach der Machtübernahme Pinochets allerdings in Mexiko tätigen – Argentiniers Enrique Dussel (*1934), die sich in enger Auseinandersetzung mit dem Alteritätsdenken von Levinas entwickelte. In Portugal ebenso wie in Brasilien fand der erste Dialog mit der Phänomenologie im Bereich der Rechtsphilosophie statt. Der Portugiese Luís Cabral de Moncada (1888–1974) bekämpfte den rechtswissenschaftlichen Positivismus mit einer an Reinachs Eidetik angelehnten Konzeption des juristischen Apriori. In Brasilien integrierte Miguel Reale (1910–2006) die Phänomenologie in seine ›dreidimensionale Gesetzestheorie‹, gemäß welcher das Gesetz immer aus der Verknüpfung von Tatsache, Wert und Norm entsteht. Antônio Luís Machado Neto (1930–1977) führte den egologischen Ansatz des Argentiniers Carlos Cossios (1903–1987) fort, laut dem Normen wahrheitsfähige Instanzen sind, die in einem gnoseologischen Verhältnis zum Verhalten stehen. In den späten 1950erund 1960er-Jahren erlebte die Phänomenologie in Portugal einen rasanten Aufschwung, vor allem im Hinblick auf die Husserl-Exegese. Dies ist zum großen Teil
II.9. Japanisch
65
den Mitgliedern der sogenannten »Coimbra-Schule« (Alves/Morujão 2013, 298) zu verdanken. Seit den 1990er-Jahren nimmt sodann die hermeneutische Phänomenologie ebenfalls eine zentrale Stellung in Portugal ein. 9. Japanisch Schon bevor Husserl 1923 und 1924 drei Artikel zur ›Erneuerung‹ in der japanischen Zeitschrift Kaizo veröffentlichte, war die Phänomenologie in Japan durch die Werke von Kitaro Nishida (1870–1945) bekannt geworden. Nishida, der als wichtigster japanischer Philosoph der Moderne und Gründer der Kyoto-Schule gilt, erkannte in Husserls Reduktionslehre eine Gemeinsamkeit mit seiner Auffassung von ›reiner Erfahrung‹, blieb aber insgesamt kritisch gegenüber der husserlschen Phänomenologie eingestellt. In den 1920er-Jahren besuchten einige seiner Schüler und andere jüngere japanische Philosophen Freiburg und hörten Husserl ebenso wie Heidegger, Fink und Oskar Becker. An einer dieser »Freiburger Wallfahrten« (Warren/Taguchi 2019, 7 f.) nahm der Philosoph Hajime Tanabe (1885–1963) teil. Im Gegensatz zu Nishida erkannte Tanabe die Bedeutung von Heideggers neuer Interpretation der Phänomenologie an, und zusammen mit Kiyoshi Miki (1897–1945) und Tetsuro Watsuji (1889–1960) trug er zur Rezeption des heideggerschen Denkens in Japan bei. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ das Interesse an der Phänomenologie aufgrund der wachsenden Popularität existenzialistischer Themen nach. Mit Recht wurde denn die Zeit von Mitte der 1930er-Jahre bis etwa Mitte der 1960er-Jahre als »das goldene Zeitalter des Existenzialismus in Japan« (Embree/Kojima 1993, 10) bezeichnet. Gegen Ende der 1960er-Jahre wurden jedoch viele Intellektuellen mit der vermeintlichen Willkürlichkeit und mit der Enge des Existenzialismus zunehmend unzufrieden und begannen sich mehr Strenge und Objektivität in der Philosophie zu wünschen. Diese Stimmung motivierte die Renaissance der Husserl-Forschung in den 1970er-Jahren in Japan. Seitdem haben sich mehrere originelle Perspektiven in der japanischen Phänomenologie entwickelt. Zu erwähnen sind unter anderem die Arbeiten von Wataru Hiromatsu (1933–1994) und Hiroshi Ichikawa (*1931), die beide Wege zur Überwindung des Subjekt-Objekt-Schemas des modernen europäischen Denkens wie auch des cartesianischen Leib-Seele-Dualismus vorschlugen, sowie Bin Kimura (*1931), der einen westlichen, phänomenologischen Ansatz mit traditionellen japanischen Begriffen in der Psychiatrie verknüpft. Insgesamt kann gesagt werden, dass die Phänomenologie bis heute eine der vorherrschenden Orientierungen der Philosophie in Japan geblieben ist.
66
B. Historische Entwicklungen
10. Koreanisch Die Phänomenologie wurde während der 1920er-Jahre in Korea an der königlichen Keijo-Universität eingeführt. In den 1930er-Jahren wurden erste Aufsätze von koreanischen Gelehrten über phänomenologische Themen veröffentlicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die existenzialistische Phänomenologie zunehmend an Bedeutung. Diese kurze Blüte phänomenologischer Studien nahm allerdings mit dem Korea-Krieg (1950–1953) ihr Ende. Erst in den 1960er-Jahren fand in Südkorea eine Husserl-Renaissance durch die Werke von Jeon Sook Hahn und Kah Kyung Cho statt. Während der 1970er-Jahre wurde die Phänomenologe eine der wichtigsten Strömungen der westlichen Philosophie in Südkorea. Zahlreiche Forscher:innen promovierten zu dieser Zeit in Europa und den USA. Auch gegenwärtig gibt es einen regen Austausch zwischen Phänomenolog:innen aus Südkorea und der internationalen community. 11. Chinesisch Die Rezeption der Phänomenologie begann in China relativ spät. Nur drei chinesische Denker – Youding Shen, Wei Xiong und Xiao Shiyi – reisten in den 1920erJahren nach Freiburg, um bei Husserl und Heidegger zu studieren. Übersetzungen von Werken europäischer Phänomenolog:innen wurden erst Anfang der 1960er-Jahre in China veröffentlicht. Dieser bescheidene Anfang erlitt mit der Kulturrevolution 1966 sogleich einen schweren Rückschlag. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit nichtmarxistischer Philosophie wurde für mehr als zehn Jahre unmöglich. Die eigentliche Rezeption der Phänomenologie begann in China somit erst nach 1978. Am Anfang war Sartre aufgrund der Bezüge seiner Philosophie zum Marxismus der meistgelesene Phänomenologe. Dieses Interesse hat aber in den 1990er-Jahren stark nachgelassen; stattdessen wuchs die HeideggerForschung. Scheler fand aufgrund eines seit 1990 in China wachsenden Interesses für Religion ebenso Beachtung. Husserls Phänomenologie wurde ab den 1990er-Jahren vermehrt rezipiert und wird aktuell von chinesischen Philosoph: innen sowie von europäischen und amerikanischen Forscher:innen vertreten, die an chinesischen Universitäten tätig sind. Auch wenn die Phase der ›Rezeption‹ bzw. ›Spätrezeption‹ der Phänomenologie in China heute noch andauert, zeichnen sich neuere Arbeiten (z. B. Liangkang Ni’s Werk) durch den originellen Versuch aus, Themen aus der phänomenologischen Forschung mit traditionellen chinesischen Philosophien (etwa Buddhismus und Konfuzianismus) in Dialog zu bringen (Ni/Kern 1997, 311).
III.1. Realistische Wendung
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12. Fazit Der vorgelegte Überblick der Phänomenologierezeptionen in Europa, Amerika und Asien muss durch den Hinweis ergänzt werden, dass es auch in anderen Weltregionen ein Interesse an der Phänomenologie gibt, so z. B. in Afrika, wo phänomenologische und existenzialistische Denkmotive – ausgehend etwa vom Impuls Frantz Fanons – eine bedeutende Rolle beispielsweise in den antikolonialen Befreiungskämpfen spielten. Heute ist die Phänomenologie im Dialog mit der Postkolonialen Theorie dort ein wichtiger Bezugspunkt in universitären Kontexten. Wie außerdem die Wirkfelder in diesem Handbuch zeigen ( D), ist die Phänomenologie eine äußerst lebendige und interdisziplinär anschlussfähige Philosophie, deren Methoden und Themen in zahlreichen Wissenschaftsbereichen zentral sind. Daher ist es eine Fehleinschätzung, wenn zuweilen vom »Ende der Phänomenologie« (Sparrow 2014) gesprochen wird. Marco Cavallaro
III. Wendungen der Phänomenologie 1. Realistische Wendung Der Begriff ›realistische Wendung‹ bezeichnet in der Regel eine der transzendentalen Wendung Husserls entgegengesetzte Bewegung der ersten und zweiten Generation der Phänomenologie, die sich in sehr unterschiedlichen Gestaltungen bis in die Gegenwart durchzieht. Die ursprünglich mit diesem Begriffspaar angezeigte Spannung lässt sich nur verstehen, wenn man sich die Entwicklung von Husserls Denken in der Formierungsphase der frühen Phänomenologie (1900– 1913) und die sich an dieser Entwicklung festmachende Kritik vieler anderer Phänomenolog:innen vergegenwärtigt. Zwar hat Husserl schon 1901 im zweiten Buch der Logischen Untersuchungen den Begriff ›Phänomenologie‹ verwendet. Aber von Phänomenologie als einem Begriff, der für eine philosophische Bewegung bzw. für bestimmte mit dieser Bewegung verbundene Theorien steht, ist erst später die Rede. Wie oben ( B.I.2) dargestellt, spricht vieles dafür, die Ursprünge der phänomenologischen Bewegung auf Johannes Dauberts Besuch Husserls im Sommer 1902 zu datieren. Daubert bringt die jungen Münchener dazu, die Logischen Untersuchungen zu studieren. Dort finden sie Ausführungen zur Struktur des Bewusstseins, die wegweisend sein werden: Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. Es ist intentional auf etwas bezogen, auf einen Gegenstand. Es gibt kein Bewusstsein, das zunächst bei sich ist und dann durch einen zweiten Akt zur Welt kommt. Ein Gegenstand wird nicht konstruiert, er wird nicht denkend erzeugt. Deskriptive Psychologie nennt Husserl in den Logischen Untersuchungen das Projekt, die Natur des Bewusstseins zu erforschen. Ihre Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, die Art
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B. Historische Entwicklungen
und Weise der Gegebenheit zu untersuchen, d. h. mit einem Begriff, den Husserl erst später verwenden wird, das Korrelationsapriori zu ergründen. Für viele Leser der Logischen Untersuchungen bedeutete dies eine Anknüpfung an die realistische Tradition Brentanos und eine Abkehr vom ›Idealismus‹ neukantianischer Prägung, obgleich Husserl klar markierte, dass er die Frage nach der Realität nicht berühre (Hua XIX/1, 27). Allerdings betonte Husserl auch, dass es ein schwerer Irrtum wäre, wenn man einen Unterschied zwischen den ›bloß immanenten‹ oder ›intentionalen‹ Gegenständen auf der einen und den ›transzendenten‹ Gegenständen auf der anderen Seite machen würde: Denn jedermann müsse doch anerkennen, »daß der intentionale Gegenstand der Vorstellung derselbe ist wie ihr wirklicher und gegebenenfalls ihr äußerer Gegenstand, und daß es widersinnig ist, zwischen beiden zu unterscheiden.« (Hua XIX/1, 439) Auch wenn der Begriff ›Idealismus‹ in diesem Zusammenhang nicht fällt: Indem Husserl auf die »Sachen selbst« (Hua XIX/1, 10) zurückgehen will, ist eine klare Gegenposition zu einem nominalistischen Idealismus formuliert, die häufig als eine Rückkehr zum Objekt apostrophiert wurde. Husserl hat den wandlungsvollen Prozess, den sein Denken zwischen den Logischen Untersuchungen und den Ideen I durchgemacht hat, als Entwicklung verstanden, wie aus dem Vorwort zu den Ideen I klar hervorgeht: Schon die Logischen Untersuchungen seien ein erster Durchbuch zu einer reinen Phänomenologie gewesen (Hua III/1, 4). Nur an einem wesentlichen Punkt hat er sich ausdrücklich zu einer Korrektur bekannt: Der nichtegologische Ichbegriff der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen wird fallengelassen. Hatte Husserl hier noch davon gesprochen, dass ein Ichbezug nicht notwendig zu einem intentionalen Erlebnis gehöre (Hua XIX/1, 391), so heißt es nun in den Ideen I, dass jedes Erlebnis als Akt des Ich charakterisiert sei (Hua III/1,178). Damit ist allerdings nur eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für die von Husserl reklamierte Notwendigkeit reiner, transzendentaler Phänomenologie gegeben. Was sind nun die weiteren wesentlichen Elemente dieser Entwicklung hin zur transzendentalen Phänomenologie? Reine Phänomenologie dürfe, so Husserl, wenn sie zum reinen Wesen vordringen wolle, keine Wissenschaft von Realitäten sein. Deshalb müsse die sogenannte deskriptive Psychologie der Logischen Untersuchungen durch eine transzendentale Psychologie ergänzt bzw. fundiert werden. Entscheidend sei hierbei die phänomenologische oder transzendentale Reduktion, die das Feld des absoluten Bewusstseins öffne, für das die natürliche Welt zum Bewusstseinskorrelat werde (Hua III/1, 114). Was das für die Frage nach der Wirklichkeit bedeutet, hat Husserl in viel diskutierten Passagen des Paragraphen 49 der Ideen I erläutert: Bewusstsein werde durch eine Vernichtung der Dingwelt zwar berührt, aber nicht in seiner eigenen Existenz. Das Sein des Bewusstseins sei ein absolutes Sein, für das gelte: »nulla ›re‹ indiget ad existendum« (Hua III/1, 103 f.). Die Realität der räumlich-zeitlichen Welt ist ein Sein, das durch Bewusstsein gesetzt wird, ist ein Sein nur durch ein sinngebendes Bewusstsein (Hua III/1, 106). In vielen Fällen richtete sich die Kritik der jüngeren
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Phänomenolog:innen auf Formulierungen dieser Art (vgl. exemplarisch für viele: Ingarden 1963/1998). Auch Husserl war sich einer gewissen Spannung bewusst: »Ich weiß nicht, inwieweit man in München bei der Ontologie stehen geblieben ist, oder auch meine transzendentale Wendung mitgemacht hat?«, fragte er Gerda Walther 1917 (Walther 1960, 202). Man bedenke: Der Begriff ›Wendung‹ ist ambivalent. Die Rede von einer Wendung kann man verstehen im Sinne einer Entwicklung in eine bestimmte Richtung, aber auch im Sinne einer Abwendung von etwas. In der Tat wurde schon früh bemerkt, dass es ein genuiner Zug von Husserls Philosophie sei, sich in verschiedene Richtungen zu entfalten (Troeltsch 1922, 600). Mitunter wurde (und wird) anstelle von einer transzendentalen auch von einer idealistischen (z. B. bei Helmuth Plessner, Emmanuel Levinas) bzw. – anstelle von einer realistischen – von einer ontologischen Richtung oder Wendung (z. B. von Conrad-Martius, Geiger), von einer Wendung zum Subjekt (Paul Ferdinand Linke, Geiger) bzw. einer Wendung zum Objekt (Peter Wust, Geiger) oder von Aktphänomenologie bzw. Gegenstandsphänomenologie (beide bei: Geiger, Linke) gesprochen. Manchmal sind diese Redeweisen so verwendet worden, dass der Eindruck entstehen konnte, es handle sich um einen durchlaufenden Gegensatz, der durch die angezeigten Begriffe nur je anders nuanciert würde. Wie bei so vielen Etiketten der Ideengeschichte handelt es sich um theoriepolitisch intendierte, umkämpfte Fremd- und Selbstzuschreibungen. Die durch den Begriff realistische Wendung oder realistische Phänomenologie manchmal unterstellte Gemeinsamkeit verschiedener Autor:innen ist, je nachdem auf welches systematische Problem fokussiert wird, mal leichter, mal schwerer auszuweisen und wird bis heute kontrovers diskutiert. In systematischer Hinsicht sind die mit einer transzendentalen und die mit einer realistischen Richtung verbundenen Positionen in unterschiedlicher Weise gedeutet worden. Das Spektrum reicht von Positionen, die in der Unterscheidung nur unterschiedliche Aufgabengebiete markiert sehen, bis hin zur Betonung der absoluten Gegensätzlichkeit der Positionen. Die mit der Unterscheidung einer transzendentalen und einer realistischen Wendung angezeigten systematischen Fragestellungen werden bis heute immer wieder neu verhandelt. Während der Begriff transzendentale bzw. idealistische Wendung relativ früh auftaucht (zunächst kritisch, dann auch von Husserl in affirmativer Absicht verwendet), ist die Rede von einer realistischen phänomenologischen Position vor 1925 expressis verbis eher selten zu finden. Max Scheler bezeichnet 1922 seine Phänomenologie als ›realistisch gerichtete‹, kennzeichnet so aber vor allem seine eigene Position. Explizit findet sich die Bezeichnung Realismus zunächst im Programm eines ›Psychischen Realismus‹ (Geiger 1921; Plessner 1922/1985), der aber nicht als polemischer Gegenbegriff zu irgendeinem Idealismus zu verstehen ist. Die für die frühe Phänomenologie so bedeutenden Autoren Alexander Pfänder und Adolf Reinach haben den Begriff nicht verwendet. Reinach, der 1917 mit 35 Jahren im Krieg fiel, hat sich in Veröffentlichungen nur indirekt von Husserl distanziert, Pfänder erst relativ spät.
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Erst lange nach 1945 etabliert sich der Begriff realistische Phänomenologie als Name für eine bestimmte Richtung der frühen Phänomenologie (Mulligan 1987; Schuhmann 1988a, 98; Seifert 1994; B. Smith 1997b; Ales Bello 2004; Vendrell Ferran 2008). Die ältere Forschung hatte vornehmlich von der »Münchener« bzw. der »Münchener und Göttinger Phänomenologie« gesprochen (Schmücker 1956; Spiegelberg 1960; Avé-Lallemant 1975; Smid 1982). In jüngeren Arbeiten wird wieder häufiger auf diese mit geringerer Beweislast verwendbaren Schulbegriffe zurückgegriffen, um die Vielfältigkeit der frühen Phänomenologie nicht zu unterschlagen (Fréchette 2012; Salice 2015). Auffallend ist die unklare Stellung Schelers, der neben Husserl überragenden Gestalt der frühen Phänomenologie. Während manche nur seinen Namen nennen, wenn von einer »Wendung der Phänomenologie ins Realistische« (Hessen 1940, 125) die Rede ist, ist er bei anderen allenfalls eine Randgestalt (z. B. bei Schuhmann). Angesichts der nur sehr sporadischen Verwendung der Begriffe ›realistische Richtung‹ oder ›realistische Strömung‹ von Mitgliedern der phänomenologischen Bewegung, kann man festhalten: Bei dem Begriff ›realistische Phänomenologie‹ handelt es sich nicht um eine allgemein anerkannte Selbstkennzeichnung, mit der die Zugehörigkeit zu einer ›Schule‹ oder dergleichen klar benannt wird, sondern vor allem um ein Forschungskonzept, mit dem man versucht hat, die zahlreichen phänomenologischen Entwürfe, die parallel neben Husserls Entwicklung der transzendentalen Phänomenologie entstanden sind, auf einen Begriff zu bringen. Schon 1906 unterscheidet Moritz Geiger in seiner Münchener Habilitationsschrift Methodologische und experimentelle Beiträge zur Quantitätslehre eine Gegenstands- und eine Aktphänomenologie. Die Unterscheidung wird hier noch ganz unpolemisch verwendet und bezeichnet nur unterschiedliche Richtungen, auf die sich phänomenologische Arbeit konzentrieren kann: nämlich auf der einen Seite auf eine Untersuchung vornehmlich der konstitutiven Leistungen des Ego, auf der anderen Seite auf eine Betrachtung des Objekts, des Gegenstandes (Geiger 1906/1907, 335; C.I.5). Geigers Unterscheidung haben sich viele angeschlossen – jedoch mit ganz unterschiedlichen Stoßrichtungen. Insbesondere der Jenenser Paul Ferdinand Linke hat die Unterscheidung zu einem inhaltlichen Gegensatz gemacht und die Gegenstandsphänomenologie gegen die Aktphänomenologie Husserls ausgespielt: »Die Gegenstandsphänomenologie eröffnet eine einfache Möglichkeit, in der Sicherstellung der logischen und gegenständlichen Grundvoraussetzungen aller Wirklichkeitsforschung ohne das transzendentale Bewußtsein und seine Wirrnisse auszukommen.« (Linke 1930, 89) Andere, wie Scheler, der von »Sachphänomenologie« und nicht von Gegenstandsphänomenologie spricht, sehen keinen Gegensatz, der an der Unterscheidung von Akt- und Gegenstandsphänomenologie hängen würde (Scheler 1916, 68). Er betont, dass die beiden Perspektiven einander gerade nicht ausschließen müssen, und bezeichnet den »Zusammenhang zwischen dem Wesen des Gegenstandes und dem Wesen des intentionalen Erlebnisses« als den »höchsten Grundsatz der Phänomenologie« (Scheler 1916, 272).
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Einen anderen Weg schlägt Adolf Reinach ein, dem Historiker:innen eine herausragende Rolle in der Geschichte der frühen Phänomenologie und insbesondere als Begründer einer ›realistischen Richtung‹ zuerkannt haben (Mulligan 1987; Schuhmann 1988a). Reinach arbeitete vornehmlich zu Fragen der Wesensforschung und zu apriorischen Sachverhalten. Apriorische Zusammenhänge bestehen, so Reinach, »gleichgültig, ob alle oder viele oder überhaupt keine Menschen oder andere Subjekte sie anerkennen« (Reinach 1914/1921, 397). Damit wird ein ›realistisches‹ Programm verfolgt, das sich nicht notwendig mit allen anderen als realistisch bezeichneten Ansätzen der frühen Phänomenologie verträgt, ja zu einigen sogar in einer gewissen Spannung steht. Betrachtet man die verschiedenen Redeweisen von einer ontologischen bzw. realistischen Wendung, dann fällt auf, dass sich zwar in sehr vielen Fällen eine Distanzierung von Husserls transzendentaler Phänomenologie ausmachen lässt, dass es aber ganz verschiedene Motive bzw. Richtungen sind, in denen diese Distanzierung ihren Grund hat. Nicht nur Husserl, sondern auch Scheler war Reinach und anderen Münchenern gegenüber eher kritisch eingestellt. Beide haben die Münchener »Wesensforschung« als »Bilderbuchphänomenologie« bezeichnet (Scheler 1922, 202; Husserl nach Überlieferung von Héring 1939, 370). In seinem Formalismus in der Ethik, der als Versuch der Grundlegung eines ethischen Realismus verstanden wurde, wandte sich Scheler gegen »den absoluten Ontologismus«, d. h. die Lehre, »es könne Gegenstände geben, die ihrem Wesen nach durch kein Bewußtsein erfaßbar sind«. Jede Behauptung der Existenz einer Gegenstandsart fordere aufgrund dieses Wesenszusammenhanges von intentionalem Akt und gemeintem Objekt auch »die Angabe einer Erfahrungsart, in der diese Gegenstandsart gegeben ist« (Scheler 1916, 272 f.). 1922 hatte sich Scheler trotz seiner grundsätzlichen Kritik an einer zu ontologistischen Position noch sehr positiv auf die Münchener bezogen, später hat er sich explizit nicht nur von Husserl, sondern auch von Reinach, Pfänder und Geiger distanziert (Scheler 1976, 286). Schelers ethischer Realismus gründet in der Annahme materialer Werte, zu deren Wesen es gehört, in einer objektiven Rangordnung zu stehen ( D.III). Scheler nimmt eine besondere Form der Erkenntnis von Werten an: Werte werden nicht einfach erkannt, sondern fühlend erfahren. Der mit dem Formalismus begründete phänomenologische ethische Realismus ist dann von Nicolai Hartmann (1926) und Aurel Kolnai (1927) weiter ausgebaut worden. Ein eigenes Themenfeld einiger Phänomenolog:innen wird durch die Frage eröffnet, in welchen Akten eigentlich die Erfahrung der Wirklichkeit gemacht wird. Vor allem Scheler, Geiger und Conrad-Martius wollen jene Erfahrung, in der die Realität der Welt erfahren wird, rekonstruieren und argumentieren, dass jede Frage nach den Kriterien, nach der Rechtfertigung der Realität der Außenwelt, nachrangig sei. Conrad-Martius betont die Reihenfolge von Erfahrungsleistungen: »[M]an solle diese ›Daseinsautonomie‹ gewissermaßen erst einmal in explizierter Weise ›erlebt‹ oder ›gefühlt‹ haben, ehe man jene bekannten Zweifelsfra-
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gen stellt« (Conrad-Martius 1916, 391). Im Anschluss an Conrad-Martius formuliert Geiger: »Das Wahrgenommene existiert bewußtseinsunabhängig« (Geiger 1921, 86). Scheler geht hier noch einen Schritt weiter: Man verstehe die Frage nach der Realität falsch, wenn man sie mit der Frage nach der Realität der Außenwelt gleichsetzt. Für Scheler gründet die Erfahrung der Wirklichkeit, die dem Existenzurteil notwendig vorhergehen muss, in der Erfahrung der Widerständigkeit der Welt: Durch die Erfahrung der Widerständigkeit machen wir die Erfahrung des ›Realitätsmoments‹ (daran anschließend auch N. Hartmann 1931, 18 f.). Wirklich ist, was als widerständig erfahren wird. Indem sich ein Wille als wirkmächtig erfährt (auch wo er scheitert), kann ein Widerstand erfahren werde. Daher bezeichnet Scheler seine Position als ›voluntativen Realismus‹. Diese Erfahrung sei eine ursprüngliche, nicht ableitbare Erfahrung, die jedem Realitätsurteil notwendig vorausgehen müsse. Man könne sich, so Scheler, alle möglichen Eigenschaften der Welt wegdenken, aber nicht das Widerstandsein, das nicht erdacht oder erschlossen werden könne, sondern vor allem Denken und Wahrnehmen liege. Angeregt von Pfänder haben Scheler und Geiger einen ›psychischen Realismus‹ (Pfänder spricht von ›psychischer Wirklichkeit‹) entwickelt, dessen Grundthese lautet, dass es eine eigene ›psychische Wirklichkeit‹ gibt: Das Psychische ist genauso wirklich wie das Physische, weil die Wahrnehmung von Psychischem genauso fallibel ist wie die Wahrnehmung von Physischem. Das Psychische kann nicht nur von einem Bewusstsein erlebt, gedacht oder gefühlt werden, sondern auch von mehreren Individuen. Zunächst hat Pfänder diese These gegenüber der Annahme stark gemacht, dass es nur in der »materiellen Realität« Wirklichkeit gebe (Pfänder 1904, 40). Wie die Schüler von Pfänder (z. B. Haas 1910), so hat auch Scheler diese These aufgegriffen und die Überlegung, dass es echte und unechte Gefühle gibt, auch nach der ontologischen Seite weiterentwickelt. Schein und Wirklichkeit gibt es ihm zufolge auch in der psychischen Welt (Scheler 1911, 109). Pfänder hat die Lehre des »unechten Psychischen« hinsichtlich einer »Phänomenologie der Gesinnungen« weiter ausgebaut (Pfänder 1913). Geiger fordert hingegen, die Beweislast umzukehren: »Die gegenteilige Anschauung, daß das Wahrgenommene nur in der Wahrnehmung, nur als Wahrgenommenes existiere, ist so wenig verständlich, daß es besonderer Überlegungen, besonderer Beweisführungen bedarf« (Geiger 1921, 86). Eine ähnlich direkte Form des Realismus, allerdings ohne die These einer besonderen Widerstandserfahrung, findet sich bei den jüngeren Phänomenolog:innen, die sich alle explizit von Husserls transzendentaler Position distanzieren. Hedwig Conrad-Martius wendet sich gegen Husserls Phänomenologie als rein deskriptive Wesenslehre der immanenten Bewusstseinsgestaltungen. Die transzendentale Reduktion Husserls sei für ihre Arbeit nicht maßgebend: »Wir aber befassen uns allein mit den besprochenen phänomenologisch-ontologischen ›Wesensfassungen‹, die als solche ein unermeßlich weites Gebiet neuer bedeutsamer Forschungen einschließen, und für sich genommen offenbar völlig unab-
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hängig sind von einer weiteren möglichen transzendentalen Phänomenologie.« (Conrad-Martius 1916, 355) Gerda Walther argumentiert in ihrer Disserta tion, man müsse die Wesen nicht »nur als Korrelate bestimmter Bewußtseinserlebnisse, als Gegebenheiten des reinen Bewußtseins, sondern eben als reine Wesenheiten« verstehen (Walther 1923, 5 ff.). Auch hier würde reduziert, aber nicht auf bloße Gegenstücke von allen »empirischen Beimengungen gereinigter Erlebnisse des reinen Bewußtseins, wie es die phänomenologische, im Gegensatz zur ontologischen, eidetischen Reduktion« (ebd.) tue ( C.II.3; C.II.4). Einen direkten Anteil am realen Sein gewinne ein Wesen nur in seinen realen Verkörperungen. Wer das verkenne und dem Eidos nur das eigentlich reale Sein zuschreibe, seinen Verkörperungen aber nur abgeleitetes Sein, der hätte Eidos und metaphysisch ›reales‹ Wesen verwechselt. Eine wichtige Zeitzeugin für die Spannungen innerhalb der frühen Phänomenologie ist Edith Stein. 1918 schreibt sie an Roman Ingarden, sie lese Husserls Ideen und habe sich selbst zum »Idealismus bekehrt und glaube, er läßt sich so verstehen, daß er auch metaphysisch befriedigt« (Stein 2001, 87). Vier Jahre später scheint sie ihre Position geändert zu haben. In einem Brief an Ingarden vom September 1922 berichtet sie von einem Treffen in Freiburg: Es soll sehr lebhafter Betrieb dort sein, viele sehr interessierte Leute. Aber alles orthodoxe »Transcendental-Phänomenologen«, wer nicht auf dem Boden des Idealismus steht, gilt als »Reinach-Phänomenologe« (Reinach-Schüler sind nach der Freiburger Historie auch Pfänder, Daubert etc.) und eigentlich nicht mehr zugehörig. (Stein 2001, 152; vgl. auch Stein 1924/2014, 89)
Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre wird die Spannung immer manifester. Steins Argumentation bekommt nun immer stärker eine theologische Wendung. Weil die transzendentale Phänomenologie nicht aus der Sphäre der Immanenz herauskomme, werde »Gott selbst« relativiert: »So ist dies wohl der stärkste Gegensatz zwischen transzendentaler Phänomenologie und katholischer Philosophie: hier theozentrische, dort egozentrische Orientierung« (Stein 1929, 326). 1932 widerspricht sie auf einer Tagung jenen Interpretationen, die Husserls transzendentalen Idealismus als Position interpretieren, die gegenüber der klassischen Unterscheidung von Idealismus und Realismus neutral sei: »So scheint mir gerade die getreue Analyse der Realitätsgegebenheit zu einer Aufhebung der transzendentalen Reduktion zu führen.« (Stein 1924/2014, 167) Auch in ihrer 1933 verfassten Lebensgeschichte deutet sie die Distanz zu Husserl als eine solche an, die sich durch den Gegensatz von Idealismus und Realismus markieren lasse. Die Logischen Untersuchungen hätten vor allem dadurch Eindruck gemacht, »daß sie als eine radikale Abkehr vom kritischen Idealismus kantischer und neukantischer Prägung erschienen.« (Stein 2002, 200) Man sah darin eine ›neue Scholastik‹, weil der Blick sich vom Subjekt ab- und den Sachen zuwandte: Die Erkenntnis schien wieder ein Empfangen, das von den Dingen sein Gesetz erhielt, nicht – wie im Kritizismus – ein Bestimmen, das den Dingen sein Gesetz aufnötigte.
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Alle jungen Phänomenologen waren entschiedene Realisten. Die »Ideen« aber enthielten einige Wendungen, die ganz danach klangen, als wollte ihr Meister zum Idealismus zurücklenken. […] ein Weg, auf dem ihm seine alten Göttinger Schüler zu seinem und ihrem Schmerz nicht folgen konnten. (Stein 2002, 200)
Ende der 1920er-Jahre wurde der Graben zwischen Husserl und den (ehemaligen) Münchenern und Göttingern auch in verschiedenen öffentlichen Stellungnahmen deutlich. Pfänder spricht von der »Verquickung der Phänomenologie mit dem Idealismus« (Pfänder 1929, 2049) und sieht darin »eine Untreue gegen das Wesen der Phänomenologie«. Etwas moderater äußert sich Geiger: Husserl habe die »Phänomenologie zu einer idealistischen Systematik« ausgebaut, während andere »realistischen Tendenzen folgten« (Geiger 1929, 29). Hanna Hafkesbrink hat in ihrer bei Geiger in Göttingen entstandenen Dissertation die Entwicklung der phänomenologischen Bewegung, ausgehend von dessen Unterscheidung von Akt- und Gegenstandsphänomenologie, skizziert. Es habe in der »Phänomenologie von jeher neben dem Idealismus eine Tendenz zum Realismus bestanden« und der Münchener Kreis, neben Pfänder, Geiger, Reinach, Conrad-Martius insbesondere Scheler, sei wesentlich daran beteiligt gewesen, anstelle der idealistischen eine realistische Ausdeutung der Phänomenologie zu entwickeln, während Husserl in den Ideen die Objekte als bloße Aktkorrelate fasse und so zu einem »neukantischen Bewußtseinsidealismus« zurückkehre (Hafkesbrink 1930, 34). Der neben Schelers Stellungnahme prominenteste Bezugspunkt für die Rekonstruktion der Geschichte der frühen Phänomenologie ist Geigers Arbeit über Alexander Pfänders methodische Stellung. Hier wird unter Hinweis auf Hafkesbrink die von der späteren Forschung (Spiegelberg 1969/1982) aufgegriffene These formuliert, dass es einen ›Gegensatz der realistischen und der idealistischen Ausdeutung‹ der Phänomenologie gebe. Geiger exemplifiziert diesen Gegensatz an der unterschiedlichen methodischen Stellung Husserls und Pfänders. Für Husserl sei das Gegebensein in allen Fällen ein Gegebensein für ein Subjekt. Damit sei ›die idealistische Wendung‹ vorbereitet. Das Realitätsmoment wird dadurch, daß es als ein gegebenes Moment gefaßt wird, seiner Schwere entkleidet. Nur so wird es möglich gemacht, daß das Realitätsmoment nicht nur »eingeklammert« wird, sondern letztlich im Gegensatz zu dem, was es seinem Inhalt nach aussagt, als eine Setzung im Bewußtsein angesehen wird. Pfänder geht einen anderen Weg: Ein gesehenes Haus gibt sich als real, also muß es als real hingenommen werden. (Geiger 1933, 16)
Nach 1945 hat zunächst Herbert Spiegelberg in seiner breit angelegten Geschichte der phänomenologischen Bewegung die verschiedenen realistischen Positionen der Münchener Phänomenologie wieder in Erinnerung gerufen (Spiegelberg 1960, 191, 202). Seine Arbeit hat wesentlich dazu beigetragen, die Differenzen, die zwischen Husserls Idealismus und dem Realismus der frühen Phänomenologie bestanden, als eine Art Meisternarrativ der Geschichte der Phänomenologie zu etablieren, auch wenn seine Thesen zum Teil auf heftigen Wider-
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spruch gestoßen sind (Gadamer 1963). Später hat Spiegelberg seine Ansicht etwas relativiert: Er sei überrascht gewesen, dass sich in Pfänders Nachlass keine ausdrückliche Erwähnung eines phänomenologischen Realismus gefunden habe (Spiegelberg 1982, 32). Karl Schuhmann hat aus der These einer im Ursprung der phänomenologischen Bewegung erfolgten Spaltung von Husserl und Pfänder die Idee einer systematisch in der Phänomenologie angelegten Dialektik entwickelt und die »Wesenseinheit der Münchener und Freiburger Phänomenologie« herauszustellen versucht (Schuhmann 1973, 16). In den letzten Jahrzehnten sind die verschiedenen Realismen der frühen Phänomenologie von sehr unterschiedlichen Seiten angeeignet worden. Besonders relevant wurden sie im Kontext der Wertetheorie, die klassischerweise an einem subjektivistischen Vorurteil leidet: Anstatt in der Wertzuschreibung nur eine subjektive evaluative Interpretation zu sehen, argumentiert der vor allem an Scheler anschließende neue phänomenologische Wertrealismus dafür, wertbesetzte Eigenschaften als den Objekten selbst zukommende Eigenschaften anzuerkennen. Das umfasst die Sphäre ästhetischer Eigenschaften (Ingarden 1931/1965), aber auch moralische Werte sowie den neuen Realismus der Gefühle (Vendrell Ferran 2008; Mulligan 2010). Das Fühlen wird als die besondere Art des Auffassens von Werten bestimmt. So wie wir Farben sehen, so fühlen wir Werte. Realistisch ist diese Position vor allem insofern, als sie z. B. die in einer Landschaft wahrgenommene fröhliche, frische und lebendige Atmosphäre nicht als Produkt einer Projektion des Subjekts verstanden wissen will, sondern als eine Stimmung, die es in der Welt gibt. Claude Romano vertritt einen ganz anderen Realismus, den er »Realismus der Lebenswelt« nennt (Romano 2016). Den Werteabsolutismus der frühen Phänomenolog:innen lehnt er ab, da dieser weder der Realität einer materiellen noch einer historisch in stetem Wandel begriffenen Welt gerecht werden kann. In der Zurückweisung von Husserls Transzendentalismus bzw. Idealismus schließt er sich ihnen jedoch an und betont die Bewusstseinsunabhängigkeit von erfahrbarer Lebenswelt und erforschbarer physischer Realität. Jocelyn Benoist (2014) hingegen schließt wie Kevin Mulligan (1987) vor allem an Reinach an und überführt ihn mit angelsächsischen kontextualistischen Theorien in einen neuen Kontextrealismus. Besondere Brisanz erfuhr das Thema des phänomenologischen Idealismus jüngst noch einmal im Zusammenhang von Quentin Meillassoux’ (2006/2008) Vorwurf des ›Korrelationismus‹. Die Phänomenologie bewege sich, mitsamt allen nachkantischen Denkrichtungen, in einer relativistischen Gesamtordnung, die die Wirklichkeit und ihre Gegenstände nur als Korrelate ( C.I.1) des Bewusstseins, nie aber in ihrer Eigen- und Selbstständigkeit denken könne. Im Korrelationismus befangen seien wir unfähig, die nichtmenschliche Welt, z. B. das Universum vor dem Erscheinen des Menschen, zu denken. Ein solches (spekulatives) Denken ist für Meillassoux jedoch erforderlich, um nicht in einer korrelativistischen Blase, die sich zwischen Erfahrung und erfahrener Welt bildet, stecken zu
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bleiben. Mit und nach Meillassoux’ Buch haben sich zahlreiche Positionen für ein postanthropozentrisches und neorealistisches Denken stark gemacht, das die Wirklichkeit jenseits menschlicher Perspektiven zu denken versucht. Ihre jüngsten Ausgestaltungen findet das Realismusproblem in der Phänomenologie demnach in Versuchen, gegenüber diesen ›neuen Realismen‹ Stellung zu beziehen (Zahavi 2017; Loidolt 2017), oder aber darin, phänomenologische Autor:innen – speziell Heidegger – einer realistischen Relektüre zu unterziehen (Harman 2011/2015). Darüber hinaus geht es jedoch auch prospektiv darum, Wege einer phänomenologisch grundierten Metaphysik des Realen zu eröffnen ( D.II). Matthias Schloßberger
2. Existenzialistische Wendung Im Vergleich mit etwa zeitgleich entstandenen Ansätzen aus dem Umfeld des Neukantianismus oder der Analytischen Philosophie fällt für die Phänomenologie die Erfahrung keineswegs mit der wissenschaftlichen Erfahrung zusammen. Vielmehr liegt in ihrem Selbstverständnis das Potenzial, sich der gesamten lebensweltlichen Realität der Erfahrung zuzuwenden. Da Edmund Husserl selbst allerdings das ambitionierte Projekt einer Letztbegründung der Philosophie als Wissenschaft verfolgt, bleibt er dem neuzeitlichen Primat der Erkenntnis letztlich treu. Gleichwohl liefert er aber die Grundlage dafür, dass auch das alltägliche, existierende Subjekt zum Thema der Phänomenologie wird, ebenjenes Subjekt, das nicht ausschließlich Objekte erkennt, sondern vor allem handelt, leidet, sich fürchtet, liebt oder hasst und sein eigenes Leben zu begreifen versucht. Wenn sowohl Martin Heideggers Sein und Zeit (1927) wie auch Jean-Paul Sartres Das Sein und das Nichts (1943) als maßgebliche Werke sowohl der Phänomenologie wie auch der Existenzphilosophie angesehen werden, so muss es eine Verwandtschaft zwischen diesen beiden philosophischen Richtungen geben, die ein solches Bündnis möglich machen. Um dieser Verwandtschaft auf die Spur zu kommen, ist ein Hinweis des Husserl-Schülers Ludwig Landgrebe (1902–1991) aufschlussreich, der von einem »Hunger nach Realität« (Landgrebe 1952, 14) spricht, von dem eine ganze Philosoph:innengeneration getrieben werde ( B. III.1). Dieser Realitätshunger ist eine Reaktion auf ein philosophisches Klima, das weitgehend vom Neukantianismus geprägt ist, dessen Debatten sich vorwiegend in Fragen der formalen Methodik und der Wissenschaftstheorie erschöpfen. In diesem Klima, in dem das Philosophieren keinerlei Bedeutsamkeit für das Leben gewinnen kann, wirken nun Phänomenologie und Existenzphilosophie wie ein Befreiungsschlag: Trotz aller Unterschiede werden Søren Kierkegaard, der Begründer der Existenzphilosophie, und Husserl als Denker gelesen, die diesen Hunger nach Realität befriedigen können, weil sie gegenüber einer epistemologisch orientierten, abstrakten und lebensfernen Universitätsphilosophie dem Eigengewicht der menschlichen Erfahrung wieder zu ihrem Recht verhelfen.
III.2. Existenzialistische Wendung
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Deutlich wird der antiidealistische Impuls in einer frühen plakativen Erklärung von Sartre: »Wir haben alle Brunschvicg, Lalande und Meyerson gelesen, wir haben alle geglaubt, daß der Spinnen-Geist die Dinge in sein Netz locke, sie mit einem weißen Seidenfaden überziehe und langsam verschlucke, sie auf seine eigene Substanz reduziere« (Sartre 1939/1982, 33). Ganz ähnlich schreibt auch Maurice Merleau-Ponty: Der Erkennende ist diesem Wissensideal zufolge ein ganz und gar durchsichtiges Subjekt, das der Welt gegenübersteht »wie der Wissenschaftler seinen Experimenten« (Merleau-Ponty 1945/1966, 44 f.) und selbst »nichts anderes ist, als was es zu sein denkt« (ebd., 234). Wenn MerleauPonty schließlich hervorhebt, dass die Existenzphilosophie nicht nur das Subjekt, sondern auch die vom Subjekt erlebte Welt zum Thema macht, dann scheinen am Ende sogar die Grenzen zwischen Existenzphilosophie und Phänomenologie zu verschwimmen: Die Existenz enthüllt angesichts der Freiheit eine ganz neue Gestalt der Welt, die Welt als Versprechen und Bedrohung der Existenz, die Welt, die ihr Fallen stellt, sie verführt oder ihr nachgibt, nicht mehr die flache Welt der kantischen Gegenstände der Wissenschaft, sondern eine Landschaft aus Hindernissen und Wegen, letztlich die Welt, die wir »existieren«, und nicht nur der Schauplatz unserer Erkenntnis und unseres freien Willens. (Merleau-Ponty 1961/2007, 226)
Jenes Bündnis aus Phänomenologie und Existenzphilosophie ist jedoch von Anfang an nicht ohne erhebliche Spannungen geblieben, weil Husserl die menschliche Existenz primär als ein Erkenntnissubjekt begreift. Im Unterschied dazu bezieht die Existenzphilosophie ihr Selbstverständnis gerade aus der zentralen These, dass die Existenz des einzelnen Menschen nicht adäquat in ihrer Eigenart in den Blick kommt, solange sie lediglich als Objekt eines theoretischen Wissens begriffen wird. 2.1. Søren Kierkegaard und die Unabhängigkeit der Entscheidung
von der Erkenntnis
Wenn Kierkegaard zu zeigen versucht, dass das einzelne existierende Subjekt von einem absoluten Idealismus des Wissens, wie Hegel ihn entwickelt, nicht erfasst werden kann, so geht er hierbei – wie später Husserl – auf die subjektiven Erfahrungen eines einzelnen Subjekts zurück. Aber er will damit geltend machen – und hierin unterscheidet er sich wiederum von Husserl –, dass nicht jede Erfahrung es mit einem Erkenntnisobjekt zu tun hat. Hierfür wählt er das Beispiel des Christentums: Jenes objektive Denken, das ausschließlich ein Erkenntnisinteresse verfolgt, kann noch so viele Wahrheiten über das Christentum herausgefunden haben, daraus folgt noch nicht mit logischer Notwendigkeit, dass ich nun ein Christ werde. Wenn ein solcher Denker die Auffassung vertritt, dass es allein auf Wissen und Argumente ankommt, und nun die Frage aufwirft, wie jemand zu einem Christen wird, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als von einem allmählichen »Sich-in-eine-qualitative-Entscheidung-Hineinquantitieren« (Kier-
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kegaard 1846/1994, 88) auszugehen. Im Zuge eines solchen ›Hineinquantitierens‹ würde das Subjekt durch zählbare argumentative Schritte in den Glauben hineinkommen. Wenn die Entscheidung aber auf eine solche Weise zustande käme, dann wäre sie nichts weiter als ein bestimmter Wissensstand. Wie Kierkegaard bemerkt, lässt sich jedoch niemals angeben, an welcher Stelle ich so viel Wissen erworben habe, dass sich das Christsein logisch von selbst ergibt. Der Glaube beruht seiner Ansicht nach eben nicht auf dem Wissen – man kommt nicht durch »das verstandesmäßige Quantitieren« (ebd., 225) hinein –, sondern auf einer Entscheidung, d. h. durch einen qualitativen Sprung, der sich aus keiner Erkenntnis ableiten lässt. Auf diesen Gedanken legt Kierkegaard das volle Gewicht: Wenn es keinen approximierenden Übergang von der Erkenntnis zur Entscheidung gibt, dann ist der existierende Einzelne, der sich entscheidet, gerade eine Wirklichkeit, die sich nicht in Erkenntnis überführen lässt. Mit der Existenz des einzelnen Menschen hat Kierkegaard also ein Sein gefunden, das sich zwar dem Gedacht- und Erkanntwerden entzieht, aber dennoch in der Erfahrung aufgewiesen werden kann. Jener existierende Einzelne verwirklicht sich nicht in der Erkenntnis, sondern in seiner Entscheidung, die aus keiner Erkenntnis abgeleitet werden kann: »Es ist ganz richtig, was die Philosophie sagt, daß das Leben nach rückwärts verstanden werden muß. Dabei vergißt man aber den anderen Satz, daß es vorwärts gelebt werden muß« (zitiert nach Gardiner 2001, 116). Dort, wo das objektive Denken an seine Grenzen stößt, kommt das subjektive Denken ins Spiel, welches nicht danach fragt, was der Einzelne ist und welches Wissen sich über ihn gewinnen lässt, sondern vielmehr versucht, seine Situation als Wählender deutlich zu machen (Kierkegaard 1846/1994, 123). Jene Philosophen, die der Existenzphilosophie zugerechnet werden – hier ist vor allem an Martin Heidegger, Karl Jaspers und Jean-Paul Sartre zu denken –, sind Kierkegaard in diesem Gedanken gefolgt. 2.2. Martin Heidegger – Existenz als nichtgegenständliche Seinsweise
des Daseins
Wie vor ihm Kierkegaard will auch Heidegger der Sonderstellung des menschlichen Daseins gerecht werden und wendet sich deshalb mit aller Entschiedenheit gegen ein philosophisches Denken, das jedes Thema in ein Objekt der theoretischen Erkenntnis verwandelt. So ist Kierkegaard nach Heideggers Geschmack zwar philosophisch zu »wenig radikal« (GA 63, 42), aber trotzdem eine Inspirationsquelle, um dem »Wie des faktischen Lebens« (GA 62, 351) auf die Spur zu kommen. Während zwischen Kierkegaard und Heidegger also eine deutliche inhaltliche Übereinstimmung zu bemerken ist, besteht die Nähe zu Husserl eher in methodischer Hinsicht: Husserls Ansatz ist für Heidegger einerseits bedeutsam, andererseits bleibt er jedoch unzureichend. Bedeutsam ist er, weil die Phänomenologie wie keine andere Philosophie zuvor ein Studium der Phänomene eröffnet und ihre Erkenntnisse nicht etwa aus theoretischen Axiomen und Prinzipien de-
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duziert. »Die phänomenologische Maxime lautet: ›zu den Sachen selbst‹, gesprochen gegenüber Konstruktion und freischwebenden Fragen in traditionellen, d. h. immer bodenlos gewordenen Begriffen« (GA 20, 104). Äußerst prägnant fasst Heidegger den Einfluss von Kierkegaard und Husserl auf sein eigenes Denken zusammen: »Stöße gab Kierkegaard, und die Augen hat mir Husserl eingesetzt« (GA 63, 5). Letztendlich stelle sich aber die Phänomenologie Husserls wiederum als unzureichend heraus, sobald sie das Studium der Phänomene durch das implizite Vorurteil eines Primats der theoretischen Erkenntnis korrumpiert und damit ihrer Maxime ›zu den Sachen selbst‹ untreu werde. So werde auch die absolute Bewusstseinsregion gar nicht auf dem Wege einer phänomenologischen Beschreibung der Sachen selbst gefunden, vielmehr sei die Rede davon ganz und gar der Tradition der neuzeitlichen Erkenntnistheorie verpflichtet: »Die Herausarbeitung des reinen Bewußtseins als thematisches Feld der Phänomenologie ist nicht phänomenologisch im Rückgang auf die Sachen selbst gewonnen, sondern im Rückgang auf eine traditionelle Idee der Philosophie« (GA 20, 147). Solange die Philosophie aber insgeheim einer Ontologie des Vorhandenen folge, die jedes Phänomen von vornherein als etwas Gegenständliches begreift, sei auch die menschliche Existenz nichts weiter als ein Objekt der Selbsterkenntnis. Auf diese Weise brächen schließlich wieder »der Idealismus und die idealistische Fragestellung, genauer der Idealismus im Sinne des Neukantianismus, in die Phänomenologie« (ebd., 145) herein. Eine solche epistemische Engführung lässt sich jedoch nach Heidegger vermeiden, wenn man berücksichtigt, wie sich das menschliche Dasein selbst gegeben ist. Denn im Unterschied zu anderen Seienden zeichnet sich das menschliche Dasein gerade nicht durch die Seinsweise der Vorhandenheit, sondern vielmehr durch diejenige der Existenz aus. Insofern ist das Dasein nicht einfach nur vorhanden, sondern es fragt nach dem Sinn seines Seins: Wer bin ich? Was bin ich? Wer oder was will ich sein? Das bedeutet, es geht »diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst« (SuZ, 12). Das menschliche Dasein ist darum nicht das Was einer Vorhandenheit, sondern das Wer einer Existenz (SuZ, 45). Aufgrund dieser eigentümlichen Seinsweise kann das Dasein nur so beschrieben werden, wie es sich in der Welt vorfindet und zu sich selbst verhält. Daher müssen Heidegger zufolge alle Versuche der Anthropologie, der Ethnologie sowie der Psychologie, das menschliche Seiende als ein Objekt mit bestimmten Eigenschaften zu begreifen, unvermeidlich in die Irre führen. Aus der Perspektive einer Ontologie des Vorhandenen ist der Mensch nichts weiter als eine Substanz mit bestimmten Eigenschaften wie etwa ›vernunftbegabt‹; selbst den schlichten Begriff ›Mensch‹ hält Heidegger für theoretisch belastet und will ihn daher strikt vermeiden. Dem Dasein geht es ›in seinem Sein um dieses Sein selbst‹, und folglich ist es seine Möglichkeiten und hat sie nicht, wie eine Substanz ihre Eigenschaften hat. Dasein entwirft sich Heidegger zufolge auf seine Möglichkeiten und verwirklicht sich in ihnen. Wie bei Kierkegaard liegt also im Gedanken der Exis-
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tenz, dass der einzelne Mensch nichts Abgeschlossenes ist, sondern ein Sich-vorweg-Sein bei den eigenen Möglichkeiten, die er verwirklichen, aber ebenso auch verfehlen kann: »Das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein. […] Die Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder Versäumens nur vom jeweiligen Dasein selbst entschieden« (SuZ, 12). Trotz aller Bedenken gegenüber Husserl sieht sich Heidegger in Sein und Zeit allerdings nach wie vor in der phänomenologischen Tradition: Die »Behandlungsart« der Frage nach dem Sinn von Sein wird explizit als eine »phänomenologische« (SuZ, 27) ausgewiesen, weil die Phänomenologie immerhin eine Orientierung an den Sachen selbst »entgegen der Übernahme von nur scheinbar ausgewiesenen Begriffen« (SuZ, 28) möglich macht. Es ist also Phänomenologie vonnöten, um zu zeigen, dass die Seinsweise des Daseins nicht die Vorhandenheit, sondern die Existenz ist. Die phänomenologische Ontologie wird damit als ein Ausweg aus allen »geschichtlich überlieferten Ontologien« (SuZ, 27) ins Spiel gebracht, denen Husserls eigene Phänomenologie des transzendentalen Bewusstseins immer noch auf den Leim gehe. Obwohl Heidegger zweifellos wegweisende Beiträge zur Existenzphilosophie liefert, wehrt er sich in seinem späteren Denken ganz entschieden dagegen, dieser philosophischen Strömung zugeordnet zu werden. So sollen jene existenzphilosophisch relevanten Passagen im Hauptwerk Sein und Zeit schließlich nur das Fundament für die Beantwortung der Frage nach dem Sein legen, die im Zentrum von Heideggers Denken liegt. In aller Deutlichkeit tritt die Abgrenzung von der Existenzphilosophie – insbesondere von Sartre, der als Einziger namentlich erwähnt wird – in einer kleinen Schrift mit dem Titel Über den Humanismus zutage. Nachdem Heidegger zunächst in einem Brief vom 28. Oktober 1945 an Sartre die außerordentliche Nähe beider Philosophien hervorhebt – wie viel davon aufrichtig und wie viel dem Bemühen um eine politische Rehabilitierung geschuldet ist, lässt sich nicht abschließend klären –, grenzt er sich schon ein Jahr später, nach dem Erscheinen von Sartres Der Existenzialismus ist ein Humanismus von der französischen Existenzphilosophie ab. Als ihn Jean Beaufret 1946 fragt, wie der Humanismus zu rehabilitieren sei, antwortet Heidegger mit einem Brief, den er überarbeitet 1947 als »Über den Humanismus« veröffentlicht. Die Unterschiede sind auffällig. Schon in terminologischer Hinsicht hebt nun die Rede von »Ek-sistenz« (GA 9, 324 und passim) statt von ›Existenz‹ hervor, dass nicht die Verwirklichung der je eigenen Möglichkeiten, sondern vielmehr das »Hin-aus-stehen in die Wahrheit des Seins« (ebd., 326) das Thema von Heideggers Philosophie ist. Heidegger wirft Sartre wie jedem Humanismus vor, in metaphysische Vorannahmen über das Wesen des Menschen verstrickt zu sein. Weit davon entfernt, auf diese Weise einem Antihumanismus das Wort zu reden, soll aber gerade dadurch auch das Wesen des Menschen »anfänglicher« (ebd., 339) gefasst werden können. Konsequent versteht Heidegger als eigentliche Würde, was zunächst wie eine Marginalisierung erscheint: »Der Mensch ist nicht der
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Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins. In diesem ›weniger‹ büßt der Mensch nichts ein, sondern er gewinnt, indem er in die Wahrheit des Seins gelangt« (ebd., 342). Im Gegenzug zu der These, dass die eigentliche Würde des Menschen in seinem Verhältnis zum Sein und nicht in seinen wesentlichen Eigenschaften – sei es die Vernunft, sei es die Freiheit – bestehe, gewinnt nun auch die Sprache an Relevanz für Heideggers Philosophie. Dem Denken komme, wie es heißt, die Aufgabe zu, das »ungesprochene Wort des Seins« (ebd., 361) zur Sprache zu bringen. Und aus diesem Grund ist auch die Sprache selbst »das Haus des Seins, darin wohnend der Mensch ek-sistiert, indem er der Wahrheit des Seins, sie hütend, gehört« (ebd., 333). 2.3. Karl Jaspers – Erkenntnis des Daseins und Erhellung der Existenz
Im Unterschied zu Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre überwiegen bei Karl Jaspers die Vorbehalte gegenüber Husserl und der Phänomenologie. Allerdings gibt er im nachträglich verfassten Nachwort seines Hauptwerks Philosophie (1932) zu, dass Husserl in der Vorbereitungsphase für dieses Werk den »vergleichsweise stärksten Eindruck« (Jaspers 1932a/1994, xvi) auf ihn gemacht habe. So habe er die phänomenologische Methode bereits für seine vorangegangenen psychopathologischen Studien genutzt und hierfür den »lebhaften Beifall Husserls« bekommen. Der Erinnerung an Husserls Lob ist allerdings ein gewisser Spott beigemischt: Als ich ihm sagte, ich habe noch nicht begriffen, was Phänomenologie eigentlich sei, und ihn fragte, was diese Methode gar philosophisch bedeute, antwortete er: »Sie üben die Methode ausgezeichnet aus. Machen Sie nur weiter. Sie brauchen gar nicht zu wissen, was sie ist. Das ist in der Tat eine schwierige Sache.« (Ebd., xvii)
Insgesamt ist die Haltung gegenüber Husserl spätestens dann ablehnend, wenn er Philosophie als eine strenge Wissenschaft begründen will und damit, wie es heißt, »Verrat« (ebd.) an dem vollzieht, was Jaspers selbst unter Philosophie versteht. Anders als Heidegger und Sartre sieht Jaspers in Husserl also weniger einen Verbündeten, sondern eher einen Kontrahenten im Streit mit der vorherrschenden epistemologisch orientierten Universitätsphilosophie. Folglich kommt es hier zu keinerlei Schulterschluss zwischen Phänomenologie und Existenzphilosophie. Was Jaspers jedoch wiederum mit Heidegger verbindet, ist die Begeisterung für Kierkegaards Denken: »Eine Erneuerung nicht etwa der Philosophie, sondern der damals an den Universitäten vorgefundenen Gestalt der Philosophie fühlten wir beide als Aufgabe. Gemeinsam war die Ergriffenheit von Kierkegaard« (Jaspers 1977, 94). Unverkennbar bewegt sich Jaspers in den Spuren Kierkegaards. Denn dieselbe Gegenüberstellung zwischen Erkenntnis und Existenz stellt auch bei ihm den Ausgangspunkt des Philosophierens dar, wenn es gleich zu Beginn seines Hauptwerks Philosophie im Sinne einer Grundsatzerklärung heißt, dass »Existenz« ge-
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nau dasjenige »ist, was nie Objekt wird« (Jaspers 1932a/1994, 15) und sich deshalb weder verallgemeinern noch unter Begriffe subsumieren lässt (ebd., 4). Ein solches Sein kann daher nicht erkannt, sondern nur erhellt werden: »Existenzerhellung erkennt nicht die Existenz, sondern appelliert an ihre Möglichkeiten« (Jaspers 1984, 54). So kann ich zwar den Versuch unternehmen, mich selbst – als wäre ich für mich ein Anderer – als ein Erkenntnisobjekt zu begreifen, das psychischen und sozialen Bedingungen unterworfen ist, aber dennoch kommt »das so Objektgewordene […] nicht zur absoluten Identität mit mir selbst« (Jaspers 1932b/1994, 32). Dies ist so, weil sich mir nach Jaspers intuitiv die Einsicht aufdrängt, dass ich »als empirisches Dasein […] noch nicht endgültig« bin: »[I]ch habe Möglichkeit als Zukunft, da ich noch entscheide über das, was ich bin, durch das, was ich werde.« (Ebd., 46) Also bin ich nicht einfach nur ein Produkt der Welt, das durch psychologisch oder soziologisch erforschbare Einflüsse bedingt ist, sondern darüber hinaus auch schlichtweg ein Unbedingtes: Ich bin, wie Jaspers ausführt, »Ursprung meiner selbst«, insofern ich ein Wesen bin, »was noch selbst entscheidet, was es ist« (Jaspers 1932a/1994, 15). Auf zwei wichtige Unterschiede zwischen Heidegger und Jaspers ist an dieser Stelle allerdings noch hinzuweisen: Während Existenz erstens bei Heidegger die Seinsweise des Daseins bezeichnet, ist bei Jaspers damit ein Seiendes gemeint. Dementsprechend ist das Dasein bei Heidegger dasjenige Seiende, dem die Seinsweise der Existenz zukommt, bei Jaspers ist es der Titel für den Menschen, insofern er als lebendiger Organismus, als psychisches oder als soziales Subjekt zum Objekt gemacht werden kann. Der zweite Unterschied besteht darin, dass Jaspers sich nur auf dieses Seiende – in der Terminologie von Sein und Zeit: auf die Seinsweise des Daseins – konzentriert, wohingegen Heidegger nach dem Verständnis von Sein im Allgemeinen fragt. Diese Abgrenzung gilt erst recht für die Philosophie Sartres. Bevor sich das Augenmerk auf die französische Spielart der Existenzphilosophie richtet, lohnt sich an dieser Stelle ein kurzer Seitenblick auf Hannah Arendt. In ihrer kleinen Einführungsschrift Was ist Existenz-Philosophie? weist sie zu Recht darauf hin, dass Jaspers die Existenzphilosophie im Grunde »aus der Periode ihrer Selbstischkeit« befreie, weil bei ihm – im Widerspruch zu Heideggers Konzeption des Mitseins – die Selbstverwirklichung in Abhängigkeit von der gelingenden Kommunikation mit den Mitmenschen gedacht wird (Arendt 1990, 47). Damit stellt Arendt die Möglichkeit eines nichtsubjektivistischen, aber gleichwohl immer noch existenzphilosophischen Denkens in Aussicht, dem sich vor allem auch ihre eigene Position zurechnen lässt. Denn im Mittelpunkt steht hier weder das menschliche Gattungswesen wie in der Philosophischen Anthropologie (Scheler, Plessner oder Gehlen; D.V) noch der einzelne Mensch wie in der ›selbstischen Periode‹ der Existenzphilosophie, sondern stattdessen eine Pluralität von Menschen im Verhältnis der Kommunikation. Unverkennbar werden dabei zwar existenzphilosophische Töne angeschlagen, aber keineswegs ist wie
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bei Kierkegaard und Heidegger hierbei die Abwendung von den mitmenschlichen Verhältnissen der Königsweg der Selbstwerdung – ganz im Gegenteil: »Aus der Zwiespältigkeit und Vieldeutigkeit der Einsamkeit werde ich erlöst durch die Begegnung mit anderen Menschen, die mich dadurch, daß sie mich als diesen Einen, Unverwechselbaren, Eindeutigen erkennen, ansprechen und mit ihm rechnen, in meiner Identität erst bestätigen« (Arendt 1986, 977). Jaspers’ Grundgedanke der existenziellen Kommunikation wird bei Arendt schließlich systematisch zu einer Theorie des Politischen weiterentwickelt (Arendt 2002; D.VII). 2.4. Jean-Paul Sartre – Die Existenz geht dem Wesen voraus
Es ist bemerkenswert, in welchem Ausmaß sich bei der Übersetzung der Existenzphilosophie von Deutschland nach Frankreich auch die Frontstellung zwischen Phänomenologie und Existenzphilosophie auf der einen Seite, zwischen Neukantianismus und Idealismus auf der anderen Seite wiederholt. Das Verhältnis zu Husserl bleibt ebenfalls ambivalent, denn auch Sartre unterscheidet einen antiidealistischen Husserl, welcher Impulse für ein existenzielles Denken liefert, von einem idealistischen Husserl, der dem Primat der Erkenntnis verpflichtet bleibt. Liest man Sartres kurzen Aufsatz »Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität« (1939), so fällt auf, dass Husserls Phänomenologie eine ausgesprochen realistische Lesart erhält und im Zuge dessen als ein Befreiungsschlag gefeiert wird. Der ebenso prägnante wie polemische Aufsatz ist zugleich Programm, Bekenntnis, aber auch Streitschrift gegen die Vertreter eines von Sartre als »Ernährungsphilosophie« (Sartre 1939/1982, 33) etikettierten Denkens, das jeden Gegenstand auf eine Verbindung von Bewusstseinsinhalten reduziert. Es ist unübersehbar, wie die Ablehnung dieser epistemologischen Tradition – explizit genannt werden »Empiriokritizismus«, »Neukantianismus« und »Psychologismus« (ebd., 34) – von Anfang an die Art und Weise bestimmt, wie die Phänomenologie angeeignet und verarbeitet wird. Aus Husserls Intentionalität folgt für Sartre, dass das Bewusstsein keinen Inhalt hat, sondern sich intentional auf etwas bezieht, das sich außerhalb von ihm befindet. Den Gedanken der Intentionalität wirklich ernst zu nehmen, bedeutet demzufolge, den Menschen von der Welt her zu verstehen und ihn nicht länger in der Immanenzsphäre seines Geistes einzuschließen, wie es die französische Universitätsphilosophie tut. So soll Husserl und Heidegger die folgende Einsicht gemeinsam sein: »Nicht in irgendeinem Schlupfwinkel werden wir uns entdecken: sondern auf der Straße, in der Stadt, mitten in der Menge, Ding unter Dingen, Mensch unter Menschen« (ebd., 37). Während die Intentionalität als ein Ausbruch aus der Bewusstseinsimmanenz begrüßt wird, ist demgegenüber Husserls phänomenologische Reduktion für Sartre ein Rückfall der Phänomenologie in den Idealismus. Denn jenes reale, ebenso massive wie verführerische Sein, auf das sich die Intentionalität richtet, schrumpfe durch die phänomenologische Reduktion wieder zu einem Erkenntnisobjekt
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zusammen, nämlich zu einem bloßen Gesetztsein und Konstituiertsein. Wie Husserl erklärt, besteht die Aufgabe der Phänomenologie in der Aufklärung, »wie das Ego in sich […] ›Anderes‹, ›Objektives‹ konstituiert, und so überhaupt alles, was für es je im Ich als Nicht-Ich Seinsgeltung hat« (Hua I, 118). Das Bewusstsein findet jedoch, wie Sartre moniert, trotz der Intentionalität nicht wirklich zur Welt, solange diese Welt von dem Bewusstsein selbst konstituiert wird. Intentionalität und phänomenologische Reduktion erweisen sich deshalb als einander widersprechende Momente, weil Erstere aus dem Bewusstsein heraus- und Letztere wieder in es hineinführt. In seinem Hauptwerk Das Sein und das Nichts will Sartre nun von Anfang an die Nichtreduzierbarkeit des Seins auf das Erkennen – sowohl für das Sein des Bewusstseins (Für-sich) wie auch für das Sein der Dinge (An-sich) – geltend machen. Anders als Heidegger hält Sartre zwar am Bewusstseinsbegriff fest, aber er will ihn um jene Dimensionen erweitern, die für Heidegger in der Seinsweise des Daseins liegen. Wie für alle bisherigen existenzphilosophischen Denker ist auch für Sartre das menschliche Subjekt mehr und anderes als ein bloßes Objekt der Selbsterkenntnis. Bevor das Bewusstsein sich erkennt, d. h. reflektierend auf sich selbst zurückkommt, ist es schon eine präreflexive Existenz, die ihrer selbst gegenwärtig wird, ohne sich zum Objekt zu machen. Die Selbstbezüglichkeit des Bewusstseins wird damit als ein grundlegender Existenzvollzug aufgefasst, der absolut ist, insofern er sich von keinem An-sich-Sein herleiten lässt. Es handelt sich also, wie Sartre betont, um »ein Absolutes an Existenz und nicht an Erkenntnis« (Sartre 1943/2020, 27) – womit die Nähe zu Kierkegaard einmal mehr ins Auge fällt. Präreflexiv erlebt sich das Subjekt in der Angst, bevor es sich in der Reflexion erkennt: Was in der Reflexion bzw. der Selbsterkenntnis erfahren wird, ist das erkannte Subjekt, also all das, was ich bin und aus mir gemacht habe. Im Unterschied dazu wird das existierende Subjekt in der Angst erfahren, die sich als ein präreflexives Verständnis meiner Freiheit und meiner Situation in der Welt beschreiben lässt. In der Angst erfasse ich »mich selbst als total verantwortlich für mein Sein, insofern ich sein Grund bin, und zugleich total als nicht zu rechtfertigen« (ebd., 179, Hervorhebungen im Original). Die Grundlosigkeit meines Seins liegt gerade darin, dass – so lautet die bekannteste Parole des französischen Existenzialismus – die Existenz dem Wesen vorausgeht: Mein Handeln lässt sich nicht aus einem feststehenden Wesen herleiten, mit dem ich bereits zur Welt gekommen bin. Ganz im Gegenteil sind es Sartre zufolge meine Handlungen, die umgekehrt erst mein Wesen, meinen Charakter erschaffen. Ich tue also nicht, was ich bin, sondern ich bin, was ich tue. Im Mittelpunkt des Existenzialismus von Sartre steht zweifellos die Freiheit des einzelnen Menschen: Der Mensch ist frei, d. h., er erschafft sich selbst und ist »nichts anderes als das, wozu er sich macht« (Sartre 1946/1994, 121). Das Thema der Angst findet sich – und zwar erheblich ausführlicher – bereits bei Kierkegaard und Heidegger. Aber erst bei Sartre gewinnt es den systemati-
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schen Stellenwert einer Alternative zur objektivierenden Selbsterkenntnis. Die Angst ist also Sartre zufolge eine Erfahrung, in der mir gerade kein Objekt, sondern meine eigene Freiheit gegeben ist, so wie ich nach Sartre nicht in der objektivierenden Wahrnehmung, sondern vielmehr in der Scham – der Erfahrung, dass ich Objekt für ein anderes Subjekt bin – die Freiheit des anderen Menschen entdecke. Von Kierkegaard über Heidegger und Jaspers bis hin zu Sartre hält sich die gemeinsame Grundintuition durch, dass die konkrete Selbsterfahrung nicht die Erkenntnis eines Objekts ist. Allerdings haben die genannten Denker dabei so unterschiedliche Wege beschritten, dass es insgesamt wenig Sinn macht, von der Existenzphilosophie als einer schulförmig vereinheitlichten Philosophie zu sprechen. Jens Bonnemann
3. Hermeneutische Wendung Die Hermeneutik ist deutlich älter als die um 1900 mit Husserl beginnende Phänomenologie. Ihre Geschichte kreuzt sich jedoch mit Letzterer und bringt eine hermeneutische Wende der Phänomenologie hervor. Im Folgenden sei aufgezeigt, wie sich diese beiden Entwicklungsgeschichten kreuzen und welche Per spektiven daraus für die Phänomenologie erwachsen. Während die Hermeneutik zunächst eine Methode der Bibelexegese war und später auf andere Disziplinen, vor allem die Jurisprudenz, angewendet wurde, gelang erst Friedrich D.E. Schleiermacher (1977) eine Vereinheitlichung ihrer Methode sowie auch ihres Gegenstandes. Die Methode enthielt vier Momente, das grammatische, das psychologische, das historische und das divinatorische, während der Gegenstand nunmehr Text und gesprochenes Wort überhaupt waren. Während die Rhetorik die Transposition von Gedanken in Sprache behandelt, verfolgt die Hermeneutik den umgekehrten Weg, indem sie mithilfe ihrer nunmehr einheitlichen Methode die Gedanken des Autors zu erschließen sucht. Bei Schleiermacher liegt jedoch die romantische Voraussetzung einer Einheit aller Individuen zugrunde, die es dem Interpreten allererst ermöglicht, kongenial denjenigen Prozess zu reproduzieren, durch den der Autor zu seinem Ausdruck gelangt ist (Gadamer 1960/1990, 193). Die Grundidee Schleiermachers wird von Wilhelm Dilthey aufgegriffen, der erste hermeneutische Denker, welcher in der Geschichte der Phänomenologie ausführlichere Beachtung finden sollte. Er verfolgte das Ziel einer hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften, denen er einen eigenständigen und zugleich ebenbürtigen Status neben den Naturwissenschaften zu geben suchte (Dilthey 1900/1957). Die dabei angemessene Methode sei das Verstehen, mithilfe dessen wir über ein sinnlich gegebenes, äußeres Zeichen diejenige innere Erfahrung zu erschließen vermögen, die es ausdrückt. Dies gelinge durch eine Schlussfolgerung per Analogie mit unseren eigenen Erfahrungen und Ausdrü-
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cken. Der späte Dilthey verfolgt jedoch einen umfassenderen Ansatz, in dem er seine Theorie der Geisteswissenschaften in eine allgemeine Lebensphilosophie zu integrieren sucht (Dilthey 1910/1958, 131). Unterhalb von geschriebenen Texten und gesprochenem Wort und ihrer Untersuchung durch eine methodisch fundierte Geisteswissenschaft befindet sich das Leben selbst in einem ständigen Prozess der Selbstinterpretation. Hermeneutik ist nun die Selbstinterpretation des Lebens, bevor sie eine Methode der Geisteswissenschaften wird. Diese lebensphilosophische Transformation der hegelschen Tradition bei Dilthey ist der Punkt, an dem die Geschichte der Hermeneutik die Geschichte der Phänomenologie kreuzt. Dies geschieht in der Figur von Martin Heidegger ( B.I.4). Der junge Heidegger denkt im Spannungsfeld von Husserls Phänomenologie und Diltheys Lebensphilosophie, wenn er zunächst eine phänomenologische Hermeneutik des faktisch-historischen Lebens anstrebt (Gander 2006; Fagniez 2019), die 1923 die Gestalt einer »Hermeneutik der Faktizität« annimmt. Diese doppelte Inspiration kulminiert 1927 in Sein und Zeit, vor allem in den Paragraphen 7 und 77. In § 7 heißt es: »Die folgenden Untersuchungen sind nur möglich geworden auf dem Boden, den E. Husserl gelegt, mit dessen ›Logischen Untersuchungen‹ die Phänomenologie zum Durchbruch kam.« (SuZ, 38) Gleichwohl nimmt Heidegger gegenüber Husserl eine Verschiebung sowohl des Gegenstandes als auch des Begriffs der Phänomenologie vor. Das zu behandelnde Thema der Phänomenologie sei nicht das Bewusstsein samt seiner intentionalen Gegenstände (Heidegger kritisiert hier einen cartesischen Zug bei Husserl), sondern vielmehr das Sein, welches wiederum nur über das Seinsverständnis des Sein verstehenden Menschen, des Daseins, erörtert werden könne. Um das Sein angemessen befragen zu können, müsse die Phänomenologie als Methode mit der Hermeneutik verknüpft werden. Das Phänomen sei nämlich etwas, »was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht.« (SuZ, 35) Aufgrund dieser Verborgenheit des Phänomens muss die Phänomenologie »Hermeneutik« werden, insofern Letztere »das Geschäft der Auslegung bezeichnet.« (SuZ, 37) Nun kann man sagen, dass es so ein hermeneutisches Auslegungsmoment auch bereits in der husserlschen Phänomenologie gibt: Im Korrelationsapriori von Noesis und Noema ( C.I.1) wird der intentional vermeinte Gegenstand immer schon ›als etwas‹ (als Baum, als Tisch, als wahrgenommener Baum, als eingebildeter Tisch usw.) verstanden. Heidegger allerdings verleiht dem eine grundlegendere Bedeutung. In Sein und Zeit wird deutlich, dass es darum geht, die ›zunächst und zumeist‹ sich zeigenden Phänomene des ›Man‹ auf ein ursprünglicheres, eigentlicheres Verständnis dieser Phänomene hin zu erforschen. Eben hierfür braucht es nach Heidegger zunächst eine philosophische Hermeneutik als eine »Analytik der Existenzialität der Existenz« (SuZ, 38), so wie sie in den veröffentlichten Teilen von Sein und Zeit vorliegt. Diese Hermeneutik muss zunächst die Seinsverfassung des Daseins herausarbeiten, da-
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mit von dort aus ein angemessenes Verständnis des Seins überhaupt möglich wird. Die Hermeneutik hat es als hermeneutische Phänomenologie für den Heidegger von Sein und Zeit also nicht mehr primär mit Sprache, Text und dem Bewusstsein des Autors zu tun, sondern ihr Thema ist nichts Geringeres als das Sein überhaupt. Die hermeneutische Wende der Phänomenologie ist bei Heidegger dergestalt zugleich eine Wende der Hermeneutik zur Ontologie. In § 77 wird deutlich, welches Problem Heidegger im Ausgang von Dilthey ins Zentrum seines Fragens zu rücken sucht: das Problem der Geschichtlichkeit ( C.I.14). Es handelt sich um eine Geschichtlichkeit, die sich nicht lediglich auf einen ontologischen Sonderbereich des historisch Seienden reduzieren soll (wie Heidegger es bei Husserl ausmacht), sondern die das Dasein und letztlich auch das Sein überhaupt durchzieht. Heidegger beruft sich auf einen Briefwechsel zwischen Dilthey und dem Grafen Yorck von Wartenburg, in dem Dilthey »das uns gemeinsame Interesse Geschichtlichkeit« betont (SuZ, 398). Graf Yorck komme dem zu bedenkenden Problem jedoch näher als Dilthey selbst, wenn Ersterer fordert, unterhalb der Frage einer Methode der Geisteswissenschaften, auf die Dilthey zu stark konzentriert bleibe, allererst der »generischen Differenz zwischen Ontischem und Historischem« überhaupt nachzudenken (SuZ, 403). Heidegger wiederum fordert, dass noch dieser Unterschied zwischen Ontischem (nicht geschichtlich Seiendem) und Historischem (geschichtlich Seiendem) »in eine ursprünglichere Einheit« (SuZ, 403) gebracht werden müsse. Er sei nämlich aus der Geschichtlichkeit des Seinsverständnis habenden Seienden selbst, des Daseins, zu verstehen. Die innerhalb einer Hermeneutik als Analytik der Existenzialität der Existenz herauszuarbeitende Geschichtlichkeit des Daseins sei dazu in der Lage, »den Geist des Grafen Yorck zu pflegen, um dem Werke Diltheys zu dienen« (SuZ, 404). Die Hermeneutik der Selbstauslegung des Lebens des späten Dilthey wird bei Heidegger zu einer Hermeneutik des geschichtlich existierenden, Sein verstehenden Daseins. Letzteres steht nie an einem Nullpunkt der Betrachtung, sondern befindet sich mit seinem existenzialen Verstehen immer schon in einem hermeneutischen Zirkel. »Das Entscheidende«, so Heidegger, »ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.« (SuZ, 153) In den hermeneutischen Zirkel auf die rechte Weise hineinzukommen, schien jedoch für Heidegger selbst eine Herausforderung gewesen zu sein, mit der er Ende der 1920er-Jahre zunächst noch vergeblich rang. Der Versuch, in einem nie veröffentlichten dritten Abschnitt von Sein und Zeit das Sein überhaupt aus der Temporalität zu verstehen, scheint sich ihm als undurchführbar zu erweisen. Entweder blieb das derart temporal verstandene Sein zu formal, oder aber es blieb zu stark an das Sein des Daseins angebunden, was ihm wiederum einen subjektivistischen Zug verlieh (Römer 2010, Kap. 3.3.1). Ein Weg heraus aus dieser subjektivistischen Tendenz ist für Heidegger später die Sprache geworden, eine Sprache, die er als »das Haus des Seins« (GA 9, 313) bezeichnet. Der Sinn des Seins ist Sprache. Sprache aber ist nicht etwas, das Menschen machen, sondern etwas, in
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dem sie immer schon existieren. Dieser Gedanke sollte für den nächsten Denker der hermeneutischen Wende der Phänomenologie eine herausragende Bedeutung gewinnen. In seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode von 1960 folgt Hans-Georg Gadamer Heidegger in dem Grundgedanken des hermeneutischen Zirkels (Gadamer 1960/1990, 270). Vorurteile seien nicht zu tilgen, sondern vielmehr als die unhintergehbare Bedingung eines jeden Verstehens anzuerkennen. Dies führt jedoch nach Gadamer nicht in eine unkritische Übernahme aller überlieferten Vorurteile. Unser Bewusstsein ist ein wirkungsgeschichtliches Bewusstsein (ebd., 346), das derart grundlegend von der Tradition geprägt ist, dass es niemals das Vergangene ›wie es eigentlich gewesen‹ – um Rankes Formel zu verwenden – von der Geschichte seiner Rezeption zu trennen vermag, in der der verstehende Interpret selbst steht. Gleichwohl können wir darauf hinarbeiten, uns dieser Geschichte bewusst zu werden, in der wir selbst impliziert sind. Wir können uns fragen, in welchem Ausmaß wir von ihr bestimmt sind und inwiefern unser eigener Verständnishorizont sich von vergangenen Horizonten unterscheidet. Das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein ist nicht nur durch eine Zugehörigkeit zur Tradition charakterisiert, sondern es kann sich auch von dieser kritisch distanzieren, wenngleich ihm dies niemals vollständig gelingt. Gadamer zufolge vermag der Zeitenabstand (ebd., 296) diesen Prozess der Distanzierung zu unterstützen, indem er uns dabei hilft, Vorurteile infrage zu stellen und uns der Besonderheiten unseres eigenen Verständnishorizontes deutlicher bewusst zu werden. Verstehen selbst aber geschieht nach Gadamer in einer Horizontverschmelzung verschiedener Horizonte, die sich ereignet, ohne vom Subjekt methodisch kontrolliert herbeigeführt zu werden. Das Geschehen dieser Horizontverschmelzung bedeutet, dass die Sprache des anderen erfolgreich in unsere eigene übersetzt wurde und sich Verstehen einstellt. Dieses Verstehen hat »Ereignischarakter« (ebd., 488), es enthält »immer etwas Überraschendes« (ebd., 489) und ist für Gadamer ein Geschehen von Wahrheit. Wir verstehen bei dieser Wahrheit etwas, eine Sache, und nicht die Intention eines anderen Geistes. Die verstandene Sache aber ist kein ewiges, identisches Ding an sich, das wir lediglich perspektivisch von verschiedenen Seiten aus betrachten, sondern die Sache selbst ist in der Sprache im Werden begriffen. An dieser Stelle ist das Erbe Husserls und Heideggers ebenso sehr zu erkennen wie dasjenige Hegels. In expliziter Analogie zu Husserls Analyse des raumzeitlichen Gegenstandes schreibt Gadamer, dass die Welt an sich nichts ›hinter‹ den Ansichten und sprachlichen Abschattungen ist, in denen sie sich präsentiert (ebd., 451). Wenn Wahrheit in einer Horizontverschmelzung geschieht, so ist das Verstandene nicht ein vorher bereits Vorhandenes, perspektivisch nur neu Aufgefasstes, sondern es ist etwas, das nur in seinen sprachlichen Auffassungen ist, wenngleich es auf diese nicht reduziert zu werden vermag. In einer berühmten Formulierung gegen Ende des Buches heißt es bei Gadamer: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.« (Ebd., 478) Diese an den späten Heidegger anknüpfende Formulierung bedeutet
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jedoch nicht, dass die Sache der Hermeneutik nunmehr lediglich die Sprache ist. Schon bei Heidegger ist die Sprache das Haus des Seins und nicht das Sein selbst. Gadamer schreibt in diesem Sinne: »[D]as Wort ist nur Wort durch das, was in ihm zur Sprache kommt. […] Umgekehrt ist auch das, was zur Sprache kommt, kein sprachlos Vorgegebenes, sondern empfängt im Wort die Bestimmtheit seiner selbst.« (Ebd., 479) Diese wechselseitige Bestimmung von Wort und Sache bezeichnet Gadamer als »spekulative Bewegung« im Sinne eines »Verhältnis[ses] des Spiegelns« (ebd., 479, 469). Dass Gadamers philosophische Hermeneutik hier auch eine Verwandlung von Hegels spekulativer Dialektik des Geistes ist, wird ebenfalls in dem positiven Methodenbegriff deutlich, den Gadamer in enger Anknüpfung an Hegel für sich in Anspruch nimmt: »Die wahre Methode sei [bei Hegel] das Tun der Sache selbst.« (Ebd., 468) Nur handelt es sich bei Gadamer nicht um eine »Unendlichkeitsmetaphysik im Stile Hegels« (ebd., 480), in der eine Logik des Begriffs die Gedanken Gottes vor der Schöpfung der Welt erfasst. Vielmehr versteht Gadamer in Anknüpfung an Heidegger und Fink diese spekulative Bewegung von Sprache und Sein als Wahrheitsgeschehen, das den Charakter des Ereignisses und des Spiels hat. Es ist »das Spiel […], das spielt«, es ist das »Spiel der Sprache selbst, die uns anspricht, vorschlägt und zurückzieht, fragt und in der Antwort sich selbst erfüllt«, eine »Sprache, die unser endlich-geschichtliches Wesen vernimmt, wenn wir sprechen lernen.« (Ebd., 493, 494, 480) Für Gadamer hat Sprache einen wesentlichen Dialogcharakter, wobei er einerseits, wie Heidegger, an den Dialog mit früheren Generationen denkt, andererseits jedoch das konkrete Gespräch von Angesicht zu Angesicht anvisiert. Sowohl bei Heidegger als auch bei Gadamer erfolgt mit einer ontologischen Wende der Hermeneutik auch eine Wende zur Sachhaltigkeit: Die Sache der Hermeneutik ist nicht mehr der Geist des Autors, sondern das Sein und die Sache selbst, eine Sache, die das Gesagte des Wortes ist. Zwischen 1963 und 1994 suchte die interdisziplinäre Gruppe »Poetik und Hermeneutik« die hermeneutische Tradition mit der strukturalistisch-linguistisch ausgerichteten Literaturwissenschaft in einen Dialog zu bringen. Für die phänomenologische Tradition ist in diesem Zusammenhang vor allem die Rezeptionsästhetik von Bedeutung. In dieser auch als ›Konstanzer Schule‹ bezeichneten Richtung stehen sich der Romanist Hans Robert Jauß und der Anglist Wolfgang Iser gegenüber. Beide stellen die Rezeption eines literarischen Werkes in den Mittelpunkt literaturwissenschaftlicher Untersuchungen, wobei Iser vorwiegend in der phänomenologischen Tradition im Ausgang von Husserl und Roman Ingarden (1931) steht, während Jauß das Erbe Gadamers aufgreift. Für Iser kommen »literarische Gegenstände […] dadurch zustande, daß der Text eine Mannigfaltigkeit von Ansichten entrollt, die den Gegenstand schrittweise hervorbringen und ihn gleichzeitig für die Anschauung des Lesers konkret machen«, wobei der »literarische[…] Gegenstand nie an das Ende seiner allseitigen Bestimmtheit gelangt« (Iser 1975, 234). Literarische Texte haben eine mehr oder weniger große »Unbestimmtheit«, die »die Vorstellungen des Lesers zum Mitvollzug der im Text
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B. Historische Entwicklungen
angelegten Intention aktiviert.« (Ebd., 248) Iser entwickelt auf diese Weise eine Phänomenologie des Lesens, in der dem Akt des Lesens (Iser 1976) und der Einbildungskraft des Lesers eine zentrale Rolle bei der Konstitution des literarischen Gegenstandes zukommt. Jauß’ (1970; 1982) hermeneutischer Ansatz hingegen rückt die Geschichtlichkeit der Rezeption in den Vordergrund. Es gilt die Rezeptionsgeschichte von bereits bekannten Werken und Gattungen zu untersuchen, um den Kontrast zwischen den aus der Überlieferung stammenden Erwartungen einerseits und dem neuen Werk oder sogar der neuen Gattung andererseits zu verstehen. Ein derartiger Kontrast ist dazu geeignet, einen »Horizontwandel« (Jauss 1982, 655) hervorzurufen, in dem zugleich die gesellschaftliche Bedeutung der Literatur zum Tragen kommt. Diese phänomenologischen und hermeneutischen Orientierungen der Rezeptionsästhetik finden ein Echo unter anderem im Denken von Paul Ricœur. Paul Ricœur folgt Heidegger und Gadamer in der ontologischen Wende der Hermeneutik sowie auch in der hermeneutischen Wende der Phänomenologie. In Auseinandersetzung mit diesen beiden Vorgängern sucht er in die hermeneutische Phänomenologie jedoch ein kritisches Moment einzuführen, das er bei Heidegger und Gadamer vermisst (Ricœur 1986d) und das es erlaubt, in Hinblick auf Ricœurs Werk von einer kritischen Wende der hermeneutischen Phänomenologie zu sprechen (Römer 2010, Kap. 4.1). In Anknüpfung an Dilthey, an die frühe exegetische Tradition der Hermeneutik, der Sache nach aber auch an Cassirers Davoser Einwände gegen Heidegger, sucht Ricœur die voie courte, den kurzen Weg zum Sein bei Heidegger, durch eine voie longue, den langen Weg der Interpretationen sprachlicher Ausdrücke, zu ersetzen (Ricœur 1969, 14). Er vertritt die These einer fundamentalen dialektischen Spannung zwischen Zugehörigkeit und Distanzierung, welche der Distanzierung eine weit grundlegendere Rolle zuschreibt als Gadamer mit dem Gedanken des Zeitenabstands: In jeder Erfahrung der Zugehörigkeit liegt laut Ricœur immer schon ein Moment der Distanzierung, womit die Interpretation und das Potenzial zur Kritik in die grundlegendste Ebene der Erfahrung selbst eingeschrieben sind. Ricœurs Einstieg in seine eigene hermeneutische Wende der Phänomenologie führt über die Entdeckung einer Grenze in der Phänomenologie Husserls. In seiner dreibändigen »Philosophie des Willens« stößt Ricœur (1988) auf das Pro blem des bösen Willens, welches in seinen Augen die Möglichkeiten einer eidetischen Phänomenologie an ihre Grenzen führt. An den Grenzen der Eidetik werde eine Hermeneutik der Symbole des Bösen nötig, in der der Sinnesreichtum des Bösen zu erforschen sei. Diesen zunächst begrenzten Anwendungsbereich seiner hermeneutischen Phänomenologie erweitert Ricœur in seiner Studie über Freud Die Interpretation. Ein Versuch über Freud (Ricœur 1965/1969), wo der Gegenstand der Hermeneutik nicht mehr nur der böse Wille, sondern das Unbewusste ist, welches nur indirekt über zu interpretierende Phänomene seines Ausdrucks zugänglich wird. Weiterhin entwickelt Ricœur in diesem Werk eine doppelte hermeneutische Strategie, die auch für seine darauffolgenden Werke charakteristisch
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bleiben wird: Auf der einen Seite steht eine Teleologie des Sinnes, die die Entwicklung des Sinnesreichtums in diesen Ausdrucksformen des Unbewussten zu verstehen sucht; auf der anderen Seite jedoch sei es genauso notwendig, mithilfe einer Archäologie des Subjekts den Mechanismus zu erklären, der zu diesen sinnhaften Ausdrucksformen geführt hat. Für Ricœur jedoch ist dieses freudsche Moment der Erklärung seinerseits nur eine andere Art der Interpretation und keineswegs eine Theorie, die die Teleologie des Sinnes auf eine gleichsam nüchterne Erklärung reduzieren könnte. In der Studie über Freud gelingen Ricœur damit zwei bedeutsame Weiterentwicklungen seiner hermeneutischen Wende der Phänomenologie: Zum einen hat er den Gegenstand der Hermeneutik hin zum Unbewussten erweitert, und zum anderen hat er zwei Typen hermeneutischer Praxis voneinander unterschieden, das Verstehen und das Erklären des Unbewussten, die jedoch letztlich beide Formen des Interpretierens sind. In seinen folgenden Werken erweitert Ricœur erneut den Gegenstand seiner hermeneutischen Phänomenologie. So sucht er etwa in der Trilogie Zeit und Erzählung (Ricœur 1983–1985/1988–1991) zu zeigen, dass die Zeiterfahrung überhaupt begrifflich aporetisch ist und nur durch narrative Interpretationen, stets vorläufig und revidierbar, verstanden werden kann. Der hermeneutische Zirkel wird zu einem Zirkel einer dreifachen mimesis, in der in narrativen Präfigurationen des Alltagsverständnisses, narrativen Konfigurationen durch explizite Geschichts- und Fiktionserzählungen (Breitling 2007) sowie in narrativen Refigurationen, die das narrative Vorverständnis mit jenen Konfigurationen konfrontieren und derart verschieben, eine immer wieder neue narrative Antwort auf die aporetische Zeiterfahrung gefunden wird. Dieser narrative hermeneutische Zirkel führt nach Ricœur sowohl zu einem verfeinerten Selbst- als auch zu einem verfeinerten Weltverständnis, wobei vor allem mit Blick auf die hermeneutische Tradition und die Konstanzer Schule hervorzuheben ist, dass ein Text für Ricœur eine Welt eröffnet und keineswegs auf einen Ausdruck des Autors reduziert werden kann (Ricœur 1986e, 125–129). Der Grundgedanke einer Verknüpfung von aporetischer Zeiterfahrung und offen vermittelnder Erzählung führt Ricœur (1985/1991) schließlich auf die Ideen einer narrativen Identität des Selbst (Ricœur 1990/1996; Tengelyi 1998a), einer unvollkommenen Vermittlung der Geschichte sowie auf die unter anderem poetisch zu beantwortende Unerforschlichkeit der Zeit. Das Spätwerk Ricœurs (2000/2004) kann durchaus in der Linie dieser durch Zeit und Erzählung vorgezeichneten Problemkonstellation gelesen werden (Römer 2010, Teil 4), wobei vor allem das Hauptwerk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen zu beachten ist. Durch die Untersuchungen von Gedächtnis und Vergessen vertieft sich für Ricœur der aporetische Charakter der Zeit und es wird zunehmend deutlich, dass an den Grenzen der narrativen Interpretationen jeweils eine praktische Verantwortung des Einzelnen bedeutsam wird, welcher für die Interpretationen einzustehen hat. Ricœurs Grundthese der Notwendigkeit eines langen Weges der Interpretationen über die vielfältigen Ausdrucksformen menschlicher Zeit-, Selbst- und Welt-
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erfahrung erlaubt es ihm, nicht nur zahlreichen anderen Disziplinen einen Ort in seinem Denken zuzuweisen (der Psychoanalyse, der Geschichtswissenschaft, der Poesie und Romanliteratur sowie der Literaturwissenschaft), sondern auch alternative Denkansätze in seine eigene kritisch-hermeneutische Phänomenologie zu integrieren. Von den Meistern des Verdachts, Nietzsche, Marx und Freud, bis hin zum Strukturalismus gilt für Ricœur: Man kann Hermeneutik und Ideologiekritik nicht mehr einander gegenüberstellen; die Ideologiekritik ist der notwendige Umweg, den das Verstehen des Selbst nehmen muss, wenn es dieses sich von der Sache selbst des Textes und nicht von den Vorurteilen des Lesers formen lassen will. (Ricœur 1986e, 131)
Als eine besondere Herausforderung sowohl für Gadamer als auch für Ricœur kann die sogenannte Dekonstruktion von Jacques Derrida gelten, ein Denker, dessen Originalität sich ebenfalls in kritischer Absetzung von Husserl und eigenständiger Aneignung des heideggerschen Werkes entwickelt hat. Einerseits konfrontiert Derrida die Hermeneutik mit dem Verdacht, sie könne als solche der Alterität des Anderen nicht gerecht werden, weil sie trotz aller Offenheit des Verstehensprozesses letztlich auf einen Aneignungsversuch des zu Verstehenden hinausläuft. Andererseits fordert Derrida die hermeneutische Idee heraus, der zufolge sich Sprache auf Außersprachliches bezieht, indem er betont, dass Verstehen notwendig im Bereich der Sprache selbst verbleibt, in welchem Worte nicht auf etwas ganz anderes als sie selbst, sondern nur auf andere Zeichen verweisen ( B.III.4). Die erste Herausforderung findet eine Erörterung in dem unterbrochenen und doch »ununterbrochene[n] Dialog« zwischen Derrida und Gadamer (Derrida/Gadamer 2004). Von dem zweiten Gedanken kann gesagt werden, dass Gadamer und Ricœur ihn nicht akzeptieren konnten, da beide an der These festhielten, Sprache beziehe sich auf etwas, das nicht selbst Sprache ist, wenngleich es sich nur durch die Sprache hindurch zeigt. Die Bedeutung dieses Gedankens kann im Kontrast zu zwei anderen Positionen deutlich gemacht werden, die sich in stärkerer Anknüpfung an Derrida innerhalb der Hermeneutik entwickelt haben: zum einen jene des italienischen Philosophen Gianni Vattimo, der das gadamersche Diktum ›Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache‹ radikalisiert hat hin zu ›Sein ist Sprache‹, sodass schlichtweg alles zu Interpretation wird. Um den drohenden performativen Selbstwiderspruch in diesem Gedanken zu vermeiden, formuliert er ihn nicht als These einer absoluten Wahrheit, sondern versteht ihn selbst als eine Interpretation. Allerdings handelt es sich ihm zufolge um die heute angemessenste Interpretation, insofern sie auf kohärente Weise zu zeigen vermag, dass und wie die Geschichte philosophischer Interpretationen zu einem Nihilismus in Bezug auf grundlegende Wahrheiten geführt hat und weshalb daher eine Hermeneutik vattimoschen Typs heutzutage die trefflichste Interpretation darstellt. Im Rahmen seines ›schwachen Denkens‹, das sich jedoch keineswegs als defizitär versteht, spricht Vattimo von einer »nihilistischen Berufung der Hermeneutik« (Vattimo
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1994). Richard Rorty, mit dem Vattimo eine noch stärkere Allianz verband als mit Derrida, radikalisierte Gadamers These in eine ähnliche Richtung. Im Kontext des amerikanischen Neopragmatismus ist Rorty bestrebt, die epistemologische Auffassung der Philosophie im Sinne eines ›Spiegels der Natur‹ durch das zu ersetzen, was er ›edifying hermeneutics‹ nennt: Bezug nehmend auf Gadamers Überlegungen zum Humanismus schreibt Rorty, Gadamer sei nicht so sehr interessiert daran, was da draußen in der Welt ist oder was in der Geschichte geschieht, sondern vielmehr an dem, »was wir aus der Natur und Geschichte für unsere eigenen Zwecke ›herausholen‹ können« (Rorty 1979/1981, 389. ›Edification‹ ist zwar Rortys Übersetzung für Gadamers Begriff der Bildung, aber der englische Ausdruck verweist vielmehr auf ›Erbauung‹. Rortys pragmatistische Wende der Hermeneutik macht diese zu einem »Projekt – der Suche nach neuen, besseren, interessanteren und ergebnisreicheren Beschreibungsweisen« (ebd., 390). Objektivität reduziert sich für Rorty letztlich auf ein Einverständnis der Interpreten. Vorbereitet durch Derrida haben Vattimo und Rorty die Hermeneutik in eine Richtung gelenkt, die die heideggersche Tradition eines Bezugs der Sprache und der Interpretationen auf die auszulegenden Phänomene und das Sein zu einem Interpretieren ohne Bezug auf ein Etwas jenseits der Sprache macht. Im Kontrast zu dieser unter anderem pragmatistischen Wende der Hermeneutik tun sich jüngere Entwicklungen hervor, die man einer neuerdings zu beobachtenden Wende zur Sachhaltigkeit innerhalb der Hermeneutik und der hermeneutischen Phänomenologie zuschreiben könnte. Der kanadische Philosoph Jean Grondin (1991) bestimmt in Anknüpfung an das Kapitel »Sprache und verbum« aus Wahrheit und Methode (Gadamer 1960/1990, 422–431) das verbum interius als den Gegenstand der Hermeneutik. Diesen ursprünglich aus der christlichen Lehre der Trinität und der Inkarnation stammenden Gedanken nimmt Grondin so auf, dass für ihn jedes Sprechen auf das innere Wort verweist, das es zu finden und auszudrücken gelte. Dieser Grundgedanke führt ihn auf eine Hermeneutik des Lebens, der zufolge wir einen Sinn des Lebens zu verstehen suchen, den wir nicht selbst erschaffen können (Grondin 2003/2006). Man kann bei Grondin auch eine Wende zu einer »metaphysischen Hermeneutik« beobachten (Grondin 2013, V). Was die Sprache ausdrückt sind zugleich mit dem inneren Wort die Dinge und das Reale. In dem Bemühen der menschlichen Intelligenz um ein Verstehen des Realen im Ausgang von seinen Gründen sieht Grondin den Kern der Metaphysik, den es aus seiner Sicht mithilfe der Hermeneutik zu erneuern gelte. Der deutsche Philosoph Günter Figal vertritt in Anknüpfung an die Tradition der Phänomenologie seiner Freiburger Vorgänger Husserl und Heidegger eine hermeneutische Philosophie der Gegenständlichkeit. Ihm zufolge ist die hermeneutische Erfahrung grundlegend »Erfahrung des Gegenständlichen – dessen, was da ist, damit man ihm entspreche, und das doch in keinem Entsprechungsversuch aufgeht.« (Figal 2006, 3) Die hermeneutische Philosophie Figals ist zugleich eine »das hermeneutische Denken philosophisch aufschließende Phäno-
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B. Historische Entwicklungen
menologie« (ebd., 4), denn sie visiert mit dem Gegenständlichen ( C.I.5) die Phänomene an, die nur hermeneutisch erschlossen werden können, ohne jemals in einer Auslegung aufzugehen. Die Phänomene aber sind für Figal grundlegend räumlich. Bei ihm wird die Phänomenologie selbst zu einem »räumliche[n] Denken« (ebd.), das die Welt als hermeneutischen Raum versteht, dessen Dimensionen Freiheit, Sprache und Zeit seien. Der Raum selbst ist unscheinbar (Figal 2015), fungiert als dieses Unscheinbare aber als das, in dem etwas erscheinen kann und in dem die Phänomenologie vollzogen wird. Diese räumliche hermeneutische Phänomenologie des Gegenständlichen versteht Figal durchaus auch als »realistische[…] Phänomenologie« (ebd., 3). In Frankreich hat Claude Romano das vorgeschlagen, was er eine Ereignishermeneutik (herméneutique événementiale) nennt (Romano 2010, 111), die zugleich den Status eines ›deskriptiven Realismus‹ beanspruchen könne. Von Heidegger inspiriert versteht Romano das Ereignis als eine welterzeugende Instanz, die mit dem sich ereignenden Subjekt (l’advenant) in einem hermeneutischen Zirkel steht. Der ›Geschehende‹ und zugleich ›Ankommende‹ wird selbst, was er ist, nur durch das Ereignis, und das Ereignis ist seinerseits unhintergehbar auf ihn bezogen. Wenn Romano seine so bestimmte Ereignishermeneutik als Realismus bezeichnen kann, so deshalb, weil die Sache des Verstehens die durch das Ereignis generierte Welt ist, welche »›realer‹ als alle Realität, ›äußerlicher‹ als alle Exteriorität« sei (ebd., 42). Unter diesen Vorzeichen sucht Romano (2019) nach einer ›Erneuerung der Phänomenologie‹, die im Feld der aktuellen Renaissance des Realismus ( B.III.1) zu bestehen vermag. Die hermeneutische Wende der Phänomenologie, deren interdisziplinäre Anknüpfungsmöglichkeiten für die Literaturwissenschaft, die Geschichtswissenschaft, die Psychoanalyse, den Strukturalismus und die Theologie deutlich geworden sind, scheint in ihrer aktuellen Wende zur Sachhaltigkeit vor der Frage zu stehen, was genau ihre Sache ist, das Leben, das Gegenständliche, das Räumliche oder das Reale. Überdies wird abzuwarten sein, inwiefern sie das kritische Moment weiterzuführen vermag, welches Ricœur auf systematische Weise in sie eingeführt hat. Vielleicht führt diese Bewegung einer Selbstkritik des Verstehens schließlich in eine »Posthermeneutik« (Mersch 2010b), die aufweist, in welcher Weise das nicht Verstehbare das Verstehen prägt. Inga Römer
4. Dekonstruktion 4.1. Dekonstruktion bei Derrida
Jacques Derrida gilt gemeinhin als Begründer der Dekonstruktion. Sein Werk hat vor allem in Randbereichen der Philosophie und in an die Philosophie angrenzenden Disziplinfeldern – wie Politische Theorie, Gender Studies, Cultural Studies und Postcolonial Studies sowie Literaturwissenschaft – große Würdigung
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erfahren. Im Frühwerk, in dem er sich vor allem Stimme, Zeichen und Schrift zuwendet, zeigt sich sein Anschluss an die Phänomenologie. Zunächst dominiert dabei die Auseinandersetzung mit Husserl. Später wird er sich verstärkt auf Heidegger, aber auch auf Levinas und stellenweise auch auf Merleau-Ponty beziehen (Bernasconi 1988; Dreisholtkamp 1999; Lawlor 2002; Wetzel 2010). Das Verhältnis zu Husserl kann als wertschätzend und kritisch gleichermaßen charakterisiert werden. Um Derridas komplexe Haltung der Phänomenologie gegenüber verstehen zu können, ist es aufschlussreich, die frühe Bearbeitung phänomenologischer Fragen zu verfolgen. Hier zeigt sich, dass schon in einer Phase der vergleichsweise affirmativen Auseinandersetzung die wesentlichen Kritikpunkte – das Problem der Methode und die metaphysische Orientierung an Identität, die unzureichende Auseinandersetzung mit Offenheit, Zeitlichkeit und Andersheit – formuliert werden (Dastur 2006; Düttmann 2008; Laner 2016). Derridas Beschäftigung mit der Phänomenologie kreist um deren Beziehung zur philosophischen Tradition und hier allem voran zum metaphysischen Denken (Kimmerle 1988; Culler 1999; Angehrn 2003). Die traditionelle Metaphysik wird dabei in Verbindung mit unterschiedlichen Motiven gebracht, in deren Zentrum die Marginalisierung von Zeitlichkeit steht. Derrida betont wiederholt, dass die Metaphysik dazu tendiert, die Bedeutung zeitlicher Konstitutionsprozesse nicht ernst genug zu nehmen, wenn sie Zeit als nachträgliche Ordnungs- bzw. Erfahrungskategorie denkt. Tritt Zeitlichkeit, wie in der klassischen metaphysischen Konzeption, in einem zweiten Schritt erst zu einem bereits vor seiner zeitlichen Gestaltung konstituierten Sein hinzu, dann wird Sein laut Derrida nicht als in sich zeitlich gedacht. Einen Ausdruck dieser metaphysischen Haltung der Zeitlichkeit gegenüber äußert sich darin, dass Sein als Sein im Hier und Jetzt, d. h. als präsentisches Sein gedacht wird. Der Fokus auf das Präsens, das Derrida als ein in sich geschlossenes und hierin Alterität ausschließendes Konzept liest, bestimmt grosso modo das metaphysische Denken. Wenn Sein als präsentisches Sein verstanden wird, dann gehen damit eine unerschütterliche Orientierung an der Identität und ein Ausschluss von Andersheit und Differenz einher. Sein als Sein im Hier und Jetzt ist immer bereits bei sich und muss nicht, wie Derrida dies als eines seiner zentralen dekonstruktiven Anliegen hervorheben wird, in einer unabschließbaren Bewegung auf dem Weg zu sich sein. Dass Identität eine immer nur nachträglich zu bewerkstelligende und eine sich lediglich im differenziellen Bezug zu Anderem zeigende ist, kann mittels metaphysischer Denkstrategien daher nicht in den Blick genommen werden. Für Derrida stellt insofern das ›Privileg‹ der lebendigen Gegenwart auch den »Äther der Metaphysik« dar (Derrida 1988, 45). Die Rolle, die der Phänomenologie im Rahmen der abendländischen Geschichte metaphysischen Denkens zugeschrieben wird, ist zwiespältig, da phänomenologisches Arbeiten selbst zwar an die Grenzen der Metaphysik rührt, dabei aber immer noch bestimmten metaphysischen Prämissen verhaftet bleibt. Obwohl sich Phänomenologie metaphysikkritisch geriert, bleibt die phänomenologische Reduktion metaphysisch, wenn
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sie die ›lebendige Gegenwart‹ zu ihrem Ausgangspunkt macht und »das subjektive Erlebnis als Sphäre absoluter Gewißheit und absoluter Existenz abhebt« (Derrida 1967/2003, 62), um von dort aus zu gültigen Aussagen über Bewusstsein und Bewusstseinsgegenstand zu gelangen. Die phänomenologische Haltung birgt daher eine tiefe Widersprüchlichkeit und weist auf ein Spannungsverhältnis zwischen Metaphysikgläubigkeit und deren Überwindungsversuche hin. Metaphysikkritik steht mithin im Zentrum der Rekonzeption philosophischen Denkens, wie sie die Phänomenologie forciert. In der Grundlegung der Phänomenologie als »Erfahrungswissenschaft« (Hua XIX/1, 7) ist Husserls Bestreben um strenge Wissenschaftlichkeit insofern nicht zuletzt ein Versuch, metaphysische Erklärungs- und Begründungsmuster zu überwinden (Hua XIX/2; Hua III/1). Beim späteren Husserl (Hua IV; Hua XI), aber vor allem auch bei Heidegger (SuZ), Merleau-Ponty (1966/2000) und Levinas (1961/1987; 1974/1992) zeigt sich die kritische Haltung gegenüber der Tradition weniger durch den Rekurs auf strenge Wissenschaftlichkeit, sondern durch den Rückgang zu den (faktischen) Existenzbedingungen von Erfahrung. Auf Faktizität, Leiblichkeit, Veränder lichkeit und Verletzlichkeit des erfahrenden Subjekts aufmerksam zu machen, bedeutet daher, metaphysische Begründungen von Subjektivität konsequent zurückzuweisen. Innerhalb der Phänomenologie zeigt sich also bereits ein Pro blembewusstsein in Bezug auf metaphysische Erklärungs- und Begründungsmuster. Erste Hinweise auf die der Phänomenologie und ihrer Methode selbst inhärenten Widersprüche und Probleme nimmt Derrida (1963/1987) daher zunächst wenig überraschend auch von Husserl selbst auf, wenn er sich in seiner 1962 erschienenen Übersetzung intensiv mit der Beilage III der Krisis auseinandersetzt. Das zentrale Thema, dem sich Husserl in seinen Reflexionen über den »Ursprung der Geometrie« (Hua VI, 365–386) annimmt, ist die Seinsweise der sogenannten idealen Gegenstände. Er bestimmt diese in seiner Untersuchung am Beispiel der Geometrie als »allgemein tradierbar[e]« (Hua VI, 385). Die Idealität von Gegenständen zeigt sich somit darin, dass diese nicht faktisch vorliegen und damit nicht »zeitgebunden« (Hua VI, 385) sind. In der Erklärung, wie diese Idealität sich konstituiert, entwickelt Husserl eine Gedankenfigur, an die Derrida vor allem in seiner Rede von der Iterabilität und der Problematisierung abgeschlossener Identitäten anknüpfen und die er vor allem im Rahmen des Konzepts der différance radikalisieren wird: Damit ein idealer Gegenstand im Rahmen der Spuren, die er hinterlässt, in seiner Identität erschlossen werden kann, bedarf es laut Husserl eines wiederholten Zurückkommens auf diesen. Erst im erneuten, aktiven Nachvollziehen kann sich durch eine Synthesis – eine ›Deckung‹, wie Husserl schreibt – Identität einstellen. Diese Identitätsstiftung geht mit der »Vermöglichkeit beliebiger Wiederholung« (Hua VI, 370) einher. Indem eine Gegenständlichkeit sprachlich ›nachverstanden‹ und damit ›mitvollzogen‹ wird, bildet sich ihre Idealität aus. Idealität kann der faktischen Manifestation eines Gegenstandes damit nicht vorgängig sein. Ihr wird in diesem Rahmen ihre rein metaphysische Be-
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gründung entzogen. Gleichzeitig wird aber an den metaphysischen Konzepten der Idealität und Identität selbst fraglos festgehalten. Genau diese spannungsvolle und in ihrem Kern ambivalente Beziehung zwischen Metaphysischem – dem Idealen oder der Geistigkeit – und Physischem – dem Faktischen oder der Materialität – ist es, die Derrida erste und entscheidende dekonstruktive Überlegungen in kritischem Anschluss an die Phänomenologie Husserls formulieren lässt. Was Husserl unter der Hand als Bewusstseinsleistung darlegt – das wiederholte Zurückkommen und die daraus resultierende Deckung bzw. Synthesis werden im Rahmen von Akten der Wiederaktualisierung erklärt –, erfährt bei Derrida eine entschiedene Verlagerung auf eine strukturelle Ebene und damit eine entscheidende Akzentverschiebung. Identität wird laut Derrida nicht durch die Möglichkeit einer ersten ›Deckung‹ gewährleistet, sondern als Prozess begriffen, der sich geschichtlich in mögliche Wiederholungszusammenhänge hinein erstreckt und damit per definitionem zu keiner abgeschlossen vorliegenden Identität führen kann (Derrida 2001, 28 f.). Identität wird als offene in notwendigem differenziellen Bezug zum Anderen gedacht, da Wiederholungen immer auch die Möglichkeit der Veränderung bergen: Mit seinen Wiederholungen ändert sich das, was da als eine Identität begriffen wird, stetig und unaufhaltsam. Schon bei Husserl kündigt sich die konstitutive Rolle der Wiederholung für die Stiftung von Identität an, womit eine rein metaphysische Begründung von Identität bereits ins Wanken gerät. Das unhintergehbare Wechselverhältnis von Ereignis und Wiederholung, das für das dekonstruktive Denken im Mittelpunkt steht, ist hierin, wenn auch nur implizit, benannt. Derrida weist seinerseits nun explizit darauf hin, dass die Rede vom Ereignis als dem ersten Mal nur im Rahmen von Wiederholungszusammenhängen als den anderen Malen Sinn macht (ebd., 103). Ein Ereignis ist nur, insofern es tradiert, überliefert wird. Um vom Ereignis sprechen zu können, brauchen wir ein Zeichen, das dieses Ereignis bezeugt und es damit im geschichtlichen Verlauf ›markiert‹. Auch wenn ein Zeichen hier und jetzt, das eine Mal oder eben das erste Mal, in einer bestimmten Weise gelesen wird, ist doch seine Zeichenhaftigkeit dadurch ausgezeichnet, dass es immer wieder und damit auch anders gelesen werden können muss, um überhaupt Zeichen zu sein. Diese Möglichkeit der Wiederholung und der an diese geknüpften ›Veranderung‹, dass etwas immer wieder und damit auch immer wieder anders gelesen werden kann, bezeichnet Derrida als Iterabilität (mit dem charakteristischen Zusammenspiel von Verzeitlichung und Alterierung: Iterabilität leitet sich von Sanskrit itara, ›anders‹ her). Iterabilität kann so als eine Fortführung, ja, eine Zuspitzung des husserlschen Programms der konstitutiven Rolle der wiedererinnernden Wiederholung für die Herausbildung von Identität verstanden werden. Wichtig ist die Verschiebung auf eine strukturelle Ebene, die Derridas denkerischen Anschluss an den Strukturalismus zeigt. Wiederholungszusammenhänge werden für Derrida nicht mehr ausschließlich oder nicht primär durch ein synthetisierendes Bewusstsein bewerkstelligt. Sie können sich dagegen entlang einer Markierung (marque) in unterschiedliche räumliche und
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zeitliche Kontexte fortschreiben, wobei sie in allen Bezugnahmen für Sinnverschiebungen offen sind. Derridas Verständnis von Iterabilität und Markierung steht in engem Zusammenhang mit dem Konzept der différance, dem Geschehen der Differenzierung. Die différance benennt eine Bewegung des Unterscheidens, aber ebenso eine des Aufschiebens, in welcher sich Sinn ereignishaft konstituiert. Im Geschehen der (zeitlich wie auch räumlich entworfenen) Differenzierung gibt es keine positiv bestimmbaren Entitäten, die seinerseits Sinn enthalten würden. Die Markierung ist nicht an sich oder durch etwas Zweites in ihrer Bedeutung bestimmt, sondern »durch eben diese Beziehung zu dem, was es nicht ist« (Derrida 1988, 42). Ein Element im Differenzierungsgeschehen – sei es ein Zeichen oder, wie Derrida seine theoretische Grundlegung in ihrer Reichweite verstanden haben will, jeder Gegenstand der Erfahrung überhaupt (Derrida 1967/1974, 85 f.) – ist aufgrund der verzögernden Wirkung niemals vollständig konstituiert, sondern für neue und andere Bezugnahmen offen. Weder différance noch Iterabilität noch Markierung können laut Derrida vom phänomenologischen Standpunkt her explizit in den Blick genommen werden. Zeitlich-räumlich differierende und aufgeschobene Konstitutionsprozesse verlangen nach einem alternativen Standpunkt. Dieser andere Zugang findet im Verlauf von Derridas Denkweg eine zunehmend klarere Konturierung und hierin auch eine immer präzisere Abrenzung von der Phänomenologie. Derridas frühe Lektüre des husserlschen Textes über den »Ursprung der Geometrie« ist nun insofern aufschlussreich für die ersten Schritte in der Entwicklung der dekonstruktiven Geste, die den Anschluss an die Tradition bewusst sucht, um diese mit einem Fragezeichen zu versehen (Höfliger 1995; Alloa 2014). Obwohl der Terminus ›Dekonstruktion‹ in diesem Text noch nicht eingeführt wird, zeigen sich doch bereits einige wesentliche Merkmale des dekonstruktiven Vorgehens: (1) die genaue und umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Text, die einzelne Termini, Konzepte und Argumente herausgreift. In der Lektüre wird die Tradition als Tradition ernst genommen, was impliziert, sie nicht als unanfechtbare Autorität hinzunehmen, sondern zu fragen, inwiefern ein Text Autorität erhalten hat und wie er sich zu einer (dogmatischen) Denkgeschichte verhält. Insofern ist Dekonstruktion in ihrem Kern immer bereits Problematisierung von Machtverhältnissen. (2) In der Arbeit an Termini, Konzepten und Argumenten wird auf inhärente Ambivalenzen und Widersprüche hingewiesen. Dabei wird die Dringlichkeit betont, diese nicht aufzulösen, sondern sie in ihrer Ambivalenz und Widersprüchlichkeit offenzuhalten. Dekonstruktion arbeitet sich oft an Dichotomien ab – wie Schrift als geistige Leiblichkeit vs. geschriebenes Wort als faktische Manifestation im genannten Beispiel –, die sich im Rahmen der Lektüre als voneinander kontaminiert erweisen und damit nicht in einem einseitigen Begründungsverhältnis stehen. (3) Mittels hermeneutischer oder analytischer Textlektüreverfahren gewonnene Bedeutungen eines Textes werden hinterfragt. Während die Hermeneutik auf Sinnerfassung zielt, legt die
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Dekonstruktion gerade jene Momente in Texten frei, an denen Sinnkonstitution nicht gelingt oder sich dieser etwas entgegensetzt. (4) Paradoxien in Texten werden explizit zur Sprache gebracht. Sie gelten nicht als zu korrigierende Schwäche, sondern als konstitutive Elemente. (5) Aus den festgestellten Paradoxien wie auch Erklärungs- und Begründungsmustern werden Rückschlüsse auf weiterreichende metaphysische und/oder normative Rasterungen des Sinns gezogen. In seiner Lektüre entlarvt Derrida Husserls Idealismus, der im Verständnis der Schrift als ›geistiger Leiblichkeit‹ gipfelt, als in sich gebrochen und irreführend, insofern der Phänomenologe die Irreduzibilität schriftlicher Verkörperung nicht anerkennt. Die 1962 noch verhalten anklingende Kritik wird 1967 in Die Stimme und das Phänomen schließlich unverstellt formuliert. Hier wird der Phänomenologie Husserls eine Ambivalenz attestiert, die auf ihrer Behauptung nichtspekulativer Wissenschaftlichkeit und ihrer Fundierung der eigenen Prinzipien auf spekulativen Grundlagen basiert (Derrida 1967/1972, 11). Der spekulativ-metaphysische Zug der Phänomenologie, den Derrida mit dem ›Prinzip der Prinzipien‹ in Zusammenhang bringt, zeigt sich darin, dass die ›originär gebende Anschauung‹ als Quelle der Evidenz verstanden wird ( C.I.3). Damit beschränkt Husserl das Feld phänomenologischen Forschens auf ein Spektrum, in dem die lebendige Gegenwart den Grund und Boden für originäre Evidenzen bereitstellt. Spekulativ ist dieser Grund für Derrida, weil die Originarität als Rechtsquelle der Erkenntnis thetisch gesetzt ist und selbst wiederum nicht in der Erfahrung eingeholt werden kann. Derrida knüpft so an Husserls Bestrebungen an, sich in eine kritische Position zur Tradition zu bringen, und nimmt wesentliche Impulse aus dessen Überlegungen auf, er betrachtet die Phänomenologie aber gleichwohl als ein metaphysisches Projekt. Die sie durchdringende Metaphysik zeigt sich für Derrida (1967/1972; 1979; 1967/1974) vor allem in der phänomenologischen Berufung auf die Gegenwärtigkeit und die Innerlichkeit, die vor allem in der Methode der transzendentalen Reduktion sowie in den Konzepten der Intentionalität des Bewusstseins und in dem Versuch des Vorstoßes zu den Sachen selbst gesehen werden kann. 4.2. Dekonstruktion als philosophischer Zugang
Die Dekonstruktion wird, wie dargelegt, nicht nur an der Phänomenologie vorgeführt und daran allererst entwickelt; sie ist in gewisser Weise in der Phänomenologie bereits angelegt. Tatsächlich knüpft Derridas Zugang in einigen entscheidenden Punkten an Heideggers sogenannte ›Destruktion‹ an (Derrida 2013, 17). Im Rahmen der Aufgabe, die ›Seinsfrage‹ neu zu stellen, wird ›Destruktion‹ von Heidegger prominent als eine Grundkomponente des existenzial-phänomenologischen Ansatzes benannt. Erste Überlegungen zur Destruktion und dem sogenannten ›Abbau‹ finden sich schon in den frühen Freiburger Vorlesungen um 1919/20. Im Zusammenhang der Unmöglichkeit, in der Philosophie die Ge-
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schichte hinter sich zu lassen und einfach von vorne anzufangen, betont Heidegger die Notwendigkeit einer »phänomenologisch-kritischen Destruktion« (GA 59, 29). Begriffsbildung ist für ihn allein als Auseinandersetzung mit den durch die Philosophiegeschichte geprägten Begriffen möglich. In dieser Arbeit an Termini sollen Bedeutungen hinterfragt, soll auf Widersprüche aufmerksam gemacht und sollen Vieldeutigkeiten aufgezeigt werden. Ziel ist eine Klärung des Begriffs, die gerade nicht in ein Erfassen eines eindimensionalen Sinnstranges mündet, sondern in einem Sondieren von unterschiedlichen Bedeutungsrichtungen besteht (GA 59, 33). Das Zerstreuen der kritisch befragten Begriffe dient dabei keinem Selbstzweck, sondern es handelt sich um einen »›gerichteten‹ Abbau« (GA 59, 35), dessen Effekt eine Freilegung ist: »Die Phänomenologie ist gerade als Forschung die Arbeit des freilegenden Sehenlassens im Sinne des methodisch geleiteten Abbauens der Verdeckungen.« (GA 20, 118) Heideggers Ansatz schreibt sich somit bewusst in die Tradition ein, um sich von dieser abzuheben (SuZ, 30). Es handelt sich um ein Hineinfragen in die Geschichte, das versucht, etwas in ihr Verstelltes und Unbedachtes in den Blick zu nehmen. Der Fokus der heideggerschen Destruktion liegt interessanterweise, ähnlich wie in Derridas Dekonstruktion, auf der Frage nach der Zeit (SuZ, 34). Im Rahmen der ›destruktiven‹ geschichtlichen Besinnung wird ein Verständnis von Phänomenologie gewonnen, das sich von Husserls Reduktion klar unterscheidet. Laut Heidegger ist das konkrete Seiende in geschichtliche Bezüge verstrickt, die aber mitunter nicht als solche thematisch werden. Phänomenologische Reduktion und die daran anschließende Konstruktion (verstanden als eine freie Eröffnung eines Zugangs zum Sein) müssen daher durch eine Destruktion ergänzt werden. Destruktion wird verstanden als »ein kritischer Abbau der überkommenen und zunächst notwendig zu verwendenden Begriffe auf die Quellen, aus denen sie geschöpft sind.« (GA 24, 31) Was Heideggers Destruktion und Derridas Dekonstruktion verbindet, ist einerseits die kritische Haltung der Geschichte des Denkens gegenüber, die aber nie die Tradition über Bord wirft, sondern sich bewusst mit dieser konfrontiert, und andererseits das geteilte Interesse an der Frage nach der Zeit. Was sie unterscheidet, ist Heideggers Überzeugung, dass sich im Sein des Daseins selbst so etwas wie Wahrheit lichtet – darin bleibe Heidegger, bei aller Kritik, noch immer Phänomenologe. Genau diese Überzeugung lehnt Derrida hingegen vehement ab (Derrida 1988, 38–41). Die Dekonstruktion fokussiert daher nicht mehr das lebendige und leibhafte Phänomen, sondern wendet sich stattdessen Zeichen und Schrift zu. Die Dekonstruktion wird mit Grammatologie (1967) namentlich als ein Projekt eingeführt, um die Schrift (écriture) aus ihrer traditionellen Unterordnung unter das gesprochene Wort zu lösen und als philosophisches Konzept in Stellung zu bringen. Hinter der Privilegierung der Mündlichkeit, der Stimme (phōnē) und dem gesprochenen Wort (logos) steht, so Derrida, eine metaphysische Ordnung, die auf Selbstgegenwärtigkeit, Identität und Transparenz setzt (Derrida 1988, 61 f.). Die Stimme der Vernunft ist per definitionem ort- und zeitlos, entkörpert
III.4. Dekonstruktion
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und entweltlicht, und die metaphysische Denktradition ist folglich fundiert in einem »Logozentrismus, der zugleich ein Phonozentrismus ist« (ebd., 25): Die Schrift ist dann stets nachgeordnet und mit Absenz verbunden. Es fehlt jemand, der Rede und Antwort stehen könnte. Jede Schrift ist daher – so die traditionelle Auffassung (ebd., 55) – in gewisser Weise ›unvernünftig‹, weil verantwortungslos; ihr Prinzip ist anonym. Ihre Wirkungen lassen sich nicht steuern, da sie frei kursieren kann. Von Anfang an eröffnet Schrift einen potenziell unendlichen Zeithorizont, insofern sie allen künftigen Relektüren gegenüber offensteht. Positiv gewendet gilt es für Derrida daher, hinter die logo- und phonozentrischen Setzungen zurückzufragen und deren unausgewiesene Voraussetzungen ans Licht zu bringen. Dabei zielt Dekonstruktion nicht darauf ab, Begründungsverhältnisse dadurch für überwunden zu erklären, dass sie umgekehrt werden. Vielmehr geht es darum aufzuzeigen, dass und inwieweit komplementär gedachte Konzepte – wie Schrift und Rede – nicht in einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen, sondern voneinander durchdrungen sind. Mit dem von Derrida so oft benutzten »immer schon« (toujours déjà) soll unterstrichen werden, dass Dekonstruktion nicht zu einem Ausgangspunkt vorstoßen will, an dem die analysierten Elemente noch klar voneinander geschieden vorliegen würden. Die dekonstruktive Geste zielt nicht auf Klärung; sie widmet sich vielmehr dem Aufdecken von Verunklärungen, einem Blicken auf jene Momente und Bewegungen, die Konzepte, Argumente und Termini in ihrer vermeintlichen Einfachheit oder Eindeutigkeit zerspringen lassen. Dekonstruktion heißt damit, Ambivalenzen, Widersprüchlichkeit und Doppelbödigkeit als solche sichtbar zu machen, ernst zu nehmen und auszuhalten, d. h., sie nicht auflösen zu wollen. Diese Liebe zur Ambivalenz spiegelt sich nicht nur in den Inhalten, für die sich die Dekonstruktion interessiert. Sie zeigt sich auch in ihrer Form. Derrida bezeichnet die Dekonstruktion als strukturalistische und antistrukturalistische Geste gleichermaßen und charakterisiert sie so als in sich ambivalent (Derrida 2013, 17 f.). In der Dekonstruktion geht es nicht nur darum, (linguistische, logooder phonozentrische, aber auch institutionelle, politische, philosophische usw.) Strukturen auszumachen, sondern immer auch darum, sie zu zerlegen und in diesem Zug neu zu rekonstruieren (Lüdemann 2011). Für Derrida steht fest, dass Dekonstruktion weder Analyse noch Kritik ist (Derrida 2013, 19). Sie stößt in der Bewegung der Zerlegung weder analytisch zu einzelnen Bedeutungseinheiten vor, noch glaubt sie an die Idee einer transzendentalen Kritik oder eines erhabenen kritischen Urteils (Culler 1999; A. Kern/Menke 2002). Ebenso wenig ist sie als schlichte Methode misszuverstehen. Sobald sie als Technik der Untersuchung angewandt, instrumentalisiert und akademisch vereinnahmt wird, geht jene Erfahrung der unwiederholbaren Widerständigkeit verloren. Dekonstruk tion, so Derrida, ist keine Methode, sondern ein Ereignis (événement) (Derrida 2013, 20). Im Ringen um eine Erklärung dessen, worin die dekonstruktive Geste besteht, äußert sich der nicht bloß formal-analytische Anspruch der Dekonstruktion. De-
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konstruktion ist nie ein rein philosophisches Unterfangen, nie nur ein Hantieren mit philosophischen Begriffen, Konzepten und Ideen. Die dekonstruktive Geste ist immer schon eine politische Geste, insofern sie auf Hierarchien und Machtverhältnisse aufmerksam macht und diese dadurch zur Diskussion stellt (Derrida 1991). Da die Dekonstruktion mehr einer Geste als einer Methode entspricht, hat sich Derrida wiederholt dagegen ausgesprochen, dass man einerseits auf Geheiß dekonstruieren könnte und dass andererseits ein fertiges Produkt, ein revidierter Sinn etwa, aus einem dekonstruktiven Bestreben hervorginge. Diese radikale Position hat viele kritische Stimmen auf den Plan gerufen. Einer von Derridas prominentesten Kritikern, mit dem Anfang der 1980er-Jahre eine über 20 Jahre dauernde Kontroverse beginnt, ist Hans-Georg Gadamer (Derrida/Gadamer 2004; Bertram 2002; Stoermer 2002; Angehrn 2003). Gadamer wirft Derrida vor, dass er kein Gespräch zulasse, weil er mit seinem Beharren auf der Differenz jeden Dialog, jede Chance auf Verständigung und Erkenntnis (im Sinne einer Horizontverschmelzung) verunmögliche (Gadamer 1986, 372). Derrida selbst nimmt in seiner Kondolenzrede nach Gadamers Tod 2002 noch einmal das Gespräch auf, dessen Vermeiden ihm vonseiten des Hermeneutikers vorgeworfen wurde ( B.III.3). Diese späte Annäherung kann als Versuch verstanden werden, ein Gespräch, sei es mit dem Text oder mit dem Gegenüber, nicht zu verhindern, sondern offen und in ständiger Bewegung zu halten, indem die dekonstruktive Geste in ihrer Lektüre- und Gesprächspraxis gerade auf die Unabschließbarkeit von neuen und anderen Sinnbildungen hinweist. Das Gespräch muss also aufrechterhalten werden, damit neuen und anderen Bedeutungen ein Raum gegeben wird. Schließlich würde ein Festschreiben von Bedeutungen nicht nur das ereignishafte Entstehen von Sinn umgehen, sondern es wäre darüber hinaus eine politisch problematische Geste, wie Derrida schon rund 30 Jahre davor in einem Interview betont (Derrida 1986). Dekonstruktion ist in diesem Sinne immer schon mehr als ein Umgehen mit Texten, Begriffen, Konzepten und Argumenten; es ist auch eine Weise des Umgehens mit Ideologien, politischen und gesellschaftlichen Setzungen und Normen. 4.3. Dekonstruktion nach Derrida
Da Dekonstruktion mit einer Befragung von Ideologien, Setzungen und Normen einhergeht, ist es nicht verwunderlich, dass sie heute neben dem großen Einfluss, den sie auf die literaturwissenschaftliche Analyse von Texten hat (Culler 1999), nicht nur, aber vor allem auf dem Feld politischer, institutionen- und ideologiekritischer Überlegungen fortlebt. In der zeitgenössischen politischen Philosophie und Theorie zeigt sich ein starker Einfluss des dekonstruktiven Denkens, der unterstreicht, dass die Dekon struktion nicht nur eine formal-analytische Operation, sondern auch immer bereits eine politische Strategie ist. Einflüsse finden sich bei Denker:innen wie
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Mouffe, Laclau (Laclau/Mouffe 1985) oder Žižek (Butler et al. 2000). Nennenswert ist auch der Einfluss im Bereich der Cultural Studies und Postcolonial Studies, so etwa bei Hall (1994), Bhabha (2012) und Spivak (1988). Die Critical Legal Studies bilden ein weiteres Diskursfeld, nicht zuletzt durch Derridas einflussreiche Überlegungen zu den Aporien des Gesetzes (Cornell et al. 1992; Kennedy 1997; Unger 1986). Ein besonders großer Einfluss von Derridas Dekonstruktion zeigt sich im Feminismus und in den Gender Studies ( D.VIII). Autor:innen wie Butler (1990/1991), Cixous (Derrida/Cixous 2007) oder Irigaray (1976) bekunden offen die Bedeutung, die dekonstruktive Ideen auf ihr Denken ausüben, und greifen in der Analyse von Hierarchien und Machtverhältnissen selbst auf dekonstruktive Lektürestrategien zurück. Innerhalb des engeren disziplinären Feldes der Philosophie hat die Dekonstruktion weniger Spuren hinterlassen als in angrenzenden Disziplinen und im interdisziplinären Bereich. Rorty (1989) kann als einer der wenigen namhaften Philosoph:innen des 20. Jahrhunderts gelistet werden, dessen Spätphilosophie die dekonstruktive Geste insofern verinnerlicht, als er die Philosophiegeschichte mit Konzepten wie der Ironie konfrontiert, die in ihr bisher negiert oder vergessen waren. Iris Laner
5. Responsive Wendung Von einer responsiven Wendung innerhalb der Phänomenologie kann nur gesprochen werden, wo innerhalb der Phänomenologie eine neue Richtung eingeschlagen wird und die Gewichte sich verlagern. Für die Responsivität – als eine Form des Antwortens – bedeutet dies, dass die Mitwirkung des Subjekts die Form eines responsiven Verhaltens und die Sinnbildung die Form einer responsiven Rationalität annimmt, sodass deren Schwerpunkt außerhalb ihrer selbst in einem Anderen oder Fremden liegt. Responsivität bedeutet zunächst Antwortbereitschaft und Verantwortlichkeit. So ist der Ausdruck geläufig in der Medizin für die Ansprechbarkeit eines Organismus auf einen äußeren Einfluss, in der Psychologie für die Bereitschaft von Bezugspersonen, auf Kommunikationssignale reagieren, in der Politik für die Bereitschaft von Repräsentanten, auf Wünsche von Bürgern einzugehen. Innerhalb des phänomenologischen Denkens setzt sich die responsive Wendung einem phänomenologischen Denken entgegen, das die Wahrnehmung subjektzentriert beschreibt als eine vornehmlich aktive intentionale Sinnsetzung, in der prädikative Akte und eine Zentrierung auf eine universale Vernunft im Vordergrund stehen. Durch die ›responsive Wendung‹ erhalten die Affektivität, die Wirkung der Dinge und der Anderen eine ethische ursprüngliche Dimension des Verhaltens als antwortende Verantwortlichkeit eine neue Bedeutung. Eine responsive Wendung hat sich innerhalb der Phänomenologie, aber auch in den Humanwissenschaften lange angebahnt. Doch sowenig Intenti-
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onalität mit bloßer Intention gleichzusetzen ist, so wenig ist Responsivität mit bloßer Antwort oder Response gleichzusetzen. 5.1. Latente Responsivität in der älteren Phänomenologie
Begriffe wie Antwort oder Response spielen bei den Gründern der Phänomenologie keine zentrale Rolle, und wenn sie auftauchen, so in abgeschwächter oder impliziter Form. Dennoch kann man von einer latenten Responsivität sprechen. Was Husserls Phänomenologie angeht, so enthält schon das Motto ›Zurück zu den Sachen selbst!‹ einen responsiven Impuls. Am Anfang steht ein Appell, der nach einer Antwort verlangt, und kein einsamer Entschluss, den wir selbsttätig fassen. In den Sachen, die sich selbst und von selbst geben (Hua III, 52), deutet sich jedoch eine Doppelbewegung an, eine Bewegung hin zu den Sachen und eine Bewegung von den Sachen her. Die mangelnde Klärung dieser Dynamik führt zu einem Pendeln zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften, zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Intention und Affektion, das nicht problematisiert wird. Es tauchen bei Husserl zwar responsive Momente auf, wenn die Affektion als »ein sozusagen Ich-Fremdes« (Hua XV, 128) gedacht wird und wenn die Erfahrung in der Form von Antun, Angehen, Angang oder Anruf ein Antworten hervorruft, so etwa ein »antwortendes Hinsehen, Hinhören« (Hua XV, 462). Und das Antworten nimmt eine dialogische Form an, wenn eine Intention als »adressierende Intention« sich an eine andere Intention wendet (Hua IX, 485). Dennoch kommt es bei Husserl zu keiner wirklichen responsiven Wendung, denn Passivität wird hier noch als verminderte Form der Aktivität gedacht und das Ich bleibt hier zentraler Bezugspunkt jeder Fremderfahrung. In Schelers Wertlehre (Scheler 1954, 124) beschränkt sich das Antworten auf emotionale »Antwortreaktionen«, die von gegebenen Wertqualitäten ausgehen und einem Wertfühlen nachfolgen (Waldenfels 1995b, 103; 2015, 87–90). Das Antworten bleibt lediglich rezeptiv, es realisiert vorgegebene Wertqualitäten und erweist sich weder als kreativ noch als responsiv, weil es keine neuen Antworten auf Situationen findet. Heidegger nimmt den husserlschen Appell auf, wenn er in Sein und Zeit der Phänomenologie die Aufgabe zuschreibt: »[d]as, was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen [zu] lassen« (SuZ, 34). Doch alles Antworten verfängt sich im Zirkel des Selbstseins; so gilt der Ruf des Gewissens als ein Ruf des Selbst aus und zu sich selbst: Was ruft das Gewissen dem Angerufenen zu? Streng genommen – nichts. […] Dem angerufenen Selbst wird »nichts« zugerufen, sondern es ist aufgerufen zu ihm selbst, das heisst zu seinem eigensten Seinkönnen. […] Das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens. (SuZ, 273)
Nach Heideggers Abwendung von einem fundamental-ontologischen Denken und seiner Zuwendung zu einem seinsgeschichtlichen Ansatz (›Kehre‹) wird dem
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Menschen eine »Antwort auf das Wort der lautlosen Stimme des Seins« (GA 9, 307, 310) abverlangt, doch das Antworten auf das Sein wird übertönt von »Zusammengehörigkeit« und »Hörigkeit«, in der das Denken schon vom Sein in Anspruch genommen ist (Waldenfels 1994, 578 f.). 5.2. Responsive Anregungen aus dem Umfeld der Philosophie
Wenn es innerhalb der Phänomenologie zu einer responsiven Wendung kommt, so wird diese in vielerlei Hinsicht angeregt und verstärkt durch Fragestellungen, die sich im wissenschaftlichen Umfeld der Philosophie entwickelt haben. Medizin. An erster Stelle ist hier Kurt Goldstein zu erwähnen. In seinem grundlegenden Werk Der Aufbau des Organismus (1934) entwickelt er in Anlehnung an die sozialmedizinische Virchow-Schule eine Theorie des Organismus, innerhalb derer Gesundheit ausdrücklich als Responsivität bestimmt wird, nämlich als die Fähigkeit, in adäquater Weise auf die Anforderungen von Umwelt und Mitwelt einzugehen, im Gegensatz zur Krankheit als einer entsprechenden Irresponsivität, in der das Verhältnis zwischen Organismus und Umwelt aus der Bahn gerät. Symptome fasst Goldstein als Antworten, die der Organismus auf an ihn gestellte Fragen gibt (Goldstein 2014, 15). Beim Prozess der Normalisierung – und auch der Heilung – geht es um einen dynamischen Prozess der Gleichgewichtsfindung, der durch Störungen und Erschütterungen hindurch Normalität nur auf dem Hintergrund von Abweichungen und Anomalien erlangt (Waldenfels 1994, 457 ff.). Gestalttheorie. In der Berliner Schule der Gestalttheorie, bei Autoren wie Wolfgang Köhler, Kurt Lewin oder Max Wertheimer, sind es ›Aufforderungscharak tere‹ und ›Gefordertheiten‹, mit denen die Dinge uns einladen und auffordern, etwas zu tun. Auf diese Weise nimmt unser Wahrnehmen, Tun und Handeln responsive Formen an, der Ausdruck ›response‹, der innerhalb einer behavioristischen Theorie zur ›Reaktion‹ verflacht war, bekommt damit seinen Antwortcharakter zurück. Der Begriff der ›Antwort‹, der schon in der Psychologie der 1920er-Jahre gebräuchlich war (Bühler 1927), kennzeichnet das leibliche Verhalten im Austausch mit der Umwelt, bevor er sich in dem behavioristischen Schema von Stimulus und Response zu einem Kausaleffekt verfestigt hat (Waldenfels 1987, 210 f.; 1998, Kap. 5). Psychoanalyse. Laplanche (1996) propagiert im Anschluss an Lacan eine kopernikanische Wende in der Psychoanalyse, deren Vollendung er bei Freud vermisst und die ähnlich wie bei Levinas das ›Gravitationszentrum‹ in den Anderen verlegt. Diese Dezentrierung bedeutet auch eine neue Gewichtung von affektiven Kräften, die sich der Eigeninitiative entziehen und ihr vorausgehen: Die ›Implantation‹ des Anderen in der Mutter-Kind-Beziehung verbindet sich mit einer fremden Botschaft, auf die das Kind zu antworten und die es zu übersetzen hat (Laplanche 1996, Kap. VI; Waldenfels 2005, 248, 254 ff.).
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Ethnologie der Gabe. Die Theorie der Gabe von Marcel Mauss kreist um eine Trias von Geben, Nehmen und Erwidern (Mauss 1968). Das Erwidern (rendre) leitet sich weder her aus einem moralischen Gebot noch aus einem Tauschkalkül. In der Erwiderung, im Vertrauensvorschuss und im Überschuss knüpft sich ein soziales Band. Etwas geben bedeutet zugleich, etwas von sich selbst geben. Der Akt des Gebens, in dem das Antwortgeben vorgezeichnet ist, geht über die gegebene Gabe hinaus (Waldenfels 1994, 606ff; 2012, 222 f.). Sprache und Literatur. Der russische Sprach- und Literaturtheoretiker Michail Bachtin bezieht sich in seinem Werk Die Ästhetik des Wortes (1979) unter anderem auf Husserl, Bühler und Buber. Er geht aus von einer Vielstimmigkeit der Rede, in der eigene und fremde Rede ein Geflecht bilden, worin jedes Wort als »halbfremdes Wort« einen Antwortcharakter hat: »Das Wort der Sprache ist ein halbfremdes Wort. Es wird zum ›eigenen‹, wenn der Sprecher es mit seiner Intention, mit seinem Akzent besetzt, wenn er sich das Wort aneignet« (Bachtin 1979, 185). In diesem Zusammenhang spricht Bachtin vom »antwortenden Verstehen« (ebd., 173 f.), von einer genuinen Antwortlichkeit (otvestnost) (ebd., 233), die der Verantwortung (otvestvennost) als einem Rechenschaftgeben vorausgeht (Waldenfels 1999a, Kap. 7). 5.3. Responsive Impulse innerhalb der Phänomenologie
In der Umformung der Phänomenologie durch Maurice Merleau-Ponty und Emmanuel Levinas sind responsive Impulse wirksam, teils offen, teil versteckt. Bei Merleau-Ponty finden wir eine gewisse »Responsivität des Leibes« (Waldenfels 2005, Kap. 5), die über das ganze Werk verstreut ist ( C.I.9). Im Wahrnehmen und im Handeln kommt es zu einem quasi-dialogischen Austausch mit der Welt, denn »die Bezüge zwischen den Dingen« sind »durch unseren Leib vermittelt.« (Merleau-Ponty 1966/2000, 370) Wir antworten auf sinnliche Gestalten, die unseren Blick anstacheln, und auf praktische Situationen, die uns zum Handeln auffordern. Das Malen ist eine mit Hand und Pinsel ausgeführte »Antwort« auf Anregungen, die vom »Grund des Sichtbaren« aufsteigen und zur Sichtbarkeit drängen (Merleau-Ponty 2003, 43). Im Medium einer Zwischenleiblichkeit ( C.I.11), das uns chiasmatisch mit den Anderen verbindet, »antwortet Fleisch auf Fleisch« (Merleau-Ponty 1964/1986, 267). Das »fragende Denken« (Waldenfels 1995, Kap. 10) beschränkt sich nicht auf beantwortbare Erkenntnisfragen, und es antwortet nicht auf Fragen, die der Mensch sich selbst stellt. Wenn es eine »Antwort« (in Anführungszeichen!) gibt, so im »wilden Sein« jenseits von Tatsachen und Wesenheiten (ebd., 161). Es fragt sich allerdings, ob die sich andeutende Responsivität nicht ihre Fremdheit einbüßt, wenn Reversibilität als »Rückkehr zu sich selbst« (ebd., 163) gefasst wird. Bei Levinas verpflichtet sich die Existenz der Verantwortung (Levinas 1961/1987, 266). Das Antworten als réponse de la responsabilité steht im Schatten der Verantwortung (Levinas 1974/1992, 311), doch diese Verantwortung ist von
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Anfang an eine Fremdverantwortung; sie geht als Verantwortung für den Anderen vom vorgängigen Appell des Anderen aus ( D.III). Hier besteht eine Nähe zur Dialogphilosophie Martin Bubers, aber entscheidend ist bei Levinas die Asymmetrie zwischen mir und dem Anderen und außerdem die Diachronie als zeitliche Verschiebung der Fremderfahrung. Die Grenzen seines Ansatzes liegen dort, wo sich das Antworten beschränkt auf den Anderen; außerdem besteht bei Levinas eine Tendenz zur Umkehrung der Egozentrik, als Umkehrung des Ich (ebd., 122), und zur Umkehrung der Intentionalität (ebd., 114, 247). Es besteht hier im Ansatz die Möglichkeit eines ethisch-religiösen Fundamentalismus, wenn in der Tendenz die Egologie zum Altruismus, zur sujétion (Unterwerfung) wird (ebd., 41, 280). Die oben genannte Tendenz zu einem Fundamentalismus verstärkt sich bei Jean-Luc Marion (1997), der die Gegebenheit für ein Bewusstsein zu einer reinen bedingungslosen Gegebenheit steigert. Er spricht von einem reinen Appell, von einer »Gegen-Intentionalität«, in der das eigene Selbst als »Hingegebener« (adonné) »sich gänzlich von dem empfängt, was er empfängt« (Marion 1997, 367 ff.). Der répons (sic!), ist nicht, was wir geben, sondern »in ihm sind wir, leben wir, empfangen wir uns« (ebd., 398). Auf diese Weise wird die Responsivität zu einer Zirkularität ohne jegliche Spannung oder jeglichen Fremdheitsbefall. Kritische Anmerkungen zu dieser theologischen Kehre ( B.III.6) finden wir bei Janicaud (1991/2014) und Waldenfels (1994, 580 f.; 2012, 118, 156 f., 406). 5.4. Responsive Phänomenologie
Bei Bernhard Waldenfels (1994, 320 ff.) kann man erstmals von einer responsiven Phänomenologie sprechen, da hier nicht nur responsive Motive auftreten, sondern die Responsivität – zusammen mit der Intentionalität und der Regularität/ Kommunikativität – als ein Grundzug des Verhaltens angesetzt wird. Responsivität ist tiefer gelagert als die Intentionalität (als das Verstehen von Sinn) und auch als die Kommunikativität (als Befolgen gemeinsamer Regeln innerhalb einer kulturellen Ordnung), doch alle drei Dimensionen sind in ihrer Wirksamkeit im Erfahrungsgeschehen zu beachten. 5.4.1. Ansatzpunkte der Responsivität im Gespräch und im Handeln
Erste Ansatzpunkte einer Responsivität bilden offene Anknüpfungen im Gespräch, die über alle sinnhaften Verknüpfungen hinaus auf situative und kontextuelle Ansprüche eingehen. Gleiches gilt für ein Handeln in offenen Situationen, das nicht nur Ziele verfolgt, nicht nur Regeln befolgt und pragmatische Umstände nutzt, sondern immer auch auf Anforderungen, ›Aufforderungsqualitäten‹ und Herausforderungen der Situation antwortet. Die vielfältigen Ordnungen, die aus solchen interaktiven und interlokutionären Zwischenereignissen hervorgehen, werden als responsive Rationalität bezeichnet (Waldenfels 1987, 49 ff.; 1985,
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132 ff.). Zwischenereignisse oder Zwischenfälle werden gefasst als »Ereignisse, in denen etwas auftritt, indem es an anderes anknüpft, ohne vorweg mit ihm verknüpft zu sein« (Waldenfels 2002, 174). 5.4.2. Das Doppelereignis von Anspruch und Antwort
Als ›responsiv‹ am Verhalten ist also das zu fassen, was mehr ist als Sinnerfüllung und Regelbefolgung. Dieses ›Mehr‹ ist zu fassen als ein Überschuss, der sich in seinem Antworten auf die Situation auf sich selbst zurückbezieht. Das grundlegende Werk Antwortregister (Waldenfels 1994) beschreibt das Verhalten als ein Doppelereignis aus Anspruch und Antwort. Der Anspruch ist zwiefach zu verstehen als Anspruch auf etwas (claim) und als Anspruch an jemanden (appeal): Wir sind in Anspruch genommen durch das, was uns anspricht. Aufseiten des Antwortens wird unterschieden zwischen der gegebenen Antwort (answer) und dem Akt des Antwortens (response, reply). Ferner wird unterschieden zwischen einem normalen Antworten, das sich in einem vorgegebenen Bezugsrahmen bewegt, sodass die Antworten schon vorgezeichnet sind, und einem außer-ordentlichen Antworten, das diesen Rahmen überschreitet, sodass Antworten neu zu erfinden sind. Entscheidend ist dabei die responsive Differenz zwischen dem Worauf und dem Was des Antwortens. Diese Differenz entspricht der linguistischen Differenz von Sagen (als Ereignis) und Gesagtem (als Aussage) – dire/dit, énonciation/énoncé (Ducrot 1985). Der methodische Weg, der hinführt zu dieser Differenz, besteht in einer responsiven Epoché, die nicht fragt, in welchem Sinn etwas gemeint ist, sondern danach fragt, worauf wir antworten, wenn wir etwas sagen oder tun. Der Titel Antwortregister ist entsprechend als Plural zu lesen; er bezieht sich nicht bloß auf sprachliches Antworten, sondern ebenfalls auf alle Register des leiblichen Verhaltens: von der Sensomotorik der Sinne über das Handeln und Hantieren bis zu den Antriebskräften des Fühlens und Begehrens. Ein besonderes Gewicht hat hierbei die Initialzündung der Aufmerksamkeit, die im Zweitakt von Auffallen und Aufmerken das Antwortgeschehen auf paradigmatische Weise prägt. Dieser Gedanke wird im Werk Phänomenologie der Aufmerksamkeit (Waldenfels 2004) ausgearbeitet. 5.4.3. Doppelereignis von Pathos und Response
Im zweiten Anlauf, in Bruchlinien der Erfahrung (2002), entfaltet sich das Antworten auf einem pathischen Untergrund als ein Doppelereignis aus Pathos und Response. Das griechische Wort ›Pathos‹ steht für alles, was uns widerfährt, was uns anrührt, angeht, anblickt oder anspricht. Das Pathos ist weder ein objektives Ereignis noch ein subjektiver Akt, sondern etwas, das mir zustößt, mich trifft, ohne dass ich der Urheber oder Autor dessen wäre. Dagegen bin ich es, der antwortet. Bei dem, was uns widerfährt, ist zu unterscheiden zwischen unadressierten Affektionen, die uns treffen wie ein Wetterumschlag, und adressierten Appel-
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len, die sich direkt an uns wenden. Die Sonderung dieser Aufforderungsweisen gehört zur Genese des Selbst, die bis in die frühe Kindheit zurückreicht. Kommt das, was uns widerfährt, von außen oder von innen? Diese Alternative erweist sich als hinfällig, wenn die spezifische Zeitlichkeit des Antwortens bedacht wird. 5.4.4. Zur Nachträglichkeit der Antwort
Das Antworten im Sinne der Responsivität ist gekennzeichnet durch eine genuine Zeitverschiebung, die sich mit einem alten, mitunter auch von Levinas verwendeten Ausdruck als Diastase bezeichnen lässt. Pathos und Response sind strikt aufeinander bezogen; ein Pathos wäre nichts ohne jemanden, dem es widerfährt; umgekehrt wäre die Response nichts ohne etwas oder jemanden, worauf sie zurückgeht. Aber zwischen beiden gibt es keine Synthese und keine Synchronie, der Erfahrungszusammenhang ist ein gebrochener Zusammenhang. Gemessen an einer linearen Zeitlichkeit kommt das, was uns widerfährt, zu früh, so wie unsere Antwort zu spät kommt; denn responsiv ist eine Erfahrung nicht deshalb, weil dem Selbst der Erfahrung etwas vorausgeht, sondern weil dieses sich in gewissem Sinne selbst vorausgeht. Das originäre Selbst kann nicht gefasst werden als einheitliches Subjekt, sondern es ist stets ein ›geteiltes‹ Selbst, geteilt in einen Patienten und in einen Respondenten. Ohne diese originäre Vorgängigkeit und Nachträglichkeit gäbe es keine Erfahrung, die uns mit Neuem überrascht. Solche Erfahrungen melden sich in starken Affekten wie Erstaunen und Erschrecken, die den normalen Gang der gewohnten Erfahrung durchbrechen. Das Pathische ist nicht das Gegenteil des Normalen, das unsere natürliche Einstellung prägt, doch es bildet einen latenten Überschuss des Fremden und Außerordentlichen, der jederzeit als Überanspruch hervortreten kann. 5.4.5. Antwortlogik und responsive Rationalität
Die responsive Rationalität schlägt sich nieder in einer spezifischen Antwortlogik, sie bemisst sich am Aufscheinen und an der Entstehung einer neuen Ordnung, die sich durch das ›responsive Antworten‹ auf eine zunächst nicht beantwortbare Situation ergibt. Solche singulären Ereignisse sind weder Teil eines Ganzen noch Fall eines allgemeinen Gesetzes. Die Unterscheidung von Besonderheit und Allgemeinheit wird unterlaufen, wenn ein singuläres Ereignis von der Ordnung abweicht, sei es die eigene Geburt, sei es ein umstürzendes historisches Ereignis oder ein neuer Gedanke, der unerwartet einfällt. Zu nennen ist hier die Unausweichlichkeit eines fremden Anspruchs, den ich nicht nicht beantworten kann, z. B. wenn jemand mich um etwas bittet oder mir etwas androht, sei es verbal oder mit einem stummen Blick. Solche situativen Ansprüche, denen ich wohl oder übel ausgesetzt bin, fallen nicht unter die Disjunktion von Sein und Sollen. Es liegt an uns selbst, was und wie wir antworten, nicht aber ob und worauf wir antworten. Keine Antwort wäre stets auch eine Antwort; wir stecken hier
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in einer responsiven Falle. Schließlich herrscht, wie Levinas betont, zwischen Anspruch und Antwort eine Asymmetrie. Sie ist nicht zu verwechseln mit einer ungleichen Verteilung der Rollen im Dialog, sondern mit einer originären »Dialogverschiebung« (Waldenfels 2002, 226). Appellant und Respondent begegnen sich nicht auf derselben Ebene, Anspruch und Antwort sind nicht konsensfähig wie zwei Behauptungen oder Entschlüsse. Responsivität besagt, dass die eigene Rede und das eigene Tun von anderswoher kommen. In diesem Sinne ist die Freiheit eine »responsive Freiheit« (Waldenfels 2006a, 106), indem sie den Spielraum des Verhaltens neugestaltet. 5.4.6. Antwortfelder der responsiven Phänomenologie
Eine responsive Phänomenologie eröffnet verschiedene Dimensionen des Fragens und Forschens. Diese Dimensionen hat Waldenfels vor allem in den Werken Grenzen der Normalisierung (1998), Hyperphänomene (2012) und Sozialität und Alterität (2013) entwickelt. Dazu gehört außerdem eine responsive Ethik, wie er sie in Schattenrisse der Moral vorgelegt hat. Eine responsive Ethik geht über teleologische, deontische und utilitäre Ansätze hinaus, indem sie fremde Ansprüche zum Movens eigenen Handelns macht. Das Geheiß ›Du wirst nicht morden, du wirst mich nicht töten‹, das Levinas wiederholt als Ernstfall einer Ethik des Anderen anführt, beschreibt nicht, was ist, und schreibt nicht vor, was sein soll, sondern benennt, was nicht sein kann. Der Andere ist nicht etwas, das ich nach eigenem Belieben aus dem Weg räumen kann. Gewalt stößt hier auf eine innere Grenze, weil selbst das, was einer dem anderen antut, einem Antworten entspringt. Doch die Responsivität beginnt schon mit einer Alltagsmoral: Die Ethnologie der Gabe im Gefolge von Marcel Mauss überkreuzt sich mit einer Ethik des Anderen. Dazu gehört auch eine Ethik der Gastlichkeit. Die responsive Ethik setzt sich fort in einem responsiven Recht, das als Rechtsprechung nicht nur über Rechtsfälle urteilt, sondern Adressaten hat. Jeder Vertragsschluss enthält einen Vorschuss des Vertrauens, der sich nicht auch noch vertraglich einfordern und garantieren lässt. Eine responsive Politik lässt Raum für Apolitisches, das sich der Normalisierung entzieht ( D.VII). Im Bereich der medizinischen Heilkunst würde im Anschluss an Kurt Goldstein eine responsive Therapie nicht nur Defizite beheben, sondern dem Bekunden von Leiden Gehör schenken und sich bemühen, die Antwortfähigkeit des Patienten zu stärken und zu erneuern. Schließlich sind die verschiedenen Künste zu erwähnen ( D.X), die auf je verschieden Weise Fremdem begegnen, »das nur in der erfinderischen Antwort der Sinne in seiner Unzugänglichkeit zugänglich wird« (Waldenfels 1999a, 15). Solches geschieht im Blick, der von dem Bild geweckt wird, bevor wir uns dieses vor Augen führen, oder bei Klängen, die erklingen und verklingen und an unser Ohr dringen, bevor wir sie als Geigenton oder hohes C identifizieren (Waldenfels 2010b). Husserls regionale Ontologien verwandeln sich in dieser responsiv geprägten Phänomenologie von Sinnprovinzen in Regionen des Pathischen und des Responsiven. Der ›Sinn
III.6. Theologische Wende
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der Sinne‹ von Erwin Straus taucht innerhalb einer Phänomenologie der Responsivität erneut auf als ein vielfältiges Antworten der Sinne. Regula Giuliani
6. Theologische Wende ›Theologische Wende‹ ist ein polemischer Ausdruck, der seit seiner Prägung durch Dominique Janicaud Anfang der 1990er-Jahre eine vermeintliche Familienähnlichkeit der französischen Phänomenologie der letzten Jahrzehnte bezeichnet. Wegen seines Gebrauchs in einem polemischen Kontext, in dem er der Abgrenzung von einer diagnostizierten Fehlentwicklung in der Geschichte der Phänomenologie dient, ist der Ausdruck notorisch vage geblieben. Daher wird er in diesem Kapitel in Anführungszeichen gesetzt, um zu signalisieren, dass es sich lediglich um einen Problemtitel handelt. Dieses Kapitel rekonstruiert im ersten Teil den Debattenkern, in dem die Grenzen der Phänomenologie verhandelt werden. Im zweiten Teil wird die Geschichte der Phänomenologie unter dem Gesichtspunkt der Frage, ob in ihr die Rede von Gott einen möglichen Ort hat, dargestellt. 6.1. Rekonstruktion der Debatte um die ›theologische Wende‹
in der Phänomenologie
1991 veröffentlichte Janicaud unter dem Titel Le tournant théologique de la phénoménologie française einen polemischen Essay gegen die letzten Veröffentlichungen dreier französischer Phänomenologen (Janicaud 1991/2014). 1989 war Jean-Luc Marions Réduction et donation erschienen, in dem der Autor die Idee einer phänomenologischen Reduktion auf die Gegebenheit entwickelt. Ein Jahr später erschien Michel Henrys Phénoménologie matérielle, in dem Henry die methodischen Grundlagen seiner sogenannten Lebensphänomenologie ausführt. Im selben Jahr erschien La voie nue von Jean-Louis Chrétien, in dem er eine Phänomenologie der Verheißung bietet. Die zeitliche Koinzidenz dieser drei Werke, die darin übereinkommen, Phänomene des christlichen Bewusstseins mit einem fundamentalen phänomenologischen Anspruch zu verknüpfen, war für Janicaud Anlass, eine ›theologische Wende‹ in der französischen Phänomenologie zu diagnostizieren, d. h. eine Abkehr vom methodologischen Atheismus, der die Anfänge der französischen Phänomenologie bei Sartre und Merleau-Ponty charakterisiert habe. Als Ursprung der ›theologischen Wende‹ wird Emmanuel Levinas’ 1961 erschienenes Werk Totalité et infini ausgemacht, das in den Augen Janicauds die Praxis der missbräuchlichen Vereinnahmung der Phänomenologie durch einen nicht aus der phänomenologischen Reflexion gewonnenen metaphysischen Standpunkt historisch eröffnet.
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B. Historische Entwicklungen
In einer Hinsicht war Janicauds Kritik verfrüht, denn er veröffentlichte seinen Essay zu einem Zeitpunkt, als Art und Ausmaß der ›theologischen Wende‹ noch gar nicht vollständig sichtbar waren (worunter seine Analysen leiden). Erst 1997 veröffentlichte Marion sein phänomenologisches Hauptwerk Etant donné, das die Intuitionen, von denen Réduction et donation geleitet war, systematisch entwickelt. Michel Henry (1996/1997; 2000/2002; 2002/2010) veröffentlichte ab 1996 eine Trilogie zur Phänomenologie des Christentums. In einer anderen, dialektischen Hinsicht steht Janicauds polemische Reaktion jedoch nicht außerhalb der ›theologischen Wende‹, sondern ist als negatives Moment ein Teil von ihr, indem sie als Katalysator ihre weitere Entfaltung befördert hat. Zwischen den Hauptprotagonisten gab es keine öffentliche Debatte zum Thema. Ein im Jahr 1992 veröffentlichter Tagungsband (Courtine 1992) bot zwar einschlägige Essays aller drei kritisierten Phänomenologen, enthielt aber keine direkte Auseinandersetzung mit Janicauds Kritik. Marion und Henry antworteten erst mehr oder weniger indirekt mit den oben genannten Werken. Den Schlusspunkt einer Debatte, die niemals stattgefunden hat, bildete Janicauds im Jahr 1998 erschienener Essay La phénoménologie éclatée, in dem sich der Autor insbesondere mit Marions Replik in Etant donné auseinandersetzt und unter dem Titel ›minimalistische Phänomenologie‹ eine positive Alternative zur ›theologischen Wende‹ skizziert. Damit hatte sich die Debatte auf den Dissens zwischen Janicaud und Marion zugespitzt, da Marion seinen fundamentalen phänomenologischen Anspruch aufrechterhielt und zugleich die These einer ›theologischen Wende‹ zurückwies, während sich Henry nicht an der Debatte beteiligte und Chrétien die spirituellen Quellen seiner Phänomenologie gar nicht bestritt. Von Janicauds Beitrag darf man sich keine ausgewogene philosophische Kritik erwarten. Stattdessen bietet er eine rhetorische Kritik (im Sinne eines diskurs analytischen Ansatzes, Ijsseling 1981), die methodologische Aspekte enthält. Janicaud legt sein Augenmerk auf bestimmte Diskursgesten, die die Werke der ›theologischen Wende‹ prägen. Zum Beispiel sieht er Marions Werk durch einen Gestus der Radikalisierung der Phänomenologie charakterisiert, der in »methodologischer Mimetik« (Janicaud 1991/2014, 48) Heideggers Suche nach Ursprünglichkeit und Überschreitung von Husserls Phänomenologie wiederholt, dabei aber schon ein theologisches »Antwort-Dispositiv« (ebd., 51) mitbringt, nämlich die eigene, in Dieu sans l’être (Marion 1982/2014) entwickelte negative Theologie. Methodologisch interessiert sich Janicaud für das Schicksal der phänomenologischen Methode. Aus seiner Sicht übersteigern die Autoren der ›theologischen Wende‹ das transzendentale Moment der Ursprungsklärung und zerstören durch die Missachtung des empirischen Moments der Eidetik das in der husserlschen Phänomenologie gegebene Gleichgewicht von Transzendentalität und Empirie (Janicaud 1991/2014, 82). Sein Verdacht ist, dass die Berufung auf die phänomenologische Methode in den Werken der ›theologischen Wende‹ ein rhetorischer Gestus ist, der allein der philosophischen Autorisierung eines religiösen Gehaltes dient.
III.6. Theologische Wende
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Janicauds (1998, 53) Hauptthese ist, dass in den untersuchten Werken eine ›Theologisierung‹ der Phänomenologie stattfindet. Mit ›Theologisierung‹ ist nicht allein die Übersetzung eines religiösen Bekenntnisses in phänomenologische Sprache gemeint. Es geht in erster Linie um die strukturelle Kontamination der ›neutralen‹ phänomenologischen Sprache mit Gedankenfiguren, die aus der Reflexion der Beziehung zum Göttlichen stammen und die sich in der Verwendung von Begriffen wie Alterität (Levinas), (Ur-)Offenbarung, Selbstaffektion (Henry), Gegebenheit/Gabe, Ruf/Anspruch (Marion) als tragenden Grundbegriffen manifestiert (Janicaud 1991/2014, 87; 1998, 18). ›Theologisierung‹ in diesem Sinne bedeutet, dass die Phänomenologie den Platz übernimmt, den die natürliche Theologie als metaphysica specialis nach ihrem geschichtlichen Verenden vakant gelassen hat. Es handelt sich um ein strukturelles Argument. ›Theologisierung‹ meint also nicht so sehr die positive Anreicherung der Erfahrungsanalyse mit konfessionellen Gehalten als vielmehr die Matrix einer negativen Theologie (d. h. einer Theologie, die sich Gott nicht über die Aussage nähert), die den phänomenologischen Strukturen »wie ein Schatten« (Janicaud 1998, 116) folgt. Die Auffassung der Überwindung der Metaphysik, von der die Autoren der ›theologischen Wende‹ geleitet sind, ist in den Augen Janicauds naiv; denn Metaphysik lässt sich nicht einfach durch die Deklaration einer ›nachmetaphysischen‹ phänomenologischen Sprache überwinden, da es geschichtlich keine verfügbare metaphysikfreie Sprache gibt (Janicaud 1991/2014, 41 f.). In seinem späteren Essay stellt Janicaud sogar den Sinnbegriff unter das Metaphysikverdikt. Husserls transzendentaler Idealismus ist demnach metaphysisch darin, dass er Sinn als ein vereinheitlichtes und totalisiertes Feld setzt, das durch die transzendentale Subjektivität letztbegründet ist. Die Fortschreibung des einheitlich-totalen Sinnbegriffs in der philosophischen Hermeneutik ist für Janicaud der Grund dafür, auch einer hermeneutischen Phänomenologie, in der sich Phänomenologie und Hermeneutik methodisch ergänzen (Ricœur 1986c), zu misstrauen (Janicaud 1998, 91 f.). Am weitesten ausgeführt hat Janicaud seine rhetorische Kritik in Bezug auf Marion. Marions Grundthese besagt, dass der fundamentale Prozess der Phänomenalisierung als ein Sich-Geben zu beschreiben ist, das dem Sich-Zeigen des Phänomens zugrunde liegt. Im Essay von 1998 betont Janicaud, dass er der Phänomenologie der Gegebenheit nicht, wie Marion meint (Marion 1997/2015, 21, 138 ff.), eine kausale Interpretation von Gegebenheit unterstellt, d. h. die metaphysische Implikation eines göttlichen Subjekts als des transzendenten Gebers des gegebenen Phänomens (Janicaud 1998, 52). Er kritisiert vielmehr die intentionalistischen Konnotationen des Vokabulars rund um den Prozess der Gegebenheit (›Gabe‹, ›Ruf/Anspruch‹, ›Ankunft‹ usw.), d. h. die ›quasi-personalen‹ Züge, die die Instanz der Gegebenheit selbst dadurch erhält (ebd., 53). Die Gegebenheit würde demnach in Marions Philosophie in einer Umkehrung des transzendentalen Idealismus zum absoluten Subjekt der Phänomenalisierung und damit zu einem quasi-metaphysischen Prinzip stilisiert (ebd., 70). Gegen Jani-
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cauds Kritik kann eingewandt werden, dass sie die Rolle der phänomenologischen Reduktion ( C.II.4) in Marions Phänomenologie der Gegebenheit nicht berücksichtigt. Durch das Verfahren der Reduktion werden alle theologischen Konnotationen von ›Gabe‹ und ›Gebung‹, die der alltägliche Begriff der Gegebenheit hat, eingeklammert, sodass mit dem reduzierten Begriff der Gegebenheit der immanente Prozess des Zur-Erscheinung-Kommens des Phänomens zum alleinigen Thema wird. Daher fungiert ›Gegebenheit‹ nicht als Subjekt der Phänomenalisierung, sondern dient als Begriff dazu, das Sich-Geben des Phänomens in den Blick zu nehmen. Auch wenn, theoriegenetisch betrachtet, die Idee zu einer Phänomenologie der Gegebenheit in einem theologischen Kontext entwickelt wurde, sind auf der Geltungsebene die von Marion geprägten phänomenologischen, d. h. reduzierten Grundbegriffe von einer theologischen Interpretation unabhängig. Die Frage der ›theologischen Wende‹ wird sich daher in der Frage konkretisieren müssen, ob erfahrungsfremde theologische Strukturen eine bestimmte Phänomenanalyse verzerren. Dies kann nur von Fall zu Fall entschieden werden. Damit ist freilich der große Gestus, den die Rhetorik der Rede von der ›theologischen Wende‹ auszeichnet, verabschiedet. Der folgende historische Abschnitt löst die Rede von der ›theologischen Wende‹ aus der häufig leerlaufenden Rhetorik des Verdachts heraus und kalibriert sie neu. Sachlich liegt Janicauds Diagnose ja der bedenkenswerte Zweifel darüber zugrunde, ob sich die Phänomenologie mit den Anliegen der philosophischen Theologie überhaupt verbinden lässt. Ist Gott, sind Offenbarungsphänomene Phänomene im phänomenologischen Sinn? Welches Schicksal hat die Idee einer Phänomenologie der Offenbarung des Absoluten in der Geschichte der Phänomenologie? ›Das Absolute‹ ist der höchste, aber umstrittene Titel, den die abendländische Metaphysik am Ende ihres Weges im 19. Jahrhundert (exemplarisch bei Hegel, Schelling und Kierkegaard) für die Bezeichnung des Göttlichen, die Erkenntnisrelation des Menschen mitreflektierend, gefunden hat; ›Offenbarung‹ ist die fundamentale Kategorie, unter der die jüdisch-christliche Theologie nicht nur ihren Gegenstandsbereich fasst, sondern auch ihr eigenes Tun reflektiert. Können sich derart die Wege von ›Athen‹ und ›Jerusalem‹ in der Phänomenologie kreuzen? 6.2. Konturen der Geschichte der ›theologischen Wende‹
in der Phänomenologie
Edmund Husserls Phänomenologie wurde vielfach als methodologischer Atheismus rezipiert, doch ist es aufschlussreich, dass er in den 1920er- und 1930er-Jahren in metaphysischen Abschlussgedanken die phänomenologische Tatsache des absoluten Bewusstseins als Einsatzpunkt für eine phänomenologische Idee von Gott deutet: Unser teleologisch strukturiertes intentionales Bewusstseinsleben bedarf eines Garanten seiner universalen Bewährung und Einstimmigkeit, und dies ist Gott, verstanden als unendliche Entelechie unseres endlichen absoluten
III.6. Theologische Wende
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Bewusstseins (Housset 2010; Held 2010b). In der Geschichte der Phänomenologie blieb allerdings Husserls ›theologische Wende‹, die dem Göttlichen nicht eine eigene, phänomenologisch zu analysierende Gegebenheitsweise zuschrieb, sondern in der phänomenologischen Aneignung der kantischen Gottesidee als einer Implikation des Intentionalitätsvollzugs bestand, ohne Folgen. Bei Max Scheler finden wir in Probleme der Religion von 1921 den ersten systematisch ausgearbeiteten Versuch einer Phänomenologie der Offenbarung des Absoluten (Scheler 1968). Scheler geht von der Möglichkeit einer natürlichen Offenbarung als genuiner Gegebenheitsweise des Göttlichen in mystischer Erfahrung aus. Die Korrelationsanalyse ergibt, dass in dieser Erfahrung der Gegenstand als sich selbst mitteilendes Absolutes erscheint, dem aufseiten des Bewusstseins ein rezeptiv-responsiver Akt korreliert. So gelangt Scheler zum Grundsatz religiöser Erkenntnis: »Alles Wissen über Gott ist Wissen durch Gott.« (Ebd., 245) In den folgenden Jahren distanziert sich Scheler jedoch von der Möglichkeit einer Phänomenologie der Offenbarung des Absoluten: Das Absolute ist nicht gegenstandsfähig und kann daher nur durch einen transzendentalen Schluss, ausgehend von der phänomenologischen Analyse des menschlichen Lebensvollzugs, der durch die beiden Urphänomene Drang und Geist charakterisiert ist, spekulativ erschlossen werden (Scheler 1976/1979 = GW 9, 82). Auf dieser Grundlage ergibt sich für Scheler, dass der Mensch am in der Weltgeschichte stattfindenden göttlichen Werden, der Harmonisierung des göttlichen Antagonismus von Drang und Geist, als zentraler Akteur teilhat, wobei sich das Verantwortungsverhältnis zwischen Mensch und Gott umkehrt: Statt um die (phänomenologische) Erkenntnis von Gott geht es um den (nicht mehr auf einer Phänomenalisierung gegründeten) Einsatz für Gott. So ersetzt Scheler den früheren Grundsatz religiöser Erkenntnis durch einen neuen Grundsatz metaphysischer Erkenntnis: Alles Wissen ist letztlich Wissen für Gott (ebd., 119). In Schelers Denkweg zeigt sich exemplarisch, dass eine Phänomenologie der Offenbarung des Absoluten dem Sinn der religiösen Praxis möglicherweise gar nicht gerecht wird, dass die Phänomenologie aber auch einer Selbstbegrenzung fähig ist, indem sie anderen philosophischen Methoden (in Schelers Fall: der transzendentalmetaphysischen Spekulation) Raum lässt. Martin Heideggers Denken der 1920er-Jahre führt ihn zu einer Phänomenologie des Seinsverstehens, die die ontologische Differenz von Sein und Seiendem betont und durch eine Analyse der Strukturmerkmale der menschlichen Existenz in seinem In-der-Welt-Sein vorbereitet wird. Diese Analyse des menschlichen Daseins ist zwar in ihrer Genese durch die Auseinandersetzung mit religiöser Existenzerfahrung (Luther, Kierkegaard) und frühchristlicher Zeiterfahrung beeinflusst (GA 60), da für Heidegger in diesen Erfahrungen die gelebten Strukturen des menschlichen Daseins sich selbst durchsichtig werden; aber im Geltungszusammenhang betont Heidegger die absolute Verschiedenheit der auf Seinsstrukturen abzielenden Phänomenologie von der Theologie, die als positive Wissenschaft die Existenzform eines bestimmten (christlichen) Glaubens voraus-
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setzt (GA 9, 45–78). Den in der theologischen Rezeption (unter anderem Karl Rahner) kursierenden Kurzschluss von Gott und Sein hat Heidegger selbst angesichts der Grundidee der ontologischen Differenz (Sein verhält sich nicht wie Seiendes) niemals mitvollzogen. In einer geschichtstheoretischen Radikalisierung dieser Idee analysiert Heidegger ab den 1930er-Jahren den verengten geschichtlichen Horizont der abendländischen Metaphysik ( D.II). Metaphysik ist Ontotheologie, d. h., sie fasst das Sein als ein (höchstes) Seiendes, indem sie das Sein als Grund des Seienden denkt. Dem Bann dieses metaphysischen Begründungsdenkens versucht Heidegger zu entkommen, indem er das Sein (ohne Seiendes) als ein Ereignis denkt, das sich durch die Geschichte hindurch (für den Menschen) verschieden gibt und dabei zugleich immer auch entzieht. In diesem Rahmen erwägt Heidegger eine nichtmetaphysische Art, Gott zu denken (GA 65, 403–417). Im Rahmen des Ereignisses kann das Wort ›Gott‹ wieder eine existenzielle Bedeutung gewinnen: nicht als der christliche Gott der Schöpfung, Offenbarung und Erlösung, sondern als der »letzte Gott«, der uns im Vorbeigehen einen »Wink« in unsere Existenzverhältnisse gibt. Mit dem »Wink« bringt Heidegger einen gegenüber der Offenbarung deutlich schwächeren Modus der Phänomenalisierung des Göttlichen in die Diskussion. Auch das Ereignisdenken hat über Heideggers Intention hinaus Theolog:innen inspiriert, die das anonyme Ereignis mit dem verborgenen Gott kurzschließen (z. B. John Caputo). In seiner Phänomenologie der Alterität arbeitet Emmanuel Levinas die ›ethische‹ Erfahrung des anonymen Angegangen- und Aufgerufenseins, die jeder Sinngebung durch ein intentionales Bewusstsein vorausliegt, als zentrales Datum der Phänomenalisierung heraus ( D.III). Mit dieser Umkehrung der Erscheinungsverhältnisse geht die Entdeckung anderer Modi der Phänomenalisierung und damit ein erweitertes Verständnis von Phänomenologie einher, wie die Analyse der ›Epiphanie‹ des ›Antlitzes‹, d. h. der Begegnung mit einem anderen Menschen, exemplarisch zeigt. Der andere erscheint mir nicht als ein sichtbares Objekt (›Gesicht‹), dessen Züge ich Bedeutung verleihe, sondern als eine Fremdheit, von der ich mich unhintergehbar angegangen erfahre. In dieser ›Epiphanie‹ zeigt sich nichts, da der andere mich als ein Unendliches transzendiert, von dem ich trotz der stattfindenden Begegnung getrennt bleibe. In dieser Konstellation steht das Wort ›Gott‹ für die radikale Alterität im Hintergrund der ethischen Beziehung zum anderen, für die absolute Transzendenz, die zwar als Idee des Unendlichen das menschliche Denken befällt, aber abwesend bleibt und nicht erscheint. Im Falle der göttlichen Transzendenz kann man also nicht von einer Offenbarung und nicht einmal von einem eigenen, schwächeren Modus der Phänomenalisierung sprechen. Es bleibt allein ein indirekter Modus der Phänomenalisierung: Gott hinterlässt als Idee eine ›Spur‹, da sie sich im Bereich der Phänomenalität als Störung der Erscheinungsverhältnisse auswirkt. Michel Henrys ab den 1960er-Jahren entwickelte Lebensphänomenologie beruht ebenfalls auf einer Sprengung der husserlschen Intentionalität ( C.I.2), allerdings nicht wie bei Levinas durch eine Radikalisierung des Außen, sondern
III.6. Theologische Wende
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des Innen. Henrys exemplarisches Phänomen, anhand dessen er sich den ursprünglichen Modus der Phänomenalisierung erschließt, ist die Erfahrung des Mir-selbst-gegeben-Seins. In dieser Erfahrung bekundet sich eine Art zu erscheinen, die nicht über einen Horizont der Sichtbarkeit (»Weltphänomenalität«) vermittelt ist, sondern als Selbstaffektion in sich verbleibt. Henry bezeichnet diesen Modus der Phänomenalisierung als »Lebensphänomenalität«, da die Immanenz die Art, wie wir uns als Erlebende im Leben befinden, phänomenologisch auszeichnet (M. Henry 1990, 53). ›Immanenz‹ meint hier also nicht primär die Innerlichkeit des Bewusstseins, sondern die Tatsache, dass im Erscheinen das Gegebene mit der Instanz des Gebens (dem Leben) in ›stummer Umarmung‹ vereint bleibt. Die Lebensphänomenalität ist der ursprüngliche Modus der Phänomenalisierung, da sie die ontologische Macht der Verwirklichung eines Erscheinenden in seiner phänomenologischen Materie ist. Die Lebensphänomenologie ist aber zugleich auch eine Phänomenologie des Christentums, wie Henry ab den 1990erJahren breit ausführt, eines Christentums, das vor allem durch das Johannesevangelium (Gott ist Leben) und die Mystik des Meister Eckhart (Immanenz der menschlichen Seele in Gott) betrachtet wird: Gott ist die ›Ur-Offenbarung‹ des unsichtbaren Lebens, das Absolute des sich selbst affizierenden Lebens, in dem alles Erlebende existiert. In Henrys »mystischer Phänomenologie« (Janicaud 1991/2014, 64) gibt es folglich keine Grenze zwischen Phänomenologischem und Theologischem. Jean-Luc Marions ab den 1990er-Jahren ausgearbeitete Phänomenologie der Gegebenheit liest sich vor dem Hintergrund der bisher dargestellten Entwicklung als ein integrativer Ansatz, der verschiedene Modi der Phänomenalisierung und Phänomentypen methodologisch reflektiert und harmonisiert. Die phänomenologische Reduktion auf die Gegebenheit macht klar, dass das Feld der Phänomenalität weiter ist als das Gegenständliche und das Sein. Marion fokussiert den Ereignischarakter der Phänomenalisierung, mit der wichtigen Pointe, dass der mit dem Sich-Geben des Phänomens einsetzende »Aufstieg zur Sichtbarkeit« sich nicht zwangsläufig im Sich-Zeigen vollendet, wir es also in der phänomenologischen Analyse auch mit Abbrüchen der Phänomenalisierung zu tun bekommen können (Marion 1997/2015, 223). Marion unterscheidet verschiedene Phänomentypen anhand von Graden der Gegebenheit (ebd., 374 ff.). Phänomene mit einem Maximum an Gegebenheit sind ›gesättigte‹ (oder auch ›paradoxe‹) Phänomene, die eine Überfülle an Anschauung geben, sodass das Maß der intendierten Bedeutung überschritten wird. Gesättigte Phänomene haben vier Modi der Phänomenalisierung: als geschichtliches ›Ereignis‹, das, wie von Paul Ricœur dargestellt, nach hermeneutischen Deutungshorizonten verlangt; als ›Idol‹, d. h. als Glanz des Sichtbaren, der für mich zum Spiegel meiner selbst wird und, wie bei Jacques Derrida, eine unendliche Spur von Differenzierungen nach sich zieht; als ›Leib‹ ( C.I.9), d. h. als die absolute Selbstaffektion der unsichtbar bleibenden phänomenologischen Materie, wie sie von Henry beschrieben wird; als ›Ikone‹, d. h. als der fremde Blick, der sich mir, wie in Levinas’ Phänomen des Antlitzes,
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B. Historische Entwicklungen
auferlegt (ebd., 379 ff.). Die hier aufgerufenen Namen verdeutlichen die beanspruchte Integrationskraft der Phänomenologie der Gegebenheit. Im Rahmen dieser Topik des saturierten Phänomens verortet Marion die Möglichkeit einer Phänomenologie der religiösen Offenbarung, die von einer Theologie als angewandter Phänomenologie realisiert werden kann. Offenbarungsphänomene sind solche, bei denen die vier alltäglichen Modi des gesättigten Phänomens gemeinsam auftreten und sich potenzieren. Marion betont allerdings – wohl motiviert durch Janicauds Polemik – den Unterschied von Phänomenologie und Theologie: Erstere klärt nur über die Möglichkeit von Offenbarungsphänomenen auf, während Letztere in ihrer Auslegungsarbeit die Wirklichkeit eines Offenbarungsphänomens voraussetzt (Marion 2010b, 183 f.; 1997/2015, 395 f.). Marion hält somit an der Möglichkeit einer Phänomenologie der Offenbarung fest – das Absolute ist dabei lediglich ein Aspekt und bezieht sich auf die von Henry beschriebene Erscheinungsweise des Leibes. Darüber hinaus erscheint Gott als der oder das ›Unreduzierbare‹, jedoch nicht in Gestalt des gründenden Notwendigen (wie im ontologischen Gottesbeweis in der metaphysischen Tradition), sondern in Gestalt des als Frage unabweisbaren Unmöglichen (Marion 2010a; 2012). Von zentraler Bedeutung ist die Gedankenfigur einer reinen Gabe, bei der Marion allerdings – anders als Derrida und die an die Dekonstruktion anknüpfende ›schwache Theologie‹ John Caputos (vgl. die Derrida-Marion-Debatte in Caputo/Scanlon 1999) – davon ausgeht, dass sich die in sie eingeschriebene Paradoxalität durch Reduktion auf die Gegebenheit phänomenologisch realisieren lässt. Anthony Steinbocks Phänomenologie religiöser Erfahrung (Steinbock 2009; 2012) fokussiert wie Marion alternative Gegebenheitsweisen von Phänomenen, die im Rahmen der husserlschen Phänomenologie nur als paradoxe, nicht gebbare ›Grenzphänomene‹ gegeben sind, wozu er die mystische Erfahrung der Gegenwart Gottes oder des Heiligen zählt. Als spezifische Gegebenheitsweise solcher Phänomene bestimmt Steinbock, ähnlich wie Levinas, die Vertikalität, die sich in mystischen Erfahrungen als ›Epiphanie‹ konkretisiert. Die methodische Besonderheit besteht darin, dass Steinbock die Grenzen der Phänomenologie dadurch erweitern möchte, dass er Textberichte von verschiedenen exemplarischen Mystiker:innen der Abrahamitischen Weltreligionen auf ihren phänomenologischen Gehalt hin auslegt. Es handelt sich also um eine eidetische Phänomenologie in Dritter-Person-Perspektive, deren Beschreibungen einen evozierenden Charakter haben: Sie zeigen, unbeschadet ihrer Nichtrealisierbarkeit für mich hier und jetzt, eine Erfahrungsmöglichkeit auf. Auf diese Weise gelangt Steinbock, ähnlich wie Scheler, zu einer Reihe von Wesenscharakteristika der mystischen Erfahrung, darunter die Passivität in der Gegebenheitsweise (›Gabe‹) sowie die ›Maßlosigkeit‹ und ›Absolutheit‹ des Gegebenen. Diese Erfahrungen sind nicht punktueller Natur, sondern sind mit einem spezifischen Evidenzstil und mit einer spezifischen Modalisierung im Bewusstseinsleben verbunden. In der Selbstinterpretation kommt die Hermeneutik in Gestalt der Auslegungsbedürftigkeit der eigenen Erfahrungen ins Spiel. Steinbock wendet sich jedoch gegen eine totale Herme-
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neutisierung der mystischen Erfahrung: Sie gehe nicht in einem Spiel von sich auslegender Bedeutung auf. Umgekehrt bleibe eine Hermeneutik religiöser Erfahrung von der Gegebenheit mystischer Erfahrung als Quellgrund abhängig (Steinbock 2012, 601). Mit einem Blick zurück auf Paul Ricœurs phänomenologische Hermeneutik der religiösen Erfahrung kann aber gefragt werden, ob die sich in der Epiphanie einer mystischen Erfahrung realisierende Phänomenalisierung des Absoluten für das umfassendere religiöse Erfahrungsleben überhaupt von besonderer Relevanz ist. In seinem Beitrag zur Ausgangsdebatte (Ricœur 1992) streicht Ricœur zwar auch die Ruf-und-Antwort-Struktur der religiösen Erfahrung heraus, doch seine Pointe besteht darin, dass diese Erfahrung konkret immer durch Texte (insbesondere durch heilige Schriften) sprachlich, kulturell und historisch vermittelt ist und sich daher immer schon in hermeneutischen Zirkeln des Verstehens bewegt. Daher ist ein religiöses Existenzverständnis zwar von religiösen Erfahrungen begleitet, aber nicht von einer unmittelbaren mystischen Erfahrung der Präsenz des Heiligen abhängig. Eine phänomenologische Hermeneutik der religiösen Erfahrung kann nur intern bei einem bestimmten Glauben ansetzen und sich erst in einem zweiten Schritt durch Einklammerung der eigenen religiösen Überzeugungen und durch deren analogisierende Übertragung in der verstehenden Aneignung anderer religiöser Erfahrungen universalisieren, wobei die Phänomenologie der religiösen Erfahrungen als regulative Idee unerreichbar bleibt. Daraus ergibt sich die weitere Perspektive, dass die Erweiterung des phänomenologischen Möglichkeitsraums und die innere Pluralisierung der Phänomenologie (Unterscheidung verschiedener Gegebenheitsweisen) durch den zentralen Gesichtspunkt der janicaudschen Intervention ergänzt werden sollte: der Selbstbegrenzung der Phänomenologie (Janicaud 1991/2014, 21). Auch das erweiterte Feld der Phänomenalisierung hat Grenzen, die nicht mit den Grenzen des Sinns schlechthin zusammenfallen. Die Phänomenologie im Allgemeinen und die Phänomenologie der religiösen Erfahrung im Besonderen ist daher aufgefordert, in sich Übergänge zu schaffen und sich als ›Schwelle‹ (Ricœur 1986c, 159; Janicaud 1998, 43) zu anderen Zugangsweisen zu verstehen. Peter Gaitsch
7. Kosmologische Wende Es heißt gemeinhin, die Phänomenologie stünde seit Edmund Husserl unter einem allgemeinen Metaphysikverbot und verbiete sich grundsätzlich spekulative Ausflüchte. Dass es vor diesem Hintergrund in den vergangenen Jahren zu einer auffallenden Zahl an Versuchen kam, das phänomenologische Projekt auf einen neuen metaphysischen Boden zu stellen, wirft daher Fragen auf. Ganz unterschiedlich fallen etwa die Projekte aus einer phänomenologischen Architektonik (Marc Richir), einer phänomenologischen Dynamik (Renaud Barbaras) oder ei-
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B. Historische Entwicklungen
ner phänomenologischen Metaphysik des Transfiniten (László Tengelyi) aus, die jeweils einzeln zu diskutieren wären und deren metaphysische Stoßrichtung nicht unwidersprochen blieb (Keiling 2020). Was diese Projekte dennoch verbindet, ist die Tatsache, dass in ihnen die Frage der Welt (griechisch kosmos) zentral ist. Zeichnet sich nun also, nach der sogenannten ›theologischen Wende‹ ( B.III.6), gerade in der französischen Phänomenologie, eine ›kosmologische Wende‹ ab? Für die neuere Zeit bleibt die Beweislage noch relativ dünn, und eine solche Wende müsste jedenfalls auch mit anderen, gegenläufigen Entwicklungen verglichen werden. Doch dass die oben genannten Entwürfe auf Ressourcen zurückgreifen, die frühere Generationen erarbeitet haben (etwa Merleau-Ponty für Richir oder Jan Patočka für Renaud Barbaras oder Edmund Husserl für Tengelyi) spricht dafür, diese Wende nicht auf die Gegenwart zu beschränken, sondern Drehmomente bereits früher auszumachen. Um die Frage sinnvoll beantworten zu können, ob und, wenn ja, wann es zu einer Rekonzeption der Phänomenologie im Zeichen des Weltproblems kam, muss ganz grundsätzlich bei der Frage angesetzt werden, welchen Stellenwert ›Welt‹ in der Phänomenologie überhaupt besitzt. Daran anschließend ist dann darüber zu befinden, welche methodologischen Folgen eine kosmologische Wende überhaupt haben kann. Um es gleich vorwegzunehmen: Ob nun in der allerneuesten Phänomenologie oder schon bei früheren Autoren, die eine solche Wende vorbereiten, kommt es im Zeichen der kosmologischen Wende zu zwei unterschiedlich gelagerten Umorientierungen. Bei den einen steht die Neubewertung von Welt für eine Entsubjektivierung des Erscheinungsfeldes, bei den anderen für dessen Entontologisierung, um nicht mehr das Subjekt oder das Sein, sondern vielmehr die Welt als den ersten und letzten Horizont von Sinn anzusetzen. 7.1. Der phänomenologische Weltbegriff
Der Weltbegriff nimmt in der Phänomenologie eine Sonderstellung ein. Am ihm lässt sich nicht nur die Eigentümlichkeit ihrer Herangehensweise herausstellen, an der Spezifik der Welttauffassung grenzt sich darüber hinaus die Phänomenologie auch von konkurrierenden philosophischen Ansätzen ab. Nun sieht sich allerdings jedes philosophische Vorhaben, das sich an dem Weltproblem orientiert, mit einer Vielfalt von Schwierigkeiten konfrontiert, die in erster Linie aus der Tatsache der scheinbar irreduziblen Vieldeutigkeit des Begriffs herrühren. Gibt es überhaupt irgendeine Gemeinsamkeit zwischen der Welt als physischem Universum, welche die Astrophysiker erforschen, der Welt einer antiken Zivilisation, die die Historiker:innen und Archäolog:innen zu rekonstruieren versuchen, der Erinnerungswelt, die der Erzähler von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit aus Gedächtnisbrocken wiederbeleben möchte, und jener Welt, die in den biblischen Psalmen als »Tal der Tränen« bezeichnet wird? Stellen diese diversen Spielarten – die Welt als geordneter, himmlischer Kosmos und die Welt als irdische universitas creaturarum – allenfalls historische Variationen desselben Aus-
III.7. Kosmologische Wende
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drucks dar? Die Schwierigkeiten bleiben auch dann noch bestehen, wenn man auf die Ebene des philosophischen Weltbegriffs hinüberwechselt. Bezeichnet die Welt eine Dimension der Wirklichkeit, die ›da draußen‹ ist, uns vorausgeht und ganz unabhängig von uns Bestand hat? Oder ist Welt umgekehrt das Ergebnis unserer Vorstellung davon? Lebt jeder in seiner ganz eigenen ›Welt‹ und was verbindet diese diversen Welten untereinander? Was rechtfertigt es überhaupt zu sagen, dass wir alle ein und dieselbe Welt erfahren? Oder muss man gar annehmen, dass es schier unendlich viele – imaginäre, symbolische oder kulturelle – Welten gibt? In Anbetracht dieser Mehrdeutigkeit sind grob gesagt zwei Strategien verfolgt worden. Die erste besteht in der Behauptung, die physische Welt, die von den empirischen Naturwissenschaften erforscht wird, sei die einzig wirkliche Welt ist, sodass die anderen Verwendungen des Weltbegriffes als abgeleitet bzw. als metaphorisch zu gelten haben. Wer allerdings eine Bedeutung als lediglich metaphorisch abtut, steht unter Zugzwang zu zeigen, wie es zur ›eigentlichen‹ Bedeutung kam. Dementsprechend müssen die Vertreter einer solchen essenzialistischen Auffassung erklären können, warum offenbar einiges an erfahrungsgesättigter Evidenz in der Auffassung liegt, dass man gemeinhin die Gesamtheit der symbolischen Strukturen einer bestimmten, historisch gegebenen Kultur als ›Welt‹ bezeichnet. Die essenzialistisch-reduktionistische These darf also spätestens dann als zurückgewiesen gelten, wenn man einräumt, dass ein solcher alltäglicher Weltbegriff durchaus auch seine Berechtigung hat und dass die Erklärungen, welcher Weltbegriff aus welchem anderen genetisch hervorgeht, leicht anfechtbar sind. Die zweite Strategie beruht auf der Annahme, dass die Vieldeutigkeit des Weltbegriffs selbst keinem semantischen Missverständnis geschuldet ist, sondern vielmehr ein unhintergehbares Faktum darstellt. Dieser Auffassung zufolge entpuppt sich bereits der Versuch, die Welt ›an sich‹ zu denken, als eine spekulative Chimäre. Doch auch dieser zweite, pluralistische Ansatz birgt Schwierigkeiten. Freilich, die Vielfalt der Bedeutungen schließt eine unmittelbare, univoke Bestimmung der Welt aus. Dennoch bleibt noch immer der Nachweis zu erbringen, was alle verschiedenen Sinndimensionen zusammenhält, denn schließlich ist auch der Weltbegriff, bei aller Offenheit, nicht unendlich strapazierfähig. Gegenüber diesen zwei Strategien geht die phänomenologische Tradition doppelt auf Abstand, unterscheidet sie sich doch sowohl vom essenzialistisch-reduktionistischen als auch vom pluralistischen Ansatz. Sie eröffnet gleichsam einen dritten Weg, der darin besteht, die Frage nach Welt an die Dimension des Erscheinens rückzubinden. In phänomenologischen Herangehensweisen ist Welt weder eine bloße Idee noch ein Behälter, der die Gesamtheit alles Seienden umfasst, sondern stellt vielmehr das Feld dessen dar, was sich zeigt und was sich in der Erfahrung erschließt. Die Welt ist der Bereich des In-Erscheinung-Tretens, in dem Dinge, Ereignisse und Tatsachen nicht so sehr vorkommen, als dass sie vielmehr zum Vorschein kommen. Die Welt ist damit aus phänomenologischer Sicht eng an die Erfahrung geknüpft, ohne von dieser jedoch konstituiert zu werden: Sie ist als solche nie gegeben, sondern stellt vielmehr den Hintergrund sämtlicher
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B. Historische Entwicklungen
Gegebenheitsweisen dar. Es gilt, das Paradox einer bereits ›vor-gegebenen Welt‹ zu denken, welche von den erfahrenden Subjekten demnach nicht frei verändert werden kann, weil es Erfahrungsweisen kanalisiert, steuert und lenkt (›vorgibt‹), gleichwohl unabhängig von diesen wiederum gehaltlos wird. So weit eine Art Minimalkonsens zum phänomenologischen Weltbegriff. Jenseits dieses Minimalkonsenses kristallisiert sich in der phänomenologischen Tradition eine Strömung heraus, die dem Weltbegriff eine noch zentralere Rolle zuweist. Dem griechischen Wort für Welt (›Kosmos‹) nachempfunden, ist diese Strömung auch als ›kosmologische Wende‹ der Phänomenologie bezeichnet worden (›kosmologisch‹ ist hier ganz buchstäblich zu verstehen, nämlich als Untersuchung der ›Logik‹ von Welt). Um die Hintergründe dieser Wende nachzuvollziehen und zu verstehen, was die Autoren verbindet, die diese Wende mit initiiert und getragen haben – die Rede war von einem eigenständigen Zweig in der »phänomenologischen Familie« (Canullo 2004, 84) –, muss zunächst noch einmal weiter ausgeholt und auf die jeweiligen Weltkonzeptionen von Husserl und von Heidegger zurückgegangen werden. Trotz der unterschiedlichen Ausgangspositionen der zwei frühen Hauptvertreter der Phänomenologie (Wahrnehmung bei Husserl, Praxis bei Heidegger) stimmen sie in der Ablehnung eines atomistischen Ansatzes überein: Nichts kommt jemals nur an und für sich vor, kein Seiendes schöpft sein Wesen aus sich selbst, vielmehr erhält all solches, was ist, seinen Sinn erst durch die Eingliederung in einen umfassenden Bedeutungszusammenhang, durch seine spezifische Verortung in einer Sinngegend und letztendlich durch die Verortung in der Gegend aller Gegenden bzw. im Horizont aller Horizonte ( C.I.10), nämlich der Welt. Es gibt gleichsam einen Überhang des Feldes, in welches alles, was ist, eingebettet ist; ein Feld, das den Dingen und überhaupt allem Seienden überhaupt erst ihre Tiefenschärfe verleiht: »[D]ie Dinge können immer nur auf dem Boden der Welt oder, genauer, als Dinge in der Welt erfahren werden« (Tengelyi 2014, 220). Wenn man Welt entsprechend als ›Horizont aller Horizonten‹ definiert, dann liegt die Behauptung auf der Hand, dass die unterschiedlichen ›möglichen Welten‹ lediglich imaginäre Varianten ein und derselben Welt darstellen, die als ihre Voraussetzung fungiert (Hua VI, 500). Durch diese Vorentscheidung sind sowohl Husserl als auch Heidegger dazu verpflichtet, die unentwirrbare Verquickung von Welt und Subjektivität zu postulieren. In Sein und Zeit schreibt Heidegger, die Welt sei selbst kein Seiendes, sondern liefere vielmehr die Möglichkeitsbedingung für das In-Erscheinung-Treten des Seienden ab. Entscheidend ist dabei allerdings, dass diese Möglichkeitsbedingung selbst wiederum in der Seinsverfassung des Daseins liegt. Diese Möglichkeitsbedingung ist ein Existenzial, ein »Verfassungsmoment des In-der-Welt-seins« und ein »Seinscharakter des Daseins selbst« (GA 2, 86 f.). Ähnlich wie Heidegger behauptet auch Husserl, dass die absolute oder transzendentale Subjektivität die reelle Totalität der Welt in sich trägt. Trotz beachtlicher systematischer Unterschiede zwischen beiden Autoren lässt sich immerhin festhalten, dass die Positionen von Husserl und Heidegger
III.7. Kosmologische Wende
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sich in der weltkonstituierenden Rolle ( C.I.4), die sie der Subjektivität zuweisen, einig sind. Jene Gleichsetzung der Welt mit dem Bereich des Konstituierten und die Auffassung der Subjektivität als Quelle jeden Sinns werden in der folgenden Generation von Phänomenolog:innen kritisch infrage gestellt. Selbst wenn die ursprüngliche These, dass die Welt in ihrer Verbindung mit der Erscheinung zu denken sei, beibehalten wird, lehnen die nachfolgenden Phänomenolog:innen den zweiten Schritt – nämlich die Kopplung von Erscheinung und Konstituierung – entschieden ab. So kritisiert etwa Eugen Fink die in dem zweiten Schritt impliziten subjektivistischen Tendenzen: »Husserl, wie Heidegger begreifen die Welt als einen subjektiven Horizont, – Husserl als einen solchen der Erfahrung, Heidegger als einen solchen des vorgängigen Verstehens von Seiendem« (Fink 1985, 115). Wenn die Erklärung der »Zugänglichkeit des Ganzen für ein verstehendes Wesen« (Fink 1990, 24) an die Auslegung der allumfassenden Totalität angeglichen wird, oder, anders formuliert, wenn die subjektive Welterschließung mit der eigenen Erschließung der Welt gleichgesetzt wird, ist die Aufgabe, die Welt als solche zu denken, unausführbar. Ein radikales und konsequentes Weltdenken muss vielmehr die Eigenständigkeit der Welt anerkennen und sie als Raum einer spontanen, dem Subjekt nicht untergeordneten Sinnbildung konzipieren. Aus dieser Überzeugung heraus bildet sich allmählich jene Richtung heraus, die im Rückblick als ›kosmologische Wende‹ beschrieben werden kann. 7.2. Eine phänomenologische Kosmologie?
Die sich anbahnende kosmologische Wende der Phänomenologie ist mit dem Namen Eugen Fink verknüpft. Das philosophische Programm, an dem Fink in den Nachkriegsjahren arbeitet, ist der Aufgabe verpflichtet, jenseits von Husserls und Heideggers subjektivistischen Engführungen die Welt wieder zum philosophischen Ausgangspunkt zu machen. In der einleitenden Bemerkung von Sein, Wahrheit, Welt. Vor-Fragen zum Problem des Phänomen-Begriffs heißt es entsprechend: »Die leitende Absicht [ist], in einer Begegnung mit phänomenologischen Motiven der Philosophie Husserls und Heideggers, den kosmologischen Horizont der Seinsfrage aufleuchten zu lassen« (Fink 1958, 1). Um die Philosophie Finks zu charakterisieren – und von Heideggers Entwurf abzugrenzen –, prägt Otto Pöggeler die Formel von der »kosmologische[n] Wendung« (Pöggeler 1963, 426). So richtungsweisend Finks Vorstoß gewesen sein mag: Die Hin- bzw. Rückwendung zum Weltproblem ist kein Alleinstellungsmerkmal. Auch andere Phänomenologen verwenden ausdrücklich das Wort ›Kosmologie‹, um eine bestimmte Dimension des Denkens zu betonen. So rekurriert etwa Merleau-Ponty in seinen Arbeitsnotizen für Das Sichtbare und das Unsichtbare auf die Formulierung »Kosmologie des Sichtbaren« (Merleau-Ponty 1964/1986, 332). Mikel Dufrenne wiederum grenzt sich dadurch kritisch von der (heideggerschen) Ontologie ab, die »die Ausbreitung des Seins mit dem Aufkommen des Lichts«
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B. Historische Entwicklungen
gleichsetzt, dass er ihr eine Kosmologie entgegenhält, die imstande sein soll, »dem Sein jene Dichte und Dynamik zu verleihen, die nur die Natur haben kann« (Dufrenne 1968, 21). Ferner seien noch die maßgeblichen Versuche erwähnt, die in jüngerer Zeit Renaud Barbaras in diese Richtung unternahm. Die Phänomenologie kann ihr eigenes Unterfangen nur dann rechtfertigen, so Barbaras, wenn sie zur Kosmologie wird, denn erst so konfrontiere sie sich mit ihren eigenen theoretischen Voraussetzungen. Wer die Grundlagen jeder Phänomenologie der Wahrnehmung radikalisiert, erklärt Barbaras, stößt auf die »Idee der Welt als Physis« und damit auf eine »phänomenologische Kosmologie« (Barbaras 2011, 91). Schließlich muss man auch eine ganze Reihe weiterer Autoren wie Jan Patočka, Jacques Garelli, Klaus Held oder László Tengelyi der ›kosmologischen Wende‹ zuordnen, wiewohl sie den Begriff der ›Kosmologie‹ nicht immer ausdrücklich verwenden. Man könnte jedoch auch innerhalb der Heidegger-Forschung eine ähnliche Tendenz feststellen, wenn einige Kommentatoren der sogenannten Phase der ›Metaphysik des Daseins‹ (1927–1930) darin eine kosmologische Ader zu entdecken meinen. Tatsächlich lässt sich eine Erweiterung des existenzialen Weltbegriffs aus Sein und Zeit zugunsten eines metontologischen Entwurfs beobachten (GA 26, 199). Dies spricht für die Idee einer ›phänomenologischen Kosmologie‹ bei Heidegger (Cassinari 2001, 293; Crowell 2001, 231; A. Schnell 2005, 45; Terzi 2016b, 187). Dieser metontologische Entwurf Heideggers könnte dann geradezu als Geburtsmoment einer »kosmologischen Ader gelten, die auf unterschiedliche Weise die ganze Phänomenologie durchzieht« (Terzi 2016b, 18). Die Vielstimmigkeit dieser Positionen – so viel dürfte deutlich geworden sein – setzt von vornherein dem Ansinnen Grenzen, die kosmologische Wende der Phänomenologie auf ein strammes Einheitsprogramm verpflichten zu wollen. Angemessener ist es wohl, diese Formel eher diagnostisch einzusetzen, nämlich als Hinweis auf eine bestimmte Familienähnlichkeit zwischen Autoren, die trotz ihrer Unterschiede bestimmte Überzeugungen teilen und die somit eine bestimmte gedankliche Konstellation bilden. Was diese Ansätze verbindet, das hat vermutlich niemand knapper und pointierter ausgedrückt als Klaus Held. Ihm zufolge ist es an der Zeit, den Plural in dem Grundsatz der Phänomenologie (›Zu den Sachen selbst‹) wegzulassen, um ihn stattdessen im Singular zu reformulieren (›Zur Sache selbst‹); denn »im Grunde geht es in der Phänomenologie, wie Eugen Fink am klarsten gesehen hat, nur um eine ›Sache‹: die Welt als Offenbarkeitsdimension. Die phänomenologische Analyse der ›Gegenstände-im-Wie-ihres-Erscheinens‹ treibt über sich hinaus zur Analyse des ›Wie des Erscheinens‹ selbst, d. h. in letzter Instanz: der Erscheinungsdimension ›Welt‹« (Held 1989, 118; Tengelyi 2014, 18). Held liefert mit dieser Hervorhebung der Welt als die Sache selbst, als das Thema par excellence der Phänomenologie, ein geradezu passendes Merkmal der kosmologischen Wende. Doch mit einer Rehabilitierung des Weltbegriffs ist es noch nicht getan; es geht um die Frage, welche Auswirkungen eine solche Akzentverschiebung auf die Sache der Phänomenologie allgemein
III.7. Kosmologische Wende
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hat. Es lässt sich feststellen, dass die kosmologische Wende mit zwei anderen konzeptionellen Entscheidungen einhergeht: die Entsubjektivierung sowie die Entontologisierung des Erscheinungsfeldes. 7.3. Die Überwindung des Subjektivismus
Von Anbeginn schwebt über der Phänomenologie der Schatten des Subjektivismus, nämlich jedes Mal dann, wenn das Erscheinungsfeld als subjektive Struktur ausgelegt werden soll. Gegen diese subjektivistische Tendenz wendet sich Patočka, wenn er schreibt, »die Formulierung, die die Phänomenologie als eine Lehre der Subjektivität darstellt – und sei sie auch nur eine transzendentale Subjektivität –, ist nicht radikal genug, insofern sie nicht das Erscheinen zutage treten lässt, sondern nur ein bestimmtes Seiendes, etwas schon Enthülltes« (Patočka 1981, 49). Patočkas Strategie, um die bereits erwähnte subjektivistische Schieflage zu vermeiden und die Frage nach dem Erscheinen als solchen in Angriff zu nehmen, führt über die Ausarbeitung einer ›asubjektiven Phänomenologie‹. Theoretischer Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Unterscheidung zweier Denkverfahren, die Husserl lange Zeit für ununterscheidbar hielt: die Epoché ( C.II.2) und die Reduktion ( C.II.4). Dazu schreibt er, dass »der Gedanke der Epoché […] von der Reduktion auf Immanenz in jedem Sinne unabhängig [ist]. Die Epoché bedeutet […] die absolute Autonomie des Erscheinens als solchem gegenüber dem Erscheinenden und seiner Struktur, aber mit einer Immanenz hat sie nichts zu tun« (Patočka 2000, 163). Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung kritisiert Patočka die lange für selbstverständlich gehaltene Auffassung, dass die Zugangsweise zur Erscheinung (die Epoché) mit einer Rückkehr zur Bewusstseinsimmanenz bzw. zur konstituierenden Subjektivität gleichbedeutend wäre. Wenn das Subjektive seine Vormachtstellung verliert, erfüllt es nicht länger die Funktion des Apriori und muss vielmehr selbst im Bereich des Konstituierten verortet werden: »[S]owohl die Dinge als auch Ich sind etwas Manifestiertes, nicht selbst der Grund und Ursprung der Manifestation« (ebd., 282). Im Gegenzug will Patočka die Formenvielfalt der Epoché anerkannt wissen, die dann als genuine Zugangsweise zur Welt erscheint: »Das durch Epoché geöffnete Feld ist nicht dieses Ich selbst, sondern ein vermittelndes Glied zwischen dem frei-aktiven Ich und der Gegenständlichkeit, dem Seienden in der Welt, und das durch die phänomenologische Reflexion Erfasste ist also die Welt« (ebd., 200). Dementsprechend stellt sich heraus, dass die Welt nicht nur allen konstitutiven Leistungen vorausgeht, sondern dass das von der Epoché eröffnete Feld sich als der eigentliche Ort des Transzendentalen entpuppt: »die Welt ist nicht nur die Bedingung der Möglichkeit des Erscheinens des Realen, sondern auch die Bedingung der Möglichkeit eines Seienden, das in Selbstbezug lebt und dadurch die Erscheinung als solche ermöglicht« (Patočka 1990, 421). Die Bedingungsverhältnisse kehren sich um. Mit den Worten von Klaus Held, dessen Position mit derjenigen Patočkas konvergiert: »[D]as transzendentale Bewusstsein, das sich durch seine Konstitutions-
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B. Historische Entwicklungen
leistungen die Welt gegenüberstellt, setzt die Offenbarkeitsdimension ›Welt‹ voraus. Husserl stellt diesen Begründungszusammenhang auf den Kopf« (Held 1989, 220). Die kosmologische Wende lässt sich als eine Wende zum Asubjektiven auffassen: Die Welt erscheint als die letzte und zugleich prä-subjektive Dimension, in der alle Erscheinungen gründen, als Ursprungsort aller Sinnbildungen. 7.4. Jenseits des Seins
Neben der subjektivistischen Engführung der Welt kritisieren die Autoren der ›kosmologischen Wende‹ noch eine andere Verkürzung: die ontologisierende. Den Status der ›Sache selbst‹ der Phänomenologie erhält die Welt erst dann, wenn sie nicht nur vom subjektiven Horizont befreit wird (der sich prägnant bei Husserl bemerkbar macht), sondern auch vom ontologischen Horizont (für den Heidegger maßgeblich verantwortlich zeichnet). Für Fink ist ein ontologischer Ansatz in dreifacher Hinsicht problematisch: Erstens ist die ontologische Frage regional in dem Sinne, dass sie sich nur mit solchen Phänomenen beschäftigt, die das Ergebnis eines ›Lichtungsgeschehens‹ sind (denn so, als ›Lichtung‹, definiert Heidegger ja Welt). Zweitens ist die ontologische Frage abgeleitet, weil sie davon abhängig ist, dass sich etwas vorgängig zeigt, und drittens ist sie abstrakt, weil sie von einem Verständnis ausgeht, das nach wie vor wesentlich sprachzentriert ist. Heideggers Fundamentalontologie, so Fink, zielt letztlich auf den Prozess des Verstehens: »Dergleichen wie Sein muß es in irgendeinem Sinne geben, wenn wir mit Recht davon reden und wenn wir uns zu Seiendem verhalten, es als Seiendes, d. h. in seinem Sein verstehen« (GA 24, 317). Die Rede ist der Ort des Sich-Zeigens des Seins, sodass die Sache der Fundamentalontologie das thematische Auslegen dieser Beziehung zwischen Rede und Sein ist. Auf diesen Punkt konzen triert sich Finks Kritik: Die Struktur des Logos wird zum Maßstab aller phainomena, Sichtbares gilt nur insofern, als es Sagbares ist. Der Paradefall der Entbergung ist und bleibt die Sprache, die etwas ›aufzeigt‹, sodass Seiendes nur insofern sein kann, als es gesagt werden kann. Dieser logozentrische Ansatz greift Fink zufolge entschieden zu kurz: [D]ie Orientierung des Seinsbegriffes am Logos der Sprache läßt […] den raumhaft-zeithaften Charakter des weltlich verstandenen Seins entschwinden. Das Sein kommt in die Gefahr, zu einem »Gedankending« zu werden, zu einem Begriff sich zu verflüchtigen. Den vollen Zeitraum des Seins nennen wir Welt. (Fink 1976, 176)
Anders gesagt: Der Logos mag Welt zwar aufschließen, es wäre aber verkehrt zu meinen, er könne Welt umfassen. Vor allem aber werden dadurch andere, immanente Aufschließungsereignisse der Welt ausgeblendet. Die ontologische Herangehensweise ist nicht nur durch den Vorrang des Sprachlichen, sondern auch durch die Gleichsetzung der Welt mit dem Bereich der Lichtung bezeichnet. Für einen solchen nach wie vor präsentistischen Ansatz muss die Welt als Ganzes verschlossen bleiben. Mit Finks Worten:
III.7. Kosmologische Wende
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Das, was wir gewöhnlich schon Welt nennen, ist die Weltdimension des Anwesens, die Dimension der Erscheinung, worin die Dinge reell voneinander getrennt, aber doch in räumlicher und zeitlicher Nachbarschaft zusammengeschlossen und durch feste Regeln miteinander verknüpft sind. Aber Welt ist auch der namenlose Bereich des Abwesens, aus dem her die Dinge ins Erscheinen einrücken und wohin sie wieder verschwinden. (Fink 1976, 241)
Anders gesagt, die ›lichtende‹ Anwesenheit (sei sie auf vor- oder auf a-subjektive Weise gedacht) berührt nur eine Dimension der Welt und lässt außen vor, dass es auch den ganzen »namenlose[n] Bereich des Abwesens« gibt, diesen Entzugscharakter, der dem Logos so schlecht zugänglich ist. Man kann natürlich behaupten, dass diese Kritik Heidegger nicht gerecht wird, ist dessen Konzeption der ›Entbergung‹ doch nicht ohne die Rückseite der ›Verbergung‹ zu verstehen, dass Ale theia also ohne Lethe nicht zu denken ist. Für Fink ist Heideggers Zugeständnis noch immer zu wenig: Die (heideggersche) Verbergung liefert – fotografisch gesprochen – nur ein Negativ des Sinns – und vermag die radikale Abwesenheit des Sinns nicht zu denken. Dagegen rekurriert Fink auf das Bild einer schattenlosen Nacht, um einen Entzug der Sichtbarkeit zu denken, der nicht auf einen bestimmten (geschichtlichen) Ort der Sichtbarkeit bezogen ist, sondern sich jeder Phänomenalisierung gegenüber überhaupt versperrt; nicht ein blinder Fleck im Gesichtsfeld, sondern so etwas wie eine grundsätzliche Lichtlosigkeit. Diese Dimension des Entzugs geht über die heliotropische Auffassung der Welt als Lichtung hinaus und verweist auf eine Rekonzeptionalisierung der Welt als Kraft: Die Welt »ist das Entbergende, das in ihrer Offenheit alle Dinge herausstellt, ihnen Raum gibt und Zeit lässt« (Fink 1990, 25). Dadurch erhält die Kosmologie einen genetischen Aspekt, denn »Welt ist das, was Raum gibt und Zeit lässt. Raumgeben und Zeitlassen ist das Wesen der Welt« (ebd., 15; Barbaras 2013). Die kosmologische Wende nimmt damit immer deutlicher die Züge einer ›dynamologischen‹ Wende an. Die Welt ist demnach als Prozess zu denken, der durch seine Eigendynamik die Dinge insofern zu sich selbst kommen lässt, als er sie in Erscheinung treten lässt. Phänomenalität muss vom Zur-Welt-Kommen her gedacht werden und nicht umgekehrt (Fink 1990, 21). Die Kritik an der Ontologie wird nun präziser: Die ontologische Fragestellung setzt die Bestimmung des Seienden, sein Aufgehen in den Raum der Unterschiede, voraus. Wenn es aber keine Individualität gibt, sondern nur Individualisierung, dann muss jener Bewegungsdimension Rechnung getragen werden, durch welche die Welt Raum gibt und Zeit lässt. Ontologie setzt Kosmologie voraus – Heideggers ontologische Differenz (die Differenz zwischen Sein und Seiendem) leitet sich von der Weltfrage ab und ist ihr untergeordnet. Die Welt aber ist für Fink wiederum nicht eine geschlossene Einheit, denn das Feld der Kosmologie ist seinerseits durch eine grundlegende Differenz gegliedert: »Den Unterschied von Welt und dem, was in ihr ist, nennen wir die kosmologische Differenz. Erst mit ihr gibt es ein Problem der Welt und eine Kosmologie« (Fink 1985, 106). Die ›kosmologische Differenz‹ zwischen der Welt und dem, was sie zum Erscheinen bringt, ist nicht nur grundlegender als die ontologische Differenz, sondern sie
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B. Historische Entwicklungen
setzt diese erst in Gang, wie Barbaras argumentiert: »Es stellt sich heraus, dass die ontologische Differenz von einer anderen Differenz abgeleitet ist, in der es weder Sein noch Seiendes gibt, sondern nur einen unterschiedslosen Boden und ein differenziertes Feld« (Barbaras 2013, 205). Wie man hier unschwer feststellen kann, drängen die Konsistenzanforderungen, die diese ›Kosmologen‹ an die Phänomenologie stellen, die Phänomenologie an ihre eigenen Grenzen, da man hier den Bereich des bloß Gegebenen entschieden verlassen hat. Indem sie ihre eigene welthafte Grundlage reflektiert, begibt sich die Phänomenologie in die Gefilde traditioneller metaphysischer Fragen. Nicht umsonst lässt sich bei einer ganzen Reihe neuerer phänomenologischer Autoren eine Wiederkehr spekulativer Momente beobachten. Diese Tendenz hatte Fink bereits prognostiziert, als er bemerkte: »Die anti-spekulative Haltung der Phänomenologie bedarf vielleicht einer radikalen Revision« (Fink 1976, 152). 7.5. Zwei Spielarten der kosmologischen Wende
Abschließend lässt sich festhalten, dass der Ausdruck ›kosmologische Wende‹ zwei zusammengehörende und doch disjunkte Stoßrichtungen beschreibt. Einerseits verweist der Ausdruck auf eine der Phänomenologie internen Kritik, mit der die gängige subjektivistische Interpretation der Phänomene überwunden und die Thematisierung der Welt als letztem Sinnhorizont ermöglicht werden soll. Will die Phänomenologie tatsächlich ihrer selbst gestellten Aufgabe nachkommen und eine Untersuchung der Genese von Sinn liefern, dann ist der Quellgrund dafür nicht mehr in den Untiefen der Subjektivität zu suchen, sondern in einem anonymen, sich selbst organisierenden Feld, nämlich in der Welt. Daraus folgt, dass eine Vertiefung der phänomenologischen Frage ein radikales Selbstverständnis der Phänomenologie fordert, sich selbst als eine ›Phänomenologie der Welt‹ aufzufassen. Die zweite Stoßrichtung, die mit einer Kritik an der Fundamentalontologie einhergeht, bezeichnet eine Wende der Phänomenologie in die Richtung einer Kosmologie. Diese Wende führt die Phänomenologie zu einem anderen Horizont, den sie voraussetzen muss, aber nicht greifen kann. Die Konsequenz aus dieser Einsicht, wonach sich die Welt als solche dem Griff einer phänomenologischen Analyse entzieht, treibt die Phänomenologie an ihre selbst gesetzten Grenzen. So gesehen überschreitet die kosmologische Wende sogar den transzendentalen Horizont, um gerade die Bedingungen der Möglichkeit der Phänomenologie zu erklären. Während in dem ersten Fall die Kosmologie mit der Entsubjektivierung des Transzendentalen gleichbedeutend ist, bezeichnet sie in dem zweiten Fall den Versuch, die transzendentale Perspektive zu überschreiten, um zu zeigen, dass das Transzendentale stets mit einer untilgbaren Faktizität belegt ist. Ovidiu Stanciu
III.8. Phänomenologie und Analytische Philosophie
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8. Phänomenologie und Analytische Philosophie Ist es sinnvoll, von einer ›analytischen Wende‹ in der Phänomenologie zu sprechen? Und kann man umgekehrt von einer ›phänomenologischen Wendung‹ in der Analytischen Philosophie sprechen? Die Antwort auf beide Fragen müsste in einer herkömmlichen Sichtweise erst einmal negativ ausfallen. In Michael Dummetts berühmtem Bild sind die Phänomenologie und die Analytische Philosophie wie der Rhein und die Donau (Dummett 1992, 37). Sie mögen in unmittelbarer Nachbarschaft entspringen, aber letztlich nehmen sie sehr unterschiedliche Richtungen und münden in verschiedene Meere. Mit jeder Biegung bewegen sie sich langsam, aber stetig voneinander weg. Allerdings ist der herkömmlichen Auffassung nicht immer zu trauen. Eine treffendere Antwort auf beide Fragen wäre ein vorsichtiges (und eingeschränktes) ›Ja‹. Analytische Philosophie und Phänomenologie lagen nie so weit auseinander, wie Dummetts Bild suggeriert. Außerdem lassen sich in den letzten Jahrzehnten durchaus phänomenologische (Rück-)Wendungen in der Analytischen Philosophie beobachten, während es andererseits durchaus zu bestimmten analytischen Wendungen innerhalb der Phänomenologie kam – vorausgesetzt, man richtet den Blick auf die einschlägigen Bereiche der Analytischen Philosophie und auf die entsprechenden Gebiete der in sich äußerst vielfältigen phänomenologischen Bewegung. Doch bevor diese gegenseitige kreuzweise Annäherung genauer untersucht werden kann, muss man sich zunächst darüber verständigen, was die Begriffe ›Phänomenologie‹ und ›Analytische Philosophie‹ jeweils bezeichnen. Da dieses Handbuch als Ganzes als eine ausführliche Antwort auf die Frage, was Phänomenologie ist, betrachtet werden kann, kann auf eine eingehende Behandlung dieser Frage verzichtet werden. Dringlicher ist die Klärung des Begriffs der ›Analytischen Philosophie‹. 8.1. Was ist Analytische Philosophie?
Recht unumstritten ist die Extension des Begriffes ›Analytische Philosophie‹: Es handelt sich um die Art Philosophie, die von Frege, Russell, Moore, Wittgenstein, Carnap, Ryle, Ayer, Quine, Davidson, Dummett, Putnam, Kripke und vielen anderen betrieben wird sowie von denjenigen, die die Auffassungen und Argumente der zuvor genannten Denker diskutieren. Es gibt Grenzfälle, die sich nur schwer einordnen lassen (Cavell, Feyerabend, Rorty und McDowell etwa oder auch der späte Putnam). Doch trotz der unscharfen Ränder haben wir ein stimmiges Bild davon, welche Denker:innen zur analytischen Tradition gehören. Relativ unproblematisch ist es auch, Philosoph:innen zu nennen, deren Arbeiten nicht analytisch sind: Husserl, Heidegger, Sartre, Merleau-Ponty, Levinas, Derrida, Foucault oder Irigaray etwa und die meisten ihrer Kommentatoren und Anhänger gelten nicht als Analytische Philosoph:innen. Viel schwerer fällt, genau zu bestimmen, wodurch sich eine philosophische Arbeit als Analytische Philosophie qualifiziert. Dieser Frage kann hier nicht wei-
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B. Historische Entwicklungen
ter nachgegangen werden. Wie Glock (2014) ausführt, müsste allerdings jede Definition, die im Hinblick auf Inhalt, Methode oder Stil weit genug gefasst ist, sowohl den späten Wittgenstein als auch Quine, dann auch Husserl oder Mer leau-Ponty einbeziehen (May 2002; Overgaard et al. 2013, Kap. 5). Zum Beispiel wird manchmal behauptet, die Analytische Philosophie sei durch einen bestimmten Stil definiert, der durch begriffliche Klarheit und strenge Argumentation gekennzeichnet ist. Doch die phänomenologischen Schriften von Adolf Reinach oder dem frühen Husserl erfüllen diese Kriterien wohl besser als alles, was aus der Feder eines unzweifelhaft Analytischen Philosophen wie dem späteren Wittgenstein stammt. Auch ohne eine klare Definition von analytischer Philosophie ist es möglich, innerhalb der analytischen Familie zwei Linien zu unterscheiden (Føllesdal 1996). Eine Linie geht zurück auf Frege, Russell und den frühen Wittgenstein und wird fortgeführt durch die logischen Positivisten (Carnap, Schlick, Neurath, Ayer) und durch deren amerikanische Nachfolger (Quine, Davidson, Putnam). Für diese Linie ist typischerweise ein Interesse an formaler Logik leitend. Eine andere Linie beginnt mit Moore, wird vom späten Wittgenstein und von dessen Anhängern (Anscombe, Malcom) fortgeführt und kulminiert in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Oxforder Schule der Ordinary Language Philosophy, für die unter anderen Ryle, Strawson und Grice stehen. Diesen Philosophen lag ganz allgemein daran, die Philosophie in Einklang mit dem gesunden Menschenverstand und der normalen Sprache zu bringen. Trotz ihrer unterschiedlichen Impulse und Perspektiven ist, wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird, beiden Linien der Analytischen Philosophie gemeinsam, dass die Phänomenologie in der Ausbildung ihres Selbstverständnisses eine Rolle gespielt hat. 8.2. Der Einfluss der Phänomenologie auf die Analytische Philosophie
In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts arbeiteten Frege wie auch Husserl an Problemen, die die Logik und die Grundlagen der Mathematik betrafen ( D.I). Husserls Kritik am Psychologismus, den er selbst in seinen frühen Schriften noch vertreten hat, wird manchmal dem Einfluss Freges zugerechnet (Føllesdal 1994). Doch sollte man dies nicht als Beispiel für einen analytischen Einfluss auf die phänomenologische Tradition ansehen. Denn erstens ist fraglich, ob es wirklich Frege war, der Husserls Sinneswandel bewirkt hat (Mohanty 1982). Zweitens, was noch wichtiger ist, selbst wenn er es war, kann dies kein Fall von einer Auswirkung der Analytischen Philosophie auf die Phänomenologie sein. Der Grund dafür ist einfach: Zu dieser Zeit ist es, wie Dummett (1992) und viele andere erläutert haben, nicht sinnvoll, eine ›kontinentale‹ Tradition von einer ›analytischen‹ zu unterscheiden (P. Simons 2001). Aus demselben Grund ist natürlich auch der Einfluss, den Husserls frühe Schriften zu Logik und Mathematik auf Frege oder andere Logiker:innen und Mathematiker:innen gehabt haben mögen, kein Argument für einen phänome-
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nologischen Einfluss auf die Analytische Philosophie, denn die Phänomenologie als eigene Strömung in der Philosophie gab es noch nicht. Mit der Veröffentlichung der Logischen Untersuchungen von 1900/01 beginnt dann allerdings eine Bewegung, die sich explizit ›Phänomenologie‹ nennt ( B.I.1). Gibt es Hinweise darauf, dass Husserls phänomenologische Schriften Auswirkungen auf die sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausbildende analytische Bewegung gehabt haben? Russell, der die Arbeiten von Brentano und Meinong kannte, las auch einige von Husserls Büchern, inklusive der Logischen Untersuchungen, die er für die Zeitschrift Mind rezensieren sollte (Ryle 1971, 9). Außerdem hatte Meinong einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung von Russells Denken, indem dessen uneingeschränkter Realismus den Weg für Russells Absage an den Idealismus seiner Frühphase ebnete (Russells Rückzug vom meinongschen Realismus und von dessen Paradoxien führte wiederum zur Theorie der Beschreibungen; Urmson 1956, Kap. 1). Der junge, vom Neukantianismus herkommende Rudolf Carnap las Husserls Arbeiten ebenfalls sehr sorgfältig und bezog sich in seinem ersten Hauptwerk Der logische Aufbau der Welt mehrmals, meist wohlwollend, auf Ideen I (Carnap 1928). Auch andere prominente Mitglieder des Wiener Kreises, inklusive Moritz Schlick, lasen und diskutierten Husserls Arbeiten (Moran 2010). In Oxford hielt Gilbert Ryle ein Seminar zu Husserl und diversen österreichischen Denkern (Ryle 1971, 9), und in den 1920er- bis 1940er-Jahren veröffentlichte er eine Handvoll teilweise wohlwollender Aufsätze zu Husserls Phänomenologie. Doch Ryles endgültiges Urteil über die husserlsche Phänomenologie fiel harsch aus. Obwohl er Husserl einräumte, wertvolle Erträge geliefert zu haben, schloss Ryle: »Die Phänomenologie war von Geburt an langweilig. Mehr als ihre zweifelhafte Herkunft wird ihr übertriebenes Zelebrieren der Methode dafür sorgen, dass ihre hochtrabenden Ansprüche ignoriert werden« (Ryle 2009, 231). Trotz dieser harschen Kritik gibt es zwischen der Art von Begriffsanalyse, wie sie von Ryle und seinen Oxforder Kollegen praktiziert wurde, und Husserls Methode der eidetischen Variation bemerkenswerte Ähnlichkeiten. Man beachte beispielsweise, was Grice über die Begriffsanalyse sagt: Nach einer Begriffsanalyse eines gegebenen Ausdrucks A zu suchen heißt, in der Lage zu sein, A in bestimmten Fällen anzuwenden oder von der Anwendung von A abzusehen, aber doch nach einer allgemeinen Charakteristik der Art von Fällen zu suchen, in denen man A anwenden würde, anstatt von der Anwendung von A abzusehen. […] [D]as charakteristische Verfahren besteht darin, sich eine mögliche allgemeine Charakteristik seines Gebrauchs von A auszudenken und diese dann zu prüfen, indem man eine bestimmte Situation findet oder imaginiert, die zwar der ausgedachten Charakteristik entspricht, aber doch keine Situation darstellt, in der man A anwenden würde. (Grice 1989, 174)
Terminologisch weicht dies in mancher Hinsicht von dem ab, was Husserl (1999) über die Methode der Wesensschau ( C.II.3) in § 87 von Erfahrung und Urteil sagt, aber substanziell gesehen ist es schwierig, hier einen signifikanten Unterschied auszumachen. Auch für Husserl müssen Begriffsanalysen (oder ›eideti-
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B. Historische Entwicklungen
sche Gesetze‹) dadurch geprüft werden, dass man versucht, sich Gegenbeispiele vorzustellen. Solche offenkundigen Ähnlichkeiten müssen nicht das Ergebnis eines direkten oder indirekten Einflusses husserlscher Ideen auf die Methode der Begriffsanalyse sein, aber wenn man von Ryles Schlüsselrolle bei der Entwicklung Letzterer ausgeht, ist ein solcher Einfluss nicht unplausibel (Thomasson 2002). Eindeutiger stellt sich die Lage bei Husserls Nachfolger in Freiburg, Martin Heidegger, dar. Carnap nahm 1929 an der berühmten Davoser Disputation zwischen Cassirer und Heidegger teil und war von Letzterem, mit dem er auch persönlich sprechen konnte, besonders beeindruckt. In den Jahren, die unmittelbar auf dieses Zusammentreffen folgten, scheint Carnap mit Interesse Sein und Zeit studiert zu haben. Er nahm an einer Diskussionsgruppe teil, in der »Heideggers Buch intensiv besprochen wurde« (Friedman 2000/2004, 23), und konnte die anderen Teilnehmer:innen offenbar mit seiner Fähigkeit, Heidegger zu interpretieren, beeindrucken. Kurz darauf aber kam Carnap zu einem uneingeschränkt kritischen Urteil über Heideggers Philosophie, das sich auf dessen Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (1929) in Freiburg und insbesondere auf die darin vorgenommene Behauptung stützt: »Das Nichts selbst nichtet« (GA 9, 114). Carnap geht offenbar an Heideggers Spielen mit der Sprache völlig vorbei. Das ›Nichts‹ sei hier nur ein anderer Name für das, was weder ein Ding noch ein Seiendes ist, nämlich für das ›Sein‹, und daher seien Heideggers seltsam klingende Anspielungen auf die große Bedeutsamkeit des ›Nichts‹ kaum mehr als spielerische Zusammenfassungen seiner These in Sein und Zeit, wonach dem menschlichen Dasein Seiendes nur insofern begegnen kann, als es ein Seinsverständnis hat. Carnap und Heidegger nehmen hier völlig diametrale Positionen ein. Heidegger gesteht zu, dass seine Behauptungen die Logik verletzen, was wiederum dadurch gerechtfertigt wird, dass die klassischen Fragen der Logik »im Wirbel eines ursprünglicheren Fragens« aufgelöst werden sollen (GA 9, 117). Carnaps Antwort fällt rhetorisch aus: »Wird aber die nüchterne Wissenschaft mit dem Wirbel eines widerlogischen Fragens einverstanden sein?« (Carnap 1931, 232) Carnaps Kritik zielt nicht darauf ab, dass Heideggers Sätze falsch oder unbegründet seien. Ihr Problem liege vielmehr darin, dass sie schlicht sinnlos seien. Wittgenstein, der in Gesprächen mit Mitgliedern des Wiener Kreises ein paar wenige Kommentare zu Heidegger abgab, scheint eine geringfügig positivere Sicht gehabt zu haben: Heideggers »Anrennen gegen die Grenze der Sprache«, so räumt Wittgenstein ein, »deutet auf etwas hin«. Das Fazit fällt dennoch, zumindest aus der Sicht der logischen Positivisten, deutlich aus: Heideggers Grübeleien seien nicht falsch, sondern schlicht sinnlos (Wittgenstein 1984b, 68 f.). Carnaps Aufsatz festigte die Ansicht, dass Heideggers Phänomenologie die Antithese zu dem luziden, gewissenhaften und stringent logischen Ansatz darstellt, als dessen Entwickler:innen sich die Vertreter:innen der Analytischen Philosophie selbst sahen. Überdies muss die politische Dimension berücksichtigt werden (P. Simons 2001): Der jüdischstämmige Husserl wurde nach und nach marginali-
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siert, während sein ehemaliger Assistent Heidegger das NS-Regime offen unterstützte ( B.I.5). Die Hauptvertreter:innen des logischen Positivismus verließen Österreich und Deutschland und emigrierten vor allem in die USA. Wenn die (heideggersche) Phänomenologie bereits 1932 als etwas angesehen wurde, das der ernsthaften Diskussion nicht wert war, dann dürften die Ereignisse, die im Zweiten Weltkrieg kulminierten, diesen Eindruck aufseiten britischer und amerikanischer Philosoph:innen weiter verfestigt haben. 1929 bemerkte Ryle in seiner berühmten Rezension, Sein und Zeit stelle »einen großen Fortschritt in der Anwendung der ›phänomenologischen Methode‹ dar – auch wenn ich sogleich hinzufügen darf, dass ich meine, dieser Fortschritt schreitet zum Desaster fort« (Ryle 2009, 205). Jenes Desaster bestehe, wie Ryle später zu verstehen gibt, in einem »aufgeblasenen Mystizismus« (ebd., 222). Durch Heideggers Zuordnung zur phänomenologischen Bewegung scheint dieser vermeintliche Mangel an phänomenologischer Strenge und phänomenologischem Gehalt auf Husserl und die übrigen Anhänger:innen dieser Bewegung zurückgestrahlt zu haben. Das wird beim Symposion im französischen Royaumont im Jahre 1958 deutlich, das eigentlich den Dialog zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie herstellen sollte, was bekanntermaßen aber misslang. In Anwesenheit von Merleau-Ponty und Van Breda (dem Gründer des Husserl-Archivs in Leuven) hielt Ryle einen polemischen Vortrag mit dem Titel »Phenomenology versus ›The Concept of Mind‹«, in dem er sich offen über Husserl lustig machte und so taktlos war, ihm Ansprüche auf eine (philosophische) »Führership« (ebd., 189) zu unterstellen. Als Ryle auch noch den Mangel an logischen Studien auf dem Kontinent beklagte, erweckte er den Eindruck, er meine nicht so sehr Husserl, sondern dessen Nachfolger Heidegger. Obwohl nicht alles stimmt, was über Ryles Verhalten in Royaumont gesagt wurde (Overgaard 2010), hat Glock sicher Recht: Ryle schien »weniger daran gelegen zu ermitteln, ob es zwischen der analytischen und der ›kontinentalen‹ Philosophie eine weite Kluft gab, vielmehr wollte er sicherstellen, dass eine solche Kluft tatsächlich existierte« (Glock 2014, 77). In beiden Hauptlinien der Analytischen Philosophie wird also Phänomenologie – besonders die heideggersche Variante, aber letztlich Phänomenologie als solche – mit Sophisterei, Scharlatanerie, Pomphaftigkeit und Mangel an logischer und wissenschaftlicher Strenge verbunden. Mit anderen Worten, Phänomenologie wird mit all dem assoziiert, was Analytische Philosoph:innen ihrem Selbstverständnis nach – klar denkend, streng, bescheiden und auf dem neuesten Stand der modernen Logik – nicht sind (Glendinning 2006). So ist zu vermuten, dass die Phänomenologie dadurch die Auffassung analytischer Philosoph:innen über das Besondere ihrer eigenen Vorgehensweise geprägt hat. Es ist ebenso plausibel, dass es die Phänomenologie als Schreckgespenst Analytischen Philosoph:innen erleichterte, sich trotz bedeutender Unterschiede unter ihnen als Teil einer eigenen Tradition zu sehen. Trotz der Bemühungen einiger analytischer Vertreter, ein etwas differenzierteres Bild der Phänomenologie zu zeichnen (Dummett 1992;
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Hintikka 1995), war jener negative Einfluss bis vor Kurzem der Haupteinfluss der Phänomenologie auf die Analytische Philosophie. 8.3. Phänomenologische Impulse in der Analytischen Philosophie
Die Grundidee der Phänomenologie, dass Philosophie die Dinge (im weitesten Sinne) so erfassen sollte, wie sie sich unserer Erfahrung darstellen, ist der analytischen Tradition nicht fremd. Den britischen Empiristen ging es um unsere Erfahrung der Dinge und in den Argumentationen einiger ihrer Erben im 20. Jahrhundert spielen quasi-phänomenologische Überlegungen eine wichtige Rolle. Broad (1965, 30), Price (1932, 10), Russell und Moore beriefen sich in ähnlicher Weise auf Beschreibungen von Dingen wie Tische oder Münzen und deren Aspektwechsel. Gelegentlich wurden solche Überlegungen explizit als ›phänomenologisch‹ bezeichnet. Auch Carnap bezieht sich in Der logische Aufbau der Welt auf die Phänomenologie; er spricht z. B. von einer »Phänomenologie der Wahrnehmungen«, »der Kulturerkenntnis« und einer »Wertephänomenologie« (Carnap 1928/1966, 148, 201, 204). Dies mag mit erklären, warum der Begriff »Phänomenologie« in Wittgensteins Schriften zwischen dem Tractatus und den Philosophischen Untersuchungen häufig auftaucht (Hintikka/Hintikka 1986, 151–154). Als Schlick um 1930 einen Vortrag mit dem Titel Phänomenologie halten sollte, sagte Wittgenstein zu seinem Freund Maurice Drury: »Sie sollten unbedingt hingehen und sich den Vortrag anhören; ich werde allerdings nicht dort sein. Auch von meiner Arbeit könnte man sagen, sie sei ›Phänomenologie‹« (Wittgenstein 1984b, 116). Im Anschluss an Spiegelberg (1981) und Gier (1981) haben solche Bemerkungen viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, aber ihre Bedeutung bleibt unklar. Unter Phänomenologie versteht Wittgenstein offenbar, isolierte »Sinnesdaten« bei der Erfassung von Gegenständen zu studieren (Wittgenstein 1984a, 88, 103, 286). Schon aus diesem Grund ist es unwahrscheinlich, dass Wittgensteins kurzzeitige Übernahme des Begriffs »Phänomenologie« einem direkten Einfluss der phänomenologischen Philosophie geschuldet ist. Ebenso ist fraglich, inwieweit sie ein tatsächliches Anliegen widerspiegelt, unsere Erlebnisse zu beschreiben. Interessanterweise ist ein solches Anliegen beim späten Wittgenstein durchaus erkennbar (Overgaard/Zahavi 2009), wobei er das Wort ›Phänomenologie‹ selten, und dann stets in einem kritischen, Kontext verwendet. Um nur ein Beispiel zu nennen: Während er die Farben- und Größenkonstanz untersucht, schreibt Wittgenstein: Dieses Papier ist an verschiedenen Stellen verschieden hell; aber sieht es mir, an den dunkleren Stellen, grau aus? […] Ist damit nicht ähnlich, daß man den entfernteren Gegenstand oft nur als entfernter, nicht aber kleiner sieht? Daß man also nicht sagen kann ›Ich merke, daß er kleiner ausschaut und schließe daraus, daß er entfernter ist‹, sondern ich merke, daß er entfernter ist, ohne sagen zu können, wie ich’s merke. (Wittgenstein 1984c, 77)
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Derartige Passagen sind nicht nur deshalb bemerkenswert, weil sie sich mit phänomenologischen Thesen berühren (Merleau-Ponty 2003b, 28–31), sondern auch, weil es sich um Beschreibungen der Erfahrungen unserer Welt handelt. Im Hinblick auf die zu Anfang getroffene Unterscheidung sind sie phänomenologische Bemerkungen im engen Sinne. Der phänomenologische Impuls war bei Wittgenstein und seinen Anhängern relativ stark, ebenso bei den Oxforder Philosoph:innen der normalen Sprache (Wild 1976). In einem Artikel von 1932 erklärte Ryle seine völlige Übereinstimmung mit Husserls »offizieller Auffassung« (an der dieser selbst jedoch nicht immer festgehalten habe), »dass es nicht das Geschäft der Philosophie ist, neue Informationen über die Welt zu liefern, sondern die allgemeinsten Formen dessen zu analysieren, was die Erfahrung an Beispielen in der Welt findet« (Ryle 2009, 177). Im Lichte dieser Übereinstimmung ist gewiss auch Ryles Behauptung in seinem ansonsten sehr polemischen Royaumont-Vortrag zu verstehen, Der Begriff des Geistes könne »als eine ausgedehnte phänomenologische Abhandlung beschrieben werden« (Ryle 2022, 196). Ebenso deutete Austin an, »linguistische Phänomenologie« sei ein treffenderer Name für sein philosophisches Vorgehen als »analytische« Philosophie (Austin 1979, 182). Es gibt Grund zu der Annahme, dass solche Bemerkungen nicht einfach eine willkürliche terminologische Wahl widerspiegeln, sondern vielmehr auf eine tiefere phänomenologische Grundströmung hinweisen, die sich durch die Werke von Austin und Ryle zieht. Während Ryle behauptet, das Geschäft der Philosophie sei es zu analysieren, was die Erfahrung in der Welt vorfindet, meint Austin, wenn wir Sprachphilosophie betreiben, sähen wir nicht […] nur auf Wörter (oder ›Bedeutungen‹, was immer diese sein mögen), sondern auch auf jene Wirklichkeiten, zu deren Bezeichnung wir die Wörter gebrauchen: Wir verwenden geschärfte Achtsamkeit auf Wörter nicht als letzte Schiedsinstanz über die Phänomene, sondern zur Schärfung der Wahrnehmung derselben. (Austin 1979, 182)
Mit dem Aufschwung des szientistischen Naturalismus à la Quine beginnt der Niedergang der Ordinary-Language-Philosophie (Hacker 1996, Kap. 8). Philosophie, so heißt es nun, gehe in Wissenschaft auf und müsse sich bei der Theoriebildung an den Naturwissenschaften orientieren. Da die normale Sprechweise in den Verdacht geriet, zweifelhafte, ›vorwissenschaftliche‹ oder ›Alltags‹-Theorien darzustellen, sollte sie philosophisch nicht beachtet werden. Daher war der nun triumphierende philosophische Naturalismus in verschiedener Weise der Phänomenologie viel ferner als Wittgenstein und die Oxforder Philosophie der normalen Sprache. Das hieße allerdings, wie abschließend noch darzulegen sein wird, dass der phänomenologische Impuls in der Analytischen Philosophie verschwunden wäre. Umgekehrt bieten sich in einem immer weiter sich auffächernden Feld der Analytischen Philosophie auch neue Anknüpfungspunkte für die Phänomenologie an.
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B. Historische Entwicklungen
Bisher handelte es sich um eine Geschichte der analytischen Hinwendung zur Phänomenologie (und manchmal auch der Abwendung von ihr). Wie steht es mit phänomenologischen Wendungen zur Analytischen Philosophie? Abgesehen von Freges bereits erwähntem Einfluss auf Husserl scheint es, dass die ersten Generationen der klassischen Phänomenolog:innen der aufkeimenden analytischen Bewegung nur wenig Aufmerksamkeit schenkten, obwohl gelegentlich auf Frege, Wittgenstein und andere wichtige Figuren der frühen Analytischen Philosophie Bezug genommen wurde. Wenn es also sinnvoll ist, von einer analytischen Wende in der frühen Phänomenologie zu sprechen – oder vielleicht besser von einem analytischen Impuls, da er von Anfang an da gewesen zu sein scheint –, dann eher aus einem anderen Grund: einer bestimmten Art des Vorgehens, bei dem Klarheit und argumentative Strenge eine Schlüsselrolle spielten. So ist es in dieser Hinsicht aufschlussreich, etwa die Schriften von Adolf Reinach, die für ihre Klarheit und Strenge bekannt waren, mit den Arbeiten von Emmanuel Levinas zu vergleichen. Neben der überaus schwierigen, dichten Prosa des Letzteren liest sich Reinachs Zur Theorie des negativen Urteils (1911) wie ein Aufsatz aus einem analytischen Publikationsorgan wie Mind oder The Proceeedings of the Aristotelian Society. Aber dann stellt sich die Frage, warum wir Klarheit und Strenge für Tugenden halten sollten, die spezifisch analytisch sind – im Gegensatz zu allgemeineren intellektuellen bzw. philosophischen Tugenden. Sicherlich sind analytische Einflüsse in den Werken einiger späterer Phänomenolog:innen erkennbar, darunter Paul Ricœur, zu dessen philosophischen Einflüssen Philosophen der normalen Sprache wie J.L. Austin und P.F. Strawson gehören. Dennoch wäre es übertrieben, im Falle Ricœurs von einer ›analytischen Wende‹ zu sprechen (vgl. Pellauer 2014). Im deutschen Kontext kommt man jedoch nicht umhin, einen anderen Phänomenologen zu erwähnen, der sehr wohl eine analytische Wende vollzog: Ernst Tugendhat. Ursprünglich ein Schüler Heideggers in Freiburg, schrieb Tugendhat seine Habilitation über den Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. Sein nächstes Buch trug jedoch den Titel Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie (Tugendhat 1976). Obwohl Heidegger gewidmet, enthält das Buch weit mehr Bezüge zu Analytischen Philosophen wie Frege, Russell, Wittgenstein, Davidson und Quine als zu Heidegger. Da Tugendhat jedoch letztlich zu dem Schluss kam, dass die Analytische Philosophie der Phänomenologie ›überlegen‹ sei (ebd., 9), erscheint seine ›Wende‹ in der Tat eher wie eine Konversion: die Aufgabe der Phänomenologie zugunsten eines analytischen Paradigmas. An diesem Punkt scheint es, als ob Dummetts Bild zumindest halbrichtig ist: Während Analytische Philosoph:innen sich gelegentlich der Phänomenologie zugewandt haben, haben die Phänomenolog:innen, wie es scheint, den Gefallen nicht zurückerstattet. Dennoch hat sich auch dies in den letzten Jahrzehnten zu ändern begonnen.
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8.4. Die Situation heute
Um die Jahrhundertmitte ist die (von Ryle verkörperte) Philosophie in folgendem Paradox gefangen: So nahe sich Phänomenolog:innen und ihre Oxforder Gegenspieler:innen auch waren, so entschlossen schienen diese sich von jenen distanzieren zu wollen. Zweifellos hatten der Zweite Weltkrieg und Heideggers Verbindung zur NSDAP etwas damit zu tun, ebenso wie die Überzeugung der Oxforder, dass der linguistic turn eine Revolution in der Philosophie darstellte. Insofern nun der Niedergang der Oxforder Sprachphilosophie den Weg für eine »Umkehrung der Wende zur Sprache« (Glock 2014, 68) ebnete und der Zweite Weltkrieg weiter in die Vergangenheit rückte, waren die Bedingungen für eine Annäherung zwischen Phänomenologie und analytischer Philosophie wieder günstiger. Erstens haben diese Entwicklungen das Bemühen der Empirist:innen um eine Phänomenologie der Wahrnehmung, des Gedächtnisses usw. nicht nur wieder respektabel gemacht, sondern diese und damit verbundene Themen auch recht weit oben auf die philosophische Tagesordnung gesetzt. Zweitens wurden die Schriften der klassischen Phänomenolog:innen, wenn auch nur zögerlich, zunehmend von Analytischen Philosoph:innen des Geistes rezipiert. Durch den Einfluss von Dagfinn Føllesdal und Jaakko Hintikka in Skandinavien, Wolfe Mays in Großbritannien und Hubert Dreyfus in Kalifornien – um hier nur diese Namen zu nennen – wurde es für die Analytische Philosophie des Geistes und der Metaphysik selbstverständlicher, sich ernsthaft mit den Arbeiten von Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty und anderen Phänomenolog:innen auseinanderzusetzen (D. W. Smith/Thomasson 2005). Mit Sean Kelly gesprochen: Was heutzutage auffällt […], ist das Streben, sich die Phänomenologie anzueignen, an ihren Zweigen nach den auserlesensten Früchten zu suchen, und dazu die Überzeugung – oder zumindest eine entschiedene Offenheit für die Möglichkeit –, dass die phänomenologische Frucht philosophisches Futter bieten könnte. (Kelly 2008)
Wenn Kellys Einschätzung richtig ist, und vieles spricht dafür, dann läuft der phänomenologische Impuls, der der Analytischen Philosophie nie ganz abgegangen ist, mit einem tatsächlichen phänomenologischen Einfluss auf bestimmte Teile des analytischen Mainstreams zusammen. Umgekehrt lassen sich auch innerhalb des phänomenologischen Mainstreams analytische Anverwandlungen feststellen, die nahelegen, dass die Hypothese einer ›analytischen Wendung‹ der Phänomenologie nicht ganz aus der Luft gegriffen ist. Vielleicht ist kein Terrain in dieser Hinsicht fruchtbarer gewesen als die Philosophie des Geistes (Dahlstrom et al. 2015). Phänomenolog:innen haben sich nicht nur bemüht, die klassische phänomenologische Philosophie des Geistes gegen Kritik aus analytischen Kreisen zu verteidigen (z. B. Meixner 2014); sie haben sich ebenso bemüht zu zeigen, wie die klassische Phänomenologie wertvolle Einsichten zu den zeitgenössischen Debatten innerhalb der Analytischen Philosophie des Geistes beitragen kann, einschließlich der Debatten über Selbst-
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wahrnehmung (Zahavi 2020), Verkörperung (Gallagher 2005a), soziale Kognition (Ratcliffe 2007), Intentionalität (Beyer 2000; Erhard 2014), Emotionen (Szanto/Landweer 2020) und Wahrnehmung (Romano 2015; Overgaard 2018), um nur einige einschlägige Bereiche zu nennen. Tatsächlich aber sind solche phänomenologischen Hinwendungen zur Analytischen Philosophie keineswegs auf die Philosophie des Geistes beschränkt. Ähnliche Bemühungen finden sich in der Tat in praktisch allen Bereichen der Philosophie, einschließlich der Erkenntnistheorie (Hopp 2011), der Metaphysik (Woodruff Smith 2004), der Moralphilosophie (Rinofner 2015; Fagenblat/ Erdur 2020), der Sprachphilosophie (siehe wiederum Beyer 2000) und der Wissenschaftsphilosophie (Wiltsche/Berghofer 2020). Das soll nicht heißen, dass an der traditionellen (dummettschen) Vorstellung von zwei durch eine große Kluft getrennten Traditionen überhaupt nichts Wahres sei. Sowohl in der Analytischen Philosophie als auch in der Phänomenologie herrscht noch viel Unwillen, sich auf die jeweils andere Tradition einzulassen. Aber neben solchen Haltungen sind auch andere Tendenzen sichtbar, und so gibt es in zunehmendem Maße Analytische Philosoph:innen, die in der Phänomenologie Inspiration suchen, und Phänomenolog:innen, die versuchen, phänomenologische Ideen für Debatten innerhalb der Analytischen Philosophie fruchtbar zu machen. Wie sehr es sich bei diesen Fällen um ein Analytischwerden der Phänomenologie bzw. um ein Phänomenologischwerden der Analytischen Philosophie handelt, muss jeweils einzeln bestimmt werden. Søren Overgaard
9. Naturalisierung der Phänomenologie Unter dem Stichwort einer ›Naturalisierung der Phänomenologie‹ firmieren seit den 1990er-Jahren unterschiedliche Forschungsinitiativen, deren Interessen manchmal mehr empirisch, manchmal mehr metaphysisch gelagert sind. Wenn es um die Erweiterung empirischer Erkenntnisse geht, so wird etwa im Bereich der Kognitions- und Lebenswissenschaften ( D.IX) der Wert phänomenologischer Methoden bei der Beschreibung von Bewusstseinsleistungen heuristisch genutzt. Innerphilosophisch sind hingegen ontologische Fragen von besonderem Belang, etwa die Bestimmung der Unterschiede zwischen naturalistischen und transzendentalistischen Konzeptionen. Naturalismus ist nicht gleichzusetzen mit Naturwissenschaft, aber es gibt einen spezifischen Zusammenhang: Ganz allgemein ist Naturalismus zunächst der Titel für eine metaphysische Position, die annimmt, es gebe überhaupt nur ›Naturales‹ in der Welt, d. h., es handelt sich um einen Substanzenmonismus. Eine Zusatzannahme ist dann häufig, dass die einzig adäquate Erkenntnis des Naturalen von den Naturwissenschaften geliefert werden könne. Die generelle These ist demnach eine ontologische, die spezielle eine methodologische. Sofern sich nun die
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Phänomenologie als eine transzendentale Philosophie versteht, wie ihr Begründer Edmund Husserl sie entwickelt und sogar in einen transzendentalen Idealismus gesteigert hat, dann erscheint die Wendung ›Naturalisierung der Phänomenologie‹ logischerweise wie ein hölzernes Eisen. Um diese Problematik aber zu verstehen und sinnvoll einordnen zu können, muss erst einmal geklärt werden, was mit ›Naturalisierung‹ überhaupt gemeint werden kann und was die Konsequenzen der jeweiligen Verwendungen mit Blick auf eine potenzielle Forschungskooperative zwischen den Wissenschaften und der Phänomenologie sind. Dieser Aufgabe widmet sich nachfolgende Darstellung. Während die Phänomenologie möglichst detaillierte Deskriptionen ( C.II.1) und umfassende Konstitutionsanalysen ( C.I.4) der subjektiven Bewusstseinsleistungen erarbeiten will, streben die Naturwissenschaften nach Kausalerklärungen und formalisierten Modellen der quantifizierbaren Objektivität. Wie können diese divergenten Erkenntnisrichtungen in Einklang gebracht werden bzw. voneinander profitieren? Eine erste Antwort auf diese Frage besteht in der Argumentation, dass eine Sache zunächst hinreichend gut beschrieben sein muss, bevor man sie erklären kann. Nur eine adäquate Erfassung hinreichend vieler Einzelfälle oder paradigmatischer Beispiele ermöglicht Abstraktionen und die Konstruktion allgemeingültiger Gesetze und Modelle. So gesehen scheint die Phänomenologie mit ihrem feinteiligen deskriptiven Methodenarsenal prädestiniert, den Wissenschaften zu Hilfe zu kommen, jedenfalls dann, wenn diese sich mentalen Prozessen widmen (z. B. Kognitionspsychologie und Neurowissenschaft). Eine zweite Antwort lautet, dass die Beispiele und typischen Erlebnisse, die den Ausgang und das Material phänomenologischer Analysen bilden, immer auch von den Erfahrungen und Gewohnheiten des phänomenologisierenden Subjekts abhängen, das die Welt aus einer spezifischen Positioniertheit wahrnimmt oder sich Variationen der von ihm erlebten Welt fantasiemäßig vorstellt. Die Wissenschaften führen aus dem Bereich der Erlebnisnormalität jedoch regelmäßig heraus und konfrontieren uns mit Extremfällen der Wahrnehmung, des Zeit- oder Leiberlebens (z. B. Psycho- oder Neuropathologie). Sie sprengen gleichsam den Rahmen dessen, was man sich für gewöhnlich vorstellt, wenn man über die Erscheinungsweise von etwas für das Bewusstsein zu reflektieren beginnt. Auf diese Weise können die Wissenschaften Beispiele und Szenarien anbieten, die das Spektrum möglicher phänomenologischer Reflexionen erweitern und gegebenenfalls zu neuen Strukturbeschreibungen anregen. Eine wechselseitige Inspiration und punktuelle Hilfestellungen scheinen zwischen Phänomenologie und Wissenschaften so gesehen möglich. Aber ist das schon eine Naturalisierung? 9.1. Begriffsklärungen: Was heißt ›Naturalisierung‹?
(1) Zum einen wird der Begriff der Naturalisierung häufig mit Blick auf das Bewusstsein – also das zu erforschende Phänomen – verwendet. Damit ist dann gemeint, dass das Bewusstsein mit den Mitteln der Naturwissenschaften, also
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insbesondere der Hirnforschung, zu untersuchen und zu erklären sei. Diese Herangehensweise ist motiviert durch den Versuch, die Gegenstände der Geisteswissenschaften und der Philosophie in das Untersuchungsgebiet der Naturwissenschaften hineinzuverlegen und scheinbar undurchdringliche und interpretationsbedürftige Erfahrungsbestände durch Operationalisierung und Messung handhabbar zu machen. Dieser Versuch selbst ist freilich begründet in einem bestimmten Wissenschaftsverständnis, das häufig nicht hinterfragt wird, nämlich dass das Methodenarsenal der empirischen Disziplinen denjenigen der hermeneutischen überlegen und eigentlicher Fortschritt in den Wissenschaften nur auf dem Wege der Sicherung quantifizierbarer Ergebnisse möglich sei. Diesem naturalistischen Missverständnis begegnete bekanntermaßen bereits Husserl in seiner Widerlegung des Psychologismus sowie dem Entwurf einer »Philosophie als strenge Wissenschaft« (Hua XXV). Gleichzeitig interessierte er sich zeitlebens für den Fortschritt der Wissenschaften, unterstützte die Einrichtung des ersten experimentalpsychologischen Labors an der Universität Freiburg und fungierte als dessen Direktor – und schließlich entwickelte er in den 1920er-Jahren eine eigenständige »phänomenologische Psychologie« (Hua IX), die er als die transzendentale Phänomenologie ergänzende Wesenswissenschaft des natürlichen Bewusstseins konzipierte. Insofern gibt es – ungeachtet der umfassenden Bemühungen Husserls, einen naiven und reduktionistischen Naturalismus zu überwinden – durchaus einen vorgezeichneten Weg, eidetische Einsichten der Phänomenologie mit empirischen Erkenntnissen der Psychologie in Verbindung zu bringen ( D.IV; Breyer 2017). An Husserl anknüpfende Phänomenolog:innen wie Merleau-Ponty (1966/2000) bemühten sich dann mit ähnlichen Absichten darum, die Phänomenologie als Mittelweg zwischen ›Intellektualismus‹ und ›Empirismus‹ gangbar zu machen, dabei die Spannung von Transzendentalität und Offenheit für wissenschaftliche Forschung aushaltend. Nicht nur die Naturalisierungsbewegung der 1990er-Jahre (Varela et al. 1991; Petitot et al. 1999), sondern auch gegenwärtige Autor:innen (Harney 2015; Muller 2018) finden daher in Merleau-Ponty immer wieder einen wichtigen Bezugspunkt. (2) Zum anderen findet man den Begriff der Naturalisierung hinsichtlich der Phänomenologie selbst, was Unterschiedliches heißen kann: (a) In einer ersten Lesart kann mit einer Naturalisierung der Phänomenologie gemeint sein, dass die Phänomenologie eine interdisziplinäre Kooperation mit einer Naturwissenschaft eingeht und idealiter beide hiervon profitieren bzw. dass das zu erforschende Thema gemeinsam zu größerer Klarheit gebracht wird. In diesem Fall ist es nicht erforderlich, dass sich die Kollaborationspartner in sich verändern, was ihr jeweiliges Selbstverständnis und ihre Arbeitsweise betrifft; es geht vielmehr um einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn durch die Kombination beider Perspektiven. Für einen solchen Ansatz gibt es durchaus erfolgreiche Beispiele, etwa in den Bereichen Psychologie (Graumann 1960; Mausfeld 2011; Wendt 2019), Psychopathologie (Blankenburg 1971/2012; Stanghellini 2004), Kognitionswissenschaften (Thompson 2007; Breyer 2011; Wehrle 2013a) und Neurowissen-
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schaften (Varela et al. 1991; Vogeley/Kupke 2007). (b) Eine zweite Vision der Naturalisierung impliziert demgegenüber, dass sich die Phänomenologie transformiert und ihre Einsichten in eine naturalistische (d. h. hier naturwissenschaftliche) Weltbeschreibung integriert. Eine solche Wendung der Phänomenologie kann als Hauptintention der Autor:innen gesehen werden, die – ein Jahrhundert nach Husserls bahnbrechender Widerlegung des Psychologismus – den kontrovers diskutierten Sammelband mit dem Titel Naturalizing Phenomenology (Petitot et al. 1999) veröffentlichten. Dort heißt es programmatisch, dass die Naturalisierung so vollzogen werden solle, dass phänomenologische Erkenntnisse eingegliedert werden »in einen Erklärungsrahmen, in dem jede relevante Eigenschaft als in kontinuierlicher Verbindung mit den von den Naturwissenschaften vorgegebenen Eigenschaften aufgefasst werden kann« (ebd., 1 f.). Es geht also darum, den Dualismus von Subjektivität und Objektivität, von phänomenaler Qualität und physikalischer Quantität zu überwinden, um zu einem graduellen Kontinuitätsmodell zu gelangen. Gleichwohl ist die Perspektive so gewählt, dass die phänomenologisch beschreibbaren Eigenschaften mit von den Naturwissenschaften ›zugelassenen‹ Eigenschaften in Einklang gebracht werden sollen – nicht andersherum. Normsetzend ist also hier die naturwissenschaftliche Einstellung, die versucht, sich die Erkenntnisse der Phänomenologie einzuverleiben, was durchaus kritisch zu betrachten ist. Denn in phänomenologischer Einstellung ist jeglicher ontologischer Dualismus (im cartesianischen Sinne) und sind die methodologischen Differenzen zwischen subjektivistischen und objektivistischen Herangehensweisen insofern eingeklammert, als es um die wesentliche Korrelation ( C.I.1) geht, die das forschende Subjekt mit seinem jeweiligen Gegenstand verbindet. Bewusstsein ist vor diesem Hintergrund nicht einfach etwas in der Welt (das somit zum Objekt naturwissenschaftlicher Erforschung werden kann), sondern etwas, für das Welt erscheint. Andersherum hat die Welt nur Sinn und ist nur zugänglich für ein sie wahrnehmendes Bewusstsein, deshalb gibt es keine bewusstseinsunabhängige Beschreibung der Welt. Auf dem Spektrum metaphysischer Alternativen ist die Phänomenologie daher neutral gegenüber monistischen oder dualistischen Extremen; den Naturalismus im Sinne einer »default metaphysical position« (Zahavi 2010, 3) der Analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts ( B.III.7) wird man jedoch eindeutig als monistische Theoriebildung auffassen müssen. Wie können Phänomenologie und Naturalismus dann dennoch zusammengehen? Dies soll sogleich unter Punkt 9.2. erläutert werden. Auch wenn dort ertragreiche Forschungsprogramme sichtbar werden, bleibt auf philosophischer (metaphysischer) Seite große Skepsis gegenüber einer vorschnellen Verbindung (z. B. Moran 2013). (3) Eine dritte Interpretation der Formulierung ›Naturalisierung der Phänomenologie‹ kann schließlich eine Verschiebung ihres thematischen Fokus hin zur Natur, zum Naturalen, Natürlichen – was auch immer man dann darunter verstehen möchte – nahelegen. Aber ist die Natur nicht immer ein Gegenstand der Phänomenologie gewesen? Was würde eine speziellere Betrachtung der Natur in
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der phänomenologischen Analyse einbringen? Zur Beantwortung dieser Frage könnte man auf die lebensweltliche Erfahrung und Erscheinungsweise von Natur im Ausgang von Husserl abheben oder die Natur als eigene ontologische Region im Unterschied zur Region des Geistes in den Blick nehmen (Hua IV). Andere Impulse zur phänomenologischen Betrachtung der Natur gehen von MerleauPontys (2000) Naturbegriff und dessen Bezügen zur Sphäre des Expressiven und Ästhetischen aus. Auch spielt Natur etwa im Werk Paul Ricœurs eine Rolle dort, wo es um das Verhältnis von Freiheit und Unverfügbarkeit geht, insbesondere in seiner frühen Phänomenologie des Willens (Ricœur 2016) sowie in der Anthropologie der Fehlbarkeit (Ricœur 2018). Ferner gibt es in jüngster Zeit eine recht breite Rezeption der Phänomenologie im Bereich der Umweltphilosophie (James 2009) und Ökopsychologie (Vakoch/Castrillón 2014). Diese Perspektivierungen des Naturalen können im Weiteren jedoch nicht eruiert werden. Vielmehr soll verdeutlicht werden, wie sich eine naturalisierende Wendung der Phänomenologie in Korrespondenz mit den Wissenschaften vollzogen hat bzw. vollziehen könnte. 9.2. Anwendungsbereiche: Wie kann eine Naturalisierung
durchgeführt werden?
Wie lässt sich eine Naturalisierung konkret umsetzen? Im Folgenden werden nur einige wenige Anwendungsbereiche vorgestellt, die erkennbar machen, dass es produktiv sein kann, die Phänomenologie in Forschungen einzubeziehen, die sich innerhalb eines naturalistischen Rahmens bewegen. Überblickt man die rezente Forschungsdebatte, ist bemerkenswert, dass die Devise, die Phänomenologie bzw. das Phänomenale in der Erlebnisweise von Subjekten hinreichend zu würdigen, mittlerweile zu einem gängigen Ziel – ja zu einem Topos – geworden ist, da man den lange Zeit vorherrschenden materialistischen Reduktionismus in der Erklärung des Mentalen hinter sich lassen möchte. So widmen sich Wissenschaftler:innen traditionellen Themen der Phänomenologie mit neuen konzeptuellen und empirischen Methoden (vgl. hierzu Albertazzi 2018), z. B. der perspektivischen Natur der Wahrnehmung (Green/Schellenberg 2018), den Wahrheitsbedingungen von Wahrnehmung (Mausfeld 2015; Singer 2015), dem Stellenwert der Psychophysik für die Analyse psychologischer Daten (Hoffman 2013), den qualitativen Aspekten der Erfahrung (Pont 2013; Fleming 2014) oder den ›neuronalen Korrelaten des Bewusstseins‹ (Metzinger 2000). Auf der Suche insbesondere nach diesen neuronalen Korrelaten, wie sie in den letzten Jahrzehnten in der Hirnforschung eine prominente Rolle spielen, kann sich die Phänomenologie als Heuristikum eignen, da eine solche Forschung einen (intuitiven) Begriff von Bewusstsein zunächst voraussetzen muss und die Phänomenologie einen differenzierten Beschreibungsapparat für dieses Explanandum zur Verfügung stellt, insofern sie gerade keine willkürliche idiosynkratische Introspektion ist. Fragt man in phänomenologischer Einstellung nach den Bedin-
III.9. Naturalisierung der Phänomenologie
143
gungen der Möglichkeit von Erfahrung, so sind alle faktischen Einzelerlebnisse, die als Beispiele herangezogen werden, kontingente Varianten einer invarianten – eidetischen – Struktur. Der Prozess der Variation ( C.II.3) ermöglicht, von den unwesentlichen Elementen zu abstrahieren und sich der Wesensstruktur des jeweiligen Typs intentionaler Erlebnisse graduell anzunähern. Wissenschaftlich kann mit phänomenologischen Wesensaussagen dann gearbeitet werden, wenn sie sich in Form von Hypothesen formulieren lassen, die intersubjektiv überprüfbar sind, gerade weil sie sich nicht auf die psychologischen Erlebnisse als die, welche sie jeweilig sind und die als solche immer nur ein bestimmtes Subjekt haben können, beziehen, sondern auf die konstitutiven Elemente, die jedem überhaupt möglichen Erlebnis einer bestimmten Art innewohnen müssen. Nach Shaun Gallagher (2012, 33 ff.) gibt es drei Möglichkeiten, wie die Phänomenologie in kognitionspsychologische und neurowissenschaftliche Experimente integriert werden kann: (1) Der erste Weg führt über eine Formalisierung phänomenologischer Strukturen, die es erlaubt, diese eindeutig zu formulieren und voneinander zu unterscheiden. Eduard Marbach (1993) hat eine solche formale Darstellungsweise entwickelt, die mit Blick auf die neuronalen Korrelate des Bewusstseins eingesetzt werden kann. Wahrnehmung, Fantasie und Bildbewusstsein können hier als Beispielbereich herangezogen werden. Eine Studie von Kosslyn et al. (2001) hat gezeigt, dass die neuronalen Korrelate dieser Bewusstseinsmodalitäten sehr ähnlich sind. Geht man ausschließlich von der messbaren Aktivierung von Hirnarealen (durch EEG- oder fMRT-Verfahren) aus, so ist es schwierig zu bestimmen, ob ein Subjekt beispielsweise einen Apfel unmittelbar vor sich sieht, ihn sich mit geschlossenen Augen vorstellt oder ihn etwa in einem Stillleben erblickt. Obgleich hierin vielleicht ein empirischer Beleg für die Fundiertheit der visuellen Vergegenwärtigungen in visuellen Wahrnehmungen und somit die Kontinuität der sinnesspezifischen Intentionalitätsformate gesehen werden kann, besteht der offensichtliche Mangel dieser Herangehensweise darin, dass die Erlebnisse isoliert betrachtet und so die phänomenologischen Unterschiede in den intentionalen Strukturen verdeckt werden. Nimmt man diese Unterschiede jedoch ernst und hat eine eindeutige Formulierung für sie, dann kann man versuchen, die zu untersuchenden kognitiven Leistungen gemäß den einzelnen Aspekten der Aktkomplexionen genauer zu untersuchen und so eventuell auch auf neuronaler Ebene zu differenzierteren Beschreibungen zu gelangen. (2) Die zweite Möglichkeit besteht in einem Training von Proband:innen in der phänomenologischen Betrachtungsweise (diese Methode wurde unter anderem in Francisco Varelas ›Neurophänomenologie‹ eingesetzt). Proband:innen können beispielsweise instruiert werden, ihre Meinungen und naiven Theorien über die Domäne des Experiments sowie vor allem über ihre Erfahrungen im Experiment auszuklammern (Epoché; C.II.2), durch mehrere Versuchsdurchläufe eine gewisse Intimität mit der Domäne aufzubauen, die ihnen Sicherheit für ihre Beschreibungen vermitteln soll, und gezielte deskriptive reports der bewussten Zu-
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B. Historische Entwicklungen
stände zu geben, die sie im Experiment erlebt haben. In einer Studie von Lutz et al. (2002), in der versucht wurde, die Korrelationen von neuronalen Synchronitätsmustern und bewussten Zuständen anhand der verbalen Berichte von phänomenologisch instruierten Proband:innen zu erschließen, wurde die Frage gestellt, in welchem Zusammenhang Aufmerksamkeit, spontane Gedanken und kognitive Strategien bei der Ausführung visueller tasks stehen. Auf der Seite des subjektiven Erlebens erwartete man Ablenkungen unterschiedlicher Art, die als Rauschen bestimmt werden und die man durch statistische Verfahren auszusondern versucht. Aufgabe der Proband:innen war es, einen Knopf zu drücken, sobald eine dreidimensionale Illusionsfigur vollständig auf einem Bildschirm zur Erscheinung gekommen ist. Danach sollten sie ›phänomenologisch‹ über ihr Erleben berichten und den Einfluss von Distraktoren, Interferenzen und Strategien evaluieren. Kritisch kann hierzu aus phänomenologischer Sicht freilich bemerkt werden, dass einfache Anweisungen und das Erlernen eines deskriptiven Vokabulars im begrenzten Rahmen der Vorbereitung auf ein Experiment nicht ausreichen können, um Proband:innen zu einem echten phänomenologischen Schauen zu befähigen. Anstatt mit phänomenologischen Deskriptionen hat man es hier eher mit phänomenologisch verfeinerten Introspektionen zu tun. Unabhängig von der philosophischen Erkenntnistiefe kann solche eine Verfeinerung gleichwohl einen Mehrwert für die Forschung mit sich bringen, was sich vor allem auch im Bereich der Psychiatrie zeigt, wo phänomenologisch informierte Fragebögen zum Einsatz kommen (Parnas et al. 2005; Sass et al. 2017). (3) Ohne derartiges Training von Proband:innen können phänomenologische Prämissen bereits im Design von Experimenten einbezogen werden (diese Methode entspricht einem »front-loading« von phänomenologischen Einsichten in das experimentelle Design; Gallagher/Sørensen 2006, 119). Dies geschieht dann, wenn man eine phänomenologische Unterscheidung zugrunde legt und auf neuronaler oder behavioraler Ebene nach ihren Korrelaten sucht. So nahmen sich beispielsweise die Experimente von Farrer und Frith (2001) und von Chaminade und Decety (2002) die leibphänomenologische Unterscheidung zwischen sense of ownership und sense of agency zur Grundlage ihrer Untersuchung. Das erste phänomenale Faktum, der Selbstbesitz oder die Zugehörigkeit etwa einer Bewegung, bezeichnet den Zustand, in dem das Subjekt sich bewusst ist, dass es das Subjekt dieser Bewegung ist. Das zweite Faktum betrifft den Zustand, in dem das Subjekt sich als Urheber seiner Bewegung erlebt. Im ersten Fall bin ich derjenige, der sich in Bewegung befindet, aber damit ist noch nicht gesagt, dass ich mich dabei selbst bewege bzw. in Bewegung gesetzt habe. Im zweiten Fall initiiere ich meine Bewegung selbst, bin der Urheber und somit der eigentliche ›Agent‹. Beide Experimente machten sich diese Differenzierung zunutze und suchten explizit nach den korrespondierenden Aktivationsmustern in den entsprechenden Hirnarealen. Dabei konnten sie zeigen, dass es einen Kontrast gibt zwischen der Aktivierung im rechten inferio-parietalen Kortex bei der Wahrnehmung von Handlungen, die nicht vom Subjekt selbst, sondern von anderen verursacht wer-
III.9. Naturalisierung der Phänomenologie
145
den, und der bilateralen Aktivierung in der anterioren Insula bei der Wahrnehmung von selbstgesteuerten und selbstverursachten Handlungen. In derartigen Untersuchungen sind also phänomenologische Differenzierungen auf Bewusstseinsebene der Ausgangspunkt für eine Analyse subpersonaler Mechanismen, die andernfalls vermutlich unentdeckt blieben. 9.3. Konklusion
Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Bestrebungen, das Bewusstsein und die Phänomenologie zu naturalisieren, keineswegs eine ›Wendung‹ in dem Sinne bewirkt haben, dass sich das Selbstverständnis der Phänomenologie grundlegend verändert hätte oder eine Vielzahl von Phänomenolog:innen sich einem naturalistischen Weltbild verschrieben hätten. Vielmehr sind Differenzen zwischen transzendentaler und naturalistischer Sichtweise, zwischen unterschiedlichen Naturverständnissen und Forschungsmethoden klarer hervorgetreten. Die Wissenschaftsfeindlichkeit früher Phänomenolog:innen hat deutlich nachgelassen und so haben sich neue Forschungsfelder aufgetan, die im Dialog zwischen einer »angewandten Phänomenologie« (Zahavi 2019) und den Wissenschaften bearbeitet werden und zu neuen Erkenntnissen im Sinne einer »wechselseitigen Aufklärung« (Gallagher 1997) führen können. Dass der Erkenntnisgewinn in der Tat beidseitig sein kann und sein sollte, heißt, dass die Phänomenologie nicht nur gleichsam als Hilfswissenschaft und Beschreibungsmethode für die empirischen Wissenschaften herangezogen wird, sondern dass sie sich selbst auch in ihrer deskriptiven Arbeit von den Ergebnissen dieser Wissenschaften inspirieren und gegebenenfalls korrigieren lässt. In unterschiedlichen Bereichen hat dies bereits zu phänomenologischen Analysen geführt, die Beschreibungen beinhalten, die nicht aus der phänomenologischen Reflexion allein hätten gewonnen werden können, so z. B. bei der Thematisierung des naturalen ›Ursprungs‹ des Bewusstseins (Bitbol 2019), bei psychopathologischen Schilderungen verzerrter Zeiterfahrung (mit Implikationen für die Beschreibung der Strukturen des Zeitbewusstseins; Fuchs 2013b), bei entwicklungspsychologischen Befunden zu den Stufen der Intersubjektivität (Reddy 2008) oder bei neurologischen Studien zum Selbsterleben bei Phantomgliedern (Breyer 2018) – ein Phänomen, das schon Merleau-Ponty interessierte. Ertragreicher und zukunftsweisender als die alten metaphysischen Grabenkämpfe (Naturalismus vs. Transzendentalismus, Monismus vs. Dualismus usw.) scheint vor diesem Hintergrund daher eine zwar methodisch strenge, aber zugleich empirieoffene phänomenologische Auseinander setzung mit den Wissenschaften des Geistes (wie der Psychologie, Kognitionswissenschaft und Neurologie), um dessen Prozesse und Leistungen in ihrer Komplexität hinreichend erfassen zu können. Wie diese Maxime umgesetzt wird, welche Aufgabenteilungen und Synthesen möglich sind und welche Gegenliebe schließlich von den Wissenschaften entgegengebracht wird, hängt von vielerlei forschungspolitischen, infrastrukturellen und persönlichen Kontingenzen ab.
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B. Historische Entwicklungen
Dass sich aber die Anstrengung, solche kollaborativen Vorhaben zu betreiben, lohnt, sollten die genannten Beispiele gezeigt haben.
Thiemo Breyer
C. Werkzeugkasten
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C. Werkzeugkasten
I. Grundkonzepte 1. Korrelation Phänomenologie als Korrelationsforschung
Korrelation darf – neben dem weit öfter bemühten Begriff Intentionalität ( C.I.2) – mit einem gewissen Recht als begrifflicher Dreh- und Angelpunkt aller phänomenologischen Herangehensweisen angesehen werden. Obwohl sich die Phänomenologie geradezu devisenartig einer ›Rückkehr zu den Sachen selbst‹ verschreibt, ist zugleich zu betonen, dass es dabei, neben den Sachen selbst, immer auch um eine Frage nach dem Zugang zu diesen Sachen geht. Was eine Sache ist (wobei mit Sache nicht nur materielle Dinge, sondern auch Personen, Tatsachen, Ereignisse, Stimmungen usw. gemeint sind), kann nicht beantwortet werden, ohne zugleich darauf zu achten, wie sich die Sache darstellt. Aus phänomenologischer Perspektive wäre es anmaßend bis fahrlässig, eine Theorie über einen bestimmten Gegenstandsbereich aufzustellen, ohne dabei immer auch mit zu thematisieren, wie die untersuchten Dinge überhaupt zu Gegenständen werden. Phänomenologische Ansätze orientieren sich ganz allgemein an der Frage von ›Gegenständlichkeit‹ ( C.I.5): Sie sind gegenstandsbezogen – darin liegt der Sinn von Intentionalität –, reflektieren jedoch auch stets mit, wie es zur Herausbildung von Gegenständlichkeit kommt. Anders als die herkömmlichen gegenstandsbezogenen Wissenschaften, die sich primär über die Erhebung relevanter Merkmale des jeweilig sachlich bestimmten Bereichs definieren, ist die Phänomenologie demnach im Kern ein reflexives Verfahren; geht sie doch davon aus, dass man über Sachen immer nur in Gestalt von ›Gegen-Ständen‹ reden kann und damit von Sachen, die uns in irgendeiner Weise entgegentreten bzw. entgegenstehen. Auch die sogenannten bewusstseinsunabhängigen Gegenstände sind uns in irgendeiner Weise gegeben, und sei es auch nur als errechnete, vermutete oder bloß ersonnene Gegenstände. Während sich die Güte vieler wissenschaftlicher Verfahren daran misst, dass sie bei der Erhebung von Tatsachen jene Verzerrungen korrigieren, die durch diesen jeweiligen perspektivischen Zugang entstehen, gehört für die Phänomenologie die Perspektivität des Zugangs konstitutiv dazu und ist aus dem Gesamtergebnis nicht zu tilgen. Bei Husserl erhält diese Reflexivität, der zufolge eine Rede über dasjenige, was der Fall ist, nicht von der Art und Weise abstrahieren kann, wie uns dieses Etwas überhaupt gegeben ist, einen prägnanten Namen: Korrelation. Unter Korrelation versteht Husserl die Beziehung zwischen Bewusstseinsakt und Bewusstseinsgegenstand. Phänomenologie sei »Korrelationsforschung« (Hua I, 121), d. h., sie untersuche die »wesentliche Korrelation von Erscheinen und Erscheinendem« (Hua II, 14) bzw. in erkenntnistheoretischer Absicht die »Korrelation von Erkenntnisphänomen und Erkenntnisobjekt« (Hua II, 12; Hua XXV, 15, 17). Auch Scheler hat die Bedeutung der Korrelation für die Phänomenologie hervorgehoben, indem er speziell gegen abstrakte Wertetheorien einwendet, auch Werte
I.1. Korrelation
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könnten erfahren bzw. erlebt werden. Den untrennbaren Zusammenhang »zwischen dem Wesen des Gegenstandes und dem Wesen des intentionalen Erlebnisses« müsse man als den »höchsten Grundsatz der Phänomenologie« anerkennen (Scheler 1916, 272). Die welthaft erscheinenden Dinge werden in phänomenologischer Einstellung ( C.II.1) durch die methodischen Schritte der Epoché ( C.II.2) und der Reduktion ( C.II.4) als reine »Bewußtseinskorrelate« (Hua XXV, 78) aufgefasst, die ihren Index der bewusstseinstranszendenten Realität verloren haben und ausschließlich unter Berücksichtigung des Sinns bzw. im Hinblick auf das Wie ihrer Gegebenheit für das auffassende Bewusstsein analysiert werden. Eine unmittelbare Konsequenz dieser Einsicht in die Korreliertheit von Gegenständen und ihrer Erscheinungsweisen ist methodologischer Art und findet in dem auch als ›Prinzip aller Prinzipien‹ bekannten Vorsatz ihren Niederschlag, nämlich […] daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der »Intuition« originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt. (Hua III/1, 51, § 24)
Zum einen ist in dieser Verfahrensregel das Ideal der Evidenz ausgedrückt, das gegen mögliche skeptische Einwände als zweifelssichere Erkenntnisquelle in Stellung gebracht wird, zum anderen aber auch eine gewisse Selbstbeschränkung des Untersuchungsfeldes: In phänomenologischer Hinsicht soll bzw. kann nur solches erforscht werden, was in einer gewissen Bezogenheit auf ein bewusstes Ich in Erscheinung tritt. Anders als bei symbolisch vermittelten Referenz auf Gegenstände, die von solchen Verweisen völlig unberührt bleiben, ist bei der anschaulichen Gegebenheit das jeweils Erscheinende von der Erscheinungsweise nicht ganz loszulösen. Es handelt sich bei Husserl um eine Einsicht bereits frühen Datums, die im Umkreis seiner Beschäftigung mit logisch-mathematischen Rekursionen zu verorten ist, in den späteren Jahren allerdings eine noch viel grundsätzlichere Relevanz erhält. In der Krisis ist dann explizit von einem »universalen Korrelationsapriori« (Hua VI, § 46) die Rede. Im Nachgang hat Husserl diese Einsicht in die korrelative Struktur von Bewusstseinsformen als einen regelrechten existenziellen Einschnitt beschrieben, den er selbst auf das Jahr 1898 datiert: Der erste Durchbruch dieses universalen Korrelationsapriori von Erfahrungsgegenstand und Gegebenheitsweisen (während der Ausarbeitung meiner »Logischen Untersuchungen« ungefähr im Jahre 1898) erschütterte mich so tief, daß seitdem meine gesamte Lebensarbeit von dieser Aufgabe einer systematischen Ausarbeitung dieses Korrelationsapriori beherrscht war. (Hua VI, 169, Anm.).
Während der Gedanke, wonach die Möglichkeitsbedingung von Erkenntnis weniger in spezifischen Anschauungsformen als in Relationen zu suchen sei, durchaus ein gewisses Novum darstellt, lohnt es, sich noch einmal den historischen Kontext vor Augen zu führen. Denn dass es bei der Erforschung von Bewusst-
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C. Werkzeugkasten
seinsstrukturen um Beziehungsstrukturen geht, ist als Gedanke so völlig bahnbrechend nicht. Zu Husserls Zeiten verteidigen die empirischen Psychologen, aber auch namhafte Vertreter des Neukantianismus vergleichbare Positionen. Natorp unterscheidet etwa in seiner Allgemeinen Psychologie nach kritischer Methode drei Momente des Bewusstseins: 1. das Etwas, das einem bewußt ist; 2. das, welchem etwas oder das sich dessen bewußt ist; 3. die Beziehung zwischen beiden, daß irgend etwas irgendwem bewußt ist. Ich nenne, lediglich der Kürze der Bezeichnung halber, das Erste den Inhalt, das Zweite das Ich, das Dritte die Bewußt heit. (Natorp 1912, 27)
Als er Husserls Ansatz vor dem Hintergrund von Natorps neukantianischer Bewusstseinslehre erläutert, hat Heidegger zwei wesentliche Unterschiede herausgearbeitet (GA 24, 220–224). Erstens gehe Natorp davon aus, dass Bewusstheit ein »unreduzierbar Letztes« sei, das in dieser Hinsicht auch keine Modalisierung mehr erlaubt (Natorp 1912/2013, 29). Doch genau das nimmt Husserl an: Bewusstheit ist nicht aus einem Guss, sondern fächert sich in eine Vielzahl verschiedener Aktbezüge auf (wahrnehmender, erinnernder, imaginierender, wünschender, denkender usw. Art), sodass man sagen kann: so viele Bewusstseinsformen, so viele Gegenständlichkeitsformen. Zweitens unterscheide sich der phänomenologische Ansatz von dem neukantianischen dadurch, dass es sich hierbei nicht um irgendeine Art von ›Vermittlung‹ zwischen Ich und Gegenstand handelt, die sich zwischen die beiden Pole der Relata schiebt und sie füreinander kompatibel werden lässt. Dass die Relation zwischen Subjekt und Objekt als ›Korrelation‹ zu verstehen ist, verabschiedet auch die Vorstellung von Bewusstsein als vermittelndem ›Schematismus‹. Die Bezogenheit ist hier originär und geht jeder vermittelnden Leistung voraus. In diesem Sinne könnte man festhalten, dass in der Phänomenologie die Korrelation Vorrang gegenüber den Relata hat. Diesen Sachverhalt hat Emmanuel Levinas, und zwar bereits sehr früh, hervorgekehrt und unterstrichen. In der husserlschen Phänomenologie, so Levinas, »ist die Beziehung auf den Gegenstand das ursprüngliche Phänomen und nicht etwa ein Subjekt und ein Objekt, die sich aufeinander zubewegen« (Levinas 1929, 243). Während mit dem korrelativen Ansatz bereits an den Logischen Untersuchungen eine Rekonzeption von Subjekt und Objekt nötig wird, radikalisiert sich »Korrelationsproblematik« (Hua VI, 237) besonders in den späteren Texten zur Lebenswelt ( C.I.13), wo Husserl gar von einer »transzendentalen Korrelation von Welt und Weltbewußtsein« spricht (Hua VI, 154). Dabei bleibt zu berücksichtigen, dass die Welt zwar – um die Ausdrucksweise der sechsten Cartesianischen Meditation zu bemühen, mit deren Redaktion Husserl Eugen Fink beauftragte – das »Wohin« des Konstitutionsprozesses darstellt, das transzendentale Ego aber nach wie vor das »Wovon-aus« (Hua Dok II, 49). Für viel Diskussion sorgte die Frage, inwiefern in der Herausstellung der transzendentalen Subjektivität als Ursprung und Boden der Konstitution nicht das Prinzip der Korrelation missachtet wird, das keinem der beiden Bezie-
I.1. Korrelation
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hungspole den Vorrang gibt. Mit Paul Ricœurs treffender Diagnose lässt sich beobachten, wie im Zuge der transzendentalen Wende aus einer Phänomenologie des Erscheinens ›für mich‹ eine Phänomenologie der Erscheinungskonstitution ›aus mir‹ wird (Ricœur 1975a, 68). Denn tatsächlich steht und fällt alles damit, wie man diese subjektive Seite versteht, die diese Erscheinungen nicht nur im Sinne einer empiristischen Philosophie aufnimmt, sondern auch erscheinen lässt bzw. ›konstituiert‹. Phänomenologen wie Eugen Fink und Jan Patočka, die sich der ›kosmologischen Wende‹ ( B. III.7) zurechnen lassen, haben entsprechend Vorschläge gemacht, wie Husserls Transzendentalismus der Cartesianischen Meditationen entgegenwirkt werden kann. Anstatt das transzendentale Ego als Scharnier der Korrelation ins Feld zu führen, kommt laut Patočka (1936/1990; 1970) in einer asubjektiv gedachten Phänomenologie der Welt selbst diese Rolle zu, während Fink seinerseits das Erscheinen als ›absolutes Medium‹ verstanden wissen will (Fink 1958, 118–130). Bei Heidegger wird die Korrelation radikal verzeitlicht, und zwar in der Frühphase im Sinne eines »zeitlichen Aprioris«, welches »[f]rüher als jedes mögliche Früher« sei (GA 24, 463), und im Spätwerk als »Ereignis« gedacht wird ( B.I.4). Ricœur wiederum übersetzt die Zeitlichkeitsthematik in eine »Korrelation« der Zeitlichkeit historischer Gegenstände und der nötigen Narrativierung ihres Verlaufs, um dies für ein menschliches Bewusstsein nachvollziehbar werden zu lassen (Ricœur 1983/1988, 87). Wichtige neue Akzente erhält die Korrelationsproblematik dort, wo sie intersubjektiv gewendet wird. Von einer rein transzendentalphilosophischen Formalanforderung wandelt sich die Korrelation in ein Konzept davon, dass Sinn nur als Bezogenheit – und zwar intersubjektive Bezogenheit – verstanden werden kann. Für Hannah Arendt etwa ist Merleau-Pontys Beschreibung eines ›Wahrnehmungsglaubens‹ aus der Phänomenologie der Wahrnehmung zwar völlig zutreffend – die Tatsache also, dass wir gerade in der jeweiligen perspektivischen Wahrnehmungserfahrung davon ausgehen, dass das, was wir wahrnehmen, auch jenseits dieser Perspektiven real existiert –, diese Beglaubigung findet allerdings immer schon im Austausch mit anderen wahrnehmenden Subjekten statt. Es gibt dementsprechend nicht nur eine Korrelation zwischen der Existenz des Wahrnehmungsgegenstandes und seiner Gegebenheitsweise, sondern diese Korrelation besteht selbst wiederum durch die Korrelation zwischen individuellen Akten und einem gesellschaftlich geteilten Horizont der Verständigung: »Unser ›Wahrnehmungsglaube‹ (Merleau-Ponty), unsere Gewißheit, daß das Wahrgenommene unabhängig vom Wahrnehmungsakt existiert, hängt in beiden Fällen völlig davon ab, daß der Gegenstand auch anderen als solcher erscheint und von ihnen anerkannt wird.« (Arendt 1979, 55) Bei Emmanuel Levinas wird die Korrelation ebenfalls intersubjektiv gedacht, allerdings weniger von einer Politik der Gemeinschaft als vielmehr von einer Ethik des anderen Menschen her. Für Levinas ist das Ich nicht nur immer schon auf den Anderen bezogen, sondern erfährt erst vom Anspruch des Anderen her, der sich im ›Antlitz‹ bekundet, überhaupt
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C. Werkzeugkasten
so etwas wie die Möglichkeit von Bedeutsamkeit. Ich und Du als ›korrelativ‹ zu definieren, wäre demnach noch zu symmetrisch: Der Andere wird nie zum Phänomen, sondern kommt jeder Meinung und Intention immer schon zuvor ( B.III.5). Alterität durchbricht damit Levinas (1964) zufolge selbst noch die Gegenläufigkeit der Korrelation, und in der Äußerlichkeit des Antlitzes bricht sich ein ›Außen‹ Bahn, das nicht mehr in die klassischen Konstitutionsmodelle eingegliedert werden kann. Schon bei Sartre hieß es: »[M]an begegnet dem Anderen, man konstituiert ihn nicht« (SN, 452), und als Begegnung im starken Sinne lässt sie einen selten unberührt. Neben einem ›Mich‹ der Wahrnehmung, das in der Meinheit das Spezifische des erstpersonalen Zugangsbewusstseins verortet (Wiesing 2015), gibt es entsprechend auch ein ›Mir‹ der Affizierungen und Widerfahrnisse (Waldenfels 2002; 2019), die wiederum eine scharfe Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden problematisch werden lassen. Beim späten Merleau-Ponty schließlich wird die Korrelation im Sinne einer universellen Reversibilität beschrieben: In der von Husserl in den Ideen II beschriebener Szene, bei der die linke Hand die rechte berührt und ich mich als zugleich berührend und berührter erfahre, ist ein Grundgedanke der ontologischen Wende der späten 1950er-Jahre vorgezeichnet: Die Natur sinnlicher Körper ist von meiner eigenen nicht grundverschieden; nur solches kann beanspruchen, auch tatsächlich wahrnehmend zu sein, was selbst sinnlich verfasst und damit prinzipiell von anderen und anderem wahrgenommen werden kann. Sinnlichkeit setzt Reversibilität voraus im Sinne eines Sehend-sichtbar-Seins bzw. Wahrnehmend-Wahrgenommen-Seins all dessen, was eine sinnliche Welt ausmacht (Alloa 2012). In der neueren Diskussion hat vor allem Renaud Barbaras die Bedeutung des Korrelationsaprioris für die Phänomenologie herauspräpariert. Laut Barbaras (2008; 2011) lässt sich die gesamte Geschichte der Phänomenologie anhand der Frage rekonstruieren, wie die jeweiligen Autor:innen mal mehr diesen und mal mehr jenen Pol der Korrelation betont haben, was abermals zu Vereinseitigungen und Reifizierungen führte. Barbaras’ (2004) Husserl-Interpretationen haben wiederum Einfluss auf Quentin Meillassoux (2006/2008) gehabt, der in seinem Buch Nach der Endlichkeit der Phänomenologie sowie der nachkantischen Philosophie allgemein einen unausrottbaren ›Korrelationismus‹ vorwirft. Mit dieser provokanten These, der Meillassoux mitsamt anderen Vertretern des sogenannten ›spekulativen Realismus‹ ein Denken der Welt ohne denkendes Sein entgegenhalten will, wurde auch innerhalb der Phänomenologie eine fruchtbare Selbstreflexion in Gang gesetzt. Festgehalten werden kann abschließend, dass das Korrelationsapriori jedenfalls einerseits die Phänomenologie in Richtung eines naiven Realismus abgrenzt, der die eigenen Erkenntnisbedingungen vergisst, und andererseits in Richtung eines inkonsistenten Relativismus. Dass sich etwas immer nur in einer bestimmten Hinsicht darstellt, sei keine Bestätigung dafür, dass jeder die Welt anders sieht, sondern vielmehr dafür, dass das Perspektivische ein Grundzug von Phänomenalität darstelle. Zurückgewiesen werde vielmehr die
I.2. Intentionalität
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Möglichkeit einer selbstvergessenen Rede über ›Dinge an sich‹: Noch das Dingan-sich ist es für uns. Emmanuel Alloa
2. Intentionalität Bewusstsein als Akt
›Intentionalität‹ ist ein philosophischer Terminus, der die Bezogenheit des menschlichen Geistes auf die Welt und auf Gegenstände aller Art bezeichnet. Historisch lässt er sich bis in die mittelalterliche Scholastik zurückverfolgen. In der modernen Philosophie ist es insbesondere Franz Brentano, der sich den Begriff zu eigen macht. Sein Schüler Edmund Husserl greift ihn auf und etabliert ihn als zentralen Bestandteil seiner Phänomenologie. Mit Intentionalität bezeichnet Husserl die Wesensart jeglichen Bewusstseins überhaupt, immer Bewusstsein von etwas zu sein, d. h., auf eine jeweilige Gegenständlichkeit gerichtet zu sein (z. B. Hua XIX/1, §§ 9–21; III/1, § 36; I, 79). Als Referenzpunkt der intentionalen Bezugnahme kommen dabei nicht nur Wahrnehmungsobjekte infrage, die in unmittelbarer Selbstgegebenheit vor uns stehen, sondern ebenso Fantasiegebilde, Erinnerungen, Sachverhalte, abstrakte Ideen und kategoriale Urteile ( C.I.5). Je nach Art des Gegenstands ist auch der Modus der Bezugnahme auf ihn unterschiedlich gelagert, womit sich für Husserl das groß angelegte Programm einer intentionalanalytischen Korrelationsforschung verbindet ( C.I.1). Etwas wahrnehmen heißt beispielsweise, auf etwas bezogen zu sein, das sich in seiner Jeweiligkeit, so und nicht anders zeigt und dabei den Index einer bewusstseinsexternen Realität in sich trägt. Sichtbare Gegenstände oder Ereignisse sind im terminologischen Sinne ›intendiert‹, womit – entgegen der alltagssprachlichen Verwendung – weniger eine Absicht gemeint ist als vielmehr die gespannte Bezogenheit (intentio) auf etwas, das über die Immanenz des Erfahrungsbewusstseins hinausweist. Eine Absicht zu hegen und ihr entsprechend zu handeln, ist dem technischen phänomenologischen Verständnis gemäß bereits ein hochstufiges und komplexes Aktgefüge, das perzeptive, prospektive, volitive und leibliche Vorgänge involviert. Auf einer basaleren Ebene lassen sich analytisch einzelne Akte isolieren, wie etwa der Akt des Sehens von etwas. Zu sagen, jedes Sehen weise eine intentionale Struktur auf, besagt dann zunächst, dass jedes Sehen perspektivisch orientiert und referenziell gerichtet ist. Andere korrelative Strukturen ergeben sich bei den intentionalen Erlebnissen des Erinnerns, Erwartens oder Imaginierens, ferner bei der Fremdwahrnehmung, also der Erfahrung anderer Subjekte als beseelter Wesen mit eigener Ichperspektive ( C.I.8; C.I.11). In den unterschiedlichen Phasen seines Denkens differenziert Husserl den Intentionalitätsbegriff aus. Bei der Ausarbeitung der Logischen Untersuchungen hebt er hervor, dass intentionale Akte auch nichtintentionale Bestandteile enthalten wie z. B. Empfindungen. Diese tragen zur Konstitution des jeweiligen in-
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C. Werkzeugkasten
tentionalen Erlebnisses bei, entsprechen aber selbst keinen Gegenständen: »Sie bauen den Akt auf, ermöglichen als die notwendigen Anhaltspunkte die Intention, aber sie sind nicht selbst intendiert, sie sind nicht die Gegenstände, die im Akt vorgestellt sind. Ich sehe nicht Farbempfindungen, sondern gefärbte Dinge, ich höre nicht Tonempfindungen, sondern das Lied der Sängerin usw.« (Hua XIX/1, 387) Diese Auffassung ändert sich bei Husserl später im Rahmen der Entwicklung einer genetisch-phänomenologischen Analysemethode, wo der vorintentionalen Dimension die Funktion von »passiven Intentionen« (Hua XI, 76) zukommt ( C.II.5). Eine wichtige frühe Unterscheidung in der phänomenologischen Analyse ist diejenige zwischen »Qualität und Materie« (Hua XIX/1, 426), die zusammen das intentionale Wesen eines jeden Akts ausmachen. Die Materie bestimmt den Gegenstand in seiner jeweiligen Gegebenheit (z. B. ein Haus, dessen Vorderseite sichtbar ist), die Qualität den Modus der Bezugnahme auf diesen Gegenstand (z. B. die Wahrnehmung dieses Hauses oder die Erinnerung an es). Eine Weiterentwicklung dieser Konzeption findet dann in den Ideen I statt, wo Husserl zwischen ›Noesis‹ und ›Noema‹ unterscheidet, die im Rahmen des universalen Korrelationsapriori die aufeinander bezogenen akt- und gegenstandsspezifischen Momente des intentionalen Bezugsrahmens darstellen (Hua III/1, 188, 202; C.I.1). In der Analyse des Zeitbewusstseins ( C.I.7) als grundlegender Ebene der Konstitution von Gegenständlichkeiten überhaupt führt Husserl eine weitere Differenzierung ein, nämlich zwischen »Längsintentionalität« und »Querintentionalität« (Hua X, 81 f.). Die Längsintentionalität entspricht dem Zusammenhang von aufeinanderfolgenden Bewusstseinserlebnissen, der dadurch gestiftet wird, dass das gerade Erlebte nicht gänzlich aus dem Bewusstsein verschwindet, sondern zu einem gewissen Grad wachgehalten wird. Die Kontinuität des Erlebens verdankt sich dieser retentionalen Leistung, wobei man gleichsam ›längs‹ das Absinken von Empfindungen nachverfolgen kann. Die Querintentionalität hingegen bezeichnet das inhaltliche Gerichtetsein auf einen und denselben Gegenstand über eine bestimmte Zeit hinweg, z. B. im aufmerksamen Verfolgen einer Melodie als solcher oder die Betrachtung einer Landschaft als Ganzer. Die Leistung der passiven Synthese wird auch in der Begrifflichkeit der »fungierenden Intentionalität« ausgedrückt, die der »Aktintentionalität« zugrunde liegt; Eugen Fink bestimmt diese operative Intentionalität als »die lebendig sinnbildende, sinnleistende, sinnverwandelnde Funktion des Bewusstseins« (Fink 1939/1966, 219). Ferner ist für Husserl die Gliederung des Bewusstseinsfeldes in fokale Themen und Horizonte, in die diese eingebettet sind, von Bedeutung. Jeder Gegenstand, den wir wahrnehmen, erscheint vor dem Hintergrund von Mitgegebenheiten (also anderen Dingen, situationalen und räumlichen Konfigurationen usw.). Der Begriff der »Horizontintentionalität« (Hua VI, 240) bezeichnet diese Grundstruktur der wechselseitigen Bezogenheit von Thema und Kontext bzw. Hervor-
I.2. Intentionalität
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gehobenem und Hintergrund. In Form von »attentionalen Wandlungen« – als »korrelative noetische und noematische Modifikationen« (Hua III/1, 231) – bewegt sich die Aufmerksamkeit als Motor der Erschließung von perzeptiven Horizonten hin und her, fokussiert mal das eine, mal das andere, und lässt sich von Reizen affizieren (vgl. Breyer 2011). Doch nicht nur im gegenständlichen Sinne tragen Hintergründe zu unserem aktuellen Erlebnis bei, es spielen auch lebensweltliche, autobiografische und kinästhetische, d. h. auf leibliche Bewegungsmöglichkeiten verweisende Horizonte eine Rolle. Die Intentionalitätsidee wird von Husserl auch über den cartesianischen Ausdruck cogito eingeführt, mit dem er das spontane Gerichtetsein des Bewusstseinslebens prägnant zu konturieren versucht. Damit weist er auf geistige Leistungen hin, die nicht einfach als Vorstellungen-von-etwas zusammengefasst werden dürfen. In der Sphäre des erkennenden Tuns kann man sich leicht veranschaulichen, wie man sich im lebendigen Umgang mit der Umwelt auf unterschiedliche Weise theoretisch auf etwas richtet: Man vernimmt, erfasst, betrachtet, expliziert und macht sich einen Begriff von Sachverhalten. Situationen oder Sachen werden verglichen und unterschieden, Kenntnisse werden erworben, Zusammenhänge daraus gefolgert oder vorausgesetzt. Dinge werden gezählt und zählend zusammengenommen, Urteile werden gebildet und artikuliert. Darüber hinaus waltet diese Form gerichteter Spontaneität auch im Gemütsleben, so etwa, wenn einem etwas besonders gut gefällt oder auch missfällt, wenn man sich über etwas freut oder grämt, sich einer Hoffnung hingibt oder um etwas fürchtet usw. Gerichtet sind auch das Begehren sowie das entgegengesetzte Meiden oder Fliehen vor etwas. Schließlich treten diese spontanen Akte auch im willentlichen Leben hervor: in Entschlüssen und Handlungen (die umgangssprachlich schließlich auch ›Akte‹ genannt werden). Hinzu kommen die unterschiedlichen Formen des Aussagens, die Sprechakte und die sozialen Akte. All diese Vorkommnisse des intentionalen Lebens werden von dem Ausdruck cogito umspannt; jede Form des Sich-auf-etwas-Richtens gewinnt deshalb die allgemeine Bezeichnung cogitatio, ganz unabhängig davon, ob es sich um einen praktischen, theoretischen oder affektiven Akt in dem eben angedeuteten Sinn handelt. Im natürlichen Dahinleben, im Alltag, »lebe ich« – wie Husserl sagt – »immerfort in dieser Grundform alles ›aktuellen‹ Lebens«, ob ich nun reflexiv auf das cogitare selbst gerichtet bin oder nicht (Hua III/1, 59). In der phänomenologischen Analyse stellt sich jedoch auch heraus, dass nicht alle intentionalen Erlebnisse zugleich Zuwendungen des Ich sind: Es gibt eine Form von Hintergrunderlebnissen, in denen das Ich sich nicht auslebt, die aber zu ihm gehören (Hua III/1, 189). In diesem Sinne gebraucht Husserl zwei Bezeichnungen für die Hintergrundintentionalität: gegenständlicher Hintergrund und Regungshintergrund. Der Hintergrund ist insofern gegenständlich, als er ein potenzielles Wahrnehmungsfeld ist: Auch im Hintergrund werden Gegenstände aufgefasst, selbst wenn dies nur implizit geschieht. Andererseits kann man das Hintergrundbewusstsein hinsichtlich seiner eigentümlichen subjektiven Dyna-
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C. Werkzeugkasten
mik als Regungshintergrund beschreiben. Hintergründig sind nämlich nicht nur die impliziten Gegenständlichkeiten, sondern auch jene impliziten Betätigungen des Subjekts, die auftreten, ohne vom Ich bewusst vollzogen zu werden, und die daher zum Brennpunkt des wachen Ich eine gewisse Ferne aufweisen. Mit einer Terminologie, die sich an Alexander Pfänder anlehnt, bezeichnet Husserl solche Tendenzen als »Regungen im Aktualitätshintergrund« (Caminada 2019, 29). Merleau-Ponty widmet sich später in seiner Analyse der Leiblichkeit ( C.I.9) insbesondere dieser letztgenannten Dimension und erweitert das phänomenologische Intentionalitätsverständnis um das Konzept einer »motorischen Intentionalität« (Merleau-Ponty 1945/1966, 166). Damit ist gemeint, dass der Leib selbst vor aller mentalen oder vorstellungsmäßigen Referenzrelation auf die Welt und ihre Möglichkeiten der in Bewegung sich vollziehenden Exploration bezogen ist. Hierbei geht es zentral um Bewegung bzw. konkrete Kinesis: Die motorische Intentionalität übersteigt das rein epistemologische Moment. Indem sich der Leib – als grundlegendes Organ bzw. Medium unseres Weltbezugs gedacht – in seinen Operationen auf welthaft Begegnendes einstellt und das Subjekt auf diese Weise orientiert, vollzieht er eine zeitliche Synthese, die Merleau-Ponty auch als »intentionalen Bogen« (ebd., 164) bestimmt. In seinem spätem Denken des ›Fleisches‹ (Merleau-Ponty 1964/1986) wird die Intentionalitätskonzeption durch die Idee einer fundamentaleren Verschränktheit (Chiasmus) zwischen Mensch und Welt neu perspektiviert, wodurch die Subjektposition relativiert und eine nichtdualistische Ontologie angestrebt wird (vgl. hierzu Alloa 2012). Mit den Grenzen der Intentionalität und denjenigen Erfahrungszusammenhängen, die sich dem Schema von Akt und Gegenstand entziehen, beschäftigen sich Phänomenolog:innen schon von jeher ebenfalls. Husserl widmet sich in tiefgreifenden Meditationen den »Grenzproblemen« (Hua XXXIX) von Geburt und Tod, Schlaf und Traum sowie der Affektivität und Generativität. Ricœur weist schon in seinem Frühwerk Das Willentliche und das Unwillentliche (Ricœur 1950/2016) auf die unverfügbaren Dimensionen des persönlichen Charakters, des Unbewussten und der vorgängigen Natur hin, die eine reflexiv einholbare Beziehung zwischen bewusstem Erlebnis und bewusstem Erlebnisinhalt unterwandert. Bei Emmanuel Levinas tritt die Beziehung zum Anderen in ethischer Hinsicht als fundamentaler auf als die gegenstands- und vorstellungsbezogene Intentionalität in erkenntnistheoretischer Hinsicht (Levinas 1961/1987). Bernhard Waldenfels dynamisiert den Intentionalitätsbegriff im Hinblick auf eine Phänomenologie der Responsivität ( B.III.5), indem er das Erfahrungsgeschehen nicht als statische Korrelation zwischen subjektivem Gerichtetsein und gegenständlichem Bezugspunkt sieht, sondern als Dynamik von Angesprochenwerden durch etwas und Antworten auf es bestimmt (Waldenfels 1994). Wichtig hierbei sind die Aufforderungscharaktere, die Gegenständen der Umwelt, aber auch sozialen Situationen zukommen, durch die ein Selbst motiviert wird – von der wohlwollenden Einladung bis zum unausweichlichen Zwang –, irgendwie zu reagieren und sich dazu zu verhalten. Etwas erscheint in diesem Verständnis immer als et-
I.3. Evidenz
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was, und immer wieder neu, also immer wieder anders, für jemanden, die/der in ihrem/seinem Antwortverhalten auch eine gewisse Verantwortung für diese Antwort trägt. In Hermann Schmitz’ ›neuer Phänomenologie‹ kommen schließlich die Stimmungen und Atmosphären als wesentliche Dimensionen unseres Weltbezugs in Betracht, die sich einer klaren intentionalanalytischen Unterscheidung in Subjektives und Objektives, in Akt und Gegenstand zu versperren scheinen. Gefühle werden hier geradezu als quasiräumlich ausgedehnte Atmosphären – als ›Halbdinge‹ in der Welt – gedeutet, an denen mehrere Subjekte gleichermaßen teilhaben können, was den von Phänomenolog:innen häufig schon vehement kritisierten Gegensatz zwischen einer privaten Innenwelt subjektiver Gefühle und einer öffentlich zugänglichen Außenwelt von Objekten erneut in Zweifel zieht (Schmitz 2014). Darüber hinaus gibt es aber auch beachtenswerte Ansätze, die gerade im affektiven Weltbezug eine »affektive Intentionalität« erkennen, die mit den Methoden der klassischen Phänomenologie, aber auch mit Erkenntnisinstrumenten der Philosophie des Geistes angegangen werden können (Slaby et al. 2011). In der Analytischen Philosophie gibt es, ausgehend von Anscombe und sprechakttheoretisch weitergebildet von Searle, eine spezifische Konzeption von Intentionalität, die unter anderem von der Unterscheidung zwischen ›propositionaler Einstellung‹ und ›propositionalem Inhalt‹ lebt (Anscombe 1957; Searle 1983). Diese Unterscheidung ließe sich allenfalls mit der oben genannten Unterscheidung Husserls zwischen Qualität und Materie in Beziehung bringen. Doch wird die Komplexität des phänomenologischen Intentionalitätskonzeptes, wie es sich schon bei Husserl entfaltet findet und von späteren Phänomenolog:innen weitergebildet wurde, in der analytischen und zumeist kognitivistisch verkürzten Vorstellung von Intentionalität nicht in hinreichender Weise abgebildet, insbesondere was die passiven Dimensionen, die Affektivität und Volitionalität sowie die Leiblichkeit des intentionalen Geschehens betrifft. Was die Rezeption des phänomenologischen Intentionalitätskonzeptes in anderen Wissenschaftsbereichen betrifft, so neben der Soziologie ( D.VI), in die etwa Alfred Schütz und Thomas Luckmann die intentionalen Strukturen der Lebenswelt und sozialer Beziehungen eingebracht haben (Schütz/Luckmann 1979), die Psychopathologie und Psychiatrie zu nennen ( D.IV), wo beispielsweise die Störungen der Intentionalität in paranoiden Weltverhältnissen untersucht werden (Hirjak et al. 2013). Thiemo Breyer
3. Evidenz Anschauliche Wahrheit
Die Forderung nach Evidenz kann allgemein gesprochen als eine die unterschiedlichen Richtungen und Ansätze der Phänomenologie methodologisch einigende
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C. Werkzeugkasten
angesehen werden. Phänomenologische Forschung zeichnet sich gerade dadurch aus, dass nie allein logische Argumente oder symbolisches Denken genügen können, sondern dass sich Aussagen zumindest mittelbar auch auf Einsichten stützen müssen, die der Reflexion auf beschriebene Erlebnisse und erlebte Gegenstände und Sachverhalte entspringen. Um dieses methodische Prinzip selbst in dieser Allgemeinheit zu verstehen, ist es allerdings erforderlich, sich eines spezifisch phänomenologischen Verständnisses von Evidenz klar zu werden. Dessen ausführlichste Thematisierung und methodologische Erläuterung findet sich in den Schriften Husserls, dessen Evidenzbegriff in dieser Hinsicht unverzichtbarer Referenzpunkt bleibt. Als solcher ist er bis heute auch immer wieder Gegenstand der Kritik späterer Phänomenolog:innen geworden, sodass die Frage nach dem Evidenzprinzip auch helfen kann, Differenzen zwischen unterschiedlichen Ausrichtungen und Ansätzen phänomenologischer Forschung zu markieren. Für Husserl gilt die Einlösung der Forderung nach Evidenz als Merkmal ›strenger Wissenschaft‹, während ihre Missachtung zu ›unwissenschaftlichem‹, dogmatischem oder spekulativem Denken führt. Dergestalt formuliert ist diese These wohl weder besonders originell noch strittig, sondern erscheint geradezu trivial. Die innovative Kraft des von Husserl initiierten Ansatzes kann also nicht in der Forderung nach Evidenz liegen, sondern nur im Verständnis, was als Evidenz zu gelten habe. Husserls Forschung legt hier dieselbe Überwindung des Gegensatzes von subjektiven und objektiven Reduktionen, d. h. Einengungen, dieses Verständnisses frei, die überhaupt seine Beschreibungen ›korrelativer‹ Dynamiken und Wechselbeziehungen ausmachen. Sowohl die Reduktion der Evidenz auf ein (im psychologischen Sinne) subjektives Gefühl von Gewissheit als auch auf ein (im naturalistischen Sinne) objektives Beweismittel führt nach Husserl zu grundlegenden Missverständnissen, die letztendlich den Wissenschaften ihre Wissenschaftlichkeit, nämlich die Letztbegründung ihrer Annahmen und Begriffe, unmöglich machen. Damit ist die Aufgabe der Aufklärung des Sinns von Evidenz für Husserl fest in der phänomenologischen Wissenschaftstheorie sowie allgemein in der phänomenologischen Kritik der ›Vernunft‹ (vgl. Hua III/1, 339) verortet und eo ipso auch ein methodisches Grundproblem phänomenologischer Forschung. Hier zeigt sich die Sprengkraft seines Ansatzes gerade darin, dass die Phänomenologie zwar ›strenge Wissenschaft‹, aber eben keine empirische ist, das Evidenzprinzip von Wissenschaftlichkeit jedoch gleichwohl für sie gelten soll. Denn dass auch nichtempirische (für Husserl ›eidetische‹) Wissenschaften, wie etwa die Logik und die Mathematik, sich diesem Prinzip zu beugen haben, ist durchaus umstritten und auch nicht unmittelbar nachvollziehbar. Ebenso kontrovers – zu Husserls Lebzeiten wie auch in heutigen Debatten – ist seine Überzeugung, dass auch die Philosophie ihre Behauptungen letztendlich nur durch ausgewiesene Evidenz vollumfänglich legitimieren kann. Ebendiese Überzeugung kann in gewissem Sinne immer noch als ein Ursprung der weiten und heterogenen Verwandtschaftsbeziehungen der sogenannten ›kontinentalen Philosophie‹ verstanden werden – in
I.3. Evidenz
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welchem Sinne genau, lässt sich nur mithilfe einer Ausführung des husserlschen Evidenzbegriffes verständlich machen. Grundlegend für Husserls Evidenzbegriff ist die von ihm schon in den Logischen Untersuchungen herausgearbeitete Unterscheidung zwischen bloß meinender Intention (Signition) einerseits und anschauender Intention (Intuition) andererseits. Zur Verdeutlichung mag man folgendes Beispiel aus der Mathematik heranziehen: Während geometrische Prinzipien grundsätzlich anschaulich nachvollzogen werden können, gehören andere Zweige der Mathematik wie etwa Algebra in den Bereich der Signition, insofern das Gemeinte bloß bezeichnet, nicht aber selbst eingesehen wird. Der Satz des Pythagoras lässt sich intuitiv einsehen (etwa indem die Flächeninhalte im Geiste oder grafisch übereinandergelegt werden), während man mit der Quadratwurzel aus 2 (√2) fehlerfrei rechnen kann, ohne dass es dafür einer Entsprechung in der Anschauung bedürfte. Im Kontext der Wahrnehmung lässt sich der Unterschied wiederum folgendermaßen illus trieren: Wenn wir uns auf einen roten Gegenstand wahrnehmend beziehen, ist uns Rot anschaulich präsent, während das Wort ›rot‹ zwar Selbiges meint, aber nicht selbst einsichtig macht. Das hier relevante Kriterium für diese Unterscheidung ist das der relativen Leere (Signition) bzw. der relativen Fülle (Intuition), das schon aus der kantschen Unterscheidung von Begriff und Anschauung bekannt ist, hier allerdings eine Transformation erfährt. Das meinende Bewusstsein zielt auf einen Gegenstand, aber ebendadurch auch auf eine diesen Gegenstand selbst gebende Anschauung, durch die dieses Bewusstsein Bekräftigung erhalten kann, ohne die es eben nur bloße Meinung bleibt. In uneigentlichem Sinne kann man also bei allen anschaulichen Vorstellungen von ›Evidenzen‹ sprechen, wobei Evidenz hier als ›Selbstgebung‹ verstanden wird. Im einfachsten Fall handelt es sich bei dieser Selbstgebung um eine Wahrnehmung, die eine Sache in persona begegnen lässt. Aber (anders als z. B. Brentano) stellt Husserl bereits früh die Gradualität anschaulicher Evidenz fest. So gibt sich eine Sache auch in der Erinnerung, ja sogar in der Erwartung oder Fantasie selbst, nur in unterschiedlichen Graden, die deswegen auch epistemisch unterschiedliche Gültigkeit besitzen (siehe das »Prinzip aller Prinzipien«, Hua III/1, § 24). Und selbst die Wahrnehmung kann stets nur inadäquate Evidenz möglich machen, die deswegen auch immer nur vorläufigen und falliblen Status haben kann. Im eigentlichen Sinne handelt es sich bei der von Husserl beschriebenen Evidenz allerdings nicht einfach um eine Anschauung, sondern um eine Synthesis, die auf dem dynamischen Prozess basiert, der auf graduelle Erfüllung relativ ›leerer‹ Meinung gerichtet ist oder zumindest zu dieser tendiert. Dieser ›teleologische‹, wenn auch nicht von vornherein bestimmte Erfüllungsprozess ist allerdings nicht sozusagen ›von außen‹, also objektivistisch, beschreibbar, sondern erfordert zumindest ein latentes Bewusstsein der ›Deckung‹ zwischen den Korrelaten ›Meinen – Gemeintes‹ und ›Anschauen – Angeschautes‹. Als ausgesprochene Erkenntnisleistung ist darüber hinaus auch noch eine explizite ›Synthesis der
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C. Werkzeugkasten
Identifikation‹ nötig, damit von Evidenz im prägnanten Sinne, nämlich im Sinne eines komplexen ›Erlebnisses der Wahrheit‹ die Rede sein kann. Husserl spricht hier auch von dem Erlebnis des ›Einsehens‹ statt des schlichten ›Sehens‹. Die Tiefe dieser Komplexität eröffnet sich insbesondere dann, wenn man beachtet, dass Husserl neben der Dimension der Erkenntnisversuche und -leistungen eines aktiven Ego noch eine zweite Dimension der Evidenz ausmacht, die die erste an Umfang und Reichtum bei Weitem übertrifft, nämlich die passive, auf der – ohne phänomenologische Reflexion unbemerkt – alle aktive Evidenzleistung aufbaut (weswegen auch z. B. ein ganzer Hauptteil der Analysen zur passiven Synthesis ›Evidenz‹ zum Thema und Titel hat, Hua XI; vgl. Husserl 1939/1999). Hier handelt es sich um vielfältige und miteinander verflochtene synthetische Prozesse, die auf der Ebene der Passivität zwar nicht aktiv zur Identifikation und zum Einsehen der durch sie geleisteten Erfüllungen gebracht werden, deren diverse Deckungen jedoch stillschweigend aktive Kognitionen, Gefühle, Wertungen oder Handlungen ›motivieren‹ können. Hier bedarf es nicht einmal einer begrifflichen Signition; denn die Horizontstruktur einer jeden anschaulichen Intention schließt z. B. Retentionen und Protentionen als sogenannte ›Leerintentionen‹ mit ein, die sich im Verlauf einer Wahrnehmung stetig wechselseitig erfüllen können (Hua XI; Hua Mat VIII). Der Einblick in die passive Dimension der Evidenz lässt Husserl die Lebenswelt als ein Reich von (größtenteils unreflektierten) Evidenzen beschreiben, die sich aus sowohl originär passiven Erlebnissen wie auch aus ursprünglich aktiven, sedimentierten Einsichten ›sekundärer Passivität‹ speisen (Hua VI; Husserl 1939/1999). Ferner ist das Erfassen lebensweltlicher Evidenzen als oftmals gerade nicht nur individuell erlebte, sondern intersubjektiv (historisch, kulturell) geteilte, zumindest vermeintlich ›wahre‹ Hintergrundannahmen nur möglich, weil Evidenz eben nicht auf ein privates psychologisches Ereignis reduziert werden kann. Zwei oder mehr Personen können (gemeinsam oder getrennt voneinander, mehr oder weniger passiv oder aktiv) dieselben signitiven Korrelate (Meinen – Gemeintes) mit dazu in Beziehung gesetzten intuitiven Korrelaten (Anschauen – Angeschautes) nach und nach ›abgleichen‹ und so in einem dynamischen Prozess, in dem unterschiedliche Personen sich sogar gegenseitig korrigieren können, die jeweilige Sache immer angemessener denken wie auch anschauen. Im besten Fall führt dies dazu, dass sich die ›Sache selbst‹ in der Anschauung so zeigt, wie sie ist, und dass sie genau so auch gedacht wird. In diesem Fall kann man mit Husserl sowohl von ›apodiktischer‹ als auch von ›adäquater‹ Evidenz sprechen – Begriffe, die Husserl zunächst austauschbar oder zumindest untrennbar verwendet, um von perfekter Evidenz zu sprechen. Infolge der Einführung des Horizontgedankens (vgl. Hua III/1) trennt Husserl später allerdings die Unzweifelhaftigkeit apodiktischer Evidenz von der Vollständigkeit adäquater Evidenz, die in Bezug auf eine Sache nicht nur unzweifelhaft miteinander identifiziert, wie sie gedacht und wie sie angeschaut wird, sondern eben auch in allen ihren Aspekten (vgl. Hua I: das transzendentale Ego wird apodiktisch, aber da-
I.3. Evidenz
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durch noch nicht adäquat eingesehen). In diesem Zusammenhang revidiert Husserl dank seiner genetischen Analysen und lebensweltlichen Reflexionen allmählich auch seinen absoluten Begriff von apodiktischer Evidenz und schreibt auch dieser Fehlbarkeit und Anfechtbarkeit zu: »Selbst eine sich als apodiktisch ausgebende Evidenz kann sich als Täuschung enthüllen«, allerdings nur durch eine weitere apodiktische, an der sie dann »zerschellt« (Hua XVII, 140). Obwohl Apodiktizität und Adäquatheit als Ideale von Wissenschaftlichkeit gelten, sind sie doch nicht in allen Domänen zu haben. Empirische Wissenschaften müssen sich auch auf die ihrem Wesen nach bezweifelbaren und unvollständigen Evidenzen stützen, und auch andere Bereiche der Lebenswelt haben ihre eigenen Arten und Anforderungen an Grade von Evidenz. Deswegen ist es auch für viele Bereiche widersinnig, perfekte Evidenz zu fordern, wie wir sie z. B. aus der Mathematik kennen (Hua III/1, 321; vgl. Heidegger, GA 20, 68). So gesehen ist Evidenz nicht nur partiell, sondern auch relativ auf die Art der jeweiligen Sache respektive Gegenstandsdomäne als deren Weise der Wahrheit bezogen. So spricht Husserl z. B. von der der Domäne des Handels angemessenen Evidenz der »Marktwahrheit« (Hua XVII, 245 f.) und im Allgemeinen von »Situationswahrheiten« (Hua VI, 135). Evidenz ist also nur in dem Sinne ›universell‹, dass sie in jeder Domäne auf eine dieser Domäne angemessene Art und Weise statthat. Sonst ist Evidenz am besten ›regional‹ zu verstehen, wie auch Heidegger bemerkt (GA 20, 68). Selbst für wissenschaftliche Gegenstandsbereiche, für die apodiktische und adäquate Evidenz prinzipiell möglich sind, gilt, dass ein Erreichen dieser Ideale nicht immer geboten, ja oft einfach zu aufwendig ist. Viele abstrakte Operationen in der Logik, der Mathematik und den theoretischen Wissenschaften können mittels bloßer ›Evidenz der Richtigkeit‹ (Husserl 1939/1999) verfahren: »Es ist ja zu bekannt, daß die unvergleichliche Mehrheit der generellen Aussagen, zumal der wissenschaftlichen, ohne jedwede klärende Anschauung bedeutsam fungieren und daß nur ein verschwindender Teil (auch der wahren und begründeten) einer vollen Durchleuchtung mit Anschauung zugänglich ist und bleibt.« (Hua XIX/2, 662) Auch von diesen Aussagen wissen wir, dass sie wahr sind – nur eben in einem epistemisch defizitären, ›uneigentlichen‹ und deswegen weniger ›gesicherten‹ Sinn. Letztendlich berührt für Husserl die Frage der Evidenz sozusagen das Ethos der Phänomenologie. Der Ruf zur Evidenz (mithin ›zu den Sachen selbst‹) – »Wissenschaft aus letzter Begründung, oder, was gleich gilt, aus letzter Selbstverantwortung« (Hua V, 139) – ist ein Appell für ein auf Evidenz basierendes, selbstverantwortliches, d. h. vernünftiges Leben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass spätere Phänomenolog:innen sich sowohl auf Husserls Evidenzbegriff berufen, sich aber auch an ihm gerieben haben. Somit kann das Problem der Evidenz auch über unterschiedliche Ansätze in der phänomenologischen Forschung Aufschluss geben, auf die an dieser Stelle nur exemplarisch eingegangen werden kann. Zu nennen ist zunächst Heidegger mit seinen Begriffen von Wahrheit (ale theia) als ›Entdecktheit‹ und ›Erschlossenheit‹ sowie später der ›Lichtung‹ und
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C. Werkzeugkasten
des ›Ereignisses‹ (SuZ; GA 34; GA65). Heideggers Wahrheitsverständnis grenzt sich dabei schon früh vom Evidenzbegriff Husserls ab, dem vorgeworfen wird, das Verständnis von Evidenz auf Objektbestimmung (Heidegger GA 17, 272 f., 317) und auf das Theoretische verengt zu haben (Heidegger, SuZ, 115, 136 et passim). In der französischen Phänomenologie spielt der Evidenzbegriff eine zentrale Rolle, etwa bei Sartre und Merleau-Ponty (hier speziell im Begriff der évidence perceptive), bleibt allerdings auch dort nicht unumstritten. Besonders Levinas (1930) und Derrida (1967/2003) diskutieren den Begriff kritisch. Autor:innen, die sich in der Folge des Konzepts bedienen, tun dies meist in einem offeneren Verständnis als bei Husserl. So auch Simone de Beauvoir, die herkömmliche Begriffe von Frau und Weiblichkeit ebendafür kritisiert, dass es ihnen an erlebter Evidenz fehlt und sie stattdessen unreflektierte Annahmen aus Wissenschaft, Religion und Tradition widerspiegeln (Beauvoir 1949). Im Kontext der ›Naturalisierung der Phänomenologie‹ ( B.III.9) ist zu verzeichnen, dass der phänomenologische Evidenzbegriff an den empirischen Evidenzbegriff angenähert werden soll. In anderen Entwicklungen der rezenten Phänomenologie wird über eine Erweiterung des Anschauungsprinzips nachgedacht (etwa in Jean-Luc Marions Idee der ›saturierten Phänomene‹), während in der spekulativen Variante der Phänomenologie, die sich zu Teilen mit der ›kosmologischen Wende‹ deckt ( B.III.7), aber auch Nachlassmanuskripte Husserls einbezieht (Hua XLII) und in der über die Möglichkeit nachgedacht wird, Phänomenologie jenseits von anschaulicher Gegebenheit zu praktizieren. Die Fragen bleiben: Was genau ist phänomenologische Evidenz? Wie verhält sie sich zur ›natürlichen‹ oder empirischen? Können wir dem Evidenzprinzip in der phänomenologischen Forschung oder sogar der phänomenologischen Philosophie gerecht werden und, selbst wenn, uns mit ihm zufriedengeben? Julia Jansen
4. Konstitution Was das Bewusstsein leistet
In der Phänomenologie ist Bewusstsein der Name für eine Tätigkeit. Zu sagen, das Bewusstsein sei eine Tätigkeit, bedeutet ferner zu sagen, dass hierin eine synthetische Leistung zum Ausdruck kommt. Synthesis definiert, was Bewusstsein tut: Bewusstsein ist eine Tätigkeit der Bedeutungszuweisung, die die Einheit bedeutungsvoller Gegenstände konstituiert. Um die verschiedenen Momente der Konstitution nachvollziehen zu können, zumindest so, wie sie Husserl konzipiert, sind folgende drei Grundbegriffe unerlässlich: Synthesis, Intentionalität und Zeitlichkeit (und gemeinsam mit dem letzten Begriff zu einem geringeren Grad: Räumlichkeit). Der grundlegende Gedanke hinter dem Begriff der Intentionalität ( C.I.2) besagt, dass verschiedene Formen des Bewusstseins (Wahrnehmung, Erinnerung, Urteil, Fantasie usw.; C.I.8) mit verschiedenen Arten von Objek-
I.4. Konstitution
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ten der Erfahrung korreliert sind: wahrgenommene, gedachte, vorgestellte Gegenstände usw. Innerhalb der Struktur der Intentionalität unterscheidet Husserl zwischen dem, was er ›noetische‹, und dem, was er ›noematische‹ ( C.I.1) Dimensionen nennt. Allgemein gesprochen bezeichnen diese Begriffe diejenigen Elemente, die für das Bewusstsein intrinsisch sind, im Gegensatz zu den Elementen, die davon zwar nicht abgeschieden sind, aber bestimmten Gegenständen des Bewusstseins anhängen. Während die noetischen Elemente dem Bewusstsein ›immanent‹ sind, d. h., ihm wesentlich zugehören, sind noematische Elemente aus Sicht des Bewusstseins ›transzendent‹. Transzendent ist hier die Weise, wie die Dinge dem Bewusstsein als nichtintrinsische Teile seiner selbst erscheinen oder gegeben sind. Die Korrelation zwischen Bewusstsein und Gegenständen der Erfahrung wird durch dasjenige thematisiert, was Husserl die »Transzendenz in der Immanenz« (Hua XIII, 165) nennt, also die Art und Weise, in der der transzendente Charakter der Dinge, die nicht immanent dem Bewusstsein angehören, gleichwohl ›im‹ Bewusstsein konstituiert wird. Gegenstände und ihre Bedeutung existieren nicht in meinem Kopf; auf der anderen Seite werden mir Gegenstände nur dann als nicht in meinem Kopf existierende Gegenstände gegeben, wenn ich ihrer bewusst bin (Hua XIX/1, 169). Bei dem, was Husserl die Synthesis nennt, bildet – anders als bei Kant – nicht die Urteilsstruktur die Vorlage. In ihrer allgemeinsten Form ist Synthesis eine Leistung des Bewusstseins: Aus individuellen Teilen konstituiert das Bewusstsein einen Gegenstand, der immer schon mehr ist als die Summe seiner Teile. Die synthetische Leistung betrifft sowohl solche Synthesen, die Husserl ›passive‹ nennt und die aus der Assoziation vorgegenständlicher Bewusstseinsmaterie hervorgehen, als auch die ›aktiven‹ Synthesen, bei denen es um die Erfassung bereits konstituierter Gegenstände geht ( C.II.5). Obwohl eine Rose eine Rose ist, wird von einer Rose stets mehr wahrgenommen als nur das jeweils Gegebene: Die Rose zeigt sich mir nicht von allen Seiten, sodass ich sie in meinen Händen drehen muss, um die Fülle ihres Dufts zu riechen; die Rose, die ich in meinen Händen halte, mag die Rose sein, deren verwelkte Blüten ich morgen antreffe. Die Konstitution eines Gegenstands wie dem einer Rose ist dynamisch und immer mit anderen Gegenständen in meinem Wahrnehmungsfeld verbunden, die ebenso in meiner Erfahrung konstituiert sind. Die Synthesis entfaltet sich daher immer entlang dessen, was Husserl als Horizont bezeichnet: Horizonte der Verweisung, die auf Felder einer fortgesetzten (oder unterbrochenen) Konstitution ausgreifen. Ab den Logischen Untersuchungen geht es Husserl um die Frage, wie Erfahrungsgegenstände vom Bewusstsein konstituiert werden. Er schlägt dafür eine dreifache Unterscheidung vor: Es gibt objektivierende Bewusstseinsakte (wahrnehmen, urteilen, vorstellen usw.), die auf Gegenstände als ihr notwendiges Korrelat gerichtet sind bzw. einen Gegenstand als ihr notwendiges Korrelat ›haben‹ (wahrnehmen heißt etwas wahrnehmen, diese Rose z. B.); es gibt das, was Husserl den »nicht-intentionalen Gehalt« des Bewusstseins nennt, oder, in anderen Worten, das Erlebnis (das Erlebnis von Duft, Röte usw.), auf dem die höheren Akte
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C. Werkzeugkasten
aufbauen; und es gibt den Gegenstand meines Bewusstseins (diese Rose) (Hua XIX/1, 369). Husserl geht davon aus, dass das objektivierende Bewusstsein das intentionale Objekt auf der Grundlage des Erlebnisses bzw. des nichtintentionalen Gehalts ›beseelt‹ und ›auffasst‹. Das bedeutet, das Erlebnis, das ich beim Sehen einer Rose habe, bildet die Grundlage, auf der ich das rotfarbene duftende Etwas auffasse (wahrnehme). Die Röte der Rose stammt von der Rose, nicht von meinem Bewusstsein, obwohl die Farbe der Rose in der Empfindung, die ich davon habe, dass ich eine Rose sehe, registriert wird. In diesem Sinne ist es ein Bewusstseinsakt, der transzendente Objekte konstituiert, d. h. vergegenständlicht. In den Vorlesungen zur wahrnehmenden und vorstellenden Erfahrung in den auf die Logischen Untersuchungen folgenden Jahren erweitert und verändert sich Husserls Verständnis von Konstitution. Die konstitutive Funktion des Leibes und seine kinästhetischen Bewegungsstrukturen werden zuerst 1907 in den Vorlesungen Ding und Raum untersucht (Hua XV, 637). Zur gleichen Zeit beginnt Husserl mehr Aufmerksamkeit darauf zu verwenden, was man phänomenologisch mit einem intentionalen Objekt meint, und genauer zu klären, was er nun das »noematische Objekt« nennt. Im Rückblick auf die Logischen Untersuchungen kommt er zu der Überzeugung, dass er der Besonderheit des intentionalen Objekts nicht hinreichend Rechnung getragen hatte. Obwohl Husserl in den Ideen I seine Kernüberzeugung, dass transzendente Gegenstände der Intentionalität durch das Bewusstsein konstituiert werden und in diesem spezifischen Sinn in ihrem transzendenten Charakter im Bewusstsein konstituiert sind, keineswegs aufgibt, widmet er sich in den detaillierten Analysen der noetisch-noematischen Strukturen der Intentionalität in den Ideen I stärker dem, wie ein noematisches Objekt seiner Konstitution durch das Bewusstsein entgegenkommt. Ein eindeutiges Beispiel solchen Entgegenkommens ist Husserls Beschreibung von Dingen in seinen Vorlesungen zur passiven Synthesis, von denen gesagt wird, sie fordern das Bewusstsein auf, sie zu drehen, sie anzusehen usw. (Hua XI, 37). Gegenstände besitzen einen Aufforderungscharakter: Sie verlangen Aufmerksamkeit, ziehen den Blick auf sich oder lenken im Gegenteil von sich ab. Genau genommen setzt schon auf der vorgegenständlichen Ebene eine Affizierung ein: Stoffliche Qualitäten, Tönungen und Einfärbungen veranlassen die bewusstseinsmäßige Zuwendung und setzen die Gegenstandskonstitution in Gang. Viele Interpret:innen sehen hier so etwas wie die Idee einer ›Ko-Konstitution‹, um den abgeschwächten Sinn, in dem das Bewusstsein die Gegenstände seiner Erfahrung konstituiert, zu begreifen. Wenn man jedoch Husserls leitenden Gedanken zu verstehen sucht, wird klar, dass sich traditionelle Konzeptionen von Bewusstsein und Gegenständen transformiert haben, sodass es aus phänomenologischen Gründen nicht länger plausibel ist, das Bewusstsein als eine Macht der Konstitution über und gegen die Leere der Gegenstände anzusehen. Die Rekonfiguration der traditionellen und starken Trennung zwischen einer ›Spontaneität des Verstandes‹ auf der einen Seite und einer ›Rezeptivität der Anschauung‹ auf der anderen verliert in Husserls Denken an Schärfe und wird verwickelter.
I.4. Konstitution
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Der noematische Gegenstand bezeichnet nicht einfach den Gegenstand als solchen, sondern das Objekt, wie es durch den Sinn seiner Identität strukturiert ist: dieses Ding als rote Rose mit Blüten, einem Stiel usw. Diese grundlegende Struktur von etwas als Etwas, als Träger von bedeutungshaften Eigenschaften (rot, groß usw.), versammelt sich um den »noematischen Pol der Identität« (Hua IX, 316). Ein Gegenstand der Erfahrung ist eine Einheit möglicher Erscheinungsweisen (der Anblick einer Rose von verschiedenen Seiten, das Sehen der Rose an jedem Tag in meinem Garten usw.), die durch seine Identität zusammengehalten sind: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose, obwohl diese Rose vielfältig erscheint und erfahren wird. Diese Vielfalt der Erscheinungsweisen beinhaltet die Möglichkeit, durch andere Subjekte als mich selbst wahrgenommen, berührt usw. zu werden, sodass Intersubjektivität immer schon im Spiel ist. Obwohl der folgende Aspekt des Denkens Husserls trotz seiner kritischen Funktion oft übersehen wird, sind in die noematischen Strukturen wesentliche Muster ihres Erscheinens eingetragen, die Husserl ›eidetische Strukturen‹ nennt. Das ›Wesen‹ eines Dinges ist nicht – anders als es mit dem unsäglichen Platonismus-Vorwurf immer wieder zu hören ist – ein Gedankengebilde oder eine ideale Entität, die ›existiert‹, sondern die wesentliche Struktur eines Gegenstandes, die jedem Gegenstand dieser Art inhäriert und die sich beschreiben lässt, jedoch nicht durch Abstraktion, sondern durch eine Methode namens »eidetische Variation« (Hua IX, 76 ff.; C.II.3). Obwohl das Bewusstsein Gegenstände möglicher Erfahrung konstituiert, ist es im Gegenzug an die wesentlichen Strukturen gebunden, durch die solche Gegenstände überhaupt gegeben sein können und folglich dadurch konstituiert sind. In den Ideen II werden die Voraussetzungen für den Konstitutionsbegriff noch komplizierter. Husserl vertieft hier sein Verständnis der Konstitution um die funktionale Rolle von Gewohnheiten, der Erfahrung von Tasten und Sehen, der Beweglichkeit des Leibes als bewegt und selbstbewegend und einer Art von Intentionalität, die knapp unterhalb der Schwelle zur Reflexion operiert, sowie die konstitutionellen Leistungen körperlicher Tätigkeiten. Weitere Schriften und Vorlesungen gehen dem Problem der Konstitution im Kontext der inter-subjektiven Begegnungen und der kritischen Rolle nach, die die Einfühlung bei der Konstitution des Anderen als Ego oder Selbst spielt, das von meinem Selbst unterschieden einen eigenen, irreduziblen Leib besitzt. Letztendlich ist die Konstitution der Intentionalität in der Zeitlichkeit oder im inneren Zeitbewusstsein gegründet. In dieser begründend-aufbauenden Weise sind das Zeitbewusstsein sowie das Bewusstsein der Welt im Bewusstsein ›selbstkonstituierend‹ oder, in anderen Worten, nicht auf eine niedrigere Stufe der Konstitution zurückführbar. In Heideggers Analyse der grundlegenden Existenzweisen, in der er den Begriff des Daseins (im Gegensatz zum ›Bewusstsein‹) einführt (GA 2, 10), fällt auf, dass er den Begriff der ›Konstitution‹ und der ›Intentionalität‹ oder andere verwandte Begriffe zu vermeiden bemüht ist, die nahelegen, dass das Dasein die Welt und ihre Erfahrungsgegenstände »konstituiert« (GA 2, 296); in der Tat erachtet Heidegger sogar den Begriff ›Erfahrung‹ als zu verdächtig für sein philo-
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sophisches Anliegen. Er spricht stattdessen von Weisen, in denen das Dasein Dinge in seiner unmittelbaren Umgebung und allgemeiner in der Welt erschließt. Das Dasein ist in die Welt »geworfen« (GA 2, 182 f.) und findet sich immer schon als mit der Welt zugange befindliches und in sie eingelassenes vor. Bezeichnenderweise ist das Erschließen der Welt durch das Dasein nicht auf sein Verhalten beschränkt; Rede (das Sprechen über die Welt) genauso wie Befindlichkeit sind gleichursprüngliche, aber verschiedene Weisen der Welterschließung. Während für Husserl die Intentionalität den Leitfaden im Rahmen seiner Konstitutionsanalysen bildet, beginnt Heidegger mit dem ›Da‹ des Daseins oder, in anderen Worten, mit dem Sinn, in welchem das Dasein da bzw. in der Welt ist. Die Trans zendenz der Welt wurzelt nicht in der Immanenz des Bewusstseins. Dasein ist in der Welt da, wobei der Sinn von ›in‹ nicht räumlich (wie etwas ›in‹ einer Schachtel sich befindet) zu verstehen ist, sondern die Bedeutung eines Bewohnens und Kümmerns annimmt, die Heidegger unter dem Begriff der Sorge zusammenfasst (GA 2, 256). Sorge als grundlegende existenziale Struktur des In-der-Welt-Seins des Daseins ist fundiert in der Zeitlichkeit, genauso wie Husserl es bei seiner eigenen Analyse des inneren Zeitbewusstseins trotz seiner Verbundenheit mit einem Intellektualismus und einer Philosophie des Selbstbewusstseins vermutet hat. Merleau-Ponty folgt Heidegger in der Zurückweisung von Husserls ›Intellektualismus‹ und ›Philosophie des Selbstbewusstseins‹, aber er tut dies, indem er sich das, was er als das ›Ungedachte‹ bei Husserl ansieht, zunutze macht. Wie Mer leau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung zeigt, wird die Welt nicht durch ein denkendes Subjekt (Husserls Begriff des Bewusstseins) konstituiert. Vielmehr erschließt sich die Welt einem leiblichen Selbst. Auf diese Weise weist Merleau-Ponty jede Fundierung von Transzendenz in Immanenz zurück und folglich auch das Privileg des Bewusstseins, konstituierend zu sein. Bewusstsein ist dagegen »durch und durch Transzendenz« und die Allgegenwärtigkeit der Transzendenz ist manifest im Leib sowohl als Verkörperung des Subjekts in ihm selbst als auch in der Welt (Merleau-Ponty 1966, 429; C.I.9). Es gibt den Blick nicht, weil wir sehen, sondern wir sehen, weil der Blick der Welt in unserem Leib seine Wirkung entfaltet. Merleau-Ponty folgt Husserl, wenn er für den Primat der Wahrnehmung eintritt, betont aber emphatisch den präreflexiven und leiblichen Ankerplatz der Wahrnehmung (ebd., 403). Leiblichkeit ist nicht nur, wie Husserl selbst anerkennt, mein eigenes Leibsein. Für Merleau-Ponty gibt es auch eine Leiblichkeit in der Welt, da nach seinem Verständnis das wahrnehmende Ich bereits mit der Welt verflochten ist. Wahrnehmung konstituiert nicht die Welt, indem es vom Selbst aus nach der Welt draußen greift, sondern erschließt sich selbst von der Welt her (ebd., 84). Besonders interessant ist in dieser Hinsicht, dass Merleau-Ponty Husserls Annahme ablehnt, unterschiedliche Sinne würden unterschiedliche Aspekte der Welt konstituieren: das Sehen das Sichtbare, das Hören das Hörbare usw. Auf ähnliche Weise bestreitet Merleau-Ponty Husserls Annahme in den Ideen II, dass es sich beim Tastsinn um einen ausgezeichneten Sinn handelt, da nur er dazu in
I.5. Gegenständlichkeit
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der Lage ist, eine volle, dreidimensionale Raumerfahrung zu ermöglichen. Entgegen dieser Ansicht sind die Sinne bei Merleau-Ponty miteinander ›verwoben‹ und ›kommunizieren‹ miteinander, sodass sich die Konstitution als solche ›pluralisiert‹: Die akustischen Eigenschaften von Glas z. B., seine Zerbrechlichkeit, können ›gesehen‹ werden. Synästhetische Wahrnehmung verbindet sich mit Beweglichkeit und beide zusammen ergeben die grundlegende Weise, wie sich der Leib in der Welt verhält. Jeder der Sinne des Leibes in seiner Verwobenheit mit den anderen, die den Leib erst ausmacht, trägt zum ›Einräumen‹ bzw. ›Raumgeben‹ in zweierlei Hinsicht bei: Räumlichkeit wird durch ein Tätigsein konstituiert; Räumlichkeit erschließt sich durch ein Raumgeben. Dabei handelt es sich nicht um zwei getrennte oder widersprüchliche Bewegungen, sondern um ein und dieselbe Bewegung einer Differenzierung oder eines ›Verflechtens‹. Das Betreten eines Raumes lässt Raum ereignen, schafft Raum durch das Platzmachen für das Erscheinen des Raums. Trotz ihrer substanziellen Unterschiede lobt Merleau-Ponty in Der Philosoph und sein Schatten Husserl für dessen Pionieranalysen in den Ideen II. Er bemerkt: »Indem er zur vortheoretischen, vorthetischen oder vorobjektiven Ebene vorgedrungen ist, hat Husserl die Verhältnisse zwischen Konstituiertem und Konstituierendem umgedreht« (Merleau-Ponty 2003a, 261 f.). Husserls phänomenologisches Vermächtnis besteht darin, das Problem der Kon stitution frei-, zugleich jedoch auch wieder beigelegt zu haben. Nicolas de Warren
5. Gegenständlichkeit Gegenstand und Gegebenheitsweise
Der Ausdruck ›Gegenstand‹ gehört ebenso wie die Rede von verschiedenen Erfahrungsformen (›Gegebenheitsweisen‹) zu den operativen Grundkonzepten der Phänomenologie. Die Bestimmungen dieser Begriffe unterscheiden sich je nach Autor und Kontext. Zentral ist jedoch die Überlegung, dass die für die Epistemologie und Ontologie entscheidende Relation nicht zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis besteht, sondern zwischen dem, was erfahren wird (dem intentionalen Gegenstand), und der Weise, wie es erscheint und aufgefasst wird (der Gegebenheits- oder Auffassungsweise). Phänomenologische Autor:innen verwenden typischerweise eine Modellierung von Erfahrung und Erkenntnis, die sich sowohl von einem Dualismus von Subjekt und Objekt als auch von einer Trennung von Anschauung und Begriff als Quellen des Wissens unterscheidet. Verschiedene Diskussionen innerhalb der phänomenologischen Metaphysik, Philosophie des Geistes und Epistemologie lassen sich als Versuche verstehen, Varianten dieses Modells zu entwickeln. Die wirkmächtigste Konzeption ist diejenige Husserls, an der sich sowohl deren heuristisches Potenzial wie die damit verbundenen Probleme zeigen lassen. Husserls eidetisches Modell ( C.II.3) wird vor allem von Roman Ingarden (1964/65; Mitscherling 1997; Erhard 2020) durch
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eine formale Ontologie verschiedener Gegenstandsklassen ausdifferenziert. Heideggers hermeneutisches Modell ( B.III.3) legt größeres Gewicht auf den praktischen Charakter des Verstehens und die Unterscheidung historisch distinkter Verständnisse von Objektivität. 5.1. Das eidetische Modell (Husserl)
Die Phänomenologie Husserls zeichnet aus, dass sie Epistemologie und Ontologie im Rahmen einer Theorie des Bewusstseins verbindet. Zu deren zentralen Elementen gehört die These, dass Bewusstsein intentional und damit intrinsisch auf etwas bezogen ist ( C.I.2). Eine phänomenologische Theorie der Erkenntnis geht deshalb von der Annahme aus, dass intentionales Bewusstsein objektives Wissen enthält. Sie zielt nicht auf eine Widerlegung skeptischer Einwände, sondern auf eine Erfassung der intentionalen Strukturen, in denen Episoden bewussten Erlebens Wissen verkörpern. Husserl beschreibt diese Strukturen im Rahmen einer Theorie des Bewusstseins, in der zwischen dem intentionalen Objekt und der Form intentionaler Bezugnahme unterschieden wird. Deren wichtigste Ausarbeitung findet sich in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie in der Theorie von Noesis und Noema (Hua III/1, 200–294). Diese beiden von Husserl geprägten Ausdrücke leiten sich von griechisch noein (›erkennen, denken‹) ab. Sie bezeichnen den Bewusstseinsakt oder intentionalen Bewusstseinszustand (Noesis) einerseits und dessen intentionales Korrelat (Noema) andererseits. Wie bei ähnlich gebildeten Ausdrücken (cogitatio/cogitatum, Erscheinen/Erscheinendes, Sein/Seiendes) deutet die enge grammatikalische Verbindung bereits den Gedanken an, dass verschiedenen Formen anschaulichen Bewussthabens Strukturen des intentionalen Korrelats direkt entsprechen. Sehe ich etwa einen blühenden Baum, muss es auch unmittelbar zum Sinn dieses Gegenstands gehören, sichtbar und in dieser Weise wahrnehmbar zu sein. Gegenstand und Gegebenheitsweise sind in einer für visuelle Wahrnehmung spezifischen Weise verbunden. In der Korrelation der Wahrnehmung (Husserl spricht von »Noesen«) mit ihrem intentionalen Objekt konstituiert sich ein »Wahrnehmungs-Noema« (Hua III/1, 205). Husserl sucht die systematische Form dieser Korrelation dadurch zu fassen, dass er typische Eigenschaften (»Wesensmomente«; Hua III/1, 205) des Noemas beschreibt. Wenn ich wie in unserem Beispiel ein Objekt sehe und als sichtbar bewusst habe, dann wird dieses ipso facto als räumlich ausgedehnt wahrgenommen. Das ist kein bloßes psychologisches Assoziationsgesetz (B. Smith 1986). Die Reflexion auf das intentionale Bewussthaben des Gegenstandes lässt in epistemischer Hinsicht erkennen, dass visuelle Wahrnehmung die Erfassung von Extension enthält. Ontologisch bedeutet dies ein bestimmtes Verhältnis zwischen Eigenschaften wahrnehmbarer Gegenstände: Die Eigenschaft räumlicher Ausdehnung superveniert über die Qualität der Sichtbarkeit. Solche Zuschreibungen umfassen nicht nur »formal-ontologische« Kategorien (etwa Gegenstand, Sach-
I.5. Gegenständlichkeit
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verhalt oder Beschaffenheit) und »material-ontologische« (wie Figur oder Ursache), sondern auch »sachhaltige Bestimmungen« (wie rau, hart, farbig) und »Wertprädikate […], wie wenn wir von dem erscheinenden Baum […] sagen, er sei bedeckt mit ›herrlich‹ duftenden Blüten« (Hua III/1, 300 f.). Das Bündel dieser Eigenschaften nennt Husserl den »Gegenstand im Wie seiner Bestimmtheiten« (Hua III/1, 303; Arnold 2020). Modalen Bestimmungen kommt im Noesis-Noema-Modell eine Sonderrolle zu. Anstatt ein Set von Modalkategorien wie wirklich/möglich/notwendig vorauszusetzen, versucht Husserl eine differenziertere Beschreibung. Diese geht davon aus, dass jede intentionale Struktur eine spezifische Weise definiert, wie der Gegenstand existiert, auf den diese gerichtet ist. Husserl übernimmt hier idealistisches Vokabular und spricht von einem Setzen (griechisch thésis) des Gegenstandes ( C.I.6). Das Noema enthält einen spezifischen »thetischen Charakter« (Hua III/1, 260), der durch die jeweilige intentionale Struktur der Noesis definiert wird. Handelt es sich wie in unserem Beispiel um einen Erfolgsfall von Wahrnehmungswissen, muss es sich bei dem, was ich sehe, bereits deshalb, weil ich den Gegenstand sehe, um etwas Wirkliches handeln. Andere thetische Charaktere motivieren andere Modalitäten. Kämen mir z. B. Zweifel an der – für Wirkliches typischen – Gewissheit, etwa weil die Wahrnehmungssituation nicht optimal ist, weicht die Wahrnehmungsgewissheit einer »Fraglichkeitsthesis« des Noema und dem Objekt wird »Fraglichsein« zugeschrieben (Hua III/1, 260). Allen diesen Fällen gemeinsam ist jedoch, dass sie jeweils systematische Verbindungen von Eigenschaften des Gegenstands und dessen Gegebenheitsweise darstellen. Wie ich das sehe, was ich sehe, definiert die für das Sehen spezifische Korrelation ( C.I.1) von epistemischen Merkmalen der Gegebenheitsweise und ontologischen Eigenschaften des Gegenstands. Dies lässt sich zu der These verallgemeinern, dass die für die verschiedenen intentionalen Strukturen spezifische Evidenz ( C.I.3) die Zuschreibung eines für diese Wissensform jeweils typischen Sets (dispositionaler) Eigenschaften rechtfertigt. Husserl nennt solche Gesetzmäßigkeiten, die für die Form (griechisch eidos) der Verbindung von Noesis und Noema kennzeichnend sind, eidetisch. Die Methoden der phänomenologischen Deskription ( C.II.1) und eidetischen Variation ( C.II.3) bauen mithin auf dem Gedanken einer systematischen Korrelation von Gegenstand und Gegebenheitsweise auf. 5.2. Das Problem des mediationalen Repräsentationalismus
Husserls eidetisches Modell bringt zwei Schwierigkeiten mit sich, von denen eine vor allem am Noema-Begriff diskutiert wurde. Sie besteht darin, einerseits einen Psychologismus, andererseits einen Repräsentationalismus in der Beschreibung eidetischer Gesetzmäßigkeiten zu vermeiden. Dieses Dilemma entsteht, weil die Genese eines Noemas konstitutiv mit Noesen verbunden ist. Wäre etwa im Sehen keine reflexiv zugängliche intentionale Bewusstseinsaktivität involviert, gäbe es
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nichts, an dem eine Reflexion auf Wahrnehmung als Wissens- und Wirklichkeitsstruktur ansetzen könnte. Die formalen oder eidetischen Gesetzmäßigkeiten, unter denen Noemata stehen, können aber in ihrer Geltung nicht vom aktuellen Vollzug intentionaler Akte abhängig sein, wenn sie objektives Wissen darstellen und die ontologische Verfassung einer Menge von Gegenständen betreffen sollen. Dass die Geltung eidetischer, vor allem logischer Gesetze vom empirischen Vorliegen bestimmter Bewusstseinsaktivität abhängt, war gerade die Position des Psychologismus, dessen Zurückweisung am Anfang von Husserls philosophischem Projekt stand. Husserl geht deshalb von einer relativen Unabhängigkeit des unter eidetischen Gesetzmäßigkeiten stehenden Noemas sowohl gegenüber den es konstituierenden Noesen als auch gegenüber dem Gegenstand aus, der in einer Bewusstseinsepisode präsent ist. In einer vieldiskutierten Passage schreibt Husserl daher, das »Baumwahrgenommene« existiere als »Sinn« auch dann weiter, wenn »das Ding in der Natur« nicht mehr existiert (Hua III/1, 205). Husserls Position scheint hier jener Gottlob Freges zu ähneln: ›Noema‹ wäre ein anderer Name für das, was dieser Sinn nennt (Frege 1892, 26). Noesis und Noema wären ontologisch eigenständige Einheiten, sodass die Phänomenologie in der Philosophie des Geistes auf eine Spielart des Repräsentationalismus festgelegt wäre, die man eine Mediatorentheorie der Intentionalität (Szanto 2012, 302–330) oder einen mediationalen Repräsentationalismus (Golob 2014, 77) nennen kann, da Bewusstsein nur vermittels einer ideal-abstrakten Klasse von Entitäten auf die Wirklichkeit bezogen wäre. Dieses Verständnis des eidetischen Modells hat zwar den Vorzug, Fälle von Halluzination und Illusion durch die ontologische Unabhängigkeit der intentionalen Medien erklären zu können. Es hat aber auch zur Konsequenz, dass in unproblematischen Fällen wie jenem der veridischen Wahrnehmung eine vermittelnde Entität angenommen werden muss, die sich phänomenal nicht ausweist. In der Forschung zu Husserl ist eine an Frege orientierte Deutung des Noemas daher zurückgewiesen worden (Føllesdal 1969; D.W. Smith/McIntyre 1982; Drummond 1990; Zahavi 2004). Gegen sie sprechen nicht nur exegetische Gründe. Husserl differenziert das Noesis-Noema-Modell vor allem durch Einführung zeitlicher Qualifikationen so aus, dass ein medialer Repräsentationalismus vermieden wird: Solange das intentionale Objekt im Modus der Wahr nehmung gegeben ist, sind Wahrnehmungsnoema und realer Gegenstand un unterscheidbar. Ist dies nicht länger der Fall, dann spricht dies nicht für eine unabhängige Existenz des Noemas. Wenn ich mich jetzt daran erinnere, den Baum zuvor gesehen zu haben, bin ich vielmehr auf dasselbe intentionale Objekt wie in der Wahrnehmung gerichtet, nur eben in einem anderen noematischen Charakter. Das für sich genommen statische Noesis-Noema-Modell lässt sich dadurch erweitern, dass es komplexere Erfahrungsverläufe und Motivationszusammenhänge beschreibt ( C.II.5), in denen die Gegebenheitsweisen wechseln.
I.5. Gegenständlichkeit
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5.3. Das Problem der farblosen Gegenstände
Ein tieferes Problem ergibt sich aus dem, was Benoist den »Mythos der ›farblosen Gegenstände‹ [›objets blancs‹]« nennt (Benoist 2014, 61). Dieses Problem lässt sich erkennen, wenn man fragt, ob es einen mentalen Akt gibt, der die Identität des Gegenstands beim Wechsel der Gegebenheitsweise aufrechterhält. Husserl beantwortet diese Frage durch die Beschreibung rein intentionaler Objekte: Ein »innerstes Moment des Noema« (Hua III/1, 299) bleibe in allen Veränderungen der gegenständlichen Prädikate und ontologischen Modalitäten identisch. Dieses »pure[…] Gegenstandsetwas« (Hua III/1, 302 f.) ist der »Identitätspol« (Hua XVII, 172; Hua I, 100) intentionaler Erfahrung. Die Einführung eines rein intentionalen Objekts ›im‹ Noema erzeugt jedoch einen Regress, denn nach Art der Matrjoschka-Puppen lässt sich bei jedem Noema erneut fragen, was für ein Gegenstand diesem innewohnt. Die Korrelation von Was und Wie scheint zudem den Schluss nahezulegen, dass, wenn es bestimmungslose Gegenstände gibt, sich auch eine ihnen korrespondierende Form reiner Gegebenheit finden lassen muss. In der nachhusserlschen Phänomenologie hat dies bei Autoren wie Jean-Luc Marion und Michel Henry die Suche nach einem Ursprung der Phänomene motiviert ( B.III.6) (Serban 2020; Jean 2020). Husserl weist die Idee reiner Gegebenheit dagegen zurück. Zwar nimmt er in den Logischen Untersuchungen an, dass es »objektivierende Akte« gebe, die »Gegenständlichkeit überhaupt vorstellig […] machen« (Hua XIX/1, 515). Diese sind jedoch das Produkt einer Abstraktionsleistung, die in den Ideen als »Neutralitätsmodifikation« (Hua III/1, 247; de Warren 2015) bezeichnet wird und die, wie Husserl in Antwort auf den oben skizzierten Regress hervorhebt, nicht iterierbar ist (Hua III/1, 252 f.). Die thetischen Charaktere werden in diesem Gedankenexperiment durch ein »neutrales Bewußtsein« (Hua III/1, 249) ersetzt. Die übrig bleibenden Sinneinheiten bilden jedoch keine fundierende Gegenstandsschicht, sondern sind lediglich Reflexionsprodukt. In der formalen Ontologie ist »Gegenständlichkeit überhaupt« eine »Leerregion« (Hua XVII, 153). Husserls Antwort auf das Problem der farblosen Gegenstände besteht mithin darin, den Gegenstandsbegriff zu dynamisieren. Ein Gegenstand nimmt je »nach den konstitutiven Umständen der Gegebenheit neue Eigenschaften an«, seine eidetische Konstitution ist »offen« und daher nicht »ein für alle mal erfaßbar« (Hua IV, 299). Eidetische Gesetzmäßigkeiten lassen sich folglich nur relativ zur Sequenz synthetisch verbundener mentaler Episoden entdecken. Das ist einer der Gründe, warum werkgeschichtlich das Zeitbewusstsein ( C.I.7) für Husserl eine immer größere Rolle spielt.
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5.4. Das hermeneutische Modell (Heidegger)
Während Husserl Epistemologie und Ontologie in einer Theorie des Bewusstseins verbindet, sucht Heidegger diese Verbindung in einer breiter angelegten Theorie des Verstehens (griechisch hermenéuein). Die hermeneutische Phänomenologie teilt mit jener Husserls den Ansatz einer transzendentalen Ontologie (Crowell/Malpas 2007), als transzendentale Instanz wird mit dem Verstehen jedoch nicht das Bewusstsein, der Geist oder ein Bereich logischer oder idealer Formen angesetzt, sondern die konkrete und geschichtliche menschliche Existenz. Durch eine »existenziale Analytik des Daseins« soll eine »Fundamentalontologie« (GA 2, 18; Keiling/Mirkovic 2020) die Kategorien bereitstellen, um in einer »universalen phänomenologischen Ontologie« (GA 2, 18) alle ontologischen Bereiche gleichermaßen zu erfassen. Heidegger initiiert damit eine hermeneutische Wendung ( B.III.3) der Phänomenologie, die insbesondere von Hans-Georg Gadamer (1960), Paul Ricœur (1983–1985; 2005) und Günter Figal (2006; 2015) ausgearbeitet worden ist. Die hermeneutische Modifikation des eidetischen Modells ist vor allem durch das Problem des mediationalen Repräsentationalismus ( C.I.5.2) motiviert. Für den frühen Heidegger ist es im Rahmen einer bewusstseinstheoretischen Beschreibung von Gegebenheitsweisen nicht lösbar, weil diese eine Verzerrung des eminent praktischen Charakters von Wissen mit sich bringe. Das hermeneutische Modell zielt deshalb auf eine Rehabilitation des praktisch und historisch situierten Charakters von Wissen (Dahlstrom 1994; Gethmann 1993). Dennoch übernimmt Heidegger den Grundgedanken einer systematischen Korrelation von Was und Wie: Dass ein Gegenstand in einer bestimmten Weise gegeben ist, bezeichnet Heidegger als den Umstand, dass dieser als etwas verstanden wird (GA 21, 153). Was dagegen außerhalb eines Verstehenskontextes liegt, ist kein möglicher Gegenstand von Wissen, sondern verdeckt oder verborgen. Die wichtigste Beschreibung des hermeneutischen Modells der Gegebenheit findet sich in den Paragrafen 32 und 33 von Sein und Zeit, deren notorisch gewordenes Beispiel der kompetente Gebrauch eines Hammers ist. Das Wie des Erscheinens ist hier dadurch bestimmt, dass der Gegenstand Mittel zum Erreichen eines praktischen Zwecks im Zusammenhang von Handlungsmöglichkeiten ist. Diese definieren sich zunächst durch die Affordanzen von in einem Kontext verbundenen Gebrauchsdingen, den Heidegger eine »Bewandtnisganzheit« (GA 2, 210) nennt. Verstehen richtet sich primär auf diesen Kontext im Ganzen. Einen einzelnen Gebrauchsgegenstand seiner Funktion gemäß zu benutzen, ist eine demgegenüber spezifischere Manifestation von Handlungswissen, die Heidegger Auslegung nennt: Lege ich den Hammer beiseite, weil dieser für einen bestimmten Zweck ungeeignet ist, stellt dies eine erfolgreiche Auslegung der Handlungssituation und eine Form von Wissen dar, das weder begrifflich noch propositional strukturiert ist (GA 2, 209 f.). Diesen Fähigkeitscharakter von Wissen (skillful coping) hat vor allem Hubert Dreyfus (1991; 2014; 2015) herausgearbeitet und in
I.5. Gegenständlichkeit
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einer Debatte mit John McDowell verteidigt (Schear 2013). Die Betonung der Eingebundenheit des Mentalen in Handlungszusammenhänge ist zur Inspiration für Gilbert Ryles Unterscheidung von knowing that und knowing how sowie die enaktivistische Theorie des Geistes geworden (Kelly 2001; Noë 2004, 75–122; Dreyfus/Kelly 2007). 5.5. Das Problem der ontologischen Reduktion
Das Problem des mediationalen Repräsentationalismus ist jedoch nach Heideggers Überzeugung noch nicht dadurch überwunden, dass instrumentelles Handlungswissen als eigene Gegebenheitsweise herausgearbeitet wird. Vielmehr lasse es sich nur dadurch lösen, dass man jene basale Form von Verstehen identifiziert, welche überhaupt erst Kategorien des Wirklichen zur Verfügung stellt. Heidegger nennt diese Wissensform Seinsverständnis (GA 2, § 4; Dreyfus/Wrathall 2017). Der Versuch zu zeigen, dass es eine solche epistemologisch fundamentale Form ontologischen Wissens gibt, lässt sich als Problem der ontologischen Reduktion bezeichnen. Der erste Schritt dieser Reduktion besteht darin, propositionales Wissen als derivativ gegenüber Gebrauchswissen zu beschreiben. Würde man den Hammer mit einem rein theoretischen Erkenntnisinteresse untersuchen, erschiene dieser nicht mehr als Element eines Funktionszusammenhangs (»Zeug«, GA 2, § 22), sondern als Bündel raum-zeitlicher Eigenschaften. Das erfasst den spezifischen Sinn des Gegenstands jedoch schlechter als der praktische Zugriff, der deshalb explanatorisch fundamentaler sein muss. Die Gegebenheitsweise lebensweltlichen Handlungswissens ist daher gegenüber epistemischen Praktiken vorrangig, die propositionales Wissen involvieren. In einem zweiten Schritt will Heidegger zeigen, dass propositionales und Handlungswissen wiederum von einer ontologischen Wissensform abhängig sind, welche die zeitlichen Charakteristika des Realen erfasst. Damit greift Heidegger Husserls Gedanken auf, unterschiedliche Formen von Gegebenheit ließen sich auf Zeitbewusstsein beziehen, formuliert ihn aber ontologisch. Da Handlungszwecke sich nicht ohne zeitliche Kategorien verstehen lassen, generalisiert Heidegger, diese seien für alle intentionalen Formen basal, was sich in größtmöglicher Abstraktion eben als Korrelation von Sein und Zeit bezeichnen lässt. Nach Heideggers eigener Überzeugung (GA 82; Thomä 2015) ist Sein und Zeit jedoch am Problem der ontologischen Reduktion gescheitert: Naturvorgänge oder das plötzliche Eintreten von Ereignissen lassen sich mit Verweis auf die Zukunftsbezogenheit menschlichen Handelns nicht plausibel beschreiben (GA 25, 19; Cerbone 1995). Der für Alltagshandlungen typische Verstehenskontext lässt sich nicht zu einer Ontologie alles Seienden verallgemeinern.
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5.6. Pluralismus der Gegebenheit
Dieses Scheitern der Reduktion verschiedener Gegebenheitsweisen auf eine basale ontologische Form motiviert deshalb eine Revision des hermeneutischen Modells in Richtung einer stärkeren Anerkennung der Heterogenität des Erscheinenden. Anstatt eine neue Ontologie in Aussicht zu stellen, will der späte Heidegger Gegebenheitsweisen in einer Komparatistik verschiedener ontologischer und epistemologischer Hintergrundannahmen untersuchen. Diese Metatheorie des Seinsverständnisses (»Metontologie«, GA 26, 199; Schmidt 2016) konkretisiert sich zum einen als Seinsgeschichte (Keiling 2015; 2018; Thomä 2013), die historische Formen ontologischen Verstehens untersucht, zum anderen in Heideggers Analyse moderner Technik. Anders als in Michel Foucaults (1966/1971) Analyse epistemischer Ordnungen bleibt für beide Problemfelder der Gedanke einer Korrelation von Was und Wie des Erscheinens zentral, wird durch die Unterscheidung von Dingen und Gegenständen jedoch modifiziert. Heidegger zeigt vor allem an Paradigmen der Philosophiegeschichte, dass sich ein theorieinternes von einem theorieexternen Verständnis von Gegenständlichkeit unterscheiden lässt: Jedes historische Seinsverständnis definiert einen eigenen Begriff objektiven Wissens, der festlegt, was innerhalb dieser Ontologie überhaupt als möglicher ›Gegenstand‹ erscheint. ›Ding‹ bezeichnet dagegen das metaphysisch neutrale Korrelat aller möglichen epistemischen Formen, die sich deshalb als »Auslegungen der Dingheit des Dinges« (GA 5, 15; GA 41, § 10) begreifen lassen. Diese Unterscheidung ähnelt Hilary Putnams Unterscheidung zweier philosophischer Perspektiven und seinem Modell eines internen Realismus (Putnam 1981/1982, 75–106; Keiling 2019). Heidegger gebraucht diese nicht nur als hermeneutischen Schlüssel zur Interpretation der Philosophiegeschichte, sondern spitzt sie kritisch zu: Jeder der untersuchten Theorierahmen blende die singuläre Konstitution des Seienden (Ding) zugunsten seiner Erfassung nach typischen Merkmalen (Gegenstand) ab, sodass nicht das Wirkliche, sondern nur allgemeine Repräsentanten erfasst werden (GA 5, 75–114; GA 77, 86–88; Mitchell 2015). Derselbe metaphysische Fehler liege im Falle rein technischer Rationalität vor, die zur Nivellierung des Wirklichen zum uniformen Bestand (GA 79, 5–23; GA 7, 5–36; Wendland et al. 2018) führe. Heidegger greift mit diesen Überlegungen Husserls Analyse der Formalisierung und Mathematisierung von Wissen auf, verbindet diese jedoch mit einem Plädoyer für eine Metaphysik des Singulären (Backman 2015). Trotz der offenkundigen Unterschiede zwischen dem hermeneutischen und dem eidetischen Modell wird hier erneut deutlich, dass beide von ähnlichen Problemen motiviert sind: Beschäftigt Husserl das Problem des mediationalen Repräsentationalismus im Rahmen einer Philosophie des Geistes, macht der späte Heidegger dasselbe Grundproblem in den Epochen der Philosophiegeschichte und der Metaphysik der Technik aus. Heideggers eigener Versuch, den mediatio-
I.6. Positionalität
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nalen Repräsentationalismus durch die Ontologie eines alle Gegenstände und Gegebenheitsweisen überwölbenden Zusammenhangs zu überwinden, scheitert jedoch am Problem der ontologischen Reduktion, was dazu führt, von einer unaufhebbaren Pluralität von Gegebenheitsweisen auszugehen. Die mit dem Begriff des ›Dings‹ verbundene Metaphysik ähnelt dabei wieder Husserls dynamisiertem Gegenstandsbegriff, wenn dezidiert darauf verzichtet werden soll, eine Form der Gegebenheit ontologisch zu privilegieren. Der Begriff ist daher im letzten Jahrzehnt zum Schlagwort für eine stärkere Berücksichtigung materieller Kultur in den Medien- und Kulturwissenschaften ( D.IX) geworden (Harman 2011/2015; Därmann 2014). Tobias Keiling
6. Positionalität Stellungnahme, Einstellung, Haltung
Für das phänomenologische Verständnis von ›Positionalität‹ (von lateinisch ponere = setzen, stellen, legen) sind zwei begrifflich unterscheidbare, obgleich ontologisch untrennbare Momente kennzeichnend: Einerseits geht es um die faktische Stellung oder den Standpunkt erlebender Subjekte in der Welt, andererseits um das intentionale Stellungnehmen (Setzen) oder Sich-Verhalten zur Welt. Charakteristisch für die Phänomenologie ist zudem, dass Positionalität nicht auf die ›intellektualistische‹ (Merleau-Ponty 1945/1966, passim) Sphäre (selbst)bewusster mentaler Zustände im engeren Sinne beschränkt wird, also etwa auf explizite Urteile und propositionale Einstellungen, sondern vielmehr eine fundamentale Struktur allen Erlebens darstellt, sei dieses nun ausdrücklich oder lediglich »präreflexiv« (Sartre 1943/2020, 17–27) bewusst. Was das zweite, das stellungnehmende (setzende) Strukturmoment der Positionalität betrifft, so wird dieses vor allem in Husserls Projekt einer transzendentalen ›konstitutiven Phänomenologie‹ ausführlich untersucht ( C.I.4). In diesem Projekt, welches das »ganze Ineinander von Bewußtseinsleistungen aufzuklären« hat, das »zur Konstitution einer möglichen Welt führt« (Husserl 1939/1999, 50), spielt Positionalität insofern eine zentrale Rolle, als es an ihr liegt, dass uns etwas als ein so und so seiendes oder nichtseiendes Objekt erscheint. Ohne positionale Akte würde uns keine Welt erscheinen und wir würden uns auch nicht als Subjekte in der Welt erfahren. In seiner Schrift »Philosophie als strenge Wissenschaft« behauptet Husserl sogar, dass »alles Leben […] Stellungnehmen« (Hua XXV, 56) sei. Die Bedeutung der Positionalität für die Natur des Bewusstseins wird auch von Sartre betont, da es ihm zufolge »kein Bewußtsein gibt, das nicht Setzung eines transzendenten Objekts wäre« (Sartre 1943/2020, 19). Setzung ist stets mit einem subjektiven »Glaubens-« und einem gegenständlichen »Seinscharakter« (Hua III/1, 239) verbunden; z. B. erscheint uns ein wahrgenommener Tisch als wirklich-seiend, ein bloß imaginierter als möglich-seiend
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usw. Die idealistisch schillernde Rede von ›Setzung‹ ist dabei tendenziell nicht als eine Erzeugung von Seiendem zu verstehen. (Allerdings gibt es sowohl bei Husserl als auch bei Sartre starke idealistische Züge, die eine tiefgreifende ontologische Abhängigkeit des gesetzten Existierenden vom setzenden Bewusstsein nahelegen; Hua XXXV, § 55; Sartre 1943/2020, 57 ff.; hier behauptet Sartre etwa, ein Ereignis der Zerstörung könne es nur relativ zu einem Bewusstsein geben.) Beim Setzen handelt es sich zwar um eine subjektive Leistung, aber diese besteht weniger darin, Dinge zu erzeugen, sondern vielmehr darin, das (vor)gegebene Sein und Sosein der Welt in einer bestimmten Hinsicht (mit einem bestimmten ›Sinn‹) zu erschließen oder zu manifestieren. Mit Seiendem jedweder Kategorie und Region steht setzendes Bewusstsein gleichwohl in einem wesentlichen Zusammenhang, den Husserl und nahestehende Phänomenolog:innen als »universelle[s] Korrelationsapriori« (Hua VI, 161) bezeichnen ( C.I.1). Zu beachten ist ferner, dass die Setzung einer Welt immer auch ein passiver Prozess ist, auf den sich höherstufige logische Leistungen oder ›Setzungen‹ des Ich stützen müssen. Die setzende Aktivität des bewussten Subjekts ist unmöglich ohne eine faktisch vorgegebene Stellung in der Welt, die wahlweise als ›Passivität‹ (Husserl) oder als ›Faktizität‹ und ›Geworfenheit‹ (Heidegger, Sartre) bezeichnet wird. Um Husserls Verständnis von Positionalität im Detail nachvollziehen zu können, sind verschiedene Aspekte intentionaler Erlebnisse (›Akte‹) zu unterscheiden. Denn Positionalität ist primär eine Eigenschaft manifester intentionaler Erlebnisse. Intentionale Haltungen oder Einstellungen, die nicht aktuell erlebt sind (z. B. latente Überzeugungen), können auch positional sein, aber sie sind »wesensmäßig […] zurückbezogen auf den Erlebnisstrom« (Hua I, 101), der das »Material der Beurkundung alles Seelischen« (Hua IV, 123) darstellt. Intentionale Erlebnisse sind solche mentalen Prozesse, zu deren Wesen es gehört, sich (von sich aus) auf ein intentionales Objekt zu richten. Jeder dergestalt gerichtete Akt instanziiert ein »intentionales Wesen« (Hua XIX/1, 413), das zwei intrinsische Eigenschaften umfasst: Erstens ist man immer auf ein in bestimmter Hinsicht vorgestelltes Objekt gerichtet. Der Akt muss eine »Materie« (Hua XIX/1, 430) oder einen (noematischen) »Sinn« (Hua III/1, §§ 88 ff.) haben. Zweitens muss jeder Akt einer bestimmten Art zugehören, d. h., er muss eine »Qualität« (Hua XIX/1, 425) oder noetische Verfassung aufweisen (z. B. Wahrnehmung, Imagination, Urteil, Wollen). Wenn ich mir z. B. einen goldenen Berg vorstelle, so handelt es sich um einen Akt der Fantasie (oder Imagination) (= Qualität), in dem mir ein goldener Berg aus einer bestimmten Perspektive und mit einer bestimmten Beschaffenheit erscheint (= Materie) ( C.I.2). Nach Husserl umfasst nun die Qualität eines Aktes notwendigerweise einen gewissen positionalen Modus, der darin zum Ausdruck kommt, dass uns intentionale Objekte stets mit irgendeiner »Seinsmodalität« (Hua III/1, §§ 103 ff.) begegnen. Wir können sozusagen nicht völlig neutral bleiben, wenn wir ein Objekt intentional anvisieren. Den bloß vorgestellten goldenen Berg halte ich z. B. typischerweise für nichtseiend, gerade weil ich ihn bloß imaginiere. Aufgrund seiner
I.6. Positionalität
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Positionalität geht jeder Akt mit einem gewissen Anspruch auf (So-)Sein oder Nicht-(So-)Sein einher. Intentionalität ist demnach keine doxisch (griechisch doxa = Glauben, Meinen) neutrale Angelegenheit, da sie wesentlich mit einer bestimmten glaubenden Stellungnahme zum Seienden verbunden ist. Im Kontrast zum Mainstream der intellektualistischen Tradition (etwa Kant) und konzeptualistischen Entwürfen der Gegenwartsphilosophie (etwa McDowell) ist ein solcher setzender ›Seinsglaube‹ nach Husserl und anderen Phänomenolog:innen jedoch nicht notwendigerweise propositionaler bzw. explizit urteilsartiger oder begrifflicher Natur (A.D. Smith 2001). Dies zeigt sich z. B. daran, dass uns Dinge selbst dann noch als (so und so) seiend erscheinen können, wenn wir in unseren reflektierten Urteilen vom Gegenteil überzeugt sind. Dies trifft z. B. auf die Müller-Lyer-Illusion zu, bei der uns zwei Pfeile als verschieden lang erscheinen, selbst wenn wir aufgrund von Nachmessungen überzeugt sind, dass sie gleich lang sind. Die Setzungen des Bewusstseins sind also au fond vorsprachlicher und nichtbegrifflicher Natur. Wahrnehmung mit ihrem passiven »perzeptiven Glauben« (Hua XVI, 15 f.) hat »notwendig ihre Glaubenstendenz« (Hua XXIV, 344) und enthält in sich selbst einen setzenden »Existentialhinweis« (Reinach 1989, 552 f.). Jedes positionale Erlebnis ist intentional, aber nicht umgekehrt. Denn es gibt auch doxisch-neutrale Akte: »[S]o geartet ist Bewußtsein überhaupt, daß es von einem doppelten Typus ist: Urbild und Schatten, positionales Bewußtsein und neutrales.« (Hua III/1, 261) Allerdings sind alle nicht-setzenden Erlebnisse Modifikationen von positionalen Akten, woraus sich ein gewisser Primat der Positionalität gegenüber der Neutralität ergibt. Neutrale Erlebnisse liegen beispielsweise vor, wenn wir Annahmen machen (z. B. bei Gedankenexperimenten) oder eine Zeitlang in Fantasiewelten leben. Nach Husserl handelt es sich beispielsweise beim Fantasieren um eine Modifikation eines ursprünglich unmodifizierten »Seinsglaubens«, auf den es zurückbezogen bleibt. Eine Fantasie ist wesentlich durch »Quasi-Positionalität« (Husserl 1939/1999, 195) gekennzeichnet, denn auch bei ihr verschwindet das »Seinsbewusstsein« nicht gänzlich, sondern nimmt »die kraftlose Form des Als-ob« an (Hua XXIII, 505). Anders als bei seinem Lehrer Brentano ist das neutrale Bewusstsein (Brentanos bloßes Vorstellen) bei Husserl keine fundierende Bewusstseinsform, sondern ein parasitärer Modus, der letztlich in der unmodifizierten erfahrungsmäßigen Gewissheit des Weltglaubens fundiert ist. Die positionalen Akte induzieren insgesamt eine hierarchische Fundierungsstruktur (De Monticelli 2011), in der die setzenden Akte der ›naiven‹ Wahrnehmung die unterste und vergleichsweise passive Stufe bilden. Auf ihnen bauen sich höherstufige Setzungen des Urteilens auf, die wiederum für positionale Erlebnisse aus der Gefühls- und Willenssphäre eine fundierende Rolle spielen. Cum grano salis kann man sagen, dass, je höher die Stelle eines Aktes in dieser Hierarchie von Positionen ist, desto aktiver das Subjekt involviert ist. So sind z. B. willentliche Entscheidungen ungleich aktiver als doxische Setzungen auf der ele-
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mentaren Wahrnehmungsebene. Gleichwohl ist das phänomenale ›Setzen‹ auf keiner Stufe etwas gänzlich Passives. Dass ich im Normalfall glaube, was ich sehe, ist zwar zunächst ein passives Geschehen. Allerdings ist dieses Für-seiend-Halten bereits auf der untersten Stufe der passiv setzenden Wahrnehmung ein komplexes Resultat der Art und Weise, wie ich mich sensomotorisch, also aktiv, in der Welt bewege. Hätte ich mich z. B. nie (aktiv) um ein Ding herumbewegt, so würde ich die meisten Dinge in meiner Umgebung (inklusive ihrer aktuell nicht wahrgenommenen Rück-, Unter- und Innenseiten) nicht ohne Weiteres für seiend halten. Selbst wenn also mein Seinsglaube als solcher nichts Aktives darstellt, so ist er in seiner Genese doch auf mein aktives In-der-Welt-Sein angewiesen und kann somit als eine Leistung des Bewusstseinslebens bezeichnet werden (Husserl 1939/1999, § 13). Bewusstsein ist allerdings nicht nur, wie man sagen könnte, transitive Setzung eines transzendenten Objekts, sondern auch intransitive Setzung eines bewussten Subjekts bzw. ›Ich‹. Dies impliziert, dass positionale Erlebnisse nicht nur Seinscharaktere auf der Objektseite des Bewusstseins zur Erscheinung bringen, sondern ebenfalls dazu beitragen, dass das Subjekt des Bewusstseins eigenschaftlich, d. h. in seinen »bleibenden Eigenheit[en]« (Hua I, 100) bestimmt wird. Was ich glaube, prägt mich und bestimmt die Weise, wie ich die Welt künftig erfahren und auffassen werde ( C.I.12). Setzungen sind somit keine folgenlos an mir vorüberziehenden Episoden, sondern graben sich gleichsam in mich hinein mit der Folge, dass sich das Ich auf diese Weise als beharrliche Substanz bzw. »Substrat bleibender Ich-Eigenheiten konstituiert« (Hua I, 101; Hua IV, § 29). Aus dem ›transzendentalen‹ oder ›reinen‹ Ich, das in seiner Identität alle Erlebnisse gleichermaßen polarisiert und ›begleitet‹ (Kant), wird kraft positionaler Akte eine individuelle Substanz oder Person mit einem »bleibenden Stil, eine[m] personalen Charakter« (Hua I, 101), sodass man geradezu sagen kann: Ich bin, was und wie ich setze. Während in den zu Husserls Lebzeiten publizierten Werken die Positionalität vorstellender und kognitiver Erlebnisse dominiert, haben nachfolgende Phänomenolog:innen den Stellungnahmen, die mit emotiven und konativen Akten einhergehen, besondere Aufmerksamkeit gewidmet (Pfänder 1911; Stein 1917/ 2008; Reiner 1927). So charakterisiert beispielsweise Pfänder Willensakte (Entscheidungen) als »praktische Vorsetzung[en]« (Pfänder 1911, 173), denen ein spezifisch praktisches Korrelat entspricht, nämlich der Vorsatz. Reiner hebt die Bedeutung von Willensstellungnahmen für die Selbstkonstitution der »sittlichen« Person hervor und stuft sie höher als deren tatsächliche Handlungen ein: »Denn Handlungen und Tun sind für das Wesen der Person, insbesondere wenn wir diese als sittliche fassen, letztlich irrelevant, während erst die Stellungnahmen ihr Wesen ausmachen.« (Reiner 1927, 153) Schließlich betont Stein das setzende Potenzial der Gefühle, in denen sich uns die axiologische Dimension der Dinge erschließt. So kann z. B. die Wut auf eine Person, die uns betrogen hat, insofern als setzend verstanden werden, als uns in ihr die Niederträchtigkeit der begange-
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nen Handlung offenbar wird. Zu Gefühlen gehört nach Stein wesentlich ein primitives setzendes »Wertfühlen« (Stein 1917/2008, 112). All diese höherstufigen Positionen sind zwar fundiert in doxisch-theoretischen Setzungen, aber nicht auf diese reduzierbar. Für die intransitive Konstitution des Subjekts sind alle setzenden Akte von Bedeutung, aber im engeren Sinne individualisierend bzw. personalisierend sind die fundierten Setzungen, insbesondere die Setzungen in der volitiven und emotiven Sphäre. Im engeren Sinne bin ich also das, was ich in emotiven und konativen Erlebnissen setze. Eine weitere Vertiefung erfährt das Stellungnehmen und Setzen in der von der Phänomenologie inspirierten lebensphilosophischen Konzeption Helmuth Plessners, die im Kontrast zu Husserl darauf abzielt, Positionalität als Wesensstruktur alles Lebendigen aufzuzeigen, sei dieses nun erlebnisfähig oder nicht. Nach Plessner gibt es drei prinzipielle Spielarten der Positionalität, die er auch als »Organisationsweisen des lebendigen Daseins« bezeichnet (Plessner 1928/1975, 246). Dazu gehört die offene Organisationsform der Pflanze, die geschlossene (zentrische) Organisationsform des Tieres und schließlich die »exzentrische Positionalität« des Menschen ( D.V). Plessner geht es insgesamt darum, die Bewusstseinsphilosophie in einer Ontologie des Lebendigen zu fundieren, sodass sich Bewusstsein als eine bestimmte Strukturform des Lebendigen begreifen lässt. Auch bei Merleau-Ponty findet sich eine Fundierung positionalen Erlebens in einem »vorpersönlichen Bewußtseinsleben«, auf dessen »Untergrunde« jede explizit bewusste »willentliche Stellungnahme« vollzogen wird (Merleau-Ponty 1945/1966, 245). Diesseits »ausdrücklicher Stellungnahmen« gibt es Stellungnahmen, die gar nicht eigens reflektiert werden. Unser ganzes Leben und Erleben wird ermöglicht durch ein praktisches Feld von Bedeutsamkeiten, das immer schon Ausdruck gewisser präreflexiver Setzungen ist. Insgesamt kann man beobachten, dass, verglichen mit dem Gros von Husserls zu Lebzeiten publizierten Werken, spätere Phänomenolog:innen auf jeweils unterschiedliche Weise versuchen, das für erlebende Subjekte wesentliche Stellungnehmen und Setzen in fundamentaleren Strukturen zu fundieren. Was abschließend das erste Moment der Positionalität betrifft, d.i. den Stellungs- oder Standpunktcharakter im Unterschied zum Aspekt des Stellungnehmens oder Setzens, so ist, wie bereits angedeutet, zu betonen, dass Setzungen nicht aus dem Nichts kommen und niemals etwas durch und durch Aktives oder Spontanes sind. Diese passive Seite der Positionalität wird in der Phänomenologie auf unterschiedliche Weise thematisiert, etwa unter den Stichwörtern ›Geworfenheit‹ (Heidegger), ›Faktizität‹ (Sartre, Merleau-Ponty) oder ›Natalität‹ (Arendt). Mit Blick auf Husserl ist diesbezüglich vor allem die passive Synthesis zu nennen, welche die Erlebnissphäre der Affektion, Assoziation und unwillkürlichen Triebe und Strebungen organisiert und höhere Aktivitätsformen ermöglicht. Nach Husserl und anderen gilt sogar das Wesensgesetz: »[A]lle Aktivität setzt eine Passivität voraus.« (Hua XXXVII, 294; Reiner 1927, § 8) Auch das für die Phänomenologie so zentrale Phänomen des Leibes ( C.I.9) spielt für den
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Standpunktcharakter eine wichtige Rolle. Denn der Leib ist zwar für das jeweilige Subjekt aktives »Willensorgan«, allerdings ist er zugleich ein rezeptives »Lokalisationsfeld« (Hua IV, 151) von Empfindungen (Hua IV, 56) und der perspektivische »Nullpunkt aller […] Orientierungen« (Hua IV, 158), kraft dessen ich überhaupt eine Stellung in der Welt habe. Der Leib ist somit das Faktum meiner Stellung in der Welt und ermöglicht jede Art von Stellungnahme, wobei er selbst nicht vollends ›gesetzt‹ bzw. objektiviert werden kann. Nach Husserl steht mir »[d]erselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrnehmung dient, […] bei der Wahrnehmung seiner selbst im Wege und ist ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding.« (Hua IV, 159) Sartre spitzt das so zu: »[I]ch kann nicht das sehende Auge sehen, ich kann nicht die Hand berühren, insofern sie berührt. […] [D]ieses Zentrum als Struktur des betrachteten Wahrnehmungsfeldes sehen wir nicht: wir sind es« (Sartre 1943/2020, 560). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Positionalität in der phänomenologischen Tradition zwei ›gleichursprüngliche‹ (Heidegger), d. h. untrennbare und wechselweise irreduzible Momente umfasst, die in der komplexen Tatsache zum Ausdruck kommen, dass Subjekte von Erlebnissen eine faktische Stellung (Position) in der Welt haben, zu der sie zugleich Stellung nehmen. Stellungnahmen sind nicht trotz, sondern aufgrund der jeweiligen Stellung des Menschen in der Welt möglich – und vice versa. Denn Erfahrung geht notwendigerweise von einem bestimmten Standpunkt aus, den sie zugleich setzend überschreitet. Christopher Erhard
7. Zeitbewusstsein Retention, Impression, Protention
Zeitlichkeit spielt in der Phänomenologie eine zentrale Rolle, und diese Bedeutung kommt bereits in Husserls Analysen zum inneren Zeitbewusstsein zum Tragen. Laut Husserl setzt die chronologische Vorstellung von Zeit als einer linearen Ordnung mathematischer Jetztpunkte die vorgängige Konstitution von »Zeitobjekten« (Hua X, 23) voraus. Objektive Zeit gründet folglich in der intuitiven Auffassung der Dinge in der Zeit, die wiederum von der Wahrnehmung des Vergehens der Zeit abhängt, in der die Dinge andauern. Eine aus drei Noten bestehende Melodie beispielsweise ist ein Erfahrungsobjekt, bei dem jede Note einer anderen folgen muss. Drei Noten müssen auf distinkte Weise in der zeitlichen Relation des Vorher-Nachher zusammen gehört werden. Wenn alle drei Noten simultan gehört würden, würden wir einen Akkord hören; wenn die drei Noten als vollständig getrennt voneinander gehört würden, ergäben sie keine Melodie, sondern man hätte es mit drei unzusammenhängenden Noten zu tun. Statt die Konstitution von Zeitobjekten im Sinne von drei distinkten Vermögen oder Bewusstseinsfähigkeiten (Gedächtnis, Wahrnehmung und Erwartung;
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C.I.8) zu erklären, legt Husserl innerhalb des Wahrnehmungsaktes eine in sich zeitlich differenzierte Auffassungsform frei. Beim Hören einer Melodie nehme ich in Gestalt einer »durchlaufenden Intentionalität« die zeitliche Ausdehnung der drei Noten als ein einheitliches Zeitobjekt wahr. Jede Note der Melodie wird in der zeitlichen Sequenz des Vorher-Nachher auf der Grundlage der zeitlichen Erstreckung des Bewusstseins als Form dessen aufgefasst, was Husserl »Längsintentionalität« (Hua X, 380) nennt, womit er eine Intentionalität meint, die für die Dauer des Bewusstseins des Zeitobjekts mitläuft. Das innere Zeitbewusstsein ist ein immanenter »Strom« (Hua X, 54) oder »Fluss« (Hua X, 25), in dem die Transzendenz von Objekten konstituiert wird. Bewusstsein ist sowohl der Strom der konstitutiven Verzeitlichung der Objekte der Erfahrung als auch des Bewusstseins selbst. Ein Akt der Wahrnehmung ist aus drei distinkten, nicht aber voneinander unabhängigen Auffassungsmodi zusammengesetzt, die Husserl ›Urimpression‹, ›Retention‹ und ›Protention‹ nennt. Diese dreifache Form der Auffassung macht die Einheit einer »lebendigen Gegenwart« (Hua X, 54) aus, in der die Zeitobjekte in ihrer Dauer konstituiert werden. Jede originäre Gebung einer Urimpression oder jedes Bewusstsein der Jetztphase eines Zeitobjekts wird notwendigerweise durch eine Retention oder ein retentionales Bewusstsein modifiziert; jede Jetztphase muss notwendigerweise in die unmittelbare Vergangenheit des Gerade-Eben absinken. Genauso ist jede originäre Gebung gerahmt durch eine Protention oder ein protentionales Bewusstsein, das sich auf das Noch-nicht erstreckt – die nachfolgende Jetztphase. Während man die zweite Note hört, wird die erste als nicht länger gegenwärtig im Bewusstsein behalten. Husserls wegweisende Einsicht besteht darin zu zeigen, dass das Vergehen oder das Vorübergehen des Jetzt nicht vorausgesetzt werden kann und selbst genauso durch das Bewusstsein konstituiert werden muss. Eine originäre Gebung wird von Husserl als individuierende »Neuheit« (Hua X, 66) beschrieben, wobei »dieses Neue« (Hua X, 41) vermittels der Retention zugänglich wird und im intentionalen Bezug auf ein Zeitobjekt zugleich im Sinne der Erfüllung einer Protention verstanden werden muss: Derart steht jede Jetztphase für die Erneuerung der Gegenwart. Aber diese Erneuerung wird nicht als Wiederholung des ›Immergleichen‹ verstanden, sondern als erneuerte Selbstunterscheidung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestimmt. Das Jetzt kehrt nicht ewig als es selbst wieder, sondern ist von jedem anderen Jetzt unterschieden in Bezug auf seine eigene Vergangenheit und Zukunft. Husserl versteht diese ewige Wiederkehr der Differenz wesentlich als ständige Erneuerung. Diese Differenzierung fragmentiert aber nicht die Gegenwart, sondern sie ermöglicht vielmehr ihre Struktur als Vergänglichkeit, in der Identität erst erscheinen kann. Die Zeitlichkeit des Zeitbewusstseins, wie sie aus dem dreifachen »Hinströmen des Flusses« (Hua X, 82) zusammengesetzt ist, ist weder zirkulär noch linear. Um es mit einer Metapher zu sagen: Die Zeitlichkeit des inneren Zeitbewusstseins ist spiralförmig.
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Heideggers Zugang zum Zeitproblem während der 1920er-Jahre zentriert sich um die Frage: »Was ist das Wesen der Zeit, daß Sein in ihr gründet und in diesem Horizont die Seinsfrage als Leitproblem der Metaphysik entfaltet werden kann und muß?« (GA 31, 116) In Sein und Zeit schlägt Heidegger in den ersten Paragrafen vor, die Seinsfrage der geschichtlichen Vergessenheit zu entreißen, und zwar auf der Grundlage eines tiefreichenden Verständnisses menschlicher Subjektivität als Dasein. Für Heidegger stellt Zeit den Horizont für das Verstehen von Zeit, die das Dasein ist, zur Verfügung; demnach charakterisiert Zeitlichkeit den fundamentalen Sinn, gemäß dem Dasein ist. Die Möglichkeit des Seinsverstehens definiert das Wesen der menschlichen Existenz als ein Sein, für das der Sinn des Seins überhaupt fraglich werden kann und das selbst infrage steht, sofern es nach dem Sein fragt. Es bedarf also, in Heideggers Worten, »einer ursprünglichen Explikation der Zeit als Horizont des Seinsverständnisses aus der Zeitlichkeit als Sein des seinsverstehenden Daseins« (SuZ, 17). Das westliche metaphysische Denken unterscheidet verschiedene Arten des Seins als verschiedene Arten zeitlichen Anwesens: Seiendes, das einen Anfang und ein Ende hat, Seiendes, das weder einen Anfang noch ein Ende hat, Seiendes, das hervorgebracht worden ist, usw. Seit dem Beginn des griechischen Denkens wird der grundlegende Sinn von Sein verstanden als »Anwesenheit« (SuZ, 26). Es ist genau jene unhinterfragte Bindung von ›Sein‹ und ›Anwesendsein‹, die Heidegger mit seiner Fundamentalontologie, ausgehend von dem Seinsverstehen des Daseins, infrage stellt. Unterschiedliche Formen der Objektivität sind wesentlich durch verschiedene Formen der Zeitlichkeit konstituiert. Diese unterschiedlichen Formen der Temporalität als unterschiedliche Formen der Intentionalität gründen im ›absoluten Zeitbewusstsein‹ und in seiner Doppelintentionalität des ›Fremdbewusstseins‹ und ›Selbstbewusstseins‹ oder der ›Transzendenz in Immanenz‹. Absolutes Zeitbewusstsein charakterisiert die Selbstverzeitlichung der Subjektivität, in der unterschiedliche Erscheinungsweisen, einschließlich die der Selbstmanifestation der Subjektivität, konstituiert werden. In Heideggers Denken ersetzt das Dasein Husserls absolutes Zeitbewusstsein; verschiedene ontische Bedeutungen von ›sein‹ sind in den unterschiedlichen Bedeutungen von Zeit aufgeschlüsselt, sodass sie aus Heideggers Sicht einen Horizont der Temporalität voraussetzen, der mit dem ursprünglichen Seinsverständnis des Daseins zusammenfällt, das, wie Heidegger zeigt, nicht in Begriffen der Subjektivität – sei es ›Seele‹ oder ›Bewusstsein‹ – verstanden werden kann. Ein solcher Zeithorizont, der die Strukturen des ›In-der-Welt-Seins‹ des Daseins fundiert, bildet sich aus drei sich gegenseitig implizierenden und gleichursprünglichen ›ekstatischen‹ Zeithorizonten: das Gewesene, das Zukünftige und das Gegenwärtige. Diese ekstatischen Dimensionen der Zeitlichkeit sind der Struktur der »Sorge« (SuZ, §§ 39 ff.) des In-der-Welt-Seins des Daseins untergeordnet und eröffnen daher die Möglichkeit eines Verständnisses des Daseins für es selbst und des Sinns von Sein, der alle Weisen, in denen die Welt selbst erscheint, einschließt.
I.7. Zeitbewusstsein
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Im Unterschied zu den vorausgegangenen Konzeptionen ist es das Ziel von Emmanuel Levinas weder, die Zeit als ›ontologischen Horizont des Seins des Seienden‹ noch als transzendentale Leistung der Subjektivität zu verstehen, sondern als eine Transzendenz ›Jenseits des Seins‹ im Verhältnis zum Anderen, dessen Alterität irreduzibel auf jedweden Modus von Gegenwärtigkeit oder Anwesendsein bleibt ( D.III). In Die Zeit und der Andere hebt die Herauslösung der Zeit aus der Ontologie mit einer Analyse der Schlaflosigkeit an. Schlaflosigkeit ist eine Erfahrung von Gegenwart ohne Anfang oder Ende. Es ist eine Gegenwartserfahrung, die von jeder Möglichkeit einer Erneuerung entkoppelt ist. Durch die Schlaflosigkeit in Suspension gehalten, wird das Bewusstsein seiner selbst in seiner Zeitlichkeit enteignet; es ist gebunden an eine Gegenwart bar jeder Retention und Protention. Auch ist die Gegenwart der Schlaflosigkeit kein Fall einer Vision, die das Ganze der Existenz übersteigt oder verändert. Schlaflosigkeit ist die Erfahrung eines Bewusstseins, das auf die Absurdität des eigenen Daseins reduziert wird: Es ist da, taub und ohne zu blinzeln, ohne Selbst, in einem endlosen Moment gefangen ohne Versprechen und Transzendenz. Diese Beschreibung der Schlaflosigkeit wird mit einem anderen Bild für das »Es gibt« (Levinas 2003, 24) weiterentwickelt: In der Tiefe der Nacht, gefangen in der schlaflosen Zeitlosigkeit, offenbart sich, dass das, was das Subjekt ist, keinen Sinn und keine Bedeutung hat. Zu sein, heißt absurd zu sein. Levinas spricht von diesem ›Es gibt‹ als einem Fluss, ›in den man nicht einmal ein einziges Mal‹ steigen kann. Dieses Bild bezieht sich auf Heraklits bekannte Metapher, aber entgegen ihrer geläufigen Form, der gemäß der heraklitische Strom ein solcher ist, in den man nicht zwei Mal steigen kann, zitiert Levinas die Version, die in Platons Kratylos tradiert wird, der gemäß man nicht einmal ein einziges Mal hineinsteigen kann. Levinas bringt so zwei verschiedene Bilder der Zeit zur Geltung, wenn er von dem solitären Grundmodus der Existenz des Subjekts spricht, während er diesem jeden genuinen Sinn einer Verzeitlichung abspricht. Zeit ist hier der Verzeitlichung verlustig gegangen und daher auf die Gegenwart innerhalb der Selbstunterscheidung reduziert: die endlose Gegenwart ohne Anfang und Ende der Schlaflosigkeit (falsche Ewigkeit) und die Gegenwart, in die man nicht einmal ein einziges Mal eintauchen kann, d. h. eine Gegenwart, die nicht wirklich vergeht in ihr Anderes, die Vergangenheit. Levinas’ Bestimmung eines einsamen Subjekts, das phänomenologisch auf seine absurde Faktizität reduziert ist, die Absolutheit seiner Existenz als ein ›Es gibt‹, soll die Selbstkonstitution des Subjekts als Subjekt schärfer profilieren. Mit seiner zweifachen Beschreibung eines ›Es gibt‹, »das weder Subjekt noch Sub stantiv ist« (ebd., 23), wirft Levinas’ Konzeption eines sich selbst konstituierenden Subjekts einen Schatten sowohl auf Husserls Ansatz einer transzendentalen Subjektivität als auch auf Heideggers Ansatz beim Dasein. Levinas spricht vom Bewusstsein als einer Kontraktion oder »Hypostase«, »ein Ereignis, durch welches das Existierende sein Existieren übernimmt« – seine Termini für den Unterschied zwischen Sein und Seiendem, um damit die grundlegende Behauptung zu
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untermauern, dass das Subjekt durch die »Meisterung seines eigenen Daseins (oder Existierens)« bestimmt ist (ebd., 21). Der ontologische Sinn, nach dem das Subjekt an sich selbst gekettet ist, ist gleichzeitig die Weise, in der das Subjekt für sich selbst eine Last ist. Die Materialität des Subjekts ist sein »An-sich-angekettet-Sein« (ebd., 30) oder die Beziehung zwischen Ich und Selbst; die Materialität des Subjekts ist also der wesentliche Grund für dessen Einsamkeit. Ich muss mich ständig selbst ernähren, mich um mein Dasein kümmern, allgemein besorgt um meine Existenz sein. Die Materialität des Subjekts ist damit auch die Misere seiner Existenz. Und doch ist die tragische Einsamkeit des Subjekts nicht ohne Welt: Ich bin nicht alleine ohne Welt, aber allein in der Welt, auf die ich ausgerichtet bin. Intentionalität gestaltet sich in Levinas’ Denken in erster Linie als Begehren und Bedürfnis nach seiner Befriedigung, d. h. einer Befriedigung der Bedürfnisse unserer Materialität; in einer mehr theoretisch akzentuierten Hinsicht wird das Erkenntnisstreben von Levinas ähnlich dem Verlangen verstanden, die Andersheit der Welt durch das eigene Licht der Selbstgegenwart des Subjekts in der Welt zu vergegenwärtigen. Diese Beschreibungen der Tragödie der Einsamkeit verweisen auf die grundsätzliche Achse, auf der Levinas von der Frage ›Wer ist das Subjekt?‹ zu ›Wer ist der Andere?‹ voranschreitet ( C.I.11). Diese Achse dreht sich um die Opposition zwischen »Heil und Befriedigung« (ebd., 34), wie sie in der biblischen Geschichte von Jakob und Esau ausgedrückt wird. Das Subjekt ist gefangen in der ewigen Wiederkehr des Gleichen, innerhalb derer es vergeblich Befriedigung für die Misere seiner Existenz sucht. Nur durch ein Aufbrechen der andauernden Selbstbezüglichkeit des einsamen Subjekts und seiner Ankettung an sich wird Erlösung für sein Dasein möglich; nur im Bezug zum Anderen und zum Augenblick der Zeit kann das Subjekt von sich loskommen. Das Aufbrechen des einsamen Subjekts als Augenblick der Zeit tritt auf im Augenblick des Todes. Entgegen der einflussreichen Auffassung des Todes in Heideggers Sein und Zeit, der gemäß das Dasein eigentlich seine ihm gemäßen Seinsmöglichkeiten ergreift, indem es sich im »Sein zum Tode« (SuZ, §§ 46 ff.) entschlossen dem eigenen Möglichsein als absolute Unmöglichkeit stellt, markiert der Tod für Levinas – gemäß dem Wort von Jean Wahl – ›die Unmöglichkeit der Möglichkeit‹ als solcher. Das Herannahen des Todes als »Horizont der Zukunft« (Levinas 2003, 61) macht das Vermögen und die Macht des Subjekts zunichte; im Angesicht des Todes erfährt sich das Subjekt in absoluter Passivität, in seiner Unfähigkeit zu können. Die Macht der Konstitution ( C.I.4), die das transzendentale Subjekt genauso wie den Entwurf der eigenen Möglichkeit des Daseins definiert, wird neutralisiert und aufgebrochen. Der Tod verunmöglicht den »Heroismus des Subjekts« (ebd., 44). Ich werde von innen heraus aufgebrochen: Ich bin nicht länger fähig zu können. In dieser Hinsicht setzt der tragische Held nicht länger seinen Tod voraus; er ist belagert von einem drohenden Tod, der immer zu früh ankommt. Doch in der Ankunft des eigenen Todes kündigt sich etwas anderes an: eine Transzendenz jenseits des eigenen Seins und des Seins selbst.
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Im Augenblick der Ankunft des Todes greift das Subjekt nach einem anderen Augenblick, jedoch nicht nach einem anderen Augenblick einer chronologischen und verräumlichten Zeit, sondern nach einem Augenblick jenseits des endlichen Horizonts seines eigenen Todes: dem der Hoffnung. Die Transzendenz der Hoffnung verhindert weder den Tod des Subjekts, noch rettet sie es vor ihm. Es ist nicht das Versprechen eines unendlichen Lebens oder des Lebens nach dem Tod. In diesem Fall wäre Hoffnung die Fantasie einer Zukunft ohne Ende innerhalb einer ständigen Kontinuität und gleich der Erhaltung der eigenen Einsamkeit oder Selbstgegenwart. Der Augenblick der Hoffnung dezentriert das Subjekt von sich. Diese Dezentrierung von ihm selbst heraus in der Ankunft des eigenen Todes öffnet das Subjekt auf einen Bezug zur Alterität. Mein Tod wird erträglich, nicht weil ich vor dem Tod gerettet würde oder weil ein Anderer meinen Platz einnähme, sondern weil im Augenblick der Hoffnung die Frage nach ›Sein oder Nichtsein‹, die Frage des Todes, ihr Gewicht verlöre: Ich erkenne in der Frage nach meinem Sein oder Nichtsein nicht länger eine Frage, die an mich gestellt wird. Die Frage, die mich bestimmt, ist nicht länger die Frage nach meinem Sein (›Wer bin ich?‹), sondern die Frage: ›Wer ist der Andere?‹ Diese Frage ist keine, die ich an den Anderen richte. Es ist der Andere, der mich infrage stellt, indem er mich anspricht, Verantwortung für seinen Tod zu übernehmen. Der Tod des Anderen wird mir anvertraut, indem mein eigenes Existenzrecht infrage gestellt wird. Diese Verantwortung für den Tod des Anderen ist unvordenklich: Ich wurde immer schon vom Anderen angerufen, sodass mich als Subjekt konstituiert zu haben schon bedeutet, den Anderen mit seinem Tod und ohne meinen Beistand im Stich gelassen zu haben; es heißt, mich vor den Anderen gestellt zu haben. In einer ironischen Levinas’schen Wendung bedeutet, am Tod des Anderen Schuld zu tragen, anzuerkennen, dass ich den Anderen bereits ›getötet‹ oder ›entstellt‹ habe, indem ich für mich selbst meinen eigenen Tod vor dem des Anderen beanspruche. Nicolas de Warren
8. Gegenwärtigung und Vergegenwärtigungen Wahrnehmung, Erinnerung, Fantasie
In ihrem Selbstverständnis ist die Phänomenologie eine Philosophie der Evidenz, die die erstpersonale Eigenanschauung zum Ausgangspunkt jedes verlässlichen Weltzugangs macht. Nun erschöpft sich Evidenz nicht in der Wahrnehmung. Nicht nur die Kastanie, die jetzt vor mir steht und deren Blätter der Jahreszeit entsprechend herbstlich gefärbt sind, gehört zur Anschauung: Die Erinnerung an die noch blühende Kastanie im Frühling muss auch dazu gezählt werden, nebst der Erwartung an die kahle Baumkrone im Winter. Die Hobbymalerin, die heute ihre Staffelei vor der Kastanie aufgestellt hat und von ihrem Regiestuhl aus die Leinwand mit raschen, aber sicheren Pinselstrichen überzieht, stellt die Baum-
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krone in stilisierter Form dar. Unverkennbar bleibt: Um genau diesen Kastanienbaum handelt es sich. Das bringt mich zu dem Gedanken, mir vorzustellen, wie der Baum aussähe, wenn er von einem Bildhauer nachgebildet worden wäre, etwa wenn Giuseppe Penone ihn zum Anlass einer seiner Baumskulpturen aus Bronze genommen hätte. Kurzum: Wie sehr lässt sich die äußere Erscheinung eines Gegenstandes abwandeln, ohne dass er aufhört, er selbst zu sein? Bei all diesen verschiedenen Modi ist, auf die eine oder andere Weise, eine Art von Anschauung im Spiel. Wahrnehmungen, Erinnerungen, Erwartungen, das Sehen-in-Bildern oder das freie Fantasieren beziehen sich nicht nur begrifflich auf ihr Bezugsobjekt, sie machen es auch auf ihre jeweils eigene Art ansichtig. Kastanienbäume sind insofern im phänomenologischen Verständnis nicht nur dann anschaulich, wenn sie sinnlich-materiell anwesend sind; die physische Anoder Abwesenheit ist genau genommen sogar irrelevant, wichtig ist stattdessen, in welcher Weise sie für uns jeweils in Erscheinung treten. Schließlich kann man sich auf die Kastanie auch noch ganz anders beziehen, etwa wenn in der städtischen Baumschutzverordnung von sämtlichen Bäumen am entsprechenden Straßenzug – und damit auch von dieser Kastanie – die Rede ist. Es mag unzweideutig sein, welche Bäume in der entsprechenden Verordnung genau gemeint sind; dank der detaillierten Erhebung können sogar Botanikexperten herangezogen werden, die die entsprechende Kastanie möglicherweise nie vor Augen gehabt haben. In phänomenologischer Perspektive wäre zwischen dem Meinen eines Gegenstands zu unterscheiden, das rein über Zeichen oder Symbole verlaufen kann und den Gegenstand unter Umständen restlos erfasst, und dessen Anschauung, die zwar immer nur partiell ist (Gegenstände und Sachverhalte treten immer nur in bestimmten Hinsichten bzw. Abschattungen auf), in der das Intendierte aber selbst ansichtig wird. Nachdem der Bereich der anschaulichen Darbietungen erst einmal von den bloß signitiven Intentionen abgegrenzt wurde, setzt allerdings bereits gleich die Binnengliederung ein. Husserl sieht sich schon früh mit dem Problem konfrontiert, dass er Anschaulichkeit am Maßstab der Wahrnehmung denkt, zugleich aber deren Festlegung auf das tatsächliche Vorliegen des Gegenstandes vermeiden will. Abhilfe leistet die Konzeption des Bewusstseins als Bündel von Aktbezügen: Das Wahrnehmungsbewusstsein liefert weniger einen gegenwärtig anwesenden Gegenstand, als es diesen mit dem Index der Gegenwärtigkeit versieht oder, noch einmal anders ausgedrückt: Das Wahrnehmungsbewusstsein gegenwärtigt den Wahrnehmungsgegenstand. Es gibt in der Regel keinen Streit über die Tatsache, dass man nichts wahrnehmen kann, was nicht mehr (oder noch nicht) der Fall ist, und dass nur solches wahrgenommen werden kann, was jetzt gerade vorliegt oder vorfällt. Präsenz ist allerdings weniger eine Eigenschaft der ›Dinge‹, denen sich die Phänomenologie – ihrer Devise getreu – zuwendet, als vielmehr ein Modus der Gegebenheit. Dass der Wahrnehmungsakt einen Gegenstand oder Sachverhalt vorstellig werden lässt – und zwar im Modus des Gegenwärtigen –, bedeutet so viel, dass er ihn präsentiert (wobei wiederum zu unter-
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scheiden wäre zwischen einer aktuell ansichtigen Vorderseite und einer nur mitgegebenen, lediglich ›apperzipierten‹ Rückseite). Neben präsentischen Vorstellungen gibt es allerdings freilich – das belegten die oben angeführten Beispiele – auch noch zahlreiche andere, deren Spezifität erst noch herausgearbeitet werden muss. Das betrifft all solche Akte, die Husserl zufolge durch ein ›Nichtgegenwärtigkeitsbewusstsein‹ charakterisiert sind und deren Objekte vergegenwärtigt werden wollen. Schon in den ganz frühen, noch im Windschatten Franz Brentanos verfassten Überlegungen zur Anschauung wird ausgeführt, dass die Vorstellungen in ›uneigentliche‹ und ›eigentliche‹ zerfallen, wobei sich Letztere dadurch auszeichnen, dass sie anschaulich sind (Hua XXII, 120). Während Husserl später die von Brentano übernommenen Redeweise des ›Eigentlichen‹ bzw. des ›Uneigentlichen‹ aufgibt, bleibt die jeweilige Kennzeichnung gültig: Anschauliche Vorstellungen unterscheiden sich von den anderen dadurch, dass dabei keine »Stellvertreter« im Spiel sind und die Sache selbst, nicht ein Abbild davon, »vor Augen gestellt wird« (Hua XX, 103). Was einerseits in den Logischen Untersuchungen dazu dient, das Intuitive vom Signitiven abzugrenzen ( C.I.3), fügt sich andererseits zu einer Kritik des Bewusstseins als ›Schachtel‹ bzw. als Camera obscura, in der Abbilder der wirklichen Dinge enthalten wären. Diese Kritik einer fehlgeleiteten »Bildertheorie« des Geistes (Hua XXIV, 151; XIX/1, 169) darf allerdings nicht mit Husserls Phänomenologie bildlicher Veranschaulichungen verwechselt werden. In den Folgejahren, und speziell in den 1904/05 gehaltenen Vorlesungen, nimmt Husserl dann eine ausführliche Bestimmung der verschiedenen Arten von Vorstellungen vor. Vorstellungen will Husserl von anderen Aktformen wie Gefühlen, Urteilen oder Willensakten unterschieden wissen. Innerhalb der Erlebnisklasse der Vorstellungen sind ferner verschiedene Typen hinsichtlich ihrer intentionalen Bezugnahme zu differenzieren: begriffliche Vorstellungen und anschauliche Vorstellungen. Während bei begrifflichen Vorstellungsmodi Gegenstände bzw. Sachverhalte lediglich gemeint sind, treten die Gegenstände und Sachverhalte in den anschaulichen Vorstellungsmodi selbst in Erscheinung. Die anschaulichen Vorstellungsmodi unterteilt Husserl noch einmal weiter in zwei Unterklassen: unmittelbar anschauliche Vorstellungen und mittelbar anschauliche Vorstellungen. Bei der ersten Klasse handelt es sich um Gegebenheitsweisen, bei denen sich ein Gegenstand oder Sachverhalt selbst, in leibhaftiger Gegenwart, darbietet. Man muss also jeweils Symbolizität, Selbstheit und Leibhaftigkeit (Hua III/1, 90) auseinanderhalten: Während ein Wahrnehmungsgegenstand in leibhaftiger Selbstgegenwart gegeben ist, liefert die Erinnerung etwa die Sache selbst (und nicht einen symbolischen Stellvertreter davon), nicht aber in ihrer Leibhaftigkeit. Ein wahrgenommener Baum wird in leibhaftiger Selbstgegenwart erfasst, ein erinnerter Baum erscheint selbst (nicht aber leibhaft), während eine dem Lexikoneintrag ›Baum‹ beigefügte Abbildung allenfalls symbolisch ist. Heidegger hat diesen Zusammenhang wie folgt aufgeschlüsselt: »Man muss unterscheiden: a) Etwas,
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das in seinem Selbst uns leibhaftig gegeben ist. b) Etwas, das zwar selbst, aber nicht leibhaft gegeben ist. c) Etwas, das weder selbst noch leibhaft, d. h. also bloß symbolisch gegeben ist« (GA 58, 223 f.). Anders als Kant, für den die Anschauung zunächst nur solches umfasst, was die Sinne liefern, fasst Husserl noch weitaus mehr darunter: Erinnerungen, Zukunftsvorstellungen, Traumbilder, perzeptive Illusionen, freie Imaginationen, bildgestützte Wahrnehmungen, fiktive Entwürfe, eidetische Variationen usw. (Husserl geht sogar so weit zu behaupten, es gebe eine ›kategoriale Anschauung‹, was für Kant selbstredend purer Nonsens wäre.) Während die wahrnehmungsgestützte Gegenwärtigung ihre Gegenstände immer als existierend setzt, gliedern sich alle anderen, vergegenwärtigenden Akte in zwei Klassen: in setzende Vergegenwärtigungen (Erinnerung und Erwartung) und nichtsetzende Vergegenwärtigungen (diese betreffen alle fiktiven Gegenstände bzw. die reine Fantasie, die ihren Gegenstand gar nicht erst raumzeitlich verankert und hinsichtlich der jeweiligen Positionalität neutral ist). Obwohl sie in phänomenologischer Analyse gleichberechtigt nebeneinander bestehen, sind derlei Akte im konkreten Bewusstseinsleben meist ineinander verschachtelt, wo sie die Grundlage höherstufiger Leistungen bilden. Es kann sein, dass die bloße Nennung eines Namens ausreicht, um uns an den letztjährigen Besuch in der Dresdner Gemäldegalerie zu erinnern. Die rein symbolische Bezugnahme, die jeder Ähnlichkeit mit dem gemeinten Gegenstand entbehrt (ein Name) setzt einen Prozess der anschaulichen Vergegenwärtigung in Gang (als Erinnerung): Wir wandeln dann wieder im Geiste durch die Säle und stehen dann plötzlich wieder vor dem großformatigen Gemälde, das zu Husserls Zeit David Teniers dem Jüngeren zugeschrieben wurde. Zu sehen ist die Arbeit eines Malers, der selbst wiederum in einer Bildergalerie arbeitet und berühmte Bildvorlagen an den Wänden nachmalt (Hua III/1, 236). Man hat es folglich mit Bilderwelten zweiter, dritter und mehrfacher Ordnung zu tun (und diese ineinander verschachtelte Situation wird sogar noch komplizierter, wenn man weiß, dass Husserl selbst gar nicht das Originalgemälde von Teniers zu sehen bekommen hatte, sondern allem Anschein nach nur die Kopie durch dessen Schüler Ferdinand von Apshoven, die heute noch in den Dresdner Sammlungen enthalten ist). An dieser Stelle sind Übergänge zu ästhetischen Gesichtspunkten denkbar: Anders als die restlichen Formen der Verbildlichung, bei denen es darum geht, sich etwas Nichtgegenwärtiges vor Augen zu führen, und das Interesse ganz auf das Bezugsobjekt (den Referenten) zielt, geht es bei ästhetischen Weisen der Verbildlichung immer auch – und vielfach sogar primär – um das ›Wie‹ der Verbildlichung: Das dargestellte Sujet mag sogar belanglos sein, die ästhetische Aufmerksamkeit richtet sich vielmehr auf die Virtuosität der Ausführung, auf die Linienführung, auf die Farbnuancen, auf die Schattierung der Lichteffekte usw. (Hua XXIII, § 14). Obwohl Husserl selbst keine ausgearbeitete ästhetische Theorie vorgelegt hat, haben, an ihn anknüpfend, diverse Autor:innen Vorschläge gemacht, worin der Sinn einer Ästhetik liegen könnte, die nicht vorrangig an ästhe-
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tischen Urteilen und Wertungen, sondern an dem vorurteilsfreien Interesse an dem ›Wie‹ der Erscheinung ausgerichtet ist ( D.X). An dem Beispiel der Dresdner Gemäldegalerie wird fernerhin verständlich, dass die Vergegenwärtigungsproblematik wiederum mit dem Zeitbewusstsein zusammenhängt. Anders als die bloße Retention, die ein aktuelles Wahrnehmungserlebnis so modifiziert, dass das Gegenwärtige zwar im Zeitbewusstsein ›zurücksinkt‹, aber noch zum weiteren Zeitfeld der Wahrnehmung gehört – das fortschreitende Hören einer Melodie beispielsweise, bei dem bereits verklungene Töne noch in gewisser Weise präsent sind –, stellt die aktive Wiedererinnerung einen Akt der Vergegenwärtigung dar. Sie ist diesbezüglich ein »Bewusstsein, das Nicht-Gegenwärtiges quasi-gegenwärtig macht und es dabei als wirklich setzt« (Hua XXXIII, 55). Ähnliches wäre über die Historiengemälde geltend zu machen, die in der von Teniers dargestellten Gemäldegalerie enthalten sind: Sie führen historische Schlachten vor Augen, die sich zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt tatsächlich ereignet haben. Ganz anders die Gemälde, die legendäre Fabelwesen darstellen oder auf griechischen Mythen beruhen: Auch hier werden die Figuren in allen erdenklichen Einzelheiten ausgestaltet, und doch gelten die Jupiter- oder Zentaurendarstellungen niemals als ›wirklich‹. Wenn diese Vergegenwärtigungen auf materielle Bildgegenstände gestützt sind (also in diesem Fall auf die Gemälde, die in Dresden hängen), spricht Husserl von Bildbewusstsein; es geht gleichsam um eine Einbildung, die in und durch externe Bildmedien erfolgt. Drei Momente von Bildlichkeit sind hierbei zu unterscheiden: das Bildsujet (der dargestellte Inhalt), der materielle Bildträger, den Husserl Bildgegenstand nennt (und zuweilen auch ›Bildding‹), und schließlich das wahrgenommene Bildobjekt (die eigentliche Bilderscheinung). Während derlei bildliche Medien die Vorstellung anregen, unterstützen und lenken, kann es in manchen Fällen durchaus sein, dass die Übertragungsleistung gestört wird, weil man zu sehr auf die Materialität dieser Medien selbst achtet (Husserl spricht davon, dass er, wenn er auf ein Lichtbild seiner Tochter schaut, diese nur mit Müh und Not wiederkennt, weil sie in »widerwärtig grauvioletter Färbung« erscheint; Hua XXIII, 18). Findet die Verbildlichung hingegen ohne jegliche äußerlichen bildgebenden Medien statt, ist von der reinen Fantasie die Rede (zum Unterschied zwischen dem dreigliedrigen Bildbewusstsein und der zweigliedrigen Fantasie siehe Alloa 2011/2018, Kap. IV.3). Wenn Arnold Böcklin einen Zentauren darstellt, füllt die Ansicht aufgrund ihrer Fundiertheit in einem materiellen Träger immerhin einen Teil des Wahrnehmungsfeldes; ganz anders, wenn das Fabelwesen in freischwebender Fantasie vorgestellt wird: Dann nimmt es keinerlei Raum ein und steht auch nicht im Widerspruch zum Wahrnehmungsfeld (Hua XIII, 49). Die Fantasie neutralisiert gleichsam jede vormalige Setzung und eröffnet einen Raum relativ ungebundener Gestaltung. Als operative Fiktion und als Raum des »Als Ob« vermutet Husserl darin gar ein »Lebenselement der Phänomenologie« (Hua III/l, 148).
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Husserls Lehre der vergegenwärtigenden Anschauungen wurde von recht vielen Phänomenolog:innen aufgegriffen und weiterentwickelt. Neben vielen anderen Formen der Vergegenwärtigung nennt Husserl auch die Einfühlung (Hua XIII, Nr. 2–4). Edith Stein hat diese Analysen systematisiert und ausgebaut: Niemals werde ich ›in der Haut‹ des Anderen stecken und dessen Erfahrungsraum aus der Innenperspektive erleben. Dennoch kann ich mich, vermittels Appräsentationen und ausgehend von meinen eigenen originären Erfahrungen, in den Anderen hineinversetzen, sodass ich mir zumindest einfühlend vergegenwärtigen kann, was dieser erfährt (Stein 1917/2008). In eine wiederum ganz andere Richtung stößt Eugen Fink vor. Husserls langjähriger Privatassistent, der 1929 eine Dissertation über Vergegenwärtigung und Bild verteidigt hatte, kritisiert an dessen Zeitphilosophie, dass die Auffassung der sich vorwärtsschiebenden ›Erlebnisgegenwart‹ zu abstrakt bleibe. Es fehle neben den Retentionen und Protentionen, die gleichermaßen noch Gegenwärtigungen darstellen, so etwas wie der negative Gegenpart, die »Entgegenwärtigung« (Fink 1930/1996, § 9). Denn schließlich bedürfe es, damit etwas Neues zur Gegenwärtigkeit aufschließen kann, einer entsprechenden Deaktualisierung des vormalig Präsenten. Um den Zeithof in seiner Horizontstruktur angemessen beschreiben zu können, bedarf es also entsprechend ›horizontbildender Entgegenwärtigungen‹. Andere Autoren waren wiederum bemüht, Husserls Überlegungen zur reproduktiven Imagination um eine Phänomenologie der produktiven Imagination zu ergänzen, von Jean-Paul Sartre über Paul Ricœur zu Marc Richir. Gerade Richirs Phänomenologie wilder Sinnbildung (2004) rekurriert ganz grundsätzlich auf eine radikal gewendete Auffassung der husserlschen Fantasie, die Momente von Sartres, aber auch von Mer leau-Pontys Denken aufgreift. Laut Sartres früher Theorie des Imaginären (Sartre 1936/1982b; 1940/1971) ist die Welt der Bilder radikal von den Zwängen der Wahrnehmungswirklichkeit befreit: Erst wenn die Wahrnehmung ausbleibt, setzt die Vorstellungskraft ein. Sartres Plädoyer für eine gegenüber den Sinnen völlig ungebundene Imagination ist allerdings insofern paradox, als er der Imagination eine ›wesentliche Armut‹ attestiert. Egal wie reichhaltig eine imaginierte Vorstellung uns scheinen mag: Niemals wird sich darin etwas finden, was uns – im Sinne einer Wahrnehmung etwa – überraschen kann. Wenn mich jemand bittet, sich das Pantheon in Paris vorzustellen, stellt sich bald ein relativ deutliches Bild ein. Wenn man mich allerdings fragt, wie viele Säulen die Kuppel umringen, muss ich feststellen, dass ich derlei Auskunft aus dem Vorstellungsbild nicht entnehmen kann. Sartre zufolge erfassen Vorstellungsbilder vom Wahrnehmungsgegenstand stets nur den reduzierten, dafür aber wesentlichen Aspekt (Sartre 1940/1971, 157). Dass wir in diesem imaginativen ›Unwirklichkeitsbewusstsein‹ die Grundzüge eines Objekts oder Sachverhalts erfassen, setzt in jedem Fall – wie bei Husserl – nicht nur ein Absehen von den kontingenten Umständen voraus, sondern von der Wirklichkeit überhaupt. Wirklichkeit muss, so Sartre, einer aktiven ›Nichtung‹ (néantisation) unterzogen werden. In Anbetracht eines Fürstenporträts an der gegenüberliegen-
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den Wand muss man die Wirklichkeit des Gemäldes negieren können, damit das Bildobjekt Karl V. allererst erscheint. Das materielle Gemälde mag abbrennen, und mitsamt dem Gemälde das ganze Schloss, das es beherbergt: Dem Souverän im Bild würde dadurch kein Haar gekrümmt (ebd., 285). Ganz anders als Sartre, der das Imaginative und das Perzeptive scharf voneinander absetzt, geht Merleau-Ponty von deren unentwirrbarer Verflechtung aus. Während die Bilderwelt gar nicht ohne den Rückbezug auf die leibliche Wahrnehmung denkbar wäre, ist umgekehrt das Wahrnehmungsfeld selbst immer schon mit imaginären Zusätzen versehen. Ebenso wenig wie die Wahrnehmungswelt uns zu reiner Passivität verdammt, gibt es eine »Transparenz des Imaginären« (Merleau-Ponty 1964/1986, 149), in der man frei schalten und walten könnte. Das Perzeptive und das Imaginative schließen sich nicht gegenseitig aus, vielmehr sei anzuerkennen: »Sehen heißt imaginieren. Und imaginieren heißt sehen« (Voir, c’est imaginer. Et imaginer, c’est voir; zit. nach Saint-Aubert 2012, 259). Wenn es stimmt, dass schon beim freien Imaginieren die sinnliche Wirklichkeit immer hereinreicht, dann ist dies bei materiellen Bildern allemal der Fall. Nicht trotz, sondern dank des Bildträgers sehen wir in die darin aufgemachte Wirklichkeit hinein. Bilder stellen Merleau-Ponty zufolge, der hier Cézannes Malerei im Sinn hat, weniger sichtbare Gegenstande als Medien dar, kraft derer etwas vorstellig gemacht werden kann: »[I]ch sehe eher dem Bild gemäß oder mit ihm, als daß ich es sehe« (Merleau-Ponty 1964/1986, 282). Noch ausdrücklicher heißt es in einer unveröffentlichten Arbeitsnotiz: »Was ist ein Bild? Offensichtlich schaut man ein Bild nicht so an, wie man einen Gegenstand anschaut. Man schaut entlang des Bildes« (Fonds Merleau-Ponty, Bibliothèque Nationale de France, Bd. VIII, 346 f., Übers. E.A.). Die »Mittelbarkeit des Vorstellens« (Hua XXIII, 24) hängt folglich nicht nur an einer entsprechenden Bewusstseinseinstellung, es bedarf auch medialer Vermittlungen. Gegen den Restidealismus der sartreschen Einbildungstheorie heißt dies dann: Das Subjekt, dem etwas erscheint, ist darum noch nicht die Instanz, woraus die Erscheinung hervorgeht, und nicht jede Bilderscheinung verdankt sich einem Sich-Einbilden. Neben dem endlichen Bewusstsein dienen zahlreiche andere, durchaus stofflich-materielle Medien der Vergegenwärtigung des Nichtaktuellen (laut Husserl ist es etwa die Schrift, die auch Abwesendes in Erinnerung rufen kann; siehe Derrida 1963/1987). Spätestens hier wird klar, warum die Phänomenologie keine Unmittelbarkeitsphilosophie ist. Phänomenologische Analysen zielen darauf ab, die Dinge so freizulegen, wie sie sich selbst zeigen. Dass sie sich selbst zeigen, bedeutet gleichwohl nicht, dass sie sich ›aus sich selbst‹ heraus zeigen. Was sich zeigt, präsentiert sich und bedarf entsprechender Medien der Präsentation ( D.IX). Emmanuel Alloa
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9. Leiblichkeit Orientierung und Bewegung
Leiblichkeit gilt als einer der wichtigsten Grundbegriffe der Phänomenologie, und die Leib-Körper-Differenz zieht sich durch sämtliche Ansätze, so unterschiedlich sie sonst auch ausfallen mögen. Vor dem Hintergrund der aktuellen (Wieder-)Entdeckung der Leiblichkeit, insbesondere mit Blick auf ihre interdisziplinären Wirkungen und Anwendungen im Bereich der Psychologie, Psychopathologie, Medizin sowie der Soziologie, Pädagogik, feministischen Philosophie, den Queer Studies und der postkolonialen Theorie ( D.IV, D.VI, D.VIII), sollen im Folgenden die in der Rezeption wirkmächtigsten Beiträge aus der Phänomenologie vorgestellt werden. Den Schwerpunkt bilden dabei Edmund Husserl, Jean-Paul Sartre, Emmanuel Levinas, Maurice Merleau-Ponty sowie Hermann Schmitz und Bernhard Waldenfels. Auf andere durchaus relevante Beiträge zum Thema, wie etwa von Michel Henry (Scheidegger 2012), Jan Patočka (Novotný 2012) oder Martin Heidegger (Espinet 2012), kann an dieser Stelle nur verwiesen werden. 9.1. Edmund Husserl: Die doppelte Konstitution des Leibes
Seine eingängigste Charakterisierung findet der Leibbegriff in Husserls Ideen II. Als »Umschlagstelle« (Hua IV, 284) zwischen Innen und Außen kann der Leibkörper sowohl in personalistischer Einstellung – als Subjekt der Wahrnehmung (Leib) – als auch in naturalistischer Einstellung – als physisches Ding (Körper) – aufgefasst werden: Dies bestimmt seine »doppelte Konstitution« (Hua IV, 145) und begründet seine vermittelnde Position zwischen Ich, Seele und Natur einerseits und Geistes- und Naturwissenschaften andererseits. Diese Unterscheidung verdeutlicht Husserl in den Ideen II anhand der Beschreibung der ›Doppelempfindung‹: Wenn wir die linke Hand mit der rechten Hand berühren, können beide Hände, je nach Aufmerksamkeitsrichtung, sowohl als ausführende Instanz der Berührung als auch als Objekt der Berührung erscheinen. Wir können die betastete Hand hinsichtlich ihrer physischen Merkmale wahrnehmen, in ihrer Glattheit oder Rauigkeit: Dann ist sie das Objekt der Wahrnehmung. Sobald wir aber die lokalisierten Empfindungen der linken Hand hinzunehmen, »bereichert sich nicht das physische Ding, sondern es wird Leib, es empfindet« (Hua IV, 145). Die naturalistische Einstellung setzt bei Husserl immer die personalistische Einstellung voraus, genauso wie der erfahrene Leibkörper einen primären, erfahrenden Leib. Beschreiben wir den Leib aus einer erstpersonalen Inneneinstellung heraus, erscheint er nach Husserl als Lokalisationsfeld der Empfindungen, Ausgangspunkt freier Bewegung und »Nullpunkt« (Hua IV, 158) räumlicher Orientierung. Betrachten wir den Leib in Außeneinstellung, erscheint dieser als materiell, ausgedehnt und eingebunden in die kausalen Zusammenhänge der Natur. In dieser Hinsicht macht Husserl darauf aufmerksam, dass unser Leib im Gegensatz
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zu anderen Dingen nur unzureichend wahrnehmbar ist, da wir ihn nie aus einer Distanz heraus beobachten oder ihn aus einer anderen Perspektive ( C.I.10) sehen können. Der Leib ist einerseits ein Organ des Willens und der Wahrnehmung – ein »Ich kann« – sowie unser praktischer »Horizont der Freiheit« (Hua XIV, 456), andererseits entzieht er sich unserem Zugriff und ist als materieller und empfindender Leibkörper von der Welt und von Anderen in besonderer Weise betroffen: Indem er physisch sichtbar und berührbar ist, wird er zugleich angreifbar und verletzlich. Bereits 1907, im Rahmen seiner Vorlesungen zur Raumkonstitution (Hua XVI) und zur Intersubjektivität (Hua XIII), weist Husserl dem Leib eine zentrale Rolle zu. In den Raumvorlesungen beschreibt Husserl die konstitutive Rolle der leiblichen Kinästhesen für die Erfahrung einer kohärenten Räumlichkeit sowie der konstanten Wahrnehmung eines Dinges ( C.I.5). Hierbei unterscheidet er zwischen darstellenden und sogenannten Lage- und Bewegungsempfindungen, die die propriozeptive Rückkopplung des Leibes in der Bewegung gewährleisten. Jede physische Dingwahrnehmung ist nach Husserl in einer »merkwürdigen Korrelation« (Hua XVI, 162) mit dem Ichleib verflochten. Weiterhin muss für eine konstante zeitliche Wahrnehmung eines äußeren Gegenstandes eine strikte Korrelation ( C.I.1) zwischen den visuellen Eindrücken und den kinästhetischen Verläufen gewährleistet sein. Ferner wird die Leiblichkeit in ihrer Funktion für die Intersubjektivität beschrieben. Dabei steht die Frage im Zentrum, wie ich überhaupt andere menschliche (sowie nichtmenschliche) Leiber als Träger von Erlebnissen auffassen kann, obwohl ich deren Erlebnisse selbst nicht erfahren, sondern nur in gewisser Weise apperzipieren kann. Die doppelte Selbsterfahrung des Subjekts als empfundener Leib und wahrgenommener Körper macht damit die Wahrnehmung eines fremden Körpers als Mensch mit dazugehörigem Leib erst möglich (Hua XIII, 250 ff.). Während Husserl in früheren Texten diese Apperzeption oder Sinnübertragung noch als Akt des Denkens beschreibt, sodass man sich denkend vom Hier zum Dort des Anderen »hinausbewegt« (Hua XIII, 253, 263), kritisiert er diesen Ansatz später als zu intellektualistisch. Er betont nun, dass die sich vollziehende Apperzeption, die den äußerlich wahrgenommenen fremden Körper als empfindenden Leib wie den unseren auffasst, nicht als Analogieschluss (miss)verstanden werden darf. Sie vollzieht sich vielmehr unmittelbar, indem der fremde Körper mit dem jeweils eigenen aufgrund ihrer Ähnlichkeit in passiver Weise assoziiert wird. Bei einer solchen assoziativen Paarung, der Urform einer passiven Synthesis, wie Husserl es später nennt, fungiert der eigene Leib sozusagen als »urstiftendes Original« (Hua I, 141 f.), ansonsten könnte eine solche ›Identifikation‹ zwischen meinem und dem anderen Leib nicht stattfinden. Die Erfahrung der Anderen ist uns damit zwar nie original gegeben, aber dennoch durch das Verhalten des sich ausdrückenden Leibes zugänglich. In der Einfühlung erfassen wir den Leib des Anderen unmittelbar als sinnhaften Ausdruck seines Inneren; so ist etwa das Mienenspiel »unmittelbarer Sinnesträger für das Bewusstsein des Anderen«
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(Hua IV, 235). Die Leiblichkeit in ihrer doppelten Konstitution ist sowohl die Voraussetzung für die Konstitution der Räumlichkeit als auch für jede Form der Intersubjektivität ( C.I.11), die in der faktischen Welt die »Verständigung der Geister« (Hua XIII, 230) vermittelt. 9.2. Jean-Paul Sartre und Emmanuel Levinas:
Der Körper als das Andere unserer selbst
Jean-Paul Sartre betont in kritischer Auseinandersetzung mit Husserl die Spaltung zwischen dem operativen Leib- oder Körpersein und dem materiellen Körper. Er deutet den Körper-für-mich und den Körper-für-Andere ontologisch als zwei Ordnungen der Realität (Sartre 1943/2020, 541). Während Ersteres gar nicht erfahren werden kann, da es dasjenige, was ich bin, d. h. meine lebendigen Möglichkeiten, etwa zu laufen oder Fußball zu spielen, operativ beinhaltet, unterscheidet sich der wahrgenommene Leibkörper laut Sartre nicht von anderen materiellen oder lebendigen Körpern. Meine Hand sehe ich nicht anders als ein Tintenfass, meinen kranken Fuß nehme ich nicht anders wahr als den Körper des Arztes, der an meinem Bett sitzt. Der eigene Körper, so argumentiert er, kann als solcher nicht empfunden oder erfahren werden, sondern ist immer nur mitbewusst in der Wahrnehmung von Objekten der Welt. Leiblichkeit aus der Innenperspektive kann – wie das sehende Auge im Vollzug des Sehens – nur implizit vorausgesetzt, nicht jedoch faktisch erfahren werden. Sobald der Körper erfahrbar wird, wechselt er in den Modus des Objekts, in den Körper-für-Andere. In seiner Faktizität und Kontingenz kann der Körper nur in Bezug zur Welt und zu Objekten in nichtthetischer Weise affizieren oder erscheinen, indem er sich zugleich entzieht. In ähnlicher Weise betont Levinas den sich entziehenden Charakter der Leiblichkeit. Er versteht Leiblichkeit in seinem existenziellen, affektiven und passiven Charakter im Sinne eines Gegenentwurfs zur klassischen Bewusstseinsphilosophie. Lag die Kontingenz des Körpers bei Sartre letztlich in seiner Flüchtigkeit und Unfassbarkeit begründet, ist es bei Levinas (1935/2005, 41 ff.) die permanente Anwesenheit des Leibes, vor der wir nicht flüchten können (Ciocan 2013). In Totalität und Unendlichkeit (1961/1987) gesteht Levinas dem Leib noch eine Rolle bei der Subjektwerdung zu und spricht von seiner genießenden Sinnlichkeit, die einen Bezug zur Welt und zum Anderen eröffnet. In späteren Texten treten jedoch das Andere in unserer Leiblichkeit – wie Schmerz, Schwindel, Unruhe oder Schlaflosigkeit, die uns heimsuchen (Levinas 1961/1987, 148 f.) – und der Leib des Anderen in den Vordergrund, dem wir nicht entkommen können. Die Andersheit, insbesondere die des Anderen, ist dabei ethisch bedeutsam: Die Leiblichkeit, die unser individuelles Sein begrenzt, uns damit radikal vom Anderen trennt und sich diesem zugleich aufgrund ihrer Verletzlichkeit ausliefert, birgt eine ethische Verantwortlichkeit: Das leibliche Selbst »ist verantwortlich, weil es antworten muss« (Bedorf 2012, 78). Obwohl Sartre und Levinas die Rol-
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le der Leiblichkeit für Intersubjektivität und Ethik ( D.III) herausstellen, bleibt vom Phänomen der Leiblichkeit insofern wenig übrig, als es als Grenzbegriff nur im Bezug zur Andersheit, zum Anderen, überhaupt auftauchen kann und lediglich dazu dient, diese Andersheit sichtbar oder sagbar werden zu lassen. 9.3. Maurice Merleau-Ponty: Der Leib als Zur-Welt-Sein
Während der Leib bei Husserl noch als ein im Bewusstsein, wenn auch unvollkommen, konstituiertes Ding aufgefasst wird und bei Sartre als für-sich Seiendes entweder gar nicht erfahren oder eben nur als Körper bestimmt werden kann, verbindet die leibliche Existenz bei Merleau-Ponty Bewusstsein (für-sich) und Welt (an-sich). In Anlehnung an Heidegger beschreibt er den Leib als faktische Existenz (in-der-Welt seiend) und betont den primär praktischen Charakter unseres Weltbezuges. Anders als Heidegger interessiert sich Merleau-Ponty für die leibliche Handlungsdimension des Subjekts. Als konkretes leibliches Subjekt bin ich einerseits in einer bereits bestehenden Welt situiert, in raumzeitlicher, geschichtlicher, kultureller, aber auch geschlechtlicher Weise, andererseits bin ich zur Welt, in der ich gegenwärtig engagiert und involviert bin. Diese zwei Ebenen der Situation, die in dem mehrdeutigen Ausdruck être au monde zur Sprache kommen, spiegeln sich ebenfalls im Leib wieder, der eine habituelle und eine aktuelle Schicht aufweist (Merleau-Ponty 1945/1966, 107). Im Sinne der Habitualität ( C.I.12) weist der Leib eine individuelle sowie überindividuelle ›Vorgeschichte‹ auf. Diese »vorpersonalen Horizonte« (ebd., 253) der Existenz bestehen aus erworbenen Gewohnheiten, die zugleich Ausdruck einer über das Individuum hinausgehenden biologischen, geschichtlichen und sozialen Bedeutung sind. Dies gilt für die allgemeinen Einflüsse von Natur, Kultur, Generativität und Geschichte genauso wie für die eigene Biografie; diese nimmt ihren Anfang im Ereignis der Geburt, das für Merleau-Ponty paradigmatisch die Anonymität unserer Leiblichkeit ausdrückt, als eine vorpersonale Vergangenheit, »die niemals Gegenwart war« (ebd., 283). Zugleich weist der Leib in der aktuellen Bewegung zeitlich und räumlich über sich hinaus, ist vorgreifend bereits bei den Dingen, die hier und jetzt noch nicht sind. Der Leib vollzieht in der aktuellen Bewegung eine zeitliche Synthese und verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem »intentionalen Bogen« (ebd., 164). Im Anschluss an Husserl schreibt Merleau-Ponty dem Leib eine »fungierende Intentionalität« oder »motorische Intentionalität« zu: Bewusstsein ist für ihn primär ein »Ich kann« (ebd., 166). Dieses praktisch-habituelle Ich-kann vollzieht sich mithilfe eines Körperschemas – ein psychologisches Konzept (formuliert etwa bei Head, Schilder, Gelb und Goldstein), das Merleau-Ponty gestalttheoretisch umformuliert. Er versteht das Körperschema nicht als bloße Summe der Informationen verschiedener Körperfunktionen, sondern im Sinne eines ganzheitlichen Weltbezugs. Unsere einzelnen Leibesglieder sind nicht nur lose miteinander verknüpft, sondern wir ha-
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ben unseren Leib mitsamt seiner Position, seinem Umfang sowie seinen Fähigkeiten in unserem »unmittelbaren Besitz« (ebd., 123). Das Körperschema verweist auf eine Leibeseinheit, die sich stets aufs Neue generieren und aktualisieren muss. So haben wir ein unmittelbar operatives Wissen von unserer Position, Größe und Stellung in einer intersensorischen Welt: Wir wissen, ob wir durch eine Tür passen, etwas anheben oder wie wir Hindernissen aus dem Weg gehen können. Dieses praktische Wissen hat seinen Sitz in unserem Leib, in den Armen und Beinen, es ist dabei nicht thematisch, sondern wird situationsbedingt automatisch abgerufen. Das Körperschema ist insofern beständig in Interaktion mit der Welt, erwirbt neuen motorischen Sinn, Gewohnheiten und Fähigkeiten und weist über die räumlichen Grenzen des Leibes hinaus, indem es weltliche Gegenstände wie Werkzeuge, Prothesen usw. integrieren kann. Es vermittelt als »virtueller« (ebd., 291) Leib zwischen dem aktuell handelnden Leib, der sich auf die Welt und zukünftige Situationen hin entwirft, und dem habituellen Leib, der durch seine bereits erworbenen Gewohnheiten die praktischen Möglichkeiten des Körperschemas (mit)bestimmt. In diesem Sinne situiert es uns in der Welt und ermöglicht eine gelingende Interaktion mit dieser. Aus der Positions- wird so bei Merleau-Ponty eine Situationsräumlichkeit, in der wir jenseits unserer bloßen Stellung in der Welt diese auch aktiv bewohnen ( C.I.6). Dass unser leibliches Zur-Welt-Sein auch gestört sein kann, macht MerleauPonty am Beispiel eines neurologischen Falls deutlich. Schneider, ein Soldat des Ersten Weltkriegs, der aufgrund von Hirnverletzungen durch Granatsplitter mehrfache Funktionsstörungen im visuellen und motorischen Bereich aufweist, kann die Position seines Leibes nur noch richtig einschätzen, wenn diese in eine konkrete Handlungssituation eingebettet ist. Im Ruhezustand auf einen eigenen Körperteil zu zeigen, ist ihm dagegen nicht möglich. Sein Körperraum ist ihm lediglich als »Schlacke seines habituellen Tuns« (ebd., 129) bewusst; Schneider hat das Vermögen verloren, sich in eine mögliche Situation zu versetzen, er bleibt gebunden an das Aktuelle. Dies zeigt sich nicht nur auf der Ebene der Wahrnehmung, sondern in allen Bereichen des Zur-Welt-Seins wie auch auf der Ebene der Geschlechtlichkeit. Schneider hat auch in dieser Hinsicht sein Vermögen, in Situation zu sein, verloren. Er begehrt nicht mehr, ist »bei dem, was er tut, nicht dabei« (ebd., 187) und kann sich nicht in eine erotische Situation versetzen. Hier wird deutlich, dass das leibliche Zur-Welt-Sein normalerweise eine Erfahrung des Sinns ist, der vor aller Rationalität im Dialog zwischen Leib und Welt entsteht. Als in der Welt seiend sind wir »verurteilt zum Sinn« (ebd., 16) und können uns, abgesehen von pathologischen Zuständen, nie gänzlich von diesem abkehren. Dasselbe gilt in Bezug auf andere Subjekte, mit denen wir aufgrund unserer Situiertheit in der Welt unmittelbar verbunden sind. Diesbezüglich spricht Merleau-Ponty von einer Zwischenleiblichkeit, in der beide Leiber koexistent sind, gemeinsam etwas tun und ihre Bewegungen und Gebärden aufeinander abstimmen (Fuchs 2003). Schon im gegenseitigen Händedruck erfahre ich mei-
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nen Leib als »Vorahnung des Anderen«, Einfühlung erweist sich so als »Echo meiner Inkarnation« (Merleau-Ponty 2003a, 266). Wie die Welt sind auch die Anderen bereits da, vor jeder Analyse, nicht als Körper oder Geist, sondern in leiblicher Interaktion. In seinen posthum veröffentlichten Arbeitsnotizen Das Sichtbare und das Unsichtbare wird die individuelle Leiblichkeit eingebettet in allgemeine Strukturen des Seins. Die doppelte Konstitution des Leibes wird hier als sein »zweiblättriges Wesen« (Merleau-Ponty 1964/1986, 180) beschrieben: Nicht mehr die Zeitlichkeit und die damit verbundene Ambiguität des Leibes stehen im Zentrum, sondern die »doppelte Zugehörigkeit« des Leibes zu zwei verschiedenen Ordnungen: des Sichtbaren und des Unsichtbaren. Die doppelte Struktur des Leibes wird nun in ein ontologisch-dynamisches Milieu, das des Fleisches der Welt (chair du monde), eingebunden (Alloa 2017). Die vormalige Zwischenleiblichkeit wird nun zu einer »Generalität des Empfindbaren« (Merleau-Ponty 1964/1986, 183), der Umschlag von Berühren und Berührtwerden als grundsätzliche Reversibilität der wahrnehmend-wahrnehmbaren Welt gedacht (Giuliani 1983, 198). Im Hinblick auf soziale und intersubjektive Fragestellungen (MeyerDrawe 1984a) behalten die konkreten Analysen der leiblichen Existenz jedoch ihre Gültigkeit. 9.4. Hermann Schmitz und Bernhard Waldenfels:
Gespürte Eigenleiblichkeit und widerfahrende Fremdaffektion
In der neueren deutschen Philosophie sind vor allem zwei Ansätze einer Leibphänomenologie zu nennen, die zwar beide an die Leib-Körper-Differenz anschließen, aber auch auf entgegengesetzte Aspekte abheben. Hermann Schmitz konzentriert sich in seiner ›Neuen Phänomenologie‹ auf eine präzise Beschreibung des erlebten Leibes und seiner Geltung für den menschlichen Lebenszusammenhang. Er unterscheidet zwischen dem Körper, der mittelbar durch die Sinne erfahren wird, und dem Leib, der sich durch vitale Regungen bestimmt und im eigentlichen Spüren erfahrbar wird. Der Eigenleib nimmt im Vergleich zum Körper keinen relativen, sondern einen absoluten Raum ein, d. h., er kann unabhängig von räumlicher Orientierung identifiziert werden (Schmitz 1965, 6). Die Dynamik des Leibes beschreibt Schmitz als ein Wechselspiel von Engung und Weitung, die jeweils mit Erlebnissen der Spannung und Schwellung verbunden sind; paradigmatisch hierfür ist das Ein- und Ausatmen. Das leibliche Spüren, wie z. B. im Schreck oder in der Entspannung, hebt sich dann jeweils nach der einen (Enge) oder anderen (Weite) Seite des Wechselspiels ab. Leiblichkeit ist außerdem kommunikativ, d. h., sie hört nicht an den Grenzen des Körpers auf, sondern überschreitet sich nach außen hin (in Bewegungen, im Blick) und nimmt Äußeres, z. B. Blicke, Gesten, Stimmungen, Atmosphären und Gefühle, in sich auf. Der Leib ist keine abgeschlossene Eigensphäre, sondern ein Resonanzboden, der durch Ein- und Ausleibung mit der Außenwelt und anderen Leibern kommu-
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niziert (Schmitz 1990, 116). Schmitz unterscheidet diesbezüglich zwischen antagonistischer (nichtsymmetrisch zwischen Menschen oder zwischen Menschen und Dingen) und solidarischer Einleibung wie beim Mannschaftssport, gemeinsamen Musizieren oder Tanzen. Trotz der differenzierten Beschreibungen des Erlebens kann kritisch angemerkt werden, dass der Leib, auch wenn er als Resonanzboden offen und pluralistisch angelegt ist, nie auf seine historische Dimension hin befragt wird und die Beschreibungen den Anspruch einer allgemeinen naturphilosophischen Wesensbestimmung annehmen (Andermann 2012, 142), die ihre Semantik der vitalen Kraft mit Nähe zu den Lebenswissenschaften der 1920er- und 1930er-Jahre nicht reflektiert ( D.XI). In der gegenwärtigen Forschung finden die Beschreibungen von Schmitz dennoch eine vielseitige kritische Anwendung und werden um kulturelle, soziale und machttheoretische Dimensionen erweitert, unter anderem im Bereich der Philosophie der Gefühle, der Geschlechterforschung und der Soziologie (Lindemann 1993; 2017; Landweer 1999; 2015; 2016; Gugutzer 2002; Andermann/Eberlein 2011). Anders als Schmitz knüpft Bernhard Waldenfels an Merleau-Ponty und Levinas an, um die Leiblichkeit in ihrem Bezug zum Fremden zu fundieren und zu beschreiben. Dabei verschwindet das Leibphänomen nicht etwa in diesem Bezug, sondern wird – auch anhand zahlreicher philosophischer, anthropologischer, psychologischer und medizinischer Quellen – in all seinen Facetten beschrieben. Waldenfels betont, dass der Leib weder auf seine bloße Dinglichkeit noch auf ein Bewusstsein reduziert werden kann. Ferner macht er deutlich, dass das leibliche Selbst sich nicht in einem Weder-noch erschöpft, sondern positiv als eine Dimension des Zwischen bestimmt werden muss (Waldenfels 2004, 177). Indem er an die Beschreibungen der Doppelempfindung bei Husserl und der Zwischenleiblichkeit bei Merleau-Ponty anknüpft, stellt Waldenfels heraus, dass sich eine unmittelbare Selbstbezüglichkeit des Leibes zeigt, die immer schon einen Fremdbezug beinhaltet. Diese unüberbrückbare Differenz inmitten der Leiblichkeit zeigt sich für ihn an Husserls Beispiel der Empfindnisse. Insofern Tasten und Getastetes hier nie vollends zur Deckung kommen, ist eine Differenz im Spiel. Empfindung beginnt beim Anderen und Fremden: Der eigene Leib ist nur in Form einer Rückfrage fassbar, »die sich vom Unmittelbaren oder vom Ursprünglichen immer schon entfernt hat« (Waldenfels 1999a, 47). Der Leib ist demnach kein fixer Nullpunkt der Orientierung, sondern »eine Bewegung, die an anderer Stelle beginnt« bzw. »ein sich entziehendes Da« (ebd., 117, 35). Diesen Selbstentzug interpretiert Waldenfels nun positiv als Fremdbezug, in struktureller wie in ethischer Hinsicht. Der Bezug zu Fremdem (Welt, Andere) macht in dieser Hinsicht eine Selbsterfahrung, die immer nur indirekt stattfinden kann, erst möglich. Das leibliche Selbst ist insofern weniger initiativ als responsiv: Es findet sich vor als antwortend auf Affektionen, Situationen und Ansprüche, die ihm selbst vorausgehen ( B.III.5). Maren Wehrle
I.10. Perspektivität und Horizontalität
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10. Perspektivität und Horizontalität Situation, Feld, Welt
Perspektivität und Horizontalität sind zwei miteinander verknüpfte zentrale Begriffe der phänomenologischen Forschung. Zum einen ist das phänomenologische Schauen mit der Perspektive des jeweiligen phänomenologisierenden Subjekts eng verknüpft. Zum anderen besteht jede phänomenologische Deskription aus einer »Wiederbelebung« (Levinas 1963/1983, 159) vergessener Erfahrungshorizonte. Beide Begriffe wurden erstmals in Edmund Husserls Phänomenologie der Dingwahrnehmung systematisch entwickelt. Nach Husserl ist die äußere Wahrnehmung wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass in ihr der Gegenstand ( C.I.5) nie voll und ganz gegeben ist, sondern immer »nur ›perspektivisch verkürzt und abgeschattet‹« (Hua XIX/2, 589) erscheint. Diese Sachlage, die für Husserl einen notwendigen Wesenscharakter der äußeren Wahrnehmung darstellt, sodass auch ein göttliches Wesen bei der Erfassung eines räumlichen Dinges an die Perspektivität gebunden sei, deutet darauf hin, dass jede Wahrnehmung immer ›mehr‹ enthält, als unmittelbar sinnlich gegeben ist. Dies erklärt die ständige ›Prätention‹ der Wahrnehmung, den ganzen Gegenstand und nicht nur seine aktuell sichtbaren Teile vorstellig zu machen. Das apperzeptive plus ultra jeder Wahrnehmung ist gerade Thema der Horizontintentionalität ( C.I.2). Husserl differenziert hierbei zwischen ›Innen-‹ und ›Außenhorizont‹ des Gegenstandes. Den Innenhorizont bilden diejenigen Aspekte, die zwar zum Wahrgenommenen als solchen gehören, aber nicht explizit im Bewusstsein thematisiert und gegenwärtig erfahren werden – z. B. die aktuell unsichtbaren Seiten eines räumlichen Dinges. Andererseits tritt ein Wahrnehmungsgegenstand nie isoliert auf, sondern ist immer eingebettet in einen Horizont mitgegenwärtiger Gegenstände. So weist z. B. der Schrank auf das Zimmer, in dem er sich befindet, das Zimmer auf das Haus, das Haus auf die Straße, die Straße auf die Stadt usw., bis man zur ›Welt‹ als ›Universalhorizont‹ gelangt, in dem alle Dinge in der natürlichen Erfahrung gegeben sind. Innen- sowie Außenhorizonte enthalten leere Vorzeichnungen möglicher Dingerscheinungen, die sich durch weitere Wahrnehmungen prinzipiell erfüllen können. Der Begriff des Horizonts bezeichnet somit ein ›potenzielles Wahrnehmungsfeld‹, welches den Gegenstand der aktuellen Wahrnehmung umgibt. Die Verweisungsstruktur, in die sich der Gegenstand jeweils einfügt, ist demnach als Korrelat eines Systems von ichlich-vermöglich zu vollziehenden ›Potenzialitäten‹ zu verstehen, welches Husserl ›Ich kann‹ nennt. Die im ›Ich kann‹ enthaltenen Wahrnehmungspotenzialitäten entsprechen praktischen Möglichkeiten der anschaulich-erfüllenden Näher- und Andersbestimmung in Verbindung mit passiver Modalisierung und Hemmung. Werden die potenziellen Wege der Appräsentation eingeschlagen, d. h., verwandelt sich das Appräsentierte in ein Präsen tiertes, so geht die Wahrnehmung von einer schlichten ersten Vorstellung des
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sinnlichen Gegenstandes in dessen ›Explikation‹ über, die den Gegenstand in all seinen Einzelheiten zu erfassen sucht. Die konstitutive Bedingung der dem Wahrnehmungsprozess inhärenten praktischen Möglichkeiten liegt in der Leiblichkeit ( C.I.9) des Wahrnehmungssubjekts. Als »Wahrnehmungsorgan« ist der Leib bei jeder Erfahrung bewusstseinstranzendenten Seins notwendig dabei. Anders als ein bloßer Körper verfügt er dank seiner Bewegungsempfindungen bzw. »Kinästhesen« über einen »kinästhetischen Horizont« (Hua XI, 15), mit dem die Horizonte des jeweils wahrgenommenen Gegenstandes in einer wesentlichen Motivationsbeziehung stehen, sodass jede Leibbewegung einen ›Wandel der Perspektiven‹ mit sich bringt. Das System der räumlichen Perspektiven ist zentriert im leiblichen ›Hier‹ als dem ›Nullpunkt aller Orientierung‹, aus dem sich der relative Ort jedes anderen Körpers ermessen lässt. Aus der Perspektive der genetischen Phänomenologie lässt sich die Horizontkonstitution anhand der ›Sedimentierung‹ vorangegangener Erfahrungen aufklären. Der ›Prozess beständiger Kenntnisnahme‹ des Gegenstands in der Wahrnehmung impliziert nämlich eine kontinuierliche Bereicherung und Verwandlung von Sinn, die zu einem bleibenden Erwerb des Subjekts führt. Dank der ›apperzeptiven Nachwirkung‹ jeder Erfahrung, wodurch das, was früher von einem Gegenstand erfahren wurde, auf jeden ähnlichen Gegenstand übertragen wird, bilden sich im Wahrnehmungsprozess Strukturen der Vertrautheit und Vorbekanntheit heraus, die mit einer Typisierung des Wahrnehmungsobjekts und korrelativen Habitualisierung ( C.I.12) des Wahrnehmungssubjekts einhergehen. In Bezug auf die hiermit entstehenden antizipierenden Verweise spricht Husserl vom »Horizont bestimmbarer Unbestimmtheit« bzw. »unbestimmter Bestimmbarkeit« (Hua III/1, 92, 145). Der durch Sedimentierung gebildete ›Erfahrungshorizont‹ ist für die Konstitution einer historischen und kulturellen Lebenswelt ( C.I.13) als uns immer vorgegebenem ›Horizont‹ grundlegend. Die lebensweltliche Dimension wird bei Husserl im Spannungsverhältnis zum neuzeitlichen Objektivismus gedacht. Dieser zeichnet sich durch den Versuch einer radikalen Entperspektivierung der subjektiv-relativen Gegebenheiten der anschaulichen Umwelt aus und wird von Husserl als »naive Einseitigkeit« (Hua VI, 342) verurteilt. Die vom Objektivismus geprägten neuzeitlichen Wissenschaften stellen dem subjektiven Relativismus und Erkenntnisperspektivismus der natürlichen, vorwissenschaftlichen Doxa die exakten und objektiven Wahrheiten der Episteme gegenüber. Dies gilt insbesondere für die mathematisierende Naturwissenschaft, welche auf eine ›reine Natur‹ als geschlossenen kausalen Zusammenhang ›an sich‹ durch Thematisierung des physischen Dinges in seinen messbaren Eigenschaften unabhängig von der wechselnden Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungsweisen für ein Subjekt abzielt. Demgegenüber ist die Lebenswelt als subjektiv-relative und historisch-kulturell geprägte notwendig perspektivisch gegeben, sodass lebensweltliche Wahrheiten stets alltäglich-praktische ›Situationswahrheiten‹ sind.
I.10. Perspektivität und Horizontalität
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Das Thema der Perspektivität tritt bei Husserl schließlich im Zusammenhang mit seiner phänomenologischen Analyse der Fremderfahrung auf (Hua I, §§ 50– 56). Die Wahrnehmung des Anderen in natürlicher Erfahrung ist ähnlich der Dingwahrnehmung durch seine Perspektivität und Horizontalität gekennzeichnet. Hierbei ist jedoch die Bezugsstruktur eine andere, weil das andere Ich einen Erfahrungsbereich aufweist, dessen Darstellung prinzipiell nicht zum möglichen Korrelat einer zukünftigen Wahrnehmung werden kann, sondern stets nur indirekt zugänglich bleibt. Der die Fremdwahrnehmung ermöglichende Prozess der ›Paarung‹ zwischen Eigen- und Fremdleib impliziert einen Perspektivenwechsel, aufgrund dessen ich mir vorstelle, wie es wäre, wenn ich dort anstelle des fremden Leibkörpers stünde und die Welt aus seiner Perspektive wahrnähme ( C.I.11). Maurice Merleau-Ponty (1945/1966, 91–96, 239 ff.) thematisiert Perspektivität und Horizontalität im Rahmen seiner Phänomenologie der Wahrnehmung. Sehen geschieht für ihn »immer nur von irgendwoher« und nur in der Orientierung auf einen Blick hin (être-pour-le-regard) hat der Gegenstand Sinn. Ein Ding wahrnehmen heißt ›in ihm heimisch werden‹, d. h. alle anderen Dinge aus seiner Perspektive zu erblicken. Zentral fungiert hierfür, wie bei Husserl, der Leib, der ›mein Gesichtspunkt für die Welt‹ ist. Im Gegensatz zum Rationalismus, der den Wahrnehmungsgegenstand als den nichtperspektivischen Aspekt auslegt, von dem alle Perspektiven abzuleiten wären, lehnt Merleau-Ponty die Existenz eines Dings an sich jenseits der perspektivischen Abschattungen ab. Ihm zufolge entspricht der Gegenstand vielmehr der unendlichen Totalität seiner Perspektiven. Demnach lässt zwar jede einzelne Perspektive den Gegenstand erscheinen, aber gleichzeitig verschließt sie den Blick vor seinen restlichen Perspektiven, sodass Perspektivität für Merleau-Ponty nicht nur das Mittel ist, durch das Gegenstände sich enthüllen, sondern auch das Mittel, durch welches sie sich verbergen können. Aron Gurwitsch ergänzt in seinem Werk Das Bewußtseinsfeld Husserls Lehre der Perspektivität und Horizontalität durch gestalttheoretische Einsichten (Gurwitsch 1957/1975, § 54). Ausdrücke wie ›Perspektive, Orientierung, Beleuchtung‹ bedeuten nach ihm eine dem vollständigen und konkreten Noema (d. h. dem Thema, wie es in einem gegebenen Feld erscheint) immanente Komponente – z. B. die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus aus der Perspektive der damals vertretenen Meinungen hinsichtlich der Erdgestalt. Das Thema ist einerseits unabhängig von seinem jeweiligen thematischen Feld: Gehen wir von einem Standpunkt zum anderen über, so bleibt das Thema an sich identisch, während sich das Feld und somit die Perspektive seiner Erscheinung jeweils abwandelt. Andererseits ist die Perspektive dem Thema nicht äußerlich, sondern für seine Darstellungs- und Erscheinungsweise notwendig. Was vom thematischen Feld abhängt und sich mit ihm wandelt, ist daher nicht das Thema selbst, sondern die Perspektive, von der aus das Thema erscheint. Ein gegebenes Thema lässt sich nicht in jedes beliebige Feld einfügen, sofern alle Veränderungen bezüglich des thematischen Feldes der Bedingung unterliegen, dass eine ›Relevanzbeziehung‹ zwischen dem Thema und seiner jeweiligen Umgebung vorliegen muss.
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Perspektivität und Horizontalität kommen als operative Begriffe auch in Martin Heideggers Daseinsanalytik vor (SuZ). Das Dasein wird hier als eingebettet in ein ›Bedeutungsganzes‹ beschrieben, in der ihm die Umwelt gegeben wird. Die ›Zuhandenheit‹ des ›Zeugs‹, mit dem das Subjekt in seinen alltäglichen Sorgen hantiert, besteht in seiner Dienlichkeit zu einem bestimmten Zweck, der seinerseits immer schon aus der Ganzheit der Zwecke der uns umgebenden ›Werkwelt‹ heraus verstanden wird. Jedes Zeug kommt somit immer in einem situativen Kontext bzw. ›Verweisungszusammenhang‹ vor, der sich als ein funktionaler Dienlichkeitszusammenhang, eine ›Bewandtnisganzheit‹, verstehen lässt. Den Fluchtpunkt dieser Um-zu-Verweisungen bildet das Dasein selbst, auch wenn dies ihm in der ›Geworfenheit‹ des In-der-Welt-Seins unerschlossen bleibt. Erst Unterbrechungen der Bewandtnisganzheit, die sich in den Modi des Auffallens, der Aufdringlichkeit und der Aufsässigkeit des Zeugs äußern, offenbaren dem Dasein den Bewandtniszusammenhang der Welt. Dieser dem Daseinsleben Orientierung gebende Zusammenhang wird in der Erfahrung der Angst belanglos, wodurch die Welt sich in ihrer Weltlichkeit bloß als Welt aufdrängt. Mit der Thematisierung der Seinsgeschichte erblickt der späte Heidegger die Möglichkeit eines zeitlichen Wandels des Verweisungszusammenhangs des Seienden. Das Letzte, das nun ›Gefüge‹ genannt wird, entspricht der relationalen Struktur, in die sich jedes Seiende einfügt. Die Seinsgeschichte lässt sich dementsprechend als die zeitliche Entfaltung von Bezugskontexten verstehen, die selbst in historischem Wandel begriffen sind (Wrathall 2013, 329). Alfred Schütz (1932/2004) wendet die Begriffe Perspektivität und Horizontalität im Zusammenhang seiner phänomenologischen Analyse der sozialen Wirklichkeit in Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt an ( D.VI). Nach ihm gliedert sich die soziale Welt anhand der mannigfaltigen Formen des Fremdverstehens synchron in: (1) die ›soziale Umwelt‹ der unmittelbaren Mitmenschen und (2) die ›soziale Mitwelt‹, welche auch sonstige Personen einschließt, die potenziell zu meiner Umwelt gehören könnten (sogenannte Nebenmenschen); sowie diachron in: (3) die ›soziale Vorwelt‹ der Vorfahren, die die geschichtlich vergangene Sozialwelt bewohnt haben, und (4) die ›soziale Folgewelt‹ oder ›Nachwelt‹ der Nachfahren, die die künftige Welt bewohnen werden. Jeder von diesen Sinnhorizonten – auch ›Sinnenklaven‹ bzw. ›-provinzen‹ genannt – besitzt einen eigenen Einstimmigkeitsstil und eine eigene Kohärenz, die denen der anderen Provinzen widersprechen können. Die Überführung einer Weltprovinz in eine andere erfolgt durch einen Bruch der Einstimmigkeit, eine ›Schockerfahrung‹, die zu einer Einstellungsmodifikation führt. Selbst innerhalb der eigenen sozialen Umwelt können mitmenschliche Begegnungen in die Erfahrung einer Perspektivenverschiedenheit münden. Dergleichen geschieht jedoch stets im Rahmen einer hintergründig fungierenden ›Idealisierung der Austauschbarkeit der Standpunkte‹, sodass ich immer als selbstverständlich voraussetze, dass der Mitmensch und ich die gleichen Erfahrungen der gemeinsamen Welt machen könnten, wenn wir unsere Positionen tauschten.
I.11. Intersubjektivität
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Hans-Georg Gadamer verhandelt in Wahrheit und Methode die hier fraglichen Begriffe im Rahmen der für seine phänomenologische Hermeneutik zentralen Idee der »Horizontverschmelzung« (Gadamer 1960/1990, 250 f.). Hiernach erfolgt das Verstehen immer innerhalb eines bestimmten ›Horizonts‹, der durch unsere historisch bedingte Situiertheit festgelegt ist ( C.I.14). Solange aber der Verstehende innerhalb des Horizonts seiner Situation gefangen bleibt, hat der Verstehensprozess noch nicht stattgefunden. Im Vollzug des Verstehens muss es stattdessen zu einer ›Verschmelzung‹ zwischen den Horizonten des Verstehenden und des Verstandenen kommen. Gadamer spricht auch von einer ›sprachlichen Abschattung‹, die die Welt aufgrund der verschiedenen Sprachwelten erfährt. Im Gegensatz zum ausschließenden Charakter der Wahrnehmungsabschattungen vermag sich die durch die eigene Sprache bedingte Weltabschattung infolge des Verstehens der Perspektiven, die andere Sprachen anbieten, zu erweitern. Schließlich kommen die Begriffe von Perspektivität und Horizontalität im Bereich der Psychologie und Psychiatrie zum Tragen ( D.IV). Die Beziehungen von Wahn und Perspektivität stehen im Zentrum von Wolfgang Blankenburgs phänomenologischer Psychopathologie (Blankenburg 1991). Der Wahnzustand entspricht ihm zufolge einer Radikalisierung der Perspektivität im Sinne der Einschränkung des psychischen Systems auf eine einzige Perspektive. Ein nicht ausgehandeltes Thema wächst sich somit beim Wahnkranken zum ›vorherrschenden Perzeptionsorgan‹ aus, was die normale Flexibilität im praktischen Umgang mit Perspektiven drastisch einschränkt (Breyer 2014). Auf dem Gebiet der Wahrnehmungspsychologie schließt sich Carl Friedrich Graumann (1960, 66 ff.) neben der Gestalttheorie unter anderem Husserl, Gurwitsch, Merleau-Ponty und Heidegger an, um die intentionale Subjekt-Umwelt-Relation in der Wahrnehmung als ›horizontale Verweisungsganzheit‹ zu bestimmen. Marco Cavallaro
11. Intersubjektivität Ego und Alter Ego
Unter das Thema ›Intersubjektivität‹ fallen allgemein all jene Fragen, die sich mit dem Status anderer Subjekte befassen. Diese Fragen sind so alt wie die Philosophie selbst und beschäftigen die Philosophie schon lange vor der Phänomenologie. Erwähnenswert wären etwa: die Versuche der Philosophie nach Descartes, das Dasein anderer Subjekte aus der Perspektive des Einzelsubjekts rational nachzuweisen; die im englischen Empirismus einsetzenden Debatten über den moralischen Wert der Fremdgefühle wie Sympathie oder Mitleid; oder die in der frühen Psychologie ausgearbeitete Theorie der ›Einfühlung‹, ein Begriff, der allerdings aus der Ästhetik stammt und sich zunächst auf das Ausdrucksverstehen überhaupt bezieht. Obwohl Husserl bedeutende Überschneidungen mit diesen überlieferten Fragestellungen aufzeigt, lässt sich dennoch in seinen Untersuchun-
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gen – sowie in weiterer Folge in den Untersuchungen von Scheler, Stein, Walther, Reinach, Heidegger, Schütz, Merleau-Ponty, Levinas und anderen – ein ganz eigentümlich phänomenologischer Ansatz zum Thema Intersubjektivität ausmachen. Charakteristisch ist für diesen Ansatz insbesondere, dass erkenntnistheoretische, sozialphilosophische und ethische Motive immer wieder ineinandergreifen. Innerhalb der Phänomenologie der Intersubjektivität wurden folgende Fragen immer wieder verhandelt: Wie kann ich den Anderen erkennen? Welche Rolle spielt der Leib in der intersubjektiven Erfahrung? Inwiefern ist unser Selbstund Weltbezug durch andere vermittelt? Geht die Einzelsubjektivität der Sozialität voraus oder umgekehrt? Welche Rolle spielt die Intersubjektivität für die Konstitution von Sinn, Zeit, Raum, Tradition, Geschichte usw.? Welche ethischen Forderungen gehen vom Anderen aus? Ist Sozialität auf den Menschen beschränkt oder gibt es ferner eine zwischenspezifische Sozialität im Verhältnis zu Tieren? Grundsätzlich lässt sich dabei festhalten, dass in der Phänomenologie das Phänomen der Pluralität der Subjekte zu einem zentralen Anliegen wird. 11.1. Husserls Theorie der Fremderfahrung
Husserls Phänomenologie wurde schon früh des Solipsismus verdächtigt. Indem sie beim immanenten Bewusstseinsleben des einzelnen Subjekts und seinen intentionalen Gegenständen ansetzt, stellt sich leicht der Verdacht ein, jeder Anspruch auf eine objektive, allgemein verbindliche Erkenntnis der Welt sei aufgegeben worden. Auf diesen Einwand antwortet das Problem der Fremderfahrung. Was heißt es, den Anderen zu erfahren? Anstelle einer Definition liefert Husserl eine paradoxe Lagebeschreibung: Die Fremderfahrung fuße in einer »bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen« (Hua I, 144). Husserl drückt damit ein Doppeltes aus: Zum einen gibt es tatsächlich Alter Egos, deren Existenz sich nicht in unserer bewusstseinsimmanenten Gegebenheitsweise erschöpft, sondern die stets einen Rest an widerständiger Unzugänglichkeit behalten; andererseits sind die Anderen doch auch stets in gewisser Weise zugänglich, insofern sie als Andere erfahren werden, mit denen Sinnbezüge und eine gemeinsame Welt geteilt werden. Anders als bei leblosen Gegenständen kann ich mittels ›Einfühlung‹ die Bewusstseinszustände des Anderen nachvollziehen und damit zugleich die Welt als gemeinsames Korrelat unterschiedlicher Erfahrungsperspek tiven erfahren. Durch die Einbeziehung des Alter Ego und des Themas der Erfahrung des Anderen soll daher belegt werden, dass die phänomenologische Vorgehensweise nicht nur mit einer intersubjektiv geteilten Verbindlichkeit verträglich ist, sondern dieser sogar allererst eine belastbare Grundlage verschafft. Um die Spezifik der husserlschen Analyse nachzuvollziehen, muss man sich den geschichtlichen Kontext und insbesondere die Befunde der damaligen Psychologie vergegenwärtigen. So entwickelt Husserl selbst das Thema in der Tat zunächst in direkter Auseinandersetzung mit den psychologischen Abhandlungen von Theodor Lipps, dessen zentralen Begriff der ›Einfühlung‹ er auch über-
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nimmt. Indessen unterscheidet sich Husserls Auslegung nicht bloß in seiner thematischen Ausrichtung von Lipps, dem er die einseitige Orientierung am Tatbestand des mimischen Ausdrucks vorwirft, sondern vor allem durch seine erkenntnistheoretischen Implikationen. So stellt Husserls Auslegung der Einfühlung keineswegs nur eine spezielle psychologische Einzeluntersuchung dar, sondern ihr besonderer systematischer Stellenwert beruht vielmehr darauf, dass sie die intersubjektive Erfahrung als erkenntnistheoretische Grundlage für die Erfassung objektiver Realität überhaupt ansieht. Diesen Erfahrungszusammenhang fasst Husserl auch unter den Begriff ›transzendentale Intersubjektivität‹. Husserl interpretiert das Phänomen der Einfühlung als eine Sonderform dessen, was er als Vergegenwärtigungen definiert ( C.I.8). Anders als bei Bewusstseinsmodi, bei denen der Gegenstand selbst gegeben (›präsent‹) ist, geht es bei den vergegenwärtigenden Bewusstseinsmodi um ›appräsentierende‹ Akte. Grundsätzlich sind mir die Erlebnisse des Anderen unzugänglich und ich werde sie nie aus Erster-Person-Perspektive erfahren. Allerdings kann ich mir die Erlebnisse des Anderen und seine Erfahrungsperspektive bis zu einem gewissen Grad indirekt ›vergegenwärtigen‹. Dies geschieht aufgrund eines Prozesses, den Husserl als »Paarung« (Hua I, 141 f.) anspricht. Der Begriff bezeichnet zunächst die allgemeine Tatsache, dass gleiche Gegenstände im Bewusstseinsfeld von uns passiv miteinander assoziiert oder zusammengekoppelt werden. Eine Assoziation dieser Art liegt aber auch im Falle der Einfühlung vor. Denn indem wir die Ähnlichkeit zwischen dem fremden Leibkörper und unserem eigenen erfassen, tritt zwischen beiden eben eine Paarung ein, sodass die an meinem Leib direkt erfahrene Subjektivität auch dem anderen Leib als Appräsentation zugesprochen wird. Indem ich also den fremden Leib als Gegenpart meines eigenen Leibes, der mir in direkter Präsentation gegeben ist, empfinde, kann ich den Anderen als ein ›anderes Ich‹ (Alter Ego) appräsentieren ( C.I.9). Dieser Prozess stellt indessen bloß die Grundstufe dessen dar, was Husserl ›Einfühlung‹ nennt. Darauf gründen höhere Formen der Fremderfahrung, wie etwa das mimische Ausdrucksverstehen, die fantasiemäßige Versetzung in die Situation des anderen, aber auch Akte der kommunikativen Wechselverständigung und des gemeinschaftlichen Handelns – kurzum all das, was Husserl mit einem Ausdruck Adolf Reinachs als »soziale Akte« bezeichnet (Reinach 1989, 158). Zwei besondere Komplikationen dieser Problemsphäre kommen dabei mit den Fragen der Normalität und der Generativität ins Spiel ( D.VIII). Mit dem Begriff der Normalität bezieht sich Husserl zunächst auf das Problem der Einstimmigkeit zwischen der eigenen Erfahrung und jener Anderer. Wenn nämlich die Einfühlung in seiner Sicht grundsätzlich im Ausgang von dem wahrgenommenen Leib des Anderen ein anderes Ich als solches erfassen lässt, das sich auf dieselbe Welt bezieht, so impliziert dies, dass meine und des Anderen Welterscheinungen ein einheitliches System bilden, das Husserl auch als ›Normalität‹ charakterisiert. Aufgrund dieser Normalität sind dann aber auch Anomalitäten als Unstimmigkeiten zwischen den Erfahrungen verschiedener Subjekte in Bezug auf dieselben
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Dinge erfahrbar. Dies stellt Husserl des Öfteren zunächst im Ausgang von Störungen der Sinnesorgane wie z. B. Farbenblindheit oder Taubheit dar. Als anomale Abwandlung der vollen Intersubjektivität gilt dann weiterhin auch das Verhältnis zu Kleinkindern, Tieren, Geisteskranken und sogenannten »Primitiven« (Hua XIV, 119 f.), die in Husserls Sicht als Mitsubjekte der Welterfahrung nicht voll in Betracht gezogen werden können, mittels einer Abwandlung der normalen Einfühlung für uns allerdings dennoch zugänglich sind. Eine weitere Komplikation des Intersubjektivitätsproblems kommt mit der Frage der Generativität ins Spiel, die speziell im Spätwerk zum Tragen kommt. Während der klassische Aufriss der Fremderfahrung synchrone Beziehungen beschreibt (Wie werden andere Subjekte erfahren, mit denen wir einen raumzeitlichen Zusammenhang teilen?), kommt mit der Erweiterung um generative Gesichtspunkte eine diachrone Dimension ins Spiel (Wie beziehen wir uns auf Subjekte, die vor uns lebten, oder auf künftige, noch nicht geborene Generationen?). Damit wird das Thema der Intersubjektivität in einen weiteren Kontext von Geschichtlichkeit ( C.I.14) gestellt (Hua XV, 171 f.). 11.2. Kritik und alternative Entwürfe
Husserls Darstellung der Intersubjektivität wurde von seinen Nachfolgern aus drei verschiedenen Perspektiven kritisiert, wobei diese Kritik ihrerseits neue Perspektiven in der phänomenologischen Intersubjektivitätsforschung eröffnete. (1) Kritik am Analogiemodell: Erstens wurde Husserl vorgeworfen, dass seine Darstellung der Fremderfahrung noch immer einem problematischen Analogiemodell folgt. Husserl ist dabei wohl bemüht, die Fremderfahrung von ihrer damals geläufigen Deutung als einem bloßen Analogieschluss, der im Ausgang von meinen eigenen Erfahrungen die Erfahrungen des Anderen eruiert, abzugrenzen. Zugleich will er sich auch von ihrer Interpretation bei Theodor Lipps als einer bloßen Projektion der eigenen Erfahrungen auf den Anderen absetzen. Unverändert bleibt dabei aber die Annahme, dass es einen stets nur indirekten Zugang zum fremden Bewusstseinsleben gibt. Demgegenüber behauptet schon Scheler, dass uns im Ausdrucksverstehen vielmehr ein direkter Zugang zu den Erfahrungen des Anderen offensteht, indem wir die Freude des Anderen im Gelächter, die Scham in der Röte oder die Traurigkeit mit dem Weinen unmittelbar erfahren – Scheler spricht ausdrücklich von einer Fremdwahrnehmung (Scheler 1912/1973, 232 f.). Ähnlich verwirft auch Merleau-Ponty die Auffassung des fremden Bewusstseinslebens als einer Folge von rein innerlichen, anderen unzugänglichen Erlebnissen, indem er diese vielmehr als ein äußerlich wahrnehmbares mimisches und gestisches Gebaren deutet, die als externalisierte Äußerungen – im Sinne von ›Zwischenleiblichkeit‹ (intercorporéité) – immer schon Anderen zugänglich sind (Merleau-Ponty 2007, 246). Die Spannung zwischen solchen Positionen und jener Husserls relativiert sich allerdings, wenn man, wie Dan Zahavi, die Unmittelbarkeit der Fremderfahrung nicht länger am Maßstab des Zu-
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gangs misst, den der andere zu seinen eigenen Erfahrungen hat, sondern von einer Unmittelbarkeit sui generis ausgeht (Zahavi 2013a, 184). Parallelen ergeben sich hier ferner zu aktuellen Entwürfen in der sogenannten Simulationstheorie und der Theorie-Theorie der Kognitionswissenschaften, welche die neurophysiologische Entdeckung der Spiegelneuronen zu plausibilisieren vermag. (2) Kritik an der Egologie: Zweitens hielt man Husserls Darstellung der Intersubjektivitätsfrage vor, dass sie dem Einzelbewusstsein einen Vorrang erteilt, indem sie Sozialität überhaupt nur als einen nachträglichen Erwerb ansieht. Diesen Einwand hat schon Martin Heidegger vertreten, indem er gegen Husserl geltend machte, dass das Subjekt nicht zunächst in sich abgekapselt sei, um dann anschließend so etwas wie Andere zu entdecken, vielmehr sei ›Miteinandersein‹ (SuZ, 120) als ein Strukturmoment von Subjektivität überhaupt zu fassen. Ähnlich erklärt auch Schütz (2009, 254), die Intersubjektivität gehe als lebensweltliches Faktum dem Einzelsubjekt voraus, und entwirft eine alternative Theorie ursprünglicher Sozialität. Sartre moniert wiederum, dass Husserl den Ego-Begriff noch zu substanzialistisch denkt: Aufgrund seiner intentionalen Struktur ist das Ego selbst nichts anderes als sein Bezogensein auf Anderes, und in dem Bezogensein auf Anderes ist es immer schon auf Andere verwiesen (Sartre 1943/2020, 275 f./299 f.). (3) Kritik am Epistemozentrismus: Schließlich betrifft ein dritter Einwand, der gleichfalls im Rahmen der phänomenologischen Schule formuliert wurde, die Tatsache, dass Husserls Ansatz das Problem der Intersubjektivität bloß unter dem Blickpunkt der Erkenntnis des Anderen angeht. Schon Heidegger wirft Husserl vor, dass er damit die ursprünglichere affektive Bezugnahme auf den Anderen, die er als Fürsorge bezeichnet, außer Acht lässt (SuZ, 121). Ähnlich kritisiert auch Levinas Husserl dafür, das ursprünglich ethische Verhältnis zum Anderen zugunsten eines rein epistemischen Bezugs zu vernachlässigen. Laut Levinas stellt die Erfahrung des Anderen kein primär epistemisches, sondern ein ethisches Verhältnis dar: Im Antlitz des Anderen drückt sich ein Appell aus, dem ich mich nicht entziehen kann (Levinas 1961/1987, 301). Unabhängig davon, ob ich ihn erkenne, stellt der Andere Ansprüche an mich, auf die ich nicht nicht antworten kann. Der unbedingte Anspruch, der von der zweiten Person ausgeht, steht dann wiederum in Zusammenhang zu anderen, konkurrierenden Ansprüchen Dritter, sodass Intersubjektivität ein Spannungsfeld zwischen einer interpersonalen und einer gesellschaftlichen Perspektive aufreißt. Intersubjektivität gehört damit unzweifelhaft zu den Grundbegriffen der Phänomenologie und diente nicht nur einer internen Auseinandersetzung über die Potenziale und die Grenzen des husserlschen Ansatzes, sondern eröffnete darüber hinaus viele Anwendungsbereiche, ob im Kontext der Erkenntnistheorie ( D.II), der Embodiment-Debatte ( D.XI), der experimentellen Ästhetik ( D.X), der Sozialontologie ( D.VI), der politischen Philosophie ( D.VII) oder der Ethik ( D.III). Christian Ferencz-Flatz
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12. Habitualität Passivität, Gewohnheit, Tradition
Jede Erfahrung hinterlässt ihre Spuren im Subjekt, verändert dieses und damit auch seine zukünftigen Erfahrungen in bleibender Weise. Habituelle Vermögen und Kenntnis repräsentieren einerseits das Vergangene, im biografischen, historischen oder evolutiven Sinn, andererseits das Gemeinsame (Tradition, Sozialität) jeder subjektiven Erfahrung. Dadurch wird nicht nur eine Vermittlung der zeitlichen Ebenen geleistet, sondern auch deutlich, wie eng Natur und Kultur, Einzelsubjekt und soziale Gemeinschaft verflochten sind. Ohne diese impliziten zeitlich-historischen und intersubjektiven Verbindungen, die sich in der Habitualität ausdrücken und operativ wirksam sind, wäre eine sinnvolle Erfahrung phänomenologisch nicht möglich, weshalb der systematischen Analyse der Sphäre des Habituellen ein zentraler Stellenwert für die Phänomenologie insgesamt zukommt. Der Aspekt der Wiederholung nimmt dabei eine wichtige Rolle ein; im Gegensatz zur traditionellen Sichtweise (Descartes, Kant) wird diese innerhalb der Phänomenologie jedoch nicht als mechanischer Prozess verstanden: Wiederholung führt vielmehr einerseits zum Erwerb praktischer Vermögen sowie eines bleibenden personalen Charakters und andererseits zur »Sedimentierung« (Hua VI, 152) von gegenständlichem Sinn und habituellem Wissen. Dies äußert sich aufseiten des Subjekts in einem praktischen »Ich kann« (Hua IV 253; Merleau-Ponty 1945/1966, 166), einem individuellen Stil (Hua IX, 215) oder einer Typik (Hua IV, 270 f.; Schütz/Luckmann 1979/2003, 313 ff.) sowie in einer personalen Identität (Hua I, 101). Inhaltlich drückt es sich aus im habituellen Besitz (Hua XVII, 320) und in einer nach ihrer Typik bekannten und vertrauten Welt (Hua XI, 212 ff.). Dieser habituelle Besitz gewährleistet, dass wir uns im alltäglichen Leben mühelos zurechtfinden und die Welt, die anderen Subjekte sowie uns selbst als relativ einheitlich, stabil und sinnvoll erfahren. Einem habituellen Erwerb oder Besitz geht meist ein spontaner performativer Akt der Sinn- oder Urstiftung (Hua VI, 367 f.; Merleau-Ponty 1945/1966, 85) voraus, der dann durch Wiederholung Stabilität erlangt und habitualisiert wird, d. h., sich fortan automatisch und in reiner Passivität vollzieht (sekundäre Passivität). Dabei sedimentieren sich nicht nur subjektive Urteile und Überzeugungen, gestiftete und erfasste Bedeutungen, sondern auch leibliche Bewegungsmuster und Fertigkeiten. Husserl macht etwa deutlich, dass bereits auf rein passiv rezeptiver Ebene jede sinnliche Erfahrung, zumal wenn sie wiederholt auftritt, ihre Spuren hinterlässt und einen Hintergrund an ›Vorgegebenem‹ (Hua XXXIX, 1–67) bildet, der jede weitere Wahrnehmung implizit beeinflusst. Zusammen mit den Instinkten und angeborenen Dispositionen bildet dieser sich stetig anfüllende Untergrund eine Schicht der primären Passivität, die den Bodensatz der biografischen Habitualität bildet (Hua IV, 277). Da jedes Individuum zugleich Teil einer sozialen und einer historischen Welt ist ( C.I.14), enthält die biografische Habitualität neben einer personalen auch
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eine überpersonale Bedeutungsschicht. Diese traditionelle Form der Vorgegebenheit tritt auf in Gestalt von Sitten, Bräuchen, Konventionen oder eines geistigen Milieus. Der habituell ausgebildete Erfahrungsstil ist also nicht nur individuell, sondern Teil einer Tradition, unser habituelles Wissen ist zugleich historisch bedingt und sozial vermittelt. Tradition ist dabei beides: etwas, das passiv übernommen, und etwas, das aktiv von Subjekten gemeinsam gestiftet wird. Inwiefern Habitualität Ausdruck von sozialen (Geschlechts-)Normen oder (Macht-) Strukturen ist, wird in der feministischen und der kritischen Phänomenologie diskutiert (Beauvoir 1949; I.M. Young 1980/1993; Heinämaa 2003; Ahmed 2007 und 2019; G. Weiss et al. 2020; D.VIII). Phänomenologisch lassen sich dabei verschiedene Ebenen der subjektiven Habitualität unterscheiden, die sich graduell anhand ihrer Aktivität bzw. Passivität unterscheiden lassen: rezeptive, leibliche, personale und soziale Habitualität. 12.1. Rezeptive Habitualität
Nach Husserl vollziehen sich im Bewusstsein passiv Synthesen, die die Grundlage sowohl für jede Form der Habitualität als auch für einheitliche gegenständliche Wahrnehmung überhaupt sind: Während zeitliche Synthesen eine formale Ordnung gewährleisten, werden bei der passiven Assoziation alle neuen Sinnesdaten automatisch mit ähnlichen oder bereits wahrgenommenen verknüpft. Nach dem ursprünglichen Auftreten eines Sinneserlebnisses im Jetzt sinkt es retentional im Bewusstsein ab – wie etwa ein gehörter Ton – und versinkt in die »unlebendige Vorvergangenheit« (Hua XI, 117 ff.). Mag dieses Erlebnis damit auch ›vergessen‹ sein, es ist dennoch nicht spurlos verschwunden, sondern nach Husserl bloß ›latent‹ geworden, das in ihm Konstituierte ist nun unser »habitueller Besitz« (Husserl 1939/1999, 137), der darauf wartet, durch ähnliche Erfahrungen reaktiviert zu werden. Genauso sedimentiert sich jede wahrnehmende Erfassung und »explizierende Kenntnisnahme« (ebd., 138) eines Gegenstandes. Bei der genetisch erstmaligen Wahrnehmung eines Hauses wird damit zugleich eine Typik vorgezeichnet: »Hätte ich nicht erstmalig ein Ding gesehen, seinen Sinn ganz ursprünglich gewonnen, so könnte ich nicht immer Neues ›von vorneherein‹ als ein Ding auffassen.« (Hua XXXIX, 3) Zugleich ist jede scheinbar »ursprüngliche Anschaulichkeit« durchsetzt mit Antizipationen, »weil jeder Gegenstand nichts Isoliertes für sich ist, sondern immer schon Gegenstand in seinem Horizont einer typischen Vertrautheit und Vorbekanntheit« (Husserl 1939/1999, 136 f.). Der Typus als habitueller Besitz ermöglicht, dass die Welt und ihre Objekte, ihrem allgemeinen oder individuellen Typus nach, als bekannt erfahren wird. Dies gilt ebenso für unsere Mitmenschen, die wir einerseits allgemeintypisch als Menschen und andererseits individualtypisch in ihrem persönlichen Stil erfassen. Hier schließt Alfred Schütz an, indem er Husserls Konzept des Typus anwendet, um verschiedene Formen von unmittelbaren und vermittelten sozialen Kontakten sowie typische funktio-
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nale und personale Handlungen in der Lebenswelt ( C.I.13) zu beschreiben (Schütz 1962, 19 ff.). 12.2. Leibliche oder praktische Habitualität
Bei Husserl erscheint die praktische Habitualität in Form eines subjektiven Vermögens, das über die gegenwärtige Erfahrungssituation hinausreicht, indem es auch zukünftig und in veränderten Umständen ausgeübt werden kann. Mit Husserl lässt sich erworbenes Vermögen als Erweiterung der praktischen oder kinästhetischen Möglichkeiten des Subjekts beschreiben, die jederzeit aktualisiert werden können und die Horizonte der zukünftigen Erfahrung mitbestimmen (Hua IV, 144 ff.; Husserl 1939/1999, 83). Merleau-Ponty knüpft an die Thematik der Leiblichkeit ( C.I.9) an, wenn er in der Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) über den habituellen Leib, das Körperschema und die Gewöhnung als motorischen Erwerb spricht. Als leibliches Subjekt sind wir in der Welt situiert und auf diese erfahrend und handelnd bezogen. Weiterhin unterscheidet Merleau-Ponty zwei Schichten in uns, die in der normalen Erfahrung notwendig miteinander verbunden sind, die des »habituellen und des aktuellen Leibes« (Merleau-Ponty 1945/1966, 106). Dies macht er anhand der Pathologie des Phantomglieds deutlich, bei dem diese Schichten auseinanderfallen. Obwohl beispielsweise der Arm eines Soldaten amputiert wurde, verhält sich dieser weiterhin so, als ob der verlorene Arm noch zu ihm gehöre. Diese Anwesenheit in der Abwesenheit lässt sich nach Merleau-Ponty weder rein physiologisch (Nervensignale) noch rein psychologisch (Verleugnung) erklären. Vielmehr werden die einst erworbenen Fertigkeiten des verlorenen Armes gleichsam existenziell festgehalten, obwohl sich die aktuelle Situation verändert hat und diese praktischen Möglichkeiten für das Subjekt faktisch nicht mehr bestehen. Was aus der Schicht des aktuellen Leibes verschwunden ist, nämlich die aktuellen Gesten und Bewegungen, bleibt in der anderen Schicht habituell erhalten. Im normalen Fall sind es genau dieses praktische Wissen und die Fertigkeiten des habituellen Leibes, die es uns ermöglichen, uns mühelos in der Umwelt zu bewegen, mit Dingen zu hantieren und vertraute Wege beschreiten zu können. Die habituellen Erwerbe haben dabei ihren Sitz im Körperschema, das MerleauPonty gestalttheoretisch als »Gesamtbewußtsein meiner Stellung in der intersensorischen Welt« (ebd., 125) versteht. Dieses Körperschema wird beständig durch neue Interaktionen mit der Welt oder durch Einbeziehung von Werkzeugen erweitert, was nur möglich ist durch Habitualität als Prozess der leiblichen Gewöhnung. Als Beispiel hierfür wird der Blindenstock genannt. Für den Blinden ist der Stock kein fremdes Objekt oder Hilfsmittel, vielmehr erfährt der Blinde durch den Stock die Welt: Der Blinde gewöhnt sich an den Stock, indem er Gegenstände mit ihm berührt und die Welt mit ihm erkundet, durch ihn erfährt er, welche Gegenstände für ihn in Reichweite sind und mit welchen er dementsprechend hantieren kann.
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Gewöhnung ist daher nicht das Resultat einer mechanischen Wiederholung, sondern der »motorische Erwerb einer neuen Bedeutung« (ebd., 172), wie Merleau-Ponty auch anhand des Tanzens, Schreibmaschineschreibens und Orgelspielens deutlich macht. Hier handelt es sich um den Erwerb eines praktischen Wissens, das nicht explizit gewusst wird, sondern der »leiblichen Betätigung zur Verfügung steht, ohne sich in objektive Bezeichnungen übertragen zu lassen« (ebd., 174). Wie bei Husserl wird der spontane Anteil der Habitualität, die Stiftung einer Bedeutung hervorgehoben, nur dass diese nicht vom Bewusstsein oder von der Person, sondern vom Leib selbst gestiftet wird. Der vorprädikativ gestiftete Sinn, der sich in unseren leiblichen Fähigkeiten ausdrückt, lässt sich über die aktuelle Situation hinaus und unabhängig von dieser anwenden und übertragen – wie der Orgelspieler, der ohne Probleme auch auf einer ihm unbekannten Orgel oder sogar anderen ähnlichen Instrumenten spielen kann. Die Gewohnheit beschreibt insofern keine bloße Routine, sondern steht allgemein für unser Vermögen, »unser Sein zur Welt zu erweitern« (ebd., 173), und ist konkreter leiblicher Ausdruck unseres individuellen sowie historisch-kulturellen Erfahrungsstils. Im Gegensatz hierzu versteht Max Scheler unter gewohnheitsmäßigem Verhalten etwas, das rein automatisch abläuft. Das ›assoziative Gedächtnis‹ ermöglicht menschlichen wie tierischen Individuen, durch assoziatives Imitieren und Lernen von Artgenossen Habitualitäten sowie Traditionen zu erwerben. Erst auf der Ebene der praktischen Intelligenz, die auch höheren Säugetieren zukommt, kann ein Individuum auf neue Situationen spontan und angemessen (d. h. intelligent) reagieren, ohne diese Handlung vorher eingeübt zu haben. Die praktische Intelligenz ist zwar noch gebunden an das Organische, setzt jedoch Einsicht in spezifische Sachverhalte und kausale Relationen voraus (Scheler 1947, 31). 12.3. Personale Habitualität
Wenn Husserl von Habitualität im eigentlichen Sinne spricht, sind damit bleibende Überzeugungen oder Einstellungen des Subjekts gemeint, die dessen personalen Charakter ausmachen. Akte des Urteilens, Entscheidens und Wertens haben Geltung über den Moment ihres Auftretens hinaus und verändern das Subjekt und seine zukünftigen Einstellungen zur Welt bleibend. Die erstmalige Entscheidung für eine politische Richtung kann beispielsweise eine bleibende Überzeugung schaffen, die über diesen Akt hinausgeht: »[S]o vergeht dieser flüchtige Akt, aber nunmehr bin ich und bleibend das so und so entschiedene Ich, ich bin der betreffenden Überzeugung.« (Hua I, 101) Auch wenn diese Überzeugungen relativ sind und modifiziert oder gar aufgegeben werden können, behält das personale Ego »in solchen Veränderungen einen bleibenden Stil, einen personalen Charakter« (ebd.). Aufgrund unserer wiederholten personalen Akte und Handlungen sind wir uns selbst sowie anderen Personen in einem relativ einheitlichen, individualtypischen Stil gegeben, als jemand, der so und so eingestellt ist, der diese oder jene Eigenschaften hat (Hua IX, 214; Hua XV, 352; Wehrle 2010).
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12.4. Soziale Habitualität
Der rezeptiv, leiblich und personal ausgebildete Erfahrungsstil ist aber nicht nur individuell, sondern zugleich Ausdruck einer Tradition, das Subjekt ein Kind seiner Zeit und Erbe einer Kultur. Diese Tradition können wir passiv aufnehmen oder uns reflektiert und aktiv zueignen, wie Husserl hervorhebt. Tradition ist für ihn einerseits geprägt durch passive Fremdeinwirkungen oder sogar »Zumutungen« (Hua XIV, 269), andererseits wird sie auch von Subjekten aktiv gemeinsam gestiftet. In diesem Kontext spricht Husserl von »Gemeinschaftshabitualität« oder einem »habituellen Wir« (Hua XV, 479; Wehrle 2013b). Diese aktive Form der sozialen Habitualität verbindet die Intentionalitäten von verschiedenen Subjekten – wie etwa in Freundschaften oder Liebesbeziehungen – oder aber in sozialen oder politischen Verbänden: »[D]ie Vielheit hat ihre verbundene Habitualität, dadurch dass jede Habitualität eines jeden in die jedes anderen ›hineinreicht‹« (Hua XV, 479). Der passive Aspekt der Tradition als Fremdeinwirkung tritt bei Heidegger in Gestalt des ›Man‹ auf, d. h. in der alltäglichen Art und Weise, in der das ›Dasein‹ mit anderen ist (Mitsein) (SuZ, 117). Dieses alltägliche Mitsein oder ›ManSelbst‹, in dem ›man‹ blind konventionellen Regeln folgt, handelt und urteilt, wie alle es tun, ist nach Heidegger primär: Unsere existenzielle Situation, die sich für Heidegger als passive ›Geworfenheit‹ ausdrückt, resultiert insofern in einer ›Verfallenheit‹ ans Alltägliche und Durchschnittliche, das uns vor der Einsicht in die Prekarität unserer Faktizität und Finalität bewahrt, das ›Man‹ bezeichnet insofern eine uneigentliche, nicht authentische Weise des Daseins. Ganz anders stellt es sich für Alfred Schütz dar, wenn er Husserls Konzept der Typik und Vorgegebenheit übernimmt und die sozialen Wissensformen und Strukturen der Lebenswelt beschreibt. In jede aktuelle Situation, ob direkte oder indirekte Interaktion mit Mitmenschen, bringt das Subjekt seinen Wissensvorrat ein (Schütz/Luckmann 1979/2003, 107). Dieser Wissensvorrat enthält nicht nur eigene Erfahrungen, sondern ebenfalls erworbenes Typenwissen, soziale Interpretationsschemata und objektives Zeichenwissen. Der biografische Teil ist dabei das Produkt der »Sedimentierung aktueller Erfahrungen nach Relevanz und Typik« (ebd., 163, 173). Der Großteil des Wissensvorrats ist jedoch nicht unmittelbar erfahren, sondern erlernt, d. h. aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat übernommen. Schütz diskutiert in diesem Kontext die Sprache als Strukturierung der (frühen) Wir-Beziehungen, die soziale Bedingtheit der Relevanzstrukturen, sozialisierte Gewohnheiten, Routinen und Interpretationsmuster. Die Art und Weise, wie wir Strukturen übernehmen und fortschreiben, ist dabei für jedes Individuum einzigartig. Trotzdem ähneln unsere Gewohnheiten und Interpretationsmuster in typischer Weise denjenigen solcher Menschen, mit denen wir eine Lebenswelt teilen. In sozialen Beziehungen werden solche Ähnlichkeiten bis auf Widerruf vorausgesetzt und bilden die Grundlage für die intersubjektive Verständigung. Typenwissen spielt dabei in jede soziale Beziehung mit hinein, von
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der direkten Ich-Du-Beziehung bis hin zur vermittelten Ihr-Beziehung oder zum Umgang mit Institutionen. Während sich jedoch das Typenwissen in konkreten Kontakten mit Mitmenschen überprüfen und modifizieren lässt, ist dies bei vermittelten sozialen Kontakten nicht der Fall: Je größer der ›Anonymitätsgrad der Erfahrung sozialer Wirklichkeit‹, desto mehr werden subjektive Sinnzusammenhänge ersetzt durch fixierte Deutungsschemata. 12.5. Habitualität als Geschichte
Habitualität ist schließlich nicht nur wesensmäßige oder konkrete Eigenschaft von Individuen oder Kollektiven, sondern kann ontologisch als Prinzip der Entstehung von Sinn und Geschichte gelten. In kritischer Auseinandersetzung mit Husserls Begriff der Konstitution und Hegels Theorie der Geschichte versteht etwa der späte Merleau-Ponty Habitualität als Institution von Sinn, die weder an ein Bewusstsein gebunden ist noch teleologisch verläuft. Institution meint dabei weder eine bloße Nachahmung der Tradition noch eine creatio ex nihilo, sondern die konkrete performative Übernahme von schon vorhandenem Sinn. Im Prozess der Anknüpfung an die Vergangenheit wird dabei immer wieder neu über das Gegebene hinausgegangen. Von einer Institution lässt sich dabei sowohl auf der vorindividuellen Ebene des organischen Lebens, bei der Entstehung von individuellen Gefühlen, von Wissen oder von Kunstwerken sprechen, als auch überindividuell in Bezug auf Kultur und Geschichte. Gleich einer Zickzackbewegung bleibt die Institution von Sinn stets an das Vergangene gebunden und entwickelt durch diese hindurch etwas Neues und Zukünftiges (Merleau-Ponty 1973, 74). Maren Wehrle
13. Lebenswelt Praktisch, ontologisch, transzendental
Obwohl das philosophische Gewicht des Begriffs ›Lebenswelt‹ erst mit dem Werk Husserls signifikant geworden ist, war der Terminus bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus gebräuchlich. Er taucht schon Mitte des 19. Jahrhunderts auf, und zwar vor allem in wissenschaftlichen wie populären Diskussionen der damaligen Biologie, Paläontologie und Geografie. Lebenswelt wird darin zunächst als Inbegriff des mikroskopisch kleinsten Bedingungsgefüges organischen Lebens gebraucht, um später immer weiter in anthropogeografischer Bedeutung bis an den Rand des philosophischen Diskurses zu wandern, wo der Begriff in positivistischen und lebensphilosophischen Kontexten aufgegriffen wird und darin eine operationale Rolle erhält (Bermes 2004, 92–114). Als philosophischer Schlüsselbegriff wird er freilich erst bei Husserl und dort zumal im Spätwerk, der Krisis (Hua VI), thematisch. Allerdings behält er eine
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gewisse anschauliche Verwandtschaft zu seiner Herkunft, insofern er das anonym wirksame Bedingungsgefüge des menschlichen Weltlebens beschreibt. Er wird dabei zum Zentrum des Versuchs, den bei Husserl schon früher diskutierten ›natürlichen Weltbegriff‹ systematisch präziser zu verorten und dabei unterschiedliche Dimensionen der phänomenologischen Analyse miteinander zu vermitteln. ›Lebenswelt‹ wird dementsprechend gleich in mehreren Bedeutungen diskutiert: Er fungiert sowohl als natürlicher, als ontologischer wie als transzendentaler Begriff. Im natürlichen (›mundanen‹) Verständnis umschreibt Lebenswelt den praktischen Erfahrungshorizont des weltauslegenden Subjekts, also das »Universalfeld aller wirklichen und möglichen Praxis« (Hua VI, 145). Es handelt sich um die je konkrete Umwelt des einzelnen Menschen, um das im weitesten Sinne kulturell geprägte Bedingungsgefüge seines Lebens. Diesem ›Welthorizont‹ entstammt jeder näher bestimmte und bestimmbare Erfahrungsgegenstand. Der lebensweltliche Horizont ist dabei selbst kein Objekt, sondern fungiert als anonymer, bedeutungsvermittelnder Hintergrund aller möglichen Objektivitäten überhaupt. Als ontologischer Begriff benennt Lebenswelt eine formal-allgemeine Struktur invarianter Ordnungen: die Welt als das »All der Dinge« (Hua VI, 142–146), als raumzeitliches Universum objektiver Vorgegebenheiten und Seinsgewissheiten. Als transzendentaler Begriff schließlich bedeutet Lebenswelt »ein Reich ›anonym‹ gebliebener subjektiver Phänomene« (Hua VI, 114 ff.); anonym, sofern die alltägliche Weltbetrachtung nichts von der entscheidenden Bedeutung intentionaler Bestimmungsleistungen für den je aktuellen Weltsinn weiß. Erst der Rückbezug der Gegebenheitsweisen der Welt auf die Struktur einer horizontintentional verfassten Subjektivität kann auch die relativen Geltungsansprüche okkasioneller ›Situationshorizonte‹ mit ihrem Ursprung im Bewusstsein korrelieren ( C.I.10). Und daher müssen auch die Grundlagen einer lebensweltlichen Ontologie – im Sinne der zweiten Bedeutung von Lebenswelt – von hierher, also bewusstseinsanalytisch, zu beschreiben sein. In begründungstheoretischer Hinsicht konsumiert somit diese dritte Bedeutung die beiden erstgenannten. In methodologischer Hinsicht liegen die Verhältnisse hingegen umgekehrt. Auch die Lebenswelt begegnet primär in relativ stabiler ›Form‹: als einheitliche Form der Kulturwelt, die in verschiedenen Kulturen freilich verschieden realisiert, verschieden ›gefüllt‹ ist. In solcher Gestalt kann sie Gegenstand einer ›Ontologie‹ werden. Deren Typik trägt dann, transzendentalphilosophisch betrachtet, den Sinn eines ursprünglichen, nicht weiter hinterfragbaren transzendentalen Phänomens. Dieses Apriori der Lebenswelt (Brand 1971) erweist sich als eine fundamentale ›Schicht‹ im universalen Apriori der Transzendentalität, insofern mit seiner Enthüllung die konstitutive Grundfunktion der ›natürlichen Einstellung‹ des Alltagslebens aufgedeckt ist. Methodologisch gesehen liefert die lebensweltliche Ontologie somit einen ›Leitfaden‹ für den Weg in die transzendentale Fragestellung und führt auf den transzendentalen Sinn von ›Lebenswelt‹.
I.13. Lebenswelt
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Man erkennt diesen Leitfaden allerdings erst post hoc. Die transzendentale Bedeutung von Lebenswelt erschließt sich nämlich erst mit Vollzug der transzendentalphänomenologischen Reduktion. Diese hat die ›natürliche Einstellung‹ des Bewusstseins ja nicht zu negieren, sondern von jener subjektiven Basis her ›verständlich‹ zu machen, die in ihrer Bedeutsamkeit für die alltägliche Erfahrung verdeckt bleibt. Erst eine subtile ›Archäologie‹, die die konstitutiven Schichten transzendentaler Sinnstiftung abzutragen hat, führt phänomenologisch auf die gesuchten Quellen der natürlichen Erfahrung, die sich durch Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit, d. h. leibhafte Gegebenheit auszeichnen müssen. In diesem Zusammenhang kommt nun das kulturtherapeutische Motiv der phänomenologischen Ursprungsforschung zum Tragen. Insbesondere der Objektivismus der Wissenschaften, der die Gegenwart über den vermeintlich ›wahren Sinn‹ der Wirklichkeit zu belehren sucht, diskreditiert auf dem Wege idealisierender Abstraktion die ursprüngliche, vorwissenschaftlich-natürliche Erfahrung als außerwesentlich. Wissenschaft konstruiert auf ihre Weise ein geschlossenes Reich idealer Entitäten, wobei sie den Vorzug theoretischer Berechenbarkeit um den Preis des Verlustes von Erfahrbarkeit erkauft. Diese Rückführung der Geltungsrelativität phänomenaler Wirklichkeit auf die theoretische Substruktion einer vermeintlich wahren ›Welt an sich‹ gewinnt jedoch in dem Augenblick einen pathologischen Charakter, da die Phänomene wie mangelhafte Repräsentanten einer dahinterliegenden ›Sache selbst‹ behandelt werden – um dann in der Konsequenz ignoriert werden zu können. Die Tragik dieses Prozesses liegt in der zunehmenden Diskrepanz praktisch orientierter menschlicher Interessen gegenüber einer objektivistischen Weltanschauung, die solche Orientierung für defizitär erklärt – sie aber keineswegs ersetzen kann. Vielmehr fließt der Objektivismus als eine kulturelle Leistung oberster Priorität in das natürliche Weltverständnis und damit in die Lebenswelt ein, ohne dass dieser Einfluss hinlänglich reflektiert würde. Bereits Husserl macht damit auf die schleichende Kontamination der Lebenswelt durch die Theorie aufmerksam. Solche Kontamination fällt der Theorie schon deshalb nicht schwer, weil auch die »Generalthesis der natürlichen Einstellung« (Hua III/1, 60), in der wir leben, eben immer noch eine Thesis, eine Setzung ist und sie daher dem Theo retischen durchaus verwandt ist. Das Einfließen theoretischer Beschreibungen, die Orientierung an Modellen der Wirklichkeit statt an dieser selber, wie sie uns erscheint, birgt jedoch Gefahren. Das wird spätestens dann bemerkbar, wenn wir, statt zu sehen, wie die Sonne aufgeht, beobachten, wie sich die Erde dreht; wenn wir also anfangen, nur noch zu sehen, was wir wissen, statt Gewissheit aus dem zu gewinnen, was wir sehen. Die Erkenntnis um die anonyme Wirksamkeit der theoretischen Einstellung innerhalb der Lebenswelt muss allerdings erst in philosophischer Kritik eigens herausgefordert werden; sie stellt sich nicht von selbst ein. Die phänomenologische Analyse der lebensweltlichen Grundlagen aller Erfahrung, ihres ›vergessenen Sinnesfundaments‹, trägt eben zu dieser therapeutisch gemeinten Kulturkritik bei.
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Mit dem Thema Lebenswelt wird daher insgesamt die kulturphilosophische Attitüde der phänomenologischen Philosophie greifbar. Nicht zufällig hatte und hat der Lebensweltbegriff seit Husserl weithin Konjunktur. Vielfach rezipiert wurde Husserls in der Krisis vorgetragene Diagnose einer ›Technisierung der Lebenswelt‹. Es sind womöglich die widersprüchlich anmutenden Motive, die er in sich vereint, welche ihn attraktiv machen. Einerseits fungiert Lebenswelt als Basis transzendentaler Vernunfteinheit: als legitimierender Boden ihrer objektivierenden Leistungen und als Horizont ihrer konstitutiven Möglichkeiten. Auf der anderen Seite scheint der subjekt- bzw. gemeinschaftsrelative Sinn der Lebenswelt gleichbedeutend zu sein mit einer Vervielfältigung und Historisierung der Vernunft. Der die Einheit gewährleistende ›Boden‹ ist ja keineswegs für alle derselbe. Dementsprechend tritt die Vernunft gewissermaßen im Plural auf, der der Pluralität lebensweltlich verschieden orientierter Kulturen entspricht. Jede stellt gewissermaßen das Sediment einer nur ihr eigenen Bedeutungsgeschichte dar. Diese Lesart hat Konsequenzen für die weitere Auslegungsgeschichte des Begriffs. Denn die transzendentale Auslegung des Lebensweltbegriffs hat in der Rezeption der Phänomenologie wenig Wirkung gezeitigt und bleibt allenfalls nominell erhalten, allerdings bei deutlicher Verschiebung des Begriffs des Transzendentalen (D. Hartmann 1999). Doch bereits der erste nennenswerte Anknüpfungsversuch an Husserls ›Lebenswelt‹ bezieht sich ausdrücklich auf dessen mundane Variante. Namentlich Alfred Schütz’ Versuch, die phänomenologische Diskussion für eine soziologische Theorie des Alltagslebens fruchtbar zu machen, wird hier richtungsweisend ( D.VI). ›Lebenswelt‹ avanciert mit Schütz (Schütz/Luckmann 1979) zu einem zentralen Begriff der Sozialphänomenologie (Grathoff 1989), weil in ihm grundsätzlich bereits Intersubjektivität und soziale Welt mitgedacht sind. Damit ist eine kritische Distanzierung von den bewusstseinsanalytischen Interessen Husserls verbunden, denen eine gewisse weltfremde Egozentrik attestiert wird. Umso weltnäher soll die Analyse der Strukturen der sozialen Lebenswelt sein. Diese Strukturen sind im Wesentlichen relativ auf Handlungsvollzüge. Sie sind räumlicher, zeitlicher und sozialer Art, insofern Handlungen eben derartige Dimensionen aufweisen: Sie finden in räumlichen »Wirkzonen« (Schütz/Luckmann 1979, 72 ff.) statt, sie referieren auf Erinnerungs- und Erwartungshorizonte und sie beziehen sich auf andere Menschen und die mit ihnen gemeinsame Erfahrung. Derartige soziale Erfahrungen sind ihrerseits nach Relevanzkriterien strukturiert, d. h. nach Vertrautheitsmustern (Typen), in denen sich individuelle Erfahrungsgeschichten sedimentiert haben (ebd., 277, 286). In dieser Form wird schließlich auch die von Husserl her bekannte subjektive Struktur der Lebenswelt in den sozialwissenschaftlichen Diskurs hinüber ›gerettet‹. In die Nähe dieses Ansatzes bei Schütz rückt auch Habermas’ Verwendung von ›Lebenswelt‹. Jedoch beschreibt er unter diesem Titel vor allem die sprachpragmatische Manifestation solcher Strukturen, da die soziale Interaktion sich in einem Netz kommunikativer Alltagspraxis entwickelt, konkret im Sprechakt, dessen Deutung nur mit Bezug auf den jeweils situativen lebensweltlichen Hinter-
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grund der beteiligten Akteure möglich ist. Besagte Strukturen sind sonach symbolischer Art. Lebenswelt umfasst daher all »diejenigen symbolischen Gegenstände […], die wir, indem wir sprechen und handeln, hervorbringen« (Habermas 1981, 159). Der verstehende Zugriff auf derartige Hintergründe sozialer Interaktionen gilt demnach als zentrale Herausforderung sozialwissenschaftlicher Analyse. Über die Theorie der Sozialwissenschaften hinaus hat das Lebensweltkonzept phänomenologischer Provenienz auch in der Wissenschaftstheorie konstruktivistischer Prägung gewirkt. Lebenswelt und Wissenschaft werden zum zentralen Begriffspaar diverser Diskurse der vergangenen Jahrzehnte (Gethmann 1991; 2011). Namentlich der Methodische Konstruktivismus (Janich et al. 1974) knüpft an die phänomenologische Entdeckung der konstitutiven Rolle natürlicher Welterfahrung an, unterzieht sie jedoch ebenfalls sprachphilosophischen und handlungstheoretischen Modifikationen. Demnach soll die Anerkennung des genetischen Primats der Lebenswelt vor der wissenschaftlichen Theorie zwangsläufig zur Anerkennung auch eines logischen Primats elementarer sprachlicher Prädikationen führen, insofern diese jeglichen theoriebildenden komplexen Aussagen und Satzsystemen zugrunde liegen. Da Sprache und Sprechen stets zielbezogen an ein nichtsprachliches Handeln gebunden bleiben, kann man beides als sprachkonventionelle Fixierungen zuvor längst in Handeln und Verhalten vollzogener Unterscheidungen verstehen. Dementsprechend besteht die begründungsphilosophische Arbeit an solchen Verhältnissen in der Aufgabe, sprachhandlungspragmatisch gewachsene Normierungen zu rekonstruieren. Dies geschieht in der Absicht, auf solche Weise diejenigen Elemente eines theoretischen Zusammenhangs zu erfassen, die selber in der Lebenspraxis gründen, die also noch vortheoretisch, aber dennoch konstitutiv sind für die theoretisierende Orientierungspraxis der Wissenschaften. Dieses Milieu wird hierbei unter dem Titel ›Lebenswelt‹ anschaulich beschrieben. Karl-Heinz Lembeck
14. Historizität Geschichtlichkeit und Generativität
Die Rede von Geschichte und Geschichtlichkeit (Historizität) hat im phänomenologischen Diskurs viele Facetten. Die erste ist skeptisch, da der transzendentalphilosophische Anspruch der Phänomenologie scheinbar wenig Spielraum für Debatten um Geschichte und Geschichtlichkeit zulässt. Die zweite ist subjektivitätsphilosophisch, da ›Zeit‹ und ›Geschichte‹ einen Ort im transzendentalen Subjekt reklamieren. Die dritte ist anthropologisch, da sich das weltliche (›mundane‹) Subjekt als geschichtliche Aggregatform des transzendentalen auslegt. Die vierte ist geschichtsphilosophisch, da die Phänomenologie sich ihrer selbst im historischen Kontext zu vergewissern hat. Die fünfte ist ›wissenschaftstherapeu-
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tisch‹, da die Konjunktur der objektiven Wissenschaften innerhalb der europäischen Kultur als eine Geschichte der Lebensweltvergessenheit gedeutet wird. Die sechste ist hermeneutisch, da Geschichtlichkeit im Zuge der Daseinsanalyse zum Existenzial wird. Die siebte schließlich sucht die genetisch-geschichtliche Interpretation des Transzendentalen zu einer sogenannten ›generativen‹ Lesart zu erweitern. 1. Das cartesianische Erbe, dem sich die Phänomenologie Husserls verpflichtet sieht, zeigt sich vor allem an ihrem methodischen Inventar. Die eidetische und die phänomenologische bzw. transzendentale Reduktion richten sich auf die ursprüngliche Tatsache der Wirklichkeitsbegegnung im Erlebnis, um dann jedoch durch diese Faktizität hindurch und zugleich über sie hinweg Erkenntnis über das ideale Wesen sowohl der darin gegebenen Sachen wie über die Wesensstrukturen des auffassenden Subjekts zu erlangen. Das transzendental reduzierte Erfahrungssubjekt ist darum jedoch eine formale Größe, sein Denken ist recht eigentlich »niemandes Denken« (Hua XVI, 41), wie der frühe Husserl noch selbst sagt. Dass in diesem Milieu Okkasionalität, Kontingenz, Relativität, mit einem Wort: Geschichtlichkeit in irgendeiner Form irgendeine Rolle sollte spielen können, ist schwer vorstellbar. Und tatsächlich hatte Husserl selbst Schwierigkeiten genug, das Phänomen der Geschichte ins Spiel zu bringen. 2. Das mittels transzendentaler Reduktion freigelegte ›transzendentale Bewusstsein‹ weist eine immanente Struktur auf, die bereits ein genetisches Motiv in die Analysen hineinträgt ( C.II.5). Denn bereits jede Bewusstseinsauffassung (Apperzeption) transzendiert ihren immanenten Gehalt. Husserl spricht diesbezüglich auch von intentionaler Mehr- oder Mitmeinung, die der Auffassung von Etwas als Etwas eigen ist (Hua XVI, 50 ff.; Hua VI, 160 f., 464). Jede Apperzeption lebt von zumeist anonym mitfungierenden Horizonten ( C.I.10), die in doppeltem Sinne nach genetischen Gesetzen strukturiert sind: einmal nach Gesetzen des konstitutiven Aufbaus der Apperzeption: Ein Haus etwa wird als ein solches unmittelbar wahrgenommen, obwohl der Betrachter aktuell doch nur die Fassade sieht. Diese Haus-Apperzeption aber wird von intentionalen Leerhorizonten begleitet, in denen eine Art Gesetz der Regelung künftiger Erfahrungsmöglichkeiten unterstellt ist. Die aktuelle Apperzeption führt sonach einen Horizont von Erwartungsmotiven mit sich, die sich erfüllen und auch enttäuscht werden können. Diese Erfüllungs- oder Enttäuschungsprozesse und ihre Aufeinanderfolge im ›Erlebnisstrom‹ bilden dergestalt eine Art elementare ›Erfahrungsgeschichte‹. Dieser Welt-Apperzeption aus ›bewusstseinsgeschichtlichen‹ Quellen entspricht korrelativ ein genetisch gewachsener Charakter des auffassenden Subjekts ( C.I.1). Die Apperzeptionsgenesis bewirkt eine passive Strukturierung des beteiligten Ich. Es entwickelt sich ein Auffassungshabitus, ein vergleichsweise individueller Stil von Weltvorstellung. Das Ich wird zum Inbegriff solcher Entwicklungseinheit. In diesem Sinne kann es bereits ›historisch‹ genannt werden. Husserl fasst diese individuell-universelle Einheit unter den Begriff der ›Monade‹ (Hua XIV, 244 ff.; Hua I, 125–168).
I.14. Historizität
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3. Dieses Verständnis von Historizität bleibt natürlich artifiziell. Denn es müsste sich darüber hinaus noch zeigen lassen, dass solch genetisch organisierte Subjektivität auch als Mensch in Welt und faktischer Geschichte vorkommt (Hua VI, 189 f., 205). Auf dem Umweg über die vieldiskutierte ›Intersubjektivitätskonstitution‹ wird dies versucht ( C.I.11). Deren Schlüsselkonzept ›Einfühlung‹ – als anschauliche Vergegenwärtigungsart des Anderen, des fremden Menschen – liefert einerseits eine Rechtfertigung für jene Grundbestimmung der »Generalthesis der natürlichen Einstellung« (Hua III/1, 60), wonach die Erfahrungswelt in ihrem objektiven Dasein und Sosein eo ipso eine Welt für jedermann ist, indem sie die Konstitution des ›Jedermann‹ exemplarisch in der Form der Konstitution des Alter Ego zur Darstellung bringt. Andererseits wird auf diese Weise auch jener »Abgrund des Sinnes« (Hua III/1, 105) überbrückt, der zwischen Bewusstsein und Realität gähnt. Denn über die intersubjektive Vergemeinschaftung, die eine Art ›transzendentales Wir‹ schafft, erschließt sich jene objektive Welt, deren kontingenter Sinn sich je der kulturellen Situiertheit einer intersubjektiven Geltungsgemeinschaft verdankt. Diese ›Welt‹ gilt dann als »ideales Korrelat einer intersubjektiven und ideell immerfort einstimmig durchzuführenden und durchgeführten Erfahrung« (Hua I, 137 f.; Hua XVII, 244 ff.) und weist daher, wie besagte Erfahrung, eine ihr jeweils eigene Geschichte auf. Die in dieser Welt situierten Subjekte treten somit als Menschen in voneinander verschiedenen historischen Kontexten mit ihren jeweiligen ›Heimwelten‹ und ›Fremdwelten‹ auf, was zuletzt einem kulturellen Pluralismus das Wort redet. 4. Doch wenn auch dieses Verständnis noch immer von der Blässe des transzendentalen Gedankens gezeichnet scheint, wird Geschichte im phänomenologischen Diskurs noch ein weiteres Mal virulent, wo es um dessen eigene historische Verortung innerhalb der Entwicklung des philosophischen Denkens geht. Die Aufklärung über den eigenen philosophiehistorischen Standort hat ein wichtiges Motiv in dem Anspruch, ›universale Wissenschaft von der Welt, universales, endgültiges Wissen‹ sein zu wollen. Husserl unterscheidet dementsprechend zwischen ›Philosophie als historischem Faktum‹ einer jeweiligen Zeit und der ›Philosophie als Idee‹ ursprünglicher Wissensbegründung. Der Orientierungsmodus ›Philosophie‹ wird dabei – im Unterschied zu anderen kulturellen Orientierungsformen – als ein überhistorischer, teleologischer Einheitssinn in der Geschichte des europäischen Denkens verstanden. Dementsprechend gilt für Husserl die ideengeschichtliche Ursprungsforschung zugleich als ›echte Selbstbesinnung des Philosophen auf das, worauf er eigentlich hinauswill‹. Philosophiegeschichte ist bereits originäre Philosophie und namentlich »zur Entdeckung der wahren Methode der Philosophie« (Hua VI, 269, 338, 72 f., 445) zu verwerten. In den philosophiehistorischen Meditationen über den Ursprung des phänomenologischen Gedankens (Hua VI; Hua VII) wird die Phänomenologie demnach als terminus ad quem der geistesgeschichtlichen Entwicklung gedeutet, als die »geheime Sehnsucht« (Hua III/1, 133) der neuzeitlichen Philosophie, deren Rechtsnachweis zu einer historischen Selbstbegründung der Phänomenologie zu
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C. Werkzeugkasten
führen vermag. Ein solcher Rechtsnachweis erstrebt eine historische Klärung der ursprünglich aller Philosophie immanenten Zweckidee absolut selbstverantwortlicher Wissensbegründung, welche in der neuzeitlichen Forderung nach apo diktischer Erkenntnis ihre Erfüllung finden soll. Die historisch geforderte Philosophie, so sucht Husserl den Gang der Philosophiegeschichte namentlich seit Descartes auszulegen, ist geprägt durch einen konsequent verfolgten Transzendentalismus, der den gesuchten apodiktischen Erkenntnisgrund in die Immanenz eines den Seinssinn der Erfahrungswelt stiftenden transzendentalen Bewusstseins verlegt (Hua VI, 71, 73). Als historische ›Endstiftung‹ oder ›Endform der Transzendentalphilosophie‹ dieses Sinnes gilt dann die Phänomenologie (Derrida 1963/1987). So spekulativ dieser Gedankengang am Ende auch bleibt, so kann er doch als Plädoyer für eine ›Archäologie‹ philosophischer und kultureller Sinnstiftungsvollzüge gelesen werden, deren Pointe bis in Heideggers Methode philosophiehistorischer Destruktion (GA 59) – dort freilich ohne teleologischen Anspruch – hineinwirkt. 5. Auch das wissenschaftstherapeutische Motiv der Phänomenologie eröffnet einen Zugang zum Problemfeld der Historizität. Die vor allem im Krisis-Werk (Hua VI) beklagte Lebensweltvergessenheit des wissenschaftlichen Objektivismus ist schließlich ein historisches Phänomen. Die Wurzeln des Objektivismus liegen demnach im Beginn der abendländischen Tradition des Denkens. Das Ideal der antiken Episteme bestand in der Einheit von Leben, Wissenschaft und Philosophie. Die an sich verständliche Neigung, den universalistischen Anspruch solcher Episteme kurzschlüssig in naturalistischer Manier befriedigen zu wollen, führte jedoch – zum Nachteil der Philosophie – zur Auflösung dieser Einheit. Die ursprüngliche Bestimmung der Philosophie als Wissenschaft von der Totalität des Seienden wird naturalistisch simplifiziert. Die Seinsfrage wurde in der neuzeitlichen Wissenschaft als mathematisch-physikalisches statt als Problem der Vernunft abgehandelt. So löst diejenige Philosophie, die den Objektivismus nicht nur historisch zu beschreiben, sondern auch sachlich zu überwinden vermag, ein Desiderat ein, das seit den Zeiten der Antike offenstand. Die Phänomenologie ist als Wissenschaft von den lebensweltlichen Bedingungen objektivierender Akte daher aufgefordert, deren Sinnesfundament sowohl ›intentionalgeschichtlich‹ wie wissenschaftshistorisch zu rekonstruieren. 6. In der hermeneutischen Lesart der Phänomenologie kommt den Konzepten ›Geschichte‹ und ›Geschichtlichkeit‹ eine durchaus weitere Bedeutung zu. Namentlich Heideggers Auslegung der phänomenologischen Analyse als ›Daseinsanalyse‹ (SuZ) referiert auf den basalen Umstand, dass die Historizität des Subjekts keinen mit Mühe zu rekonstruierenden Zug einer transzendentalen Instanz, sondern schlicht den Ausgangspunkt jeder Frage danach darstellt, wie Mensch und Welt einander begegnen. Das Weltkonstituierende ist also nicht ein reines Bewusstsein, es ist vielmehr der existierende Mensch als das in sein faktisches ›Da‹ ›geworfene‹ Sein, als ›Dasein‹. Die phänomenologische Hermeneutik hat daher die Aufgabe, die Seinscharaktere des jeweiligen Daseins im faktischen Wie
I.14. Historizität
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seines Seins diesem Dasein selbst zugänglich zu machen (SuZ, 15 f.; GA 63, 14 f.). Dieser Ausgang von der faktischen Existenz des Daseins betont den Umstand, dass Dasein immer bereits in die Welt hineingeworfen ist, bevor es selbst Welt entwerfend agiert. Freilich ist das kein Vorgang schlichter Ablösung des einmal gegebenen Faktums durch spontane Weltentwürfe, die nun ihrerseits Fakten zu schaffen hätten. Vielmehr ist besagte ›Geworfenheit‹ eine niemals abgeschlossene Tatsache, weil Dasein, solange es ist, was es ist, in die faktische Alltäglichkeit verstrickt bleibt, und zwar in der Weise des »Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)« (SuZ, 192). Was in dieser Bestimmung anklingt, ist die in ihre drei Aspekte aufgebrochene Form innerer Zeitlichkeit des menschlichen Daseins: Das ›Sich-vorweg‹ entwirft auf Zukunft hin, das ›Schon-sein-in‹ birgt in sich und bewahrt das Gewesene (Vergangene), und das ›Sein-bei‹ bekundet Gegenwärtigkeit. Das Sein des Daseins ist als ›Sorge‹ in der je konkreten Auslegung dieser drei Modi von Zeitlichkeit gesetzt. Es ist sonach zeitliches Sein, das als je faktische Existenz geschichtlich ist. Denn die aus der Geworfenheit des Daseins (Faktizität) geborene Sorge findet sich stets auf jene Grenze zwischen ›gewesen‹ und ›künftig‹ verwiesen, die den existenziellen Ort, den ›Augenblick‹ ausmacht, in dem das Dasein sich aus der ›Gewesenheit‹ entschlossen in die Zukunft hinein entwirft. Dieses Miteinander und Zugleich zeitigt die ursprüngliche Zeitlichkeit und damit Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins (SuZ, 382 ff.). Paul Ricœurs hermeneutische Phänomenologie bringt die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins in Zusammenhang mit den epistemologischen Aporien der Geschichte als (wissenschaftlicher) Erzählung ( B.III.3). Dazu zählt die Paradoxie der Anwesenheit des Abwesenden im Gedächtnis und in der Erzählung sowie das schwierige Verhältnis von Wahrheitsanspruch und Selektivität der Erinnerung, das aus der Nähe von Gedächtnis und Einbildungskraft resultiert (Ricœur 1998; 2000/2004). Derartige Aporien sind es bekanntlich auch, die den Versuch einer erinnerungsphänomenologischen Begründung der Geschichtswissenschaft in vielen Zusammenhängen obsolet erscheinen lassen. Vorbehalte solcher Art hängen schließlich zusammen mit der These vom Verlust des Subjekts in der Geschichte – sowohl als historischer Akteur wie als Zeuge. Der poststrukturalistische Topos vom Subjekt als bloßer Schnittstelle von Diskursen hat darum bekanntlich auch unter Historiker:innen zu eingehenden Methodenreflexionen geführt. In einer phänomenologischen Analyse der Erinnerung als spezifischer Rekonstruktionsleistung lässt sich mit Ricœur hingegen jenes historische Subjekt rehabilitieren, das sich nur und gerade im Milieu des geschichtlichen Lebens seiner selbst zu vergewissern vermag. Ursprünglich tritt solche Versicherungsleistung im Phänomen der Erinnerung zutage. Damit wird zuletzt der Versuchung widersprochen, aus der Einsicht in das unausweichliche Treuedefizit der Erinnerung sogleich ihre Irrelevanz für die Geschichtswissenschaft im Ganzen herzuleiten. Angesichts der in den letzten zwei Jahrzehnten einschlägig gewordenen Diskussionen in der Geschichtswissenschaftstheorie um das Verhältnis von Er-
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innerung und Geschichtsschreibung (Wischermann 1996) erweist sich Ricœurs Ansatz als aktuell. 7. In jüngerer Zeit sind Husserls Gedanken zum Verhältnis von ›innerer‹ und ›äußerer‹ Geschichtlichkeit unter dem Stichwort der ›Generativität‹ weiter ausgearbeitet worden. Die genetische Analyse wird zu einer sogenannten ›generativen‹ Interpretation erweitert (Steinbock 1995/2003; 2003). Andeutungen Husserls (Hua I, § 61; Hua VI; Hua XV) folgend werden damit Probleme entwickelt, die mit der in dessen Spätwerk vielfach diskutierten Analogisierung transzendentalgenetischer zu kollektivgeschichtlicher Entwicklung einhergehen. In gewisser Weise kompiliert diese Lesart dabei die einschlägigen Entdeckungen Husserls, Diltheys und Heideggers unter den Begriff der Generativität, der bei den genannten Protagonisten nur sporadisch vorkommt, der jedoch geeignet scheint, das Verständnis transzendentaler Konstitution über den restriktiven Sinn eines rein bewusstseinsinternen Prozesses hinaus auch im Rahmen sozialhistorischer Kontexte zuzulassen. Auch Phänomene wie beispielsweise Geburt und Tod sollen derart einer transzendentalen Analyse zugänglich werden (Schües 2005). Problematisch bleibt dabei jedoch die in Anspruch genommene Bedeutungsverschiebung des Konzepts des Transzendentalen: Ursprünglich ein logisches, wird es nun als weitgehend kontingentes (›heimweltliches‹) Bedingungsgefüge der Weltbegegnung interpretiert. Man mag sich allerdings fragen, welchen Sinn hier die Rede von Transzendentalphilosophie noch trägt. Angesichts solcher Schwierigkeiten ist es darum auch nicht erstaunlich, dass der Begriff der generativen Phänomenologie zeitgleich noch in einer deutlich anderen Bedeutung, nämlich als ›sinngenerierende, den Sinn genetisierende‹ Dimension des Transzendentalen, diskutiert wird (A. Schnell 2015). Dass dies nicht zuletzt im Zuge des Versuchs einer Apologie des ›transzendentalen Idealismus‹ geschieht, zeigt, dass die Debatte um das Problem der Generativität nicht zuletzt auch eine Debatte um das rechte Verständnis von Phänomenologie als Transzendentalphilosophie ist. Karl-Heinz Lembeck
II. Methoden 1. Deskription Die Phänomenologie ist dafür bekannt, Erklärungsmodelle zurückzustellen, um die Dinge zunächst einmal in ihrer phänomenalen Gegebenheitsweise zu beschreiben. Anders als literarische Beschreibungen etwa verbindet sich mit der Deskription allerdings ein Allgemeinheitsanspruch: Die Phänomenologie präsentiert sich als eine deskriptive Wissenschaft des Bewusstseins (Hua III/1, 149). Diese Bezeichnung klingt zunächst wie ein Oxymoron. Beschreibungen passen schlecht zu dem, was man sich gemeinhin von einer Wissenschaft verspricht.
II.1. Deskription
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Geht es nicht in jeder echten Wissenschaft darum, von bloßen Beschreibungen zu gesetzmäßigen Erklärungen der betrachteten Phänomene fortzuschreiten? Um die Funktion und die epistemische Relevanz von Deskriptionen in der Phänomenologie angemessen aufzuklären, muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass die Phänomenologie eine eidetische Wissenschaft ist, d. h. eine Wissenschaft, die sich mit Wesen und Wesensgesetzen befasst – so schreibt Husserl: »[W]as ich Phänomenologie nenne, […] hieße wohl noch besser Wesenslehre« (Hua Mat V, 39). Die Besonderheit der phänomenologischen Wesenslehre besteht nun darin, ihre Gesetze nicht etwa aus Vernunftregeln deduktiv abzuleiten oder aus empirischen Daten induktiv zu gewinnen, sondern aus der Anschauung selbst als Strukturmerkmale beschreibend freizulegen. Husserl spricht von der Kunst, »rein dem schauenden Auge das Wort zu lassen« (Hua II, 62), Heidegger davon, das Erscheinende sich »von ihm selbst her« (SuZ 34) sehen zu lassen, und Merleau-Ponty von der Notwendigkeit, der »noch stummen Erfahrung Ausdruck zu verleihen« (Merleau-Ponty 1945/1966, 12). Während weitgehender Konsens darüber besteht, dass sich die Phänomenologie mit der Erfassung von Wesenheiten befasst und dabei zunächst einmal beschreibend verfährt, ist immer wieder darüber gestritten worden, wie dieses aufweisende Denken bzw. dieses ›Sehenlassen durch Wörter‹ (faire voir par les mots) genau durchzuführen sei. Gerade weil phänomenale und propositionale Ordnungen sich nicht passgenau zueinander verhalten und zwischen dem Anschaulichen und dem Logischen eine Differenz besteht, haben die sukzessiven ›Wendungen‹ ( B.III) der Phänomenologie das Problem des Verhältnisses von Phänomen und Logos und somit der Möglichkeit adäquater Beschreibung stets neu traktiert. Alle verschiedenen dabei entwickelten Verständnisse der Deskription abzuarbeiten, würde den hier vorgegebenen Rahmen sprengen. Während vermutlich die meisten Phänomenolog:innen den deskriptiven (statt den explikativen) Ansatz als Merkmal phänomenologischen Arbeitens ansehen würden und viele sich darin einig wären, dass Phänomenologie im Kern eine Erforschung von Wesenheiten darstellt, wird bei keiner/keinem anderen Autor:in die Phänomenologie so rigoros als deskriptive Wesenslehre definiert wie bei ihrer Gründungsfigur Husserl. Nicht nur weil er den historisch ersten Definitionsversuch dazu vorgelegt hat, auf die sich die späteren Positionen immer wieder bezogen haben, sondern auch, weil sich bei ihm auch die konsistenteste Darlegung dessen findet, was man als ›deskriptive Wesenslehre‹ verstehen kann, soll daher im Folgenden Husserls Entwurf im Zentrum stehen. Den Status der Phänomenologie als Wesenslehre gilt es auch deshalb besonders hervorzuheben, weil sich in neuerer Zeit die Ansicht verbreitet hat, in der Phänomenologie gehe es vornehmlich um die sogenannte Erste-Person-Perspektive, d. h. darum, wie es sich anfühlt, diese oder jene Erfahrung zu machen, Emotion zu haben usw. Gegen diese Ansicht müssen Husserls klare Äußerungen erneut vor Augen geführt werden: »Nicht auf innere Wahrnehmung als Feststellung unmittelbar erlebter Einzelheiten, sondern auf Wesenswahrnehmung, Erschauung
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von spezifischen Einheiten kommt es an« (Hua Mat V, 37 f.). Gegenstand der Phänomenologie sind also nicht die erstpersonal zugänglichen Erfahrungen selbst, sondern vielmehr deren allgemeine, aus der Beschreibung gewonnenen Wesensstrukturen. Wie die Kritiker:innen der Introspektion als psychologischer Methode regelmäßig betont haben, sind singuläre individuelle Erfahrungen zu flüchtig und detailreich, um in wissenschaftlich brauchbare Begriffe überführt zu werden. Zudem sind die Berichte von Versuchspersonen über ihre Erfahrungen nicht direkt verifizierbar und oft vorurteilsbelastet. Die Wesen dagegen, die sich in unseren Erfahrungen vereinzeln, sind einem deskriptiven Blick zugänglich und in wissenschaftlichen Begriffen fassbar. Die Angemessenheit unserer begrifflichen Fixierungen und Beschreibungen von Wesen bewahrheitet sich zudem anhand immer neuer Beispiele und im intersubjektiv-kommunikativen Austausch. Es ist unmöglich, meine jetzige Wahrnehmung einer aus dem Zugfenster gesehenen vorüberziehenden Landschaft in einer wissenschaftlich sinnvollen Weise individuell zu beschreiben. Wohl kann ich aber anhand dieser Erfahrung als Beispiel die Wesensstrukturen der Wahrnehmung überhaupt deskriptiv fixieren: etwa ihre notwendige Perspektivität und die ihr zugrunde liegende kontinuierliche Synthesis von visuellen Daten. Ferner kann ich die kinästhetische Natur der Wahrnehmung feststellen und die eigentümlichen Modi der Erfahrung von Bewegung und Stillstand klassifizieren. Die Wahrnehmung ist dabei nicht in ihrer Individualität, sondern exemplarisch gefasst und als Sprungbrett für eine andersartige geistige Leistung in Anspruch genommen, nämlich die Anschauung bzw. Intuition eines idealen Gegenstands: des allgemeinen Wesens der Wahrnehmung. Die anschauliche Erfassung von Bewusstseinsgestaltungen ist in unserer Alltagssprache in nuce bereits angelegt. Wir besitzen allgemeinverständliche Namen für die verschiedenen Hauptklassen von Erfahrungen: Wahrnehmung, Erinnerung, Gefühl, Einfühlung usw. ( C.I.8). Wir wissen, dass eine Erinnerung und ein Gefühl nicht dasselbe sind, wobei wir in der Regel dasjenige X, welches eine Erinnerung zu der Art von Erfahrung macht, die sie ist, nicht thematisieren. Sollten wir aber ein wissenschaftliches Interesse am Unterschied zwischen Gefühl und Erinnerung entwickeln, wie es etwa eine wissenschaftliche Psychologie fordert, könnten wir uns nicht einfach mit dem alltagssprachlichen Verständnis der entsprechenden Wörter begnügen. Vielmehr müssten wir unseren Blick auf die entsprechenden Wesen von ›Erinnerung‹ und ›Gefühl‹ umlenken und diese beschreiben. 1.1. Brentano und Dilthey über deskriptive Psychologie
Das Programm einer rein deskriptiven Psychologie wurde vor Husserl bereits von Franz Brentano und Wilhelm Dilthey erarbeitet. Brentano unterscheidet dabei zwischen einer genetischen und einer deskriptiven Psychologie (Brentano 1982, 4). Letztere zielt darauf ab, die verschiedenen Grundklassen und die konstitutiven Elemente psychischer Phänomene festzulegen, während Erstere quantitativ
II.1. Deskription
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formulierbare Naturgesetze des psychischen Lebens mithilfe von Experimenten und Messungen aufstellt. Die beschreibende Arbeit der deskriptiven Psychologie ist laut Brentano eine unentbehrliche Voraussetzung für die genetische Psychologie, die wiederum nicht mit Husserls sogenannter genetischer Methode ( C.I.5) verwechselt werden darf. Bei Dilthey wird dagegen das Programm einer ›beschreibend-zergliedernden Psychologie‹ zugleich zu einer Polemik gegen die naturwissenschaftliche Methodik der ›erklärenden‹ Psychologie. Dilthey kritisiert die Übertragung des »Verfahren[s] der naturwissenschaftlichen Hypothesenbildung […] auf das Seelenleben« (Dilthey 1894/1924, 142). Da das Seelenleben »überall nur als Zusammenhang da« (ebd., 144) sei, ist es laut Dilthey unberechtigt, hypothetisch hinter dem erlebten Lebenszusammenhang irgendwelche psychischen Atome und Gesetze ihrer Verbindung zu suchen, wie man es etwa in der Chemie tun würde. Ein bekannter Satz Diltheys lautet in diesem Zusammenhang: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir« (ebd.). Eine methodologisch angemessene Wissenschaft vom Seelenleben soll also deskriptiv verfahren und eine »Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge« (ebd., 152) liefern. Mit der Beschreibung geht also zugleich ein analytisches (»zergliederndes«) Moment einher. Anders als bei der erklärenden Psychologie werden die Bestandteile der Psyche allerdings nicht hinter, sondern in dem erlebten Zusammenhang gesucht. Solche Bestandteile (Empfindungen, Gefühle, Triebe usw.) sind nämlich anschaulich gegenwärtig und verständlich, sie lösen sich nicht – wie etwa chemische Elemente in einer Substanz – im Erlebnis auf. Husserl erwähnt sowohl Brentano (Hua IX, 31) als auch Dilthey (Hua IX, 34; Hua XXXVII, 104) als wichtige Vorgänger der phänomenologischen Methode. In der ersten Ausgabe der Logischen Untersuchungen bezeichnet Husserl bekanntermaßen sein eigenes Forschungsprogramm als eine deskriptive Psychologie, bevor ihm klar wurde, dass die phänomenologische Analyse keinen Bezug auf die faktische Verfassung der menschlichen Seele nimmt, also gar nicht sinnvoll als ›psychologisch‹ verstanden werden kann. In der Psychologie werden Erlebnisse und Erfahrungen in eine Seele, d. h. in die psychische Dimension eines psychophysischen Lebewesens eingeordnet. In der Phänomenologie geht es hingegen um eine reine Betrachtung von Erlebnissen als solchen, d. h. unabhängig von ihrer Einordnung in eine individuierte Seele. Die damit eingeführte Unterscheidung zwischen Psychologie und Phänomenologie ändert aber nichts an dem grundsätzlich deskriptiven Verfahren von Husserls Forschungsprogramm. Vielmehr ändert sich der epistemische Status der phänomenologischen Beschreibungen: In den Jahren nach der Veröffentlichung der Logischen Untersuchungen wendet sich Husserl der eidetischen ( C.II.3), also nichtempirischen Dimension der Phänomenologie zu, die er bei Brentano und Dilthey vermisst. Zugleich wird durch die Einführung der phänomenologischen Epoché ( C.II.2) und Reduktion ( C.II.4) die transzendentale Dimension der Subjektivität sichtbar, welche nicht mehr als menschliche Seele, sondern als transzendenzkonstituierendes Feld im Fokus steht.
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1.2. Husserls Kritik am Gegensatz von Beschreiben und Erklären
Husserl kritisiert im Rahmen seiner wissenschaftstheoretischen Überlegungen den diltheyschen Gegensatz von Beschreibung und Erklärung in der Bewusstseinsforschung (Staiti 2017a). Dilthey übersieht dabei laut Husserl die Tatsache, dass nicht nur in den Geistes-, sondern auch in den Naturwissenschaften Beschreibung vorkommt, und zwar als Vor- bzw. »Durchgangsstufe« (Hua XXXII, 194; Hua IX, 350) zu naturgesetzlicher Erklärung. Naturwissenschaftlich eingestellte Psycholog:innen würden also das Recht einer deskriptiven Psychologie nicht bestreiten. Sie würden aber zusätzlich behaupten, dass Deskription lediglich die erste, vorbereitende Stufe für eine wahrhaft erklärende Bewusstseinswissenschaft sei. Um gegen diese Ansicht zu argumentieren, reicht es also nicht, das Vorrecht einer deskriptiven Psychologie zu verteidigen. Vielmehr muss die eidetische Verfassung von Bewusstseinsphänomenen betrachtet werden. In der phänomenologischen Bewusstseinsforschung sind nämlich eidetische Einsichten »Selbstzweck« (Hua XXXII, 194) und sollten keineswegs als bloße Datensammlungen für spätere naturgesetzliche Erklärungen verstanden werden: Empirische und naturwissenschaftliche Deskription ist Beschreibung seiender individueller Dinge, Vorgänge etc., und Deskription ist Unterlage für die Aufsuchung von empirischen Allgemeinheiten und von Naturgesetzen. In der Phänomenologie wird in diesem Sinne nicht beschrieben, sondern abstrahiert, generalisiert, es werden Essenzen und Verhältnisse solcher bestimmt. (Hua Mat III, 78)
Auch die Rede von zwei Stufen der Naturwissenschaft, einer klassifizierend-beschreibenden und einer darauf aufbauenden erklärenden, findet Husserl irreführend (Hua XLI, 58). Er meint vielmehr, dass beide voneinander völlig unabhängig sind. In den deskriptiv-klassifizierenden Naturwissenschaften (wie etwa Botanik, Zoologie, Mineralogie usw.) werden anschauliche Begriffe gebildet, die sich dann direkt intuitiv einlösen lassen. In den erklärenden, mathematischen Naturwissenschaften wird dagegen ein idealisierendes Verfahren verwendet, das exakte (statt bloß deskriptive) Begriffe hervorbringt. Dabei gibt es zwei Arten von exakten Begriffen. Die eine Art wird etwa in der Geometrie deutlich: Geometrische Begriffe sind zwar nicht direkt in der Anschauung exemplifiziert, lassen sich aber aufgrund von Anschauungsreihen gleichsam ›herausschauen‹. Man kann etwa dreieckige Gestalten in der sinnlichen Anschauung als nichtperfekte Annährungen an das ideale Dreieck der Geometrie ansehen (Hua III/1, 155). Anders verhält es sich bei spezifisch physikalischen Begriffen wie etwa Temperatur, Masse, Kraft, Energie usw.: »Sie ergeben sich erst auf einem wissenschaftlichen Boden, auf dem die ganze Welt der Anschauung als bloße ›Erscheinungswelt‹ gilt, in der sich eine unanschaulich wahre und in ausschließlich exakten Begriffen charakterisierbare bekundet« (Hua XLI, 64). Vor diesem Hintergrund kann nun Husserls Verständnis der Phänomenologie als deskriptive Wesenslehre präziser gefasst werden: Obwohl die mathematischen Naturwissenschaften für sich beanspruchen, deskriptiv zu verfahren, sind ihre
II.1. Deskription
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Wesenheiten nicht deskriptiv, sondern exakt (Hua III/1, 148–158). Worin sich die Phänomenologie als deskriptives Verfahren unterscheidet, lässt sich an folgendem Beispiel veranschaulichen. In der Geometrie können wir aufgrund von Gebilden wie Linie und Winkel den Begriff ›regelmäßiges Vieleck‹ bilden. Dabei können wir die Regel zum Kalkül der Winkelsumme bei einem regelmäßigen n-Eck rein deduktiv herausstellen. Alle regelmäßigen n-Ecke können als Spezies der allgemeinen Gattung ›regelmäßiges Vieleck‹ angesehen werden. Wollen wir die Winkelsumme eines regelmäßigen Vielecks mit 148 Winkeln kalkulieren, so brauchen wir uns die entsprechende Figur gar nicht anschaulich vorzustellen und anhand von ihr die besondere Regel des Kalküls ihrer Winkelsumme herauszufinden. Kennen wir die allgemeine Regel: Winkelsumme = (n – 2) x 180°, können wir einfach ›n‹ mit ›148‹ ersetzen und die Winkelsumme berechnen, ohne unsere Anschauung konsultieren zu müssen. Die Kenntnis der allgemeinen Gattung ›regelmäßiges Vieleck‹ und der relevanten deduktiven Regeln reicht aus, um die Winkelsumme eines 148-Ecks zu bestimmen. Im Fall des Bewusstseins ist es im Gegenteil so, dass, selbst wenn wir etwa die allgemeinen Wesenszüge der Gattung ›Vergegenwärtigung‹ kennen, wir nicht imstande sind, die Wesenszüge von ›Einfühlung‹, ›Erinnerung‹, ›Erwartung‹ usw. als Spezies der Gattung ›Vergegenwärtigung‹ abzuleiten ( C.I.8). Wollen wir die Wesensunterschiede zwischen ›Einfühlung‹ und ›Erinnerung‹ herausstellen, müssen wir vielmehr unsere direkte Anschauung befragen und die entsprechenden Gebilde beschreiben. In abstrakter Allgemeinheit lassen sich derartige Wesensunterschiede nicht erschließen. Diese Selbsteinschränkung der Phänomenologie auf deskriptive Wesenheiten schließt gleichwohl Bezüge zu wissenschaftlichen Methoden zur Erfassung exakter Wesenheiten nicht aus. Da das menschliche Bewusstsein aufgrund seiner leiblichen Verfasstheit auch an der Naturkausalität teilhat, finden sich im Strom der Bewusstseinserlebnisse Regelmäßigkeiten, die in der physikalischen Natur wurzeln und damit durchaus auch naturwissenschaftlich zu untersuchen sind. Dass man dabei mathematische Modelle entwickelt, ist nicht prinzipiell zu verwerfen. Vielmehr sollte die phänomenologische Betrachtungsweise eine schärfere Unterscheidung zwischen eigenwesentlichen Bewusstseinsphänomenen (die ausschließlich deskriptive Wesen instantiieren) und außerwesentlichen Bewusstseinsphänomenen (die auch exakte Wesen wie etwa numerisch fassbare zeitliche Verhältnisse instantiieren) ermöglichen. Ganz auszuschließen ist dabei jedoch von vornherein die komplette Reduktion von eigenwesentlichen auf außerwesentliche Bewusstseinsphänomene. Man kann also durch die von Husserl entwickelte eidetische Begrifflichkeit auch die Umrisse einer ausgewogenen Konzeption des Verhältnisses zwischen phänomenologischer und naturwissenschaftlich-empirischer Forschung entwerfen, was durchaus ein wichtiges Desiderat für gegenwärtige interdisziplinäre Bemühungen darstellt ( B.III.9). Andrea Staiti
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2. Epoché Epoché ist ein der skeptischen Tradition entstammender Ausdruck, den Husserl als Grundbegriff in die phänomenologische Forschung einführt. Durch phänomenologische Epoché wird die naive Setzung einer existierenden Welt ausgeschaltet und dabei eine voraussetzungslose Beschreibung von Bewusstseinsphänomenen mitsamt ihren gegenständlichen Korrelaten angestrebt. Da der Begriff der Epoché maßgeblich von Husserl geprägt wurde, behandelt dieses Kapitel hauptsächlich sein Werk; die Umwandlungen der Epoché in der nachhusserlschen Phänomenologie werden am Ende angedeutet. 2.1. Das Transzendenzproblem und die phänomenologische Epoché
In Husserls Phänomenologie gewinnt die etymologische Bedeutung von Epoché als »Urteilsenthaltung« (Hua III/1, 64) erst in der Gegenüberstellung zur Generalthesis der natürlichen Einstellung ihre neue Deutung. (Nebenbei sei bemerkt, dass Husserl manchmal das Wort Epoché als Urteilsenthaltung in einem unspezifischen und allgemeinverständlichen Sinn verwendet, etwa wenn er eine »philosophische Epoché […] hinsichtlich des Lehrgehaltes aller vorgegebenen Philosophie« [Hua III/1, 39] oder eine »Epoché hinsichtlich aller objektiven Wissenschaften« [Hua VI, 138] fordert. Dieses Kapitel befasst sich ausschließlich mit dem phänomenologie-spezifischen Sinn der Epoché.) Das Sein der Welt wird in der natürlichen Einstellung, die unser menschliches Leben sowohl auf praktischer als auch auf theoretischer Ebene untermauert, als selbstverständlich angenommen. Durch die phänomenologische Epoché wird die Thesis bzw. die Setzung des Seins der Welt nicht preisgegeben, sondern nur außer Kraft gesetzt bzw. ausgeschaltet oder eingeklammert, um sie allererst wissenschaftlich erforschen zu können. Somit bildet die Epoché die grundlegende methodologische Operation der transzendentalen Phänomenologie Husserls, d. h. derjenigen Ausprägung der Phänomenologie, die sich ausdrücklich mit dem Transzendenzproblem befasst. Das Transzendenzproblem lässt sich wie folgt formulieren: Wie ist es möglich, dass unsere mannigfaltigen und ständig wechselnden subjektiven Erfahrungen über sich auf eine seiende Welt einheitlicher und mit bleibenden Eigenschaften ausgestatteter Gegenstände hinausweisen (Hua IX, 289)? Die Transzendentalphänomenologie macht sich von hier ausgehend zur Aufgabe, den Ursprung des Seinssinns der Welt und der welthaft erscheinenden Gegenstände verschiedener Arten (Regionen) im Bewusstsein aufzuklären. Damit präzisiert er die Grundthese der Transzendentalphilosophie, dass Sein keine reale Eigenschaft von Gegenständen, sondern ein Geltungsphänomen ist. Bezeichnen wir die Welt und ihre Gegenstände als seiende, weisen wir implizit auf Bewusstseinszusammenhänge hin, in denen sie sich als seiende – im Unterschied etwa zu bloß imaginierten, halluzinierten, künftig möglichen usw. – ausweisen. Der Sinngehalt von Weltgegenständen wird dabei nicht metaphysisch als seelisch umgedeutet oder in eine
II.2. Epoché
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Seele als deren unselbstständigen Teil hineingezogen. »Das Ding selbst löst sich nicht in Bewusstsein auf. Es löst sich in Atome und Moleküle auf«; jedoch »gewinnt das Sein des Dinges« erst in Bewusstseinszusammenhängen seinen Sinn (Hua XXXVI, 28). Geht es also in der Transzendentalphänomenologie darum, den Seinssinn von Welt und Gegenständen verschiedener Weltregionen aufzuklären, muss zunächst dieses Sein methodologisch ausgeschaltet werden: Das Sein von Welt und Weltgegenständen darf nicht vorausgesetzt werden, wenn es darum geht, seinen Geltungsanspruch allererst zu begründen (Lohmar 2002, 753 ff.). Die Epoché ist demnach durch die wesentliche Vorgegebenheit der Welt in der natürlichen Einstellung gefordert (Hua XXXIV, 302). In der natürlichen Einstellung sind Welt und Weltgegenstände immer schon da, ›griffbereit‹, und sie lassen sich unproblematisch durch unsere Begriffe bestimmen. Nimmt man dagegen das Transzendenzproblem ernst, darf man die Vorgegebenheit der Welt nicht zum Ausgangspunkt nehmen. Es muss vielmehr durch die phänomenologische Epoché ein Standpunkt gewonnen werden, aus dem diese Vorgegebenheit als solche thematisiert, erforscht und begründet werden kann. Die phänomenologische Epoché bildet gewissermaßen das negative Bestand stück der transzendentalphänomenologischen Methode; das positive bildet die transzendentale Reduktion ( C.II.4). Nachdem das Sein von Welt und weltlichen Gegenständen durch Epoché ausgeschaltet worden ist, geht es darum, das eingeklammerte Sein auf diejenigen synthetischen Leistungen im Bewusstsein zurückzuführen, welche das Erscheinen von Bewusstseinstranszendentem ermöglichen. Ein transzendentes Ding im Raum als an sich Seiendes wird z. B. durch die kontinuierliche und einstimmig verlaufende Synthesis seiner Abschattungen in der Wahrnehmung konstituiert. Ein Musikstück wird erst durch die Synthesen von akustischen Daten gemäß dem Gesetz der Assoziation und durch die Struktur von Retention, Urimpression und Protention des Zeitbewusstseins ( C.I.7) als ein einheitliches Ganzes erfahren. Zusammen bilden Epoché und Reduktion die Grundbedingungen der phänomenologischen Einstellung, welche als Gegenstück zur natürlichen Einstellung charakterisiert ist. 2.2. Sinn und Vollzug der Epoché als Modus der Reflexion
und als Spielart der Neutralitätsmodifikation
Die phänomenologische Epoché ist ein Modus der Reflexion, d. h. eine besondere Art und Weise, einen reflexiven Akt zu vollziehen. Jeder aktuell vollzogene Bewusstseinsakt enthält die wesentliche Möglichkeit der Reflexion, also einer Umlenkung des Blicks auf den Akt selbst statt auf den im schlicht vollzogenen Akt vermeinten Gegenstand (Hua III/1, 77). Nehme ich etwa ein Haus wahr und setze dabei ein existierendes Haus in der Welt, kann ich jederzeit die Aufmerksamkeit vom Haus auf die Hauswahrnehmung umlenken. Gegenstand des Reflexionsakts ist der vorherige Wahrnehmungsakt, welcher das Haus als seinen Gegen-
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stand hatte. Es gilt hier, mindestens drei wesentliche Aspekte der Reflexion hervorzuheben, die für die Epoché als besonderen Modus der Reflexion von entscheidender Bedeutung sind: (1) Die Reflexion ist kein zweiter Akt, welcher dem ursprünglichen schlichten Wahrnehmungsakt wie auf einer Perlenkette folgt. Sie ist vielmehr eine Modifikation, welche innerhalb eines aktuell noch im Vollzug befindlichen Aktes stattfinden kann und dabei den Akt selbst zum Gegenstand eines erfassenden Blicks macht. (2) Aus diesem Grund verliert der reflexive Akt den Gegenstand des ursprünglichen schlichten Akts nicht. Vielmehr zeigt sich durch die Reflexion der ursprünglich schlicht wahrgenommene Gegenstand als in einem bestimmten Glaubensmodus (etwa Seinsgewissheit bei einer normalen Wahrnehmung, Zweifelhaftigkeit bei einer vagen Erinnerung usw.) gesetzt. Der zunächst implizite Glaubensmodus tritt also durch die Reflexion erst zutage. (3) Durch die Reflexion findet eine sogenannte »Ichspaltung« (Hua VIII, 90) statt, d. h., das Ich, das in der Reflexion lebt und auf den ursprünglichen Akt blickt, spaltet sich vom Ich, das bisher schlicht wahrnahm. Wichtig für die Sinnklärung der Epoché ist folgende Feststellung: In der normalen Wahrnehmung blickt das Ich der Reflexion nicht bloß auf das Ich der vorhin schlicht vollzogenen Wahrnehmung, sondern vollzieht den Glauben dieses fundierenden Ichs mit (Hua VIII, 90). Nehme ich ein Haus wahr und reflektiere ich danach auf diese Hauswahrnehmung, so teile ich als reflektierendes Ich in der Regel den Glaubensmodus meines bisher schlicht wahrnehmenden Ichs: ›Ein Haus ist da‹. Dies muss aber nicht der Fall sein. Das reflektierende Ich kann den Glauben des Wahrnehmungs-Ichs gegebenenfalls auch nicht mitvollziehen, wie etwa wenn sich eine zuvor in Gewissheit erlebte Wahrnehmung als trügerisch oder als bloße Halluzination erweist. In der natürlichen Einstellung sind wir üblicherweise interessiert am Sein oder Nichtsein der uns umgebenden Gegenstände. Wenn wir in der Reflexion den ursprünglichen Glauben des schlicht wahrnehmenden Ichs nicht mitvollziehen, eventuell sogar durchstreichen, so geschieht dies gleichsam immer im Rahmen eines umfassenden Interesses an weltlichem Sein. Die phänomenologische Epoché kann in diesem Zusammenhang als eine ganz andersartige Modifikation des ursprünglichen Wahrnehmungsakts in der Reflexion interpretiert werden, bei der gerade dieses Interesse am weltlichen Sein ausgeschaltet wird. Dabei geht, wie Husserl immer wieder betont, das weltliche Sein jedoch nicht verloren, sondern bleibt Thema der Untersuchung, nur versehen mit einem Index der Phänomenalität, d. h., es wird als Korrelat der subjektiven Erfahrung aufgefasst. Die mit der phänomenologischen Epoché einhergehende Suspendierung des Interesses am Sein führt Husserl dazu, eine nahe Verwandtschaft zwischen der Epoché und der sogenannten Neutralitätsmodifikation festzustellen. Diese besteht darin, die in nichtmodifizierten Akten enthaltenen Setzungen völlig zu entkräften bzw. außer Spiel zu setzen. So ist z. B. das Fantasieren die Neutralitätsmodifikation der Vergegenwärtigung ( C.I.8) oder das Bildobjektbewusstsein die Neutralitätsmodifikation der Wahrnehmung (Hua III/1, 251). Der Unter-
II.2. Epoché
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schied zwischen einer vergegenwärtigenden Erinnerung an die Alpen und einem bloßen Fantasieren über die Alpen, wie etwa im Rahmen eines Tagtraums, besteht darin, dass im ersten Fall die Alpen als früher wirklich erfahren, also als seiend gesetzt werden, während dies im zweiten Fall nicht geschieht. Im Fall des Tagtraums werden die Alpen allerdings nicht als nicht-seiend gesetzt; dies würde etwa dann geschehen, wenn mir im Vollzug einer reproduktiven Erinnerung plötzlich bewusst würde, dass die erinnerte Episode (etwa eine Wanderung) tatsächlich im Apennin stattfand. In der Fantasie schwebt mir dagegen der fantasierte Gegenstand jenseits aller Setzung und Nichtsetzung vor. Dasselbe gilt für das Bildbewusstsein. Der Unterschied zwischen der eigentlichen Wahrnehmung eines Apfelbaums und der Betrachtung desselben Apfelbaums in einem Gemälde besteht darin, dass der Apfelbaum im Bild »weder als seiend, noch als nicht seiend« (Hua III/1, 252), sondern als quasi seiend lediglich innerhalb der gemalten Landschaft gegeben ist. Die Affinität zwischen phänomenologischer Epoché und Neutralitätsmodifikation führte Husserl dazu, in einem bekannten Brief an Hugo von Hofmannsthal eine Verwandtschaft zwischen phänomenologischer und ästhetischer Einstellung zu behaupten (Hua BW VII, 134; Huemer 2003). Natürlich läuft im Gegensatz zur ästhetischen die phänomenologische Einstellung nicht auf ästhetischen Genuss, sondern auf wissenschaftliches Theoretisieren hinaus. Die Grundhaltung gegenüber dem Sein ist allerdings in beiden Fällen eine Enthaltung von allen Seinssetzungen. Man kann zusammenfassend behaupten, dass die phänomenologische Epoché eine bestimmte Spielart der Neutralitätsmodifikation darstellt. Sie enthält aber nichts von einem spielerischen, nicht-ernsthaften Charakter der freien Fantasie und auch nichts von dem wertenden und auf Genuss orientierten Charakter der ästhetischen Einstellung. Vielmehr verleiht die philosophische Zielsetzung einer radikalen Behandlung des Transzendenzproblems der phänomenologischen Epoché ihren spezifischen Charakter. Die Epoché ist insofern die spezifisch trans zendentalphilosophisch charakterisierte Spielart der Neutralitätsmodifikation, welche zwar alle Setzungen außer Kraft setzt, dies aber nicht als Selbstzweck, sondern um eine neuartige, aktive Form von Setzung jenseits der natürlichen Einstellung zu ermöglichen (Staiti 2016). 2.3. Psychologische und universale Epoché
Husserl unterscheidet die transzendentalphänomenologische Epoché als universale, auf die Gesamtgeltung der Welt gerichtete Form der Epoché von einer phänomenologisch-psychologischen Epoché (Hua XXXIV, 129). Die zweite Form kann als Vorstufe der ersten angesehen und entsprechend für didaktische Zwecke verwendet werden. Für phänomenologisch ungeschulte Anfänger sind die wissenschaftlichen Motivationen und Methoden der Psychologie leichter nachzuvollziehen als die Probleme der Transzendentalphilosophie. Man kann also stufenweise vorgehen und zunächst das Ziel einer reinen psychologischen Wissen-
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schaft setzen, um dann schrittweise auf das Niveau der Transzendentalphilosophie aufzusteigen. Husserl hat diese Herangehensweise den ›psychologischen Weg‹ in die Phänomenologie genannt. Auf dem psychologischen Weg geht es darum, eine rein phänomenologische, d. h. deskriptiv verfahrende Psychologie zu entwerfen ( D.IV), die nicht auf kausale Erklärung, sondern auf eidetische Fixierung der verschiedenen Gestalten von Bewusstsein abzielt. Um diese Art von Psychologie zu verwirklichen, muss die Psychologin eine zunächst auf einzelne Bewusstseinsakte und Aktkomplexionen gerichtete Epoché ausüben (Hua VIII, 292), um das rein Subjektive in den Blick zu bekommen und jede sich auf Transzendentes berufende Kausalerklärung auszuschließen. Im Kontext einer derartigen phänomenologischen Psychologie ist die erforschte Subjektivität nichts anderes als die menschliche Subjektivität, d. h. ein Teil derjenigen Welt, zu der der Mensch als psychophysisches Naturwesen notwendig gehört. Versucht die phänomenologisch verfahrende Psychologin ihr Projekt aber konsequent durchzuführen, macht sich eine »Paradoxie« (Hua XXXIV, 145 f.) bemerkbar. Die Abgrenzung des Forschungsgebiets einer reinen Psychologie als Gesamtzusammenhang psychischer Tatsachen würde näher besehen von vornherein eine universale Epoché fordern (Hua VIII, 317). Wird die Welt also außer Geltung gesetzt, wie es eine universale Epoché tut, sind wir damit zu einer ganz andersartigen Betrachtungsweise der Subjektivität gelangt. Die Subjektivität, welche die Welt als ganze als Phänomen vor sich hat, ist nicht mehr die menschliche Subjektivität in der Welt, sondern die transzendentale Subjektivität, welche die Welt als ihr Korrelat konstituiert. Erweitert man also eine zunächst psychologische Form der Epoché auf die Welt als ganze, hat man den Übergang von einer psychologischen zu einer transzendentalphänomenologischen Einstellung sozusagen ›reibungslos‹ geschafft. Die universale Erweiterbarkeit der psychologischen Epoché, ausgehend von einzelnen Bewusstseinsakten der Außer-Geltung-Setzung, ist durch die überall zusammenhängende und intentional verflochtene Struktur des Bewusstseinslebens gesichert. Ausgehend von jedem beliebigen Bewusstseinsakt kann man in die ihn gleichsam umgebenden Horizonte eindringen, sowohl zeitlich als auch intersubjektiv. Die in einzelnen Akten vollzogene, psychologisch motivierte Epoché kann sich also durch Rückund Vorerinnerung auf die Gesamtheit des Bewusstseinslebens und durch Einfühlung auf das Bewusstseinsleben anderer Subjekte erstrecken ( C.I.11). 2.4. Epoché und Cartesianismus
Husserls Darstellungen der phänomenologischen Epoché knüpfen oft an die Philosophie René Descartes’ an (Hua I, 48; Hua III/1, 63 f.). Wie Descartes plädiert Husserl für einen radikalen Neuanfang in der Philosophie, der das Ideal absoluter Voraussetzungslosigkeit verwirklichen soll. Dazu dient die phänomenologische Epoché, welche durch die Ausschaltung des Seins der Welt den gesuchten archimedischen Punkt aller Philosophie tatsächlich erreicht. Die Analogie zum be-
II.2. Epoché
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rühmten hyperbolischen Zweifel bei Descartes liegt also auf der Hand. Deswegen findet man bei Husserl-Kritiker:innen oft die Behauptung, Husserls Phänomenologie verpflichte sich durch die Epoché zu einem letztlich dualistischen Cartesianismus, welcher von der nachhusserlschen Phänomenologie überwunden werden will. Nach dieser Lesart wären Epoché und Reduktion bei Husserl von der durchaus problematischen Annahme geleitet, dass dadurch, dass einzelne Erfahrungen bezweifelt werden können, die Welt als ganze bezweifelt werden kann. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass Husserls Epoché recht wenig mit Descartes hyperbolischem Zweifel zu tun hat. Obwohl das Wort Epoché geschichtlich aus der skeptischen Tradition stammt, ist die phänomenologische Epoché keineswegs eine Art skeptischen Zweifels und hat eine ganz andere Funktion als die Rückkehr zu einem Boden absoluter Gewissheit wie bei Descartes (Rinofner-Kreidl 2001). Husserl betont selbst, dass das Bezweifeln einer in schlichter Gewissheit stehenden Erfahrung »nicht in das Reich unserer freien Willkür« (Hua III/1, 63; Hua VI, 237) gehört. Während ich ein Haus vor mir leibhaftig wahrnehme, kann ich die Existenz des Hauses nicht wirklich bezweifeln. Ebenso ist es unmöglich (gegen Romano 2012, 437), die Welt als ganze zum Gegenstand eines generalisierten Zweifels zu machen (Hua XXXIX, 255 f.). Der Zweifel an einzelnen Dingen und Dingerfahrungen ist nur vor dem Hintergrund einer allgemeinen Gewissheit über die Existenz der Welt möglich (Hua XXXIV, 405 f.), mit Bezug auf die der weitere Verlauf unserer Erfahrung den Zweifel wieder in Gewissheit auflöst. Husserl bezieht sich lediglich auf Descartes’ Zweifelsversuch (Hua III/1, 62) und ist ausschließlich an dessen Ansatzpunkt interessiert. Nehme ich mir vor, an der Wirklichkeit irgendeines Gegenstands zu zweifeln, muss ich zunächst die bisher unproblematische Setzung seiner Wirklichkeit ›suspendieren‹, bevor ich sie dann in die negative Setzung ›Zweifelhaftigkeit‹ oder sogar ›Unwirklichkeit‹ umwandle. Jeder aktive Zweifel setzt ein Moment der Suspension voraus, welches vom Vollzug des Zweifels abgelöst werden kann und als selbstständige Modifikation sui generis einer Wirklichkeitssetzung ausgeübt wird. Gerade darin besteht die phänomenologische Epoché. 2.5. Formen der Epoché in der Phänomenologie nach Husserl
Zum Schluss sei noch auf die Rezeption der phänomenologischen Epoché in der Phänomenologie nach Husserl hingewiesen. Da beide Komponenten der transzendental-phänomenologischen Einstellung häufig in einem Atemzug genannt und bewertet werden, soll im Folgenden auf eine scharfe Unterscheidung zwischen Epoché und Reduktion verzichtet werden. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Epoché und die Reduktion gerade als Komponenten der transzendentalen Phänomenologie und des damit einhergehenden transzendentalen Idealismus zumeist kritisch rezipiert wurden, wobei die Kritik in manchen Fällen zu
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einer kreativen Wendung geführt hat. Man kann mindestens zwei Tendenzen in der nachhusserlschen Phänomenologie identifizieren. Die erste Tendenz besteht in einer bewussten Ablehnung des transzendentalphänomenologischen Idealismus und einer Uminterpretation der phänomenologischen Einstellung als ausschließlich eidetisch (d. h. auf das Wesen von Erfahrungen und erfahrenen Dingen ausgerichtet). Dabei finden die Epoché und die Reduktion keine ausdrückliche Erwähnung mehr. Diese Tendenz findet sich bei den sogenannten realistischen Phänomenolog:innen ( B.III.1), die die Phänomenologie ausschließlich als eine apriorische Erforschung von Wesenszusammenhängen verstehen. Die zweite Tendenz läuft auf eine Umgestaltung von Epoché und Reduktion für philosophische Zwecke hinaus, die von Husserls ursprünglich formuliertem Transzendenzproblem abweichen (Taminiaux 2004). In der französischen Phänomenologie wird der Begriff der Epoché aufgegriffen und zuweilen metaphysisch neu interpretiert (etwa bei Marc Richir). Von Autoren wie Maurice Mer leau-Ponty wird bestritten, dass eine universale Epoché überhaupt möglich sei. Sartres Beschreibung des Ekels (la nausée) und Levinas’ Analyse der Schlaflosigkeit können als existenzielle Formen von Epoché gedeutet werden, welche eine spezifische Thematisierung des Seins ermöglichen (de Warren 2015). In der phänomenologischen Soziologie ( D.VI) bei Alfred Schütz hat der Begriff der Epoché eine gewisse methodische Funktion in der Lebenswelttheorie und wird auch in Bezug auf den historischen Skeptizismus besprochen. Dabei spricht Schütz über die Epoché im Plural (mit ästhetischen, ethischen, religiösen Ausprägungen usw.). Bernhard Waldenfels schlägt eine ›responsive Epoché‹ vor ( B. III.5), die er insbesondere mit Blick auf Alteritätserfahrungen fruchtbar zu machen versucht. Abschließend kann festgehalten werden, dass alle kreativen Umformulierungen der phänomenologischen Epoché mit dem Originalprogramm Husserls, wenn auch nicht das Forschungsziel und den Lehrgehalt, so doch eine Grundintention teilen: die Suche nach einer im natürlichen Leben zunächst verborgenen Dimension, die der Philosophie eine neue Gestalt verleihen soll. Andrea Staiti
3. Eidetische Variation Die eidetische Variation gehört zu den Grundelementen phänomenologischer Arbeitsweise. Sie zielt darauf ab, Wesensstrukturen eines Phänomens dadurch freizulegen, dass das Phänomen im Geiste in all seinen möglichen Facetten durchgespielt wird. Durch das allmähliche Verändern von Aspekten kommen dabei die wesensgesetzlich strukturierten Grundzüge zum Vorschein, die durch alle Variationen hindurch gleich bleiben. Zu betonen ist dabei, dass die eidetische Variation als Hauptmethode der Eidetik (Wesenslehre) nicht nur einzelne (reale
II.3. Eidetische Variation
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oder fantasierte) Gegenstände zum Thema hat, sondern auch Bewusstseinsakte selbst (also etwa: Wahrnehmen, Denken, Begehren oder Urteilen). Obwohl die »Wesensanalyse« (Hua II, 14) in den frühen Generationen von Phänomenolog:innen, z. B. bei Jean Héring (1921) und Roman Ingarden (1925), einen festen Bestand im Philosophieverständnis hatte und auch darüber hinaus versucht wurde, eidetische Betrachtungen einzelner Bewusstseinsdomänen zu liefern (etwa Paul Ricœurs Eidetik des Willens in seinem ersten Hauptwerk Das Willentliche und das Unwillentliche, 1950), ist und bleibt Husserl derjenige Autor, bei dem die Methode der eidetischen Variation systematisch entwickelt und großflächig angewandt wurde (vgl. Sowa 2013, 254). Deshalb orientiert sich die folgende Darstellung an seinem Entwurf. Das Ziel der husserlschen Wesensanalyse ist es, das Eidos (Wesen) eines jeglichen Bewusstseinsphänomens zu erfassen, indem die wesentlichen von den unwesentlichen Eigenschaften gesondert werden und durch fantasiemäßiges Durchspielen möglichst vieler Variationen einer Sache dasjenige erkannt wird, was ihr notwendigerweise zugehört, um als Gegenstand einer bestimmten Klasse gelten zu können. Die eidetische Variation fördert den »Zugang zu den invarianten Wesensgestalten der rein seelischen Gesamtsphäre« (Hua IX, 266) und darüber hinaus aller möglichen Domänen. Als Methode kann sie mit phänomenologischer Reduktion ( C.I.4) oder ohne sie ausgeübt werden, z. B. in der Erforschung von regionalen Ontologien, ihrer systematischen Zusammenhänge (Universalontologien) oder ihrer formalsten Gesetzmäßigkeiten (Formalontologien). Husserl macht dies in den ersten Paragrafen von Ideen I (Hua III/1) deutlich, wo er hervorhebt, dass es zwei mögliche Deutungen des Adjektivs ›rein‹ gibt: 1. eidetisch vs. empirisch; 2. transzendental vs. real. Es ergeben sich also vier mögliche Kombinationen dieser Methoden: 1. eidetisch-transzendental (reine Phänomenologie), 2. eidetisch-real (Ontologie), 3. empirisch-transzendental (etwa in der archäologischen Erkundung der Lebenswelt à la Foucault), 4. empirisch-real (positive Wissenschaften). Das zu erschauende Wesen ist in der reinen Phänomenologie ein idealer Gegenstand, dem keine empirisch-individuelle Existenz zukommt. Die Wahrnehmung bietet für die Wesensschau lediglich exemplarische Ausgangspunkte, von denen Schritt für Schritt – insbesondere durch die freie Variation in der Fantasie – zu allgemeinsten Bestimmungen gelangt werden soll. Husserl trifft hierfür die »kardinale Unterscheidung« (XIX/1, 256) zwischen formalen und materialen Wesen, die der Unterscheidung zwischen formalen und materialen Ontologien entspricht (siehe unten) und die ihm zur phänomenologischen Umdeutung des kantischen Begriffspaars von analytischem und synthetischem Apriori dient. Formale Wesen wären beispielsweise ›Gegenstand‹, ›Beziehung‹, ›Teil‹, ›Ganzes‹ oder ›Größe‹, während materiale Wesen etwa ›Farbe‹, ›Ton‹, ›Tisch‹, ›Raum‹ oder ›Gefühl‹ sein könnten. Konkret verläuft die eidetische Variation in vier aufeinanderfolgenden Schritten: 1. Formung eines Ausgangsbeispiels (aus der äußeren Erfahrung oder aus der Fantasie); 2. Bildung einer offenen Mannigfaltigkeit an Va-
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rianten (durch die imaginative Abwandlung des Ausgangsbeispiels und die Konstruktion von Gegenbeispielen und Grenzfällen); 3. Vergleich der Varianten auf ihre wesentlichen Eigenschaften hin; 4. Herausschauen eines Allgemeinen (Festhalten dessen, was als Invariantes über die Vergleichsreihe hinweg identisch bleibt) (Sowa 2010, 67 f.). Da der Fantasie des Subjekts keine konkreten Grenzen gesetzt sind, die Per spektiven anderer Subjekte stets neue Aspekte hinzufügen und ebenso Beispielfälle aus anderen Wissensgebieten wie etwa der Medizin oder Ethnologie als Varianten – und nur als solche in Beliebigkeit, nicht zum Ziel einer wissenschaftlichen Kausalerklärung – in die Wesensschau integriert werden können, ist die eidetische Variation ein nie abschließbares, intersubjektives und empirieoffenes Unterfangen. So bietet etwa die Pathologie kontrafaktische Gegebenheiten, die integriert werden sollen, wie Husserl am Beispiel der Blindheit illustriert: Habe ich es als zum Wesen der Dingwahrnehmung gehörig betrachtet, daß Dinge gesehen werden müssen, und zeigt mir nun die Erfahrung eines Blindgeborenen, daß der Tastsinn zur Konstitution von Raumdinglichkeit genügt, so sehe ich ein, daß ich in der freien Gestaltung der möglichen Abwandlungen der Wahrnehmung nicht weit genug gegangen bin. (Hua XXV, 248)
Ebenso erkenntnisfördernd können Beispiele aus fremdkulturellen Kontexten sein, wie sie in ethnografischen Berichten festgehalten sind, um die Anschauungsbasis für die eidetische Variation zu erweitern. Unter praktischen Gesichtspunkten stellt sich freilich die Frage: Wenn die eidetische Variation eine unendliche Aufgabe ist und man immer noch weitere Beispiele hinzuziehen kann, wann darf man sich sinnvollerweise mit Blick auf einen bestimmten Gegenstandsbereich mit einem (stets vorläufigen) Ergebnis, also einer Wesensbestimmung, zufriedengeben? Wenn gilt, dass zur Variationsmannigfaltigkeit das »Bewußtsein des ›und so weiter nach Belieben‹« (EU, 413) gehört, wo in dieser endlosen Kette gibt es dann einen epistemologischen Anhalt für einen Wesensbegriff? Die entscheidende Markierung besteht in der Erfahrung, dass jeder Gegenstand, den man sich vorzustellen in der Lage ist, »zum beliebigen Exempel« (EU, 410) wird. Ein Merkmal oder eine Struktur, das bzw. die sich über sämtliche Variationen durchhält, wird dann als notwendige Eigenschaft des Gegenstandes an sich aufgefasst, also als Eigenschaft, ohne die »er nicht anschaulich als ein solcher phantasiert werden kann« (EU, 411). Wann sich eine derartige Erfahrung der Stabilität einstellt, lässt sich nicht quantifizieren, d. h., im Rahmen der eidetischen Variation als Bewusstseinstechnik ist es nicht möglich zu sagen: ›Variiere Gegenstand G n mal, dann ist das Wesen hinreichend gut erfasst‹. Vielmehr hängt es von der Sache selbst ab, welchen Variationsaufwand man an ihr betreiben muss. Dieser Beobachtung entspricht das Grundprinzip der Phänomenologie, dass sich die Methode der Beschreibung und der begrifflichen Erfassung nicht als vorgegebenes Raster auf jedes beliebige Phänomen auf die gleiche Weise anwenden lässt, sondern sich die Methode aus dem Phänomen selbst ergeben muss.
II.3. Eidetische Variation
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Des Weiteren ist das Variationsverfahren dadurch geprägt, welche Varianten dem variierenden Subjekt ›einfallen‹ bzw. welche es zu fantasieren in der Lage ist. Von welchen faktischen oder fiktiven Exempla jeweils der Ausgang genommen wird, hängt immer auch vom lebensweltlichen Erfahrungsschatz sowie von den imaginativen Fähigkeiten ab, die man als Phänomenolog:in besitzt. So geht man bei der Suche nach dem Wesen ›Rot‹ etwa von exemplarischen Erfahrungen roter Gegenstände aus oder, wenn es um das Wesen ›Wahrnehmung‹ geht, von spezifischen Wahrnehmungserlebnissen, die als Beispiele fungieren. Jedes variierende Subjekt wird hier eine andere Auswahl treffen, soll aber bei hinreichender Variationstiefe zu gleichen Strukturen vordringen können. Jedes Subjekt ist durch seine Vorprägungen beschränkt und auf eine gewisse Perspektive festgelegt. Doch ist diese empirische Variabilität als psychologische Realität kein Manko, sondern soll zugunsten eines kontinuierlich intersubjektiv anzureichernden, übergreifenden Erkenntnisgeschehens produktiv gemacht werden – ganz gemäß Husserls Vision der Phänomenologie als »einer ins Unendliche sich fortpflanzenden Forschergemeinschaft« (Hua VIII, 209). Sobald von wem auch immer ein faktisches oder fiktives Beispiel gefunden wird, das einen Gegenstand vorstellt, der zur interessierenden Kategorie gehört, aber nicht die Eigenschaften aufweist, die das Wesensgesetz vorschreiben würde, muss dieses Gesetz modifiziert oder aufgegeben werden. Was übrig bleibt, sind deshalb auch meist sehr abstrakte und – so mögen Kritiker:innen einwenden – triviale Einsichten, die man auch ohne eidetische Variation leicht haben kann, wie etwa das Gesetz, dass keine Farbe ohne Ausdehnung denkbar ist (Hua III/1, 108), oder dasjenige, dass es keinen Ton ohne Qualität und Intensität gibt (EU, 455). Und in der Tat sind derlei allgemeine Bestimmungen unmittelbar einleuchtend und auch ohne vorherige Anwendung des eidetischen Variationsverfahrens generierbar. Der Unterschied besteht jedoch in der methodischen Strenge der Eidetik und im systematischen Ausschließen von potenziellen Gegenbeispielen im kontinuierlichen fantasierenden Vorstellen und ideierenden Abstrahieren. Wenn eine karge, universale Gesetzmäßigkeit herauskommt, so steht sie doch am Ende eines erkenntnistheoretisch und ontologisch begründeten Vorgehens und verdankt sich nicht der Beliebigkeit ersonnener Gedankenexperimente oder intuitiver Eingebungen. Die methodischen Absicherungen sind erforderlich, wenn man Phänomenologie als ›strenge Wissenschaft‹ betreiben möchte. Die Wissenschaftlichkeit der phänomenologischen Eidetik wird von Husserl im Vergleich mit anderen eidetischen Disziplinen herausgestellt. Modellhaft sind für ihn hier insbesondere die reine Arithmetik und die reine Geometrie. Während die Arithmetik eine formale Eidetik darstellt, die Gesetze aufstellt, die unabhängig vom Inhalt universale Gültigkeit besitzen (z. B. ›a + b = b + a‹), handelt es sich bei der Geometrie um eine materiale Eidetik, deren Gesetze (z. B. ›a2 + b2 = c2‹) nur im Hinblick auf eine bestimmte Art von Gegenständen, nämlich geometrische Figuren, gültig sind und die erst im Lauf der Beweisführung eingesehen werden. Die Wesensgesetze der Arithmetik lassen sich dementsprechend auch als analytisch apriori bezeichnen,
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diejenigen der Geometrie hingegen als synthetisch apriori. Die phänomenologische Eidetik ordnet Husserl nun dem zweiten Typus zu, also den materialen Eidetiken. Ihre Spezifik besteht in ihrem Gegenstandsbereich, der sich von allen anderen Eidetiken unterscheidet: dem Bewusstsein in all seinen Gestaltungen. Mit dieser inhaltlichen Definition verbindet sich für Husserl die methodische Richtlinie, dass die Phänomenologie deskriptiv vorzugehen habe. Anders als in einer formalen Eidetik, wie etwa der formalen Logik, wo auf der Grundlage von wenigen Axiomen deduktiv vorgegangen und eine Vielzahl von Schlüssen hervorgebracht werden kann, sieht sich die Phänomenologie als materiale Eidetik mit einer Mannigfaltigkeit von Erscheinungen konfrontiert, die zunächst möglichst exakt beschrieben werden wollen, um dann induktiv einige wenige Wesensbestimmungen herauszufiltern. Neben dieser Einordnung, die die Phänomenologie als genuine Form eidetischer Wissenschaft legitimieren soll, ist es das bereits angesprochene Kriterium der intersubjektiven Überprüfbarkeit und Falsifizierbarkeit, das ihre Wissenschaftlichkeit verbürgt. Husserl zufolge sollen die Sätze der Phänomenologie jedem vernünftigen Subjekt etwas »Erreichbares, Nachprüfbares, Einsehbares sein« (Hua Mat VII, 82); falsche Aussagen aufgrund ungenauer Anschauung oder sich einmischender Vorannahmen sollen im intersubjektiven Austausch korrigiert werden. Der Grundgedanke der Variation war Husserl sowohl von den Naturwissenschaften vertraut, wo die Parameter der experimentellen Überprüfung eines Phänomens systematisch verändert werden, als auch von der Mathematik, wo ideale Gebilde gedanklich modifiziert werden. In den Logischen Untersuchungen wendet Husserl ihn im Hinblick auf die Unterscheidung von selbstständigen und unselbstständigen Teilen von Ganzen an, d. h. auf dem Feld der Mereologie. Ein selbstständiger Teil kann in Gedanken stets identisch festgehalten werden, bei grenzenloser und willkürlicher »Variation der mitverbundenen und überhaupt mitgegebenen Inhalte« (Hua XIX/1, 238). Ein unselbstständiger Teil hängt demgegenüber von anderen Inhalten ab, sodass er sich nicht durch alle Variationen durchhalten kann, sondern dann eliminiert wird, wenn man sich die mit ihm verbundenen Inhalte wegdenkt. Was das Bewusstsein betrifft, erkennt Husserl am Paradigma von Teilen und Ganzen eine Wesensgesetzlichkeit, die jeden intentionalen Akt kennzeichnet: Demzufolge sind Aktqualität und Aktmaterie unselbstständige, d. h. ohne einander »schlechterdings undenkbare« (Hua XIX/1, 430) Bestandteile einer jeden intentionalen Bezugnahme; sie bedingen sich wechselseitig. Aufgabe der eidetischen Variation wäre es, für Akte in allen möglichen Sphären des Bewusstseinslebens, also im Bereich der gegenwärtigenden (Wahrnehmung) und der vergegenwärtigenden (Erinnerung, Fantasie, Bildbewusstsein, Einfühlung) Exempla durchzuspielen, um das Wesensgesetz ›Jeder intentionale Akt besteht notwendigerweise aus Qualität und Materie‹ zu prüfen. Hier zeigt sich, dass die eidetische Variation auf die gesamte Bandbreite von Bewusstseinserlebnissen angewandt werden soll, in noematischer (z. B. ›kein Ton
II.3. Eidetische Variation
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ohne Qualität und Intensität‹) ebenso wie in noetischer (z. B. ›kein intentionaler Akt ohne Aktqualität und Aktmaterie‹) Hinsicht ( C.I.1). Als bedeutende Errungenschaft von Husserls Eidetik kann gelten, dass sie die Fantasie, die häufig als ›reine Einbildung‹ bzw. bloß subjektive Vorstellung abgewertet wird, als genuines Erkenntnisinstrument in der Philosophie etabliert und nobilitiert hat: Zur Ideation kann »jedwede innere, in freiester Fiktion gestaltete Phantasie dienen, wofern sie nur hinreichende intuitive Klarheit hat: und sie dient sogar vorzugsweise« dazu (Hua XIX/1, 456). Die fantasiemäßige Variation befreit von der Beliebigkeit der subjektiven Anschauung, indem sie alles überhaupt nur Denkbare einzubeziehen versucht, um die allgemeinsten Strukturen der Erscheinung von Erlebnissen (›Was ist das Wesen einer Dingwahrnehmung, eines Urteils, eines Willensakts usw. überhaupt?‹) sowie Erlebnisinhalten (›Was ist das Wesen einer Farbe, eines Tons, einer Tastempfindung usw. überhaupt?‹) bestimmter Gattungen herauszupräparieren. Husserls Emphase, dass die Wesen anschaulich erfasst werden sollen (Hua II, 51) und in gewisser Analogie zu den platonischen Ideen zu verstehen sind (Hua VII, 12), hat der phänomenologischen Eidetik nachvollziehbarerweise Kritik eingebracht. So sahen manche Interpreten den Intuitionismus Husserls als Irrationalismus an (Adorno 1956/1971), andere den Essenzialismus als Rückgang in eine überkommene Metaphysik (Kraft 1932; Schlick 1979). Diesen Einwänden kann dadurch begegnet werden, dass man auf den Gehalt des Anschauungsbegriffs sowie die Spezifikation des Platonismus bei Husserl verweist. Gemäß dem »Prinzip aller Prinzipien« (Hua III/1, 5) ist Anschauung für Husserl die Evidenzquelle phänomenologischer Erkenntnis schlechthin; sie ist kein privates, rein subjekt-relatives Datum, sondern weist allgemeine Strukturen auf, die intersubjektiv validierbar sind. Durch das Konzept einer kategorialen Anschauung gibt Husserl dem Paradigma der Intuition außerdem eine neue Dimension und demonstriert, wie ideale Gegenstände ›anschaulich‹ gegeben sein können. Was die Wesen als platonische Ideen betrifft, so versteht Husserl sie als »rein gefaßt und frei von allen metaphysischen Interpretationen« (EU, 411), d. h., sie werden nicht in einer substanzialistischen Weise hypostasiert und in eine vom Sinnlichen getrennte Ideenwelt verlagert, sondern fungieren als allgemeine, formalgesetzlich strukturierte Identitätskerne des sinnlich Gegebenen selbst. Vonseiten der existenzialistischen Phänomenologie in Frankreich (z. B. Levinas 1929) wurde bemängelt, die Eidetik könne der Faktizität der Existenz nicht Genüge tun, da sie auf universale und überzeitliche Gesetzmäßigkeiten abzielt. Manche Autoren wiederum waren bemüht, Eidos und Faktum nicht als unüberwindbare Gegensätze zu denken, sondern die konkrete kontingente Situation als Ausgangspunkt jeder Eidetik zu nehmen, so etwa Merleau-Ponty in seinem Spätdenken (Merleau-Ponty 1964/2003). Auseinandersetzungen mit Husserls Wesenslehre gab es im Münchener und im Göttinger Kreis ( B.I.2), bei Nicolai Hartmann und Helmuth Plessner, aber auch weit darüber hinaus: In der Analytischen Philosophie beschäftigen sich manche Autoren mit Wesen und Idealitäten
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im husserlschen Sinne mit Blick auf die Begriffstheorie und die Modalepistemologie (Fine 1995b; Mulligan 2004) sowie die Formalontologie (B. Smith 1978). In Marc Richirs phänomenologischer Architektonik wurde die eidetische Variation weiterentwickelt in Richtung einer ›Eidetik der Unschärfe‹ (Richir 2000b). Ebenso wurde sie im Zusammenhang mit dem Strukturalismus und in der Auseinandersetzung mit dem historischen Apriori bei Foucault wieder aufgegriffen und kritisch gewürdigt (Aldea/Allen 2016). Im Rahmen der Ästhetik ist sie mit experimentellen Verfahren verglichen und fruchtbar gemacht worden (Wiesing 2012). Insgesamt lässt sich also sagen, dass die von Husserl zu einem zentralen methodischen Element erhobene eidetische Variation nach wie vor einen wichtigen Ausgangs- und Abgrenzungspunkt diverser Debatten innerhalb und außerhalb der Phänomenologie bildet. Thiemo Breyer, Julia Jansen
4. Reduktion Die Reduktion wird oft als die ureigenste phänomenologische Methode bezeichnet. Hiermit ist jedoch keine Vereinfachung gemeint, sondern eine Einklammerung der Geltungsansprüche oder eine ›Rückführung‹ (von lateinisch reducere). Allerdings gehen die Einschätzungen darüber auseinander, ob, warum, wie und wohin zurückgeführt werden soll. Einige Autoren hielten die Reduktion für letztlich nicht vollständig durchführbar (Merleau-Ponty 1945/1966, 11). Dabei hält sich die Thematik der ›Rückführung‹ in der gesamten phänomenologischen Tradition durch. So spricht etwa Martin Heidegger von einer nötigen »Rückführung des Seienden auf das Sein« (GA 24, 29), womit zugleich deutlich wird, dass er sich zwar dem Wortlaut, nicht aber der Sache nach an Husserl anschließt. Husserl denkt Reduktion im Plural, denn es handelt sich hier um verschiedene methodische Untersuchungsmöglichkeiten. Dabei folgen alle Reduktionen einem bestimmten Muster. Das betrifft nicht nur die transzendentale Reduktion und die Primordialreduktion, sondern bereits die ›Reduktion auf den reellen Bestand‹ in der ersten Auflage der fünften Logischen Untersuchung und andere Methoden in Husserls Spätwerk. Reduktionen dienen der Rechtsprüfung von Vorstellungen, z. B. von Wahrnehmungen und Erkenntnissen. Husserl geht es weiterhin um die Rechtsprüfung von Setzungen, die sich in der Anschauung prinzipiell nicht oder nur zum Teil ausweisen lassen, z. B. die Vorstellung der weiteren Dauer eines Dinges, seiner kausalen Verbindungen, von Zeit und Raum, der logischen Prinzipien, die Setzung anderer Subjekte usw. Anders als Kant, der die Rechtsquelle einer Gegenstandssetzung in den darin mitgedachten reinen Verstandesbegriffen sieht, betrachtet Husserl in seinen Untersuchungen der verschiedenen Evidenzformen überwiegend die Anschauung als Rechtsquelle. Für die Phänomenologie haben auch unsere Begriffe und der noch anschauungsnahe Typus ihren Ursprung in der Anschauung und der eidetischen Methode ( C.II.3).
II.4. Reduktion
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Die Prüfung des Rechts von Wahrnehmungen, Erkenntnissen und allgemeinen Vorstellungen in einem anschaulichen Feld hat jedoch methodische Probleme zu überwinden, die Husserl mit seinen Reduktionen lösen will. Eine Reduktion ist jeweils eine Methode, die auf ein Erfahrungsfeld zurückführen soll, in der die Setzung, deren Recht auszuweisen ist, nicht (bzw. noch nicht oder nicht mehr) enthalten ist. Genauer geht es um ein Erfahrungsfeld, in dem die Setzung, deren Recht zu prüfen ist, sozusagen dem Namen nach noch enthalten, in dem sie aber nicht ›gültig‹ sein darf. Das heißt, nach der Reduktion fungiert sie nicht mehr normal. Ihr Geltungsanspruch wird zwar erkannt, aber nicht als gültig anerkannt. So wird bei der transzendentalen Reduktion der Geltungsanspruch der Setzung ›wirklich‹ – aber nur als Anspruch – erkannt, aber die Geltung selbst wird nicht mehr vollzogen. Das wesentliche Argument für eine Reduktion ist demnach in allen Fällen gleich: Nur auf einem so ›reduzierten‹ Erfahrungsboden kann die Ausweisung des Rechts der problematischen Setzung ohne eine zirkuläre Argumentation vor sich gehen. Andernfalls läge eine konstitutionstheoretische petitio principii vor. Die Gemeinsamkeit aller Reduktionen ist also eine methodische. Es geht Husserl in allen Fällen darum, eine Untersuchung des Rechtes und der Grenzen des Rechtes von bestimmten Setzungen auf dem Boden eines anschaulichen Erfahrungsfeldes zu klären. Reduktionen müssen daher verschieden sein, denn sie hängen jeweils von der Art der Setzungen ab, um die es geht. Die Reduktion erweist sich so als eine Universalmethode, die in der ganzen husserlschen Phänomenologie in einem einheitlichen Sinn verwendet wird. Husserl untersucht folgende Setzungen mit jeweils angepassten Reduktionen: (1) das Recht der inhaltlichen Auffassung von sinnlichen Gegebenheiten ›als etwas Bestimmtes‹, z. B. als Baum. Die zugehörige Reduktion ist die Reduktion auf den reellen Bestand (in der fünften Logischen Untersuchung der ersten Auflage). (2) Die Konstitutionsschritte, die objektive Dauer in der Zeit ausweisen, hierzu ist eine Reduktion bzw. eine »Ausschaltung der objektiven Zeit« (Hua X, § 4) erforderlich. (3) Die Konstitution des objektiven Raumes, deren Analyse zunächst ebenfalls ein reduktives Absehen von demselben fordert. (4) Das Recht der Setzung von etwas als ›wirklich‹ muss ebenfalls auf einer Erfahrungsgrundlage ohne eine ›Wirklich‹-Setzung erfolgen. Die zugehörige Reduktion ist die transzendentale Reduktion der Ideen. (5) Die Idealitäten der Logik und Mathematik, insbesondere die logischen Prinzipien, hier ist die Methode der Ausweisung die Aufdeckung der zugehörigen Evidenzgesetze und die Rückführung dieser Urteile auf die Erfahrung individueller, konkreter Gegenstände (in Formale und transzendentale Logik). (6) Die Setzung einer anderen Subjektivität, die zugehörige Reduktion ist die Primordialreduktion der Cartesianischen Meditationen. (7) Die idealisierenden Annahmen der Naturwissenschaften, die zugehörige Ausweisungsmethode ist der Rückgang auf die vorwissenschaftliche Lebenswelt in der Krisis. (8) Die elementaren logischen Kategorien des Urteilens wie z. B. ›ist‹, ›und‹, ›nicht‹ usw. Die Ausweisungsmethode ist hier die Rückführung dieser logischen Kategorien
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auf die vorprädikative Erfahrung von individuellen Gegenständen in Erfahrung und Urteil. Die Reduktion auf den reellen Bestand ist nur wenig bekannt. Sie wird in der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen dargestellt und die meisten – aber nicht alle – dieser Passagen wurden in der zweiten Auflage von 1913 weggelassen oder mit Hinweisen auf die transzendentale Reduktion überschrieben. Husserl distanziert sich in der zweiten Auflage 1913 von ihr zugunsten der transzendentalen Reduktion (Lohmar 2002; 2012). Die Methode des Rückganges auf die reellen Bestände beruht auf den Unterscheidungen der drei Bestandteile des intentionalen Aktes: die Materie des Aktes, die inhaltlich bestimmt, welcher Gegenstand intendiert ist und auf welche Weise er intendiert wird (Auffassungsmodus), die Setzungsqualität (wirklich, möglich, zweifelhaft usw.) und die anschauliche Fülle. Das Grundmodell der Gegenstandskonstitution ist hier die intentionale Auffassung von zunächst sinnlichen, reellen Beständen, die einer Intention Fülle geben ( C.I.2). Auch die Berechtigung der ›Wirklich‹-Setzung beruht zum Teil auf der Möglichkeit intuitiver Auffassung von reellen Beständen. Die Fülle macht die inhaltliche Bestimmung einer Auffassung zu einer rechtmäßigen oder einer unrechtmäßigen: Ob ich etwas als einen Baum oder als eine Person wahrnehmen darf, als wirklich oder nur vorgestellt, das hängt von den sinnlichen, reellen Gegebenheiten ab. Reelle Bestände sind in den Logischen Untersuchungen der Erfahrungsboden, auf dem sich das Recht der Materie, der Setzungsqualität und des Auffassungsmodus erweisen kann. Daher bezeichnet Husserl hier die Phänomenologie als eine »deskriptive Analyse der Erlebnisse nach ihren reellen Beständen« (Hua XIX, 28). Die kritische Rechtsprüfung der Materie und der Setzungsqualität lässt sich am Beispiel der ›roten Kugel‹ verdeutlichen (Hua XIX, 82, 197 ff., 359 ff.), z. B. einer Billardkugel. Wir nehmen eine gleichmäßig rot gefärbte Kugel wahr, aber die gegebene Sinnlichkeit ist nicht gleichmäßig, denn es gibt Glanzlichter und Schatten. Wenn man also die reellen Bestände als ›buchstäbliches Kriterium‹ des Rechtes einer Gegenstandssetzung nimmt, dann wird kaum eine Wahrnehmung vor diesem Kriterium bestehen können. Wenn wir zudem ein Ding als ›wirklich‹ setzen, dann beinhaltet dies, dass es ›gerade jetzt‹ gegeben ist, aber auch ›schon zuvor‹ und ›gleich noch‹ da war bzw. ist. Die beiden ersten Sinnelemente lassen sich mit dem Kriterium der reellen Bestände noch belegen, wobei man für das ›schon zuvor‹ die Erinnerung in Anspruch nehmen muss. Aber das ›gleich noch‹ der Dinggegebenheit, das mit der Setzung als wirklich mit gemeint ist, lässt sich weder mit den vergangenen noch mit den jetzt im Bewusstsein präsenten Inhalten berechtigen. Da wir aber weder die gleichmäßige Färbung noch die Wirklichkeit dieser roten Kugel in den Bereich bloßer unberechtigter Fiktionen einordnen wollen, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Suche nach den Quellen des Rechts auszuweiten. Dies ist kein pragmatischer Rückzug, sondern eine sinngemäße Angleichung an das, was wir wahrnehmend wirklich tun. Im Sinne dieser moderaten
II.4. Reduktion
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und zugleich sachlich angemessenen Kriterien für die Beurteilung des Rechtes der Elemente einer Wahrnehmungssetzung arbeiten z. B. die Analysen der Ideen I heraus, dass die ›vernünftige Motivation‹ von Setzungen von der Art der Erfüllung abhängt, die wesensmäßig zu einer bestimmten Setzung gehört. Dieser Erfüllungsstil (Evidenz) ist bei realen räumlichen Dingen z. B. eine immer wieder mögliche, neue perspektivische Anschauung ( C.I.10). Die meisten unserer Setzungen lassen sich nicht einfach auf eine Impression im Sinne des Empirismus zurückführen, sie verlangen verfeinerte Analysemethoden und haben moderate Erfüllungsstile. Ein großer Teil unserer Setzungen beruht dabei auf wesentlich schwächeren Erfahrungsgründen als die sinnliche Anschauung. Die Probleme der ›Reduktion auf den reellen Bestand‹ führen Husserl schließlich zur transzendentalen Reduktion der Ideen I. In den Ideen I richtet sich der Versuch der Rechtsprüfung von intentionalen Auffassungen besonders auf die ›Wirklich‹-Setzung, dem unmodifizierten Urmodus thetischer Akte. Zugleich geschieht ein Durchbruch im Selbstverständnis der neuen, transzendentalen Phänomenologie: Sie ist eine Prüfung des Rechts und der Grenzen des Rechts der Setzung von objektiver Wirklichkeit auf dem transzendental reinen Erfahrungsboden. Damit wird das grundlegende Rätsel der Objektivität thematisiert, d. h., wie und mit welchem Recht wir etwas als Wirkliches setzen, das immer wieder für mich und auch für andere zugänglich ist. Husserl bemerkt also, dass er die für die Transzendentalphilosophie zentrale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit und des Rechtes von Objektivität gestellt hat. Aus diesem Grund nennt er seine Epoché eine transzendentale Reduktion. Die universale Ausschaltung der Setzungsqualität mit dem problematischen Urmodus ›wirklich‹ (und allen seinen Modifikationen) ist in erster Linie dazu geeignet, das Recht dieser Setzungsqualität zu bestimmen. Über den Sinn und die Motivation der transzendentalen Reduktion ist viel gestritten worden. Phänomenologen wie z. B. Eugen Fink, Martin Heidegger und Maurice Merleau-Ponty lehnten ihren Gebrauch ganz ab. Ihre Funktion ist aber einsichtig: Eine ›Einklammerung‹ ist nicht mit einer Ablehnung gleichzusetzen, sondern sie besteht eher in einer Thematisierung des problematischen Geltungsanspruchs, z. B. ›wirklich‹. Dennoch bedeutet die Einklammerung des Geltungsanspruchs ein Außer-Funktion-Setzen, eine Ausschaltung. Die Metapher der Einklammerung weist darauf hin, dass der Teil, der in der Klammer steht, nicht in der normalen Funktion steht. Ein eingeklammertes Wort in einem Satz hat keine grammatische Funktion. Das Erfahrungsfeld, das das Residuum der transzendentalen Reduktion ist, darf also keine akzeptierte Setzung der Wirklichkeit, Möglichkeit, Zweifelhaftigkeit usw. enthalten, sondern es enthält diese Setzung nur als einen Anspruch zu gelten. Warum muss die transzendentale Reduktion universal sein? Es könnte doch sinnvoll sein, sie auch an einem einzelnen Akt und einem einzigen Gegenstand vorzunehmen. Hiergegen spricht, dass intentionale Gegenstände Horizontintentionen haben, d. h., dass sie immer auf andere Dinge verweisen: Das Haus ver-
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weist auf die Straße, die nahe Stadt und schließlich auf die Welt als Universalhorizont. Die ›Wirklich‹-Setzung überträgt sich so von einem Gegenstand auf den anderen. Deshalb ist eine auf einzelne Gegenstände beschränkte Reduktion von der Setzungsqualität nicht möglich, man muss universal reduzieren. Der methodische Sinn der Primordialreduktion in den Cartesianischen Meditationen ist analog zu den bisher dargestellten Reduktionen. Wenn wir das Recht der Setzung einer anderen Subjektivität prüfen wollen, dann darf in dem zugrunde gelegten Erfahrungsfeld die Setzung ›andere Subjektivität‹ weder explizit noch implizit enthalten sein. Die Primordialreduktion ist eine ›thematische‹ Reduktion, und dies bezeichnet einen systematischen Gegensatz zur universalen transzendentalen Reduktion. Es geht bei der Primordialreduktion nicht darum, aus dem Erfahrungsfeld alle Elemente auf gleiche Weise zu reduzieren; es geht darum, in unserer Weltvorstellung gezielt die ›fremdpsychischen‹ Elemente aufzufinden, d. h. alle Setzungen, die in irgendeiner Weise die Leistung anderer Subjekte implizieren, und dann zeitweilig von ihrer Geltung abzusehen. Dann erst können wir zirkelfrei prüfen, ob und wie wir in diesem reduzierten Erfahrungsfeld so etwas wie ›Andere‹ konstituieren können ( C.I.11). Es gibt in Husserls Werk noch einige weitere Zusammenhänge, in denen vergleichbare Reduktionen vorgenommen werden. So nimmt er in den Vorlesungen über die Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (Hua X, § 4) eine Reduktion von der objektiven Zeit vor, die (ebenso wie eine parallele Reduktion vom objektiven Raum in der Vorlesung Ding und Raum, Hua XVI) ein Erfahrungsfeld erschließen soll, in dem die zur Prüfung vorgesehenen Setzungen noch nicht enthalten sind. Es gibt darüber hinaus noch weitere Kontexte, in denen vergleichbare Reduktionen vorgenommen werden: Im II. Abschnitt von Formale und transzendentale Logik stellt Husserl das Projekt der Kritik der Idealitäten in Logik und Mathematik vor, wobei es in erster Linie um eine Untersuchung der Rechtsgründe der logischen Prinzipien geht, die weit über den Bereich dessen hinausgehen, was durch sinnliche Anschauung begründet werden kann. Husserl sucht daher nach den Evidenz gebenden Elementen im Bereich der motivierenden gleichartigen Erfahrungen von individuellen Gegenständen. Seine These findet sich zugespitzt in den Worten, dass »die Logik« zu ihrer Rechtsausweisung »einer Theorie der Erfahrung bedarf« (Hua XVII, 219). Die ›Kritik der Idealitäten‹ in den Formalwissenschaften muss ebenfalls auf einen Erfahrungsboden zurückgehen, der genau diese Idealitäten noch nicht enthält, denn sonst wäre die Konstitutionsanalyse zirkulär. Auch dieser Rückgang kann als eine Rückführung auf niedrigstufigere Formen von Evidenzen angesehen werden. Die logischen Prinzipien verdanken sich einer Idealisierung, d. h., sie sind Vorstellungen, die auf der gedachten Abgeschlossenheit eines in der realen Erkenntnis unabschließbaren Erkenntnisprozesses beruhen. Der Satz vom Widerspruch, der aussagt, dass für alle denkbaren Urteile das Urteil nicht zusammen mit seinem kontradiktorischen Gegenteil gelten kann, ist insofern eine Idealisierung, als er für alle denkbaren Urteile eine Behauptung ausspricht. Tatsächlich kann ich
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dies aber immer nur für eine endliche Menge von Urteilen wirklich wissen, für den immer noch unendlichen Rest bleibt mir nur der idealisierende Vorgriff. Husserl will mit seiner Kritik der Idealisierungen der Logik die Evidenzgesetze finden, auf denen dieser idealisierende Vorgriff beruht, und prüfen, ob er ein eigenständiges Recht hat – ein Teil der Analysen der Krisis ist auf die Kritik der Idealisierungen in den Naturwissenschaften ausgerichtet. Das Projekt der Kritik der Idealitäten verlangt hier eine Geschichtsschreibung dieser Urstiftungen und einen Rückgang auf die vorwissenschaftliche Lebenswelt. Das Hauptmotiv der phänomenologischen Reduktionen besteht in der Einsicht, dass alle Gegenstände unseres Denkens Leistungen einer komplexen Synthesis sind. Wenn wir das Recht einzelner Setzungen prüfen wollen, müssen wir diese synthetischen Leistungen wieder rückgängig machen, um deren ›Ausgangsmaterial‹ betrachten zu können, d. h. Sinnlichkeit, Motivationen, Erfahrungen, Erwartungen usw. Reduktion ist in diesem Sinne eine de-synthetische transzendentale Methode, die eine ›Kritik‹, d. h. eine zirkelfreie Bestimmung des Rechts und der Grenzen des Rechts unserer Geltungsansprüche ermöglichen soll. Abweichend von Husserls klar charakterisierter Methode experimentierten seine Nachfolger mit der Möglichkeit einer nichtmethodischen Reduktion. Merleau-Ponty spricht z. B. von einer spontanen (wilden) Reduktion, die auf das ›wilde Sein‹ (être sauvage) zurückverweist. Ästhetische Erfahrungen oder Naturerfahrungen können hierin eine aufschließende Funktion besitzen, insofern sie die Dinge sich von sich selbst her zeigen lassen. In der neueren französischen Phänomenologie gibt es auch hyperbolische Spielarten der Reduktion. Jean-Luc Marion (1989) erwähnt diese im Kontext seiner Phänomenologie gesättigter Phänomene und formuliert prägnant: ›Je mehr Reduktion, desto mehr Gebung‹. In Marc Richirs (1999) architektonischer Phänomenologie ist ebenfalls davon die Rede, dass die konstitutiven Momente immer nur momenthaft ›aufblitzen‹ und die ›architektonische Reduktion‹ daher nur im Vollzug, nicht aber als isolierbares Argument möglich ist. Dieter Lohmar
5. Statische und genetische Methode Mit den Begriffen statische und genetische Methode werden in der Phänomenologie Edmund Husserls zwei unterschiedliche Methoden der Konstitutionsforschung bezeichnet. In der statischen Analyse werden einzelne Akte samt ihren Gegenständen in ihrer Struktur erforscht, während in der genetischen Analyse Erfahrungszusammenhänge in ihren Entstehungs- und Fortsetzungsbedingungen im Vordergrund stehen. Von einem Haus wird z. B. die Fassade direkt wahrgenommen, während die Rückseite nur ›mitgemeint‹ (appräsentiert) wird. Mit der statischen Methode werden so allgemeine Strukturelemente freigelegt, die zur Konstitution dieses einheitlichen Gegenstandes ›Haus‹ beitragen (z. B. Vor-
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der- und Rückseite, Figur und Grund, Verhältnis Teil/Ganzes usw.). Anders als die statische geht die genetische Methode nicht von einem fertigen Gegenstand aus, vielmehr untersucht sie den Motivationszusammenhang der Gegenstandserfahrung: Inwiefern ist die Wahrnehmung selbst auf konkrete Bewegungsfähigkeiten (Kinästhesen) zurückbezogen ( C.I.9), auf vorangegangene Erfahrung, auf Erinnerung und Assoziation, aber auch auf erwartbare Gegenstandstypen und -formen usw.? Was für stabile Gegenstände wie Häuser gilt, wird bei zeitlichen Phänomenen, Urteilen, Normen oder rekursiven Bezugnahmen (d. h. Akten, die sich wiederum auf andere Akte beziehen) umso komplexer. Die Wahrnehmung eines Hauses kann an frühere Kindheitserinnerungen anschließen, eine Farbe, ein Geruch kann bestimmte Assoziationen wecken. All dies deutet darauf hin, dass das kon stituierende Bewusstsein ein konkretes Subjekt ist, das selbst eine Lebensgeschichte hat. Diese konkrete Subjektivität kann dann sowohl in ihrer Individualität als auch in ihren allgemeinen Entwicklungsstrukturen untersucht werden. Sinn und Horizont der klassischen Transzendentalphilosophie erfahren dadurch mit der genetischen Analyse eine grundlegende Transformation. Obwohl die Unterscheidung zwischen statischer und genetischer Methode erst in den 1920er-Jahren genau ausgearbeitet wird, reicht die Entwicklung beider Konzepte bis in Husserls Logische Untersuchungen zurück. Die Phänomenologie beginnt als deskriptive Lehre: Ihre Aufgabe ist die Beschreibung der Korrelation zwischen intentionalen Leistungen und erscheinenden Gegenständen ( C.II.1). Damit eröffnet sich ein besonderes Forschungsfeld, das sich mit der Wesenskorrelation zwischen Noesis und Noema, also zwischen der subjektiven Leistung der intentionalen Sinnkonstitution und dem objektiven, konstituierten Gegenstandssinn, befasst. In den Logischen Untersuchungen wird diese Wesensbeziehung als Relation zwischen der Bedeutungsintention und dem Akt der Bedeutungserfüllung im intentionalen Erlebnis gefasst (Hua XIX/1, 38). Alle empirisch-psychologischen und kausal-genetischen Bedingtheiten des intentionalen Erlebnisses werden dabei außer Acht gelassen. Husserl hält zwar fest, dass jedes Denkerlebnis, wie jegliches psychische Erlebnis, nicht nur einen deskriptiven Gehalt besitzt, sondern auch »Ursachen und Folgen« und dass ihm insofern »genetische Funktionen« zukommen (Hua XIX/1, 150). Jedoch befasst sich die deskriptive Phänomenologie ausschließlich mit dem »Inhalt des Bedeutungs- und Erfüllungserlebnisses selbst« (Hua XIX/1, 150). Solche deskriptiven Wesensanalysen werden zum ersten Mal in der sechsten Logischen Untersuchung explizit als statische bezeichnet, wenn Husserl die Korrelation zwischen dem Akt des Bedeutens und dem in der jeweiligen Bedeutung anschaulich gegebenen Gegenstand als ein ruhendes Einheitsverhältnis erfasst: »[D]er bedeutungsverleihende Gedanke sei auf Anschauung gegründet und dadurch auf ihren Gegenstand bezogen« (Hua XIX/2, 558). Dieses ruhende Einheitsverhältnis zwischen Bedeutung und Anschauung wird als statische Deckung gedeutet. Davon wird die dynamische Form der Deckung unterschieden, ein dynamisches Erfüllungsbewusstsein, in dem »der Akt
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des puren Bedeutens in der Weise einer abzielenden Intention seine Erfüllung in dem veranschaulichenden Akte [findet]« (Hua XIX/2, 566). Kraft des Erfüllungsbewusstseins soll das Gegenständliche intuitiv, d. h. anschaulich vergegenwärtigt und nicht »bloß gedacht« werden wie im symbolischen Akt. In beiden Fällen der Deckung geht es aber um die Konstitution von einheitlichen Gegenständen, die im Hinblick auf die zeitlose Struktur ihrer Identität beschrieben werden sollen. Das Ziel der statischen Analyse bleibt durchgehend die strukturelle Bestimmung von Gegenstand gebendem Bewusstsein und Gegenstandsidentität. Die Deskriptionen zielen nicht auf beliebige Eigenschaften des intentionalen Aktes, sondern auf seine Wesensstruktur, das Invariante oder das Essentielle an dem Erlebnis (Hua XLI, 29 ff.). Auf diesem methodischen Zugang gründet der Erfolg der Phänomenologie im 20. Jahrhundert. Zu den bekanntesten Vertretern der phänomenologischen Wesensforschung der ersten Generation gehört Max Scheler, gehören aber auch viele Schüler Edmund Husserls aus der Göttinger Zeit wie Adolf Reinach, Edith Stein, Dietrich von Hildebrand, Jean Héring und Wilhelm Schapp sowie die Münchener Phänomenologen wie Moritz Geiger oder Alexander Pfänder ( B.I.2). Als übergeordnetes Ziel der statischen Analyse gilt die Klärung und Fundierung von Begriffen durch einen Rückgang auf Phänomene, die auch für den interdisziplinären Zusammenhang von Bedeutung sind. Besonders fruchtbar zeigte sich dieses Verfahren innerhalb der Psychologie und Psychiatrie ( D.IV). Husserl selbst wendet anfänglich statisch-deskriptive Aktanalysen zur Untersuchung schlichter intentionaler Erlebnisse (vor allem der Wahrnehmung) an, später aber auch für komplexere Erlebniszusammenhänge, bei denen es um Fundierungsverhältnisse zwischen intentionalen Erlebnissen geht, wie z. B. bei kategorialen Erkenntnisakten (Hua XIX/2), bei Erinnerung oder Bildbewusstsein (Hua XXIII). Parallel wird der Aufbau intentionaler Erlebnisse auch hinsichtlich ihrer grundlegenden Zeitstruktur vertieft (Hua X). Doch auch diese Forschungen werden vorwiegend mit den Mitteln der statischen Deskription durchgeführt. Auch wenn die strukturellen Momente der Dauer eines Erlebnisses erfasst werden (Reten tion, Urimpression, Protention; C.I.7), geht es um den Aufbau des Erlebnisses als eines bereits Gewordenen unter Ausschluss der Geschichtlichkeit des Werdensprozesses selbst, unter Ausschluss der Antriebe seines Hervortretens, seiner Zielbezogenheit und seines Verweisungspotenzials. Erlebnisse scheinen im Zugriff der statischen Wesensforschung in einem gewissen (historischen) Vakuum zu stehen. Keine Motivationen des Erfüllungsprozesses und der Auffassungsaktivität werden berücksichtigt, keine Dynamiken der Aufmerksamkeitsweckung, der Zuwendung usw. Auch wenn an dem Erlebnis leiblich-kinästhetische oder affektive Momente erfasst werden, werden sie abstrakt, unter Absehung von dem lebendigen und dynamischen Entwicklungszusammenhang der Erfahrung, betrachtet (Hua XVI, 164 ff.). Erst wenn jene Dynamiken in den Forschungsblick rücken, wird es notwendig, zwischen statischen und genetischen Verfahren zu unterscheiden.
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Erst durch die Erweiterung des Forschungsfelds der phänomenologischen Analyse auf das Vergangenheits-, Fremd- und Zukunftsbewusstsein sowie auf die komplexen Verweisungszusammenhänge der Erlebnisse, rücken all diese Phänomenen in den Fokus. Diese Erweiterung findet explizit innerhalb der transzendentalen Phänomenologie statt, allerdings noch in ihrer voregologischen Phase: Der ganzheitliche Bewusstseinsstrom wird als Feld der phänomenologischen Konstitutionsforschung im Sinne eines Werdensprozesses neu entdeckt. Dadurch wird ersichtlich, […] dass phänomenologische Erfahrung nicht an den vereinzelten cogitationes hängt, die jetzt beachtete Gegenwärtigkeiten sind, sondern […] über den ganzen Strom des Bewusstseins als einen einzigen Zeitzusammenhang sich erstreckt, der freilich nicht in seiner ganzen Breite und Länge jeweils in das Licht der Anschauung fällt. (Hua XIII, 176 f.)
Entscheidend dabei ist, dass der Bewusstseinsstrom als Zeitzusammenhang unter einer Gesetzlichkeit der Motivation steht: Die genetische Betrachtung führt deshalb zur Methode der Motivationsanalyse (Hua XIII, 78, 166, 176 f., 180). Die subjektive Realität wird dabei als Zeitfluss des Erlebens erschlossen, als strömende Gegenwart, die sowohl Vergangenheit als auch Zukunft umfasst, Wahrnehmen und Fantasieren, Erinnern und Erwarten, Selbst- und Fremderleben in ihren leiblichen und seelischen, theoretischen und vor allem praktischen Charakteristika. Der Fluss des Bewusstseins, das Strömen des Erlebens, so wie es sich uns in der Innenerfahrung zeigt, vor jeder wissenschaftlichen Deutung und Erklärung, Bewertung und Auswertung, vor jeglicher Zurückführung auf physisch-kausale, naturalisierende oder metaphysisch-spekulative Annahmen, wird in seinen unterschiedlichen Gegebenheitsweisen als ein erfahrbares, unendliches Feld des subjektiven Lebens und Leistens ausgelegt, und zwar als ein zeitliches, motiva tionsgeleitetes, relationales Feld der genetischen Analyse (Brudzińska 2012, 211 f.). Die Identität der Erlebnisse erklärt sich aus dieser Perspektive nicht mehr allein aus der zeitlos gefassten Erlebnisstruktur, sondern aus der Geschichte ihres Entstehens. Bei der genetischen Intentionalanalyse wird daher der Gegenstand als jeweils in einer konkreten und geschichtlich bestimmten Erfahrungssituation verankert betrachtet. Dies verlangt, dass vielfältige, zur Erfahrungssituation gehörende intentionale Verweisungen erforscht werden. Die genetische Fragestellung will der Tatsache Rechnung tragen, dass das (Erfahrungs-) Leben in der immanenten Zeitlichkeit seine eigene Geschichte hat ( C.I.14). Es kommt also darauf an, intentionale Implikationen zu enthüllen, Verläufe der Sinnanreicherung im Individuationsprozess zu rekonstruieren und verborgene Sinnesmomente offenzulegen (Aguirre 1970, 142 ff.). Andererseits fordert die genetische Methode, dass wir der Sinnsedimentierung im Erfahrungsprozess nachgehen. Das bedeutet, dass wir die Übergänge von Aktivität in Passivität im Bewusstseinsverlauf betrachten und damit die Motivationen unserer Auffassungsleistungen aufweisen.
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In den Ideen II (1913–1916) wird die genetische Perspektive im Hinblick auf die egologische Struktur vertieft und vor allem die Historizität der egologischen Erfahrung behandelt. Der genetische Ichwerdungsprozess wird nicht mehr als ein empirischer und somit unter kausalen Bedingtheiten stehender Verlauf verstanden. Vielmehr wird der immanente Motivationszusammenhang als Gesetzlichkeit des ichlichen Bewusstseinsstromes thematisch (Hua IV, 211 ff.). In der genetischen Perspektive lassen sich die ichlichen Erlebnisse nicht mehr als anonyme Akte betrachten, sondern sie werden nur aus ihrem Verweisungszusammenhang verständlich, d. h., sie sind keine sich selbst erklärenden mental states. Im Unterschied zu den statischen Analysen, die auf eine geschichtslose Identitätsstruktur des intentionalen Erlebnisses abzielen, strebt die genetische Methode die Werdensprozesse und Individuationsdynamiken der egologischen Erfahrung in ihrer sozialen Horizonthaftigkeit an. Dabei soll die immanente Teleologie als Zielgebundenheit des ichlichen Motivationsprozesses offengelegt werden. In den Ideen II werden bleibende Strukturen (Habitualitäten; C.I.12) am Ich entdeckt, die das transzendentale Subjekt als ein individuelles und soziales, in der Erfahrungsgeschichte entstehendes charakterisieren (Hua IV, 310 f.; Caminada 2019, 288 ff.). Dabei ist nicht nur das Vergangenheitsmoment von Bedeutung, sondern auch die Zukunftsdimension der egologischen Erfahrung als Erwartungshorizont (Hua XXXIII, 8 ff.) spielt eine wesentliche Rolle. In den Analysen zur passiven Synthesis hebt Husserl die passiven, vorreflexiven Dimensionen der Wahrnehmungserfahrung hervor, die als Gesetzlichkeiten der Motivation zutage treten (Holenstein 1972, 187 ff.). Entsprechend wird die Affektion nicht mehr als ein abstraktes Moment der Affizierbarkeit des Subjektes gedeutet, sondern als eine sinnvolle Antwort des leiblichen und affektiv-erfahrenden Ich (Hua XI, 163). Die bis dahin innerhalb der Transzendentalanalytik nicht behandelbaren Phänomene wie Weckung der Interessen, Zuwendung in der Aufmerksamkeitsbildung, aber auch Widerstreit, Ambivalenz und passive Entscheidungsbildung finden nun Beachtung. Die Assoziation wird als das grundlegende Gesetz der passiven Genesis und somit als das fundamentale Gesetz der genetischen Phänomenologie überhaupt erfasst (Hua I, 113 f.), d. h. nicht mehr vorrangig als empirische Gesetzmäßigkeit der Organisation von Sinnlichkeit verstanden. Auch ein singulärer Akt des Vermeinens eines Gegenstandes kann durch Aufund Abbauanalyse genetisch untersucht werden. Im Fall der abbauenden Analyse gehen wir von einem entwickelten Erlebnis aus und erforschen ›rekonstruktiv‹ die vorausgehenden Erlebnisformen und Dynamiken, bis hin zu den elementaren passiven Synthesen, ihren Quellen und Motivationen. Im Falle der Aufbauanalyse setzen wir in der Tiefe der Passivität an (Hua Mat VIII, 70 ff.) und versuchen, die elementaren Tendenzen innerhalb des Bewusstseinsstromes aufzuspüren, um ihren Wirkungen im Aufbau von Erlebnissen nachzugehen. Dabei sollen die telelogischen Momente, also die Zielbezogenheit der Tendenzen, berücksichtigt werden. Als motivationale Momente werden nicht nur die höherstufigen
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Zielsetzungen der Vernunft oder die bloß formalen Zusammenhänge der assoziativen Einheitsbildungen (Ähnlichkeit, Kontrast, Koexistenz, Sukzession) verstanden, sondern auch die instinktiven Triebe sowie affektive Gemütstendenzen (Hua XI, 133 ff.). Von hier ausgehend lohnt es sich, Husserls Analysen zur passiven Synthesis im Kontext seiner weiterführenden Studien zur Subjektivität und zu ihrer Genese zu betrachten. In Auseinandersetzung mit Dilthey zeigt er, dass bei der Analyse der Subjektivität zwar zunächst statisch vorzugehen ist, dass aber dann genetische Untersuchungen notwendig werden. Diese führen zum Verständnis der Entfaltung und Entwicklung der personalen Einheit. Nur so kann verständlich gemacht werden, wie sich das konkrete Ich zum Subjekt seiner Umwelt entwickelt und schließlich zum Subjekt einer Geschichte. Durch die genetische Methode soll mithin verständlich werden, dass die reine Subjektivität kein solus ipse ist, sondern immer im Zusammenhang der Intersubjektivität ( C.I.11) steht und fungiert (Hua IX, 216). Es sei dennoch darauf hingewiesen, dass, auch wenn insbesondere in der späten transzendentalen Phänomenologie die Anwendung der genetischen Methode einen sehr hohen Stellenwert erlangt, diese Zugangsweise die Methode der statischen Analyse nicht ersetzt (Welton 2003). Die so skizzierte Entwicklung der genetischen Methode bedeutet allerdings keinen Bruch in Husserls Gedankengang. Sein leitendes Ziel bleibt die Begründung der Objektivität der Erkenntnis und die Klärung der Möglichkeit der Logik. Die methodische Ausdifferenzierung hinsichtlich der statischen und genetischen Analysewege ermöglicht nämlich einen neuen Zugang zur Frage der Begründung der Logik (Hua XVII, 216 ff.), die in dem 1929 veröffentlichten Werk Formale und transzendentale Logik ihren ersten Ausdruck findet. Dieses Forschungsprojekt wird in Erfahrung und Urteil (1936) im Sinne einer ›Genealogie der Logik‹, die prädikative Evidenzen auf nichtprädikative zurückführt, konsequent weiterverfolgt. Unter nichtprädikativen Evidenzen versteht Husserl solche Evidenzen der Erfahrung, die auf einer vorsprachlichen und anschaulichen Stufe gewonnen werden. Die Leistung der vorprädikativen Erfahrung für die Genese der Urteilsbildung besteht in rezeptiven Fähigkeiten des Subjektes, wobei Rezeptivität als die unterste Stufe der ichlichen Aktivität gedeutet wird. Dies bedeutet, dass bereits die subjektive Passivität ein Feld spezifischer Aktivitäten bezeichnet, die sich sowohl aus den leiblichen und emotiven Strukturen des Subjekts als auch aus seiner Erfahrungsgeschichte ergeben – ein Motiv, das in aktuellen Theorien des Enaktivismus ( D.XI) große Wichtigkeit besitzt. Diese Aktivitäten bringen stets subjektive Interessen zum Ausdruck, die bereits die elementarsten Affektionen und Zuwendungen des Ich zu welthaft Erscheinendem im Erfahrungsverlauf bestimmen. Die Wahrnehmung in genetischer Dimension wird nicht als isolierbarer Akt ausgelegt, sondern als Prozess der typisierenden Apperzeption, der typische Gestalten aufweist und immer in den gesamten Zusammenhang der subjektiven Erfahrung eingebettet bleibt. Insgesamt kommt hier den Konzepten Typus und Typisierung besondere Bedeutung zu. Typus wird hier weder als Kategorie
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noch als angeborenes Schema im kantischen Sinne verstanden, sondern als eine Art empirischer Begriff oder subjektive Habe, die in der Erfahrung entsteht, sich stetig verändert, bereichert oder verarmt (Lohmar 2008, 103–156). Diese Habe ist als Bereitschaft zur Weckung gefasst, die durch die Erfahrung motiviert ist. Sie konstituiert die Organisation unserer Erwartungsintentionen, die weder zufällig noch a priori zu einem Gegenstand gehören. Vielmehr bilden und verbinden sich die Erwartungsintentionen im Umgang mit den Gegenständen während unseres Erfahrungslebens und ermöglichen so Zuwendungen und Antizipationen im Verlauf konkreter Erfahrungen, die weit vor jeder Explikation des gegenständlichen Sinnes liegen (Brudzińska 2015). Das Versprechen eines Genetischwerdens der Phänomenologie hat auch auf viele Phänomenolog:innen seit Husserl einen erheblichen Reiz ausgeübt: Darin wurde die Möglichkeit gesehen, die phänomenologische Konstitutionsforschung konkreter werden zu lassen und sie nicht nur strukturell, sondern unter Berücksichtigung zeitlich-historischer, leiblicher und affektiver sowie sozialer und lebensweltlicher Verankerungen der Erfahrung durchzuführen. Zunehmend wird eingesehen, dass das transzendentale Ich der genetischen Phänomenologie kein formal-abstraktes, der Erfahrung vorausgehendes Prinzip im Sinne von Kants transzendentalphilosophischer Erkenntniskritik ist. Als konkretes Ich der transzendentalphänomenologischen Genesis verweist es vielmehr auf seine immanente Historizität. Die Subjektivität lässt sich so in ihren zeitlich sedimentierten Schichten und in Bezug auf die intersubjektiven Tradierungen und kulturelle (Vor-)Prägungen beschreiben. Dieses Konkretwerden der Subjektivität in der genetischen Phänomenologie öffnet Letztere auch für interdisziplinäre Forschung. Besonders prädestiniert hierfür sind die Psychologie und die Psychoanalyse, aber auch die Sozialtheorie, Kulturtheorie und Geschichte. Im Fokus stehen dann nicht mehr Identitätsbestimmungen, sondern Individuations- und Subjektivierungsprozesse in diversen Erfahrungsfeldern. Beispielsweise lassen die Forschungen von Schütz (Alfred-Schütz-Werkausgabe I) oder Berger/Luckmann (1966/2003) die Phänomenologie innerhalb der Sozialtheorie fruchten, während die vielversprechende Verbindung zur Psychoanalyse in den letzten Jahren von Bernet (2020), Brudzińska (2019) und Nicholas Smith (2010) exploriert wurde. Jagna Brudzińska
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I. Logik und Sprachphilosophie 1. Mathematische Voranfänge Logik und Mathematik können mit einigem Recht als die ersten Wirkfelder der Phänomenologie angesehen werden, handelt es sich dabei doch um Bereiche, in denen sich Husserl selbst ausführlich betätigt hat. Zugleich stellen sie jedoch auch Wirkfelder ganz eigener Art dar, insofern es sich hier weniger um eine Anwendung der phänomenologischen Arbeitsweise auf einen konkreten Sinnbereich handelt als vielmehr um ein Gebiet, auf dem die phänomenologische Reflexion allererst ihre ganz eigene Kontur erhielt. Genauer gesagt: Erst der Durchgang durch die Welt der mathematischen Idealitäten brachte Husserl auf die Grundlagenprobleme der Phänomenologie. Rückblickend erklärt er 1937: »Eigentlich war mir mein Weg schon durch die Philosophie der Arithmetik vorgezeichnet, und ich konnte nicht anders, als weiterzugehen« (Hua BW IV, 85). Die Grundlagenkrise, die die Mathematik um diese Zeit erschüttert, zeichnet gleichsam die allgemeine Grundlagenkrise der Wissenschaften vor, die Husserl später in der Krisis-Schrift diagnostiziert. Laut Hermann Weyl, dem sich die Formel der »Grundlagenkrise der Mathematik« (Weyl 1921) verdankt, sind es streng genommen zwei Krisenmomente, die unterschieden werden wollen, wobei beide unmittelbar mit der Entwicklung der husserlschen Phänomenologie verknüpft sind. Bei dem ersten Krisenmoment geht es darum, dass die Geometrie, seit der Antike die mathematische Grundlagendisziplin schlechthin, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Selbstverständlichkeit verliert. Man spricht auch von einer ›Krise der Anschauung‹ (H. Hahn 1933), insofern sich mit der Entwicklung nichteuklidischer Geometrien Kants Annahme, wonach die Geometrie (nebst der Arithmetik) ganz aus der Anschauung abgeleitet werden könne, als irrig erweist: Mit der Entwicklung der Topologie und den riemannschen Flächen etwa verliert die Geometrie ihre traditionelle Rückbindung an die Anschauung, die nun nicht mehr für die Verlässlichkeit geometrischer Axiome bürgt. Das zweite Krisenmoment erfolgt dann nach der Jahrhundertwende, als sich herausstellt, dass die Mengenlehre Cantors auf einer unlösbaren Paradoxie beruht: Bertrand Russell und Ernst Zermelo weisen nach, dass die ›sich selbst enthaltende Menge‹ jede Absicht, die Mathematik über die Mengentheorie auf ein sicheres Fundament zu heben, in ausweglose Schwierigkeiten bringt (Husserl geht darauf explizit in einem Nachlasstext ein; Hua XXII, 93). Gleich zweimal wird die Mathematik in ihren Grundfesten erschüttert, was dazu veranlasst, ihre Rolle im Aufbau der Wissenschaften völlig neu zu reflektieren. Als er ab 1878 für das Studium der Mathematik nach Berlin wechselt, gerät Husserl sogleich in den Sog dieser ersten Grundlagenkrise, insofern seine beiden Lehrer, Leopold Kronecker und vor allem Karl Weierstraß, als Protagonisten des sogenannten ›Arithmetisierungsprogramms‹ eine Lösung für den Anschauungs-
I.1. Mathematische Voranfänge
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verlust in der Mathematik suchen. In der ersten Grundlagenkrise stellt sich heraus, dass das vielleicht grundlegendste Element der Mathematik – die Zahl – keineswegs so gesichert ist wie allgemein angenommen. Weierstraß’ Programm einer Arithmetisierung der Analysis zielt darauf ab, der Mathematik wieder einen sicheren Boden zu verschaffen, indem alle empirischen Bezüge, die etwa in der Geometrie oder in der analytischen Mechanik noch vorhanden waren, abgetrennt werden und die Analysis rein immanent aus dem Zahlenkalkül gewonnen wird. Offen bleibt dabei allerdings vorerst, woher Zahlen überhaupt ihre Geltung nehmen. Husserl folgt Weierstraß’ Absicht, dem Zahlenkalkül ein solides Fun dament zu verschaffen, und vermutet darin ein genuin philosophisches Unterfangen: [D]urch einen Weierstrass u seine wurzelechte Mathematik zu intellektueller Redlichkeit erzogen , dass die zeitgenössische Philosophie, die mit ihrer Wissenschaftlichkeit so groß tat, völlig versagte und so der Idee der Philosophie – radikalst redliche Vollendung aller Wissenschaft sein zu wollen – Hohn sprach. (Hua BW IV, 408 f.)
Von Weierstraß’ rein mathematischer Rekonstruktion weicht Husserl allerdings dahin gehend ab, dass er den Umweg über die Psychologie nimmt. Husserl, der nach seiner kurzen Assistentenzeit bei Weierstraß nach Wien zurückkehrt und dort bei Franz Brentano die Psychologie-Vorlesungen belegt, wird 1887 mit der Schrift Über den Begriff der Zahl habilitiert, in der er Brentanos deskriptive Psychologie auf den Problembereich der Zahlen anwendet. Zahlen besitzen demnach keinerlei empirisch-welthafte Fundierung, sondern stellen lediglich psychologische Vorkommnisse im Bewusstsein dar; anders als in der physischen Welt der Kausalität gehe es in der psychischen Welt nicht um Definitionen, sondern um eine Beschreibung von gestalthaften Charakteristika, und wenn sich Zahlen zu Mengen oder Vielheiten ordnen, sei dies weniger durch eine Axiomatik zu erklären als durch eine deskriptive Erschließung dessen, wie sich eine Vielheit geistig darbietet. Höherstufige Zahlkonstrukte (irrationale, negative oder gebrochene Zahlen), die einer eigenen Anschaulichkeit entbehren und damit als ›uneigentliche‹, weil symbolische Vorstellungen gelten müssen, besitzen, so der zu erbringende Nachweis, »ihren Ursprung und Anhalt in den elementaren Zahlbegriffen« (Hua XII, 294). In seine erste größere selbstständige Veröffentlichung, Philosophie der Arithmetik (1891), geht die Habilitationsschrift fast unverändert als erster Teil ein und wird durch weitere hinzukommende Analysen ergänzt. Aufgrund dieser eigentümlichen Entstehungsgeschichte ist die Philosophie der Arithmetik allerdings auch durch eine unauflösbare Spannung durchzogen, insofern Husserl um 1890 offensichtlich von dem ursprünglichen Vorhaben abgerückt ist, sämtliche Zahlenbegriffe auf Kardinalzahlen zurückzuführen. In einem Brief an Stumpf heißt es: »Die Meinung, von der ich noch bei der Ausarbeitung der Habschrift geleitet wurde, daß der Anzahlbegriff das Fundament der allg Arithm bilde, erwies sich bald als falsch« (Hua BW I, 158). Während
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der erste Teil der Philosophie der Arithmetik sich durchaus als positive Antwort auf die ›Krise der Anschauung‹ präsentiert, lesen sich die späteren Abschnitte weitaus skeptischer; erweist sich doch der anschauungsbasierte Sockel, auf dem das begriffliche Zahlengebäude der nichtnatürlichen Zahlen aufruhen soll, als außerordentlich schmal. Arithmetische Idealitäten fußen, so die Hypothese, in psychologischen Leistungen, und Zahlen gehen auf Zähloperationen zurück: Ausgehend von den basalen, aneinandergereihten natürlichen Zahlen werden komplexe Komposita gebildet. Allerdings stößt man hier schon bald an die Grenzen eines finiten Bewusstseins. Unter Berücksichtigung der psychologischen Studien von Wilhelm Wundt sei es unmöglich, so Husserl, Vielheiten jenseits der Zwölf anschaulich zu vergegenwärtigen. Die Rückbindung an geistige Operationen und die psychologische Herleitung mathematischer Gebilde bleibt schon bald stecken, denn wenn sich Vielheitsvorstellungen wirklich dem konkreten Kolligieren disjunkter Elemente verdanken würden, dann gäbe es jenseits der Zwölf »nicht einmal den Begriff einer Fortsetzung« (Hua XII, 222), weil sich, diesem anschauungsbezogenen Vorsatz treu, keine weiteren Zahlbegriffe mehr bilden ließen. Husserls Grunddifferenz – die eingangs vorgenommene Unterscheidung zwischen eigentlichen und symbolischen Zahlen, bei der offensichtlich Brentanos Unterscheidung eigentlicher und uneigentlicher Vorstellungen Pate steht – gerät somit schon bald in Schieflage. Als ›eigentliche‹ Zahl gilt Husserl die Vorstellung einer Vielheit, von der man eine konkrete Anschauung im Bewusstsein besitzt (Hua XII, 79), im Gegensatz zum bloß symbolischen Inhalt, der »nicht direkt gegeben [ist] als das, was er ist, sondern nur indirekt durch Zeichen, die ihn eindeutig charakterisieren« (Hua XII, 193). Beide Zahlbegriffe, der eigentliche und der symbolische, sind allerdings insofern bloß formal, als ihr Inhalt letztlich beliebig bleiben muss. Nicht nur symbolische, auch anschauungserfüllte eigentliche Vielheiten lassen sich aus beliebigen Einzelheiten zusammensetzen, aus Bäumen, Sternen, Gefühlen, Engeln oder Staatsgebieten (Hua XII, 16). Eine Kardinalzahl im Allgemeinen gibt es genauso wenig wie die ›Röte‹ im Allgemeinen (Hua XII, 86) und daher sei der Anschauungsbezug unverzichtbar, um höherstufige Idealitäten zu begründen. Auf den ersten Blick schließt sich Husserl in dem mathematischen Grundsatzstreit, der zwischen den Formalisten und den Intuitionisten ausgetragen wird, letzterer Fraktion an. Basisrechenoperationen wie das Zuordnen (Gleichsetzen oder Differenzieren) und das Zusammensetzen aus Teilen müssen von ›figuralen Momenten‹ her aufgeschlüsselt werden, sodass die konstatierte Anschauungskrise vorerst gebannt scheint. Doch schon bald erweist sich die Lösung als fraglich. Denn anders als wahrnehmungsbezogene Leistungen bestehen Rechenoperationen, selbst mit einfachen Kardinalzahlen, gerade darin, dass ihr Inhalt unbestimmt und abstrakt bleibt. Das anschauungsinterne Abzählen kann kaum als Boden für sämtliche arithmetische Verfahren herhalten, nicht zuletzt aufgrund der »fundamentale[n] Tatsache, dass alle Zahlvorstellungen, die wir über die wenigen ersten in der Zah-
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lenreihe hinaus besitzen, symbolische sind und nur symbolische sein können« (Hua XII, 190). Mehr noch, arithmetische Operationen erhalten ihre Rechtfertigung dadurch, dass sie den Bezirk ›eigentlicher‹ Anschauung verlassen: Ewige und unsterbliche Wesen rechnen nicht; die Arithmetik brauchen wir eben gerade nur, weil es keine unmittelbare Anschauung wie im Falle der ersten Zahlenreihe gibt. Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass die Arithmetik genau genommen nie mit den ›eigentlichen‹ Zahlen operiert: »Hätten wir von allen Zahlen eigentliche Vorstellungen wie von den ersten in der Zahlenreihe, dann gäbe es keine Arithmetik, denn sie wäre vollkommen überflüssig.« (Hua XII, 192) Inwiefern kann Husserl rückblickend behaupten, sein gesamter Weg sei durch die Philosophie der Arithmetik ›vorgezeichnet‹ gewesen? Die Feststellung ist deshalb einigermaßen paradox, weil sich der intuitionistische Weg ja als Sackgasse herausgestellt hatte. Der Ertrag aus der Philosophie der Arithmetik ist unmissverständlich: Nicht das anschauungsinterne Abzählen ist der Ursprung der Zahl, sondern vielmehr das symbolische Schema. Husserl greift damit Einsichten vorweg, die sich erst einige Jahre später, durch David Hilbert und andere, als Selbstverständnis der Disziplin etablieren, nämlich dass Mathematik nicht materiell (durch ihren Inhalt), sondern nur formal (durch ihre Struktur) definiert ist. In diesem Sinne ist sogar behauptet worden, Husserl müsse als »erster Theoretiker« angesehen werden, »der Mathematik in moderner Weise als abstrakte Struktur verstand« (Hartimo 2017, 183). Ganz entgegen den üblichen Einschätzungen, wonach der frühe Husserl dem intuitionistischen Lager zugeordnet werden müsse, vertritt Burt Hopkins wiederum die These, Husserl müsse in der Mathematikgeschichte (neben Jacob Klein) als Pionier der symbolischen Logik anerkannt werden (Hopkins 2011). 2. Von der Mathematik zur Logik Husserl selbst dürfte seine eigene Leistung weitaus kritischer eingeschätzt haben, da er sich schon kurz nach der Philosophie der Arithmetik von den strikt mathematischen Problemen abwendet. Es gibt in der Forschung bis heute keinen Konsens darüber, worin nun genau das Scheitern der Philosophie der Arithmetik besteht (Hua XII, xx; Centrone 2010; Hartimo 2010; Zuh 2012). Eine nicht unerhebliche Bedeutung dürfte dabei Gottlob Freges vernichtend ausgefallener Rezension zukommen, die der Philosophie der Arithmetik ›Psychologismus‹ anlastet und bei Husserl eine grundlegende Revision der methodischen Prämissen in Gang setzt (Frege 1894). Am Psychologismus allgemein kritisiert Frege die mangelnde Anerkennung der Eigenständigkeit der logischen Gesetze. Logik sei vom menschlichen Denken ganz unabhängig (bzw., wie er sich ironisch ausdrückt, vom »Phosphorgehalt des Gehirns«) und es gebe nicht unterschiedliche, personenbezogene »Zweien« (»meine, deine, eine, alle«), sondern immer nur eine sich selbst gleichbleibende ideale Entität (Frege 1884, 37).
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Zumindest in einer Hinsicht lässt sich allerdings unmissverständlich feststellen, inwiefern die Verschiebung von einer materiellen zu einer formalen Bestimmung der Mathematik die Folie für die spätere phänomenologische Methode abgibt. Ähnlich wie es für den Begriff der Vielheit keinerlei Rolle spielt, wie diese Vielheiten inhaltlich bestimmt sind (ob man mit Rechensteinen, Muscheln, Äpfeln oder Birnen zählt, hat auf den Zahlbegriff keinerlei Einfluss), geht es bei der phänomenologischen Reflexion auf die Seinsweise der Bewusstseinsakte erst einmal darum, von dem jeweiligen materiellen Inhalt abzusehen. Husserl fasst diese Verlagerung in den ›Prolegomena‹ zu den Logischen Untersuchungen wie folgt zusammen: Es geht um den Fortschritt zur »Erkenntnisform im Unterschiede zu der Erkenntnismaterie« (Hua XVIII, 6). Von der Mathematik übernimmt die husserlsche Phänomenologie eine weitere wichtige Vorannahme: Mit Hermann Lotze wäre zu sagen, dass mathematische Entitäten nicht an einer Existenzfrage, sondern an einer Geltungsfrage hängen. Obwohl bestimmte Mathematiker wie Hilbert mit der Widerspruchsfreiheit der Axiome durchaus Existenzbehauptungen verbanden, befasst sich Husserl weniger mit der Frage, ob mathematische Begriffsgegenstände tatsächlich existieren, als vielmehr damit, worin ihr Sinn liegt. Im Zuge der Einklammerung der Seinsgeltung rücken im Kontext der intentionalen Analyse nun alle möglichen Gegenstände in den Fokus, seien sie rein logischer, empirischer oder imaginärer Art. Es wird landläufig gemutmaßt, dass die eigentliche phänomenologische Herangehensweise bei Husserl allererst in den Logischen Untersuchungen entfaltet wird. Der Übergang zwischen der Philosophie der Arithmetik zu den 1900 veröffentlichten ›Prolegomena‹ zu den Logischen Untersuchungen entspricht jedenfalls einem Übergang von der Mathematik zur reinen Logik, wobei es darum geht, die Logik nicht mehr als Subdisziplin der Mathematik anzusehen, sondern dieser zu eigener Gültigkeit zu verhelfen. Tatsächlich befasste sich die mathematische Logik im 19. Jahrhundert vornehmlich mit Aussagen und den damit verbundenen Wahrheitswerten (man denke an George Boole). In gewisser Hinsicht wurde mit Aussagen genau so operiert wie in der Arithmetik mit Zahlen. Bei dieser Einverleibung der Logik in den Gegenstandsbereich der Mathematik und der Rückführung der Aussagenlogik auf Rechengesetze bleibt allerdings offen, worin die Spezifik von Urteilen noch bestehen kann. Zur bloßen »Technologie« (Hua XVIII, 51) des Regelschließens verkommen, bleiben ihre eigenen Voraussetzungen unhinterfragt. In den ›Prolegomena‹ zu den Logischen Untersuchungen verwirft Husserl einerseits den (von ihm selbst früher vertretenen) psychologistischen Ansatz, um die Aussagenlogik als »eigenes Reich« (Hua XVIII, 71) auszuweisen, dessen Souveränität von keinen subjektiven Bezugnahmen abhängt. In dieser Herausarbeitung der Gesetze der reinen Logik wird somit das alte, schon von Leibniz verfolgte Unterfangen einer mathesis universalis als universeller Lehre des Kalküls aktualisiert (Centrone/Da Silva 2017). Andererseits wäre es jedoch auch wieder falsch, so Husserl, die Idealgesetze in irgendeinem platonischen Himmel zu ver-
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orten; ihrer überzeitlichen Gültigkeit tut die Tatsache keinen Abbruch, dass sie ihren Sinn erst durch konkrete Aktbezüge und »in psychischen Akten […] ihre konkrete Grundlage« (Hua XVIII, 189) erhalten. Zwar büßen rein logische Gesetze ihre normative Kraft nicht dadurch ein, dass sie keinerlei empirischen Rückhalt besitzen, dennoch verdankt sich ihre Bedeutung erst den jeweiligen bewusstseinsmäßigen Vollzügen. Dieses Bemühen, einen ganz eigenwilligen, gleichsam an den Wissenschaften geschulten Platonismus zu begründen, sorgte beim Erscheinen durchaus für Verwirrung und zwang Husserl in der Folge, sein philosophisches Projekt methodisch zu präzisieren. Es lässt sich allenfalls festhalten, dass der Anschauungsbezug, den Husserl in der Philosophie der Arithmetik umsonst gesucht hatte, nun paradoxerweise gerade in den Logischen Untersuchungen, die ihren axiomatischen Grundimpuls nicht verhehlen, in greifbare Nähe gerückt war. Denn anders als in der Zahlentheorie, die sich nicht aus dem geistigen Zählen deduzieren lässt, fußt die reine Urteilslehre durchaus auf anschaulicher Evidenz: Jede logische Aussage lässt sich laut Husserl letztlich aus »unmittelbar einsichtigen Axiomen« (Hua XVIII, 163) herleiten. Von einer ›Psychologie der Logik‹ unterscheidet sich eine ›Phänomenologie der Logik‹ insofern, als sie die Bedingungen freilegt, dank derer ideale Gesetze ihre normative Kraft entfalten können. Phänomenologisch ist diese Theorie der Idealitäten dennoch dahin gehend, dass laut Husserl eine ›Ideation‹ dieser Idealitäten stattfindet, dass die logischen Grundgesetze – die Kategorien – in aller Evidenz ›eingesehen‹ werden können. Über klassische Kategorienlehren wie etwa diejenige Kants geht die der Logischen Untersuchungen deutlich hinaus, indem das Konzept der ›kategorialen Anschauung‹ eingeführt wird, womit die Einsicht in die jeweiligen logischen Fundierungsverhältnisse bezeichnet wird. Jenseits einer bloß formalen Logik als Kunstlehre geht es also um deren spezifischen epistemischen Wert im Aufbau der Wissenschaften. Denn die Logik umfasst nicht nur ein Gebiet mit bestimmten (durch ihre Idealität definierten) Gegenständen, sondern liefert auch die Regeln, nach denen gesicherte Erkenntnis möglich ist. Es geht also, wie es später heißt, um das »Für-uns-sein der Theorie« (Formale und transzendentale Logik, Einleitung; Hua XVII, 19). Damit reagiert Husserl, wenn auch mit Verzug, auf den methodologischen Appell, den Frege in seinen Grundlagen der Arithmetik geäußert hatte: »Wie soll uns denn eine Zahl gegeben sein, wenn wir keine Vorstellung oder Anschauung von ihr haben können?« (Frege 1884, 73) In kritischer Abgrenzung zu Brentano, dem zufolge logische Begriffe allenfalls Abstraktionen psychischer Akte darstellen, erbringen die Logischen Untersuchungen den Nachweis, dass diese trotz allem eine genuine, nämlich nichtreale Objektivität besitzen, auf die die menschlichen Denkprozesse keinen Einfluss nehmen, auf die sie aber gleichwohl durch die intentionale Struktur bezogen sind. Wären die logischen Grundgesetze in der individuellen Psyche verankert, dann würden sie schlussendlich unter die empirisch beobachtbaren Naturgesetze fallen (und insofern richten sich die ›Prolegomena‹ nicht nur gegen den Psychologismus,
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sondern auch gegen den Anthropologismus sowie den Relativismus jeder Art). Husserl stellt heraus, inwiefern der Urteilsinhalt mit dem konkreten Urteilsvollzug nicht vermengt werden darf: Dass wir in aller Deutlichkeit subjektiv ›einsehen‹, dass 2 + 3 immer 5 ergibt, ohne dass wir dafür eine Welt brauchen, in der solche Regeln beobachtbar sind, ändert an der Objektivität dieser Wahrheit erst einmal nichts. Dieser Zusammenhang wird vornehmlich am Beispiel der Aussagenlogik vorgeführt: Der Gehalt einer Aussage bleibt unverändert, »wer auch immer sie behauptend aussprechen mag, und unter welchen Umständen und Zeiten er dies tun mag« (Hua XIX/1, 49). Kurzum, ein propositionaler Gehalt bleibt sich selbst identisch, egal in wie vielen numerischen oder qualitativ verschiedenen Aussagen er ausgedrückt wird. Husserl legt hiermit den Grundstein für eine Theorie der sprachlichen Bedeutung, die gerade auch in der späteren Rezeption wegweisend war. Bevor auf das Wirkfeld Sprachphilosophie eingegangen wird, sei kurz noch einmal rückblickend zusammengefasst, in welcher Hinsicht von einer Rezeption der Phänomenologie im Bereich der Logik und Mathematik die Rede sein kann. Auf die Mathematik bezogen ist es wohl richtiger zu sagen, dass die Phänomenologie aus einer Auseinandersetzung mit arithmetischen Grundlagenproblemen entsteht und keine nennenswerten Versuche vorliegen, die Phänomenologie auf die Mathematik anzuwenden. Der Husserl- und Heidegger-Schüler Oskar Becker wäre allenfalls noch zu nennen mit seinem Ansinnen, existenzphilosophische Kategorien auf mathematische Objekte anzuwenden und die transfinite Rekursion mit der philosophischen Reflexion zu vergleichen (Becker 1927), sowie der phänomenologisch inspirierte Mathematiker Felix Kaufmann, von dem Husserl allerdings bezweifelte, seine Arbeiten könnten überhaupt stricto sensu zum Umkreis der Phänomenologie gezählt werden. Obwohl in jüngerer Zeit vermehrt Forschungen zu den Querbezügen Husserls zu anderen Mathematikern seiner Zeit vorgelegt wurden (etwa zu Poincaré oder Gödel; Tieszen 2005), kann kaum von einem eigenen ›phänomenologischen Zweig‹ der Mathematik die Rede sein. (Am Rande sei noch der später berühmt gewordene Wissenschaftshistoriker Alexandre Koyré erwähnt, der zunächst bei Husserl eine Promotion über die Antinomien der Mengenlehre angefangen hatte.) Hingegen spielten die Überlegungen zur Mereologie eine durchaus nennenswerte Rolle: Neben der Gestaltpsychologie, in der sie bereits früh wirkten ( D. IV), riss ihr Einfluss auf die formale Ontologie bis heute nicht ab. Überlegungen zur Mereologie, also der Erforschung der Verhältnisse zwischen Teilen und Ganzen, finden sich in Husserls III. Logischer Untersuchung. Während einfache Gegenstände ungegliedert sind, weisen komplexe Gegenstände verschiedene Bestandteile auf. Da, wo einige Bestandteile des Ganzen Selbstständigkeit beanspruchen können (Husserl spricht von ›Teilen‹), sind andere wiederum unselbstständig (Husserl spricht von ›Momenten‹, die wiederum nicht unabhängig vom Ganzen verhandelt werden können). Als ein solches Moment könnte etwa die herbstliche Rotfärbung eines Kastanienblatts angeführt werden: Über die Farbe lässt sich nur
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im Zusammenhang eines ausgedehnten materiellen Objekts sprechen, das wiederum in einem bestimmten Licht erscheint usw. Anders der Begriff der Teile: Ein Ahornbaum ist aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt (Stamm, Äste, Wurzeln), die auch getrennt in Augenschein genommen werden können, da etwa die Ausdehnung oder das Gewicht der Äste nicht von der Ausdehnung oder dem Gewicht des Stamms abhängt. Nicht umsonst ist ein vom Baum gefallener Ast noch immer in seiner Gestalt wiedererkennbar und kann mit geübtem Auge als Kastanienast zugeordnet werden, was wiederum nicht für die Rotfärbung des Blatts als unselbstständigem Moment gilt (Casari 2000). Diese relativ simple Unterscheidung in Teile und Momente dient Husserl dazu, in Konstitutionsprozessen die jeweiligen Abhängigkeitsverhältnisse zu bestimmen. In der Gegenstandskonstitution sind bestimmte Elemente fundierend und andere wiederum fundiert: Fundiert sind Elemente, die von fundierenden abhängig sind, während umgekehrt keine Abhängigkeitsverhältnisse bestehen (ein Gedanke, der besonders in der zeitgenössischen formalen Ontologie wieder auf gegriffen wurde; Konopka 2020). Unter anderem wurde in diesem Ansatz eine Möglichkeit vermutet, emergente Eigenschaften zu beschreiben: Anstelle einer kausalen Entwicklungskette, die höherstufige Eigenschaften aus einer Bottom-upLogik schrittweise rekonstruiert, sind diese Eigenschaften dann vielmehr solches, was aus den früheren gleichsam von selbst hervorgeht bzw. ›emergiert‹ (wobei darauf hinzuweisen ist, dass es in der Phänomenologie streng genommen nicht um objektive, in den Gegenständen begründete Eigenschaften geht, sondern vielmehr um Erscheinungsweisen, sodass hier eine gewisse Neutralität gegenüber ontologischen Eigenschaftszuweisungen geboten ist). Neben emergenztheoretischen Ansätzen wird Husserl auch wieder im Zusammenhang der Debatten über downward causation diskutiert: In solchen Ansätzen geht man davon aus, dass die fundierten Elemente auf die fundierenden rückwirken können, sodass in diesem wechselseitigen Fundierungsverhältnis wiederum dritte Gegenstände entstehen (in Kippbildern etwa verlagert sich durch den Aspektwechsel die gesamte Struktur der Teile, und es zeichnet sich ein neues Objekt ab; Yoshimi 2010). In jedem Falle ist Husserls Analyse der mereologischen Fundierungsverhältnisse dahin gehend hilfreich, dass damit Kovarianzen bei sich verändernden Gegenständen beschrieben werden können, etwa wenn man es mit sich durchhaltenden Strukturmerkmalen unter veränderten Wahrnehmungsbedingungen zu tun hat (Hua XVI). Für eine allgemeine Theorie der Individuation finden sich hier wichtige Hinweise, wie Teile ineinandergreifen, Aspekte ineinander übergehen und sich schließlich Dinge von ihrer Umgebung abheben; Einsichten, die bereits früh in der Gestaltpsychologie rezipiert wurden und heute wieder zunehmend in der formalen Ontologie verhandelt werden (Sokolowski 1968; Fine 1995a).
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3. Logische Bedeutung und sprachlicher Ausdruck Husserls Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Sprache (Hülsmann 1964; Orth 1967) stellt sich zuallererst in Gestalt einer Metakritik der formalen Logik dar. Wie es in der Einleitung zum zweiten Band der Logischen Untersuchungen heißt, sind die Gegenstände der Logik »zunächst im grammatischen Gewande gegeben« (Hua XIX/1, 8). Über eine spezielle logische Grammatik hinaus, die die richtige Verwendungsweise logischer Zeichen ordnet, bedarf es eines Verständnisses, wie die Verknüpfung sinnhafter Zeichen allgemein reguliert wird. Deshalb entwirft Husserl in der ersten Logischen Untersuchung unter dem Titel »Ausdruck und Bedeutung« zunächst eine allgemeine Theorie des Zeichens und näher des sprachlichen Ausdrucks. Der zentrale Gesichtspunkt ist für ihn dabei die Idealität der sprachlich ausgedrückten Bedeutungen: Die wesentliche Funktion der Sprache liegt für ihn nicht in dem kommunikativen Aspekt der Mitteilung oder der ›Kundgabe‹, sondern in der Ermöglichung von logischem Denken und Wissenschaft, d. h. darin, in Sätzen Aussagen oder Propositionen zu formulieren. Einer ›reinen‹ oder ›reinlogischen‹ Grammatik kommt dabei die Aufgabe zu, »die wesentlichen Bedeutungsformen und die apriorischen Gesetze ihrer Komplexion bzw. Modifikation« (Hua XIX/1, 347) herauszuarbeiten. So unterscheidet Husserl in der vierten Logischen Untersuchung zwischen ›kategorematischen‹ (selbstständigen) und ›synkategorematischen‹ (unselbstständigen) Bedeutungen und stellt heraus, dass auch komplexe Ausdrücke Einfaches bedeuten können (Hua XIX/1, 303 ff.). Diese mereologische Unterscheidung vermag wiederum eine weitere wichtige Differenzierung zu verdeutlichen, nämlich diejenige zwischen Unsinn und Widersinn: Ein unsinniger Ausdruck ist ein synkategorematischer ›Worthaufen‹ (etwa ›traurig Dreieck hinüber‹), dessen Bildung schon die grammatischen Regeln verbieten, während ein widersinniger Ausdruck zwar richtig gebildet ist (etwa ›hölzernes Eisen‹) und dieser in kategorematischer Hinsicht einfach ist, es aber niemals einen Gegenstand geben kann, auf den sich ein solcher Ausdruck bezieht. Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, Sinn nicht nur vom Widersinn, sondern auch vom Unsinn zu unterscheiden, entwickelt Husserl die Idee einer »Universalgrammatik« (Hua XIX/1, 344 ff.; Sokolowski 1988), die den Anspruch erhebt, die Strukturen darzustellen, die allen Sprachen bzw. jeder möglichen Sprache zugrunde liegen. Schon im Zusammenhang mit seinen arithmetischen Forschungen war Husserl auf die Spannung zwischen der Logik als reiner Formenlehre und der Logik als Verfahrenslehre gestoßen, eine Spannung, die dann auch in anderen Sinnsystemen wiederkehrt. Denn logische Ordnungen weisen nicht nur interne Bezugsregeln auf, sie dienen auch der Bedeutungsgenerierung. Einerseits muss also gewährleistet werden, dass das, worauf in den Aussagen Bezug genommen wird, in seiner Eigenständigkeit einen objektiven Bestand hat, andererseits jedoch auch erklärt werden, warum die Referenzgegenstände erst durch die intentionalen Bezugnahmen in einem bestimmten Verwendungszusammenhang bedeutsam wer-
I.3. Logische Bedeutung und sprachlicher Ausdruck
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den. Geometrische Gesetze sind demzufolge überzeitlich, und doch entfalten sie erst durch konkrete Anwendungen ihre normative Kraft. Was bei idealen Objekten der Fall ist, kann Husserl zufolge allgemein auf das Phänomen der Bedeutung übertragen werden. Wenn wir nach der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks fragen, meinen wir »selbstverständlich nicht dieses hic et nunc geäußerte Lautgebilde […], den flüchtigen und identischen nimmer wiederkehrenden Schall« (XIX/1, 48 f.), sondern das in der Bedeutungsintention Gemeinte. Die Bedeutungsintention fällt (wie Husserl in Gegenstellung zum Psychologismus betont) nicht mit dem psychischen Erlebnis des Meinens zusammen, sondern fundiert die Bedeutung als eine ideal-identische Einheit (Benoist 2001a). Zugleich gibt es sprachliche Bedeutung aber nur dadurch, dass sie sich in irgendeiner konkreten Form verkörpert, sei es in der mitteilenden (mündlichen oder schriftlichen) Rede oder im inneren Monolog. Dabei muss, wie Husserl hervorhebt, zwischen bloßen ›Anzeichen‹ (Merk- oder Hinweiszeichen) und ›Ausdrücken‹ als ›bedeutsamen Zeichen‹ unterschieden werden (Hua XIX/1, 30 ff.). Erst ein bedeutungsverleihender Akt verhilft dem materiellen Zeichen zu einer inhaltlichen Bedeutung. Der ›bedeutungsverleihende‹ Aspekt darf wiederum nicht mit dem ›bedeutungserfüllenden‹ Aspekt verwechselt werden: ›Bedeutungserfüllend‹ sind Akte, die dem Ausdruck eine anschauliche Fülle verleihen und ihn auf die darin ausgedrückte Gegenständlichkeit beziehen (wiewohl dieser Bezug streng genommen nicht nötig und damit dem Aussagegehalt außerwesentlich ist: Auch ohne eine erfüllende Anschauung ist ein Ausdruck bedeutsam, weil die Bedeutung nicht an einen konkreten reellen Bewusstseinsinhalt, sondern nur an einen Inhalt in specie geknüpft ist). Diese Feststellungen lassen sich allerdings nur für die Logischen Untersuchungen vornehmen, denn in späterer Zeit verlagert sich Husserls Begrifflichkeit. Mit der transzendentalen Wende, die spätestens in den Ideen (1913) dokumentiert ist, geht bedeutungstheoretisch auch eine semantische Verschiebung einher: Während er in den Logischen Untersuchungen die Wörter »Sinn« und »Bedeutung« noch synonym verwendet (Hua XIX/1, 58), hebt Husserl nun den Begriff der Bedeutung als sprachlich artikulierte, »›logische‹ oder ›ausdrückende‹ Bedeutung« von dem allgemeiner gefassten Begriff des Sinns als noematischem Gehalt ab (Hua III/1, 256 f.; C.I.4). Mit der transzendentalphilosophischen Grundlegung der Bedeutungstheorie taucht zudem eine Reihe neuartiger Probleme auf, die in der Forschung bis heute kontrovers diskutiert werden. Anders als die Positionen einer realistischen Semantik etwa behauptet der Husserl der Ideen nicht, dass die Bedeutung jeder Aussage auf eine bewusstseinsunabhängige Tatsache bezogen werden kann. Vieles steht und fällt damit, welche ontologische Tragweite Husserls Begriff des Noema zugestanden wird. Zunächst einmal etablierte sich innerhalb der Phänomenologie ein gewisser Konsens darüber, dass das Noema nicht mit dem Denotat verwechselt werden darf. Aron Gurwitsch erklärte das Noema am Beispiel des perspektivischen Sehens: Nie nehmen wir das Haus als Ganzes wahr, sondern immer nur eine Häuserfassade; dennoch erschöpft sich der Ge-
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genstand Haus nicht in seinen Hinsichten. Der noematische Gehalt ist somit im Aktbezug solches, was konkret ›gesehen‹ wird (Gurwitsch 1957/1975). Von dieser Interpretation weicht diejenige von Dagfinn Føllesdal ab, insofern nun nicht mehr die Wahrnehmung das Modell abgibt, sondern die Urteilsstruktur: Husserls Konzept des Noema sei, so Føllesdal, (im Unterschied zu: extensional) intensional zu verstehen und mehr oder weniger restlos mit Freges Begriff des Sinns gleichzusetzen (Føllesdal 1969). In Über Sinn und Bedeutung (1892) weist Frege bekanntlich darauf hin, dass man lange Zeit davon ausging, Abend- und Morgenstern stünden für zwei verschiedene Himmelskörper, bis man entdeckte, dass es sich jeweils um den Planeten Venus handelt. In diesem Beispiel wäre die Venus das Denotat (die ›Bedeutung‹), während ›Abendstern‹ und ›Morgenstern‹ einen jeweils unterschiedlichen ›Sinn‹ hätten. In dieser Lesart entspräche Freges Trias Name – Sinn – Bedeutung dann bei Husserl die Trias Akt – Noema – Gegenstand. Während diese intensionale Interpretation (der auch Autoren wie David Wood ruff Smith und Ronald McIntyre anhingen und die als ›Westküsteninterpretation‹ bekannt wurde) von einer grundsätzlichen Adäquatheit von Noema und Gegenstand ausgeht, postuliert die von Gurwitsch inspirierte perzeptive Interpretation eine grundsätzliche Inadäquatheit zwischen beiden. Überhaupt zeigt sich, dass sich das Ideal mathematischer Definitheit, die Husserl anfangs verfolgt (Lohmar 1989, 183–197), schwerlich in gleicher Weise auf alle Sinnbereiche anwenden lässt. Wiewohl bei Husserl stellenweise immer wieder das hilbertsche ›Vollständigkeitsaxiom‹ als Modell aufblitzt (Hua III, 168, Fn. 1), wird auch immer deutlicher, dass die einzelnen Phänomenbereiche in ihrer Eigengesetzlichkeit beschrieben werden wollen. Während die mathematische Bedeutungstheorie erst einmal darauf abhebt, Umfangsgleichheit festzustellen (etwa: alle gleichseitigen Dreiecke sind auch gleichschenklige Dreiecke), kann sich eine lebensweltliche Bedeutungstheorie nicht auf Probleme des semantischen Umfangs beschränken. Dass die Ausdrücke ›der Sieger von Jena‹ und ›der Besiegte von Waterloo‹ gleichermaßen auf die Person Napoleon bezogen sind, sagt noch nichts darüber aus, welche Assoziationen in dem ›Wie des Gemeintseins‹ jeweils im Spiel sind. Mit der Hinwendung zum Sinngeschehen in natürlichen Sprachen stößt Husserl auch vermehrt auf das Problem der Vagheit vieler Alltagsausdrücke; ein Problem, dem er in Formale und transzendentale Logik ausführlicher nachgeht (Hua XIX/1, 92 ff.; Hua XVII, 61 ff.). Aufgrund ihrer Vieldeutigkeit ist die Sprache nur »ein höchst unvollkommenes Hilfsmittel der strengen Forschung« (Hua XVIII, 38). Der Ausdruck ›Löwe‹ besitzt keinesfalls die gleiche Eindeutigkeit wie ›die Quadratwurzel aus 2‹: Unklar ist, ob sich der Ausdruck auf einen bestimmten Löwen aus Fleisch und Blut bezieht, ob es um den allgemeinen Begriff geht, der in einer bestimmten Sprachgemeinschaft geteilt wird und der dann etwa austauschbar wäre mit dem kulturell aufgeladenen Ausdruck ›König der Tiere‹, oder etwa um einen zoologischen Gattungsbegriff (also als diejenige Tiergattung, die im linnéschen System als Leo bezeichnet wird). Im Unterschied zum späteren
I.3. Logische Bedeutung und sprachlicher Ausdruck
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sprachphilosophischen Kontextualismus eines Willard Van Orman Quine beispielsweise, der an der restlosen Austausch- und Übersetzbarkeit von Begriffen zweifelt, hält Husserl an der idealen Objektivität des Gemeinten fest. Dennoch finden sich in seinem Werk Zugeständnisse an einen gewissen Kontextualismus, wenn Husserl über die ›Okkasionalität‹ (und damit die Situationsgebundenheit) von deiktischen oder indexikalischen Ausdrücken schreibt. An Wörtern wie ›dies‹, ›hier‹ oder ›jetzt‹, die auf die jeweilige Situation des Sprechers verweisen, versucht er zu zeigen, dass Ausdrücke, bei denen man geneigt sein könnte, von einem »Schwanken der Bedeutung« zu sprechen, zwar eine zusammengesetzte, im Grunde aber doch ideal einheitliche Bedeutung aufweisen (Hua XIX/1, 83 ff.). Fraglich erscheint allerdings, ob sich daraus mit Husserl ableiten lässt, »daß, ideal gesprochen, jeder subjektive Ausdruck […] durch objektive Ausdrücke ersetzbar ist« (Hua XIX/1, 95). Im Kontext der Lebenswelt-Phänomenologie des Spätwerks rückt dann die Frage in den Vordergrund, wie subjektiv Erfasstes durch Versprachlichung intersubjektive und somit objektive Geltung gewinnt. Damit geraten die Dimensionen der intersubjektiven Verständigung, Kultur und Geschichte in den Blick. So entwirft Husserl unter anderem eine Phänomenologie der Mitteilungsgemeinschaft (Hua XV, 461–479) sowie der kommunikativ hergestellten Objektivität (Hua IV, 196) und untersucht die Rolle der Sprache bei der Konstitution der Umwelt als »Heimwelt« (Hua XV, 218–227) einer Sprach- und Kulturgemeinschaft. Ausschlaggebend ist für ihn dabei, dass die Umwelt durch den intersubjektiven Erfahrungsaustausch in einer Mitteilungsgemeinschaft nicht nur zur Heimwelt dieser bestimmten Gemeinschaft in Abgrenzung zu einer anders aufgebauten »Fremdwelt« wird, sondern zugleich zur objektiven, letztlich allen sprachfähigen Wesen gemeinsamen Welt. Wie Husserl in der Beilage III zu § 9 der Krisis-Schrift erklärt, setzt das objektive Sein der Welt die Sprache als »allgemeine Sprache« der Menschheit voraus: »So sind Menschen als Menschen, Mitmenschheit, Welt – die Welt, von der Menschen, von der wir je reden und reden können – und andererseits Sprache untrennbar verflochten« (Hua VI, 370). Dabei beschreibt er die Genese logischer wie auch geometrischer Idealitäten als einen geschichtlichen Prozess, als »lebendige Bewegung des Miteinander und Ineinander von ursprünglicher Sinnbildung und Sinnsedimentierung« (Hua VI, 380). Letztlich geht es Husserl im Spätwerk (wie seine Überlegungen zur Sprache in Formale und transzendentale Logik und Erfahrung und Urteil belegen) nach wie vor um eine Fundierung der Logik. Während er in den Logischen Untersuchungen allerdings noch davon ausging, dass der sprachliche Ausdruck lediglich eine Art äußerliches »Kleid des Gedankens« liefert, stellt er nun heraus, dass jede begriffliche Bedeutung der »sprachlichen Verleiblichung« in einem »Sprachleib« bedarf, um sich aus einem »bloß innersubjektiven Gebilde« in einen objektiven, für jedermann verständlichen Begriff oder Sachverhalt zu verwandeln (Hua VI, 369; XVII, 19 f.). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Beschäftigung mit sprachlichen Phänomenen fast durch das gesamte Œuvre Husserls zieht (von
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der Sprachförmigkeit logischer Aussagen bis hin zur Sprachabhängigkeit intersubjektiver Kommunikation), sich darin die Sprachphilosophie allerdings weder als eigenständige Disziplin noch zu einer Art ›Universalschlüssel‹ entwickelt, wie das etwa in der angloamerikanischen Analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts der Fall war. 4. Phänomenologie der ›sprechenden Sprache‹ Eine eigenständige Sprachphilosophie, die an diese husserlschen Impulse anschließen würde, sucht man in den späteren Entwicklungen der Phänomenologie vergeblich. Bestenfalls wären Seitenbezüge zu erwähnen, wie etwa Anton Martys an Brentano anknüpfendes Projekt einer Grundlegung einer allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie (1908) oder die Arbeiten des niederländischen Sprachwissenschaftlers Hendrik Pos (1939). Vielerlei thematische Bezüge tun sich ferner auch zu nichtphänomenologischen Ansätzen auf, wie etwa denjenigen von Ernst Cassirer ( D.V) oder Karl Bühler. Wie ist zu erklären, dass im Rahmen der Phänomenologie keine separate Sprachtheorie entwickelt wurde? Heideggers Erklärung dazu lautet, dass der Logos, der im Namen der Phänomenologie gleichwohl prominent enthalten ist, dort immer nur eine Hilfsfunktion erhält, nämlich als apophantischer, ›aufzeigender‹ Logos, dessen Zielaufgabe darin besteht, das Phänomen (phainomenon) zur Verständlichkeit zu bringen (SuZ, § 7b). Tatsächlich schreibt Husserl, Gegenstand der Phänomenologie sei die »noch stumme Erfahrung, die nun erst zur reinen Aussprache ihres eigenen Sinns zu bringen ist« (Hua I, 77). Heidegger gehört selbst zu denjenigen durch die Phänomenologie geprägten Denkern, die der Sprache eine ganz eminente Rolle zumessen. Während er die Logik als nach dem ›Wesen der Sprache‹ verstanden wissen will (GA 38), wird die Sprache im späteren Werk Heideggers sogar zum »Haus des Seins« (GA 5, 310). Anders als das Sprachdenken seines Zeitgenossen Wittgenstein etwa, zu dem es durchaus erstaunliche inhaltliche Bezüge gibt (Flatscher 2011), waren dessen Einflüsse im Wirkfeld der Sprachwissenschaft gleichwohl äußerst verhalten. Ganz anders Maurice Merleau-Ponty, der selbst immer wieder die Nähe zur Linguistik suchte und der vielleicht als bester Kandidat für einen genuin phänomenologischen Beitrag zur Sprachwissenschaft gelten kann. Laut Merleau-Ponty darf bei der Beschäftigung mit dem Zur-Sprache-Bringen der Erfahrung nicht die Erfahrung der Sprache selbst vergessen werden. Überhaupt kann, wer sich mit der Philosophie der Sprache beschäftigt, das Problem der Sprache der Philosophie nicht unangetastet lassen. So greift Merleau-Ponty in dem programmatischen, auf dem ersten internationalen Kongress für Phänomenologie in Brüssel gehaltenen Vortrag Sur la phénoménologie du langage (Mer leau-Ponty 1951) Husserls Rede vom ›Sprachleib‹ auf, kritisiert aber die Idee einer reinlogischen Universalgrammatik. Im Unterschied zu Husserl geht es Merleau-Ponty nicht primär um das Verhältnis von Sprache und Logik, sondern all-
I.4. Phänomenologie der ›sprechenden Sprache‹
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gemein darum, wie Erfahrung zur Sprache kommt. Dabei schreibt er dem sprachlichen Ausdruck im Gegensatz zu Husserl eine eigene Produktivität, d. h. ein schöpferisches, sinnstiftendes Potenzial zu. So entwickelt Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung eine Phänomenologie der ›sprechenden Sprache‹ oder der ›redenden Rede‹ (französisch langue bzw. parole parlante), die sich insofern als ›sprechend‹ erweist, als sie es erlaubt, immer wieder auf neue Weise etwas Neues zu sagen (Merleau-Ponty 1945/1966, 202 ff./207 ff.). Wie er in der unvollendeten, um 1950/51 entstandenen Schrift Die Prosa der Welt ausführt, besteht der Beitrag der Sprache zu Erfahrung und Denken nicht nur darin, dass sie ihren Gegenständen die Form des Begrifflichen verleiht (wie Husserl in den Ideen erklärt; Hua III/1, 257), sondern darin, dass sie immer wieder das ›Aufkommen‹, die ›Ankunft‹ oder ›Heraufkunft‹ (avènement) neuen Sinns herbeiführt (Merleau-Ponty 1969/1984, 112/99). Demnach ist die Sprache nicht bloß »das schlichte Kleid eines sich selbst in Klarheit besitzenden Denkens« (Mer leau-Ponty 1951–52/2003, 107); vielmehr hat sie Teil an der Genese des Sinns der Erfahrung, indem sie den in der Wahrnehmung angelegten »Logos der sinnlichen Welt« (Merleau-Ponty 1995/2000, 290/308) aufnimmt und verwandelt. Einen methodischen Zugang zur Sprache sucht Merleau-Ponty im Rückgang auf die Situation der Kommunikation bzw. der Rede. So begreift er die Phänomenologie der Sprache »nicht als einen Versuch, die existierenden Sprachen in den Rahmen einer Eidetik einer jeden möglichen Sprache einzufügen […], sondern als Rückgang auf das redende Subjekt, auf meinen Kontakt mit der Sprache, die ich spreche.« (Merleau-Ponty 1951, 75) Der Sinn der Rede ist demnach nicht nur als Bedeutungsintention, d. h. als Bewusstseinsinhalt zu betrachten: Die Weise, wie jemand etwas zur Sprache bringt, zeugt vielmehr von der Haltung, die er/ sie gegenüber den Dingen und gegenüber dem Gesprächspartner einnimmt. Das sprachliche Verhalten ist daher Merleau-Ponty zufolge im Kontext des leiblichen Verhaltens sowie des Sozialverhaltens des/der Redenden zu betrachten. Dabei stellt er in Die Struktur des Verhaltens wie auch in späteren Schriften immer wieder heraus, dass Aphasien, d. h. pathologische Sprachstörungen, Aufschluss über den Spielraum im Verhältnis des Menschen zur Welt geben, insofern sie mit Adhémar Gelb und Kurt Goldstein (1920) nicht als lokale Defekte, sondern als Symptome einer grundlegend veränderten Erfahrung zu begreifen sind (Mer leau-Ponty 1942/1976). Hinweise auf die Variabilität der Erfahrung liefert für ihn auch der kindliche Spracherwerb, der über die vor allem von Roman Jakobson (1969) beschriebene Aneignung der Phoneme verschiedene Stadien der sprachlichen Welterschließung durchläuft (Merleau-Ponty 2001/1994, 23– 87/23–100). In der Phänomenologie der Wahrnehmung führt Merleau-Ponty das Konzept der ›sprechenden Sprache‹ ein. Seiner Auffassung nach besteht das »Wunder« des sprachlichen Ausdrucks darin, dass »das Wort, als ein echtes Wort, einen neuen Sinn erstehen [lässt]« (Merleau-Ponty 1945/1966, 226/229). Dabei setzt er das Sprechen in Analogie zum leiblichen Ausdrucksverhalten: »Die sprachliche Ges-
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te bringt, wie jede andere Gebärde, ihren Sinn selbst hervor.« (Ebd., 217/220) Im Unterschied zur leiblichen Gebärde knüpft der sprachliche Ausdruck allerdings immer an ein Netz bereits konstituierter Bedeutungen an. So arbeitet die »sprechende Sprache« (parole parlante), in der uns »die Bedeutungsintention in statu nascendi« begegnet, Merleau-Ponty zufolge mit den »sedimentierten« Bedeutungen einer bereits etablierten, »gesprochenen Sprache« (parole parlée) als einer Institution, die sich durch die sprachliche Sinnstiftung immer wieder erneuert (ebd., 229 f./232 f.). Während der sprachliche Ausdruck in der Phänomenologie der Wahrnehmung vornehmlich vom leiblich-gestischen Ausdrucksgeschehen her gedacht wurde, führt Merleau-Pontys ausführliche Auseinandersetzung mit der Sprachwissenschaft dazu, dass das Sinngeschehen weniger vom individuellen Ausdruck als von einem anonymen, sich selbst organisierenden Sinn her entworfen wird. Ein Grundgedanke ist dabei die Differenzialität im Feld der Zeichen, den er von Ferdinand de Saussure übernimmt: Im Feld der Zeichen gibt es keine intrinsischen Identitäten, der Wert eines Zeichens ergibt sich lediglich durch die Differenz zu allen anderen Zeichen im Zeichenfeld. Diese interne Selbstdifferenzierung, durch die Sinn entsteht, charakterisiert Merleau-Ponty auch als eine ›diakritische‹ Struktur, und überhaupt geht die Merleau-Ponty-Forschung davon aus, dass nach 1945 eine strukturalistische Wende einsetzt, womit das Sinngeschehen fortan als differenzielle Negativität beschrieben wird, die aus den Leerstellen einen produktiven Überschuss generiert (Alloa 2013; Giuliani-Tagmann 1983, 102 ff.). In Die Prosa der Welt erkennt er dann in dem »Wunder des Ausdrucks« ein unhintergehbares »Paradox« (Merleau-Ponty 1969/1984, 156/128, 160/130 f.): Wie Merleau-Ponty betont, bleibt im Prozess des Zur-Sprache-Bringens der Erfahrung immer ein »Überschuss des zu Sagenden über das Gesagte«, während durch die Ausdruckstätigkeit zugleich ein gewisser »Überschuss des Gesagten über das zu Sagende« produziert wird (ebd., 9/28; Waldenfels 1995a, 105–123). Paradoxerweise führt die Sprache demnach nur dadurch »zu den Sachen selbst«, dass sie die Ausdrucksmittel der »gesprochenen Sprache« immer wieder auf neue Weise zum Einsatz bringt, gemäß einem individuellen Stil, durch den das zu Sagende (wie Merleau-Ponty mit einem Wort von André Malraux sagt) einer »kohärenten Verformung« unterzogen wird (Merleau-Ponty 1969/1984, 85 f./81 f., 160/131). Dies verdeutlicht Merleau-Ponty vor allem an Beispielen aus der Literatur (wobei er sich unter anderem mit Sartres Schrift Was ist Literatur? auseinandersetzt; Sartre 1947/1981) sowie durch Vergleiche mit der »indirekten« oder »stummen Sprache« der Malerei (Merleau-Ponty 1969/1984, 66 ff./69 ff.). Die sinnbildende Kraft der Sprache zeigt sich für ihn jedoch nicht nur in der Dichtung, sondern auch in den immer wieder neuen Begriffsprägungen der Philosophie und der Wissenschaft. Daraus ergibt sich für ihn die Perspektive einer offenen, unabschließbaren Geschichte einer immer aufs Neue »zu machenden Wahrheit« (Merleau-Ponty 1951–52/2003).
I.4. Phänomenologie der ›sprechenden Sprache‹
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In dem Fragment gebliebenen Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare schreibt Merleau-Ponty der Sprache schließlich eine grundlegende ontologische Bedeutung zu (zu der Frage, inwieweit er dabei von Heidegger beeinflusst ist, Lawlor 2003). War er in der Phänomenologie der Wahrnehmung noch davon ausgegangen, dass dem Bewusstsein die rein vorsprachliche Schicht eines »schweigenden Cogito« zugrunde liegt (Merleau-Ponty 1945/1966, 459 ff./ 456 ff.), so weist er diesen Gedanken jetzt zurück (Merleau-Ponty 1964/1986, 224 f./222). Im Kontext einer Neubeschreibung des leiblichen Seins zur Welt durch den Begriff des ›Fleisches‹ (la chair) spricht er nun von einer »chiasmatischen Verflechtung« von Wahrnehmung, Denken und Sprache (ebd., 172 ff./172 ff.; für einen Überblick über den Begriff des ›Fleisches‹ allgemein Alloa 2012). Wenn er dabei mit einem Wort von Paul Valéry bemerkt, »in gewissem Sinne ist die Sprache alles« (Merleau-Ponty 1964/1986, 203/203), so heißt das nicht, alles sei Sprache. Zwar ist das Nichtsprachliche, wie Merleau-Ponty herausstellt, reflexiv nur fassbar im philosophischen Sprechen darüber; die schöpferische, ›fungierende Sprache‹ (langage opérant) spürt jedoch einem noch nicht Gesagten, zu Sagenden nach und bewahrt so den Bezug zur stummen Welt einer Erfahrung, deren Sagbarkeit immer erst zu erweisen ist. Merleau-Pontys Begriff eines noch nicht in konventionelle Wortbedeutungen überführten »wilden Sinns« (ebd.) verweist damit auf einen unhintergehbaren Abstand zwischen Erfahrung und Ausdruck. So vermeidet Merleau-Ponty einen undifferenzierten »Lingualismus« (Waldenfels 1992, 70) und bewahrt den Weltbezug, die »realistische Tendenz« der Phänomenologie »zu den Sachen selbst« (Tengelyi 1998a, 23). Die eine Welt der Wahrnehmung stellt sich dabei als vielgestaltige, stets im Wandel begriffene Kulturwelt dar, in der sich die Verständigung zwischen bestehenden, einander fremden Kulturen »in der wilden Region abspielt, in der sie alle entstanden sind« (Merleau-Ponty 1964/1986, 154/154; Gamboa 2012, 183 ff.; Breitling 2017). Neben der ausführlichen Behandlung von Husserls Krisis-Beilage zum »Ursprung der Geometrie«, die für Jacques Derrida zum Ausgangspunkt der dekon struktiven Wende wurde ( B.III.4) und der Merleau-Ponty bereits 1959/60 eine Vorlesung widmete, in der er von der notwendigen historischen Verkörperung der Idealitäten spricht (Merleau-Ponty 1998), rückte gerade die Sprach- und Ausdrucksthematik in den vergangenen Jahren wieder vermehrt in den Fokus der Aufmerksamkeit (Dastur 2001; Kristensen 2012; Noble 2014; Alloa 2017), nicht zuletzt im Zuge der Veröffentlichung der Vorlesungen am Collège de France und zumal der Vorlesung zum literarischen Sprechen (Recherche sur l’usage littéraire du langage, 1953; Merleau-Ponty 2013) sowie der genuin sprachphilosophischen Vorlesung (Le problème de la parole, 1953/54; MerleauPonty 2020).
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D. Wirkfelder
5. Einsätze und Entwicklungen phänomenologischen
Sprachdenkens Nicht die Sprache, sondern die nicht- oder vorsprachliche, vorprädikative Erfahrung, vor allem die leibliche Wahrnehmung, gilt als die eigentliche Domäne der von Husserl begründeten Phänomenologie. Geht es um Ausdrucksverhalten oder Verständigung, rücken in phänomenologischer Sicht Körpersprache und Formen der nonverbalen, leiblichen Kommunikation in den Blick; das Denken wird mitunter auch als nichtsprachliches thematisiert (Lohmar 2016). Dennoch bieten Husserls Überlegungen zur Sprache ebenso wie die von Merleau-Ponty entwickelte Phänomenologie der ›sprechenden Sprache‹ vielfältige Anknüpfungspunkte für ein weites Spektrum sprachphilosophischer Untersuchungen. Dies belegen unter anderem Schwerpunkthefte der Phänomenologischen Forschungen (Orth 1977; 1979; 1988) sowie zahlreiche Einzelstudien und Sammelbände zur Phänomenologie der Sprache (Trinks 1998; Mattens 2008; Alloa/Fischer 2013). Neuere Arbeiten über bzw. im Anschluss an Husserl beziehen sich dabei nicht nur auf das Verhältnis von Sprache und Logik, sondern auch auf die im Spätwerk entwickelte Phänomenologie der Mitteilungsgemeinschaft und des ›Sprachleibes‹. An Merleau-Pontys Begriff der Sinnstiftung als »Institution« knüpft auf eigenständige Weise Marc Richir (1992/2001; 2000a) an, der in seinen Schriften zur Phänomenologie der Sprache der Weise nachgeht, wie der schöpferische sprachliche Ausdruck Prozesse der spontanen Sinnbildung fortschreibt (dazu Gondek/Tengelyi 2011, 41–113). Einsätze und Entwicklungen phänomenologischen Sprachdenkens finden sich zudem in der Sprachwissenschaft, in der hermeneutischen Philosophie bei Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer und Paul Ricœur ( B.III.3), in der Dekonstruktion nach Jacques Derrida ( B.III.4) sowie in der Ethik des Antwortens ( B.III.5). 5.1. Phänomenologische Motive in der Sprachwissenschaft
In seinen Untersuchungen zu Logik und Grammatik stützt sich Husserl wiederholt auf die Studien des Sprachforschers und Brentano-Schülers Anton Marty (1893). Seinerseits hat Husserl insbesondere auf Karl Bühler gewirkt, der sich in seiner Sprachtheorie kritisch mit der Lehre von den idealen Bedeutungseinheiten auseinandersetzt. In einer gewissen Nähe zu Husserls Analyse der »okkasionellen Ausdrücke« stehen Bühlers Untersuchungen zur Deixis; allerdings widerlegt er mit seiner trennscharfen Unterscheidung zwischen »Zeigwörtern« und »Nennwörtern« Husserls These der Ersetzbarkeit okkasioneller durch objektive Ausdrücke (Bühler 1999, 79 ff.). Phänomenologische Motive finden sich auch in der strukturalen Linguistik, vor allem bei Roman Jakobson (1969), auf dessen Studien zur Phonologie und zur Kindersprache sich Merleau-Ponty immer wieder bezieht. Jakobson beschränkt sich dabei nicht auf eine rein sprachimmanente Analyse phonetischer Elemente, sondern nimmt in phänomenologischer Einstel-
I.5. Einsätze und Entwicklungen phänomenologischen Sprachdenkens
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lung auch die vorsprachliche Erfahrung in den Blick, was Elmar Holenstein dazu veranlasst hat, unter Berufung auf Jakobson von der »Hintergehbarkeit der Sprache« zu sprechen (Holenstein 1980). Als weiterer Vertreter einer der Phänomenologie nahestehenden Sprachwissenschaft ist unter anderen der von MerleauPonty zitierte Hendrik Pos zu nennen, der als Vermittler zwischen Phänomenologie und Sprachpragmatik wirkte (Parret 1987). 5.2. Hermeneutische Phänomenologie
Die Sprache steht im Zentrum hermeneutischen Denkens, insofern es an die klassische Hermeneutik als Theorie der Auslegung oder Interpretation von Texten anknüpft. So bestimmt Heidegger im Rahmen der in Sein und Zeit entwickelten Fundamentalontologie die Rede als ein »Existenzial«, welches das Weltverhältnis des Daseins ursprünglich auszeichnet (SuZ, 160 ff.). Der Sprache kommt demnach die Aufgabe zu, ausdrücklich herauszustellen, als was das Erscheinende gemäß einem ersten Vorverständnis zunächst aufgefasst wird. Dieses in der Struktur des Verstehens angelegte »hermeneutische Als« wird durch das »apophantische Als« der Aussage ausgelegt, die etwas ausdrücklich als etwas Bestimmtes anspricht bzw. im Sinne des aristotelischen ἀποφαίνεσϑαι »sehen lässt« (GA 21, 133 ff.). Heidegger zufolge ist die Rede dabei »existenzial gleichursprünglich« (SuZ, 161) mit Verstehen und Befindlichkeit, den Grundstrukturen des Daseins als In-der-Welt-Seins. Demnach bringt sie nicht immer erst nachträglich zur Sprache, was implizit bereits in der vorsprachlichen Erfahrung liegt: Die Rede kann eine Sache auf eigene Weise erschließen und deren Vorverständnis von vornherein bestimmen. Im Zuge der seinsgeschichtlichen ›Kehre‹ seines Denkens fasst Heidegger die ontologische Bedeutung der Sprache grundsätzlicher durch das (oben bereits genannte) Wort von der Sprache als »Haus des Seins« (Pöggeler 1992). Der Satz »Die Sprache spricht« (GA 12, 12) bringt dabei die sinn- und dadurch weltbildende Kraft der Sprache auf ähnliche Weise zum Ausdruck wie Merleau-Pontys Rede von der ›sprechenden Sprache‹. An Heidegger anknüpfend spricht Gadamer in Wahrheit und Methode von der »Sprachlichkeit der menschlichen Welterfahrung« (Gadamer 1960/1990, 454, 472). Sein Konzept der Geschichtlichkeit des Verstehens entwickelt er dabei am Modell der »Dialektik von Frage und Antwort«, wobei er das Wesen der Sprache im Gespräch erkennt (ebd., 375 ff.). Den Universalitätsanspruch seiner philosophischen Hermeneutik bringt er schließlich mit dem Satz zum Ausdruck: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.« (Ebd., 478) Während sich Gadamer mit diesem vieldiskutierten Satz von der Phänomenologie entfernt, erinnert Ricœur, der als Hauptvertreter hermeneutischen Denkens in Frankreich gelten kann, in dem Aufsatz »Phénoménologie et herméneutique: En venant de Husserl« (Ricœur 1986a) an die phänomenologischen Voraussetzungen der Hermeneutik und konzipiert seine eigene, am Modell der Textauslegung orientierte Philosophie der Interpretation als eine »hermeneutische Variante« (Ricœur 1986b,
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D. Wirkfelder
25) der Phänomenologie. Welchen Anteil die Sprache an der Sinnauslegung der Erfahrung hat, untersucht er an sprachlichen Ausdrucksformen, Textgattungen und Figuren der Rede wie Metapher und Erzählung (Breitling 2013). So zeigt er in Die lebendige Metapher, wie die metaphorische Rede durch ›semantische Innovationen‹ eine ›Neubeschreibung der Wirklichkeit‹ bewirken kann (Ricœur 1975b/1991). In dem dreibändigen Werk Zeit und Erzählung vertritt er die These, dass die Zeit erst durch das Erzählen von Geschichten den Sinn der spezifisch menschlichen, ›geschichtlichen‹ Zeit annimmt (Ricœur 1983–1985/1988–1991). Ricœur zufolge kann die narrative Komposition oder ›Konfiguration‹ eines Geschehens bzw. einer Handlung (aufbauend auf einem Vorverständnis bzw. einer ›Präfiguration‹ der Welt menschlichen Handelns) zu einer ›Refiguration‹, d. h. zu einer Neu- oder Umgestaltung der Zeiterfahrung des Lesers oder Hörers einer Erzählung führen. Um dem Missverständnis zu begegnen, in diesem »Kreis der Mimesis« kreise die Sprache nur in sich selbst, führt er den Begriff einer »pränarrativen Struktur der Erfahrung« ein (Ricœur 1983/1988, 98, 118). Demnach hat »unsere wirre, formlose und letztlich stumme Zeiterfahrung« insofern den Charakter einer Art »Vorgeschichte«, als sie danach verlangt, erzählt zu werden (ebd., 10). Dabei beruft sich Ricœur auf die von dem Husserl-Schüler Wilhelm Schapp entworfene Phänomenologie der lebensweltlichen ›Verstrickung in Geschichten‹ (Schapp 1953/2012). Ähnlich wie für Merleau-Ponty zeigt sich für Ricœur im Rückverweis auf ein zu Sagendes im Gesagten die unaufhebbare Differenz von Erfahrung und Sprache (M. Schnell 2002; Liebsch 2002). Was die hermeneutische Phänomenologie im Sinne Ricœurs mit der Phänomenologie der Sprache nach Merleau-Ponty verbindet, ist dabei das Anliegen zu zeigen, dass der Sprache nicht nur eine welterschließende Funktion zukommt, sondern dass sie aufgrund der Dynamik sprachlicher Sinnstiftung bzw. der semantischen Innovation zugleich eine weltgestaltende Kraft entfaltet (Breitling 2017). 5.3. Dekonstruktion
Eine Weiterentwicklung, die an die Ränder der Phänomenologie führt, ist in der Dekonstruktion nach Derrida zu sehen. Sein kritisches Verfahren der Textinterpretation, das anknüpfend an Nietzsche und Heidegger auf eine metaphysikkritische »Verwindung« (Gondek/Tengelyi 2011, 391–432) der abendländischen philosophischen Tradition zielt, entwickelt Derrida zunächst in Auseinandersetzung mit Husserl. So stellt er in seinem Kommentar zur Beilage III der »Krisis« heraus, dass Husserl die Idealität der Bedeutungen paradoxerweise auf die Materialität sprachlicher Zeichen zurückführt, indem er in der ›Rückfrage‹ nach der Bedeutungsgenesis dem geschichtlichen Prozess der ›Idealisierung‹ nachgeht (Derrida 1963/1987). In Die Stimme und das Phänomen erkennt Derrida (1967/2003) in Husserls Theorie des Zeichens eine Metaphysik der Präsenz, die auf dem Phantasma einer unmittelbaren Selbstgegenwart des Bewusstseins in der Bedeutungsintention beruht. Gegen Husserls Privilegierung der Stimme gegen-
I.5. Einsätze und Entwicklungen phänomenologischen Sprachdenkens
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über der Schrift wendet Derrida ein, dass sprachliche Bedeutungen als ›Signifikate‹ im Sinne Ferdinand de Saussures durch ihre Bindung an einen Signifikanten (Lautgestalt oder Schriftbild) immer schon ›disseminiert‹, vervielfältigt und verstreut sind (Derrida 1972/1995). Die Wiederholbarkeit oder ›Iterabilität‹ sprachlicher Ausdrücke impliziert demnach eine Sinnverschiebung im Sinne der von Derrida so genannten différance (Derrida 1972/1999). In der Grammatologie, in der Derrida es unternimmt, die Sprache von der Schrift als »Ur-Schrift« her zu deuten, steht schließlich der provokante Satz: »Ein Text-Äußeres gibt es nicht.« (Derrida 1967/1988, 227/274) Aus phänomenologischer Sicht stellt sich dabei die Frage nach dem Weltbezug der Sprache, der von Derrida nicht geleugnet, aber sozusagen in den Text selbst mit seinen vielschichtigen intertextuellen Bezügen verlegt wird. 5.4. Ethik der antwortenden Rede
Ethisch-praktische Aspekte der sprachlichen Kommunikation thematisieren sowohl Derrida als auch Gadamer und Ricœur, wobei Ricœur (2004b) und Derrida (1996/2003) mit Blick auf die Herausforderungen der Verständigung im interkulturellen Kontext jeweils am Modell der Übersetzung (allerdings mit unterschiedlichen Akzenten) ein Konzept der ›sprachlichen Gastlichkeit‹ entwickeln. Mit der praktischen oder pragmatischen Dimension der Rede und der durch sie entstehenden sozialen Verbindlichkeit haben sich schon die Vertreter der Münchener Phänomenologie befasst (Schuhmann 1988b), und zwar mit den ›Sprechakten‹ des Fragens (Johannes Daubert), des Befehlens (Alexander Pfänder; 1909) und des Versprechens (Adolf Reinach; 1953). Eine Ethik, die ausgehend von der kommunikativen Situation des Antwortens die Verantwortung für den anderen Menschen in den Blick bringt, entwickelt Emmanuel Levinas. In Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger stellt er in Totalität und Unendlichkeit die irreduzible Asymmetrie im Verhältnis des Selben zum anderen Menschen als einem absolut Anderen heraus, die sich in der sprachlichen Kommunikation in der Differenz zwischen Anrede oder ›Anruf‹ (imperativisch verstanden als Anspruch) und Antwort zeigt (Levinas 1961/1987). In Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht vertieft Levinas seinen Ansatz, indem er die Differenz zwischen dem Sagen (le Dire) und dem Gesagten (le Dit) entfaltet, in der sich der Andere als Gesprächspartner der Thematisierung entzieht (Levinas 1974/1992, 6 ff./29 ff.). Die Kommunikation charakterisiert er dabei als das »Abenteuer (aventure) der Subjektivität«, das im Sich-Öffnen bzw. in der Öffnung (ouverture) gegenüber dem Anderen besteht, ein »Wagnis, auf das man sich einlassen muß« (ebd., 154/266 f.; Wiemer 1988). In der Zeichenstruktur, in der das Eine stets für das Andere steht (aliquid stat pro aliquo), liegt bereits ein ethisches Moment, insofern der sprachliche Ausdruck zwar nie ganz abbildet, was mit ihm gemeint ist, aber immerhin für ein Anderes eingestanden wird, das in seiner Bedeutsamkeit ernst genommen wird (Franck 2008). Als ein »Zeichen, das die Tatsache des Sagens
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als solche sagt« (Levinas 1967/1983, 326/293), stiftet die Sprache eine Verantwortung, die der Selbstbehauptung eines Subjekts vorausgeht (Breitling 2015). Die von Levinas entwickelte Ethik der Verantwortung greift Bernhard Waldenfels auf, wobei er sie in den Rahmen einer umfassenden Phänomenologie der ›Responsivität‹ bzw. der responsiven Rationalität und des Fremden stellt ( B. III.5). In Antwortregister zeigt er, dass sich in der Unausweichlichkeit des Antwortens auf den Anspruch des Anderen ein Spielraum vielfältiger Antwortmöglichkeiten auftut (Waldenfels 1994, 626 ff.). In Auseinandersetzung mit den maßgeblichen Strömungen der Sprachphilosophie und Linguistik der Gegenwart, insbesondere unter Aufnahme von Motiven der Phänomenologie MerleauPontys, der Dekonstruktion sowie der Diskursanalyse nach Michel Foucault, untersucht Waldenfels die ethische Dimension der Sprache ebenso wie die Vielstimmigkeit der Rede (Waldenfels 1999b), so unter anderem die Phänomene der Reflexivität des Sich-Sagens und der Modalisierung der Rede (Waldenfels 1994, 201 ff., 280 ff.). 5.5. Phänomenologie und analytische Sprachphilosophie
Fruchtbar war die Wirkung der Phänomenologie, wie bereits angedeutet, auch im Zusammenhang der analytischen Sprachphilosophie ( B.III.6) Besonders die phänomenologischen Beiträge im Bereich der Logik und der Bedeutungstheorie spielten in der Herausbildung des linguistic turn eine Rolle. Namhafte Autoren wie Michael Dummett argumentierten sogar, die Analytische Philosophie sei weniger angloamerikanischen als mitteleuropäischen Ursprungs, und zwar mit Franz Brentano und dem frühen Husserl als Gründungsfiguren (Dummett 1992). Um die Jahrhundertwende kann Wien geradezu als Wiege fast sämtlicher antiidealistischer philosophischer Strömungen des 20. Jahrhunderts angesehen werden. In diesem Sinne wäre dann die analytisch geprägte Sprachphilosophie weniger zwischen Oxford und Cambridge als zwischen Rhein und Donau entstanden (Roy 2010; Benoist 2001b). Emmanuel Alloa, Andris Breitling
II. Erkenntnistheorie und Metaphysik 1. Gibt es eine phänomenologische Metaphysik? In den Logischen Untersuchungen definiert Husserl die reine Phänomenologie als ein ›Gebiet neutraler Forschungen‹ über die wesentlichen Bestandteile und Beziehungen der Erfahrung im Allgemeinen und der Erfahrungen des Denkens und Wissens im Besonderen. Ihr Ziel ist es, die Quellen zu erschließen, aus denen die Grundbegriffe und die idealen Gesetze der reinen Logik entspringen, die die reine Logik konstituieren, einschließlich der Begriffe und Gesetze, von denen die ob-
II.1. Gibt es eine phänomenologische Metaphysik?
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jektive Bedeutung und theoretische Einheit aller Erkenntnis abhängt ( D.I). Aus dieser Perspektive ist die Methode der Phänomenologie rein deskriptiv, wenn sie auf die standpunktneutrale Charakterisierung der grundlegenden und allgemeinen Wesenheiten und Bedeutungen abzielt, die in der bewussten Selbstreflexion zutage treten. Als solche hat die Phänomenologie keine Erkenntnisse irgendeiner spezifischen empirischen Wissenschaft zur Voraussetzung. Stattdessen erörtert sie die Wurzeln der unterschiedlichen empirischen Wissenschaften, indem sie die wesentlichen Gesetze und Verbindungen, die ihren Grundbegriffen zugrunde liegen, so aufzeigt, wie sie der anschaulichen bewussten Erfahrung erscheinen. Wie Husserl in einer anderen Passage der Logischen Untersuchungen darlegt, müssen die grundlegenden theoretischen Unterscheidungen der Phänomenologie, wie die Unterscheidung zwischen Akt und Aktinhalt, als vor aller Metaphysik liegend und neutral in Hinsicht auf metaphysische Unterscheidungen angesehen werden. Die phänomenologische Reflexion auf intentionale Akte weist anders als die metaphysische Spekulation alle Unterscheidungen der logischen und kategorialen Form nach aus und gibt sie schlussendlich als gegenwärtige Anschauung. Wie Husserl in den Logischen Untersuchungen und in Formale und transzendentale Logik nahelegt, schließt dies die Entwicklung einer formalen Ontologie eines möglichst allgemeinen Objektbereichs ein, dessen Struktur durch die Untersuchung der formallogischen Basis ihrer möglichen Bedeutungen und der transzendentalen Logik der Wahrheit wie des Wissens erkannt werden kann. In Ideen I entfaltet Husserl die Implikationen der transzendentalen Epoché ( C.II.2), der phänomenologischen Methode des Einklammerns oder die Suspendierung der Setzung der natürlichen Welt, während er erneut die metaphysische Neutralität der Phänomenologie und deren absolute Freiheit von metaphysischen Voraussetzungen bekräftigt (zur Behauptung, dass Phänomenologie frei von Voraussetzungen sein muss, Hua III/1, § 63). Metaphysische Einsichten über die Struktur von Raum, Zeit und ontologischen Abhängigkeiten müssen mit den Mitteln der phänomenologischen Untersuchung gewonnen werden, d. h. mittels der Einklammerung der natürlichen Einstellung und der Erkenntnisse einer jeden natürlichen oder formalen Wissenschaft, durch die die kategoriale Anschauung der eidetischen Strukturen, die den Kategorien einer allgemeinen Ontologie zugrunde liegen, gewonnen wird. In der Folge haben Phänomenologen die vermeintliche methodologische und metaphysische Neutralität der phänomenologischen Forschung infrage gestellt (vgl. zur kritischen Diskussion der Möglichkeit einer phänomenologischen Metaphysik allgemein Keiling 2020). In Logik. Die Frage nach der Wahrheit (GA 21) und Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (GA 20) sieht Heidegger in Husserls Phänomenologie den entscheidenden Zugang zu einer Untersuchung des ontologischen Status von Gegenständen in Bezug auf die Zeit. Husserls Phänomenologie hat aber gleichwohl den metaphysischen und ontologischen Status der phänomenologischen Primärregion des Bewusstseins selbst nicht zu klären vermocht. Gemäß Heidegger ist Husserls Methodologie weit davon entfernt, frei von
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metaphysischen Voraussetzungen zu sein, und setzt diese Region tatsächlich als ein metaphysisches Absolutes. Das hat zur Folge, dass es Husserl in einem fundamentalen Sinn nicht gelingt, das Verhältnis zwischen zeitlicher Realität und dem, was er als »Idealität« (GA 21, 50 ff.) des Inhalts oder des Wesens versteht, die durch die phänomenologische Reflexion zugänglich werden, zu klären. Dadurch bleibt Husserls transzendentale Subjektivität radikal zweideutig: Das Bewusstsein des Subjekts erscheint sowohl als ultimative, reine und ideale Region, in der aller Sinn und alles Sein konstituiert werden, als auch als die reale, zeitlich situierte und endliche Erfahrung eines spezifischen Individuums (GA 20, 164–176). Da rin gelingt es Husserl nicht, das reale Dasein eines bewussten Subjekts als »einen realen Menschen« (GA 20, 139) mit einem konkreten Leben und einer Existenz in der Welt in voller Tiefe zu erforschen. In Sein und Zeit argumentiert Heidegger, dass das konkrete Leben und die Existenz, anstatt mit den Verfahren einer ontologischen Untersuchung des Daseins analysiert zu werden, diejenige Art des Seins ist, die durch die Sorge um sich selbst gekennzeichnet ist. Hier nimmt die Analyse von Existenzialien oder tatsächlich gelebten Strukturen des Lebens und gelebten Seins die Stelle der metaphysischen Kategorien der traditionellen Ontologie ein. Heidegger kritisiert an der traditionellen Ontologie – und zumindest implizit an Husserls Phänomenologie –, dass sie die Universalität einer Seinsweise, die Heidegger als ›vorhanden‹ bezeichnet, oder Dinge bezeichnet, die gegenständlich anwesend sind. Gegenständliche Anwesenheit in diesem Sinn meint, phänomenologisch und ontologisch in einer vorgängigen Zuhandenheit von Dingen in Bezug auf das tatsächliche Leben und die Projekte des Daseins fundiert zu sein (SuZ, §§ 15 f.). Die Ontologie von Dingen allgemein ist indes viel mehr auf einer reflexiven Interpretation oder einer Hermeneutik der Faktizität des Daseins gegründet denn auf einer abstrakten Idealisierung einer subjektiven Reflexion auf das Bewusstsein (GA 63). Für dieses Projekt aber sind Ontologie und Phänomenologie eng miteinander verbunden; in der Tat ist Philosophie selbst eine »universale phänomenolo gische Ontologie« (SuZ, 38), angeleitet durch eine Hermeneutik des Daseins. Gleichwohl bleibt die Methode des ontologischen Aufweisens formal in einem wichtigen Sinn: nämlich in dem Sinn einer ›formalen Anzeige‹ als einer ausdrücklichen Klärung der ›immer schon‹ vorausgesetzten Strukturen, in denen wir bereits leben und ein alltägliches, jedoch zumeist unausdrückliches Seinsverständnis haben (SuZ, § 17; vgl. van Buren 1995; Crowell 2001; Shockey 2011). Entlang ähnlicher Gedankengänge und in Aufnahme der Analyse Heideggers haben andere Phänomenolog:innen die Unmöglichkeit einer direkten phänomenologischen Ontologie unterstrichen. Für Merleau-Ponty und Ricœur z. B. können sich ontologische Kategorien nicht auf eine direkte phänomenologische Erkundung von Logik oder Seinsstrukturen gründen, sondern müssten stattdessen durch eine hermeneutische oder reflexiv-rückfragende Betrachtung der tiefergehenden Verbindungen leiblicher Existenz und narrativ strukturierten Lebens entwickelt werden. In den Arbeitsnotizen zum unabgeschlossenen Das Sichtbare und
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das Unsichtbare befasst sich Merleau-Ponty (1964/1986) mit nichtpropositionalen Dimensionen im Leben des Subjekts, die sich etwa in Phänomenen wie dem Unbewussten, der Alterität oder dem Alter Ego sowie der Leiblichkeit äußern ( C.I.9). Da all diese nicht unmittelbar und unverfälscht beschrieben werden können, folgt daraus, dass eine direkte Ontologie eines unmittelbar deskriptiven Zuschnitts, von der Husserl ausging, in sich unmöglich ist und dass die Phänomenologie mit stärker indirekten oder negativen Mitteln vorgehen muss (ebd., 178 f.). Indem er die Idee eines umfassenden interpretativen Zugangs zur Ontologie entwickelt, die auf historischem Kontext und diskursiver Struktur gründet, vertritt Ricœur (1969/1973, 14 f.) die Ansicht, dass sogar Heideggers eigene hermeneutische Untersuchung in einer gewissen Hinsicht zu direkt bleibt, insbesondere darin, dass sie direkt zur Untersuchung des Verstehens des Daseins fortschreitet, ohne die situativen, historischen und sprachlichen Kontexte angemessen in Anschlag zu bringen, in denen dieses sich notwendigerweise entfaltet (Ricœur (1969/1973, 14 f./19 f.). In Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht bezieht sich Emmanuel Levinas (1974/1992) auf Aspekte der klassischen Phänomenologie Husserls, um Heideggers ganze Konzeption der Ontologie als phänomenologischer Erster Philosophie herauszufordern. Wie die phänomenologische Überprüfung der tiefsten Bedingungen der Bestimmung der Gegenwart eines Anderen für das Bewusstsein verdeutlicht, so argumentiert Levinas, sollte die ultimative Grundlage für die Konstitution von so etwas wie dem Sinn des Seins im Verhältnis des Selbst zu dem gesehen werden, was ihm gegenüber radikal anders oder äußerlich ist. Aus diesem Grund sollte die Möglichkeit von Bedeutung primär in einer ethischen Beziehung der Verantwortlichkeit denn in einer ontologischen Frage nach der Bedeutung von Sein im Sinne Heideggers wurzeln. Jacques Derridas Projekt einer Dekonstruktion stellt auf andere Weise den Anspruch metaphysischer Neutralität der Phänomenologie infrage. Derrida folgt Heideggers Ruf nach einer kritischen Destruktion bzw. Dekonstruktion der Tradition westlicher Metaphysik seit den Griechen, einschließlich seiner grundlegenden Annahmen über das Verhältnis von Sein und Präsenz. Für Derrida bedeutet dies aber auch, dass die Phänomenologie Husserls auf ihre inhärenten metaphysischen Voraussetzungen hin befragt werden muss. In Die Stimme und das Phänomen unternimmt Derrida diese Befragung, insbesondere indem er die versteckten metaphysischen Voraussetzungen der Zeichen- und Bedeutungstheorie Husserls untersucht (Derrida 1996/2003). Derrida vertritt die These, dass Husserls phänomenologische Methode sich immer und wesentlich auf die grundlegende Voraussetzung einer Gegenwart von Sinn und Bedeutung für die phänomenologische Anschauung verlässt. Diese Voraussetzung der Gegenwärtigkeit gewährleistet nach Derrida, dass die phänomenologische Reflexion mit dem Aufweis einer jeden ontologischen, logischen oder epistemologischen Kategorie überhaupt fortschreiten kann. Nun ist diese Prämisse selbst wiederum abhängig von einer grundlegenderen Unterscheidung, die Husserl aus seiner Theorie der Bezeichnung in der ersten Logischen Untersuchung gewinnt: die zwischen Aus-
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druck und Anzeige. Für Husserl sind Ausdruckszeichen solcherlei Zeichen, die von einer bewussten Intention eines Sprechers getragen sind und daher die Kommunikation des vom Sprecher bewusst verstandenen Sinns ermöglichen, wogegen die indikativen Zeichen rein referenziell sind und keine intuitive Gegenwart von Sinn und Bedeutung benötigen. Im Zusammenhang weitergehender Überlegungen zur metaphysischen Struktur von Zeichen ist jedoch jedes Zeichen als solches dazu in der Lage, unbestimmt oft wiederholt oder iteriert zu werden, mit oder ohne Gegenwart einer bewussten Intention seines Urhebers. Im Allgemeinen, wie Derrida in seiner Einleitung zu Husserls spätem Text Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie zeigt (Derrida 1963/1987), liegt die Fähigkeit der Zeichen, beliebig oft wiederholt werden zu können, ohne ihre Bedeutung zu ändern, der Idealität des Mathematischen und anderen eidetischen Strukturen zugrunde. Husserls Versuch zu erklären, wie der Sinn solcher Strukturen sich ursprünglich im Inneren einer individuellen bewussten Erfahrung konstituiert, kann daher nicht erfolgreich sein, da dies eine allgemeine Metaphysik des Zeichens zur Voraussetzung hat, die sich nicht einer individuellen Bewusstseinsintentionalität unterordnen lässt. Husserls Versuch, Bedeutung, einschließlich der von Idealitäten und idealen Strukturen, an die bewusste Präsenz zu binden, ist eine letztlich unausgewiesene Annahme einer metaphysisch gefassten Selbstgegenwart: die selbstbewusste Vertrautheit des Selbst mit sich. Laut Derrida hat dies weitreichende Folgen gerade für die Methoden und Formen phänomenologischer Ausweisung. Husserls Versuch, nicht nur Erkenntnis und Bedeutung, sondern auch die Metaphysik der Zeit in einer ursprünglichen und basalen Form dessen zu begründen, was er ›lebendige Gegenwart‹ genannt hat, erweist sich einer komplexeren und paradoxalen Analyse der Zeit und der Form ihrer Gegebenheit als unterlegen. In der jüngeren Analytischen Philosophie des Geistes erlangten einige Ansätze Prominenz, die sich teils auf die Phänomenologie berufen. Inwieweit sich allerdings phänomenologische Ansätze in diesen neuen Kontexten wirklich verlässlich übernehmen bzw. anwenden lassen, bleibt jedoch bis heute kontrovers. Dagfinn Føllesdal hat eine einflussreiche Entsprechung zwischen Freges Begriff des Sinns eines sprachlichen Ausdrucks als Gegebenheitsweise seines Referenten und Husserls eigenem, weiten Begriff des ›noematischen Sinns‹ eines intentionalen Akts festgestellt (Føllesdal 1969). Føllesdals Vorschlag gemäß deutet Husserls Begriff auf die Weise auf die Tatsache hin, dass jeder intentionale Akt des Bewusstseins – wahrnehmend, denkend oder sonstwie kognitiv – sich den Bewusstseinsgegenstand selbst gibt. Ungefähr zur gleichen Zeit entwickelt Jaakko Hintikka, ausgehend von Modallogik und der Semantik möglicher Welten, in einer Reihe von Aufsätzen einen phänomenologisch motivierten Zugang zur Wahrnehmung und anderen distinkten Erste-Person-Inhalten im Sinne der Möglichkeiten, die ein gegebener Inhalt erlaubt oder ausschließt (Hintikka 1967; 1969). Im Kontext der Philosophie des Geistes und gegenwärtiger Diskussionen über bewusste Intentionalität erinnert John Searles Betonung der ›ursprünglichen‹ Intentionalität
II.2. Kritik des Repräsentationalismus
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des Bewusstseins, von der sich nach Searle die Intentionalität sprachlicher Ausdrücke erst herleitet, stark an Husserls Insistieren auf dem Primat eines gegebenen Inhalts in der bewussten Erfahrung (Searle 1992). Andere wiederum haben Zweifel daran angemeldet, ob sich die Phänomenologie überhaupt auf Fragestellungen anwenden lässt, die die Intentionalität, das Bewusstsein und Bewusstseinsinhalte betreffen. So genießen für Daniel Dennett beispielsweise im Zusammenhang einer philosophischen Perspektive auf Bewusstsein und Intentionalität, die durch die gegenwärtigen Kognitionswissenschaften informiert ist, ErstePerson-Aussagen über die Struktur oder das Wesen von Erfahrung nicht mehr Glaubwürdigkeit als jede vorwissenschaftliche Aussage allgemein (Dennett 1991). Da wir keinen speziellen oder privilegierten Zugang zu unserem mentalen Zustand besitzen, müssen diese durch eine Methode der ›Heterophänomenologie‹ untersucht werden, die mit Aussagen dieser Art beginnen mag, aber davon ausgeht, dass sie durch die Fortentwicklung kognitiv-wissenschaftlicher Erklärungen überwunden oder falsifiziert werden. Innerhalb der Debatten um die Aussichten auf eine Naturalisierung der Phänomenologie ( B.III.9) haben sich viele mit dem Verhältnis zwischen phänomenologischer Ontologie und der Ontologie der Natur- und Kognitionswissenschaften beschäftigt. Hier haben Philosoph:innen ein breites Spektrum an Positionen eingenommen. Auf der einen Seite des Spektrums vertreten einige die These, dass die Ergebnisse der phänomenologischen Eidetik Husserls in Kombination mit den Ergebnissen der Kognitionswissenschaften eine Grundlage für die Analyse der kognitiven Konstitution von Objektivität zur Verfügung stellen kann (Petitot 1999, 360–363). Am anderen Ende des Spektrums steht die Position, dass Husserls phänomenologische Analyse bestenfalls eine pluralistische kategoriale Ontologie bestimmter verschiedener ›Regionen‹ innerhalb der einen Welt begründen kann (D.W. Smith 1999). Phänomenologische Kategorien werden hier in dem Sinn naturalisiert, dass sie als innerhalb einer formal einheitlichen Welt operierend betrachtet werden. Aber die materialen Kategorien der Naturwissenschaften, einschließlich der Physik und der Biologie, werden nicht als ontologisch erschöpfend angesehen, besonders im Hinblick auf die Schwierigkeit, mit deren angestammten Begriffen Phänomene wie Intentionalität und Bewusstsein angemessen zu thematisieren. Stattdessen wird angesichts dieser Probleme auf der Ebene einer allgemeinen Ontologie vielfach Husserls eigene ursprüngliche Unterscheidung dreier möglichst allgemeiner Regionen der Natur, Kultur und des reinen Bewusstseins rehabilitiert. 2. Kritik des Repräsentationalismus: Internalismus,
Externalismus und Cartesianismus Husserls Denken liegt, beginnend mit den Logischen Untersuchungen, ein Begriff von Erkenntnis zugrunde, der auf der anschaulichen Selbstgegebenheit der Din-
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ge fußt. Wissen ist eine »Erfüllungssynthesis«, die der »Intention, z. B. der Urteilsintention, die absolute Inhaltsfülle, die des Gegenstandes selbst gibt« (Hua XIX/1, 651). Die adäquate Gegenwart des Objekts ist das Gegebensein eines Objekts in ›Selbstevidenz‹: Evidenz meint hier aber weder einen externen Verweis noch ein Zeichen als vielmehr die direkte Gegenwart des Dinges als solchen (Hua XIX/1, § 38). In dem derart bestimmten Begriff von Erkenntnis entfällt die Notwendigkeit, die Auffassung des äußeren Gegenstands durch eine interne Repräsentation zu vermitteln, sei es im Sinne der internen Ideen der Empiristen, sei es im Sinne der symbolischen oder kognitiven internen Repräsentationen neuerer Erkenntnistheorien. In den Cartesianischen Meditationen legt Husserl dar, dass die Phänomenologie dem Ausgangspunkt der Meditationen Descartes’ hinsichtlich der Ursprünglichkeit des subjektiven Bewusstseins folgt, Descartes aber durch eine Vergegenständlichung des Bewusstseins zu einer res cogitans und des Bereichs interner Repräsentation die Möglichkeit einer transzendentalen Reflexion der Erkenntnis wie des Sinns verfehlt. Die Aufgabe der Phänomenologie im Hinblick auf Erkenntnis ist primär eine Auseinandersetzung und Begründung der Art und Weise, wie intentionales Bewusstsein dazu in der Lage ist, Sinn von Objekten zu produzieren oder zu konstituieren, die ihm selbst transzendent sind, sodass sie nicht auf das eigene Ego eines Individuums zurückgeführt werden können. Während die Begründung oder die Evidenz, mit der ein Wahrnehmungsobjekt gegeben ist, als immanenter Aspekt des gebenden Aktes verstanden wird, verweist der transzendierende Aspekt des Aktes darauf, dass die Objekte in vielen Fällen mehr und anders sind als ihre jeweilige Erscheinung: in sich selbst und unabhängig von jeder Aktivität eines individuellen Bewusstseins oder individuell Wahrnehmenden. In Sein und Zeit entwickelt Heidegger diesen präsentativen Begriff von Erkenntnis und Bewährung im Kontext seiner eigenen Analyse der Strukturen des Daseins. Für Heidegger besteht Erkenntnis nicht in der Übereinstimmung oder Korrespondenz eines Bewusstseins mit seinem Gegenstand. Für ihn besteht Erkennen im direkten Anwesen des Objekts, wodurch es ganz so verfügbar wird, wie es in sich selbst ist (zu dem direkt präsentativen Verständnis von Bewahrheitung SuZ, 217 f.). Zur gleichen Zeit hinterfragt Heidegger die in seinen Augen cartesianische Annahme einer weltlosen, der Totalität einer objektiven Welt entgegengesetzten Subjektivität kritischer (SuZ, §§ 18, 43). Für Heidegger besitzt die theoretische Einstellung objektiver Erkenntnis der Welt ein tieferes Fundament in dem Phänomen des In-Seins des Daseins, wobei dieses immer schon in einer Vielzahl von praktischen Einlassungen und Bindungen involviert ist. Aus diesem Grund zieht der cartesianische Repräsentationalismus eine verzerrte Privilegierung theoretischen Erkennens gegenüber dem praktisch-besorgenden Eingelassensein nach sich. Laut Heidegger gibt es keinen Grund die Existenz einer Außenwelt zu beweisen oder zu verifizieren, da die theoretische Einstellung, in der ein derartiges skeptisches Problem überhaupt erst entsteht, in Wahrheit das Inder-Welt-Sein des Daseins bereits voraussetzt. Allgemeiner gesprochen hängen
II.2. Kritik des Repräsentationalismus
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philosophische Versuche, das Problem des Bezugs zwischen dem Physischen und dem Psychischen zu lösen, von der vorgängigen Angleichung beider an den Seinsmodus ab, den Heidegger Vorhandenheit nennt. Ontologisch grundlegender als der Unterschied vom Physischen und Psychischen ist die Tatsache, dass das Dasein konstitutiv je schon auf die Dinge und damit auf die Welt bezogen ist. In der Phänomenologie der Wahrnehmung entwickelt Maurice Merleau-Ponty diese Überlegungen in Richtung einer leiblich fundierten Phänomenologie weiter, in der der Gedanke der ›motorischen Intentionalität‹ zentral ist (der Umstand also, dass schon jeder körperlichen Bewegung eine gewisse Gerichtetheit innewohnt). Der Gedanke der motorischen Intentionalität ist zu Recht als Kritik von repräsentationalistischen und kognitivistischen Ansätzen in der Philosophie des Geistes gelesen worden ( C.I.2). Merleau-Pontys Kritik ist Teil einer breiteren phänomenologischen Stoßrichtung, die sich sowohl gegen den Empirismus – oder die Tendenz der Vergegenständlichung von Sinneswahrnehmungen zu basalen Einheiten der Erfahrung – und den Intellektualismus – oder den Versuch einer idealistischen Analyse der Wahrnehmung als Projektion von inneren Vorstellungen und Strukturen nach außen – richtet. In jüngeren Diskussionen hat sich Hubert Dreyfus mit Überlegungen im Anschluss an Heidegger auf MerleauPonty gestützt, um die repräsentationialistischen Grundannahmen methodologisch verschiedener philosophischer Projekte, einschließlich derer von Searle, McDowell und Husserl selbst, einer Kritik zu unterziehen (Dreyfus 2000; 2005). Innerhalb der analytischen Tradition war es bekanntermaßen Wilfrid Sellars, der den Mythos des Gegebenen bzw. die Annahme eines privilegierten Bereichs einer internen Erfahrung, deren Inhalt sowohl als unmittelbar zugänglich als auch als unabhängig von sprachlicher Konzeptualisierung, Gewöhnung und Überzeugungen gesehen wird, kritisiert hat (Sellars 1956). Diese Kritik ist eng verbunden mit den Einwänden, die in den 1940er- und 1950er-Jahren von Ryle und Austin gegen Konzepte von Innerlichkeit und Gegebenheit formuliert worden sind, und dem Privatsprachenargument in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen. Es ist die Ansicht vertreten worden, dass Husserl als eine Version von Sellars’ Mythos des Gegebenen zu verstehen ist, indem sie z. B. behaupten, seine Konzeption einer absoluten Korrelation von noetischen (oder immanenten) und noematischen (oder idealen) Komponenten des Gehalts eines Akts lege ihn auf eine unbefragte Gegebenheit eines als solchen strukturierten Gehalts fest ( B.III.8). Andere sind jedoch der Meinung, dass die Strenge der phänomenologischen Methode, die Konzeption des Gehalts in der Phänomenologie oder die Idee einer passiven Synthesis als Konstitutionsbasis für Sinn und Bedeutung in der Erfahrung belegt, dass Husserl einem solchen Mythos des Gegebenen nicht erliegt (Soffer 2003; Thompson/Zahavi 2007; Sachs 2012). Nach Hilary Putnam und Tyler Burge ist es für einen semantischen oder gehaltsbezogenen Externalismus unabdinglich, dass der intentionale Gehalt eines mentalen Zustands von der Existenz bewusstseinsexterner Faktoren oder Entitäten abhängt. Neuerliche Debatten über Husserls Auffassung des Noema-Begriffs
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und seine Theorie der Bedeutung haben sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob Husserl in diesem Sinn eher ein Internalist oder ein Externalist ist. Darauf bezogen haben einige wiederum in Heideggers Verständnis der Sorge, der Sprache und des praktischen Verhaltens in Sein und Zeit Anhaltspunkte für ein allgemeines, starkes pragmatisches und externalistisches Element in seiner Theorie der Intentionalität gesehen (Okrent 1988; Dreyfus 1991; Wrathall 2011, 97– 105). Heidegger könnte insofern der Position des sozialen Externalismus zugerechnet werden, als bei ihm sprachliche Bedeutungen immer schon von intersubjektiv vermittelten und geschichtlich-gesellschaftlich tradierten Praktiken abhängig sind. Andererseits ist auch eingewandt worden, Heideggers im (individuellen) In-der-Welt-Sein des Daseins begründete Hermeneutik der Bedeutung sei ein Hinweis darauf, dass sein Verständnis von Gerede oder Geschwätz überhaupt keinen ernst zu nehmenden sozialen Aspekt seiner Theorie intentionalen und semantischen Gehalts bietet und daher eher als internalistisch verstanden werden sollte. 3. Konzeptualismus vs. Nonkonzeptualismus:
Die Dreyfus-McDowell-Debatte In Mind and World schlägt John McDowell ein kantianisches Verständnis des Wahrnehmungsgehalts vor, der vom Begrifflichen durchdrungen ist: Bei dem Gehalt einer perzeptiven Erfahrung sei es nicht möglich, Bestandteile zu unterscheiden, die gänzlich nicht- oder vorbegrifflich sind (McDowell 1994). Gemäß McDowell ist eine derartige Konzeption notwendig, um zwei Extrempositionen zu vermeiden: entweder den Mythos eines vollkommen nichtbegrifflichen Gegebenen auf der einen Seite oder aber eine kohärentistische Position, bei der perzeptiv-sinnliche Überzeugungen wiederum nur durch andere rein begriffliche Überzeugungen gerechtfertigt sind. In McDowells Sicht sind die Vermögen, auf die bei der Wahrnehmung und beim Verhalten zurückgegriffen wird, nicht einmal grundsätzlich von denen zu trennen, die bei Schlussfolgerungen und begrifflichem Denken in Gebrauch sind. Seit 2005 hat Hubert Dreyfus diese Konzeption des Wahrnehmungsgehalts und des Verhaltens aus phänomenologischen Gründen dafür kritisiert, dass sie einen ›Mythos des Mentalen‹ zur Folge habe. Dies ist nach Dreyfus eine tiefgehend irreführende Sicht, nach der jede Erfahrung und Erkenntnis der Welt das Resultat eines expliziten, rationalen und propositional strukturierten Denkens ist. Gegen diese Position erinnert Dreyfus an MerleauPontys Beschreibungen des Versunkenseins – wie etwa die Tätigkeiten eines Fußballspielers, der ganz in dem Spiel aufgeht – und an Heideggers Überlegungen zur Art und Weise, wie unser praktisches Verhalten unseren rationalen, propositionalen und bewusst artikulierten Gedanken vorgängig ist. Für diese Phänomenologen, so unterstreicht Dreyfus, ruht eine vernünftige Artikulation, wie sie McDowell als Form des Geist-Welt-Verhältnisses sieht, auf einem tieferen Funda-
II.3. Konzeptualismus vs. Nonkonzeptualismus
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ment einer leiblichen und vorrationalen Bindung an und die Vertrautheit mit der Welt, in der wir für gewöhnlich leben, auf. Gegen Dreyfus’ Einwände argumentierte McDowell, dass ein Handeln nicht erst dann als begrifflich zu gelten hat, wenn ein Handelnder gleichsam zurücktritt und sein eigenes Tun reflexiv beschreibt. Erforderlich ist nur, dass ein Handelnder dazu in der Lage ist, eine rationale Beschreibung und Erklärung seines Verhaltens zu geben; nicht erforderlich ist, dass jemand dies tatsächlich während oder unmittelbar vor einer Handlung tut (McDowell 2013). Für McDowell reicht das Bestehen der Möglichkeit einer rationalen Beschreibung und Erklärung unserer Handlungen aus, um sie, nach einer Formulierung Wilfrid Sellars’, im Raum der Gründe anzusiedeln. Damit soll nicht geleugnet sein, dass viele unserer Verhaltensweisen sich ohne den Einsatz von bewusstem und rationalem Denken abspielen. Was aber bestritten werden soll, ist, dass ein solches Denken, wenn es stattfindet, immer die mehr oder weniger vollständige intellektuelle Entkoppelung von der tatsächlichen Situation zur Folge hat. Es ist bemerkt worden, dass die Dreyfus-McDowell-Debatte neben Fragen dazu, was Wahrnehmung, Handlung und Begriff heißt, auch noch weitere Fragen aufwirft (Schear 2013). Solche sind: die Frage nach den transzendentalen Bedingungen der Einwirkung des Geistes auf die Welt; die angemessene Bestimmung der Beziehung zwischen menschlicher sprachlicher Vernunft und dem Geist bzw. der Erfahrung von Säuglingen und nichtmenschlichen Tieren; die Beziehung von normativen und kausalen Erklärungen zueinander; die Möglichkeit eines nichtbegrifflichen Erfahrungsgehalts. Ein anderes, eng damit verbundenes Problem betrifft den Umstand, bis zu welchem Ausmaß die Struktur eines Egos oder Ichs in jeder Erfahrung gegenwärtig ist. Dreyfus meint, dass bestimmte Erfahrungen der Situationsbewältigung keine Anwesenheit eines begrifflich denkenden Ichs mehr voraussetzen, während McDowell, Kant folgend, dabei bleibt, dass die prinzipiell immer gegebene Möglichkeit eines reflexiven Zugriffs auf die Erfahrung und ihre Inhalte die Gegenwart zumindest eines ›Ich denke‹ als charakteristische Form der selbstbewussten Repräsentation dessen, was uns als Handelnde ausmacht, bezeichnet (McDowell 2013, 46). Vielleicht hat Heidegger tiefgreifender als Dreyfus (2013, 30 ff.; zur Jemeinigkeit SuZ, 42) dies herausgestrichen und die Beziehung des Daseins zur Welt als eine verstanden, die wesentlich eine Jemeinigkeit einschließt, die meine Erfahrungen als genau meine charakterisiert, und zwar auch dann, wenn ich nicht bewusst darauf reflektiere oder meine eigene Identität thematisiere. Auch Sartres Konzeption des Für-sichSeins oder des Bewusstseins in Das Sein und das Nichts verweist darauf, dass dieses durch eine wichtige komplexe Form der Selbstbezüglichkeit bestimmt ist, die gleichwohl präreflexiv ist, da sie keine absichtliche oder explizite Reflexion benötigt, um sich hervorzubringen oder evident zu sein ( B.III.2). Wie Dan Zahavi nahegelegt hat, benennt diese Art eines unmittelbaren Selbstbezugs und einer unmittelbaren Selbstvertrautheit, die einer ausdrücklich angestrengten Reflexion und der Aktivität eines subjektiven Egos vorhergeht, eine wesentliche Dimensi-
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on der Beschreibung des Geistes und seines grundlegenden Bezugs zur Welt (Zahavi 2013b). 4. Die Transformationen des Transzendentalen: Der Schatten Kants Seit der Entdeckung der Methode der transzendentalen Epoché ( C.II.2) betont Husserl die Wichtigkeit einer Transzendentalität für die Phänomenologie, die sich kritisch im Hinblick auf die Totalität der Welt positioniert. In den Ideen I z. B. führt Husserl (Hua III/1, § 49) aus, dass das absolute Bewusstsein selbst noch die ›Weltvernichtung‹ überdauert, die durch die Einklammerung all dessen vollzogen wird, was dem Bewusstsein äußerlich ist. In den Cartesianischen Meditationen bezeichnet Husserl die transzendentale Phänomenologie als einen »eo ipso transzendentalen Idealismus« (Hua I, 118), da er in der aktualen synthetischen Aktivität des transzendentalen Egos die Grundlage für die Konstitution eines jeden vorstellbaren Sinns und Seienden sieht, wobei jede Art des Existierens, real oder ideal, als Produkt transzendentaler Subjektivität verstehbar wird ( B.I.1). Er betont aber sogleich, dass es sich dabei nicht um einen kantischen Idealismus handelt, da er Kants Setzung eines Reichs unerkennbarer Dinge-an-sich, die jenseits der konstitutiven Bedingungen transzendentaler Subjektivität stehen, zur Gänze zurückweist. Aufgabe der Phänomenologie sei es vielmehr, den Sinn der Dinge von ihrer Gegebenheitsweise her zu erschließen, und zwar nur insoweit die Phänomene für das Subjekt tatsächlich eine nachvollziehbare Bedeutung besitzen. Letztlich unterscheidet sich Husserls Zugang zur Erkenntnistheorie von demjenigen Kants in vielen wichtigen Hinsichten. Zunächst geht Husserls Begriff von Anschauung, durch die ein Objekt direkt gegeben werden kann, weit über Kants Verständnis von Anschauung als bloßer sinnlicher Rezeptivität hinaus. Die Gegebenheit von Gegenständen für die Erkenntnis überhaupt (seien es Gegenstände sinnlicher, intellektueller, logischer, kategorialer oder idealer Art) hängt – wie Husserl das im Rahmen vom »Prinzip aller Prinzipien« ausführt – von seinem Gegebensein in einer »originär gebenden Anschauung« (Hua III/1, § 24) ab. Aus diesem Grund schließt Husserl ausdrücklich nichtsinnliche Formen der Anschauung, auch die der kategorialen und eidetischen Anschauung, als mögliche Grundlage eines tatsächlichen Gegebenseins eines Objekts in und für sich selbst mit ein (siehe ersten Abschnitt oben). Aufgrund der Rolle, die die kategoriale und eidetische Anschauung bei der Bildung logischer und idealer Typiken und Kategorien spielen, weist Husserl auf ähnliche Weise Kants Verständnis von Kategorien zurück, die durch ein gesondertes Vermögen des Verstandes beigesteuert werden. Diese müssen so gesehen werden, dass sie durch die Mittel einer anschaulichen Gebung ausgewiesen werden, deren Struktur wie die der Wahrnehmung durch eine einheitliche Einstellung transzendentaler Reflexion auf die Epoché zugänglich wird. Jedoch bleibt diese Einstellung transzendental darin, dass sie
II.4. Die Transformationen des Transzendentalen
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durch Einklammerung oder Ausschluss der Totalität der empirischen Welt operiert, wodurch sie die transzendentale Subjektivität und all ihre intentionalen Akte außerhalb dieser Welt positioniert. In »Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie« betont Husserl schließlich allgemein die Bedeutung von Kants Entdeckung des Transzendentalen für das Schicksal und das interne Telos der europäischen Philosophie überhaupt. Im Kontext des Versuchs von Sein und Zeit, eine wenn auch vorläufige Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Zeit zu geben, weist Heidegger klar und eindeutig die Vorstellung einer sinnkonstituierenden transzendentalen Subjektivität zurück. In Anbetracht der Tatsache, dass das menschliche Dasein erst von seiner Beziehung zum Sein überhaupt her verständlich wird, muss jedes Unterfangen scheitern, das von einer Auffassung von Subjektivität ausgeht, die Objekten oder der Welt allgemein gegenübersteht. Diese Probleme sind dagegen durch eine analytische und hermeneutische Interpretation der konkreten Existenz und des Lebens des Daseins zu erörtern, die seine situierten und involvierten Praktiken und Handlungen einschließen. Zu diesem Zweck meint Heidegger, dass Kants Deduktion reiner Verstandeskategorien durch eine Beschreibung der Existenzialien oder Strukturen des alltäglichen Daseins und seines ontologischen Fundaments ersetzt werden sollten, die grundsätzlich nonkognitiv sind und nicht einfach im Sinne von Eigenschaften eines transzendentalen Subjekts verstanden werden können (SuZ, § 9). Diese Kritik der Idee einer transzendentalen Subjektivität fasst viele der Themen der früheren Kritik Heideggers an neokantianischen Philosophen zusammen, die seines Erachtens das epistemologische Problem der Subjekt-Objekt-Beziehung auf Kosten der grundlegenderen ontologischen Frage nach dem konstitutiven In-der-Welt-Sein des Daseins in den Vordergrund gerückt haben. Zeitgenössische Debatten haben erneut die Frage nach dem Erbe und den Implikationen des transzendentalen Idealismus für die Phänomenologie und die phänomenologische Forschung gestellt. Mit Blick auf Husserls eigene Interpretation der transzendentalen Einstellung gehen einige Interpreten davon aus, dass dies primär von epistemologischer statt von ontologischer Bedeutung sei. Husserls Interesse gilt weniger der tatsächlichen Konstitution von Entitäten oder Objekten, sondern vielmehr der Basis für die Bedeutung oder den Sinn der Begriffe und Konzepte, die wir nutzen, um sie zu begreifen und zu erkennen (D.W. Smith/McIntyre 1982, 103 f.). Andere hingegen haben die starke Begrifflichkeit herausgestrichen, mit der Husserl manchmal nicht nur den Sinn von Gegenständen, sondern deren Sein insofern beschreibt, als sie durch die transzendentale Subjektivität konstituiert seien. Der transzendentale Idealismus erhält damit eine ontologische Relevanz (Philipse 1995). Parallel dazu haben einige Kommentatoren behauptet, Heidegger würde in Sein und Zeit eine Position vertreten, die in einigen Hinsichten dem transzendentalen Idealismus verwandt sei, wobei das Dasein selbst die konstitutive Basis für das Phänomen des Sinns, der Wahrheit und der Zeit sei. Andere aber haben vorgeschlagen, dass Heideggers eigene Be-
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tonung des Seins selbst und der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem eine idealistische Interpretation per se ausschließt (zu dieser Interpretation von Heidegger als einem temporalen Idealisten Blattner 1999; zu einer breiteren Lektüre einer antirealistisch orientierten Frühphilosophie Heideggers Braver 2007, Kap. 5; für eine allgemeine Diskussion von Heideggers Verhältnis zum kantischen transzendentalen Idealismus Crowell/Malpas 2007; Lafont 2007; Philipse 2007). Für gegenwärtige Philosoph:innen besteht ein wichtiger Grund dafür, sich der Phänomenologie zuzuwenden, darin, sich näher mit dem Verhältnis zur transzendentalistischen Tradition seit Kant und denjenigen, die ihm unmittelbar gefolgt sind, einschließlich der Deutschen Idealisten wie Fichte und Hegel (Gardner 2013), zu befassen. 5. Formales, materiales und historisches Apriori In den Logischen Untersuchungen ging Husserl davon aus, dass die Aufgabe der Phänomenologie unter anderem darin besteht, solche Wesensgesetze freizulegen, die die allgemeinen und die spezifischen Bereiche der Erfahrung und der Bedeutung bestimmen. Diese Gesetze sollen a priori bekannt sein, sind aber nicht rein formal, analytisch oder eines materialen Inhalts entleert, sondern als ein synthetisches Apriori verstanden werden. Für Husserl sollen sie durch zwei spezielle Arten der Anschauung aufgezeigt und begründet werden. Die kategoriale Anschauung erlaubt eine adäquate Anschauung der Bedeutung von synkategorematischen Ausdrücken, der Struktur von Tatsachen und Sachverhalten und der Bedeutung des Verbs ›sein‹ als solchem (zur kategorischen Anschauung Hua XIX/2, 695; zur eidetischen Anschauung Hua III/1, 148). Im Zuge eines freien Durchspielens von Variationen in der Fantasie werden die sich durchhaltenden Merkmale freigelegt, die zur Anschauung genereller Typen bzw. Wesen führen. Husserls Konzeption einer Wesensanschauung und die allgemeine Idee eines materialen Apriori wurden allerdings auch scharf angegriffen, etwa durch den Anhänger des Wiener Kreises Moritz Schlick, der die Ansicht vertrat, dass die formalen und logischen Gesetze der Erfahrung im Kern sprachlich verfasst seien (Schlick 1913; 1930; für einen allgemeinen Überblick Livingston 2002). Nach Schlicks Ansicht geben allgemeine Gesetze oder Regeln, die einen spezifischen Bereich der Erfahrung bestimmen, wie etwa das Gesetz ›Keine Oberfläche kann zur Gänze gleichzeitig rot und grün sein‹ und ›Jeder Ton hat eine Höhe und eine Intensität‹, keine substanziellen materialen Inhalte oder Wesenheiten wieder; sie sind vielmehr rein formal, analytisch und ohne jeden tatsächlichen bestimmten Inhalt. Da sie ihren Ursprung viel mehr in allgemeinen Regeln und Regelmäßigkeiten des sprachlichen Gebrauchs als in einer materialen Verfasstheit spezifischer materialer Bereiche haben, gibt es weder Grund noch Möglichkeit, sie durch das Verfahren einer phänomenologischen Wesensanschauung aufzuweisen und zu begründen. Dagegen sollte die apriorische Verfügbarkeit und Struktur
II.5. Formales, materiales und historisches Apriori
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als eine Sache der konstitutiven Sprachregeln gesehen werden, die sprachliche Bedeutung ermöglichen. Auf diese Weise soll das phänomenologische Unternehmen einer Erkundung des materialen Apriori durch eine Untersuchung der logischen und konventionellen Strukturen der Sprache, wie sie gebraucht wird, ersetzt werden. Die Debatte zwischen Schlick und Husserl über das materiale Apriori offenbart die tiefen methodologischen Unterschiede zwischen Husserls Phänomenologie und dem Projekt einer Begriffsanalyse, wie es oft in der analytischen Tradition praktiziert worden ist. Der Konventionalismus, den Schlick und Carnap mit Bezug auf logische und formale Wahrheiten vertreten, wurde später von Quine scharf kritisiert. Quine vertrat die These, dass es nicht möglich sei, innerhalb der Sprache eine Klasse konventioneller Wahrheiten zu isolieren, und stellte später die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen infrage. Als in den 1930er-Jahren sich Wittgensteins eigene Ansichten entwickelten, kritisierte er auch seine eigene frühere Position von durch die einheitliche logische Form der Sprache bestimmten logischen und phänomenologischen Prinzipien. Die bestimmte Erfahrungsbereiche bestimmenden Prinzipien – wie z. B. die Struktur der Farberfahrung – sollten nun ausschließlich auf dem Wege einer Analyse komplexerer und bereichsspezifischer Regelmäßigkeiten ermittelt werden (Wittgenstein 1929; 1984a). Die Analyse einer einheitlichen und apriorischen logischen Form der Sprache als solcher weicht einer Untersuchung der enger eingegrenzten Bereiche materialer Erfahrung und Praktiken, eine Untersuchung, die Wittgenstein in den 1930er-Jahren manchmal als Phänomenologie bezeichnet hat. Diese Untersuchung der vielfältigen sprachlichen Praktiken und Verhaltensweisen, die für Wittgenstein (1953/1984) in den Philosophischen Untersuchungen unsere komplexe Lebensform ausmachen, weist, wie Kommentatoren bemerkt haben, wichtige Ähnlichkeiten mit Husserls später Zuwendung zur unmittelbaren Lebenswelt einer alltäglichen gelebten Erfahrung und mit Heideggers eigener Analytik des In-der-Welt-Seins des Daseins auf. In einer anderen Weise bleibt die Frage nach der Möglichkeit eines materialen Apriori heute bei der Einschätzung der Relevanz philosophischer Gedankenexperimente und Intuitionen im Sinne unbeeinflusster Überzeugungen und Reaktionen bedeutsam für philosophische Argumentationen, die sich mit metaphysischen oder epistemologischen Schlussfolgerungen beschäftigen. In seiner späten unvollendeten Krisis-Schrift unternimmt Husserl die transzendentalphänomenologische Untersuchung der tatsächlichen historischen Konstitution von Erkenntnis, einschließlich wissenschaftlicher und mathematischer Erkenntnis. Das Ergebnis ist eine Blickverschiebung hin auf die konsti tutiven und teleologischen, aber auch historischen Bedingungen der Wissensordnungen, die die europäischen Wissenschaften bis ins 20. Jahrhundert hinein prägen. Mit dieser Blickverschiebung hin auf die Geschichte geht eine Grundsatzreflexion einher über das Verhältnis der phänomenologischen Methode zur Faktizität empirischer Geschichte sowie zum historischen Relativismus, gegen
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den Husserl früher so vehement anargumentiert hatte und der das positive Wissen auf spezifische historische und kulturelle Umstände zurückbezieht. In der Abhandlung über den »Ursprung der Geometrie«, die wahrscheinlich als Beilage zur Krisis-Schrift gedacht war, bringt Husserl den Ausdruck ›historisches Apriori‹ ins Spiel, um die apriorische phänomenologische Untersuchung dessen zu bestimmen, was er als wesentlich ideale Vorbedingungen der Möglichkeit einer empirischen, deskriptiven Geschichte der Wissenschaften ansieht ( C.I.14). Aus dieser Sicht hängen sowohl die Geschichte der Wissenschaften als auch die faktische Geschichte der Entwicklung der europäischen Vernunft von der vorgängigen Erhellung eines apriorischen Bodens idealer – und doch gleichwohl geschichtlich konstituierter – Bedeutungen und Zwecke ab, der für die an die Wurzel gehende apriorische und kritische Untersuchung der transzendentalen Phänomenologie zugänglich ist. In Sein und Zeit ist das Dasein für Heidegger wesentlich geschichtlich. Die Art und Weise, wie das Dasein in der Zeit ist, ist dabei immer schon zukunftsbezogen: Dadurch, dass es sich in eine durch die eigenen Projekte eröffnete Zukunft entwirft, übernimmt und wiederholt es notwendigerweise die Möglichkeiten, die es »gewesen« (SuZ, § 75) ist. Es ist diese Struktur der authentischen Aufschließung eigener Möglichkeiten, in der gerade die Möglichkeit von Historie als einer Wissenschaft faktischer Ereignisse begründet liegt. Das Verhältnis zwischen den zwei ontischen Bereichen der Geschichte und der Natur lässt sich allerdings erst von einem neuen Standpunkt aus klären, und zwar, nachdem die Frage nach dem Sinn von Sein und dem Verhältnis zwischen Sein und Seiendem näher bestimmt worden ist. In seinem späteren Denken während und nach der Kehre Mitte der 1930er-Jahre zieht Heidegger die Möglichkeit einer Seinsgeschichte in Betracht, die die verschiedenen Weisen in Rechnung stellt, in denen Seiendes erschienen ist und innerhalb der Geschichte der Metaphysik durch die Zuschreibung eines jeweils exemplarischen und grundsätzlichen Seinsverständnisses bestimmt wird. Diese Geschichte als ganze ist nach Heidegger charakterisiert durch den fortschreitenden Entzug von Sein oder Seinsvergessenheit von der Zeit der Philosophen der griechischen Antike bis zur Gegenwart. Die ontologische Beschreibung eines solchen fortschreitenden Entzugs innerhalb der Geschichte der Metaphysik findet ihren Abschluss in der gegenwärtigen Vorherrschaft von Technologie und technologischen Denk- und Verhaltensweisen, wobei es in letzter Instanz möglich werden soll, sich für ein nichtmetaphysisches Seinsereignis selbst vorzube reiten. In Die Ordnung der Dinge und Die Archäologie des Wissens analysiert Michel Foucault die sich verändernden historischen und diskursiven Bedingungen, die zusammen die Strukturen der Vernunft, des Denkens, Handelns, und die positive Konstituierung von Wissen und Macht ausmachen, die er Episteme nennt. An dieser Stelle werden diese jeweiligen Bedingungen so verstanden, dass sie ein historisches Apriori im Sinne einer Positivitätsform eines historisch spezifischen
II.6. Sinn, Wahrheit und Zeit
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Diskurses ergeben, die ein ›Feld‹ definieren, auf dem sich formale Identitäten, thematische Kontinuitäten, Begriffsübertragungen und polemische Spiele entfalten können. Im Gegensatz zu Husserls Begriffsgebrauch bezieht sich Foucaults historisches Apriori nicht auf zeitlose oder ideale Gültigkeiten oder Rechtfertigungsmuster. Vielmehr ist es so aufzufassen, dass es jeweilige Diskurse in historisch spezifischer Weise strukturiert, die nicht auf eine umfassende Teleologie oder ein einziges allgemeines Narrativ zurückgeführt werden können. In seiner langen Einleitung zu seiner Übersetzung von Husserls Abhandlung über den »Ursprung der Geometrie« zieht Jacques Derrida (1963/1987) vor dem Hintergrund der allgemeinen dekonstruktiven Frage der Beziehung zwischen Tatsache und Wesen als solche die Möglichkeit und Bedeutung eines solchen historischen Apriori in Zweifel. Derrida ist der Ansicht, dass Husserl das historische Apriori nicht in diesem Sinn einführen kann, ohne sich versteckt an die faktische, empirische Geschichte zu halten, die er gerne ausschließen möchte. Dadurch stellt sich das Problem, inwieweit es überhaupt eine ›Geschichte‹ idealer Gegenstände und Gesetzmäßigkeiten geben kann, die an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit ›entdeckt‹ worden sind, also etwa die Geometrie im antiken Griechenland. Derrida zufolge kann Husserl die geschichtliche Konstitution in phänomenologischen Begriffen nicht beschreiben, ohne paradoxerweise gerade diejenige Form von Idealität vorauszusetzen, die er erst zu erklären sucht, eine Idealität, die eng geknüpft ist an die Möglichkeit des Schreibens und der Struktur des Zeichens als solchen. Daraus, so legt Derrida nahe, folgt, dass der Versuch einer Rekonstruktion der geschichtlichen Konstitution des Wissens mit einer tiefreichenden und unauflösbaren Unentschiedenheit zwischen Faktum und Wesen oder zwischen der Zeitlichkeit der Geschichte und der Unzeitlichkeit des Idealen behaftet ist ( C.I.7). 6. Sinn, Wahrheit und Zeit: Kann die Phänomenologie eine realistische Philosophie sein? Nach der transzendentalen Wende hat Husserl die Phänomenologie im Wesentlichen eher im Sinne eines transzendentalen Idealismus denn als eines Realismus betrieben. Insbesondere schließt die Methode der Epoché die Möglichkeit der Einklammerung oder die Ausschaltung der gesamten faktischen Welt ein. Husserls spätere Konstitutionstheorie zieht auch die Behauptung nach sich, dass sowohl der Sinn als auch das Sein alles Seienden letztlich durch die transzendentale Subjektivität oder das reine Bewusstsein konstituiert oder hervorgebracht werden. Dies ist kein subjektiver Idealismus, in dem Sinn und Wesen als im Bewusstsein konstituiert gesehen und selbst als objektiv und unabhängig von einem individuellen denkenden Ego behandelt werden. Gleichwohl besteht die starke antirealistische Implikation, dass selbst die ideale Bedeutung von abstrakten und idealen Strukturen wie die der Mathematik nicht so verstanden werden können,
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als existierten oder besäßen sie eine Gültigkeit unabhängig von ihrer Konstitution in einem transzendentalen Bewusstsein. Andererseits geht Husserl davon aus, dass das intentionale Bewusstsein insofern eine Transzendenzstruktur aufweist, als im Bewusstseinsakt ein Gegenstand gegeben ist, der selbst außerhalb der Immanenz des individuellen Bewusstseins liegt bzw. über dieses hinausgeht. Obwohl, wie wir gesehen haben, Husserl im Hinblick auf Wahrnehmung und Intentionalität allgemein sich einen nichtrepräsentationalistischen direkten Realismus zu eigen macht – wobei das Objekt selbst direkt im Bewusstsein präsentiert wird –, versteht er Wahrheit dennoch als eine bewusstseinsinterne Erfüllungsintention zwischen dem intendierten Akt und dem Akt, der jenen durch die tatsächliche Gebung des fraglichen Objekts erfüllt. Nur in diesem Sinn, so Husserl, ist es möglich, Wahrheit als eine Sache der Adäquatheit oder der Korrespondenz zwischen Bewusstsein und Objekt zu verstehen. In Husserls Vorlesungen zum inneren Zeitbewusstsein beschreibt er, wie die Erfahrung von Zeit und Zeitlichkeit als solcher auf dem konstitutiven Fluss einer inneren Zeitlichkeit beruht, die selbst eine Struktur ist, die im und durch den zeitlichen Fluss des Bewusstseins konstituiert ist. In dieser Hinsicht hängt jede mögliche Beschreibung oder Interpretation von in der Zeit existierenden und veränderlichen Entitäten und Phänomenen letztlich von der grundlegenden Konstitution der Zeit selbst in der Form reiner Gegenwart einer unmittelbaren und präreflexiven Subjektivität ab. Auch Heidegger versieht in Sein und Zeit (SuZ, § 69) das Dasein mit dem Charakter der Transzendenz, begründet dies aber anders als Husserl vielmehr dadurch, dass das Dasein gleichsam immer schon sich selbst vorweg ist, im Sinne einer ›ek-statischen‹ Existenz, die immer schon bei den Dingen oder aber im zeitlichen Entwurf begriffen ist ( B.I.4). Doch auch das Sein besitzt Heidegger zufolge einen transzendenten Zug, insofern es aufgrund der ontologischen Differenz (der Differenz zwischen Sein und Seiendem) immer schon mehr und anders ist als die Gesamtheit alles Seienden, ohne jedoch schlicht so etwas wie den Oberbegriff oder eine eigene Gattung zu bilden. Bei gleichzeitiger ›Destruktion‹ aller herkömmlichen Metaphysik wirft Heidegger deren Grundfragen neu auf: Im Rahmen einer ›Analytik des Daseins‹ wird die Frage nach dem, was ist, zu einer Frage nach dem Sinn von Sein. Sartres einflussreicher Essay Die Transzendenz des Ego (1936) bietet eine verwandte Konzeption phänomenologischer Transzendenz. Sartre schlägt dort eine unpersönliche Transzendenz als die grundlegende Struktur der Intentionalität vor, die in Das Sein und das Nichts als das elementare Verhältnis zwischen Fürsich-Sein des Bewusstseins und An-sich-Sein des bewusstseinsunabhängigen Seins beschrieben wird. In Totalität und Unendlichkeit (1961/1987) versteht Levinas die Transzendenz im Sinne einer radikalen Andersheit, die in das eigene Selbst einfällt und das Prinzip der Identität mit sich unterbricht. Der Einfall dieser radikalen Alterität, die das Eigene zersetzt, wird bei Levinas zum Ausgangspunkt einer neuen Metaphysik, die immer auch schon als Ethik gedacht ist. S artre
II.6. Sinn, Wahrheit und Zeit
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und Levinas sind sich jedoch mit Heidegger darin einig, am Grund der Intentionalität eine strukturelle oder ontologische Transzendenz anzusiedeln, die nicht abhängig ist von einer vorgängigen und stabilen Existenz eines Selbst, Subjekts oder Egos. Jedoch weist Heidegger in seinen späteren Arbeiten seit den 1930erJahren noch eine solche Restbedeutung von Transzendenz zurück. Die Frage nach dem Sein darf nach Heidegger jetzt nicht länger primär als Frage nach dem Sinn von Sein in Relation zu Seiendem verstanden werden, wie es sich durch die Verfahren der Daseinsanalytik zeigen lässt. Vielmehr soll die Frage des Seins des Seienden ersetzt werden durch eine Untersuchung der Wahrheit des Seins selbst, und zwar wie es die Bedingungen des Eröffnens und Zum-Vorschein-Kommens abgibt, unter denen die Entitäten und das Seiende zuallererst Sinn und Bedeutung im Kontext bestimmter geschichtlicher Perioden oder Epochen der Intelligibilität erhalten. Dieses Zuspielen oder Geschick des Seinssinns durch das Sein ist nicht länger in erster Linie bestimmt durch die Struktur des Daseins, sondern durch das, was Heidegger das Ereignis oder das geschichtliche Ereignis des Seins selbst bezeichnet. Einige zeitgenössische Philosoph:innen und Interpret:innen vertreten die Ansicht, dass die Phänomenologie geradezu konstitutiv eine antirealistische Phi losophie verkörpere. In Nach der Endlichkeit rubriziert Quentin Meillassoux (2006/2008) die meisten nachkantianischen Philosophien als ›korrelationistische Philosophien‹. Als Korrelationismus sei jede Philosophie zu charakterisieren, die die gegenseitige Unabhängigkeit des Subjektiven und des Objektiven leugnet oder, noch allgemeiner gesprochen, der Auffassung ist, dass es keinen Zugang zum Denken oder aber zum Sein jenseits ihrer gegenseitigen Bezogenheit geben kann. Es verwundert dann kaum, dass die Phänomenologie, in der die Korrelation als Grundkonzept gelten darf ( C.I.1), allgemein von Meillassoux als ›korrelationistisch‹ eingestuft wird. Selbst Heidegger, dem die weitreichende Kritik des Subjektivismus und des Repräsentationalismus zugute gehalten wird, vertrete mit seinem Verständnis von Unverborgenheit letztlich noch eine Form von trans zendentalem Idealismus. Meillassoux (2006/2008, 7 f.) zufolge kann dies insbesondere an Heideggers später Beschreibung der wesentlichen Zusammengehörigkeit von Mensch und Sein gesehen werden, sodass die Wahrheit an den Nachvollzug durch das menschliche Dasein gebunden bleibt und selbst Heideggers Ereignisbegriff noch relational gefasst ist. Als generelle Herausforderung des Korrelationismus formuliert Meillassoux ein Problem, das er mit dem Begriff des Archefossils bezeichnet. Empirische Wissenschaften geben uns Aufschluss über die Existenz vieler Entitäten und das Auftreten vieler Ereignisse, die der Entstehung des menschlichen Bewusstseins und der menschlichen Sprache zeitlich vorausgehen. Laut Meillassoux (ebd., 9 f.) können korrelationistische Philosophien niemals ein angemessenes Verständnis von der Bedeutung und Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen entwickeln, die die Existenz solcher Entitäten und das Auftreten solcher Ereignisse behaupten. Das ist so, weil der Korrelationismus an den Anspruch gebunden ist, dass solche Aussagen als wahr nur in einem relativen
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Sinn verstanden werden können: als für uns oder als dem Bewusstsein, der Sprache oder der menschlichen Fassungskraft gegeben (ebd., 13 f.). Das korrelationistische Projekt besteht so darin, immer wieder eine tiefere Bedeutungsebene zu finden, auf der die scheinbar nichtrelativen wissenschaftlichen Aussagen als tatsächlich bedeutsam oder wahr ausschließlich in Bezug zur Korrelation als solcher gesehen werden können. Muss man also daraus schließen, dass die Phänomenologie, die sich einer systematischen Untersuchung der Konstitutionsprozesse von Sinn, Zeit und Wahrheit verschreibt, grundsätzlich einem antirealistischen Programm verpflichtet ist? Bevor man sich dieser Frage zuwendet, ist es hilfreich, sich klarzumachen, dass es eine große Bandbreite an Positionen und Grundüberzeugungen gibt, die als realistisch verstanden worden sind, und entsprechend vielerlei Positionen, die antirealistisch in verschiedenen Hinsichten genannt werden können (ich folge hier teilweise der hilfreichen Realismus-Matrix von Braver 2007, xix). Eine Spielart des Realismus ist der metaphysische Realismus, den Hilary Putnam beschrieben hat. Diese Position besteht darin, dass »die Welt aus einer vorab bestehenden Gesamtheit von vom Geist unabhängigen Dingen besteht.« (Putnam 1981/1982, 49) Wie Meillassoux es nahelegt, werden Antirealisten, die die Ansicht vertreten, dass raumzeitliche Dinge buchstäblich durch mentale oder subjektive Prozesse hervorgebracht werden und daher im Blick auf ihre Existenz abhängig von Subjektivität oder Bewusstsein sind, diese Behauptung zurückweisen. Eine andere Version ist der metaphysische oder deskriptive Realismus, der von einer und genau einer wahren und vollständigen Beschreibung der Welt ausgeht (Putnam sieht diese ersten beiden als gleich an; Braver 2007 dagegen weist darauf hin, dass sie unterschieden sind). In diesem Kontext ist die primäre Frage weniger die Existenz von Entitäten als die Möglichkeit einer Perspektive, von der aus eine solche vollständige Beschreibung – wenn auch nur im Prinzip – gegeben werden könnte; diese Möglichkeit kann wiederum entsprechend von Antirealisten bestritten werden. Schließlich und womöglich am meisten neutral ist der logisch-semantische Begriffsrahmen für die Beschreibung der Debatte zwischen Realisten und Antirealisten, wie ihn Michael Dummett vorgeschlagen hat (Dummett 1963; 1981, 434). Nach Dummetts Interpretation kann eine realistische Ausgangsposition bezüglich jedes Objekt- oder Phänomenbereichs als Bindung an die Bivalenz im Hinblick auf Aussagen über diesen Bereich verstanden werden: mit anderen Worten die Behauptung, dass alle Aussagen in diesem Bereich unausweichlich entweder wahr oder falsch sind und unabhängig von unserem Wissen oder anderen kognitiven Einstellungen zu ihm. Versteht man Realismus in diesem Sinne, ist es möglich, eine phänomenologische Untersuchung von Sinn, Wahrheit und Zeit zu konstruieren, die nicht notwendig auf eine antirealistische Ausrichtung hinausläuft. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn man die Phänomenologie nicht als Analyse subjekt- oder bewusstseinsabhängiger Zustände versteht, sondern als Auslegung der Phänomene selbst in ihrer jeweiligen Gegebenheitsweise. Aus dieser Sicht ist alles, was
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man für einen phänomenologischen Realismus in Bezug auf Sinn, Wahrheit und Zeit benötigt, dass man die Bivalenz – die Annahme von feststehender Wahrheit oder Falschheit – im Hinblick auf Aussagen nicht nur über Dinge, sondern auch über die relevanten Bedingungen des Erscheinens wie des Seins dieser Phänomene selbst aufrechterhält. Ein solcher Realismus ist es wohl, der durch Heideggers eigenes phänomenologisches Vorhaben einer Frage nach dem Sein nahegelegt wird, insbesondere in ihrer späten Formulierung als Frage nach der ›Wahrheit des Seins‹ oder geschichtlicher Sinnentwürfe (Livingston 2017, Kap. 5; siehe auch Livingston 2013 für einige verwandte Erwägungen). Bivalenz mit Blick auf Aussagen über das die Geschichte der Metaphysik bestimmende Sein selbst genügt für einen ontologischen Realismus oder einen Realismus des Seins und der ontologischen Differenz. Ähnlich bedingt ein solcher ontologischer Realismus auch einen basalen Realismus in Hinsicht auf die Bedingungen der Erkennbarkeit des Sinns von Gegenständen, wenn Sinn und Erkennbarkeit nach Heidegger daraufhin angesehen werden, wie sie in letzter Instanz vom Sein unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen gegeben sind. Schließlich genügt es im Kontext weiterer Entwicklungen der Gegebenheit von Zeit, wie sie wesentlich durch das Sein selbst und nicht durch Subjektivität oder (menschliches) Bewusstsein geschieht, einen temporalen Realismus zu entwickeln, der davon ausgeht, dass es möglich ist, den Wahrheitswert von Aussagen über vergangene Ereignisse unabhängig von der Existenz menschlichen Lebens, der Sprache oder des Bewusstseins festzustellen. Dies erlaubt die Möglichkeit einer phänomenologisch motivierten Erwiderung auf Meillassoux’ Korrelationismusvorwurf: Die Intelligibilität von Aussagen über zeitlich dem menschlichen Bewusstsein vorausgehende Ereignisse und Phänomene wird so aufgefasst, dass sie direkt in einer phänomenologischen wie auch ontologischen Basis fundiert ist, dem Grundphänomen der Gegebenheit von Zeit selbst, die in keiner wesensgemäßen Abhängigkeit von Geist, Bewusstsein oder Subjektivität steht. Zugegebenermaßen ist dies nur ein möglicher Ansatz unter vielen, wenn man so etwas wie eine phänomenologischen Ontologie durchbuchstabieren möchte, und tatsächlich muss man auch einräumen, dass der späte Heidegger oft Formulierungen verwendet, die korrelationistische Lesarten nahelegen. Jedoch deutet dies zumindest in die Richtung einer realistischen Phänomenologie des Sinns, der Wahrheit und der Zeit. Eine dergestalt konzipierte realistische Phänomenologie bestreitet zwar nicht die Existenz von Subjektivität, führt diese allerdings auf zugrundeliegende Seinsstrukturen zurück, die selbst als zeitlich gedacht werden müssen. Um eine derartige Perspektive allerdings konsistent zu entfalten, müsste zunächst mehr Klarheit darüber gewonnen werden, was es heißt, innerhalb einer objektiven Welt einen subjektiven Standpunkt zu besitzen. Diese Frage hängt unmittelbar mit jener zusammen, die danach fragt, wie es einen Blickwinkel geben kann, von dem aus die Gesamtheit alles Seienden in seiner von uns unabhängigen Seinsweise beschrieben werden kann, der aber zugleich in dieser Gesamtheit selbst wiederum verortet ist. Auf den letzten Seiten von Das Sein und
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das Nichts (1943/2020, 1066 ff.) sinnt Sartre darüber nach, ob die Charakterisierung einer solchen Position notwendigerweise in den Dualismus von Sein und Schein zurückfällt oder ob sie doch im Rahmen einer realistischen Weltauffassung vertretbar wäre. Sartre beantwortet diese Frage nicht, da die ontologische Untersuchung von Das Sein und das Nichts sich, wie er sagt, auf die Erhellung der distinkten Regionen des An-sich, des Für-sich und der Selbstverursachung beschränkt, ohne dabei eine endgültige Position hinsichtlich ihres umfassenden Verhältnisses zu beziehen. Aber die hier skizzierte Position einer wesentlich einheitlichen Basis der Phänomene, die auch die Einheit des Seins selbst ist – wofür nur die eine Welt mit ihren dualen Dimensionen des An-sich und des Für-sich erforderlich sind –, scheint zumindest eine Aussicht auf eine einheitliche und realistische ontologische Phänomenologie zu geben. Indem sie den langanhaltenden Dualismus von Sein und Erscheinung überwindet, hätte eine solche Phänomenologie, so scheint es, keinen Grund, in ihren Überlegungen von einer Korrelation auszugehen, und würde so den darin implizierten Antirealismus vermeiden. Paul Livingston
III. Ethik und Normen Es mag überraschen, die Ethik als ein Wirkfeld der Phänomenologie in Betracht zu ziehen. Es kursiert nämlich das Vorurteil, die vornehmlich erkenntnistheoretisch ausgerichtete Phänomenologie habe wenig zu ethischen Fragen beizutragen. Mehr noch, sie könne praktische Forderungen schon aus methodischen Gründen gar nicht thematisieren – gerade so, als müsste die in der phänomenologischen Reduktion vollzogene Einklammerung von Geltungszusammenhängen das Normative prinzipiell ausblenden. Diesem Vorurteil zum Trotz lässt sich feststellen, dass in der phänomenologischen Bewegung durchaus eine reichhaltige und ausdifferenzierte Diskussion ethischer Belange geführt wurde, die mit jeder historischen Wendung der Phänomenologie wiederum neue Prägungen erhielt. Tagtäglich werden wir mit normativen Fragen konfrontiert, sobald wir Handlungen, Entscheidungen und Reaktionen begrifflich abwägen oder Urteile über uns selbst und andere fällen: Personen sowie Handlungen erscheinen uns dann als gut oder schlecht, fein oder roh, gerecht oder ungerecht, entgegenkommend oder feindselig. Für diese Einstellungen ziehen wir Menschen zur Verantwortung: Wir unterstellen, dass sie sich zu ihrem Verhalten entschlossen haben, weil diese Handlungen gut- oder bösartig, großzügig oder kleinmütig sind. Gleiches gilt für uns selbst: Wir gehen davon aus, dass unsere eigenen Handlungen kriteriengeleitet sind, dass wir also Gründe dafür angeben können, warum wir so und nicht anders gehandelt haben. Im sozialen Leben sind wir dazu aufgefordert, unsere Erfahrung von Werten und Normen oder unseren Gebrauch von Begriffen und Urteilen zu reflektieren, um immer wieder zu überprüfen, ob die explizi-
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ten oder impliziten Regeln, die unser gesellschaftliches Miteinander leiten, einer kritischen Prüfung standhalten. Die Ethik befasst sich daher ganz allgemein mit der Frage, wie menschliches Handeln zu bewerten ist und welche Prinzipien gefunden werden können, um Handlungen und die aus ihnen ableitbaren bzw. verallgemeinerbaren Normen rechtfertigen zu können. Auf praktischer Ebene befasst sich die angewandte Ethik mit konkreten moralischen Fragen, auf die Antworten zu finden sind, die normative Ethik prüft handlungsleitende Normen auf ihre Berechtigung hin, während die Meta-Ethik logische und epistemologische Grundlagen normativer Auseinandersetzungen erforscht. In keinem dieser drei Bereiche, so mag es scheinen, stellen phänomenologische Ansätze derzeit wichtige methodische Werkzeuge bereit. Die Hauptrichtungen der gegenwärtigen Moralphilosophie zeichnen sich dadurch aus, dass sie bei Orientierungs- und Entscheidungsdilemmata verlässliche Kriterien an die Hand geben: Sie bringen Argumente und Verfahrensweisen hervor, um Gründe für ein bestimmtes Verhalten zu ermitteln (z. B. Utilitarismus, Eudämonismus und Diskursethik) oder verweisen auf die Erfahrung bzw. die Anerkennung von Prinzipien (Werte oder Pflichten), auf die eine Person sich beruft, um ihr Handeln und ihre Lebensführung zu motivieren (z. B. Tugendethik und Deontologie). Demgegenüber liefert die Phänomenologie keine Prinzipien oder Verfahrensweisen, die eine direkte Anwendung im praktischen Leben erlauben. Vielmehr nehmen Phänomenolog:innen eine reflexive Haltung ein, um das moralische Handeln anhand der konkreten Konstitutionsverhältnisse der jeweiligen Personen aufzuklären; und zwar nicht nur, um zu bestimmen, was eine moralische Handlung als moralisch kennzeichnet, sondern auch, um dasjenige herauszustellen, was eine moralische Handlung überhaupt als Handlung ausmacht. Dieses Kapitel behandelt drei Themenkomplexe: Im ersten Abschnitt wird die werttheoretische Ethik der Frühphänomenologie besprochen; der zweite Abschnitt befasst sich mit der Kontroverse um die Begründung von Normen; schließlich gibt der dritte Abschnitt einen Ausblick auf gegenwärtige Ansätze, die das kritische Profil der Phänomenologie schärfen. 1. Werttheoretische Ansätze In den vergangenen Jahren ist eine Renaissance einer bestimmten phänomenologischen Richtung zu verzeichnen, die lange ein Schattendasein fristete: die Wertethik. Dabei ließe sich argumentieren, dass es sich bei der Wertethik um den eigentlichen Beitrag des 20. Jahrhunderts zur ethischen Theorie handelt (De Monticelli 2021). Etwas in Vergessenheit geraten war der Umstand, dass diese Richtung bereits – und zwar nicht zuletzt durch Max Schelers Impulse – eine bedeutende Rolle in der frühen Phänomenologie gespielt hatte. Das Forschungsprojekt einer Wertethik verstand sich als Versuch, die traditionelle Kluft zwischen Vernunft und Gefühl zugunsten eines neuen, im Hinblick auf die Sphäre der Ge-
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fühle erweiterten Begriffs praktischer Rationalität zu überbrücken: Rationales Handeln erschöpft sich diesem Ansatz gemäß nicht in der Wahl der Mittel für bereits gesetzte Zwecke. Vielmehr ist die Setzung der Zwecke aufgrund einer konkreten Situation und der jeweiligen persönlichen Präferenzen bereits in einen motivationalen (und daher prinzipiell rationalen) Zusammenhang eingebettet. Mit diesem alternativen Ansatz der Ethikbegründung geht die Wertethik auf Abstand zu gängigen Rechtfertigungsversuchen. So gehen viele Versuche einer philosophischen Begründung der Ethik davon aus, dass die moralische Norm (das ›Sollen‹) auf Gründe rückführbar sei, die selbst wiederum nicht moralischer, sondern rein logisch-rationaler Natur sind. Die phänomenologische Wertethik setzt hingegen darauf, dass Werte in der emotiven Erfahrung fundiert sind. In der Fülle feingliedriger Beschreibungen einzelner Gefühlsphänomene (wie Ressentiment, Reue, Liebe und Hass, Ekel, Demut, Vertrauen usw.) zeigt sich die Stärke der phänomenologischen Methode, die beispielsweise in den literarischen Werken Musils, Sartres oder Camus’ ihre Fortführung fand. 1.1. Werte und Güter
Die frühphänomenologische Ethik steht im Kontext eines realistischen Verständnisses der Phänomenologie ( B.I.1) und kann als eine Form des ethischen Realismus betrachtet werden. Anstelle von moralischen Tatsachen ist hier von ›Werten‹ die Rede, die nie für sich bestehen, sondern als an existierenden Dingen, Lebewesen und Personen haftende Eigenschaften erkannt werden. Aufgrund solcher Werterkenntnis sind Werturteile wahrheitsfähig. Mit Blick auf die übliche metaethische Unterscheidung zwischen Realismus und Antirealismus sind Werte der Frühphänomenologie zufolge real, da ihre Geltung über subjektive Wertvorstellungen hinaus Objektivität beansprucht. Die Gegebenheit von Werten kann analog derjenigen von Farben und idealen Gegenständen aufgefasst werden. So wie Röte kann auch Güte ›an einer Person‹ gegeben sein, ohne dass dabei die Bedeutung ›das Gute‹ bzw. ›das Rot‹ explizit gemeint ist: Ein Kind spürt die Fürsorge der Mutter, ohne einen Begriff des Guten zu haben oder zu gebrauchen. Die unterschiedlichen Wertqualitäten, mit denen der Wert des Guten gegeben sein kann, entsprechen den unzähligen Nuancen, die zum anschaulichen Spektrum gehören, oder den zahlreichen Klangfarben, in denen ein bestimmter Ton erklingen kann. Eine bezeichnende Ähnlichkeit zwischen der Erfahrung von Farben und Werten finden wir in der Metapher der ›Wertblindheit‹ in Anlehnung an die Farbenblindheit, um einen Mangel an Empfänglichkeit für eine besondere Wertsphäre zu charakterisieren. Durch eidetische Variation lassen sich in der Wertethik nun sittliche Wesensideen herausarbeiten: So wie es das Blau gibt, als Wesen aller Blauwahrnehmungen, so gibt es die Liebe, die sich als Wesenszug durch alle Liebeserfahrungen hindurchzieht. Die zeitgenössische Kritik an einem derartigen ahistorischen Intuitionismus ließ dabei den wichtigen Punkt außer Acht, dass für Scheler auch
III.1. Werttheoretische Ansätze
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Werte im Rahmen einer Intentionalanalyse zu diskutieren sind: Gegen eine rein formale Pflichtethik verteidigt Scheler den Ansatz, dass Werte nur als Korrelate intentionaler Bezugnahmen zur Sprache kommen können. Werte sind für Personen erfahrbar, wenn auch nicht in der gleichen Weise wie sinnliche Gegenstände. Vielmehr gleichen sie in dieser Hinsicht idealen Objekten, die – obwohl anschaulich erfahren – keine Empfindungsinhalte darstellen. Dennoch dürfen sie nicht mit regulativen Ideen verwechselt werden, die deshalb ideal bleiben, weil sie den Horizont des anschaulich Denkbaren überschreiten. Im Unterschied zur Erfassung etwa einer Geraden im geometrischen Bereich sind Werte nicht ›ideal‹ im Sinne einer im Unendlichen liegenden Idee, die nur annäherungsweise, aber nie konkret anschaulich erfüllt werden kann. Freilich können auch Werte nachträglich idealisiert werden; dennoch setzen sie voraus, dass sie zuvor konkret erblickt wurden (Scheler, GW 2, 176 f.). Scheler grenzt sich, wie der Titel seines Werks Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/1916) bereits anzeigt, von einem formalistischen Verständnis von Ethik ab, dem er eine materiale Ethik entgegenhält. Diese materiale Ethik ist nicht mit einer materialistischen Position zu verwechseln, sondern von der Aktmaterie her zu verstehen ( C.2): Während jeder Bewusstseinsakt – darunter auch moralische Urteile – eine bestimmte Form aufweist, muss auch die inhaltliche, ›materiale‹ Seite der Aktbeziehung bedacht werden. Werte können als spezifische Wertsphären in ihren materialen Qualitäten und als ›Werte überhaupt‹ in ihren formalen Grundstrukturen erforscht werden: Wie es eine formale und eine materiale bzw. regionale Ontologie gibt, so auch eine formale und eine materiale Axiologie. Scheler betont, dass die Evidenzgrade der Werterfahrung und das Dasein wertvoller Entitäten voneinander unabhängig seien. Hiermit ist die Grundlage geschaffen, um die Positionalität und Polarität der Werte zu bestimmen: Erstere bezieht sich auf die die Existenz betreffenden Seinsmodalitäten der jeweiligen Wertträger (wirklich, möglich, fraglich usw.), Letztere auf den positiven bzw. negativen Charakter der Wertqualitäten. Weitere formal-axiologische Gesetze beziehen sich auf das Fundierungsverhältnis zwischen Werten und Wertträgern. Scheler unterscheidet dabei zwischen ›Dingen‹, ›Sachen‹ und ›Gütern‹: Dinge sind wertneutrale Dingeinheiten; Sachen sind Dingeinheiten, die Wert haben; Güter sind Wertdinge bzw. dingliche Werteinheiten. Die Unterschiede zwischen einem Ding, einer Sache und einem Gut lassen sich anhand ihrer verschiedenen Variationsgesetze etwa am Beispiel einer Wandmalerei erläutern: Eine Wandmalerei verändert sich als Ding in seinen Bestandteilen kontinuierlich (Pigmente bröckeln ab und Farben verblassen), doch als Gut ist es unteilbar: In seiner Einheit existiert es dann nur noch in Reproduktionen oder als Erinnerung. Als Sache kann die Wand allerdings noch einen Wert haben, und zwar indem sie ihre sonstigen Nutzfunktionen behält, etwa als tragende Mauer eines Bauwerks. Der Unterschied zwischen Wert und Gut ist zentral, um den objektiven Anspruch der phänomenologischen Wertethik zu beurteilen: Eine materiale Wertethik kann
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erst dann als objektiv gelten, wenn die Materien der Werte eine gewisse Unabhängigkeit von tradierten Gütern und Zwecken aufweisen. Werte mögen zwar erst an Gütern erblickt werden und nur als deren Einheit konkret existieren, die Erkenntnis ihres Gehalts und die Rangordnung unter ihnen gehen jedoch in ihrer Idealität über die konkreten Güter hinaus. Ferner liefert die Diskussion eine wichtige weitere Unterscheidung, was das Begründungsverhältnis von Gefühl und Wertung betrifft: von Hildebrand (1916) stellt fest, dass sowohl Husserls Begriff der Wertnehmung als auch Schelers Pendant des Wertfühlens je eine Form der fühlenden Kenntnisnahme bezeichnen, die von affektiven Reaktionen bzw. emotiven Stellungnahmen unterschieden werden soll. Von einem positiven oder negativen Wertcharakter im Fühlen Kenntnis zu nehmen, ist demzufolge etwas anderes, als sich aufgrund dieser Kenntnisnahme über etwas zu freuen oder zu betrüben. Die Differenz zwischen Gefühl als Kenntnisnahme und als Reaktion deckt sich nicht mit dem Verhältnis von bloß gemeinter und erfüllter Intentionalität. Das Fühlen einer Werteigenschaft weist Grade der Evidenz auf, die unabhängig vom Erleben positiver oder negativer Gefühle sind. So kann man sich z. B. über einen Sachverhalt freuen, den man nur durch Mitteilung erfährt. Auch kann die erfüllte Kenntnisnahme einer unangenehmen Situation, in der sich soeben jemand befindet, nicht nur zu keinerlei Form von Mitgefühl, sondern sogar zu Schadenfreude führen, in der also ein positives Gefühl aufgrund der Kenntnisnahme negativer Charakteristika erlebt wird. Das Phänomen der Schadenfreude mag zwar durch Heranziehung eines breiteren Sinnhorizonts verständlich werden (die Person, die soeben in Schwierigkeiten geraten ist, könnte sich in der Vergangenheit oft als arrogant erwiesen haben), dennoch bleibt offen, ob Schadenfreude in solchen Situationen als ›angemessene‹ Reaktion aufgefasst werden sollte. Diesem Beispiel lassen sich zwei wesentliche Züge der kognitiven Funktion von Gefühlen entnehmen: Sie sind in einen vielschichtigen Motivationszusammenhang eingebettet, und sie zeigen eine intrinsische Normativität. Wir können bei der Schadenfreude nämlich verschiedene Momente unterscheiden: (1) das intentionale Gefühl, also die emotive Kenntnisnahme des negativen Werts der Unannehmlichkeit; (2) die Stellungnahme der Schadenfreude als Bejahung der Situation, die sich im ersten Gefühl als unangenehm erweist; (3) die Schadenfreude schließlich als eintretender affektiver Zustand. Schadenfreude kann daher erst aufgrund ihres intentionalen und positionalen Charakters (1 und 2) und nicht allein als rein affektiver Zustand (3) gekennzeichnet werden. Nur wenn das Fühlen eine Form der direkten Kenntnisnahme von Werten ist, die zwar wie die Wahrnehmung fehlbar ist, aber prinzipiell im weiteren Erfahrungsverlauf korrigierbar bleibt, lassen sich Emotionen als angemessen oder unangemessen erfassen und lassen sich Werturteile rechtfertigen. Die phänomenologische Werttheorie vertritt also folgende Thesen: Erstens, Werte sind fühlend-empfänglichen Subjekten anschaulich gegeben: Das intentionale Fühlen gilt als ihr ›originär gebendes Wertbewusstsein‹.
III.1. Werttheoretische Ansätze
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Zweitens, alle affektiven Phänomene sind in Gefühlen fundiert, aber nicht auf sie reduzierbar. Drittens, affektive Sensibilität gliedert sich in Schichten, die auf eine Hierarchie der Wertsphären und auf eine Tiefenordnung der Selbsterfahrung hindeuten (De Monticelli 2020). Die erste These wird oft mit gegenwärtigen perzeptiven Emotionstheorien in Verbindung gebracht, die Gefühlen die Fähigkeit zusprechen, einen epistemischen Zugang zu Werten herzustellen (Mulligan 2009). Die Kernaussage der zweiten These lautet, dass ein in jeder Affektion – trotz aller Komplexität – zugrunde liegendes Gefühl gesondert (d. h. in seiner Intentionalität) betrachtet werden kann. Mit der dritten These wird der Blick auf die Breite und Tiefe der Korrelation von Akten des Fühlens und ihren Wertinhalten eröffnet. 1.2. Ethos und Person
Das innere Erlebnis des Streits zwischen konkurrierenden Instanzen gilt Scheler als Ausgangspunkt seiner Ethik. Wenn das Fühlen auch der teils widerstreitenden Pluralität von Werten ausgesetzt ist, so ist es doch keineswegs blind. Im Lieben und Hassen erfährt eine Person die Erweiterung bzw. Verengung von Werteigenschaften der geliebten oder gehassten Objekte und in der Zuneigung oder Abneigung ihre Polarität. Ferner kann die Person zu diesen emotiven Akten Stellung nehmen und sich fragen, ob diese Stellungnahmen berechtigt oder unberechtigt sind. Die Frage der Falschheit oder Richtigkeit des Fühlens ist innig verbunden mit der Frage nach der Ordnung des ›Vorziehens und Nachsetzens‹ von Werten. Es geht nämlich nicht nur darum, ob ein einzelnes Objekt z. B. schätzenswert ist, sondern um eine gerechte Präferenzstruktur zwischen widerstreitenden Appellen. Scheler bezeichnet diese Präferenzstruktur der sittlichen Sphäre als ›Ethos‹. In der ästhetischen Sphäre entspricht dem Ethos der ›Stil‹. Ethos und Stil gelten in ihren jeweiligen Sphären sowohl als deskriptive wie auch als normative Begriffe, indem sie entweder ein individuelles (oder kollektives) faktisches oder ein ideales Präferenzsystem darstellen, das als Norm für die Kultivierung einer sittlichen bzw. ästhetischen Sensibilität dienen kann. Scheler zufolge sind die Akte des Vorziehens und Nachsetzens Erkenntnisakte, die nicht auf einzelne Wertgehalte, sondern auf die Hierarchie unter Wertobjekten gerichtet sind. Eine Präferenz kann punktuell oder habituell zwischen Gütern, aber auch zwischen Werten eingezogen werden: So wird z. B. die Entscheidung bei einer großen Menüauswahl aufgrund grundsätzlicher Geschmacksneigungen oder momentaner Gelüste getroffen. Wenn sich unter Werten Präferenzen etablieren, legen sie den Spielraum möglicher Entscheidungen zwischen Gütern fest: Zieht man körperliche Bewegung und Körperkraft den kulinarischen Genüssen vor, nicht aber einer wissenschaftlichen Berufstätigkeit, dann ist es gut möglich, eine Sportart nur in der Freizeit, nicht aber professionell zu betreiben, um die wissenschaftliche Laufbahn erfolgreich zu verfolgen, und sich nur gele-
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gentlich den einen oder anderen lukullischen Abend zu gönnen. Die Wahl der körperlichen Betätigung, die Art des Wissenschaftsberufs und die des Speisens können unter Einhaltung derselben Wertpräferenzen in verschiedenen Kontexten unterschiedlich verwirklicht werden. Korrelativ zu der formal-axiologischen Unterscheidung zwischen Gütern und Werten weisen also Präferenzstrukturen unter Werten bzw. Gütern unterschiedliche Variationsgrade auf. Ein Ethos ist stabiler als eine Güterpräferenz, die notwendig in einen empirischen Zusammenhang eingebettet ist. 1.3. Emotive Schichtung und Werthierarchie
Der eigentümliche Tiefencharakter der Gefühlsintentionalität drückt die Grade der Wertbetroffenheit unserer Individualität aus: Wertsphären und Werte betreffen uns unterschiedlich. Jede Person kann die Wertsphären in je verschiedener Tiefe erkennen und realisieren. Phänomenologisch lässt sich das emotive Leben als dynamische Kopräsenz einer vielschichtigen, polar artikulierten Sensibilität beschreiben. Eine existenzielle Verzweiflung kann z. B. tief im Kern der Person wurzeln, ohne die Empfänglichkeit für angenehme Empfindungen zu beeinträchtigen; ein beginnendes Erschöpfungsgefühl muss die Befriedigung in der Spannung einer sachlichen Zuwendung oder einer schöpferischen Tätigkeit nicht verblassen lassen. Im Gegenteil wird eine stumpfe Mattheit erst dann eintreten, wenn diese geistige Tätigkeit abgeschlossen oder unterbrochen ist. Dieser Schichtung entspricht eine Pluralität von Wertsphären: (1) Die Werte des Angenehmen und Unangenehmen drücken die lokalisierbare körperliche Sinnlichkeit aus, (2) die vitalen Werte die Lebenskraft des gesamten Leibs. (3) Die Kulturwerte sind auf Gegenstände des geistigen Interesses gerichtet. (4) Die Wertsphäre des Heiligen umgreift Scheler zufolge die Totalität der existenziellen Tiefe der Person. Diesen Sphären stellt Scheler ferner eine fünfte zur Seite, die den Bereich des Nützlichen und Schädlichen umfasst und entweder dem körperlichen Wohlergehen oder der Lebenssteigerung dient. Scheler schreibt diesen Wertsphären einen aufsteigenden Wert zu, von den Zuständen der körperlichen Anteile (sinnliche Werte) über die Dynamik des leiblichen Ganzen (vitale Werte) und die Region der geistigen Interessen (kulturell-geistige Werte), bis hin zum Ganzen der Person (personal-heilige Werte). In exzentrischer Stellung steht den anderen Wertsphären schließlich die sittliche Wertsphäre des Guten und Bösen gegenüber, die Scheler zufolge in der konkreten Entscheidung zwischen Werten und in der Wertpräferenz (Ethos) von Personen Ausdruck findet. Sittlich gut ist, wer höhere Werte niedrigeren vorzieht und demgemäß handelt. Wer des Vorziehens und Zurücksetzens fähig ist, ist ein moralisches Subjekt: Nur Personen und ihre Handlungen können Träger sittlicher Werte sein. Darum sind sittliche Werte wesentlich mit der Annahme einer erkennbaren Hierarchie verkoppelt.
III.1. Werttheoretische Ansätze
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Schelers Festlegung einer objektiven Werthierarchie gilt in diesem Kontext als umstrittenster Punkt seiner Lehre. Es legten sich allerdings nicht alle Phänomenolog:innen auf eine derartige Hierarchie fest. Husserl lässt offen, welche Rangordnung zwischen praktischer und theoretischer Lebensführung oder zwischen dem Guten, dem Schönen und dem Wahren bestehe. Auch Hartmann betont, dass das sittlich Gute bzw. Böse wegen seiner Komplexität ›unbestimmbar‹ sei. Die Rangfolge sowie die ›Dringlichkeit‹ (Reiner 1951) und ›Bedeutsamkeit‹ (Hildebrand 1916) hängen – auch entgegen einer abstrakt feststellbaren Werthierarchie – stark von den jeweiligen Umständen ab. Alle Phänomenolog:innen stimmen letztlich darin überein, dass das praktische Sollen sich erst situativ und nicht aus der Anwendung abstrakter Regeln ergibt. Anders als G.E. Moores Monismus, der nur sittliche Werte anerkennt, oder Max Webers Polytheismus der Werte, der eine Ordnung zwischen Wertsphären prinzipiell ausschließt, geht die Frühphänomenologie also von einem Wertepluralismus aus, in dem verschiedene Wertinstanzen konkurrieren, sodass der Frage ihrer Rangordnung nicht ausgewichen werden kann. Aufgrund ihrer unbeschränkten Pluralität ist es einer Person praktisch unmöglich, sich allen Wertsphären zugleich zu widmen. Das soll jedoch nicht dazu verleiten, diejenigen Wertsphären zu leugnen, die nicht direkt erfahren werden: Sie können durchaus anderen Personen, Epochen oder Kulturen zugänglich sein. So besteht die Gefahr eines Wertfanatismus, wenn die erhöhte Sensibilität für eine Wertsphäre das Bewusstsein anderer Wertsphären teils oder gänzlich verdrängt – ein Phänomen, das Hartmann auch als »Tyrannei der Werte« (N. Hartmann 1926/1962, 574 ff.) bezeichnet. 1.4. Werten und Wollen
Die frühphänomenologische Werttheorie unterscheidet zwischen dem Rezeptivitätscharakter des Fühlens und dem Neigungscharakter der Strebungen. Entgegen der traditionellen Vermengung dieser beiden Momente behaupten die Phänomenolog:innen der ersten Stunde (mit der markanten Ausnahme Heideggers), dass Strebungen zwar auf Affekten aufruhen, aber selbst keine Gefühle seien. Damit verknüpft ist die These, dass der Wille entweder durch direkte Kenntnisnahme von Werten oder durch auf Werturteile gegründete Normen motiviert wird. Werte selbst haben keine motivierende Kraft, vielmehr kann diese nur der Willenssphäre entspringen. Der emotiven Schichtung entspricht dabei die Gliederung von Trieben, Neigungen, Strebungen, Wünschen und Entscheidungen. Während Gefühle durch ihre positive und negative Polarität ausgezeichnet sind, werden Strebungen im Widerstand von Gegenstrebungen deutlich. Bei der Handlungsstruktur unterscheiden Phänomenolog:innen die Wahl, in der konkurrierende Ziele abgewogen werden, und die Entscheidung, mit der das Ich »aus sich selbst hinaus zentrifugal einen geistigen Schlag ausführt« (Pfänder 1900/1963, 135). Wie jede Stellungnahme kann auch die Entscheidung in allen Setzungsmodi getroffen werden: Sie kann z. B. sicher oder zögerlich sein. Der Entscheidungswille
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ist die erste aktive Stellungnahme des Willens, in der ein künftiger Sachverhalt aufgrund von abgewogenen Motiven als etwas, das sein soll, bejaht wird. Der Entscheidung wohnt ferner ein kreatives Moment inne. Sie ist ein freier und schöpferischer Akt der praktischen Selbstbestimmung, die eine Verpflichtung zur Selbsttreue stiftet: Person sein heißt, Entscheidung und Überzeugung nicht aufzugeben. Das Korrelat der Entscheidung ist der Vorsatz, der in umsetzenden Willensakten bei der Ausführung der beabsichtigten Handlung verwirklicht wird. Schon in der deliberativen Phase tritt das Bewusstsein der eigenen praktischen Möglichkeiten ein, wodurch ausgesondert wird, was ich gelingend ausführen und was ich nicht umsetzen kann: In der Erfahrung dieses ›Ich-kann‹ oder ›Ich-kann-nicht‹ konstituieren sich Strebungen entweder als unrealistische Wünsche oder als mögliche Vorsätze. Husserls Reformulierung des kategorischen Imperativs zu »Tue das Beste unter dem Erreichbaren!« (Hua XXVIII, 153) unterstreicht, wie die Phänomenologie sich von Kants Universalisierungsmaxime distanziert: Die Person als ›konkrete Einheit wesensverschiedener Akte‹ ist ein in seiner rationalen Struktur – und nicht nur in seiner Leiblichkeit – individuiertes Vernunftsubjekt, das aufgrund seiner personalen Gründe und Fähigkeiten handeln soll. Diese personalistische Note spitzt sich im Rekurs auf den Begriff der ›Berufung‹ zu, der auch in der paradoxen Formulierung des ›An-Sich-Guten für mich‹ (Scheler, GW 2, 482) bzw. ›für den Anderen‹ (Reiner 1951) auf eine individuelle Form normativer Notwendigkeit hinweist. 2. Das Problem der Normativität. Von der Wertethik zur Verantwortungsethik Das Hauptproblem einer phänomenologischen Ethik besteht darin, zu erklären, wie individuelle Erfahrung überhaupt objektiv allgemeingültige Normen begründen kann. Wertrealisten behaupten, dass jedes Subjekt, das Werte erkennen kann, auch die Verpflichtung zur Umsetzung dieser Werte anerkenne. Dabei ist zu beachten, dass nicht die Wertevidenz verpflichtet, sondern die Entscheidung, die Werte als etwas Gesolltes bejaht. Die Entscheidung selbst schöpft zwar keine Werte, sie stiftet aber den Willen, gemäß den anerkannten Werten zu leben. Werte sind demnach ein ideales Seinsollen, aus dem Normen in Bezug auf konkrete Situationen abgeleitet werden können. Auf dieser Basis wurden auch Ansätze einer phänomenologischen Rechtsphilosophie entwickelt. Gegen dieses Paradigma wandte sich der Existenzialismus, der die Ansicht vertrat, dass Werte nur in Bezug auf menschliche Interessen bzw. auf diejenigen Entscheidungen geschaffen werden, die Menschen frei treffen. Levinas verortete wiederum die erlebte Verpflichtung in dem Appell des Anderen. Im Folgenden werden die drei Paradigmen (1. ideales Sollen, 2. Ethik der Freiheit, 3. Levinas) erläutert. In diesem Dreischritt zeichnet sich bereits der allmähliche Übergang der Wertethik zu einer Verantwortungsethik ab (Direk 2014).
III.2. Das Problem der Normativität
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2.1. Ideales Sollen. Von Husserl zur Rechtsphänomenologie
In den ›Prolegomena‹ vertritt Husserl die Ansicht, dass jede normative und jede praktische Disziplin eine oder mehrere theoretische Disziplinen voraussetzt, die sich mit dem ihnen zugrunde liegenden theoretischen Inhalt befassen, der von seiner Normierung geschieden werden kann (Hua XVIII, 53–58). Während die theoretische Disziplin ermittelt, was ist, bestimmt die normative Disziplin, was sein soll. Husserl unterscheidet zwischen dem okkasionellen Sollen von Wünschen oder Befehlen, wie etwa bei ›X soll zu mir kommen‹, und dem Sollen, das eine Forderung ausdrückt, insofern sie unabhängig von den sozialen Akten des fordernden und aufgeforderten Subjekts besteht, so z. B. ›Ein Krieger soll tapfer sein‹. Der letzte Satz ist Husserl zufolge nicht auf jemandes Wünschen bzw. Wollen gegründet und impliziert, dass nur ein tapferer Krieger ein ›guter‹, ein nichttapferer hingegen ein ›schlechter‹ Krieger ist. Erst aufgrund dieses impliziten Werturteils können ein entsprechendes Wünschen und Wollen berechtigt sein. Husserl stellt also die Formen ›Ein A soll B sein‹, ›Ein A, welches nicht B ist, ist ein schlechtes A‹ und ›Nur ein A, welches B ist, ist ein gutes A‹ gleich (Hua XVIII, 54). Diese Formel sei in verschiedenen materialen Wertsphären vielfältig zu deuten, grundsätzlich setze aber jeder normative Satz eine Werthaltung voraus, aus der eine axiologische Polarität (gut bzw. schlecht) erwachse (Hua XVIII, 55 f.). Ein normativer Satz spreche die Bedingungen für das Besitzen des Wertprädikats aus, das die Werthaltung bestimmt, und sei deswegen wahrheitsfähig. Im Gegensatz zum sogenannten Gesetz Humes, das die Überführung vom Sein zum Sollen verbietet, gründet Husserl das Sollen auf ein Sein. Eine ›Ethik‹ besteht ihm zufolge aus einer Gruppe zusammengehöriger Normen, die in einer Grundnorm fundiert sind, wie es etwa bei Kants kategorischem Imperativ oder dem Prinzip vom »größtmöglichen Glück der größtmöglichen Anzahl« des Utilitarismus der Fall ist (Hua XVIII, 57). Jede Grundnorm wiederum basiert auf einer Grundwertung, wie z. B. der hohen Wertschätzung, die der Hedonismus der Erzeugung, Aufrechterhaltung und Steigerung von Lust entgegenbringt. An diese Ausführungen knüpft Scheler im Zuge seiner Widerlegung der imperativen Ethik an, d. h. der Position, dass nur dasjenige, das ge- und verbietbar ist, auch sittlichen Wert habe. Mit Husserl unterscheidet Scheler zwischen idealem Sollen und einem Sollen, das sich an ein Subjekt in der Form des Imperativs (Befehle, Normen und Pflichten) richtet. Das gefühlsmäßige Einsehen des idealen Sollensinhalts eines gegenwärtig nicht seienden Wertes motiviert unmittelbar die Forderung an den Willen, diesen Wert zu realisieren (Scheler, GW 2, 211 ff.). Das imperative Sollen befiehlt hingegen die Setzung eines Wertes erst dann, wenn das Subjekt keine Tendenz zur Einsicht des Wertes hat bzw. ihm eine Gegentendenz dazu eignet. Nach Scheler sind Imperative und Normen erst dann berechtigt, wenn sie 1. auf ein ideales Sollen sowie den dazugehörigen Wert zurückgehen und wenn 2. derjenige, der ge- oder verbietend befiehlt, eine Tendenz gegen dieses ideale Sollen im befohlenen Subjekt bemerkt. Fehlt die Gegentendenz, so wir-
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ke ein Befehl kontraproduktiv (ebd., 220 f.). Aus diesem Verhältnis von Normen und Werten folgt für Scheler, dass »Imperative und Normen bei Anerkennung derselben Werte sowohl geschichtlich als bei verschiedenen Gemeinschaften variieren« (ebd., 222) können. Normen sind also sowohl auf die konkreten Werteinsichten als auch auf die realen Veranlagungen und Neigungen der jeweiligen Subjekte bezogen. Husserls These vom theoretischen Inhalt der Normen wurde von den Rechtswissenschaften und der Phänomenologie teils aufgegriffen, teils verschiedenartig fortgeführt (Loidolt 2010). An dieser Stelle sei auf drei Ansätze hingewiesen: den realistisch-ontologischen Entwurf Reinachs, die logisch-positivistische Rechtsphänomenologie sowie die egologische Rechtstheorie. Reinach begründet eine apriorische Rechtslehre, der zufolge für rechtliche Gebilde apriorische Sätze und Begriffe gelten, die das positive Recht vorfindet und nicht erzeugt (Reinach 1913/1989, 143). Ihrer Formalität wegen heben sich solche apriorischen Sätze von naturrechtlichen Sätzen ab. Reinach befasst sich hierbei nämlich nicht mit materialen Wertfragen des idealen Sollens, sondern mit rechtlichen Formen des sozialen Sollens, wie etwa Versprechen, Ansprüche und Verpflichtungen, die er im Rahmen seiner Theorie der ›sozialen Akte‹ deutet. Ein sozialer Akt ist ein vernehmungsbedürftiger Sprechakt: Er kann erst wirken, wenn das Subjekt, an das er sich richtet, ihn vernimmt. So geht Reinach z. B. auf die Verbindlichkeit des Versprechens ein: Gibt Person A einer Person B ein Versprechen, das diese vernimmt und annimmt, so entsteht allein aus diesem sozialen Akt ein wesensmäßiger Anspruch von Person B darauf, dass das Versprechen erfüllt wird, entsteht eine ebensolche Verbindlichkeit für Person A, das Versprechen einzuhalten. Gegen Reinachs Auffassung wenden sich Felix Kaufmann und Fritz Schreier, die sich ihrerseits am kritischen Rechtspositivismus Hans Kelsens orientieren. Kelsens Trennung von Normen der Moral, die auf subjektivem Wollen beruhen, und Rechtsnormen, die unabhängig von Individuen gesetzt sind durch die Zwangsgewalt der Autorität (Kelsen 1923, 21), beruht auf der Annahme, dass beide Formen einer willkürlichen Wahl entstammen – nicht der Vernunft (Kelsen 1928). Ein Normensystem kann ihm zufolge nur in anderen Normen fundiert sein. Auch dadurch, dass Kelsen das Postulat einer Grundnorm einführt, hält er an der Korrelation von Norm und Wille fest, da die Grundnorm noch immer Korrelat eines fiktiven Willens bleibt (Kelsen 1963, 119 f.). Anders als Husserl behauptet Kelsen, dass Normen nur gültig bzw. ungültig, nicht aber wahr bzw. falsch sein können, und zwar deshalb, weil sie sich präskriptiv auf ein Sollen und nicht deskriptiv auf ein Sein beziehen. Husserls werttheoretische Position, dass Normen einen theoretischen Gehalt haben, der auf eine Werthaltung zurückgeht, verwirft er ausdrücklich (Kelsen 1979, 158 ff.). Kelsen deutet die Form der Rechtsnorm als Sanktionsnorm, die in einem hypothetischen Urteil der Form ›Wenn A (Missetat), dann B (Sanktion)‹ Ausdruck findet. Die Rechtswissenschaft befasse sich ausschließlich mit solchen hypothetischen Rechtssätzen. Dem folgend kann für Kaufmann und Schreier kein ›recht-
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liches Gebilde‹ aus sozialen Akten des Versprechens hervorgehen. Das (positive) Recht als ›gesellschaftliche Zwangsnorm‹ und ›soziale Technik‹ bestehe vielmehr in Soll-Sätzen bzw. Normen, die von einer Autorität gesetzt werden. Sie deuten also Normen als hypothetische Sätze, die im Rechtsakt erfasst werden. So wird z. B. die Rechtsnorm »Diebstahl wird mit Gefängnis bestraft« zum Rechtssatz »Wenn eine Person stiehlt, wird sie mit Gefängnis bestraft« (Schreier 1924, 27). Mit Kelsen setzte sich auch die egologische Rechtstheorie Carlos Cossios auseinander, der mit ihm eine Kontroverse (Cossio 1952; Kelsen 1953) darüber austrug, wie man Normen von Imperativen zu unterscheiden habe und ob Normen selbst – statt lediglich Urteile über Normen – wahrheitsfähig seien. Cossio vertritt schließlich die Auffassung, dass die Norm in einem gnoseologischen Verhältnis zum Verhalten steht: Während für Kelsen das Recht eine normative Wissenschaft ist – sie hat Normen zum Gegenstand –, ist für Cossio die Norm selbst eine transzendentale Wissensform, durch die das menschliche Verhalten aufgefasst wird. Die Norm befiehlt nicht und regelt nicht, sie erkennt und bestimmt ein Verhalten, z. B. eines, das zum Tode führt als Mord oder als Teil eines Unglücks, das am Unfalltod beteiligt war. Aufgrund dieser Unterscheidung zwischen Befehl und Norm zieht Antônio Luís Machado Neto den Schluss, dass alle Imperativtheorien des Rechts – d. h. solche, die die Auffassung vertreten, dass das Recht sich aus handlungsleitenden Sätzen zusammensetze, die erst aus einem herrschenden Willen (demjenigen Gottes, eines Herrschers oder des Volkes) hervorgehen – dem Animismus gleichen, bei dem jedem Naturphänomen eine Absicht zugeschrieben wird (Neto 1971). 2.2. Ethik der Freiheit
Der allgemeine Impetus der Phänomenologie könnte als ›Entformalisierung‹ der Ethik beschrieben werden. Im Kontext der frühen Wertethik führt diese Entformalisierung zu einer Aufwertung der ›materialen‹ und gefühlten Momente in der Urteilsbildung; im Kontext der Verantwortungsethik führt dies zu einer Verlagerung von einer egologischen zu einer alteritätstheoretischen Perspektive. Es ließe sich sogar behaupten, dass sich am Problem des Anderen die Wege zwischen einer Wertethik, die vor allem in der ersten, und einer Verantwortungsethik, die vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Phänomenologie prägend war, scheiden. Die Aufwertung der affektiven Sphäre gegenüber einer formalistischen Ethik bleibt Levinas zufolge auf halbem Wege stehen, weil das Wertfühlen immer nur als Bestätigung personaler Weltanschauungen fungiert, nie aber als Ereignis, das derlei Weltanschauungen auch radikal herausfordern kann. Laut Levinas ist es gerade die Begegnung mit dem Anderen, die das Selbst dazu zwingt, die eigene Werteskala zu überdenken und sich für andere Ordnungen der Bedeutsamkeit zu öffnen. Um diese Entwicklung nachzuvollziehen, muss man zunächst bei drei anderen Autoren Station machen, die sich ebenfalls kri-
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tisch mit der Wertethik auseinandersetzten: Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre und Paul Ricœur. 2.2.1. Heideggers Verwerfung der Wertethik
Heideggers Sein und Zeit markierte eine radikale Zäsur für die phänomenologische Ethik. Im Zuge seiner kategorialen Auslegung des in der Welt vorhandenen Seienden unterscheidet er wie Scheler zwischen bloßen Dingen, Naturdingen und wertbehafteten Dingen. Indem er deren Dinghaftigkeit problematisiert, stellt er allerdings Schelers Unterscheidung zwischen Werten und Gütern prinzipiell infrage: »[D]er Zusatz von Wertprädikaten« könne nichts über das Sein der Güter mitteilen, weil in ihrer Seinsart »pure Vorhandenheit« wiederum vorausgesetzt sei (SuZ, 99). »Die Zuflucht zu ›wertlichen‹ Beschaffenheiten« könne »das Sein als Zuhandenheit« nicht in den Blick bringen (SuZ, 100). Ausdrücklich legt Heidegger der phänomenologischen Wertethik zur Last, »eine ›Metaphysik der Sitten‹, das heißt Ontologie des Daseins und der Existenz zur unausgesprochenen ontologischen Voraussetzung« zu haben; diesem Ansatz gelte das Dasein »als Seiendes, das zu besorgen ist, welches Besorgen den Sinn der ›Wertverwirklichung‹ bzw. Normerfüllung hat« (SuZ, 293). Das Dasein verfehle hierbei seinen Sinn als ›sich entwerfendes Sein‹, d. h. als »das Seiende, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht« und das sich »zu seinem Sein als seiner eigensten Möglichkeit« verhält (SuZ, 42). Heidegger verlagert den Fokus von der Gegebenheit der Werte im intentionalen Fühlen auf nichtintentionale Stimmungen sowie die Grundbefindlichkeit der Angst, der in seiner existenzialen Daseinsanalytik eine grundlegende metho dische Funktion zukommt. Schließlich impliziert seine Zeuganalyse ein vornehmlich instrumentales Verständnis der praktischen Vernunft, die durch den Akzent, den er auf die Entschlossenheit als ›Wahl des Selbstseins‹ setzt, klare dezisionistische Züge trägt. Löwith merkt diesbezüglich an, dass die jungen Leser:innen von Sein und Zeit »entschlossen waren, ohne zu wissen wozu, ehe ihnen die vulgäre Geschichte des ›man‹ einen Inhalt für ihre Entschlossenheit gab« (Löwith 1986, 15). 2.2.2. Sartres Phänomenologie der Freiheit
Im Ausgang von Sein und Zeit verwirft die existenzialistische Wendung der Phänomenologie, die sich nach 1933 vor allem in Frankreich durchsetzt, das Normen auf Wertinhalte begründende Paradigma und vertritt stattdessen eher wertidealistische Positionen. In Das Sein und das Nichts bemüht Sartre das Beispiel des klingenden Weckers, der mich nicht nur an meine Pflichten, sondern auch an meine Freiheit erinnert. Ich muss aufstehen und zur Arbeit gehen, wobei dieser normative Appell nur nötig ist, weil ich auch anders könnte. Doch in dem Augenblick, in dem ich feststelle, dass der Wecker klingelt, stelle ich auch fest, dass ich
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diesem normativen Appell unwillkürlich bereits gefolgt bin, und mich überkommt eine regelrechte Angst darüber, dass ich es ja bin, der hier dem Wecker eine normative Kraft verleiht, mein Leben zu regeln. Doch letztlich stehle ich mich damit nur aus der Verantwortung: Ich und ich allein muss zu dem stehen, was ich tue und ob ich etwa die geltenden gesellschaftlichen Konventionen akzeptiere. Diese ›ethische Angst‹ steht dann faktisch quer zu dem, was Sartre auch ›Alltagsmoral‹ oder ›Ernsthaftigkeit‹ nennt. In der unreflektierten, alltäglichen Welterfahrung lebend legen wir unser Verhalten anhand stillschweigend hingenommener Regeln aus. Diejenigen, »die sich selbst ›anständige Leute‹ nennen«, seien nicht etwa anständig, weil sie den Wert der Anständigkeit erfassen, sondern weil sie »seit ihrem Auftauchen in der Welt in ein Verhalten geworfen [sind], dessen Sinn die Anständigkeit ist« – »so gewinnt die Anständigkeit ein Sein« und wird nicht infrage gestellt (Sartre 1943/2020, 107). Doch ebenso wenig wie ein per Konvention festgelegter Wert schon per se ethische Gültigkeit beanspruchen kann, kann ich ethische Normen durch mein faktisches Verhalten ableiten. Nur meine Freiheit kann die Gültigkeit von Werten freilegen: »Als Sein, durch das die Werte existieren, bin ich nicht zu rechtfertigen. Und meine Freiheit ängstigt sich, die unbegründete Begründung der Werte zu sein« (ebd., 106). Denn diese Werteordnung anzuerkennen, wirft mich auf meine Möglichkeit zurück, die herrschende Werteordnung umzustürzen, weil das Reich des Sollens nicht aus dem Reich des Seins ableitbar sei. Sartre leitet daraus die paradoxe Konklusion ab, dass einzig die Erfahrung einer Unmöglichkeit, Werte absolut zu begründen, deren Eigenständigkeit und Idealität garantiere. Die Selbsttäuschung (mauvaise foi) des Wertrealisten besteht Sartre zufolge darin, zu glauben und zu behaupten, dass er Werte umsetzen will, die objektiv vor ihm stehen. Sartre wendet dagegen ein, dass dasjenige, was schon existiert, nicht sinnvoll danach verlangen könne, umgesetzt zu werden. Demzufolge sei der Wertrealismus widersprüchlich. Sartres Argumentation basiert auf der Prämisse, dass das Sein der Werte mit ihrer Existenz gleich sei. Hält man aber an der Unterscheidung zwischen Gütern und Werten fest, gilt das Argument nicht mehr: Denn der Wille setzt sich erst die künftige Existenz von noch nicht existierenden Werten vor, die dem Fühlen unabhängig von ihrer Existenz gegeben werden können. Sartre kritisiert am Wertrealismus Schelers, dass dieser die Verantwortung des Subjekts schmälert, das dazu stehen muss, dass jene Werte, die es seine eigenen nennen will, nie gegeben sind, sondern erst gewonnen werden wollen. Sartre zufolge bleiben wertrealistische Ansätze in einer irreflexiven Naivität befangen. In der ›Ernsthaftigkeit‹ lässt sich das Subjekt vom Objekt her bestimmen und erlebt die Bedeutungen, die seine Freiheit der Welt verliehen hat, als ob sie aus der Welt selbst stammen würden. Erst in der ethischen Angst erfasst das Subjekt seine Freiheit und kann nicht mehr leugnen, dass alle Bedeutungen, Werte und Normen aus seiner freien Setzung stammen. Schließlich ist Freiheit die »einzige Grundlage der Werte, und nichts, absolut nichts rechtfertigt mich, diesen und nicht jenen Wert, diese oder jene Werteskala zu übernehmen« (ebd., 106). An-
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ders als bei Heidegger geht Sartres Ablehnung der Werttheorie mit einem dezidiert emanzipatorischen Projekt einher. Existenzialist:innen legen den Akzent auf den konservativen Ton der traditionellen Wertdiskurse: Solange man sich nicht von der unaufrichtigen Annahme vermeintlich objektiver Werte befreie, bleibe man dem Druck ausgesetzt, falsche Wertvorstellungen zu übernehmen, die letztlich von ökonomischen (Sartre), patriarchalen (de Beauvoir) oder kolonialen (Fanon) Machtverhältnissen bedingt seien. 2.2.3. Ricœurs Hermeneutik der Verantwortung
Einen Versuch, Wertethik und Verantwortungsethik miteinander zu verbinden, unternimmt Paul Ricœur im seinem Frühwerk Das Willentliche und das Unwillentliche (1950). In Abgrenzung zu Sartres Ansicht, dass Werte nicht dem Subjekt gegeben, sondern von seiner unbegründeten Freiheit gesetzt seien, unterscheidet Ricœur zwischen der Willkür und dem verantwortlichen Akt und betont, dass der Wille erst durch Heranziehung von Werten verantwortlich werde. Ricœur weist dezidiert Sartres These zurück, »dass die Wahl auch die Wahlgründe bestimmt« und »eine Schöpfung von Werten ist« (Ricœur 1950/2016, 214). Ricœur teilt die frühphänomenologische Ansicht, dass Werte Entwürfe motivieren und erst durch das Hinterfragen ihrer Motive erkannt werden, indem das ethische Bewusstsein »von den Gründen seines Entwurfs auf die Gründe dieser Gründe zurückgeht« (ebd., 102). Allerdings gibt es für Ricœur keine selbstständige Werterfahrung außerhalb der Sphäre des Wollens. Erst wenn ich einen Entwurf motiviere, stoße ich auf Werte und somit können sie in meiner aktiven Bestätigung erscheinen. Während für den werttheoretischen Ansatz ein Motiv einen Wert voraussetzt, gilt für Ricœur, dass ein Motiv einen Wert darstellt und ›vergeschichtlicht‹. Aufgrund ihrer Abhängigkeit von der historischen Situation können Werte nicht als ›zeitlose Ideen‹ verstanden werden, denn sie sind als überpersönliche Ansprüche notwendig geschichtlich gebunden. In diesem Sinne spricht Ricœur von einer Paradoxie des Wertes: »Er ist kein absolutes Erzeugnis der Geschichte, er wird nicht erfunden, sondern anerkannt, gewürdigt, entdeckt, jedoch nur im Maße meiner Fähigkeit, Geschichte zu schreiben, die Geschichte zu erfinden« (ebd., 103). Aufgrund der Geschichtlichkeit der Werterfahrung wird man »nie damit fertig, das Motivationsfeld des menschlichen Wollens zu öffnen. Letztlich offenbart sich die Inkommensurabilität der Werte wesentlich in der affektiven Verworrenheit der Motive« (ebd., 163). Ricœurs Hermeneutik stellt die Evidenz einer Werthierarchie grundsätzlich infrage: Die Suche nach einer Werthierarchie bleibe stets ein unbestimmter Prozess (ebd., 181), die Erkenntnisform der Wertordnung könne nie den Modus der Gewissheit haben. Allerdings kann es keinen Einsatz für eine abstrakte Wertordnung geben, ohne diese Rangordnung als Aufgabe für alle mitzudenken. Die gleichzeitige Anerkennung der Wertforderung und der Unabschließbarkeit der Werterfahrung verlangt einen persönlichen Einsatz.
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Überhaupt kreist Das Willentliche und das Unwillentliche zentral um die Frage der persönlichen Verantwortung und der Problematik der Zurechenbarkeit, die in den Kontext einer Begegnung mit anderen gestellt wird. Die Frage danach, für welche Taten ich verantwortlich bin, stelle ich mir nur, weil ich »in einem sozialen Kontext stehe, in dem ich erst das Bewusstsein darüber erlange, Urheber meiner Handlungen zu sein«; Verantwortung entsteht somit, laut Ricœur, aus dem Geiste des Antwortens: »Jemand stellt die Frage: Wer hat dies getan? Ich stehe auf und antworte: Ich war es. Antwort: Verantwortung. Verantwortlich zu sein heißt, bereit zu sein, auf eine solche Frage zu antworten.« (Ebd., 83) Die ethische Reflexion wird insofern nicht nur in Anbetracht der Mitgegenwart anderer in Gang gesetzt, sie zielt auch auf die Frage, wie ein Leben zu führen ist, in dem die anderen mitberücksichtigt sind. Ethik sei »die Ausrichtung auf das ›gute Leben‹ mit Anderen (autrui) und für sie in gerechten Institutionen« (Ricœur 1990/1996, 210, 397), wobei alle drei Komponenten gleich wichtig sind: 1. das ›gute Leben‹, 2. mit und für die anderen, 3. in gerechten Institutionen. Der Wunsch nach einem gelingenden Leben bildet die erste ethische Instanz: Der Wunsch, der Optativ, gehe jedem Imperativ voraus: »›Oh könnte ich gut leben im Horizont eines gelungenen und – in diesem Sinne – glücklichen Lebens!‹« (Ebd., 229) Ferner gehe die Selbstschätzung der eigenen Fähigkeit als Urheber von Handlungen einher mit der Fürsorge für den Anderen (ebd., 253). Schließlich seien Ungleichheiten bei der Verteilung von existierenden und potenziellen Vorteilen und Belastungen zu vermeiden und die Gerechtigkeit der Institutionen unter ethischem Gesichtspunkt zu prüfen (ebd., 256). Die Gerechtigkeitsforderung der ricœurschen Ethik ergibt sich durch die Dezentrierung ihrer Perspektive: Der Andere ist ein Du und das Selbst ein Anderer. 2.3. Levinas: Verantwortung als Antwort
Wenn es um die Frage geht, welche Wirkungen die Phänomenologie auf dem Feld der Ethik entfaltet hat, dann ist die Bedeutung eines Autors kaum zu überschätzen: Emmanuel Levinas. Wie kein Zweiter hat seine radikale Neukonzeption der Ethik als prima philosophia nicht nur der Phänomenologie eine responsive Wendung gegeben ( B.III.5); es ist auch die Ethikdebatte, in die Levinas neue Motive eingebracht hat. Seinen Denkweg hat Levinas beschrieben als einen Weg »zur Ethik im Ausgang von der Phänomenologie« (Levinas 1997b). Als Übersetzer von Husserls Cartesianischen Meditationen weist Levinas insbesondere auf die unüberbrückbare Transzendenz des Anderen hin, der sich im Rahmen der analogisierenden Paarung nicht auf die Eigenheitssphäre des Selbst reduzieren lässt. Erst wenn das Fragen nach der Struktur ego – alter nicht vom Selbst, sondern vom Anderen her aufgenommen und verantwortet wird, eröffnet sich dem Subjekt deren unerschöpflicher Sinn als ethische Instanz. Verantwortung sei daher vornehmlich für und mit dem Anderen und nur in zweiter Instanz Selbstverantwortung. Levinas’ Ethik nimmt dabei sowohl Motive des husserl-
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schen wie des heideggerschen Denkens auf, geht allerdings auch mit beiden kritisch ins Gericht. Der Andere, so Levinas, lässt sich weder durch eine Phänomenologie noch durch eine Ontologie erfassen. Der Andere ›erscheint‹ laut Levinas nicht im eigentlichen Sinne im immanenten Feld des Bewusstseins, sondern sprengt dessen Fassungskraft von vornherein; er ›gibt‹ sich nicht, sondern tritt als Überschuss auf, als eine Präsenz, die mir zuvorkommt und sich insofern nicht als Gegenüber stabilisiert. Vom Anderen bleibt nie mehr als eine Spur, auf deren prinzipiell nie ganz einholbare Ansprüche immer verspätet geantwortet wird. Von Heideggers Versuch einer Rettung der Ontologie distanziert sich Levinas wiederum, da jedes Seinsdenken für ihn unweigerlich auf dem Identitätsprinzip beruht (A ist A, Sein als Selbigkeit) und die Alterität, die mit dem Antlitz des Anderen aufblitzt, vielmehr eine Exteriorität des Seins offenbart, die sich nicht mit dem Prinzip rekursiver Schließung verträgt. Jedes Seinsdenken steht daher in Levinas’ Augen immer schon im Verdacht, totalitär zu agieren. Schon 1934 führt Levinas die nationalsozialistische Bewegung – der sich Heidegger mit seiner Rektoratsrede demonstrativ angeschlossen hatte ( B.I.5) – sowie letztlich alle autoritären Tendenzen der Politik des 20. Jahrhunderts auf das latent totalitäre Moment in jedem Identitätsdenken zurück. Denn jede Gesellschaft, die das Sein – die tragische Verzweiflung, die es mit sich bringt, und die Verbrechen, die es rechtfertigt – geradewegs akzeptiert, verdiene es, als barbarisch gekennzeichnet zu werden (Levinas 1935, 98). Das auf Identität basierende Seinsdenken bereite den Weg einer allgemeinen Entmenschlichung vor, der nur eine dezidierte ethische Wende zum ›Humanismus des anderen Menschen‹ entgegenwirken kann. Das Primat der Ontologie ist somit insgesamt infrage gestellt (Levinas 1951): Als ›erste Philosophie‹ soll die Ethik nun an die Stelle der Ontologie treten – eine Ethik, der das Affiziertwerden vom Antlitz des Anderen den ›Ausweg aus dem Sein‹, d. h. den Bruch mit den Totalisierungsbestrebungen des ontologischen Denkens, weist (Levinas 1972/1989). 2.3.1. Von-Angesicht-zu-Angesicht (vis-à-vis)
Levinas’ Ethik kann auch als eine deutliche Verabschiedung von der Ethik der Authentizität aufgefasst werden, die Sartres Moral der Kontingenz, aber auch Heideggers Entschlossenheitsrhetorik prägt. Es geht nicht mehr um die Frage, wie ich dem treu sein kann, was ich in Wahrheit bin, sondern wie ich meine eigene Existenz dem Anderen gegenüber rechtfertigen kann. Noch bevor das Dasein seine eigene Endlichkeit feststellt und sich zu seinem eigenen Vorlaufen-zumTode verhält, erfährt es den Tod des Anderen (Levinas 1988, 94). Anders als in Heideggers Eigentlichkeit, die sich in der Angst des Seins-zum-Tode erschließt, betont Levinas, dass durch die Verantwortung für die anderen Menschen ein Leben »in außerordentlicher Vergessenheit des Todes« (Levinas 1974/1992, 220) geführt werde. Die Begegnung mit dem Anderen wirft weniger die Frage nach dem Sein auf als viel grundsätzlicher die Frage nach Bedeutung: Alterität ist für
III.2. Das Problem der Normativität
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Levinas keine Identität, sondern eine Sinnstruktur. Der Andere ist jemand, dem gegenüber ich nicht indifferent sein kann, der mir also etwas bedeutet. Denn der Andere ist ein Anderer […] nicht, weil er andere Eigenschaften hätte, woanders oder zu einer anderen Zeit geboren worden wäre oder einer anderen Ethnie (race) angehören würde […]. Es ist überhaupt nicht die Differenz, die die Alterität ausmacht; es ist vielmehr die Alterität, die die Differenz ausmacht. (Levinas 1988, 92)
In seiner späten Philosophie deutet Levinas seine ethische Reflexion auch als eine Reduktion des ›Gesagten‹ auf das es konstituierende ›Sagen‹. Wie im Rahmen der Sprachpragmatik erörtert wird, ergibt sich der Sinn eines Sagens erst als das für jemanden Gesagte. Anders als bei der ontologischen Frage, die sich darum dreht, inwiefern es dem Dasein »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht« (SuZ, 12), drehe sich die ethische Frage um meine ›Auserwählung‹ (élection) durch den Anderen, also darum, inwiefern mir die Verantwortung für den Anderen zugewiesen wird. Die Differenz zwischen Sagen und Gesagtem drückt die unüberbrückbare ethische Asymmetrie zwischen Selbst und Anderem aus, die das ethische Subjekt zur unendlichen Verantwortung verpflichtet und dabei ein Gegengewicht zu jedem ontologischen Denken zu schaffen versucht. Nicht die Autonomie eines kantischen Subjekts, sondern die heteronome Verantwortung im Angesicht des Anderen wird für Levinas zur Chiffre der Ethizität. Vor dem Antlitz des Anderen werde »eine nicht abzulehnende Anordnung (ordre), ein Gebot« (Levinas 1963/1983, 223) erfahren. Indem der Andere mich unausweichlich in die Pflicht nimmt, befreie er mich von der »eigenen Souveränität des Selbst«: Das Antlitz des Anderen verletze die eigene Freiheit nicht, in seinem Ruf zur Verantwortung stifte es sie (Levinas 1961/1987, 292). Denn Freiheit bestehe nicht darin, sich selbst zu bestimmen, sondern für das »unbedingte Sollen« empfänglich zu werden (ebd., 118, 130). Der Appell des Anderen verpflichtet mich, und niemand anderer kann an meiner Stelle hierauf antworten. 2.3.2. Stellvertretung und Gerechtigkeit
Im Appell des Anderen konstituiert sich das Subjekt passiv als das adressierte ›Mich‹ und erst als solches kann es zu einem ›Ich‹ werden: Das ethische Subjekt entsteht zunächst in der Form des Akkusativs, indem es gerufen wird und antworten muss (Levinas 1961/1987, 105). Dieser Zusammenhang wird durch den wiederholt angeführten biblischen Ausdruck hinneni – Me voici! (wörtlich: ›Hier gibt es mich!‹ bzw. ›Hier bin ich!‹) unterstrichen. Levinas bezieht sich auch gerne auf Dostojewski, um denselben Zusammenhang auszudrücken: »Jeder von uns ist schuldig gegenüber allen, für alle und für alles, und ich mehr als die Anderen« (Levinas 1974/1992, 104). Gelegentlich deutet er eine derartige universelle Schuld auch als unendliche Verantwortung. Indem das Subjekt stellvertretend für den Anderen verantwortlich wird, wird es zur »Geisel« (otage) des Anderen (Le-
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vinas 1972, 109), weil es »die Verantwortung für die Verantwortung des Anderen« trägt (Levinas 1974/1992, 186). Denn »niemand kann mich vertreten, während ich alle vertrete« (ebd., 200). Durch die Figur des Stellvertreters bekräftigt Levinas seine Ansicht, dass Verantwortung vor allem Verantwortung für den Anderen und nicht Selbstverantwortung sei. Obwohl die Struktur des Von-Angesicht-zu-Angesicht-Seins paradigmatisch die ethische Konstitution darstellt, bedeutet sie eine gewisse Abstraktion von der Plurivozität der Appelle der Anderen, denen wir jederzeit ausgesetzt sind: Es gibt immer mehr als nur einen Anderen! Die Suche nach Gerechtigkeit wirft ferner die Frage auf, ob der unendlichen Forderung des Anderen nicht eine Grenze gesetzt werden sollte (Levinas 1974, 245). Levinas deutet das mit der Figur des Dritten an, die ›einen Widerspruch im Sagen‹ ins Spiel bringt und die Eindeutigkeit des Appells zerschlägt. Der Widerspruch in der Appellstruktur, der durch die Figur des Dritten entsteht, kann zur ethischen Aporie führen, wie z. B. im tragischen Fall der Selbstverteidigung, in der eine Art von Appell zur Gewalt steckt: Der ›Henker‹, der den Nachbarn bedroht, ruft zur Gewalt auf und verliert sein Antlitz (Levinas 1991, 115). Es ist daher notwendig, eine institutionelle Vermittlung zu finden, die solche ethischen Aporien umgehen kann. Da »es jederzeit mindestens drei Personen gibt«, sind wir »dazu gezwungen zu fragen, wer der Andere ist, und zu versuchen, das Unbestimmbare zu bestimmen, das Unvergleichbare zu vergleichen«; damit »wird die ethische Beziehung politisch und fügt sich in den totalisierenden Diskurs der Ontologie ein. Wir können uns nie der Sprache der Ontologie und der Politik vollständig entziehen« (Levinas 1997b, 129). Um die inkommensurablen Appelle der Anderen in der Waage zu halten, gleicht allerdings die Politik die ethische Asymmetrie aus, indem das Antlitz des Anderen objektiviert und ihm sogar entzogen (dé-visagé) wird (Levinas 1974, 201). Mehr noch: Der Politik wohnt die Gefahr inne, »Tyrannei zu werden, wenn sie sich selbst überlassen wird« (Levinas 1961, 300). Levinas’ radikale Neubegründung der Ethik hat im Gegenwartsdenken für viel Resonanz gesorgt, nicht zuletzt im Kontext einer Ethik der Vulnerabilität, aber auch im Spannungsfeld von Ethik und Politik, etwa im Denken von Judith Butler oder in Simon Critchleys Theorie der ›unendlich fordernden‹ Demokratie. 3. Kritische Phänomenologie: auch eine Ethik? In den letzten Jahren wurden im englischsprachigen Raum Ansätze entwickelt, die die Analysen verschiedener Wendungen der Phänomenologie neu auswerten und ihren kritischen Impetus verschärfen. ›Kritik‹ bestand für Husserl vor allem im Sichenthalten von Vorurteilen und in der rationalen Erneuerung theoretischer sowie praktischer Entscheidungen; die Existenzialist:innen verstanden Kritik als die Emanzipation von tradierten Werten und Normen, die sich im naiven
III.3. Kritische Phänomenologie: auch eine Ethik?
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Bewusstsein als natürlich durchsetzen, sich aber genauer besehen vielmehr als sozial bedingt herausstellen; schließlich erzeugte Levinas eine gesteigerte Sensibilität für die Wahrung von Alterität. Aus diesen Strängen speist sich das Bewusstsein für lebensweltliche Asymmetrien, auf das sich die sogenannte Critical Pheno menology stützt. Unter der Voraussetzung, dass Sein das Bewusstsein bestimmen kann, zielen gegenwärtige Ansätze darauf, die Wirkungen aufzudecken, die normalisierende Machtdispositive auf subjektive Erfahrungsstrukturen haben, und stellen damit sprachlich-performative und vorprädikative Unterdrückungsformen heraus, die zur Beeinträchtigung von Handlungs- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten führen können. Die sogenannten kritischen Phänomenolog:innen legen vielfach den Akzent darauf, inwiefern Bewusstsein in ungleiche Machtstrukturen eingebettet ist, und können dafür auf Argumente zurückgreifen, die bereits von existenzialistisch orientierten Autor:innen entwickelt wurden. So betonte bereits Simone de Beauvoir, dass ›frau‹ nicht als Frau geboren wird, sondern sich selbst zur Frau macht (se faire femme), und zwar durch alles, was sie tut und zulässt, dass man es ihr antut. Frantz Fanon stellte die Perspektive des kolonialisierten (männlichen) Subjekts in den Vordergrund, das dem objektivierenden Blick des Weißen ausgesetzt ist, welcher sich wiederum durch die Abgrenzung vom Schwarzen seiner eigenen Normalität versichert. Er machte deutlich, dass sich Exklusion konstitutiv auf das Körperbild sowohl der Marginalisierenden als auch der Marginalisierten auswirkt. Da jedes Subjekt mehrere normative Verhaltensmuster inkorporiert, die als selbstverständlich hingenommen werden, wird heutzutage vermehrt auf die Intersektionalität bzw. Überschneidung verschiedener Diskriminierungsformen hingewiesen. Sarah Ahmed (2006) legt z. B. den Horizont- und Orientierungsbegriff im Rahmen ihrer Queer-Phänomenologie aus, um über weiß-heteronormative Unterdrückung aufzuklären. Ferner können mit der Phänomenologie soziologische Analysen ergänzt werden, wenn z. B. die beschleunigte Lebenswelt des gegenwärtigen Arbeitsmarkts im Rahmen der erlebten Zeitlichkeit der dadurch verunsicherten ökonomischen Akteure neu bestimmt wird (Fuchs et al. 2018). Im Ausgang von Foucault nehmen Phänomenolog:innen eine kritische Haltung ein und stellen ihre Methoden in den Dienst einer emanzipatorischen Bildungstheorie und -praxis. Wie bei Foucaults Rezeption des Begriffs des ›historischen Apriori‹ zielen sie nicht auf Universalität, sondern auf die Spezifität konkreter lebensweltlicher Situationen. Foucaults genealogische Untersuchung von Machtverhältnissen hinsichtlich der Subjektformung hebt hervor, dass jede Ordnung zugleich andere Ordnungen ausschließt und so zwischen ordnungsgemäßen (normalen) und nicht ordnungsgemäßen (anormalen) Subjekten unterscheidet (Foucault 1966/1971). Bernhard Waldenfels sieht die phänomenologische Pointe dieser Diskurstheorie darin, »daß Ordnung Erfahrungen gleichzeitig ermöglicht und verunmöglicht, daß sie aufbaut und abbaut, daß sie ausgrenzt, indem sie eingrenzt, ausschließt, indem sie auswählt« (Waldenfels 1987/2013, 163). Dementsprechend richten Phänomenolog:innen den Fokus auf die Be-
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schreibung der Dialektik zwischen erlebter Marginalisierung (aufgrund von Hautfarbe, sozialer oder geografischer Herkunft, ökonomischem und kulturellem Kapital, sexueller Orientierung, Genderidentität, körperlicher und geistiger Behinderung usw.) und marginalisierendem Verhalten (wie Hate Speech, Rassismus, Kolonialität, Diskriminierung, Ausbeutung, Patriarchat, Homo- und Transphobie usw.). Sie zeigen damit auf, welche Erfahrungen für marginalisierte Minderheiten durch die jeweiligen marginalisierenden Instanzen »möglich bzw. unmöglich sind (waren) oder gemacht werden (wurden)« (Wehrle i. E.). Kritik heißt dann also vornehmlich, die einverleibten Normalitätsordnungen (und die ihnen zugrunde liegenden sozialen Normen) als zugleich ermöglichende und beschränkende Erfahrungsdispositive auszulegen. Charakteristisch für diese neuen Ansätze ist die Neubewertung und -besetzung klassischer Begriffe und Methoden wie z. B. die der Reduktion, des Leibkörpers und der Normalität. Während Husserls genetische Analysen vor allem darauf bedacht sind, Typisierungen und Habitualisierungen als allgemeine Dynamiken der Konstitution sinnvoller und einstimmiger Erfahrung zu verstehen, die Handlungsmöglichkeiten öffnen – leiblich erlebt in der Erfahrung des ›Ich-kann‹ –, setzen kritische Phänomenolog:innen bei spezifischen Analysen von Reibungspunkten und Einschränkungen jener Prozesse an, die die Bildung einer ›normalen‹ Leiblichkeit behindern und normabweichende Subjekte ausschließen können. Die Reflexion auf solche Störungen, die als praktische Hindernisse der Form ›Andere können bzw. man kann‹, aber ›Ich-kann (es) nicht‹ erlebt werden, birgt das Potenzial, um Normen distanziert zu hinterfragen, zu bestreiten oder subversiv zu verschieben. Kritische Phänomenolog:innen unterstreichen, dass Normalisierungen nicht nur darauf wirken, wie wir unseren Körper auffassen und beurteilen (Körperbild), sondern auch, wie sich unser Wahrnehmungs- und Bewegungsstil (Körperschema) entwickelt und auswirkt. In einer berühmten Studie wies Iris Marion Young nach, dass Jungen und Mädchen bei Ballspielen eine ganz andere Körperhaltung an den Tag legen, die keinerlei anatomische Grundlage hat, sondern sich sozialen Erwartungen darüber verdankt, worin ein adäquates ›mädchenhaftes‹ oder ›jungenhaftes‹ Verhalten besteht (Young 1980) ( D.VIII). Leibliche Erfahrungen werden daher immer auch durch gesellschaftliche Normen gelenkt, wie die Beispiele von People of Color in einer rassifizierenden Gesellschaft oder queere Subjekte in einer heteronormativen Öffentlichkeit zeigen. Während es der klassischen phänomenologischen Ethik vor allem darum geht, Normativität zu begründen, verschiebt die kritische Phänomenologie ihren Schwerpunkt auf eine Untersuchung der normierenden Kraft von Normalität. Durch Heranziehung der klassischen husserlschen genetischen Analysen zur Konstitution leiblicher und lebensweltlicher Normalität werden diese zugleich kritisch hinterfragt. Denn tatsächlich geht Husserl davon aus, dass es so etwas wie ›Normal‹-Erfahrungen gibt, an denen sich abweichende Erfahrungen zu messen haben, während gegenwärtige Autor:innen ›Normalität‹ eher als Ausdruck unterdrückender Dispositive verstehen. Obwohl sie die Prämissen der diskurstheoreti-
III.3. Kritische Phänomenologie: auch eine Ethik?
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schen Machtanalyse vielfach teilt und mit unreflektierten Verwendungen des Normalitätsbegriffs brechen will, rekurriert die kritische Phänomenologie dennoch immer häufiger auf die Beschreibungsinstrumente der phänomenologischen Analysen zu Normalität, schlicht weil dadurch auch eine neue deskriptive Dimension hinzukommt: die Beschreibung von Normalität aus der Perspektive der von ihr betroffenen Personen. Husserl beschreibt Normalität als ein System von Erfahrungsdynamiken, die auf Einstimmigkeit zielen. Etwas kann aus seiner Normalität heraustreten, wenn ich z. B. gefärbte Brillengläser aufsetze oder mein Tastsinn durch eine Fingerverbrennung betäubt wird. Nehme ich die Brille wieder ab oder heilen die Finger, stellt sich auch der normale Erfahrungsverlauf wieder ein. Führt die Verbrennung aber zu einer chronischen Unempfindlichkeit, so wird sich ein neues Maß für Einstimmigkeit der individuellen Erfahrung etablieren, sodass der Tastsinn, wie er vor der Verbrennung war, als ›anormal‹ gilt (Hua XXXIX, 640). Die Erfahrung eines chronisch verletzten Leibs ist allerdings ›normal‹ nur in dem Sinne, als sie kohärent und einstimmig ist, inhaltlich bleibt sie minderwertig gegenüber der früheren Erfahrung des gesunden Körperglieds. Das Ideal einer möglichst reichhaltigen Erfahrung hat für Husserl die Funktion des Optimums, auf das jede Erfahrung teleologisch ausgerichtet ist. In diesem Sinne eignet jeder Wahrnehmung eine optimale Gegebenheit, die vorschreibt, wie man einen Gegenstand am besten wahrnimmt, d. h. mit welchem Abstand und aus welcher Position, unter welchen räumlichen Bedingungen usw. Optima sind Husserl zufolge personenund handlungsrelativ: Wer die eigene Hyper- bzw. Hyposensibilität kennt, kann sein Handeln mit Blick auf das eigene Empfinden im intersubjektiven Konnex anpassen, z. B. das Abendessen weniger stark würzen, um den Gästen entgegenzukommen. Kein Zweifel besteht für Husserl darüber, dass ein Farbenblinder, wenn er einem farbensehenden Subjekt begegnet, unmittelbar erkennt, dass seine Erfahrung nicht nur anders ist als die des Farbensehenden, sondern auch objektiv minderwertiger. Kritische Phänomenolog:innen sind gegenüber Husserls Vorstellung eines solchen ›zwanglosen Zwangs‹ der optimalen Erfahrung eher skeptisch eingestellt. Vielmehr betonen sie mit Foucault die Ein- und Ausschlussmechanismen, die notwendig Normalisierungen bewirken, und werfen der klassischen Phänomenologie vor, die konstitutive Funktion von Machtverhältnissen zu verkennen. Indem gegenwärtige Ansätze jedoch das epistemische Moment der Normalität als Optimalität vernachlässigen, unterschlagen sie die inhaltliche Bestimmung der Normalität. Sie verstehen Normativität mit Foucault lediglich als Regulativ oder ›Disziplinierung‹, sodass – wie schon bei Kelsen – die Norm nur solches darstellt, was Machtinstanzen in Kraft setzt und durch Sanktionen aufrechterhält. Die Phänomenologie erweist sich für kritisch-genealogische Ansätze insofern als besonders anschlussfähig, als sie den Zusammenhang von Subjekt und Umwelt weder von der Perspektive eines nur aktiven und autonomen noch von derjenigen eines ausschließlich von sozialen Diskursen geprägten Subjekts aus er-
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klärt. Obwohl soziale Normen als habitualisierte, einverleibte Handlungsrahmen diesseits der Bewusstseinsschwelle wirken, können sie dennoch von den Beteiligten reflektiert und thematisiert werden. Es wird dabei allerdings die Trägheit inkorporierter Normen erfahren, die im Subjekt weiterwirken, auch wenn es sie reflexiv längst abgelehnt hat. Die Erfahrung ist vertraut: Eine Forderung nach Gleichstellung mag sich im öffentlichen Diskurs schon als ›normal‹ etabliert haben, in der Praxis aber noch nicht zur Normalität geworden sein. Ein intellektuelles Bewusstsein für Diskriminierungen zu schaffen, reicht jedoch nicht aus, wenn diskriminierende Gewohnheiten und implizite Deutungsmuster sich nicht ändern (vgl. Ngo 2016; Al-Saji 2010b; Alcoff 2006; Wehrle i. E.). So können Phänomenolog:innen fordern, dass wir nicht nur für unsere bewusste Tätigkeit Verantwortung zu übernehmen haben, sondern auch für unsere Rezeptivität und unsere Gewohnheiten. Jede:r ist letztlich dafür verantwortlich, die eigene Sensibilität für Werte und für die Ansprüche der Anderen zu steigern, Vorurteile zu prüfen und gegebenenfalls zu verwerfen sowie Gewohnheiten aktiv umzustellen, damit Unterdrückungen und Bevorzugungen nicht nur individuell, sondern auch gesamtgesellschaftlich zurückgewiesen werden können. Emanuele Caminada
IV. Psychologie und Psychiatrie Die Schnittfelder der Phänomenologie mit der Psychologie und Psychiatrie stellen wohl eines der fruchtbarsten Anwendungsgebiete des von Husserl begründeten Ansatzes dar. Dies gilt insbesondere für die Psychopathologie, die, in der modernen Form von Karl Jaspers begründet, der Phänomenologie bis heute nachhaltige Impulse verdankt. Zumal im deutschen und französischen Sprachraum übten phänomenologisch-anthropologische Konzeptionen im letzten Jahrhundert einen maßgeblichen, zeitweise sogar dominierenden Einfluss auf die Psychiatrie aus ( D.V), der sich insbesondere mit den auf Heideggers Fundamentalontologie basierenden Ansätzen der ›Daseinsanalyse‹ verknüpfte. Nach den letzten umfassenden Synopsen von Spiegelberg (1972) und Tatossian (1979/2002) traten phänomenologische Forschungsansätze in der Psychiatrie in den folgenden zwei Jahrzehnten gegenüber den bis heute dominierenden experimentell-biologischen Paradigmen in den Hintergrund. Aktuell ist jedoch sowohl in der akademischen Psychologie, in den Kognitionswissenschaften ( D.XI) wie auch in der Psychopathologie und Psychotherapie wieder ein wachsendes Interesse an der Phänomenologie zu beobachten. Dabei hat sich der phänomenologisch-psychologische und -psychiatrische Diskurs insgesamt internationalisiert und greift in erster Linie auf Konzeptionen Husserls und Merleau-Pontys zurück. Diese Entwicklungen werden wir im Folgenden nach einer kurzen Darstellung des grundsätzlichen Verhältnisses von Phänomenologie, Psychologie und Psychiatrie
IV.1. Zum Verhältnis der Phänomenologie zu Psychologie und Psychiatrie
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in ihren wesentlichen Zügen nachzeichnen. Der Schwerpunkt liegt entsprechend ihrer größeren Bedeutung auf der phänomenologisch orientierten Psychiatrie. 1. Zum Verhältnis der Phänomenologie zu Psychologie und Psychiatrie Husserl selbst hat trotz seiner bekannten Ablehnung des Psychologismus in den Logischen Untersuchungen (Hua XIX/1) durchaus Ansätze zu einer phänomenologischen Psychologie entwickelt, insbesondere in den gleichnamigen Vorlesungen von 1925, in denen die Konzeption einer solchen Psychologie als »apriorische[r] Wissenschaft vom Seelischen« skizziert und als eine Form »regionaler Ontologie« von der transzendentalen Phänomenologie unterschieden wird (Hua IX, 41). Während die phänomenologische Psychologie sich auf dem Feld der unmittelbaren Selbst- und Fremderfahrung bewegt, deren Aufbau und Wesenstypik sie mittels der phänomenologischen Reduktion und eidetischen Variation erschließen soll, untersucht die transzendentale Phänomenologie die Konstitution ( C.I.4) alles in der subjektiven Erfahrung Gegebenen auf dem Boden der transzendentalen Subjektivität. Diese von Husserl mit den Ideen I (Hua III/1) eingeführte Unterscheidung zwischen dem Bereich des Transzendentalen und dem des Empirischen hat weitreichende Konsequenzen: Im Rückgang auf das transzendentale Bewusstsein kann hinter die in der ›natürlichen Einstellung‹ getroffene Unterscheidung von Gesund und Krank ebenso zurückgefragt werden wie hinter die ihr entsprechende Trennung von Psychologie und Psychiatrie bzw. klinischer Psychologie. Husserls transzendentales »leistendes Leben« (Hua VI, 99) fungiert als jene Instanz, welche, wie Blankenburg anmerkt, »in je verschiedener Weise sowohl Normales als auch Abnormes konstituiert« (Blankenburg 1971/2012, 27 f.). In beiden Fällen wird Realität zunächst schlicht anders konstitutiert, ohne unmittelbare Zuschreibung von Dysfunktionalität oder Krankheit (Hua III/1, 120). Dies erklärt, warum sich im Ausgang von der transzendentalen Phänomenologie in der Literatur immer wieder Übergänge zwischen Psychologie und Pathologie finden: So bediente sich etwa Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (1966) vielfacher Verweise auf die Psychiatrie und Neurologie, um ex negativo den Konstitutionsprozess ›normaler‹ Erfahrung besser zu verstehen. Umgekehrt kann man fragen, inwiefern ›unnormale‹ Erfahrung sich als ein Verlust einer solchen ›normalen‹ Erfahrungskonstitution erweist, inwiefern sich darin aber auch eine besondere Verletzbarkeit und Offenheit des Subjekts zeigt, die in der alltäglichen Erfahrung verdeckt bleibt (Blankenburg 1971/2012; Maldiney 2018; Thoma 2022). Auf diesen Gedanken kommen wir am Schluss zurück.
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2. Phänomenologische Psychologie Husserls bereits erwähntes Projekt einer phänomenologischen Psychologie blieb im Wesentlichen unausgeführt und der Beitrag der Phänomenologie zur akademischen Psychologie in der Folge eher begrenzt, wenn man von den Arbeiten von August Messer, David Katz oder den Berliner Gestaltpsychologen absieht, die zwar von Husserl beeinflusst, aber doch primär einem experimentellen Ansatz verpflichtet waren (Katz 1930; Koffka 1935). Erst Merleau-Ponty unternahm dann die fortgeschrittenste phänomenologische Interpretation der psychologischen Literatur seiner Zeit, insbesondere der Entwicklungspsychologie, der Gestaltpsychologie und der Psychoanalyse, indem er deren Konzepte und Ergebnisse unter dem Aspekt einer präreflexiven leiblichen Erfahrung deutete (Merleau-Ponty 1945/1966; 1988). Ebenso sind hier Sartres Fallstudien über Genet und Flaubert zu nennen, in denen er verschiedene psychologische und sozialwissenschaftliche Theorien mit dem phänomenologischen Ansatz verknüpfte (Sartre 1971–72/1977; 1952/1982). In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich eine lebendige phänomenologische Bewegung in den Niederlanden, vertreten in erster Linie durch Frederik Buytendijk, Johannes Linschoten und Jan van den Berg. Reichhaltige Forschungen galten dabei insbesondere der Phänomenologie der menschlichen Situation (van den Berg et al. 1953), etwa in alltäglichen Erfahrungen wie der Begrüßung, dem Autofahren, dem Einschlafen (Linschoten 1955) und der menschlichen Haltung (Buytendijk 1956). In anderen Ländern hingegen blieb die phänomenologische Psychologie eher auf einzelne Vertreter begrenzt, unter denen etwa in der Schweiz Hans Kunz (1946) oder in Deutschland Carl Friedrich Graumann (1994) und Lenelis Kruse (1974) zu nennen sind. Damit fand die deutschsprachige phänomenologische Psychologie allerdings einen vorläufigen Schlusspunkt. Größere Bedeutung erlangt die phänomenologische Psychologie seit den 2000er-Jahren im englischen Sprachraum im Bereich der Kognitionswissenschaften. An der Phänomenologie orientierte Positionen wenden sich im Wesentlichen gegen repräsentationalistische und lokalisationistische Auffassungen der Psyche und berufen sich auf phänomenologische Konzepte des präreflexiven Cogito, der Zwischenleiblichkeit ( C.I.9), der primären Empathie und der Untrennbarkeit von Wahrnehmung und Bewegung (Morley 2012; Zahavi 2014). Hier bestehen enge Beziehungen zu Paradigmen der Verkörperung und der Enactive Cognition, die in der Regel phänomenologische und systemtheoretische Ansätze miteinander verknüpfen (Gallagher 2005a; Gallagher/Zahavi 2012; Thompson 2007; Fuchs 2017). Eine weitere Anwendung phänomenologischer Ansätze findet sich in neueren Forschungen zur Entwicklungspsychologie. Nicht zuletzt in der Tradition Mer leau-Pontys und seiner Vorlesungen zur Phänomenologie der Kindheit (Mer leau-Ponty 1975a) ist die frühe Intersubjektivität auch als primäre Zwischen-
IV.3. Phänomenologie und Psychoanalyse
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leiblichkeit interpretiert worden (Reddy 2008; Fuchs 2013a). Auf dieser Grundlage wurden auch weitere Entwicklungsstufen wie Raumexploration, Erweiterung der Zeitperspektive, Perspektivenübernahme und Sprachentwicklung unter dem Aspekt einer Phänomenologie der Leiblichkeit und Intersubjektivität untersucht (Simms 2001; Fuchs 2000a; 2013a; 2016a). Dies folgt Merleau-Pontys Forderung nach einer die Geschichte des Subjekts reflektierenden, genetischen Phänomenologie: Dass ein Kind wahrnimmt, noch bevor es zu denken beginnt, dass es am Anfang seine Träume in die Dinge, seine Gedanken in die Anderen verlegt und mit diesen gleichsam einen gemeinsamen Lebensblock bildet, innerhalb dessen die verschiedenen Perspektiven sich noch nicht unterscheiden, – diese genetischen Tatsachen darf die Philosophie nicht einfach ignorieren, sie muss sich dem Problem der Genese ihres eigenen Sinns stellen. (Merleau-Ponty 1964/1986, 28)
Ihre konsequente Fortführung finden solche entwicklungsbezogenen Ansätze in der phänomenologischen Pädagogik (Meyer-Drawe 1984a). Abschließend sei noch auf die Methode der phänomenologischen Psychologie hingewiesen, die sich gerade in der Psychologie gegenüber der dominanten empirisch-experimentellen Orientierung zu behaupten hat. Eine elaborierte Methodik deskriptiver Phänomenologie wurde unter anderem von Giorgi seit den 1960er-Jahren an der Duquesne University entwickelt (Giorgi 2009). Basierend auf der phänomenologischen Epoché und eidetischen Variation, soll die subjektive Erfahrung des Gegenübers in empathischer Intuition erfasst und so als Basis für weitere qualitative Analysen genutzt werden. Ein ähnliches, vor allem in den Gesundheitswissenschaften verbreitetes Verfahren stellt die Interpretative Phenomenological Analysis dar (Jonathan Smith et al. 2009). Analoge Ansätze finden sich außerdem in der französischen Phänomenologie in Form der sogenannten ›mikrophänomenologischen Interviews‹ zur intensiven Exploration kurzer Erfahrungssequenzen (Petitmengin 2006). Auf der Basis dieser und verwandter qualitativ-phänomenologischer Ansätze sind in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend Forschungsarbeiten zu allen Gebieten der allgemeinen Psychologie entstanden, die besonders in Zeitschriften wie Journal of Phenomenological Psychology, Phenomenology and the Cognitive Sciences oder Journal of Consciousness Studies publiziert wurden.
3. Phänomenologie und Psychoanalyse Trotz ihrer etwa gleichzeitigen Entstehung – sowohl Husserls Logische Unter suchungen als auch Freuds Traumdeutung erschienen im Jahr 1900 – und ihrer jeweils grundlegenden Thematisierung der Subjektivität sind Psychoanalyse und Phänomenologie einander über lange Zeit fremd geblieben, nicht zuletzt aufgrund ihrer heterogenen Konzeptionen des Bewusstseins und des Unbewussten.
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Auf der anderen Seite haben sich so bedeutende Phänomenologen wie MerleauPonty (1945/1966; 2003a) und Ricœur (1965/1969), neuerdings auch Waldenfels (2019) für den Dialog mit der Psychoanalyse engagiert. Gemeinsam ist den phänomenologischen Ansätzen in der Regel die Wendung gegen Freuds ›realistische‹ Auffassung des Unbewussten, nämlich als eines vom Bewusstsein getrennten, verdinglichten psychischen Systems, das letztlich nur einer drittpersonalen Perspektive zugänglich ist (Merleau-Ponty 2003a, 79). Von phänomenologischer Seite wurden verschiedene Möglichkeiten vorgeschlagen, das Unbewusste zu reinterpretieren und dabei der Subjektivität wieder anzunähern: sei es als Selbsttäuschung, Unaufrichtigkeit oder mauvaise foi des Subjekts (Sartre 1943/2020); als Hintergrundstruktur des leiblichen Verhaltens und Lebensvollzugs (Mer leau-Ponty 1945/1966); als Doppelbewusstsein in Analogie zu Husserls Analysen des Bild- und Fantasiebewusstseins (Bernet 1997; C.I.8); oder schließlich auf der Grundlage des jeder bewussten Antwort vorgängigen ›Pathos‹ präreflexiver Erfahrung (Waldenfels 2019). Während sich für Freud das Unbewusste aus einem Komplex verbotenen Begehrens, verdrängter Repräsentanzen und unerfüllter Wünsche in den ›verborgenen Tiefen der Psyche‹ zusammensetzt, entwickelte vor allem Merleau-Ponty Ansätze zur Interpretation des Unbewussten als einer horizontalen ( C.I.10) Dimension des gelebten Leibes (Fuchs 2019a). Dieses Unbewusste »ist nicht in unserem Innersten zu suchen, hinter dem Rücken unseres ›Bewusstseins‹, sondern vor uns als Gliederung unseres Feldes« (Merleau-Ponty 1964/1986, 233). Unbewusste Fixierungen bedeuten dann Einschränkungen im Lebens- und Möglichkeitsraum einer Person, hervorgerufen durch eine implizit gegenwärtige Vergangenheit, die sich dem Fortgang der Lebensbewegung verweigert; dazu zählen insbesondere traumatische Erfahrungen. Deren Spuren sind freilich nicht in einer psychischen Innenwelt verborgen, sondern manifestieren sich – nach Art eines Figur-Hintergrund-Verhältnisses – eher als ›blinde Flecken‹ und unerkannte Vermeidungen im Lebensvollzug. Eine solche horizontale Auffassung lässt sich insbesondere mit dem Konzept des Leibgedächtnisses verknüpfen, verstanden als Gesamtheit aller impliziten, durch den Leib vermittelten Haltungen, Wahrnehmungs- und Verhaltensbereitschaften, die sich als Niederschlag früherer Erfahrungen gebildet haben (Fuchs 2012a; 2019b). Als ›zwischenleibliches Gedächtnis‹ enthalten sie insbesondere die typischen Muster früher interpersonaler Beziehungen, die dann im späteren Leben das je gegenwärtige Feld von sozialen Interaktionen strukturieren. Auf diese Weise können sich im präreflexiven Umgang mit anderen sowohl Attraktions- als auch Vermeidungsmuster reaktualisieren, sodass sich auch für das eigentliche psychodynamische, also verdrängte Unbewusste ein phänomenologischer Zugang eröffnet. Damit aber ist das Unbewusste keine verborgene Kammer der Psyche mehr, sondern es prägt die Lebensweise und das leibliche Verhalten eines Menschen als eine ihm selbst verborgene Substruktur, die aber anderen erkennbar wird, da sie letztlich immer auf sie gerichtet ist (Legrand 2018). Eine
IV.4. Phänomenologische Psychiatrie
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solche Konzeption steht im Einklang mit neueren psychoanalytischen Theorien eines relationalen Unbewussten (Lyons-Ruth 1999), das nicht mehr wie bei Freud vor dem und unabhängig vom psychoanalytischen Prozess existiert, also in Form fertiger Repräsentanzen, sondern vielmehr aus der je aktuellen Dynamik des interpersonalen, zwischenleiblichen Prozesses resultiert. (Vgl. zu weitergehenden Analysen des Verhältnisses von Phänomenologie und Psychoanalyse insbesondere Legrand/Trigg 2017.) 4. Phänomenologische Psychiatrie Karl Jaspers (1913/1946) vollzog die erste Integration der Phänomenologie in die Psychiatrie und bezog sich dabei auf Husserls frühe, deskriptive Phänomenologie. Es ging ihm um einen Nachvollzug der Erfahrung der Patienten vermittels einfühlender Vergegenwärtigung. Die deskriptive Phänomenologie nutzte Jaspers zu einer Art Inventarisierung dieser Erfahrungen in Einzeltatbestände wie etwa Störungen der Wahrnehmung, des Realitätsbewusstseins, des Gefühlslebens, der Triebe u. a. (Jaspers 1913/1946, 45–129). Während sich Jaspers jedoch von Weiterentwicklungen der phänomenologischen Methode zur eidetischen oder transzendentalen Phänomenologie ausdrücklich distanzierte, dienten sie Autoren wie Ludwig Binswanger, Eugène Minkowski, Erwin Straus und Victor Emil von Gebsattel dazu, die immanente Erfahrungsstruktur – Zeitlichkeit, Leiblichkeit, Räumlichkeit, Intentionalität – in psychischen Krankheiten herauszuarbeiten. Ein besonderer Fokus lag dabei auf dem Verständnis der schizophrenen Psychosen und damit jenen Zustandsbildern, die Jaspers noch als unverständlich und letztlich nur durch außerpsychische, biologische Mechanismen erklärbar bestimmt hatte. Bedeutung erlangte dafür auch Husserls Epoché ( C.II.2), d. h. die Einklammerung des alltäglichen Bedeutungsvollzugs, die es ermöglichte, auch ›unalltägliche‹ Erfahrungen wie die der Schizophrenie zu erhellen (Tatossian 1979/2002; Blankenburg 1971/2012). Ideengeschichtlich trat zunächst Binswangers im Anschluss an Heideggers Sein und Zeit (1927) ausgearbeitete Daseinsanalyse in den Vordergrund (Binswanger 1994a). Ziel war die Untersuchung unterschiedlicher Welten bzw. ›Wahnwelten‹ im Rahmen von schizophrenen und affektiven Psychosen. Diese Welten wurden von Binswanger als jeweils umfassender, dynamischer Horizont begriffen, von dem her die einzelnen pathologischen Erlebnisse einer Person verständlich werden sollten. Gegen Ende seines Werks setzte sich Binswanger intensiv mit Husserls transzendentaler Phänomenologie auseinander (Binswanger 1994b; 1994c). Daran knüpfte sich bei seinen Nachfolgern eine verstärkte Rezeption von Husserls Spätwerk; hierzu zählt insbesondere Blankenburgs Rezeption des Husserlschen Lebensweltbegriffs und der soziologisch orientierten Phänomenologie Alfred Schütz’, mit wichtigen Brückenschlägen zur Ethnopsychiatrie (Blankenburg 1984/2010), aber auch zur Familientherapie (Hildenbrand 1983). Solche
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Fragestellungen führten vom Blick auf das individuelle In-der-Welt-Sein zu intersubjektiven Wirklichkeitsprozessen, die, ausgehend vom Kontext der Familie des jeweiligen Patienten, schließlich zur Analyse des gesamtgesellschaftlichen Hintergrunds fortschreiten mussten. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang auch Alfred Kraus’ (1977) Integration der soziologischen Rollentheorie in die phänomenologische Psychiatrie. Weitere Entwicklungen der phänomenologischen Psychiatrie gehen auf die französische Phänomenologie zurück. Merleau-Pontys und Sartres Analysen des Leibs und des menschlichen Blicks dienten unter anderem Jürg Zutt und Caspar Kulenkampff (1958) zur Beschreibung des paranoiden Erlebens. Merleau-Pontys und Sartres Werke spielen bis heute in der phänomenologischen Psychiatrie eine zentrale Rolle (Kraus 1977; Stanghellini 2004; Fuchs 2020). Einflüsse von späteren Ansätzen der französischen Phänomenologie auf die Psychiatrie finden sich, mit Ausnahme einer Rezeption von Michel Henry bei Sass und Parnas (2003), bislang nur an wenigen Stellen (Maldiney 2018; Thoma 2022). Von Bedeutung für die aktuelle phänomenologische Psychiatrie ist schließlich auch die sogenannte Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz (2009). Seine Leibphänomenologie hat unter anderem zu einem besseren Verständnis der Angststörungen (Fuchs/Micali 2013), Essstörungen (Marcinski 2014) sowie der Schizophrenien beigetragen (Moldzio 2004). Wie die phänomenologische Psychologie hat sich auch die phänomenologische Psychiatrie in den letzten 20 Jahren vermehrt im englischen Sprachraum verbreitet (Stanghellini et al. 2018). Die damit verbundene Internationalisierung wurde jedoch bereits in den 1950er- bis 1970er-Jahren gebahnt, als der phänomenologische Ansatz nicht nur in der französisch- und der deutschsprachigen Psychiatrie rezipiert wurde, sondern auch in Italien (Cagnello 1966), Spanien (Valenciano 1958) und Japan (Kimura 1972/1995). Eine besondere Rolle für diese Rezeption spielte der Bezug zu sozialpsychiatrischen und psychiatriekritischen Ansätzen: Die frühen Schriften Michel Foucaults standen ebenso im Zeichen der phänomenologischen Psychiatrie (Bert/Basso 2015) wie jene des englischen ›Antipsychiaters‹ Ronald D. Laing (1960/1987) und des italienischen Reformpsychiaters Franco Basaglia (1981). Die größte theoretische wie praktische Wirkung entfaltete die phänomenologische Psychiatrie jedoch in Westdeutschland: Hier trug sie maßgeblich zur Ausbildung einer ›anthropologisch-sozialpsychiatrischen Haltung‹ bei mit dem Ziel, die gesellschaftliche Ausgrenzung und psychiatrische Behandlung psychisch Erkrankter kritisch zu reflektieren und durch gesundheitspolitische Reformen zu verbessern (Thoma 2019). Damit sind praktische Implikationen der phänomenologischen Psychiatrie angedeutet, die am Schluss unserer Darstellung wieder aufgegriffen werden.
IV.5. Phänomenologische Psychopathologie einzelner Erkrankungen
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5. Phänomenologische Psychopathologie
einzelner Erkrankungen Die Darstellung phänomenologisch-anthropologischer Ansätze im Überblick soll nun ergänzt und illustriert werden durch die paradigmatische Analyse einiger Krankheitsbilder, nämlich der melancholischen Depression, der Schizophrenie, der Anorexie und der Borderline-Störung. Für weitere Themen der speziellen Phänomenologie ist auf die umfangreiche Literatur zu verweisen (Fuchs 2016b; 2020). 5.1. Melancholische Depression
Die schwere, in der klassischen Psychopathologie auch ›Melancholie‹ genannte Depression stellt seit den 1920er-Jahren eines der zentralen Themen der anthropologischen Psychiatrie dar (von Gebsattel 1954; Straus 1960; Binswanger 1994c; Tellenbach 1983), sodass an dieser Erkrankung auch die unterschiedlichen Perspektiven dieser Ansätze deutlich werden können. Verdinglichung des Leibes: Eine phänomenologische Betrachtungsweise der Depression kann zunächst von der Leiblichkeit und Räumlichkeit depressiven Erlebens ausgehen (Fuchs 2013c), in der sich die grundlegende Polarität von Leib-Sein und Körper-Haben in besonderer Weise manifestiert. In der schweren Depression fungiert der Leib nicht mehr als selbstverständliches, fluides und offenes Medium der Beziehung zur Welt, sondern wird als schwerer, unbeweglicher und rigider Körper erlebt, der allen nach außen gerichteten Impulsen und Intentionen Widerstand entgegensetzt. Die leibliche Verfassung der Depression lässt sich damit als eine Korporifizierung charakterisieren, nämlich als eine Konstriktion oder Starre, die sich lokal als thorakales Panzer- oder Reifengefühl, als Globusgefühl, Kopfdruck oder auch als allgemeine Beklemmung und Angst äußern kann. In schweren Fällen kommt es zu einer regelrechten Erstarrung des Leibes bis hin zum depressiven Stupor. Die leibliche Starre als Grundphänomen der Depression äußert sich nicht nur in gespürter Beklemmung, Schwere und Hemmung, sondern noch subtiler in einem Verlust der emotionalen Schwingungsfähigkeit, die sonst durch feinere leibliche Regungen und Resonanzen vermittelt ist (Fuchs 2000a). Die Fähigkeit, fühlend an der Welt teilzunehmen, weicht damit einer Entleerung und Entfremdung. Die affektive Seite der Erkrankung besteht vor allem in der Unfähigkeit, Gefühle wie Zuneigung, Freude, Heiterkeit oder auch Trauer überhaupt noch spüren zu können. Diese Störung der Gefühlsresonanz manifestiert sich auch im Verlust der zwischenleiblichen Resonanz, die sonst die empathische Beziehung zu anderen herstellt, und kann sich bis zu einer affektiven Depersonalisation steigern (Stan ghellini 2004). Zeitlichkeit: Eine weitere Analyse geht von der Zeitlichkeit depressiven Erlebens aus, die vor allem durch die schwere Antriebshemmung geprägt ist: Das
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Erlahmen aller in die Zukunft gerichteten Energien und Triebkräfte führt zu einer generellen Stockung der Lebensbewegung, die Straus (1960) und von Gebsattel (1954) als eine ›Hemmung des vitalen Werdens‹ auffassten. Nach Straus kommt in der Melancholie die Eigenzeit des Patienten ins Stocken; gleichzeitig läuft aber die äußere Weltzeit weiter und vergeht, ohne dass der Kranke noch aktiv in sie eingreifen könnte. Damit verschließt sich ihm die Zukunft, sie enthält keine neuen Möglichkeiten mehr, sondern hat nur noch den Charakter des sicheren Verhängnisses. Auf der anderen Seite lässt die Hemmung der in die Zukunft gerichteten Lebensbewegung auch nicht zu, das Erlebte und Geschehene hinter sich zu lassen. Das Vergangene bleibt als Versäumnis und Verfehlung, als ständig wachsende Schuld im Bewusstsein. Sicheres Verhängnis auf der einen Seite, untilgbare Schuld und irreversibler Verlust auf der anderen Seite beherrschen somit das Zeiterleben. Diese klassischen Ansätze modifizierend, lässt sich die depressive Zeitlichkeit auch als Desynchronisierung begreifen. Diese Konzeption bezieht sich sowohl auf die biologische als auch auf die soziale Sphäre: In beiden ist das Verhältnis von Organismus und Umwelt bzw. Individuum und Gesellschaft durch Prozesse der Synchronisierung geprägt, in denen innere und äußere Zeitabläufe aufeinander abgestimmt werden. Demgegenüber bedeutet die Depression sowohl eine biologische Desynchronisierung (erkennbar an der Störung von Tag-Nacht-Rhythmen, neuroendokrinen Zyklen u. a.) als auch ein Zurückbleiben hinsichtlich der sozialen Zeitordnungen: Depressive fallen aus zunehmend beschleunigten Arbeitsprozessen heraus (Fuchs et al. 2018), sie vermögen Verluste oder Trennungen nicht zu bewältigen und bleiben auf die Vergangenheit fixiert. Die depressive Desynchronisierung erreicht ihren Gipfel im Wahnerleben: Im Schuld-, Verarmungs- oder Kleinheitswahn wird die Rückkehr zu einer gemeinsamen intersubjektiven Zeit für die Patienten unvorstellbar, die Determination durch die Vergangenheit total. Zugleich macht der Wahn eine Verständigung mit anderen unmöglich, denn er bedeutet den Verlust der ›exzentrischen Position‹ (Plessner 1928/1975), die den Überstieg in die Perspektive der anderen und damit eine Selbstrelativierung noch erlauben würde (Fuchs 2013c). Melancholie bei Tellenbach: Die umfassende phänomenologisch-anthropologische Melancholie-Konzeption Tellenbachs (1983) verknüpft die Thematik der Zeitlichkeit mit der besonderen existenziellen Vulnerabilität des zur Depression disponierten ›Typus melancholicus‹. Diese Persönlichkeitsstruktur ist nach Tellenbach durch eine rigide Ordnungstendenz, Gewissenhaftigkeit und Eingebundenheit in soziale Normen charakterisiert – eine Konstellation, die sich rollentheoretisch als Überidentifikation mit der sozialen Rolle interpretieren lässt (Kraus 1977) oder auch als übermäßiges Angewiesensein auf soziale Synchronisierung (Fuchs et al. 2018). Damit aber wird der Typus melancholicus spezifisch vulnerabel für Situationen, die ein Abweichen von der üblichen Norm und Ordnung erfordern würden oder die seine soziale Eingebundenheit infrage stel-
IV.5. Phänomenologische Psychopathologie einzelner Erkrankungen
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len. Die Folge können eine Dekompensation und ein Einbruch in die tiefere, vitale Störungsebene der Melancholie sein, wie soeben beschrieben wurde. Therapeutische Aspekte: Die integrative phänomenologische Konzeption der Melancholie verknüpft lebensgeschichtliche, existenzielle und biologische Aspekte und erlaubt eine übergreifende Betrachtung von prämorbider Struktur, auslösender Situation und Psychopathologie der Erkrankung selbst. Besondere Aktualität gewinnt die Konzeption der Desynchronisierung auch im Kontext der Überlegungen des Soziologen Alain Ehrenberg (1998/2004) zum ›erschöpften Selbst‹ in den beschleunigten postindustriellen Gesellschaften. Sie eröffnet aber auch Möglichkeiten zu einer Resynchronisierungstherapie, welche die ›Auszeit‹ einer meist stationären Behandlung zur schrittweisen Wiedergewinnung der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten und Anpassung an die sozialen Zeitordnungen nützt (Fuchs 2014). Darüber hinaus gibt die spezifische Vulnerabilität des Typus melancholicus Anlass zu psychotherapeutischen Ansätzen, die seine eingeengte Existenzweise im Sinne einer erhöhten Rollenflexibilität und Eigenständigkeit gegenüber gesellschaftlichem Anpassungsdruck zu erweitern suchen (Kraus 1977). Umgekehrt verweist die melancholische Desynchronisation aber immer auch auf den sozialen Kontext der Betroffenen, weshalb sozialtherapeutische Interventionen zur Wiederherstellung geteilter Sinn- und Resonanzräume ebenso von Bedeutung sind (Heinze/Thoma 2018). Dabei werden psychopharmakologische, auf die biologische Vulnerabilität der Patienten gerichtete Therapien keineswegs überflüssig, die Ansätze sind vielmehr als einander ergänzend zu betrachten. 5.2. Schizophrenie
Seit den wegweisenden Arbeiten von Minkowski (1927), Binswanger (1957), Straus (1960) oder Blankenburg (1971/2012) ist die Schizophrenie ein zentrales Thema der phänomenologischen Psychopathologie. Nach den aktuellen Konzeptionen liegt der Erkrankung eine schleichende Aushöhlung des Selbst- und Welterlebens zugrunde, die in Vorstadien nicht selten bis in die Kindheit der Patienten zurückreicht (Sass/Parnas 2003; Stanghellini 2004; Fuchs 2012b). Damit wird die Schizophrenie zu einer fundamentalen Störung der Person in ihrer Leiblichkeit ebenso wie in ihren intersubjektiven Beziehungen; die wichtigsten Aspekte seien im Folgenden näher beschrieben. Selbsterleben: Die Störung des basalen leiblichen Selbsterlebens manifestiert sich zunächst in einem oft schwer beschreibbaren Gefühl der mangelnden Lebendigkeit, der inneren Leere, fehlenden Anwesenheit und Fremdheit in der Welt bis hin zur ausgeprägten Depersonalisation. Bereits Minkowski (1927) sah dementsprechend die Grundstörung der Schizophrenie in einem ›Verlust des vitalen Kontakts mit der Realität‹. Sie kann sich auch in Klagen über eine mangelnde Klarheit oder Durchsichtigkeit des Bewusstseins äußern (›wie in einem Nebel‹).
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Häufige Folge dieser Selbstentfremdung ist eine zwanghafte Selbstbeobachtung oder Hyperreflexivität (Sass/Parnas 2003), im Bemühen, die verlorene primäre Selbstgewissheit zu kompensieren. Wahrnehmen und Handeln: Die basale Selbststörung erfasst auch die über den Leib vermittelten sensomotorischen Beziehungen zur Umwelt. In der Wahrnehmung manifestiert sich die Entfremdung der Leiblichkeit in einer Störung des Erkennens vertrauter Gestalten und Muster, verbunden mit einer Fragmentierung des Wahrgenommenen und einer Überfülle von Details. Die Auflösung von Gestaltzusammenhängen resultiert in einem Verlust vertrauter Bedeutsamkeiten und führt so zu einer grundlegenden Fragwürdigkeit der wahrgenommenen Welt. Im Handeln äußert sich die Entkörperung in einer zunehmenden Desintegration von leiblichen Gewohnheiten und automatischen Abläufen. In vielen Situationen gelingt es den Patienten nicht mehr, einen geschlossenen Handlungsbogen auszuführen und sich dabei auf selbstverständliche Weise ihres Leibes zu bedienen. Stattdessen müssen sie sich künstlich, durch Vorsätze oder Rituale, zu bestimmten Aktionen veranlassen. Störung des sensus communis: Wenn in der Schizophrenie die leibliche Einbettung in die Welt verloren geht, muss sich dies auch in einer grundlegenden Entfremdung der zwischenleiblichen Sphäre manifestieren, die auf den intuitiven und praktischen Fähigkeiten des Umgangs mit anderen beruht, also auf einem ›sozialen Sinn‹ bzw. umfassender des sensus communis (Thoma 2018). Die Patienten haben Schwierigkeiten, die Bedeutungen und Sinnbezüge der gemeinsamen Lebenswelt zu erfassen, und geraten in eine isolierte Beobachterposition. Blankenburg (1971/2012) hat diese subtile Entfremdung gemeinsam mit seiner Patientin Anne Rau als ›Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit‹ beschrieben, der sich in den kleinen Verrichtungen des Alltags bemerkbar macht, darüber hinaus aber die gesamte Lebensorientierung ergreift. Diese Konzeption lässt sich zu einer ›Psychopathologie des common sense‹ weiterentwickeln, die den autistischen Rückzug vieler Patienten auf eine grundlegende Störung der intersubjektiven Konstitution der Lebenswelt zurückführt (Stanghellini 2004; Thoma 2018). Verlust der Selbstbehauptung: Aus der primären Schwächung des leiblichen Selbsterlebens resultieren schließlich Störungen der Ich-Demarkation, d. h. der Abgrenzung von Selbst und Anderen, die Bleuler (1916) als ›Transitivismus‹ bezeichnete: Die Patienten vermögen fremden Blicken nicht mehr standzuhalten und haben das Erleben, dass andere mit ihrem Bewusstsein in sie eindringen oder ihre Gedanken unmittelbar wahrnehmen könnten. Dies lässt sich als eine Störung der ›exzentrischen Positionalität‹ verstehen (Plessner 1928/1975; Fuchs 2012b): Die Kranken sind zwar in der Lage, die Perspektive anderer einzunehmen, ja, sie tun dies sogar in exzessiver Weise, insofern sie sich von allen Seiten beobachtet, von geheimen Signalen ›gemeint‹ wähnen. Doch gerade dieses ›Bewusstsein des Bewusstseins anderer‹ wird für sie zu einer Gefährdung des eigenen Selbst, das in der Perspektivenübernahme unterzugehen droht.
IV.5. Phänomenologische Psychopathologie einzelner Erkrankungen
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Jede Begegnung und Interaktion mit anderen beruht auf der Fähigkeit, zwischen der eigenen, leiblich zentrierten Perspektive und der virtuell eingenommenen Perspektive der anderen zu wechseln und zugleich zu unterscheiden, also auch sich selbst gegenüber den anderen zu behaupten. Mit der Störung des basalen Selbsterlebens jedoch verlieren schizophrene Patienten die Verankerung im eigenen leiblichen Zentrum und geraten in eine entkörperte, imaginäre Perspektive, die von den anderen her auf sie selbst gerichtet ist. Gerade weil sie ihr leibliches Zentrum verlieren, werden sie zum vermeintlichen Zentrum aller fremden Blicke und Intentionen. Wahn und Intersubjektivität: Auch der Wahn lässt sich vor diesem Hintergrund als Verlust der exzentrischen Positionalität auffassen (Fuchs 2020). Wahnkranke vermögen durchaus die (vermeintliche) Perspektive anderer einzunehmen; was ihnen fehlt, ist jedoch die unabhängige oder ›dritte‹ Position, von der aus sie ihr Erleben der Eigenbeziehung (d. h. von anderen beobachtet, bedroht, verfolgt zu werden) relativieren könnten. Der Verlust dieser Position resultiert in einer Störung der Konstitution einer gemeinsamen Welt, die durch die eigenweltlich-imaginativen Sinnbildungen des Wahns ersetzt wird. Die Störung der Intersubjektivität ( C.I.11) wird besonders deutlich, wenn sich der Patient mit Zweifeln oder Einwänden seitens anderer konfrontiert sieht. In den meisten Fällen wird er nicht adäquat auf sie antworten, sondern entweder eine gemeinsame Situationsdefinition als selbstverständlich voraussetzen oder jedenfalls nicht den Versuch machen, seine Überzeugung mit einer allgemeinen Sicht in Einklang zu bringen (Glatzel 1981, 167 ff.). Er wird auch den Zufall als mögliche Erklärung der Eigenbeziehungen prinzipiell ausschließen. Damit erweist sich der Wahn als eine Störung der intersubjektiven Realitätskonstitution. Fazit: Aktuelle phänomenologische Konzeptionen begreifen die Schizophrenie als eine fundamentale Störung der Person in ihrer Fähigkeit, sich durch das Medium des Leibes auf die Welt zu richten und mit anderen in Beziehung zu treten (disembodiment). Statt als transparentes Medium des In-der-Welt-Seins zu fungieren, verzerrt die leibliche Organisation zunehmend die wahrgenommene Realität und mündet in den Verlust der exzentrischen Positionalität im Wahn. Die produktive Symptomatik der akuten Psychose erscheint vor diesem Hintergrund nur als Dekompensation einer schon prämorbiden Schwäche der Selbstkonstitution (Sass/Parnas 2003). Diese Konzeption erlaubt es, die vielfältigen und heterogen anmutenden Symptome der Schizophrenie unter einem integrierenden Blickwinkel zu betrachten. Sie kann aber auch als Grundlage etwa für gesprächs-, körper-, achtsamkeitsbasierte und kreative Therapieansätze dienen, die die Patienten darin unterstützen, ihre Verankerung in der eigenen Leiblichkeit wiederzuerlangen (Galbusera et al. 2018; Nischk et al. 2015).
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5.3. Anorexia nervosa
Die Anorexia nervosa oder Magersucht lässt sich phänomenologisch mit der subjektiven und intersubjektiven Dialektik des Leib-Körper-Verhältnisses beschreiben (Fuchs 2022). Für die anorektische Patientin (da es sich zu über 90% um Erkrankte weiblichen Geschlechts handelt, wählen wir im Folgenden zur Bezeichnung das Femininum; der Anteil männlicher Anorektiker nimmt allerdings in den letzten zwei Jahrzehnten zu) wird der eigene Leib zum entfremdeten Körperobjekt, dessen Volumen und Maße sie ständig beobachtet, kontrolliert und in ein asketisches Zwangsregime zwingt (Marcinski 2014). Auch die Nahrung wird zum Fremdkörper, dessen Einverleibung nicht mehr mit Genuss, sondern mit Ekel verbunden ist. Was die Anorektikerin damit bekämpft, ist ihre Abhängigkeit von der natürlichen Leiblichkeit mit ihren unkontrollierbaren Trieben, Impulsen und Begierden. Sie vollständig kontrollieren zu können, wird zur Quelle eines grandiosen Triumphs. ›Ich fühle keinen Hunger, kein Begehren mehr‹, d. h.: Ich bin autark und benötige nichts mehr von außen. So wird das implizite Gefühl des leiblichen Selbstseins durch ein explizites, hyperreflexives Verhältnis zum eigenen Körper ersetzt, das auf perfekte Kontrolle und maximale Unterdrückung des Begehrens abzielt. Die gleiche Dialektik kennzeichnet die anorektische Intersubjektivität (Le grand/Briend 2015). Magersüchtige Patientinnen suchen ihr ideales Selbst im perfekten body image, d. h. in ihrem Körper aus der Sicht der anderen. Dabei spielt zweifellos die Dominanz des marktförmigen, überschlanken Modelkörpers in der westlichen Kultur eine maßgebliche Rolle, und die oft groteske Verzerrung des Körperbildes bei den Patientinnen treibt dessen allgemeine Verzerrung in der Gesellschaft nur auf die Spitze. Dennoch ist die Schlankheit für die anorektischen Mädchen und Frauen nicht etwa mit dem Ziel sexueller Attraktivität verbunden, sondern vielmehr mit dem Ideal des engelsgleichen, asexuellen, ja letztlich des verschwindenden Körpers. Tatsächlich verweigern sich Magersüchtige gerade der Reifung und Sexualisierung des Körpers und den damit verbundenen weiblichen Identitätsangeboten, nicht zuletzt, weil sie mit der endgültigen Trennung von der gleichsam noch ›vorgeschlechtlichen‹ Kindheit verbunden sind. Im Kampf um Autonomie und im Protest gegen ein abgelehntes Bild von Weiblichkeit demonstrieren die Patientinnen ihre Verachtung gegenüber den gewöhnlichen Bedürfnissen der ›Durchschnittsmenschen‹; sie instrumentalisieren ihren Körper als provozierendes intersubjektives Symbol. Indem die Anorektikerinnen ihren Körper mit äußerster Willensanstrengung unterwerfen und modellieren, versuchen sie, ihren zutiefst empfundenen Mangel an Identität und Autonomie zu kompensieren (Stanghellini et al. 2015). Im verzweifelten Streben nach Vollkommenheit entfremden sie sich von ihrer präreflexiven leiblichen Existenz, nicht selten mit tödlichem Ausgang: Es war, als müsste ich meinen Körper bestrafen. Ich hasste und verabscheute ihn. Wenn ich ihn ein paar Tage normal behandelte, musste ich ihn wieder entbehren lassen. Ich fühlte mich in
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meinem Körper gefangen – solange ich ihn unter strenger Kontrolle hatte, konnte er mich nicht betrügen. (Kaplan 1984/1988, 330)
Die für den Menschen unvermeidliche Spannung zwischen Leib-Sein und Körper-Haben wird hier zu einem radikalen Dualismus, der an platonische und gnostische Vorstellungen vom Körper als ›Kerker der Seele‹ erinnert. – Die Phänomenologie der Leiblichkeit kann somit sowohl unter subjektiven als auch unter intersubjektiven Aspekten maßgeblich zum Verständnis der Anorexie beitragen. 5.4. Borderline-Persönlichkeitsstörung
Abschließend geben wir eine kurze phänomenologische Darstellung der Borderline-Persönlichkeitsstörung, deren emotionale Instabilität unter leiblichen ebenso wie zeitlichen Aspekten interpretiert werden kann (Fuchs 2007; Stanghel lini/Rosfort 2013). So ist bei den Betroffenen eine Brüchigkeit der lebensgeschichtlichen Kontinuität zu beobachten, die sich auch als Fragmentierung der narrativen Identität beschreiben lässt. Die Konstitution einer solchen Identität setzt ein zeitübergreifendes Verhältnis der Person zu sich selbst voraus, das ihr eine dauerhafte innere Orientierung, eine grundsätzliche Kontrolle ihrer momentanen Impulse und damit eine Kontinuität ihrer Projekte und Verpflichtungen ermöglicht (MacIntyre 1981/1987; Ricœur 1990/1996). Bei Menschen mit einer Borderline-Störung lassen die gegensätzlichen, intensiven Affekte und massiven Impulsdurchbrüche eine solche Kontinuität jedoch nicht zu. Extreme Schwankungen der Gefühle und Stimmungen führen zu einer Inkohärenz der Selbstwahrnehmung: Die Betroffenen erleben sich je nach dem Kontext nahezu als verschiedene Personen, die jeweils durch einen bestimmten Stimmungszustand definiert sind. Sie wechseln daher häufig ihre Ziele, Berufe, Freunde ebenso wie ihre Überzeugungen und Werte; sie sind nicht in der Lage, sich auf dauerhafte Beziehungen und langfristige Vorhaben zu verpflichten, durch die sie sich selbst definieren könnten (Westen/Cohen 1993; Fuchs 2007). Selbst die sexuelle Orientierung kann für sie fragwürdig werden. In ähnlicher Weise zeigt das bei der Borderline-Störung bekannte Phänomen der Spaltung (Kernberg 1975/1978), dass die Patienten nicht in der Lage sind, positive und negative Aspekte ihres Selbst ebenso wie anderer Personen in kohärente Wahrnehmungen und Konzepte zu integrieren. Abhängig vom gegenwärtigen affektiven Zustand ist der andere entweder radikal gut oder radikal schlecht, ideal oder entwertet, das eigene Selbst entweder edel oder gemein, grandios oder hassenswert usw. In der Folge misslingt die Bildung eines zusammenhängenden, übergreifenden Selbstbilds. Obwohl Identitätsstörungen auch bei anderen Arten von Persönlichkeitsstörungen vorkommen, sind sie typischerweise mit der Bor derline-Störung verbunden und in der Mehrzahl der Fälle (60–90%; WilkinsonRyan/Westen 2000) vorhanden. Das Ergebnis besteht in dem, was als ›Fragmentierung der narrativen Identität‹ bezeichnet wurde: ein schwankendes Bild des eigenen Selbst, mit oft scharfen
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Brüchen, rasch wechselnden Rollen oder Beziehungen. Es fehlt den Betroffenen an einem Sinn für die Kontinuität ihres Lebens, an einer Vorstellung für ihre Entwicklung, die sich in die Zukunft projizieren ließe. Stattdessen erleben sie eine endlose Wiederholung der gleichen, oft quälenden affektiven Zustände, die eine eigentümlich geschichtslose Form der Existenz erzeugt. Menschen mit einer Borderline-Störung sind gewissermaßen nur das, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt empfinden, in einer oft spannungsvollen und doch letztlich leeren Gegenwart; denn ihr fehlt die Erfüllung, die sich aus der Integration von Vergangenheitserfahrung und antizipierter Zukunft ergibt. Der Zusammenhang der Lebensgeschichte löst sich in Einzelepisoden auf; die Patienten machen nicht die Erfahrung, Urheber oder ›Autoren‹ ihres eigenen Lebens zu sein. Sie beschreiben dann quälende Gefühle der inneren Leere, der Inkohärenz und der Unechtheit, als gäben sie nur vor zu sein, was sie sind, und hätten andere über sich selbst getäuscht. Die Borderline-Störung macht damit deutlich, dass eine einheitliche, zeitübergreifende Identität die aktive Leistung der Selbstgestaltung und Kohärenzbildung erfordert, die an bestimmte emotionale und lebensgeschichtliche Voraussetzungen gebunden ist. 6. Schluss Die hier summarisch dargestellten Krankheitskonzepte stellen lediglich eine Auswahl dar, um das phänomenologische Verständnis psychischer Erkrankungen zu veranschaulichen – nämlich als Störungen, die sich in zahlreichen Dimensionen wie dem Selbstsein, der Leiblichkeit, Zeitlichkeit, Intersubjektivität und Sozialität, kurz im umfassenden In-der-Welt-Sein der Betroffenen manifestieren. Aus diesem Grund sind die verbal geäußerten Klagen und Symptome der Betroffenen nicht immer dazu geeignet, die jeweils grundlegende Störung des Erfahrungsvollzugs wiederzugeben. Diese bewegt sich häufig im Bereich des Präreflexiven und geht beispielsweise im Falle der Psychosen den offenkundigen Beschwerden (etwa Stimmenhören oder Wahn) zumeist voran. Die Phänomenologie vermag aber gerade diese präreflexive Erfahrungsebene angemessen zu erfassen. Daran knüpft sich eine Grundannahme der phänomenologischen Psychiatrie, wonach sich die menschliche Subjektivität durch eine besondere Offenheit und Verletzbarkeit auszeichnet, die auch die Möglichkeit zur ›Verrückung‹ bedingt: Die Selbstentfremdung, mit der psychische Krankheit traditionell bezeichnet wird (›Alienation‹), ist bereits der dialektischen und instabilen Grundsituation des Menschen eingeschrieben, der sich durch sein Selbstbewusstsein auf sich selbst bezieht, sich aber zugleich selbst immer wieder entgleitet und sich in seinem In-der-Welt-Sein erleidet (Fuchs 2013d; 2016b). An die Stelle eindeutiger Unterscheidungen von Normalität und Pathologie tritt so das Zusammenspiel von Pathos und Pathologie, das jeder Existenz innewohnt und das erst die Grundlage umschriebener psychopathologischer Erleb-
IV.6. Schluss
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nisformen bildet. Sofern diese in das Pathos jedes Menschseins eingeschrieben sind, können sie immer auch zu einem atmosphärisch geteilten Phänomen werden (Maldiney 2003). Dies eröffnet einen Raum des Dialogs, der das Fundament nicht nur der phänomenologischen Analyse psychischer Krankheit, sondern auch ihrer Therapie bildet. Entgegen der häufig vorgebrachten Kritik an der praktisch-therapeutischen Folgenlosigkeit der phänomenologischen Psychiatrie liegen zahlreiche phänomenologisch begründete Therapieformen vor, die von körperorientierten (Martin et al. 2016; Galbusera et al. 2018) über ökologisch-sozialtherapeutische (Thoma 2018; 2022; Fuchs 2020) bis zu psychosentherapeutischen Ansätzen (Nischk et al. 2015; Schlimme/Brückner 2017) reichen. Besonders die Betonung des menschlichen Selbstverhältnisses ist dabei Grundlage einer langen Tradition ›existenzieller Psychotherapie‹, die im therapeutischen Dialog das Bedürfnis nach Sinn und Kohärenz angesichts der Krisenhaftigkeit des Daseins adressieren (Yalom 1980/1989; Holzhey-Kunz 1994; Fuchs 2013d; 2020). Die Darstellung sei mit einem methodischen Ausblick abgeschlossen: Obgleich die phänomenologische Betrachtung Annahmen zu kausalen Erklärungen der Erfahrung einklammert, liefert sie einen Rahmen für die Analyse der Subjektivität und ihrer Störungen, die auch zu empirisch testbaren Hypothesen über zugrunde liegende ätiologische Prozesse führt. Anstatt dabei die Erforschung zugrunde liegender kausaler Mechanismen gegen den deskriptiven und eidetischen Ansatz auszuspielen, muss es letztlich um eine wechselseitige Erhellung von beschreibender Erster- und erklärender Dritter-Person-Perspektive gehen, die sich auf komplementäre Aspekte des Krankheitsgeschehens richten. Während sich hierfür im Austausch mit den neurobiologischen Ansätzen im letzten Jahrzehnt wichtige Ansätze finden (Vogeley/Kupke 2007; Fuchs 2017), steht dieser methodische Entwicklungsschritt bezüglich der sozialen Grundlagen bzw. Sozialwissenschaften noch aus, insbesondere für die phänomenologische Psychiatrie, für die sich gerade ein Bezug zu phänomenologisch-soziologischen und ethnografischen Ansätzen anbietet (Thoma 2018; C. Schmid/von Peter 2019). Von entscheidender Bedeutung ist schließlich die Frage, inwieweit die Me thoden der phänomenologischen Psychologie zur angemessenen Beschreibung fremdpsychischer Erfahrung genutzt werden können. Die Phänomenologie wurde von Husserl in erster Linie zur Analyse der eigenen Erfahrung (und ihrer transzendentalen Bedingungen) entwickelt und nicht zu jener anderer Subjekte, deren Zugänglichkeit Husserl im Laufe seines Werks immer wieder problematisierte (Zahavi 2009, 114 ff.). Die Frage der Erhellung fremder Erfahrung spitzt sich gerade im Falle psychischer Erkrankung zu, da sie in besonderer Weise von der sozial geteilten ›natürlichen Einstellung‹ abweicht. Davon unbeeindruckt befassen sich phänomenologische Psychiater seit über 100 Jahren nahezu ausschließlich mit der Erfahrung ihrer Patienten. Es wäre an der Zeit, die phänomenologische Methode auch zur Analyse ihrer eigenen Erfahrung im Umgang mit den Patienten zu nutzen (Sholokhova 2018). Nicht zuletzt bietet der phänomeno-
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D. Wirkfelder
logische Ansatz ein noch weitgehend unausgeschöpftes Potenzial für sogenannte ›kollaborative‹ und ›nutzergeleitete‹ Forschungsansätze, bei denen Betroffene ihre eigene Erfahrung psychischer Krankheit und Krise analysieren und so als aktive Subjekte im Forschungsprozess in Erscheinung treten (Kusters 2014/2020; von Peter 2017). Diese abschließenden Bemerkungen zeigen, mit welcher Lebendigkeit der Diskurs in der phänomenologischen Psychologie und Psychiatrie vor dem Hintergrund einer nunmehr langen Tradition in Zukunft geführt werden kann. Thomas Fuchs, Samuel Thoma
V. Anthropologie und Ethnologie Der Begriff der Anthropologie ist denkbar weit und umfasst heute eine Reihe thematisch und methodisch unterschiedlich gelagerter Forschungsprogramme. Gängig ist – zumal in der institutionalisierten akademischen Ausbildung – die Unterscheidung zwischen einer naturalistischen und einer kulturalistischen Ausprägung. Auf der einen Seite gibt es die physische Anthropologie, die sich mit der Archäologie verbindet, um die materiellen Überreste unserer Vorfahren zu untersuchen, sowie die evolutionäre oder biologische Anthropologie, die sich mit der Stammesgeschichte des Menschen als Organismus befasst. Auf der anderen Seite steht die Ethnologie (Sozial- bzw. Kulturanthropologie) als empirische Kulturwissenschaft, die konkrete Lebensweisen gegenwärtiger menschlicher Gemeinschaften durch teilnehmende Beobachtung studiert. Weitere Ausprägungen des anthropologischen Diskurses finden sich unter den Bezeichnungen ›historische Anthropologie‹ sowie jüngst ›interdisziplinäre Anthropologie‹ wieder. Die Rolle der Philosophie ist in dieser Landschaft theoretischer Ansätze und praktischer Anwendungsbereiche meist recht unbestimmt. Häufig kommt sie als historische Vorläuferin oder als Stichwortgeberin für unterschiedliche Forschungsrichtungen in Betracht. Dabei gibt es durchaus eine Philosophische Anthropologie, die ein Spezifikum der Denkgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts darstellt und die eine philosophische Biologie begründete, die apriorische Gesetzmäßigkeiten organischer Lebensformen herausarbeitet und das spezifisch Menschliche im Zusammenhang alles Lebendigen bestimmen will. Im Folgenden sollen erstens diese philosophische Richtung und zweitens die ethnologische Richtung in der Anthropologie vorgestellt werden. In beide wirkt nämlich die Phänomenologie hinein: Bei den Hauptvertretern der Philosophischen Anthropologie – wie Max Scheler oder Helmuth Plessner – ist das durch die unmittelbare Rezeption der Phänomenologie Husserls und die produktive Anwendung phänomenologischer Analysemethoden für die Beschreibung menschlicher Grundprobleme bedingt. In der Ethnologie waren es hingegen Phänomenologen der zweiten Generation – wie Alfred Schütz oder Aron Gur-
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witsch –, die Husserls Werk durch eine soziologische Wendung der Lebensweltproblematik für die Sozial- und Kulturwissenschaften relevant machten. 1. Philosophische Anthropologie Dass man die philosophische Anthropologie als eines der Wirkfelder der Phänomenologie bezeichnen kann, ist alles andere als selbstverständlich. Zwar werden seit einigen Jahren explizit ›phänomenologische Anthropologie‹ genannte Ansätze verfolgt (z. B. Fuchs 2000a; Jonas/Lembeck 2006) und Phänomenologie und Anthropologie immer fruchtbarer miteinander verbunden (Breyer 2015; Wehrle 2013). Gleichwohl wird immer wieder behauptet, dass Phänomenologie und Anthropologie in einem »schwierigen Verhältnis« zueinander stünden, insbesondere die Phänomenologie sei von »einer distanzierten und kritischen Haltung« zur philosophischen Anthropologie geprägt (Sternad/Pöltner 2011, 7). Dieses sowohl fruchtbar-inspirierende als auch schwierig-distanzierte Verhältnis ist unter anderem durch die eng miteinander verwobenen Entstehungsgeschichten von Phänomenologie und philosophischer Anthropologie zu erklären. So ist Max Scheler, der als einer der Begründer der modernen philosophischen Anthropologie gilt, selbst ein äußerst produktiver Phänomenologe. Während die Phänomenologie in den Worten Edmund Husserls »an der Jahrhundertwende in der Philosophie zum Durchbruch« (Hua IX, 277) gekommen ist, wird die ›Inauguration‹ der modernen philosophischen Anthropologie mit Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos von 1928 in Verbindung gebracht, die mehr oder weniger zeitgleich mit Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch erschienen ist (Scheler 1976/1979; Plessner 1981a), kurz nach der Publikation von Martin Heideggers Sein und Zeit. Und bereits die so prompte wie abweisende Rezeption von Schelers Schrift durch Heidegger (GA 3) und die höchst alarmierte Beschäftigung Husserls mit der philosophischen Anthropologie (Hua XVII, 164–181) zeugen davon, dass man diese neue Disziplin aus phänomenologischer Perspektive als methodisch und sachlich problematisch wahrnahm und so heftig kritisierte, dass Hans Blumenberg von einer regelrechten »Anthropologie-Phobie« (Blumenberg 2002, 98) spricht. Im Folgenden soll (1.1.) dargestellt werden, wie sich das Verhältnis von Phänomenologie und Philosophischer Anthropologie bis zum Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. Dann wird (1.2.) die Geschichte der Distanz und der Annäherung von Phänomenologie und Anthropologie in der Zeit ab 1945 schlaglichtartig erzählt, um schließlich (1.3.) Formen eines produktiven Verhältnisses der beiden Disziplinen nachzuzeichnen, bis hin zu Ansätzen einer ›phänomenologischen Anthropologie‹, die lange als eine Art Oxymoron verschrien war.
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1.1. Phänomenologie und Anthropologie in ihren ›Gründungsphasen‹: Konkurrenz und Kritik 1.1.1. Gefährliche Parallelaktionen
Schelers 1915 erschienener Text Zur Idee des Menschen beginnt mit den programmatischen Worten, dass sich »in einem gewissen Verstande« letztlich »alle zentralen Probleme der Philosophie auf die Frage zurückführen« lassen, »was der Mensch sei« (Scheler 1955, 173). Bevor Scheler in diesem Text einige (zum Teil recht waghalsige) anthropologische Überlegungen entwickelt, betont er aber, dass er einen ›Anthropologismus‹ strikt ablehnt. Damit stellt er sich explizit in die Tradition Husserls, auch wenn er letztlich einen eigenständigen, von Husserl abweichenden Phänomenologiebegriff entwickelt (Henckmann 2011; J. Fischer 2008, 24), womit er sich innerhalb der phänomenologischen Bewegung markant profiliert (Spiegelberg 1994, 268–305). In Zur Idee des Menschen schließt sich Scheler Husserls »siegreicher Argumentation« gegen den Anthropologismus in den Logischen Untersuchungen von 1900/01 an und unterstreicht, dass er selbst in Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik den »anthropologistischen Irrtum in einem großen Teile der bisherigen Ethik nachgewiesen« habe (Scheler 1955, 173 f.). Doch trotz dieser phänomenologietypischen Skepsis gegenüber anthropologischen Versuchen in der Philosophie bleibt die Frage, was der Mensch sei, im Zentrum seines Denkens. Und letztlich wird die Phänomenologie in Schelers Fall das anthropologische Fragen eher befördert als verhindert haben. Insbesondere der Einfluss der sich ab dem Anfang des 20. Jahrhunderts in München und Göttingen ( B.I.2) ausbildenden sogenannten ›Frühphänomenologie‹ oder ›realistischen Phänomenologie‹ ( B.III.1) auf Scheler – und auch auf Plessner – ist wohl kaum zu überschätzen. Vor allem die durch die Phänomenologie möglich gewordene deskriptive Erschließung von Emotionen und leiblichen Erfahrungen dürfte letztlich die Weiterentwicklung dieser Themen in Richtung einer philosophischen Anthropologie begünstigt haben (Vendrell Ferran 2010). Die Anthropologie, die Scheler und Plessner durchaus selbstbewusst als eine neue Grundlagendisziplin aller Geistes- und Sozialwissenschaften in Stellung bringen, muss sich also in einem stark von der Phänomenologie geprägten philosophischen Klima behaupten, das sich vehement gegen Reduktionismen verschiedener Couleur richtet, vor allem gegen ›Psychologismus‹, ›Biologismus‹ und eben gegen den bereits genannten ›Anthropologismus‹ – wie es auch Heidegger in Sein und Zeit unternimmt (SuZ, 45 ff.). Die Vermeidung des Anthropologismus wird zu einen Kernelement des phänomenologischen Programms, wobei hiermit insbesondere die essenzialisierende Verengung des Begriffs des Menschen und seine Reduzierung auf etwas ›Vorhandenes‹ wie Leib, Seele, Geist, vernünftiges Lebewesen, Ebenbild Gottes oder auf die res cogitans gemeint ist (SuZ, 48 f.). Und ebendiese Probleme des Anthropologismus werden Scheler und Plessner zum Anlass nehmen, ihre Entwürfe gegen genau diese Verengungen zu im-
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munisieren. Insofern hat die Phänomenologie allein schon durch ihre Reduktionismuskritik und ihre hartnäckig eingeforderte methodische Strenge zumindest indirekt zur Ausbildung von theoretisch und methodisch gut fundierten Anthropologien beigetragen. Während Scheler seit Zur Idee des Menschen neue anthropologische Wege und Themen auslotet (wie der Nachlassband der Werkausgabe [1987] dokumentiert), setzt sich Heidegger zeitgleich kritisch mit dem Begriff des Menschen auseinander, besonders prägnant in seiner Vorlesung Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) von 1923. Dort unterstreicht er, dass er im Sinne seines Vorhabens die Ausdrücke »menschliches Dasein« oder »Sein des Menschen« bewusst vermeiden will, da sowohl der Begriff des Menschen mit seinen »überlieferten kategorialen Prägungen« als auch die Frage nach dem Menschen als solche das »verbaue« und »verstelle«, was er als »Faktizität« des Daseins in den Blick bekommen möchte (GA 63, 21–26). Auch wenn er Scheler grundsätzlich als eine originelle Denkerpersönlichkeit schätzte (GA 26, 62 ff.), gipfelt die kritische Verhandlung des Begriffs des Menschen in einer bissigen Abrechnung: Scheler bewege sich »traditionell in alten, unecht gewordenen Fragestellungen; nur verhängnisvoller durch die gereinigte phänomenologische Seh- und Explikationsweise.« (GA 63, 24) Schelers anthropologische Versuche würden also durch die phänomenologische Methode nicht etwa auf einen soliden Grund gestellt, sondern dadurch vielmehr erst recht fraglich, weil der phänomenologische ›Anstrich‹ die grundlegenden Probleme der Anthropologie überdeckte. Nach dieser Kritik folgt eine Passage, die mit auffällig vielen Ausrufezeichen gespickt ist und elf Fußnoten auf gut einer Seite zu verzeichnen hat, in denen Heidegger in einer für ihn ungewöhnlichen Zitierdichte auf Stellen in Zur Idee des Menschen verweist (GA 63, 24 f.). Das anthropologische Projekt wird als eine gefährliche Parallelaktion wahrgenommen, die man dringend zur Kenntnis nehmen muss – um sich von ihr abzugrenzen. 1.1.2. Seinesgleichen geschieht: Die philosophische Anthropologie
wird ›begründet‹
In dieser Stimmungslage erscheint nun 1928 Die Stellung des Menschen im Kosmos. Im Vorwort sagt Scheler, dass er »mit Befriedigung« feststellen dürfe, »daß die Probleme einer Philosophischen Anthropologie heute geradezu in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik getreten« seien, und kündigt für 1929 eine »Philosophische Anthropologie« an, von der Die Stellung des Menschen im Kosmos nur eine »kurze, sehr gedrängte Zusammenfassung« sei (Scheler 1976/1979, 9 f.). Bekanntlich ist es dazu nicht gekommen, weil Scheler noch 1928 stirbt. Wolfhart Henckmann (2011; 2018, 15 ff., 44, 79 f., 145 ff.) hat einige Hinweise gegeben, wo sich Scheler der phänomenologischen Methode bedient (auch wo er es eher implizit tut). Am deutlichsten kann man den Einfluss der Phänomenologie sicher in den Passagen zu den »Akten« (Scheler 1976/1979, 39) des Geistes ablesen. Hier präsentiert Scheler seine Version der Intentionalität
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D. Wirkfelder
( C.I.2) des Bewusstseins und reagiert damit implizit auch auf den Anthropologismusvorwurf. Denn seine Konzeption nimmt gerade keine verdinglichte und essenzialisierte menschliche Natur zum Ausgangspunkt, sondern beschreibt das Menschsein über den Vollzug von Akten – eine Konzeption, die mit der »Weltoffenheit« (ebd., 33) des Menschen zusammenhängt. Der »Akt der Ideierung« (ebd., 40 ff.) steht ebenso in phänomenologischer Tradition, auch wenn sich Scheler von Husserls Begriffsbildungen emanzipiert. Scheler rückt sogar sein zentrales Theorem des Menschen als ›Neinsagenkönners‹ in die Nähe Husserls, wenn er sagt, dass das »kräftige ›Nein‹«, das der Mensch der Wirklichkeit entgegenschleudern könne, mit der ›phänomenologischen Reduktion‹ ( C.II.4) und der ›Epoché‹ ( C.II.2) in Verbindung zu bringen ist – um dann allerdings zu betonen, dass er Husserls Theorie im Einzelnen nicht zustimmen könne (ebd., 44). »Die strenge phänomenologische Reduktion Husserls wird somit zu einer anthropologischen Grundbestimmung des Menschen« (Plas/Raulet 2011, 11), so das Fazit von Guillaume Plas und Gérard Raulet. Insofern kann man Schelers Text durchaus als ›phänomenologisch fundierte Anthropologie‹ (Henckmann 2011) bezeichnen. In den ebenfalls 1928 erschienenen Stufen des Organischen und der Mensch ist das Bild deutlich ambivalenter. Gleich im Vorwort unterstreicht Plessner, dass er Schelers phänomenologisch geleitetes Arbeiten in der Anthropologie sehr schätzt, sich selbst aber von der Phänomenologie »als grundlagensichernder Forschungshaltung« (Plessner 1981a, 11) distanziert, indem er auf seine Dissertation verweist, in der er sich kritisch mit der Phänomenologie auseinandersetzt, obwohl er ursprünglich angetreten war, diese zu »rechtfertigen« (Plessner 1980, 146). In seinen späteren Einschätzungen sagt Plessner unumwunden, dass von Heidegger kein Weg zur Anthropologie führe, und spricht von einer antianthropologischen »Sperrklausel« Heideggers (Plessner 1983, 381 ff.; Hartung 2003, 136–140). In der Methodenreflexion der Stufen würdigt Plessner Husserl allerdings in durchaus emphatischer Weise. Für seine Hermeneutik des lebendigen Daseins greift er jedoch vor allem auf Wilhelm Dilthey und Georg Misch zurück, auch prägnant vom ›Diltheyprogramm‹ sprechend. Aber er unterstreicht, dass erst mit Husserls Phänomenologie das »Instrument zur Durchführung des Diltheyprogramms« gefunden worden sei, auch wenn Diltheys »Tiefe keine Resonanz bei Husserl finden konnte« (Plessner 1981a, 66). Plessner lobt das ›Verdienst Husserls‹, die Deskription ( C.II.1) der ›Phänomene‹ in die Philosophie eingeführt zu haben – nach Hans-Peter Krüger insgesamt eine »quasitranszendentale Instrumentierung der phänomenologischen Deskription in der naturphilosophischen Fundierung seiner philosophischen Anthropologie« (Krüger 2006, 204 ff.). So wird die Phänomenologie bei Plessner zu einer produktiven Methode (unter anderen), die man im Rahmen anthropologischer Fragestellungen verwenden kann, ohne Husserls (oder Heideggers) rigoristischen Konzeptionen folgen zu müssen. Auch an den Beiträgen in der von Plessner initiierten und mitherausgegebenen Zeitschrift Philosophischer Anzeiger, die 1925–1930 erschien, kann man bereits ablesen, wie
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sich die dort gedruckten anthropologischen Texte bereits früh die Phänomenologie in ›unorthodoxer‹ Weise angeeignet haben. Zum Leidwesen von Plessner, der seine Stufen nur spärlich rezipiert sah, wurde vor allem Schelers Programmschrift weithin wahrgenommen. Bereits 1934 erschien etwa die Einführung in die philosophische Anthropologie des von den Nationalsozialisten 1944 ermordeten Paul Ludwig Landsberg (1934), die sich ausdrücklich in die Tradition Schelers stellt. Doch die Ablehnung überwog: Sowohl Heidegger (in Kant und das Problem der Metaphysik sowie verschärft in den Texten nach seiner ›Kehre‹) als auch Husserl distanzieren sich schnell von der neu begründeten philosophischen Disziplin. Husserl registriert in seinem 1931 in Berlin und Halle gehaltenen Vortrag Phänomenologie und Anthropologie eine »schnell anwachsende Hinneigung« der »jüngeren philosophischen Generation Deutschlands« zu einer »Anthropologie neuartiger Gestalt« (Hua XVII, 164). Damit meinte er nicht nur Scheler, dessen Die Stellung des Menschen im Kosmos er bei seiner Lektüre mit »empörten Randbemerkungen« (Henckmann 2018, *215) versah, sondern bekanntlich auch Heidegger. Voller Enttäuschung gegenüber seinem ehemaligen Schüler liest Husserl Sein und Zeit als ein anthropologisches Werk. Die Anthropologie ist für Husserl vor allem deshalb problematisch, weil sie hinter den transzendentalen Standpunkt zurückfalle, indem sie eine »seiende Welt bzw. möglicherweise seiende« (Hua XVII, 179) voraussetzen müsse. Daher kommt er zu dem Schluss, dass eine jede ›Philosophie vom menschlichen Dasein‹ in jene ›Naivität‹ zurückfalle, die man im transzendentalphilosophischen Denken erfolgreich überwunden hatte. Dieses »berühmt[e]« (Fahrenbach 1970, 99) ›anthropologische Missverständnis‹ wird cum grano salis allerdings dazu führen, Sein und Zeit in Zukunft eher wieder antianthropologisch auszulegen – und insofern Heidegger (implizit) gegenüber Husserls Lektüre zu verteidigen. 1.2. Entfremdungen und Annäherungen in der Zeit nach 1945
Nach 1945 sind vereinzelt Arbeiten entstanden, die sich einer ›phänomenologischen Anthropologie‹ verschrieben haben (Ilting 1949; van Peursen 1959). In der von Erich Rothacker betreuten Doktorarbeit Karl-Heinz Iltings kann man einen Reflex der Debatten der 1920er- und 1930er-Jahre erkennen. Ilting spricht explizit von einer phänomenologischen Anthropologie, die er als eine Reaktion auf die (biologistischen, negativistischen und essenzialistischen) Probleme der Anthropologien entwickeln will. Dabei gedenkt er die Phänomenologie Husserls und Heideggers fruchtbar zu machen, im vollen Wissen darum, dass sie die Anthropologie damals ablehnten. Die Arbeit von Ilting (1949) ist ein früher Versuch, Anthropologie und Phänomenologie produktiv zusammenzubringen. Doch stehen die nach 1945 verfassten Anthropologien selten in explizit phänomenologischer Tradition, auch wenn gewisse Nähen bemerkbar sein mögen, wie etwa bei der 1955 entworfenen philosophischen Anthropologie von Michael Landmann (1982). Überdies sind sogar Versuche zu verzeichnen, die die Phäno-
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menologie konsequent vermeiden und sich der neu etablierenden sprachanalytischen Methode bedienten, wie etwa im Fall von Wilhelm Kamlah (1973). 1.2.1. Existenziale Anthropologien als Antwort auf die anthropologische
Herausforderung
Eugen Fink legt 1955 mit seiner Vorlesung Grundphänomene des menschlichen Daseins eine »existenziale« bzw. »coexistenziale« Anthropologie vor (Fink 1979, 420–436). Auch wenn er sich mit der philosophischen Anthropologie als eigenständiger Disziplin auseinandersetzt und Grundphänomene beschreibt, die zu den anthropologischen Kernthemen gehören (unter anderem Fremderfahrung, Endlichkeit, Technik), finden Scheler, Plessner oder auch Arnold Gehlen, dessen anthropologisches Hauptwerk Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt erstmals 1940 erschienen war, bezeichnenderweise überhaupt keine Erwähnung. Allein schon der im Titel verwendete Begriff des ›menschlichen Daseins‹ deutet eine Anthropologie in der Tradition Heideggers an. Fink bedient sich ohnehin gerne heideggerscher Wendungen, die auf eine ›Fundamentalontologisierung‹ der Anthropologie zielen, wie etwa: »Die philosophische Anthropologie hat zu ihrem Thema das Seiende, das wir selbst sind.« (Gehlen 1997, 30) Konsequenterweise begreift Fink die Anthropologie im Horizont des ›Seinsverständnisses‹: Die Weise, wie der Mensch ist, der Mensch, der das Sein aller Dinge versteht und auslegt – es zwar nicht absolut versteht und nicht absolut begreift, vielmehr so, daß sein Verstehen und Begreifen hineingehalten ist in eine umfangende Dunkelheit –, die Weise des menschlichen Seins bildet das allzeit problematische Thema der philosophischen Anthropologie. (Ebd., 438)
Ob man dies nun als Fundamentalontologisierung der Anthropologie oder als eine vorsichtige (Re-)Anthropologisierung der Fundamentalontologie versteht: In jedem Fall liegt hier eine deutliche Aneignungsgeste gegenüber der philosophischen Anthropologie vor. Diese wird nämlich lediglich als Fortsetzung und Reformulierung des phänomenologisch-hermeneutischen Projektes ( B.III.3) verstanden – was letztlich heißt, dass Fink bezweifelt, dass die von Scheler und Plessner entwickelte Anthropologie eine originäre und ernstzunehmende ›Denkrichtung des 20. Jahrhunderts‹ (J. Fischer 2008) ist. Auch Otto Pöggeler umreißt im Anschluss an Heidegger eine »existenziale Anthropologie«, deren Analytik der Existenz als ein Konkurrenzprogramm zur Philosophischen Anthropologie zu verstehen sei (Pöggeler 1966, 444). Die existenziale Anthropologie könne zwar nicht mit dem »Reichtum« der philosophischen Anthropologie mithalten, doch sei ihre Stärke, dass sie fragt, »wie überhaupt nach dem Menschen gefragt werden kann«; denn der Mensch, der nach sich selbst fragt, »kann sich nicht als ein Etwas nehmen, von dem Was-Bestimmtheiten abzulesen wären«, und so sei die Bedeutung der existenzialen Anthropologie für die Frage nach dem Menschen, dass »sie diese Frage schon nach der Weise des
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Fragens fragwürdig gemacht hat« (ebd., 460). Insgesamt kann man die existenzialen Anthropologien in der Tradition »nicht-anthropologischen Fragens nach dem Menschen« (Wunsch 2014, passim) sehen, wie es Matthias Wunsch treffend in Bezug auf Heidegger ausdrückt. Auch Helmut Fahrenbach unterstreicht in seinem Aufsatz Heidegger und das Problem einer »philosophischen« Anthropologie, dass Heidegger zwar einen »verengte[n], fixierte[n] und undifferenzierte[n] Begriff von Anthropologie« habe, der »der traditionellen wie der gegenwärtigen Anthropologie nicht gerecht« werde (Fahrenbach 1970, 123). Trotzdem habe Heideggers Kritik an der Anthropologie durchaus sachliche Gründe. Gerade weil die Fragwürdigkeit der Frage nach dem Menschen im Zentrum steht, könne man von einer »anthropologischen Relevanz« (ebd., 117 ff.) seines Denkens sprechen. Die »existenzial-philosophische Anthropologie« habe insbesondere den Vorteil, dass sie nicht den ›Fehler‹ der philosophischen Anthropologie macht, beim Menschen als einem »Lebewesen« bzw. einer »Lebensform« anzusetzen (ebd., 129). Insofern ist es kein Wunder, dass Plessner (1983, 399) direkt auf Fahrenbachs Text reagiert und nochmals betont, dass es im Gegensatz zu den existenzialen Ansätzen gerade die Stärke seiner Anthropologie sei, die »umfassende Lebensperspektive« in das philosophische Fragen nach dem Menschen mit eingeschlossen zu haben. In den 1970er-Jahren ist im deutschsprachigen Raum die interdisziplinär angelegte siebenbändige Buchreihe Neue Anthropologie (Gadamer/Vogler 1972 ff.) erschienen, die immerhin von dem Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer mitherausgegeben wurde, der in seiner Einleitung die Bedeutung einer ›neuen‹ Anthropologie betont, vor allem mit Blick auf die Entwicklungen in den Naturwissenschaften und in der Technik; dabei verweist er unter anderem auf Scheler, Plessner und Gehlen und schließt sie damit in den Kanon des Projektes mit ein. Einem anderen Heidegger-Schüler, nämlich Karl Löwith, gelingt es in seinem Beitrag für die Neue Anthropologie allerdings erneut, Scheler und Plessner rundweg zu ignorieren und noch einmal die Bedeutung des menschlichen ›Daseins‹ für die anthropologische Frage zu unterstreichen (Löwith 1972, 331). Doch verweist er in diesem Text affirmativ auf die Arbeiten von Erwin Straus und hält dessen Buch Vom Sinn der Sinne für »eine hervorragende Abhandlung« (ebd., 338). Dies ist bemerkenswert, weil Straus als phänomenologisch orientierter Psychiater dazu beitragen wird, die Phänomenologie für die philosophische Anthropologie fruchtbar zu machen. 1.2.2. Beginn der interdisziplinären Ausweitung des Programms
der Phänomenologie
Zur Rehabilitierung der Anthropologie innerhalb der Phänomenologie trägt dann eine sukzessive interdisziplinäre Ausweitung der Phänomenologie bei. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde verschiedentlich daran gearbeitet, die Phänomenologie weiterzuentwickeln, indem man sie ›anzuwenden‹ oder für
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interdisziplinäre Fragestellungen zu öffnen suchte, wie es etwa Maurice MerleauPonty in seinen Vorlesungen von 1949 und 1952 zu La phénoménologie et les sciences de l’homme unternimmt (Merleau-Ponty 1975b). Auch der von Straus herausgegebene Kongressband Phenomenology. Pure and Applied (1964) kann als exemplarisch für diese Tendenz gelten. Das Besondere an dieser Publikation ist, dass sich zwischen den Beiträgen zur Phänomenologie auch ein Text von Plessner findet (ebd., 63–74). In diesem Band wird also, so könnte man zuspitzen, die Perspektive der philosophischen Anthropologie wie selbstverständlich in die phänomenologischen Fragestellungen integriert. Und auch wenn im Fall von Merleau-Ponty aufgrund der spezifisch französischen Rezeption naturgemäß nicht die Anthropologie im Stile Schelers oder Plessners angesprochen ist, sondern Psychologie, Soziologie und Geschichte, ist es nur ein kleiner Schritt zur Auslotung einer anthropologischen Ausrichtung der Phänomenologie im interdisziplinären Kontext, wie es etwa der Band des Yearbook of Phenomenological Research (Analecta Husserliana) mit dem Titel The Phenomenology of Man and of the Human Condition zum Ausdruck bringt, in dessen Untertitel das Programm »Plotting the Territory for Interdisciplinary Communication« kompakt festgehalten ist (Tymieniecka 1983). Die in der internationalen Debatte zu beobachtende interdisziplinäre Öffnung der Phänomenologie insbesondere für Forschungen und Methoden der Kognitionswissenschaften ( D.XI) ab den 1990er-Jahren und die daraus hervorgehenden Theoriebildungen zur Naturalisierung der Phänomenologie (Gallagher/Zahavi 2012, 31–45; B.III.9) oder zur embodied cognition bzw. zur 4E cognition (Thompson 2007; Menary 2010) werden schließlich auch in der deutschsprachigen Phänomenologie zu einer Öffnung und zu vielfältigen Anknüpfungen an die philosophische Anthropologie führen (Breyer 2015; Fuchs 2017). Rezeptionsgeschichtlich bemerkenswert ist, dass die deutschsprachige philosophische Anthropologie international kaum wahrgenommen wird, hierzulande aber immer mehr Eingang in die Debatten zu den genannten Paradigmen findet, die nicht ohne Zufall den Leib ins Zentrum stellen. 1.3. Es wächst zusammen, was zusammengehört 1.3.1. Zeit der Entspannung: ›Unorthodoxe‹ Studien zwischen Phänomenologie
und Anthropologie
Sowohl die interdisziplinäre Erweiterung der Phänomenologie als auch die Entdeckung ähnlicher Forschungsfragen in Leibphänomenologie und philosophischer Anthropologie mögen dazu geführt haben, dass seit den 1990er-Jahren Phänomenologie und Anthropologie immer selbstverständlicher zusammengebracht werden (Kalinowski 1991). Zuvor kann man eine originelle Verbindung der Programme von Phänomenologie und Anthropologie in der ›Neuen Phänomenologie‹ von Hermann Schmitz beobachten (Grossheim/Thies 2009; Plas 2011). Spätestens ab dieser Zeit nimmt auch die Anthropologie-Skepsis in der
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deutschen Philosophie – wie sie nicht nur durch Husserl und Heidegger, sondern auch von der Frankfurter Schule bei der Foucault-Rezeption gepflegt wurde – peu à peu ab. Dies führt zu einer Reihe von Studien, die sich nicht mehr an den Kon stituierungs- und Legitimitätsfragen abarbeiten, wie noch Blumenberg in den 1970er-Jahren (Blumenberg 2006, 478–549), sondern anthropologische Sachfragen mit einer phänomenologischen Methodik bearbeiten. Als Beispiele können die erziehungswissenschaftlichen Arbeiten von Käte Meyer-Drawe (1996) und eine Tagung der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung dienen, die der Tatsache Rechnung trägt, dass es »originär anthropologische Problemfelder« gibt, die »gerade auch in phänomenologischen Kontexten« eine zentrale Rolle spielen (J. Jonas/Lembeck 2006, 5). 1.3.2. Überwindung der Anthropologie-Phobie
Das phänomenologisch-anthropologische Projekt Blumenbergs entsteht noch vor dem Hintergrund der traditionellen Spannungen zwischen Phänomenologie und Anthropologie und ist daher nur auf der Grundlage einer Kritik und Revision von Husserls und Heideggers ›anthropologiefeindlichen‹ Ansätzen möglich (Müller 2005; 2016). Diese extensiven Arbeiten wurden erst postum bekannt, insbesondere durch die Nachlassbände Zu den Sachen und zurück (2002) und Beschreibung des Menschen (2006). Damit hat Blumenberg den bislang ambitioniertesten, jedoch Fragment gebliebenen Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie vorgelegt. Seine zentrale These ist, dass Husserl und Heidegger in ihren Ansätzen ›den‹ Menschen ›leugnen‹ würden, obwohl anthropologische Fragestellungen in deren Konzeptionen eigentlich bereits angelegt seien. Dass Husserl von einem Bewusstsein überhaupt und nicht von einem menschlichen Bewusstsein spreche und dass Heidegger den Begriff des ›Daseins‹ einführe, um den Begriff des Menschen gezielt zu vermeiden, deutet Blumenberg wie folgt: »Beide Vorgänge haben gemeinsam, daß in ihnen der unvermeidlich auftauchende Mensch sich selbst gleichsam durchsichtig und transitorisch zu machen hat, um einen anderen großen Aspekt freizugeben.« (Blumenberg 2006, 9 f.) Dieser jeweils ›andere große Aspekt‹ sind das ›Bewusstsein als solches‹ einerseits und die ›Frage nach dem Sinn von Sein‹ andererseits. Blumenberg arbeitet sich vor allem an Husserl und dessen methodologischem »Reinheitsgebot« (ebd., 475) ab, wie er es leicht ironisch nennt. Er spricht von »Husserls lebenslange[r] Abmühung mit der Verschärfung und Reinigung der Reduktion bis hin zur meditativ-asketischen Überhöhung des Phänomenologen, dem alles ›Menschliche‹ fremd werden muß, damit er den Zugang zu seinem letztlich einen Gegenstand findet: zu sich selbst als transzendentalem Subjekt« (ebd., 26). Gegen diesen ›kryptotheologischen‹ Zug von Husserls Phänomenologie entwickelt Blumenberg (1997) seine These, Husserl hätte übersehen, dass wir Menschen als leibliche Wesen permanent für andere sichtbar sind und daher kein ›reines‹ Ich sein können. Wir würden vielmehr unsere Fähigkeit der Reflexion aus dem Faktum des Gesehen-wer-
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den-Könnens entwickeln: Der »aufgerichtete Leib« erscheine in »seiner riskierten Visibilität« und »Reflexion wäre dann der sublimierte und reduzierte Rest der akuten Selbstgegenwärtigkeit als erhaltungsdienlicher Kontrolle der passiven Optik« (Blumenberg 2006, 144). Ansatzpunkt seiner phänomenologischen Anthropologie ist das Phänomen, dass wir Menschen gesehen werden können und um dieses Gesehen-werden-Können wissen. 1.3.3. Die Geburt der phänomenologischen Anthropologie
aus dem Geist der Psychopathologie
Bernhard Waldenfels hatte Straus, Viktor von Weizsäcker, Ludwig Binswanger, Eugène Minkowski und Kurt Goldstein als die »Gründergeneration einer phänomenologisch orientierten Anthropologie« bezeichnet (Waldenfels 1992, 90) und Thomas Fuchs spricht von einer »›anthropologischen Wende‹ in der Phänomenologie« (Fuchs 2000a, 49), die auf dem Gebiet der Psychopathologie herbeigeführt worden sei. Fuchs kann gegenwärtig als der profilierteste Vertreter einer phänomenologischen Anthropologie gelten, der in seinen Arbeiten über die Phänomenologie hinausgehen und eine leibphilosophisch fundierte Anthropologie entwickeln will, indem er etwa Plessners ›exzentrische Positionalität‹ aufgreift. So notiert er programmatisch, dass es ihm darum gehe, »eine Anthropologie, und nicht bloß eine Phänomenologie der Leiblichkeit darzustellen« (ebd., 25). 1.4. Fazit
Das Verhältnis zwischen Phänomenologie und philosophischer Anthropologie ist aus historischen Gründen spannungsreich. Gleichwohl gilt Henckmanns nüchterne Einschätzung, dass »weder die Phänomenologie auf eine Anthropologie noch die Anthropologie auf eine Phänomenologie ausgerichtet sind. Andererseits schließen sie sich auch nicht gegenseitig aus« (Henckmann 2011, 63). Dies dürfte einer der Gründe sein, warum wir derzeit eine Forschungslage haben, in der in der Phänomenologie ebenso selbstverständlich anthropologische Themen behandelt werden, wie man in der philosophischen Anthropologie auf die Phänomenologie zurückgreift. Explizite Begründungsversuche einer phänomenologischen Anthropologie bleiben unter dieser Selbstbezeichnung hingegen eher singuläre Erscheinungen. Oliver Müller
2. Ethnologie Aus einer älteren Tradition der – vielfach von Ärzten und Philosophen betriebenen – Anthropologie hervorgehend, hat sich die Ethnologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem eigenständigen Wissenschaftszweig entwickelt.
V.2. Ethnologie
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Dieser Prozess der epistemischen Reorientierung – weg von der Introspektion bezüglich des ›Wesens‹ des Menschen und hin zu empirisch prüfbaren Deskriptionen ( C.II.1) – wurde z. B. an der Entstehung des Faches in Großbritannien herausgearbeitet (Stocking 1971). Aber auch wichtige Persönlichkeiten der damaligen Gründungsphase im deutschsprachigen Raum legten Wert darauf, die von ihnen betriebene ethnologische Forschung von den bereits zuvor existierenden Strömungen der eher introspektiven Anthropologie abzugrenzen (Bastian 1881; Sombart 1938). Diese Vorbemerkung ist substanziell, um zu verstehen, warum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Verbindung zwischen der Phänomenologie als einer philosophischen Strömung und der Ethnologie als einem ganz klar empirisch orientierten Fach nicht zu erwarten war. Der Befund einer fehlenden Verbindung gilt trotz der auch schon damals vorhandenen unübersehbaren Parallelen: Beide Disziplinen setzen sich intensiv mit der Frage der beobachtbaren Umwelt und der Möglichkeit einer Kategorisierung der beobachteten Phänomene auseinander. Paradoxerweise wurden diese parallel gelagerten Erkenntnisinteressen erst relativ spät erkannt und auch nur im Bereich ausgewählter Arbeitsfelder diskutiert. Auch wenn eine solche Verbindung also durchaus möglich gewesen wäre, ist sie tatsächlich erst deutlich später und auf Umwegen bedacht und für die Ethnologie nutzbar gemacht worden. Zu diesen Umwegen gehört die internationale Rezeption von Husserl, wie sie z. B. in dem Werk von Maurice Merleau-Ponty zu finden ist. Dazu gehört weiterhin die umfassende Heidegger-Rezeption in den Jahren nach 1970. Ein anderer Autor der sogenannten ›zweiten Generation‹ der Phänomenologie ist Alfred Schütz, der einerseits ein eigenständiges und von Husserl klar abgrenzbares Profil entwickelt hat (Kauppert 2008; Landgrebe 1985); andererseits seine phänomenologischen Ansätze so überzeugend dargelegt hat, dass diese in den Geistes- und Sozialwissenschaften weithin rezipiert wurden ( D.VI). Wahrscheinlich hat Schütz mehr für die Verbreitung der Phänomenologie in den angewandten Wissenschaften geleistet hat als viele andere (H.P. Hahn 2013, 63 ff.). Das zeigt sich z. B. bei Clifford Geertz (1983, 139), der sich in einem überwiegend theoretischen Text über das Verfahren der Kulturanalyse explizit auf Schütz (1971) bezieht. In der Tat handelt es sich bei der neueren Rezeption der Phänomenologie in der Ethnologie um einen wahrhaften Boom. Phänomenologische Perspektiven, was auch immer darunter verstanden wird, haben in den vergangenen knapp 40 Jahren unter Ethnolog:innen eine enorme Popularität erfahren. Phänomenologische Ansätze in der Ethnologie haben dabei zugleich die Gegenstandsbereiche, die Methodik und das Selbstverständnis der Ethnolog:innen substanziell beeinflusst. Bestimmte Aspekte spielen dabei eine besondere Rolle. Das gilt z. B. für das Bemühen um eine vorurteilsfreie Beschreibung subjektiver Erfahrungen, den Verzicht auf vorgeprägte Kategorien der Wahrnehmung und den Rückgang ›zu den Sachen selbst‹. Gerade im Zuge der Kritik an impliziten Kategorisierungen in ethnografischen Beschreibungen, wie sie durch die Writing Culture (Clifford/
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Marcus 1986) in den Vordergrund getreten ist, sind diese methodischen Anliegen hochwillkommen. Die in den 1980er-Jahren offensichtlich gewordene Krise der Repräsentation lässt sich nur durch eine Kritik bisheriger epistemischer Unschärfen überwinden (Berg/Fuchs 2013). Genau diese Kritik der Erkenntnismöglichkeiten finden Ethnolog:innen in der Phänomenologie. Wenn heute von einer ›phänomenologischen Ethnologie‹ gesprochen werden kann, so betrifft dies insbesondere drei Bereiche, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen. Das geschieht hier in einer Weise, die stets die genuin ethnologische Denkweise in den Vordergrund rückt und in der Regel nicht mehr leistet als eine lediglich partielle Aneignung phänomenologischer Ansätze. Es handelt sich dabei im Einzelnen um (1) die Phänomenologie des Körpers ( C.I.9), (2) die Phänomenologie der Wahrnehmung ( C.I.8) und, nicht zuletzt, (3) die existenzialistische Phänomenologie ( B.III.2). Wie Michael Jackson, Herausgeber und Autor eines der fundamentalen und vielgelesenen Werke (Things as They Are: New Directions in Phenomenological Anthropology, 1996) in diesem Feld, in einem Rückblick hervorhebt, sind Schlüsselthemen der Phänomenologie in der Ethnologie Körperlichkeit, Alltagserfahrung, Intersubjektivität ( C.I.11), Sinnlichkeit, Raumorientierung und die Erfahrung der Krise (Jackson 2015, 293). Diese erweiterte Liste steht durchaus nicht im Widerspruch zu den hier gewählten Ansätzen. Vielmehr ist Jacksons Liste als eine Ausweitung zu verstehen, die sich vergleichsweise stärker an konkreten ethnografisch empirisch bearbeitbaren Themen orientiert. Vor dem Einstieg in die nähere Diskussion der genannten Arbeitsbereiche sei noch auf zwei Begriffe hingewiesen, die in der ethnografischen Forschung schon lange eine Rolle spielen und die zugleich auf eine phänomenologische Denkweise hindeuten könnten. Dabei geht es zum einen um den Begriff der ›Lebenswelt‹ ( C.I.13), der ja relativ spät im Werk Husserls bedeutsam wurde (Claesges 1972). ›Lebenswelt‹ wird in ethnografischen Monografien vergleichsweise häufig verwendet, wobei allerdings nur ein Bruchteil dieser Verwendungen tatsächlich einen Bezug zur husserlschen Prägung aufweist. Ethnolog:innen, die sich mit dem Lebensweltbegriff explizit auf Husserl stützen, sind deutlich in der Minderheit (vgl. aber Leistle 2007). Trotz einer wesentlichen und auch zutreffenden Kritik, nämlich die politische Dimension einer analytischen Vorgehensweise zu vernachlässigen, empfinden sich Autor:innen ethnografischer Beschreibungen häufig als Dokumentaristen einer Lebenswelt, was dann jedoch nicht näher konzeptualisiert wird. Nach Wilfried Lippitz (1978) wird der Lebensweltbegriff in den Sozialwissenschaften ganz bewusst verwendet, um in der Beschreibung eine Kategorisierung von Phänomenen zurückzustellen und einer größtmöglichen Differenzierung von heterogenen Elementen entgegenzukommen. Obgleich sich auch prominente Ethnologen des 20. Jahrhunderts wie Geertz (1973, 364) unter den Befürworter:innn einer Ethnografie als einer ›Phänomenologie der Kultur‹ (Desjarlais/Throop 2011, 94) finden, ist bis in die jüngste Zeit die Kritik einer zu großen Subjektivität und einer Vernachlässigung des Politischen nicht verstummt.
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Der andere Begriff ist der der Umweltwahrnehmung. Dazu gibt es frühe Verwendungen, die zwischen einer empirisch orientierten Sozial- und Kulturanthropologie und der Phänomenologie zu verorten sind. Ein herausragendes Beispiel dafür sind die Studien von Jakob von Uexküll (von Uexküll/Kriszat 1934), die deutlich machten, dass es stets eine Vielzahl unterschiedlicher, aber im Grunde gleichberechtigter Wahrnehmungen ein und derselben Umwelt gibt. Diese Idee, die wahrscheinlich als phänomenologischer Kerngedanke bezeichnet werden darf, entspricht dem damals in der Ethnologie bereits gut verankerten Konzept des Kulturrelativismus (Eriksen 2004, 13 f.). Auch wenn heute der bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Franz Boas deklarierte fundamentale Anspruch relativistischer Betrachtung von Kulturen nicht mehr vertreten wird (M. Brown 2008), so bleibt doch das Paradigma eines multiplen und notwendig stets subjektiven Blicks auf Kulturen eine wichtige Bedingung ethnologischer Erkenntnis. Wieder aufgenommen wurde dies zunächst durch Tim Ingold. Auch hier erfolgte die Bezugnahme zur Phänomenologie nicht unmittelbar zu Husserl, sondern vermittelt über Merleau-Ponty und, in geringerem Maße, durch einige späte Schriften Heideggers (Ingold 1995). Auf der Basis der phänomenologischen Konzepte von Wahrnehmung kritisierte Ingold (2000) die damals dominierende Heuristik materieller Kultur, indem er die Konzepte von ›Objekt‹ und ›Relation‹ hinterfragte. Die mangelnde Reflexion über die Vorstellungen von Objekthaftigkeit führte nach Ingold zu einer problematischen Einseitigkeit der Betrachtung materieller Kultur. Ingold ist es gelungen, aus der phänomenologischen Anregung eine Kritik an bestehenden Erkenntnismustern der Ethnologie zu üben, die letztlich zu einer nachhaltigen Erweiterung der Ethnologie beigetragen haben. 2.1. Körper
Mit gutem Recht kann Marcel Mauss als einer der Begründer der Ethnologie des Körpers genannt werden. Schon im Jahr 1934 insistierte er darauf, den Körper nicht als eine klar umrissene Kategorie, sondern als Wechselspiel von Selbst und wahrgenommenem Objekt zu verstehen (Mauss 1934/1974). In diesem Aufsatz steht im Vordergrund, wie der Gang eines Menschen seiner Umwelt erscheint und ob bestimmte Körperhaltungen als angemessen oder weniger angemessen wahrgenommen werden. In gewisser Weise beschreibt Mauss die Zweiseitigkeit des Körpers als Subjekt der Erfahrung und erfahrbares Objekt, so wie das auch in der Phänomenologie des Körpers verstanden wird (M. Sommer 1999). Damit betont Mauss die Wahrnehmung des Körpers und seine Verbindungen zur ihn umgebenden Umwelt. So stellt Mauss ›objektive‹ Eigenschaften von Körpern, wie sie z. B. in der biologischen Anthropologie wesentlich sind, in den Hintergrund. Die Ethnologie hat diesen Gedanken konsequent weiterentwickelt, indem der Körper in der Dialektik von Subjektivität und Sozialität beschrieben wurde (Turner 1995; Burkitt 1999). Körpersprache und die Möglichkeiten des Verbergens und Zeigens sind somit die ersten Zugänge zum Körper (Farnell 1999).
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Wie Thomas Csordas (1999) in einem Review-Artikel hervorhebt, besteht die spezifische Tradition einer Ethnografie des Körpers darin, den Körper nicht als ›Einheit‹ zu verstehen, sondern als etwas Zusammengesetztes, für das unterschiedliche Formen der Einbettung für verschiedene Teile gelten. Damit kann er einerseits die älteren ethnografischen Studien zu Körperdeformationen mit einbeziehen (Robb/Harris 2013), andererseits die neueren Studien zu kulturell determinierten Körperbildern. Zum Beispiel gehört in diesen Bereich die Darstellung des Körpers in der Werbung und deren Einfluss auf das Körperbild, also gewissermaßen die lebensweltliche Einbettung des Körpers (Csordas 2015). Die Assoziation von Körperbildern, Körperwahrnehmung und Eigenschaften des Körpers lässt sich in weiteren ethnografischen Untersuchungen finden. So gibt es eine interessante Studie über die Kulturgeschichte von Ölen, Cremes und Fetten, die auf den Körper aufgetragen werden (Forth 2013). Ähnliches gilt für die globale Verbreitung von Barbie-Puppen als Körpermodell (Okafor 2007) oder die in Afrika mancherorts praktizierte intentionale Gewichtszunahme bei jungen Frauen vor der Hochzeit (Popenoe 2003). Wechselwirkungen zwischen medial vermittelten Körperbildern und der Selbstwahrnehmung bzw. Selbstveränderung (Keck/Pethes 2001) können insgesamt als eines der zentralen Felder der Körperethnologie der letzten 20 Jahre gelten. Die Basis der Körperethnologie von Csordas (1994), der wahrscheinlich als der wichtigste Autor in diesem Feld gelten darf, ist das Embodiment, also die Verkörperung. Der Körper wird dabei zugleich als Akteur und als Spiegel der sozialen und kulturellen Umwelt aufgefasst. Als dritte Dimension kommt hier die Vorstellung der Körpererinnerung hinzu. Die spezifische Temporalität des menschlichen Körpers ermächtigt ihn, Vergangenes wieder hervorzurufen und damit Vergangenheit mit Gegenwart zu verbinden (Reinhardt 2016). Csordas (2004) pointiert dieses Argument in der Weise, dass er der religiösen Erfahrung des Körpers die grundlegende Erfahrung geteilter Religion zuschreibt. Bernhard Leistle (2006a; 2006b) hat dieses Konzept in einer ethnografischen Studie zu Trancetänzen in Marokko in überzeugender Weise empirisch eingesetzt. Phänomenologische Zugänge zum Körper spielen auch da eine Rolle, wo die Frage nach dem Individuum erörtert wird. Das Anliegen dieser konzeptuellen Weiterentwicklung ist es, nicht von einer vermeintlich objektiven (aber bedeutungslosen) Kategorie des Körpers auszugehen, sondern mehr auf die wahrgenommenen und im sozialen und kulturellen Handeln relevanten Begriffe einzugehen. Bei ihren Untersuchungen bei einigen Gruppen in Papua-Neuguinea hat Marilyn Strathern (1996) beobachtet, dass nicht Individuen, sondern spezifische Verbindungen und andere Handlungsweisen definieren, was eine Person ausmacht. Jeder Mensch ist unverbrüchlich Teil einer Gruppe, die als Netzwerk oder – in einer Wortschöpfung von Strathern – als ›Dividual‹ zu bezeichnen ist. Strathern weitet ihr Konzept in einer späteren Publikation noch aus, indem sie ethnografische Informationen zur Idee des ›ganzen Körpers‹hinzufügt. Die von ihr untersuchten Gruppen verstehen unter dem ›ganzen Körper‹ eben nicht nur
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die Person, sondern auch die Verwandten, bestimmte materielle Attribute usw. (Strathern 2004). Dieser Befund wurde auch bezüglich anderer Gesellschaften in Ozeanien diskutiert (Hess 2006). Es geht bei diesem neuen Begriff also um eine phänomenologisch begründete Erweiterung des Konzeptes vom Körper. Es bedarf, in Abgrenzung gegenüber der Leibphänomenologie eines Hermann Schmitz (1998), dazu keiner Spekulation bezüglich der Selbstwahrnehmung. Allein der ethnografische Befund ist hinreichend different vom westlichen Körperverständnis, dass es lohnend erscheint, gängige Konzepte infrage zu stellen und auf die Wahrnehmung selbst zurückzugehen. Maurice Bloch (1998) hat diesen Gedanken verallgemeinert; er diskutiert, ob sich aus dem Konzept des ›Dividual‹ eine allgemeine Dichotomie westlicher versus nichtwestlicher Körperbilder konstruieren ließe. Bloch zufolge wäre es sinnvoll, zuerst zu fragen: Gibt es überhaupt eine ›vorreflexive Erfahrung des Ich‹? Er plädiert dafür, nicht die Selbstreflexion (im Sinne von Schmitz), sondern die sozial gespiegelten Eigenschaften der sozialen und kulturellen Person als Ausgangspunkt für eine Beschreibung der Person zu verwenden. Geschichte, Neurobiologie und Ethnografie sollten nach Bloch (2011) zusammenwirken, um ein hinreichend differenziertes Bild des kulturell eingebetteten ›Ich‹ zu entfalten. 2.2. Wahrnehmung
Aus ethnologischer Perspektive schließen die Fragen der Wahrnehmung unmittelbar an die Bemühungen um eine nicht von vorgeprägten Kategorien dominierten Beschreibung des Körpers an. Dabei sind die Verbindungen zwischen der Körperethnologie und der Beschäftigung mit den Bedingungen der Wahrnehmung vielfältig. Besonders offensichtlich wird das am bereits erläuterten Konzept des ›Dividual‹ von Strathern. Mit einiger Berechtigung merkt Dick Pels (Pels et al. 2002) gegenüber diesem Konzept kritisch an, ob durch einen solchen Rückgang auf eine kulturell eingebettete Wahrnehmung nicht zugleich eine neue Ontologie geschaffen würde. In dieser Ontologie wären Körper nicht mehr von Objekten getrennt, sondern durch vielfältige encounters (Begegnungen, Berührungen) miteinander verbunden. Folgt man diesem Modell der Interaktion, so werden Dinge zur Antriebskraft der Selbstveränderung (Willis 2011). Letztlich sind die Vorstellungen einer kulturspezifischen Wahrnehmung und der durch den Moment der Wahrnehmung entstehenden Verbindungen, und – in einem weiteren Sinne: Netze – schon bei Merleau-Ponty formuliert, dem in der Ethnologie zweifellos meistzitierten Phänomenologen. Wenn Merleau-Ponty so verstanden werden darf, dass ›Bedeutung‹ erst im Moment der Wahrnehmung durch die Herstellung einer Verbindung entsteht, so ist es zumindest nicht ganz abwegig, ihn heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinen wichtigsten Publikationen, als einen Ontologen zu bezeichnen, der die kulturanthropologische Debatte um die Möglichkeit eines ontological turn zumindest teilweise vorweggenommen hat (Watkin 2009). Mit Herman Coenen (1985) könnte man von
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einer ›Ontologie des Monismus‹ sprechen, so wie es auch in der neueren, sich kritisch gegen die Netzwerkmetapher positionierenden Debatte der Fall ist (Epstein 2015). Die der Phänomenologie stets inhärente, reflexive Frage lautet: Kann subjektive Wahrnehmung ausreichen, um Gesellschaft zu erklären? Während ›kognitive Archäologen‹ wie Colin Renfrew (2007) und, eingeschränkt, Bjørnar Olsen (2012) das bejahen, ist die Antwort auf diese Frage in der Ethnologie weniger eindeutig. Am ehesten gelingt sie noch auf der Mikroebene, also bei Ethnografien, die einer Person oder einem Haushalt gewidmet sind. In diesen Fällen ist die Bezugnahme auf das Paradigma der Wahrnehmung selbstverständlich (Chauvier 2011; Thévenot 1994). Wie Kirsten Hastrup (2004) betont, steht demgegenüber die von Clifford Geertz begründete Tradition der interpretativen Ethnologie, die unterstellt, dass jede Beobachtung durch Vorwissen und nachgängige Interpretation in ein kohärentes kulturelles Schema eingefügt werden kann. Von einigen Ethnolog:innen wird deshalb der von Geertz betriebene ›Textualismus‹ auch kritisch betrachtet (Knauft 1994). Möglicherweise beeinträchtigt er eine genaue soziale Analyse. Seit Durkheim und Evans-Pritchard verstehen sich Ethnolog:innen als Pioniere im Hinblick auf epistemologische Probleme. Nicht viel anders als Husserl (1901), der den Rückgang zu den Sachen selbst zum Prinzip machte, suchen Ethnolog:innen beständig nach neuen Formen der Beobachtung und Beschreibung, die eine größere Nähe zum beobachteten Gegenstand ermöglichen ( C.I.5). Ethnolog:innen waren – immer noch Hastrup zufolge – stets bemüht, die Grenze dessen, was erfahrbar (und als Erfahrung dokumentierbar) ist, zu erweitern. Die Unmittelbarkeit der Beobachtung, für die Hastrup (2004, 467) auf den bereits erwähnten Michael Jackson verweist, stößt mit der ordinariness des Alltags an die Grenzen des Beschreibbaren. Wenn die Kontingenz des Alltags in den Vordergrund tritt, geht die Möglichkeit einer weiterreichenden Interpretation verloren. Wenn Dinge nur noch als ›unmittelbare Erfahrung‹ aufgefasst werden, wo bleibt dann der Raum für Symbole, deren Existenz doch nicht zu bezweifeln ist? Diese Frage wird z. B. von Sasha Newell (2018) gestellt, um gegen den Trend hin zur Phänomenologie die Relevanz übergreifender, kulturell gültiger Interpretationen zu unterstreichen. Wenn die Stoßrichtung der Phänomenologie so verstanden werden kann, dass sie einen größeren Raum für die Beobachtung des Unscheinbaren und Vernachlässigten einfordert (Förster 2001; Meyer-Drawe 2015; Soentgen 1997), so gibt es dazu eine ganze Reihe passender und hoch differenzierter ethnografischer Studien. Am Beispiel des Werks von Paul Stoller lässt sich etwa sehr gut zeigen, wie die Grenze des Wahrnehmbaren bis hin zur ›Uninterpretierbarkeit‹ verschoben wird. Das gilt z. B. für die Situation, in der Stoller (1984) seine Körperwahrnehmungen im Moment der Initiation zum Magier bei den Songhai im Niger beschreibt. Wie Stoller schildert, traten Lähmungserscheinungen, Taubheit bei ihm plötzlich und intensiv auf. Er folgte den Etappen der Initiation bei den Song-
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hai, um mit unterschiedlichen Handlungen und in Gesprächen post faktum eine kulturelle Bedeutung für die Empfindungen zu finden. Er überwindet die Problematik von kontingenter Beobachtung und kulturellem Sinn, indem er die beiden Aspekte als eine zeitliche Abfolge beschreibt. Stoller (1989; 1997) hat seine Erfahrungen später methodologisch reflektiert und entwickelt darauf aufbauende eine ›Ethnografie der Sinne‹. Ein anderes Beispiel kommt von Nadia Seremetakis (1994), die ebenfalls das zeitliche Nacheinander von Erfahrung und Bedeutung beschreibt, aber mit einem ganz anderen zeitlichen Rahmen arbeitet, indem sie die Wahrnehmungen aus ihrer Jugend aufgreift und im Rückblick nachzeichnet, wie daraus allmählich die Bedeutung einer kulturellen Norm (›guter Geschmack‹) geworden ist. Als drittes Beispiel sei hier auf die Arbeiten von Joel Candau (2001; 2004) verwiesen, der sich insbesondere mit Geruchsempfindungen befasst hat und dabei das enge Verhältnis von Geruch und Erinnerung heraushebt. Divergente Wahrnehmungen treten auch dann auf, wenn Teile einer Landschaft – oder in der Mythologie der australischen Aborigines: Aspekte einer Biografie – unterschiedliche Relevanz erhalten. Wie Elizabeth Povinelli (2016, 93) ausführt, geht es in der Wahrnehmung nicht um Herkunft und Ziel, sondern um Richtung, Orientierung und Verbindung zwischen verschiedenen Elementen (Teilen der Landschaft oder Körperteilen). Reaktion und Interaktion sind wichtiger als Zugehörigkeit; damit deuten sie auf eine Wahrnehmungsweise hin, die das Relationale höher bewertet als Zugehörigkeit. An dieser Stelle und aus ethnologisch informierter Sicht muss dabei offenbleiben, ob die Betonung des Relationalen eine Universalie ist oder eher als kulturspezifischer Befund zu betrachten ist. Auf die genannten Studien aufbauend, stets mit Bezug auf Merleau-Ponty, sind einige in der Ethnologie viel rezipierte Methodenbücher entstanden. So ist auf das Konzept der ›sensoriellen Ethnografie‹ von Sarah Pink (2009) zu verweisen und auf David Howes (2003), der den Zusammenhang von Sinneswahrnehmung und Sozialtheorie hervorhebt. Erweitert man diese Überlegungen hin zur Frage der Artefaktwahrnehmung, so sind auf diesem Feld zahlreiche Studien anzutreffen, die sich mit der Multivokalität der Objektwahrnehmung befassen (Classen/ Howes 2006; B. Weiss 1996; Strang 2005). Eine bedeutsame Konsequenz phänomenologischer Inspiration in der Ethnologie besteht in der Erweiterung ihres Methodenspektrums. Jenseits der Einzelstudien und der genannten Methodenbücher werde die Berücksichtigung der unmittelbaren Beobachtung und des sinnlichen Eindrucks immer wichtiger. Neue experimentelle Verfahren verwenden Soundscapes (Schine 2010) oder deklarieren das ›Schlendern‹ als stadtethnologische Methode (Kusenbach 2003; Dörk et al. 2011; Evans/Jones 2011). Es scheint möglich geworden zu sein, eine Ethnografie des atmosphärischen Eindrucks zu schreiben (Bee/Egert 2018). ›Sensible Kartografien‹ (Olmedo 2017) bemühen sich darum, aufbauend auf der Idee der kognitiven Karten (Downs/Stea 1977; Jameson 1988), zu einer offenen und an der Wahrnehmung orientierten Darstellung von Raumerfahrung
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zu kommen. In all diesen Ansätzen steckt ein phänomenologischer Impuls. Es geht um den Versuch, auf vorgefertigte Kategorien zu verzichten und Beschreibungen zu präsentieren, die möglichst nah an der Erfahrung der interessierenden Personen sind. 2.3. Existenzialistische Ethnologie
Das Konzept einer existenzialistischen Ethnologie könnte sehr gut als Zuspitzung der hier schon eingeführten Idee einer ›Wahlverwandtschaft‹ verstanden werden. Es geht nämlich darum, einige Denkweisen des Existenzialismus im Sinn von Jean-Paul Sartre in der Anthropologie nutzbar zu machen. Die enge Verflechtung mit der Philosophie wird schon durch die Koautorschaft zwischen Albert Piette und dem hier schon mehrfach erwähnten Michael Jackson deutlich (Jackson/ Piette 2015a). Beide beziehen sich in ihrem Werk immer wieder auf Heidegger und eben Jean-Paul Sartre ( B.III.2). Während Jackson sich näher an Heidegger positioniert, ist Piette mehr an Sartre orientiert und steht damit einigen gegenwärtigen Tendenzen der Ethnologie kritisch gegenüber. In Abgrenzung gegenüber manchen dominanten Strömungen, die sich an den Handlungsräumen (agency) orientieren, fokussiert die existenzialistische Ethnologie die Vorstellung einer Ambiguität des Lebens. Das Individuum ist nicht (vorrangig) durch seine Intentionen und Handlungen zu verstehen, sondern durch eine Eingebundenheit in soziale Kontexte und durch seine Abhängigkeit von den ihn umgebenden Phänomenen. Uneindeutigkeit und Intersubjektivität stehen dabei oft im Mittelpunkt. Existenzialistische Ethnologie ist eng verbunden mit den beiden hier schon erläuterten Forschungsfeldern. So spielt die Ethnologie des Körpers eine große Rolle, weil es mitunter die besonderen körperlichen Erfahrungen sind, die den ›Intentionen‹ des Einzelnen Widerstand entgegensetzen. Dies wurde hier am Beispiel der Studien von Paul Stoller bereits dargelegt. Die Rolle des Körpers umfasst auch die Ethnografie der Selbstwahrnehmung von Menschen mit der Erfahrung einer Amputation. Letzteres war von Merleau-Ponty schon vor mehr als 70 Jahren vorgezeichnet und als Beispiel genutzt worden. Sónia Silva (2015) hat dies ethnografisch untersucht und präsentiert somit eine Weiterentwicklung. Sie legt dabei noch mehr Wert darauf, sich in die betroffene Person hineinzuversetzen. Auch kollektive Vorstellung über Amputationen und Körperveränderungen sind hier zu nennen (B. Weiss 1998). Die zweite Ähnlichkeit mit den hier bereits erwähnten Feldern betrifft die klar erkennbare Priorität für die Mikroperspektive. Während in der ›konventionellen‹ Ethnografie die Möglichkeit der Vergesellschaftung und die Motive für Entstehung und zeitliche Dauer von Gemeinschaften im Vordergrund stehen, konzentriert sich die existenzielle Ethnologie auf die Frage, welche subjektive Relevanz die Integration in eine Gruppe überhaupt hat. Wie Jackson und Piette in ihrer Einleitung hervorheben, möchten sie im Kontrast zu anderen ethnologischen Strömungen den Menschen gerade nicht auf seine Verbindung mit »sozialen, kul-
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turellen, psychologischen und historischen Eigenheiten reduzieren« (Jackson/ Piette 2015b, 25). Vielmehr stehen die Möglichkeit und die Bewertung einer solchen Verbindung im Mittelpunkt der von diesen Autoren vertretenen phänomenologischen Ethnologie. Folgerichtig beziehen die beiden Autoren in der Debatte zwischen Bruno Latour und Graham Harman klar Stellung zugunsten des Letztgenannten. Während Latour die Auffassung vertritt, dass ein Netzwerk geeignet sei, die möglichen Eigenschaften jeder beteiligten Entität durch (potenzielle) Verbindungen aufzuzeigen, schränkt Harman (2002) diese Vorstellung ein: Jedes Phänomen, jede Entität weist mehr Eigenschaften auf, als zu irgendeinem Zeitpunkt in einem Netzwerk beschrieben werden könnten. Nach Harman (2013) sind Objekte, gleich welcher Art, zunächst einmal autonom. Deshalb sind seine Qualitäten immer mehr als seine Funktionen in einem Netzwerk. Dieser Auffassung schließen sich Jackson und Piette an (Jackson/Piette 2015b, 22). Die ›radikale‹ Mikroperspektive ist als eine besondere Leistungsfähigkeit existenzialistischer Ethnologie, aber auch als eine spezifische Problematik zu verstehen. Ein Beispiel für die Innovationskraft dieses Ansatzes und das durchaus bedeutende Korrektiv sind die phänomenologischen Studien zu Migration, wie sie z. B. Hans Lucht (2017; 2019) durchgeführt hat. Seine Einsichten verweisen immer wieder auf die Unsicherheit der Migranten selbst. Im scharfen Kontrast zu anderen Studien, die von den Migranten zugeschriebenen Motiven und Verhaltensmustern ausgehen, bemüht sich Lucht, jede vorgängige Kategorisierung zu vermeiden. So kann er zeigen, wie Hoffnung und Verzweiflung unmittelbar beieinanderliegen, mitunter bei derselben Person zu unterschiedlichen Zeiten auftreten. Nicht mehr das Ziel und das vermeintlich objektivierbare ›Motiv der Migration‹ stehen im Vordergrund, sondern die Erfahrung. Der phänomenologische Rahmen wirkt dahin gehend, eine neue, nichtätiologische Perspektive zu gewinnen und damit der Diversität von Mobilitätserfahrungen gerecht zu werden (Flusser 1994a; Klute/Hahn 2007). Wie dieses Beispiel zeigt, sind Unsicherheit und krisenhafte Erfahrungen zentrale Themen der existenziellen Ethnologie. Oftmals werden ethnografische Studien in die Perspektive einer Lebensgeschichte ( C.I.14) eingebaut, sodass Intentionen – oder gerade deren Fehlen – als Teil der Beschreibung aufscheinen (Johnson-Hanks 2005; Hänsch et al. 2017; Cook 2018; Fontein 2018). Erfahrungen von Differenz sind auch das Thema von Bernhard Leistle (2017). Im Anschluss an Bernhard Waldenfels’ (1990) Studien zum Begriff des ›Fremden‹ zeigen verschiedene Beiträge in dem von ihm herausgegebenen Sammelband, wie in ganz unterschiedlichen Situationen Alterität trotz Annäherung bestehen bleibt. Das innovative Verfahren einer durch den phänomenologischen Fremdheitsbegriff informierten Ethnologie besteht darin, Beziehungen zwischen Beobachter und Fremden aufzuzeigen, obgleich dies nur indirekt geschehen kann. Der Gewinn für die Ethnologie besteht in einer höheren Aufmerksamkeit für Brüche und Widersprüche in der alltäglichen Erfahrung. Differenzen, gerade auch inner-
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halb einer kulturell definierten Gruppe, sind stabil und werden von den Betroffenen als notwendig empfunden. Wie Leistle (2017, 14 f.) in der Einleitung hervorhebt, ist hier auch ein umgekehrter Einfluss zu erwarten: Während die Phänomenologie lediglich die Alterität annimmt und erklärt, kann die Ethnografie deren produktive Wirkungen zeigen und erklären, warum Fremdheit oder radikale Differenz fortbestehen ( D.VII). Die so weit angeführten Elemente der existenziellen Anthropologie bilden einen spezifischen Zusammenhang: Ausgehend von der Ambiguität des Einzelnen über die Bedingtheit (Fragwürdigkeit) seiner kulturellen und sozialen Einbettung (Augé 2012), über Unsicherheit, Krisenerfahrungen und die begrenzte Relevanz von Intentionen, bis hin zur ethnografischen Beschreibung von Handlungsunfähigkeit (Janeja/Bandak 2018) und schließlich bis hin zu in einer positiven Bewertung von Alterität führt diese Linie ohne Zweifel zu Fragen der Ontologie: Wie ist eine Welt aufgebaut, in der nicht alles bestimmten kausalen Ketten zugeordnet werden kann? Welche Verbindungen und Abgrenzungen zwischen den unterschiedlichen Entitäten ergeben sich? Wenn auf der Grundlage einer Phänomenologie, die sich vorgängig festgelegten Kategorien verweigert und »Zu den Sachen und zurück« (Blumenberg 2002) möchte, indem sie der Unmittelbarkeit der Beobachtung einen hohen Wert beimisst, Handeln und Denken in unterschiedlichen Gesellschaften untersucht werden, so muss unweigerlich die Frage nach der Ontologie gestellt werden: Wie werden Unterschiede zwischen verschiedenartigen Entitäten organisiert? An welchen Stellen existieren Verbindungen trotz einer unauslöschlichen Differenz? Eine viel beachtete Antwort darauf hat der brasilianische Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro (1998) gegeben, indem er das Konzept des ›Perspektivismus‹ einführte. Viveiros de Castro ist durch den (Post-)Strukturalismus beeinflusst und hat, auf dieser konzeptionellen Basis aufbauend, die Vielzahl unterschiedlicher ›Ordnungssysteme‹ herausgearbeitet. Strukturen, so stellt er im Unterschied zu Lévi-Strauss fest, sind differenziell und schaffen verschiedene Relationen. Der Perspektivismus ist eines der wichtigen Konzepte in der neuen, breiteren Strömung des sogenannten ontological turn. Aber es ist sicher dasjenige Konzept, das am meisten von der phänomenologischen Denkweise profitiert hat. Die Idee unterschiedlicher Ontologien bleibt umstritten (Ramos 2012). Zweifellos hat sie das Verdienst, auf die Möglichkeit unterschiedlicher Kosmologien hinzuweisen, ohne den jeweils anderen Weltbildern die Vernünftigkeit abzusprechen. Wahrscheinlich ist die Anerkennung von solchen Formen der Differenz die wichtigste Leistung der Phänomenologie in der Ethnologie. Es ist genau diese Anerkennung, die auf den Ursprungsgedanken des Faches zurückführt: nämlich die Diversität und kulturelle Differenz als Grundbedingung menschlicher Gesellschaften zu verstehen.
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2.4. Schluss
Die vorstehenden Abschnitte – Körper, Wahrnehmung und Existenzielle Ethnologie – haben gezeigt, wie intensiv phänomenologische Denkweisen in der Gegenwart die Ethnologie beeinflussen. Es kann nicht das Ziel dieser Darstellung sein, von einem einheitlichen Trend zu sprechen, weil die einzelnen Themen zu weit auseinanderliegen. Dennoch ist es nicht zu viel gesagt, wenn herausgestellt wird, dass phänomenologische Einflüsse ziemlich genau die am meisten innovativen methodischen Weiterentwicklungen der Ethnologie betreffen. In der Einleitung zu diesem zweiten Abschnitt wurde darauf hingewiesen, dass ein direkter wechselseitiger Kontakt zwischen Phänomenolog:innen der ersten Generation, insbesondere von Husserl selbst, und den zeitgenössischen Ethnolog:innen nicht stattgefunden hat. Diese Aussage bedarf der Einschränkung, da es im Jahr 1935 eine Korrespondenz zwischen Husserl und Lévi-Bruhl gab (Moran/Steinacher 2008). Dieser Kontakt blieb zunächst deshalb eher folgenlos, weil Lévi-Bruhl im inhaltlichen Kontrast zu dem für die spätere Ethnologie ungleich wichtigeren Marcel Mauss stand. Lévi-Bruhls Auffassung der ›primitiven Mentalität‹ war schon damals eine umstrittene Position, und ihr Hauptvertreter, Lévi-Bruhl selbst, widerrief dieses Konzept kurze Zeit später. Ethnolog:innen haben damals wie heute dieses Konzept mehrheitlich abgelehnt. Der Kontakt blieb auch deshalb folgenlos, weil Husserl sich eher skeptisch gegenüber dem Konzept und der Vorgehensweise von Lévi-Bruhl äußerte. Er war nicht der Auffassung, dass Ethnologie einen Beitrag zur Sache der Phänomenologie leisten könne (Henckmann 2011, 64), zudem erschien ihm die Idee einer ›prälogischen Denkweise‹ nicht in der Weise frei von der Untersuchung vorgängigen Kategorien, wie er es für eine phänomenologische Analyse erwartet hätte. In einer überzeugenden Analyse der erwähnten Korrespondenz verbindet Angela Ales Bello (1993) diese vorsichtige Zurückweisung der Lévi-Bruhl’schen Ethnologie durch Husserl mit dessen Konzept einer ›phänomenologischen Archäologie‹ (Günzel 2004). Husserl selbst hatte diesen provisorischen Titel für ein zu Lebzeiten nicht veröffentlichtes Manuskript vergeben und wollte damit den schichtweisen Aufbau der Lebenswelt anschaulich machen. Wie in der Archäologie seien dabei die ältesten (und damit grundlegenden) Strukturen in der tiefsten Schicht enthalten. Ganz ähnlich wie Archäolog:innen aus Funden verschiedener Schichten ein kulturelles Gesamtbild konstruieren, so müsse der Phänomenologe zwischen unterschiedlichen Ebenen der Erfahrungswelt springen, um durch ›Zurückfragen‹ an tieferliegende Schichten die Lebenswelt zu rekonstruieren (Günzel 2004, 100 ff.). Ales Bello (1993, 50) benennt deutlich die phänomenologischen Vorbehalte gegenüber einer Ethnologie, die zu nah an der Soziologie oder Psychologie angesiedelt sei. Ihr zufolge vertrat Husserl den Anspruch, mit einer eigenen Methode einen Zugriff auf fremde Kulturen zu leisten. Diese Methode besteht in der Regression auf den Bereich der Erlebnisse. Dabei geht es nicht um das Einfühlen, da die Verhältnisse von noetischen und hyletischen Be-
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D. Wirkfelder
standteile der Erlebnisse nicht im Einzelnen nachzuvollziehen wären. Für die phänomenologische Analyse muss, immer noch nach Ales Bello, das »Nachverstehen« (ebd., 49) ausreichen. Nun könnte in optimistischer Geste geschlossen werden, dass die phänomenologische Ethnologie genau diesen Schritt gegangen sei, also ein von Husserl lediglich skizziertes Programm über siebzig Jahre nach dessen Tod endlich umgesetzt hat. Allerdings sind die Konturen dieses Programms allzu unscharf, und es kommt ein weiteres Element hinzu, das sich aus dem Konzept der Lebenswelt entwickeln lässt. Es geht dabei im Sinne von Husserl um die Frage der Unterscheidung von ›wissenschaftlich‹ versus ›vorwissenschaftlich‹. Erst wenn diese Unterscheidung aufgegeben wird und wenn keine kategoriale Differenz zwischen diesen und jenen Lebenswelten mehr gezeichnet wird, erst dann wäre die Phä nomenologie eine verlässliche Grundlage der Ethnologie. Das ist das Ziel des Perspektivismus, nämlich den Verzicht auf irgendwelche Privilegien bestimmter Epistemologien über andere zu erreichen (Ramos 2012, 489; Viveiros de Castro 2011, 157). Hans Peter Hahn
VI. Sozialphilosophie und Soziologie Das Verhältnis der Phänomenologie zur Sozialphilosophie und Soziologie ist von einer konstitutiven Spannung gekennzeichnet. Einerseits sind Begriffe wie ›Einfühlung‹, ›Lebenswelt‹, ›Typus‹ oder ›Wissensform‹ wichtige Beiträge, welche die phänomenologische Forschung zur Wissenschaft und Philosophie der sozialen Welt geleistet hat und welche die Entwicklung dieser Disziplinen maßgeblich vorangetrieben haben. Sind es in der Sozialphilosophie vor allem die Hermeneutik, die Theorie der Fremderfahrung, der soziale Konstruktivismus und die Sozialontologie, die von der Phänomenologie beeinflusst sind, hat sich in der Soziologie insbesondere die soziologische Theorie und die Methodologie qualitativer Sozialforschung in intensiver Auseinandersetzung mit der Phänomenologie entwickelt. Andererseits findet sich die Phänomenologie von sozialwissenschaftlicher und sozialphilosophischer Seite immer wieder Varianten ein und desselben Einwandes ausgesetzt: dem des Solipsismus. Im Folgenden wird diese konstitutive Spannung anhand einer Reihe provokanter Fragen beleuchtet. Der erste Abschnitt nimmt von Husserls transzendental-egologischer Phänomenologie seinen Ausgang und fragt, inwiefern diese nicht aufgrund ihrer solipsistischen Grundausrichtung ein Denken von Sozialität verunmöglicht. Der zweite Abschnitt orientiert sich an den Gesellschaftstheorien von Habermas und Luhmann, in denen das husserlsche Erbe eine kritische Aufnahme findet. Im dritten Abschnitt werden Entwicklungen in der Soziologie nachgezeichnet, die von der Phänomenologie der Lebenswelt ihren Ausgang nahmen: die phänomenologische Soziologie, die Wissenssoziologie und die
VI.1. Ist Phänomenologie Solipsismus?
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Ethnomethodologie. Gegenstand des vierten Abschnitts ist Heideggers existenzphilosophische Spielart der Phänomenologie, in der es zu klären gilt, inwiefern dessen Begriff des Mitseins überhaupt für eine Sozialtheorie tragfähig ist bzw. welche Möglichkeit einer Sozialkritik denkbar ist. Schließlich wird im fünften Abschnitt auf die aktuelle Debatte zur kollektiven Intentionalität Bezug genommen, um zu erörtern, inwiefern sich die Phänomenologie hier einbringen lässt. 1. Ist Phänomenologie Solipsismus? Phänomenologie kann als »die Untersuchung von Bewusstseinsstrukturen, wie sie in der Perspektive der ersten Person erlebt werden« (D.W. Smith 2013, o.S.), verstanden werden. Somit ist sie auf die Reflexion und Artikulation des subjektiven Standpunkts festgelegt. Auch die soziale Welt wird zwar subjektiv erlebt, aber der Solipsismus-Vorwurf an die Phänomenologie lautet, dass die soziale Wirklichkeit aus der Erste-Person-Perspektive nur unzureichend untersucht werden kann, weil soziale Fakten (wie Normen, Rollenmuster oder etwa Wortbedeutungen) nicht dadurch bestimmt sind, wie sie in der Reflexion einzelner Subjekte erlebt oder aufgefasst werden. Es drängt sich auf, diesen Vorwurf vorweg zu klären; und es liegt nahe, bei Edmund Husserl anzusetzen. Ist Husserl ein Solipsist? Die Phänomenologie beginnt Husserl zufolge mit einer reflexiven Wende weg von den Objekten und Sachverhalten, die uns als Inhalte von Erfahrungen, Überzeugungen und Absichten zugänglich sind, hin zu ebendiesen Erlebnissen, Überzeugungen und Absichten selbst. Husserl legt – zumal nach der transzendentalen Wende – größten Wert darauf, dass die Untersuchung des Erlebens keine Welterfahrung ist: Das Eingestelltsein bzw. intentionale Gerichtetsein, das den Untersuchungsgegenstand der Phänomenologie darstellt, ist nicht einfach ein psychologischer Weltsachverhalt. Die phänomenologische Untersuchung des Erlebens aus der Perspektive der ersten Person ist, wie Husserl mitunter sagt, »transzendentale Erfahrung« (Hua IX, 275). Indes können nicht irgendjemandes intentionale Einstellungen und Bewusstseinsakte diesen transzendentalen Status für sich beanspruchen. Laut Husserl erforscht Phänomenologie nicht, wie irgendwelche Akteure die Dinge sehen, sondern einzig und allein die Weise, wie die Phänomenologin selbst sie sieht. Trotzdem wird für die phänomenologischen Befunde Allgemeingültigkeit reklamiert, und zwar auf zwei Weisen: durch den Übergang vom faktischen, besonderen Erleben zu den allgemeinen Wesensstrukturen des Erlebens (1) und durch den Übergang von Subjektivität zu Intersubjektivität (2). (1) Husserl zufolge werden die Befunde transzendentaler Erfahrung durch Anwendung spezieller Verfahren verallgemeinerbar. Die Verfahren, welche diese Allgemeinheit verbürgen sollen, nennt Husserl Ideation, eidetische Reduktion und eidetische Variation (Hua IX, §§ 10 ff.). Von dem besonderen, je eigenen intentionalen Erlebnis ausgehend, soll durch ein imaginatives Durchlaufen von
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D. Wirkfelder
Modifikationen dieses Erlebnisses letztlich so etwas wie eine Erfahrung der allgemeinen (apriorischen) Struktur eines Erlebens dieses Typs zur Evidenz gebracht werden. Dadurch soll vom Faktum eines Erlebens zu seinem Wesen übergegangen werden (Hua I, 106 f.). Die Rezeption tendiert allerdings zu einer skeptischen Einschätzung dieser Verfahren, und Husserl selbst hat später Gründe dafür benannt. Erstens kann die eidetische Variation nie zum Abschluss kommen: Es ist nie das Wesen, das zur Evidenz kommt, sondern stets nur eine weitere Variation. Die Wesensschau ist eine »bewundernswerte Konstruktion für etwas, was es nicht gibt« (Tugendhat 1970, 15). Und selbst wenn es sie gäbe, wäre fraglich, ob sie Allgemeingültigkeit nachweisen könnte. Denn alle durchlaufenen Variationen (und auch ein allenfalls sich daraus ergebendes Wesen) sind stets Variationen (oder das Wesen) eines eigenen Erlebnisses. Bezüglich des Subjekts »geht die Wirklichkeit der Möglichkeit vorher« (Hua XV, 519; Hua XXIX, 85 f.). Die eigene Subjektivität der Phänomenologin ist nie bloßes Exemplar eines Wesenstypus; hier ist es das Faktum, das dem Wesen vorhergeht – eine Einsicht, die in die existenzphilosophische Entwicklung der Phänomenologie vorausdeutet. »Mich fingiere ich nur, als wäre ich anders, nicht fingiere ich Andere« (Hua I, 106); »[a]ber ich, gedacht als wenn ich anders wäre, das heißt noch nicht ein Anderer« (Hua XV, 335). Selbst wenn es daher »Wesenswahrheiten« gibt, die »logische Allgemeingültigkeit« haben, ist diese Allgemeingültigkeit monologisch beschränkt: »[D]ass zu dieser Allgemeingültigkeit auch die Gültigkeit für jeden möglichen Erkennenden gehört, liegt auf einer anderen Linie« (Hua XIV, 306). (2) Diese ›andere Linie‹ hat Husserl im Rahmen seiner transzendentalphänomenologischen Intersubjektivitätstheorie entwickelt. Husserls Intersubjektivitätstheorie hat sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu einem der meistbeachteten Stücke der Phänomenologie entwickelt (neben der fünften Cartesianischen Meditation [Hua I, §§ 42 ff.] stützt sich die Diskussion insbesondere auf nachgelassene Manuskripte [Hua XIII–XV]). Der Erfolg dieser Theoriebemühungen ist indes kontrovers. Die ausführlichste von Husserl selbst publizierte Version exponiert das Thema ausdrücklich in »Gegenstellung gegen den Einwand des Solipsismus« (Hua I, 121). Ziel ist demzufolge der Nachweis, dass die phänomenologische Untersuchung der Erste-Person-Perspektive auch die Erfahrung anderer beinhaltet und damit keineswegs von der Tatsache anderer Subjekte abstrahieren muss (Depraz 1995; Zahavi 1996). Leitfaden der Analyse ist der Sinn, in dem Dinge als objektiv erlebt werden, d. h. als nicht nur von einem selbst, sondern auch von anderen erfahren. Die Erfahrung anderer im Genitivus subjectivus ist Husserls Analyse zufolge in der Erfahrung anderer im Genitivus objectivus fundiert. Die in der eigenen Erfahrung gegebenen Körper anderer werden in »analogisierender Apperzeption« zum eigenen Leib als andere Subjekte erfasst, deren eigene Erfahrungen zwar »originär unzugänglich« sind, aber doch »eingefühlt« werden können. Husserl hält fest, dass der »Einwand des Solipsismus« damit widerlegt sei, setzt aber gleich hinzu, dass dies der Fall sei, »obschon der Satz die fundamentale Geltung behält, daß alles, was für mich ist, seinen Seinssinn
VI.1. Ist Phänomenologie Solipsismus?
357
ausschließlich aus mir selbst, aus meiner Bewußtseinssphäre schöpfen kann« (Hua I, 176). Tatsächlich widerlegt wäre damit der Einwand des Solipsismus nur als These, dass die Phänomenologin die Existenz anderer Subjekte nicht zur Kenntnis nehmen kann. In dieser Form ist der Einwand aber von vornherein nicht sonderlich plausibel. Eine weit plausiblere Version der Solipsismus-Diagnose betrifft die These, an der Husserl gerade festhält: dass auch der Andere »seinen Seinssinn ausschließlich aus mir selbst […] schöpfen kann« (Hua I, 176). Diese These beinhaltet eine Position, die unter dem Titel ›Internalismus‹ bekannt ist – die Ansicht, dass die Gehalte des Erlebens rein bewusstseinsimmanent und ohne Rekurs auf ›externe‹ Sachverhalte bestimmbar sind. Soweit der Internalismus recht hat, ist die Erforschung der Erlebnisgehalte in methodischer Hinsicht notwendigerweise solipsistisch: Sie darf nichts anderes als das eigene Bewusstsein bzw. Erleben in Betracht ziehen. Rudolf Carnap (1928/1966, 64 f.) hat den von Richard von Schubert-Soldern übernommenen Begriff des ›method(olog)ischen Solipsismus‹ mit ausdrücklichem Bezug auf – und in Anlehnung an – Husserl erläutert; ›methodologischer Solipsismus‹ ist hier nicht als Einwand gemeint, sondern als affirmative Kennzeichnung des Ansatzes beim reflexiv Gegebenen unter ›Einklammerung‹ aller transzendierenden Setzungen. In der weiteren Entwicklung (Fodor 1981) hat der methodologische Solipsismus Ausprägungen erfahren, vor deren Hintergrund bestritten werden mag, dass die husserlsche Phänomenologie methodologisch solipsistisch sei; zutreffen mag das insbesondere auf ein repräsentationalistisches Verständnisses intentionalen Gehalts (Zahavi 2008, 359). Desgleichen kann für die vortranszendentale Phänomenologie die Klassifikation der husserlschen Phänomenologie als ›methodologisch solipsistisch‹ bestritten werden (Alweiss 2009). Bezüglich der transzendentalen Phase ist das aber nur sehr schwer zu bestreiten (B. Smith/D.W. Smith 1995, 10 f.), auch wenn es in der besonderen Natur des husserlschen Nachlasses liegt, dass sich auch zu fundamentalen theoretischen Festlegungen Gegenbelege aus tentativen Forschungsmanuskripten ziehen lassen. Husserl selbst zeigt sich einer Klassifikation als Solipsist nicht abgeneigt, wo er etwa vom »Solipsismus im guten Sinne« (Hua VIII, 66; Theunissen 1964, 151 ff.) spricht. Die Frage, ob die transzendentale Phänomenologie Husserls solipsistisch sei, lässt sich für den methodischen bzw. methodologischen Solipsismus also klar mit ›ja‹ beantworten. 1.1. Ist Sozialität transzendentalphänomenologisch zu erfassen?
Wenn es stimmt, dass Husserls transzendentale Phänomenologie methodo logisch solipsistisch ist, dann fragt sich, ob Sozialität überhaupt transzendentalphänomenologisch analysiert werden kann. Als kritische Stimme ist hier neben Maurice Merleau-Ponty (Toadvine/Embree 2002; Alloa 2017) vor allem Alfred Schütz zu nennen. Schütz ist im Rahmen einer gründlichen Diskussion des Verhältnisses von verstehender Sozialwissenschaft weberscher Prägung und Phä-
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D. Wirkfelder
nomenologie letztlich zur Ansicht gelangt, dass sozialtheoretische Forschung »ihre Grundlage nicht in der transzendentalen Phänomenologie« finden kann, sondern von der »natürlichen Einstellung« ausgehen muss (Schütz 1971, 172; Welz 1996, 157 ff.). Intersubjektivität wird in diesem Unterfangen als vorgegeben hingenommen und prägt die sozialphänomenologischen Zentralkategorien wie ›Typus‹, ›Milieu‹ und ›Lebenswelt‹ (siehe Abschnitt 3.). Im jüngeren gesellschaftlichen Diskurs ist – unter dem Einfluss der Neurowissenschaften ebenso wie der Populärphilosophie und religiöser Strömungen – ›Einfühlung‹ unter dem Titel ›Empathie‹ ins Zentrum des Interesses gerückt. Von der Analyse der ›Empathie‹ wird dabei ein Verständnis menschlicher Sozialität erwartet. Die Verschiebung von ›Einfühlung‹ zu ›Empathie‹ ist bezeichnend; bei ›Empathie‹ handelt es sich um eine Übersetzung des englischen empathy, welches seinerseits laut Oxford English Dictionary ein Kunstwort ist, das 1905 mit dem Zweck geschöpft wurde, das deutsche ›Einfühlung‹ zu übersetzen. Der Begriff ›Einfühlung‹ hat seinen Ursprung zwar nicht in der phänomenologischen Bewegung, ist von dieser aber – vor allem in Anschluss an Theodor Lipps – weitreichend geprägt worden (Stueber 2006, 5 ff.). Unter Titeln wie ›soziale Kognition‹ hat die Phänomenologie der Einfühlung in der sozialphilosophischen und kognitionswissenschaftlichen Debatte jüngst viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen (Gallagher 2005a). Bei Husserl selbst ist die Phänomenologie der Einfühlung sehr spezifisch auf die Zwecke der transzendentalphänomenologischen Intersubjektivitätstheorie fokussiert. Neben Husserl findet sich jedoch eine breitere phänomenologische Diskussion. Herausragende Bedeutung für diese Debatte hat Max Schelers Werk Wesen und Formen der Sympathie (1912); die darin entwickelte Taxonomie verschiedener Formen des Mit-, Nach- und Einfühlens sowie der emotionalen Identifikation spiegelt sich in der Unterscheidung verschiedener Grundformen der Sozialität (Schlossberger 2016) und bietet Ansätze zu einer New Phenomenological Sociology (Vendrell Ferran 2016). Dabei entspricht Max Schelers umstrittener Begriff des unmittelbaren Miteinanderfühlens – der auch in seinen berüchtigten Kriegspropagandaschriften eine zentrale Rolle spielt (H.B. Schmid 2015) – der gemeinschaftlichen Form des Zusammenseins. Umstritten ist dieser Begriff in der Literatur vor allem deshalb, weil mit ihm die Vorstellung verbunden ist, dass die dabei Beteiligten eine numerisch identische intentionale Einstellung teilen, also in diesem Sinn tatsächlich ›ein und desselben Geistes‹ – und nicht bloß etwa ›gleichgesinnt‹ – sind (H.B. Schmid 2009, 59 ff.; Salmela 2012; Krueger 2016; Thonhauser 2018). Eine weitere Bestimmung erhielt der Begriff in Edith Steins Schrift Zum Problem der Einfühlung, wo »Einfühlung als eine Art erfahrender Akt sui generis«, herausgestellt wird, in dem ich mich in »meinem nicht-originären Erleben […] gleichsam geleitet [fühle] von einem originären, das nicht von mir erlebt und doch da ist, sich in meinem nicht-originären bekundet.« (Stein 1917, 10) Wichtig sind in diesem Kontext auch Edith Steins (1922) Begriff gemeinsamen Fühlens und Gerda Walthers (1923) Konstruktion gemein-
VI.2. Ist eine phänomenologische Gesellschaftstheorie möglich?
359
samen Erlebens aus einer komplexen Struktur reziproker Einstellungen (Mulligan 2016, 27 ff.), welche mit der Identifikation ebenfalls ein affektives Element enthält (H.B. Schmid/Wu 2016). Es gibt eine lange Liste weiterer, von der späteren Rezeption mehr oder weniger ignorierter zeitgenössischer Versuche zur Phänomenologie der Gemeinschaft. Besonders erwähnenswert sind Tomoo Otakas Wesen des sozialen Verbandes (1921), Hermann Schmalenbachs Die soziologische Kategorie des Bundes (1922) und Dietrich von Hildebrands Metaphysik der Gemeinschaft (1930) (Salice/Schmid 2016). Diese Ansätze zeichnen sich alle durch Distanz zur transzendental-egologischen Ausprägung der husserlschen Phänomenologie aus. Besonders im Falle Hildebrands ist es der (in Sachen der sozialen Wirklichkeit freilich seinerseits nicht unproblematische) Ansatz bei der phänomenologischen Eidetik, der die Analyse leitet. Wie Schütz bemerkt, ist es diese »naiv angewandte eidetische Methode in der Analyse von Problemen der Sozialbeziehungen, der Gemeinschaft und des Staates«, die einige Phänomenolog:innen »dazu verleitete, gewisse apodiktische und angeblich apriorische Sätze zu formulieren, die dazu beigetragen haben, die Phänomenologie unter Sozialwissenschaftlern zu diskreditieren.« (Schütz 1971, 163) Konzepte vom ›Wesen der Liebe‹ oder ›Wesen des Staates‹ sind ideologieverdächtig. Sie dienen der metaphysischen Überhöhung der eigenen Werthaltungen, politischen Ansichten und sozialen Verhältnissen zu objektiven, apriorischen Notwendigkeiten. Mit Theodor W. Adornos Husserl-Kritik ausgedrückt, erscheint aus sozialtheoretischer Sicht der erstpersonale Standpunkt phänomenologischer Analyse bloß als »objektiver Geist des Bürgertums«, in welchem sich die individuelle Innerlichkeit bürgerlicher Privatexistenz eine »absolute Sekurität« einrede; darin trete »der spätbürgerlich-resignierte Charakter der Phänomenologie« zutage (Adorno 1956, 227 f.). 2. Ist eine phänomenologische Gesellschaftstheorie möglich? In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Gesellschaftstheorie zu einem zentralen Thema der Sozialphilosophie und soziologischen Theorie. Die Ambition, die sich mit diesem Titel verbindet, besteht darin, die gesellschaftliche Wirklichkeit im Ganzen sowie die Grundzüge ihrer Entwicklung zu begreifen. Während dieses Ziel aus einer Vielfalt verschiedener theoretischer Perspektiven verfolgt wurde – etwa neomarxistisch, kritisch-theoretisch, systemtheoretisch, strukturalistisch, radikal-konstruktivistisch, poststrukturalistisch-diskursanalytisch oder historisch-genetisch –, besteht ein einigendes Moment dieser Theoriebemühungen darin, dass sie sich alle über eine Differenz zur ›Subjektphilosophie‹ darstellen. Der ›Abschied vom Subjekt‹ bildete einen gemeinsamen Fokus im bunten Kaleidoskop der Theorien. Im deutschen Sprachraum, aus welchem in den letzten beiden Dekaden des vergangenen Jahrhunderts besonders ambitionierte gesellschaftstheoretische Projekte erwuchsen, spielte dabei Husserls trans-
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D. Wirkfelder
zendentale Phänomenologie die undankbare Rolle des Paradigmas dieser zu verabschiedenden Subjektphilosophie. 2.1. Muss Gesellschaftstheorie der transzendentalen Phänomenologie
den Rücken kehren?
Besondere Beachtung verdient dabei die Diskurskonstellation zwischen den vielleicht bedeutendsten Gesellschaftstheorien dieser Zeit: der kommunikationstheoretisch gewendeten, sprachpragmatisch fundierten Kritischen Theorie von Jürgen Habermas und der autopoietisch reformulierten Systemtheorie von Niklas Luhmann. Beide bringen die Überzeugung zum Ausdruck, dass eine umfassende Perspektive auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und ihre Entwicklung nur im Abstoß von der Subjektphilosophie möglich ist, als deren späteste Überreife Husserls transzendentale Phänomenologie gilt. Obwohl beide im Rahmen ihrer Neuansätze wichtige Anleihen bei der husserlschen Phänomenologie machen – Habermas integriert in sein Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns (1981) die sozialphänomenologische Kategorie der ›Lebenswelt‹ ( C.I.13), Luhmann bildet den zentralen Begriff des ›Sinns‹ in seinem Hauptwerk Soziale Systeme (1984) in expliziter Anlehnung an Husserls ›Horizontbewusstsein‹ ( C.I.10) –, ist für beide Husserls Begriff transzendentaler Subjektivität der Inbegriff dessen, was den Begriff der sozialen Wirklichkeit verunmöglicht hat. Diese Ambivalenz von Aufnahme und Verabschiedung wird gleichwohl von der Dialektik der Auseinandersetzung zwischen Habermas und Luhmann überlagert. Für Habermas stellt Husserl den Inbegriff dessen dar, was er an zahllosen Stellen als »Subjektphilosophie« und »bewusstseinsphilosophischen Monologismus« kritisiert (Habermas 1981, 532). Diesem Monologismus kreidet Habermas an, dass er Sinnkonstitution für eine singuläre, erstpersonale Sache halte, statt sie als das dialogische, diskursive Geschehen zu begreifen, welche sie in Tat und Wahrheit sei. Diese Kritik spitzt Habermas in Bezug auf die transzendentalphänomenologische Intersubjektivitätstheorie deutlich zu ( C.I.11). Husserl sei am Problem der Intersubjektivität »gescheitert« (ebd., 166), weil er Intersubjektivität nur als konstitutive Leistung des Subjekts begreifen kann und damit verkennen muss, was sie wirklich ist, nämlich die sinnkonstituierende Instanz selbst. In seiner Charakterisierung dieser sinnkonstituierenden Instanz greift Habermas dann freilich wieder – wenn auch indirekt – auf Husserl zurück. Sinnkonstitution ist ein diskursives Geschehen; es vollzieht sich in zwischenmenschlicher Verständigung, in der Subjekte sich gemeinsam darauf zu einigen bemühen, was wahr und gut ist. Das Konsentierte wird dann zur Hintergrundgewissheit und bildet die Lebenswelt, der Inbegriff dessen, was kommunikatives Handeln ermöglicht – also eine praktische Haltung, in der andere Akteure nicht als Restriktionen erscheinen, mit deren zu erwartenden Reaktionen strategisch gerechnet werden muss, sondern als Ko-Subjekte, auf deren Unterstützung man zählen darf.
VI.2. Ist eine phänomenologische Gesellschaftstheorie möglich?
361
Luhmann ist mit Habermas völlig einig in der Diagnose, dass Husserl am Problem der Intersubjektivität gescheitert sei – allerdings aus ganz anderen Gründen. Für Luhmann ist das Problem nicht, dass Husserl Sinnkonstitution zu monologisch und zu wenig diskursiv denkt, sondern vielmehr, dass er daran festhält, vom Subjekt zur Objektivität bzw. vom singulären Einzelsubjekt zur universalen Allgemeinheit überzugehen. Darin sieht Luhmann das Zentralproblem der Subjektsemantik: Sie will mit der Singularität des ›ego‹ zugleich Allgemeinheit denken. Intersubjektivität sei ein »strikt paradoxer Begriff« (Luhmann 1997, 1081), ein »Unbegriff« (Luhmann 1981, 238; 1995a, 25) bzw. »überhaupt kein Begriff, sondern eine Verlegenheitsformel, die angibt, dass man das Subjekt nicht mehr aushalten kann« (Luhmann 1995b, 169). Ein ›Inter‹ ist vom Subjekt aus nicht zu begreifen; Subjektivität ist Durch-sich-selbst- und Für-sich-selbst-Sein, und wer diesen Begriff ernst nimmt, muss Allgemeinheitsansprüche aufgeben. Luhmanns Grundlinie könnte man in einem Vokabular, das er selbst nicht verwendet, so paraphrasieren: Subjektivität ist Selbstbestimmung, und selbstbestimmt ist man nur von und über sich selbst, nicht von und über andere; sich als Subjekt zu verstehen, bedeutet damit aber auch, sich zu entsozialisieren – »Soziales ist vom Subjekt aus nicht zu begreifen« (Luhmann 1997, 1030). Hinter dem in der Gesellschaftstheorie fast allseits lautstark verkündeten – und von Habermas wie Luhmann deutlich an Husserls Phänomenologie adressierten – ›Abschied vom Subjekt‹ zeigt sich damit ein differenzierteres Bild: das Bemühen, die Instanz der Sinnkonstitution – die husserlsche transzendentale Subjektivität – zu reformulieren. 2.2. Ist Subjektivität diskursiv oder systemisch zu reformulieren?
Der im vorherigen Abschnitt skizzierten und kritisierten Theorietradition folgend, kann Subjektivität als Selbstbestimmung gefasst werden; Subjekt ist die jenige Instanz, die das, was sie ist, durch sich selbst ist. Das Subjekt ist daher irreduzibel, weil es von nichts anderem gemacht und durch nichts anderes kon stituiert ist als sich selbst. Habermas hat zweifellos recht, wenn er Luhmanns Systemtheorie im subjektphilosophischen Kontext verortet; zumal in der Werkphase, in der Luhmann den Begriff der ›Autopoiesis‹ ins Zentrum rückt, ist der subjektphilosophische Grundgedanke unübersehbar: Als autopoietisches ›macht das System sich selbst‹, und dieser Grundgedanke wird in den Überlegungen zur ›Entparadoxierung von Selbstreferenz‹ im Spätwerk weiterentwickelt. Der von Luhmann so scharf formulierte Kerngedanke, dass Husserl am Problem der Intersubjektivität scheiterte, ist für Luhmann also nicht als Scheitern der Subjektsemantik zu lesen, sondern vielmehr als Scheitern einer seit der Aufklärung der Subjektsemantik anhaftenden, aber mit dieser unverträglichen vernunfttheoretischen Ambition auf Allgemeinheit. Als Subjekte sollen alle je radikal nur durch sich selbst bestimmt sein, allerdings kraft einer allgemeinen Vernunft gleichzeitig auch gemeinsam und miteinander in ihren Ansichten einig. Luhmann lehnt diese
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D. Wirkfelder
Konstruktion als überspannt ab: Wer Welt als radikal systemintern konstituiert begreift, muss sie als radikal systemrelativ akzeptieren und auf Objektivitätsansprüche bzw. Allgemeinheitszumutungen verzichten; jedes Subjekt hat nun einmal sein eigenes Bewusstsein und hat allen Sinn, den es darin generiert, nur in sich und für sich selbst; hier gibt es nichts, was mit anderen geteilt – anderen mitgeteilt oder mit ihnen vereinbart – werden kann. Das heißt freilich nicht, dass nicht kommuniziert wird. Aber Kommunikation führt nicht etwa zu einem gemeinsamen Bewusstsein; wenn kommuniziert wird, bleiben die beteiligten Bewusstseinssysteme füreinander black boxes, ihre Gedanken sind intransparent. Das ›Zwischen‹ der Subjekte muss, so Luhmann, als ›emergente Systemebene‹ begriffen werden: Kommunikation ist nicht der Subjektivität der Beteiligten unterstellt, sie ist – das ist der Kerngedanke der luhmannschen Systemtheorie – vielmehr selbst wieder ein Subjekt: das soziale System. So faszinierend und konsequent diese Konstruktion auch ist, so zweifelhaft erscheint sie aus theoretisch weniger vorbelasteter Sicht. Dass nicht immer kommuniziert wird, was gedacht wird, mag ja durchaus zutreffen; dass dies aber prinzipiell immer und mit metaphysischer Notwendigkeit der Fall sein soll, weil Denken und Kommunikation zwei grundverschiedene Formen von Sinn sind, scheint schlicht abwegig und unsere alltäglichen Kommunikationspraktiken ad absurdum zu führen. Dies legt den Gedanken nahe, im intersubjektivitätstheoretischen Verständnis von Sinn als teil- und mitteilbar doch mehr als einen blanken Widersinn zu erkennen. Das bringt uns zurück zu Habermas, der aus der Diagnose von Husserls Scheitern am Problem der Intersubjektivität eine Konsequenz zieht, die jener Luhmanns radikal entgegengesetzt ist, nämlich die Notwendigkeit einer intersubjektivistischen Reformulierung von Subjektivität. Habermas zufolge ist Bewusstsein von vornherein kommunikativ konstituiert – zumindest insoweit, als Bewusstsein durch Intentionalität gekennzeichnet ist. Dem sozialen Externalismus in der zeitgenössischen Philosophie des Geistes folgend, konzipiert Habermas Intentionalität ( C.I.2) als eine durch eine Sprachgemeinschaft konstituierte Fähigkeit. Einstellungen, die Erfüllungsbedingungen haben – also Absichten, Überzeugungen oder dergleichen –, sind nur sprachkompetenten Wesen zugänglich, weil Erfüllungsbedingungen normativ sind, Normen aber nur durch Kommunikationsgemeinschaften existierten. Auch Habermas’ Diskurs kann indes als Reformulierung transzendentaler Subjektivität gelesen werden; Subjektivität erscheint hier als ein diskursives Geschehen, innerhalb dessen intentionale Zustände konstituiert und validiert werden. Das transzendentale Subjekt ist bei Habermas kein individuelles Einzelwesen, sondern der rationale Konnex sämtlicher Vernunftwesen. An diesem Punkt ist zu vermerken, dass Husserl selbst verschiedentlich überlegt hatte, ob transzendentale Subjektivität nicht letztlich intersubjektivistisch-universalistisch zu verstehen sei. Husserl ist Habermas’ linguistisches Verständnis von Intentionalität natürlich fremd (worin man übrigens einen Vorteil der husserlschen Phänomenologie sehen kann), doch es gibt bei Husserl ein nichtsprachliches Konsenskri-
VI.3. Kann empirische Sozialforschung phänomenologisch betrieben werden?
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terium im Rahmen seiner Analysen des Horizontbewusstseins. Objektbewusstsein ist Husserl zufolge präsumptiv – es ist eine Vorwegnahme der Bewährung des gegenständlichen Sinns in Systemen einstimmiger Erfahrung. Diese Zusammenhänge einstimmiger Erfahrung reichen über das individuelle Subjekt hinaus und so ist denn die Welt, im Vollbestand ihres Sinnes, nicht das Korrelat des individuellen Einzelsubjekts, sondern der »Erkenntnisgemeinschaft der menschlichen Intersubjektivität« (Hua XXIX, 164), der »Allgemeinschaft« (Hua XV, 379) oder des »All[s] der offenen Ichgemeinschaft« (Hua IX, 344). Transzendentale Subjektivität ist »kommunizierende Subjektvielheit« (Hua XIV, 197), ja in geradezu habermasianischer Diktion eine »Verständigungsgemeinschaft« (Hua XV, 165), die »weiteste Intersubjektivität […] unter der Idee jedes möglichen, in den Verständigungszusammenhang möglicherweise eintretenden Subjekts« (Manuskript D 4, 12b). Allerdings ist dieses transzendentale Inter-Subjekt für Husserl nur ideal – faktisch bleibt es für ihn beim singulären Ego. Wenn Husserls ›Monologismus‹ – besonders dort, wo er metaphysisch auftritt – vielleicht auch nicht zu überzeugen vermag, hat er Habermas’ Intersubjektivismus gegenüber recht mit diesem Hinweis, dass das ideal-universale ›Inter-Subjekt‹ nicht das faktische ist und sein kann. Das Ideal der universalen Intersubjektivität erfasst das faktische Subjekt nur normativ, nicht deskriptiv. Die Kernfrage nach dem Subjekt ist, wie Husserl klar erkennt, durch dieses Ideal nicht beantwortet; im Kern bleibt die Frage: Wessen Ideal ist denn dieses kommunizierende All-Subjekt? 3. Kann empirische Sozialforschung phänomenologisch betrieben werden? Neben diesen Theoriediskussionen um Ende und Wende der Subjektphilosophie, die in den bisherigen Abschnitten nachgezeichnet wurden, gibt es eine aus der Phänomenologie entspringende Richtung der empirischen Sozialforschung. Deren Ausgangspunkt ist die Sozialphänomenologie von Alfred Schütz, der die zentrale Rolle subjektiver Sinnkonstitution im Bereich des Sozialen betont, dabei jedoch nicht der transzendental-egologischen Perspektive Husserls folgt, sondern die Fundierung in der intersubjektiv konstituierten Lebenswelt festmacht, ohne diese wie Habermas als Kommunikationsgemeinschaft zu idealisieren. Im Anschluss an Schütz entwickelten zum einen Peter Berger und Thomas Luckmann die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie und zum anderen Harold Garfinkel die Ethnomethodologie ( D.V). Das Auftreten dieser Strömungen führte in den 1960er-Jahren zu einer phänomenologischen Wende in der amerikanischen Soziologie, welche der dominanten Systemtheorie Talcott Parsons’ die sinnstiftende Rolle von Subjektivität entgegenstellte, was eine Infragestellung des quantitativen Methodenparadigmas zur Folge hatte.
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3.1. Welche Rolle spielt die lebensweltliche Situierung für das Wissen?
Vor ihrer Hochblüte in den USA der 1960er-Jahre fand die Wissenssoziologie im Deutschland der 1920er-Jahre eine erste Verbreitung. Sie konstituierte sich »aus der Erkenntnis, dass prinzipiell alles Wissen (das falsche und das wahre Bewusstsein) gesellschaftlich bedingt ist« (Maasen 2009, 18). »Die Sozialität von Wissen und Erkennen ist die zentrale Kernthese der Wissenssoziologie.« (Knoblauch 2014, 14) Aus dieser Kernthese ergeben sich die Fragen (1) nach dem Einfluss der Gesellschaft auf das Wissen und (2) nach der Konstruktion von Wirklichkeit im Wissen. (1) Eine Gründungsfigur der Wissenssoziologie ist der Phänomenologe Max Scheler. Er unterscheidet er die Formen des Wissens als Teile der ›Idealfaktoren‹ von den ›Realfaktoren‹, worunter soziale Strukturen wie die Produktions- oder die politischen Machtverhältnisse gefasst werden (Scheler 1926/1960, 11). Diese Unterscheidung, die an das marxistische Modell von Basis und Überbau angelehnt ist, stellt Schelers Versuch dar, einen Mittelweg zwischen Wissenschaftsbzw. Geistgläubigkeit einerseits und marxistischer Ideologiekritik andererseits zu finden: Die Realfaktoren bestimmen zwar die Bedingungen, unter denen die Idealfaktoren in Erscheinung treten können – insofern gibt es einen Einfluss der Gesellschaft auf das Wissen. Die Realfaktoren können indes den Gehalt der Idealfaktoren nicht beeinflussen – insofern bleibt das Wissen den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen entzogen. Soziale Faktoren bestimmen zwar über das Auftreten von Wissensformen, nehmen auf deren Gehalte aber keinen Einfluss (ebd., 17–51). Einen anderen Weg geht Alfred Schütz. Ziel seiner Wissenssoziologie ist die Untersuchung, wie der Wissensvorrat zustande kommt, der unsere Vertrautheit mit der Alltagswelt ausmacht. Schütz verwirft Schelers Unterscheidung von Ideal- und Realfaktoren, indem er Wissen als für das Handeln selbst konstitutiv ansieht. Er orientiert sich dabei an Max Webers Grundlegung der verstehenden Soziologie, welche soziales Handeln »deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten […] heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.« (Weber 1922/1985, 1) Schütz’ Ziel ist die von Weber vernachlässigte Klärung des für diese Definition zentralen Sinnbegriffes – »Was bedeutet die Aussage, der Handelnde verbinde mit seinem Handeln einen Sinn?« (Schütz 1932/2004, 98) Er beantwortet diese Frage aus einer phänomenologischen Perspektive, der gemäß Sinn als Leistung des Bewusstseins zu verstehen ist (Schütz 1971, 136). (2) Die leitende Prämisse der Wissenssoziologie, Wissen sei gesellschaftlich bedingt, wurde von Berger und Luckmann zur sozialkonstruktivistischen These gedreht und erweitert, wonach die gesamte ›Wirklichkeit‹ durch soziales Handeln konstruiert sei. Vor dem Hintergrund einer Relativität von ›Wissen‹ und ›Wirklichkeit‹ sehen sie die Aufgabe der Wissenssoziologie in der Untersuchung, »auf
VI.3. Kann empirische Sozialforschung phänomenologisch betrieben werden?
365
Grund welcher Vorgänge ein bestimmter Vorrat von ›Wissen‹ gesellschaftlich etablierte Wirklichkeit werden konnte.« (Berger/Luckmann 1966, 3) Wirklichkeit meint die »Qualität von Phänomenen […], die ungeachtet unseres Wollens vorhanden sind« (ebd., 1). Für die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie ist Wissen dabei eine Alltagskategorie: »Wissen ist, was die Handelnden für Wissen halten.« (Knoblauch 2014, 155) Im deutschen Sprachraum wird der Sozialkon struktivismus gegenwärtig unter anderen vom Luckmann-Schüler Hubert Knoblauch als kommunikativer Konstruktivismus weitergeführt (Keller et al. 2013). Obwohl dieser Ansatz oberflächlich betrachtet Ähnlichkeiten mit jenem von Habermas hat, zeigt sich ein zentraler Unterschied darin, dass die Sinnkonstitution nicht an eine ideale Diskursgemeinschaft ausgelagert, sondern im konkreten, performativen Kommunikationshandeln verortet wird. Damit geht das empirische Forschungsprogramm einher, die jeweilige Sinnkonstitution in konkreten Kommunikationshandlungen zu beschreiben. 3.2. Was trägt die Phänomenologie der Lebenswelt zur empirischen Sozialforschung bei?
Obgleich Schütz’ Hauptwerk Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt bereits 1932 veröffentlicht wurde, machten seine Gedanken erst nach seiner Emigration in die USA langsam Karriere, was mit einer phänomenologischen Wende in der Soziologie einherging, die sich an einer Reihe von Veröffentlichungen abzeichnete: 1960 erscheint Herbert Spiegelbergs The Phenomenological Movement, zwischen 1962 und 1966 erscheinen drei Bände von Schütz’ Collected Papers, 1966 veröffentlichen Berger und Luckmann Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, ehe 1967 die erste englischsprachige Übersetzung von Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt publiziert wurde. Schütz konnte dies durch seinen plötzlichen Tod 1959 nicht mehr miterleben, sodass die Verbreitung seines Denkens weitgehend seinen Schülern überlassen blieb. Zwar geht es Schütz’ phänomenologischer Soziologie wie Husserl um die Auslegung von Erfahrung, allerdings wird in ihr darauf verzichtet, Erfahrung auf die Erste-Person-Perspektive zu reduzieren. Mit diesem veränderten Ansatzpunkt macht sich die phänomenologische Soziologie weitgehend unabhängig von der transzendentalphänomenologischen Intersubjektivitätstheorie, weswegen auch die Theorie der Einfühlung in den Hintergrund tritt. Schütz betont, dass die Sozialwissenschaften ihre Grundlage nur in einer »konstitutiven Phänomenologie der natürlichen Einstellung« (Schütz 1971, 172) finden können, die prinzipiell nicht in der Sphäre des transzendentalen Egos, sondern im Bereich mundaner Intersubjektivität anzusiedeln ist. Daraus ergibt sich das empirische Forschungsprogramm einer Untersuchung von Alltagswirklichkeit. Ausgehend von der ›Welt der natürlichen Einstellung‹ (Ideen I) bzw. der ›Lebenswelt‹ (Krisis) geht es um eine unmittelbare Alltagserfahrung, die von grundsätzlich anderer Art ist als wissenschaftliches Wissen. Die Vertrautheit und Selbstverständlichkeit der All-
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tagserfahrung macht die Lebenswelt zum Boden und Hintergrund aller spezifischen Welterfahrung. Die »Wirklichkeit der Alltagswelt« ist die »Wirklichkeit par excellence« (Berger/Luckmann 1966, 24). Dieser Gedanke wurde in Schütz’ zweitem Hauptwerk Strukturen der Lebenswelt (1979) entwickelt, welches er nicht mehr beenden konnte, weswegen es nach seinem Tod von Luckmann fertiggestellt wurde. Parallel zur Wissenssoziologie entwickelte Harold Garfinkel (1967; 2002) die Ethnomethodologie als qualitative Methode der empirischen Sozialforschung. An der Harvard-Universität, an der Garfinkel 1946 sein Doktoratsstudium aufnahm. lernte er Gurwitsch kennen, der an seinem Buch Das Bewusstseinsfeld (1953) arbeitete, und stand auch in regelmäßigem Austausch mit Schütz. Garfinkel zieht die Phänomenologie heran, um eine Gegenposition zu dem damals führenden Soziologen Talcott Parsons und dessen systemtheoretischer Handlungstheorie zu entwerfen. Ethno-methodo-logie meint die Untersuchung der Methoden, die eine Gruppe verwendet, um die soziale Ordnung, in der sie leben, zu verstehen und zu konstituieren. Im Gegensatz zur Soziologie Parsons’scher Prägung, welche die Erklärung und Beurteilung der untersuchten sozialen Ordnungen durch den Forscher – zumeist mithilfe quantitativer Daten – in den Mittelpunkt stellt, geht es der Ethnomethodologie um das Verstehen und Beschreiben der geteilten Praxen, durch die soziale Ordnung in konkreten Gemeinschaften hergestellt wird. Wie die phänomenologische Soziologie konzentriert sich die Ethnomethodologie dabei auf Sinnstiftung in Alltagssituationen, d. h. die Konstitution sozialer Ordnungen in intersubjektiven Vollzügen. Soziale Ordnung kommt also nicht als System in den Blick, sondern als Anliegen der Individuen. Die Ethnomethodologie teilt den phänomenologischen Ausgangspunkt bei der Sinnkonstitution durch die handelnden Individuen und weist insbesondere Ähnlichkeiten zur hermeneutischen Phänomenologie (siehe den folgenden Abschnitt) auf, insofern beide anstelle eines strengen Methodenideals – das zumeist quantitativ verstanden wird – die Maxime setzen, sich die Methode durch den Gegenstand selbst vorgeben zu lassen; dies führt zur Notwendigkeit eines hermeneutischen Zirkels, in dem das kulturelle Vorwissen der Forschenden die Interpretation konkreter Praxen leitet, die wiederum für die Interpretation der durch diese konstituierten Ordnungen die Grundlage bilden. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Während im deutschen und im französischen Sprachraum eine überzogene Ablehnung der Subjektphilosophie – wie sie sich paradigmatisch in Habermas’ kommunikationstheoretischer und Luhmanns systemtheoretischer Gesellschaftstheorie manifestierte – eine positive Aufnahme der Phänomenologie in den Sozialwissenschaften weitgehend verhinderte, entwickelten sich in den USA mehrere Strömungen, die Grundeinsichten der Phänomenologie in eine produktive Methodologie empirischer Sozialforschung transformierten. Dabei erhielten zentrale Konzepte der Phänomenologie eine neue methodologische und metatheoretische Einbettung, durch die sie nicht
VI.4. Was ist Gemeinschaft eigentlich?
367
nur sozialtheoretisch fruchtbar gemacht werden konnten, sondern zu Fortschritten in der empirischen Forschung beitrugen. 4. Was ist Gemeinschaft eigentlich? Neben der kritischen Auseinandersetzung mit der transzendental-egologischen Phänomenologie Husserls war es insbesondere Martin Heideggers hermeneutische Spielart der Phänomenologie, welche in der Gesellschaftstheorie und den Sozialwissenschaften heftige und radikal gegensätzliche Reaktionen hervorgerufen hat. Auf der einen Seite stehen jene vorrangig im deutschen Sprachraum anzutreffenden Interpreten, die seinem Denken ein prinzipielles Sozialitätsdefizit diagnostizieren: So spricht Habermas von Heideggers »für Phänomene der Vergesellschaftung unempfindlicher Analyse des In-der-Welt-Seins« (Habermas 1995, 71) und Hannah Arendt schreibt, die Mitmenschen seien bei Heidegger »ein zwar strukturell notwendiges, aber das Selbstsein notwendig störendes Element der Existenz« (Arendt 1990, 47). Auf der anderen Seite steht die vor allem in den USA verbreitete Deutung, die in Heideggers Denken eine herausragende Analyse des Sozialen erblicken: Hubert Dreyfus spricht in diesem Sinn von Heideggers Existenzialontologie als der besten philosophischen Beschreibung menschlicher Sozialität (Dreyfus/Rabinow 1993, 38) und der Soziologe Anthony Giddens bezeichnet die Daseinsanalytik als seine »philosophische Grundlage« (Giddens 1981, 3). Heideggers Thematisierung des Sozialen ist vielschichtig – auch bei Beschränkung auf sein Hauptwerk Sein und Zeit – und reicht von der Untersuchung alltäglichen Miteinanderseins im Man über das Sozialitätsdefizit eigentlichen Selbstseins zu kollektivistischen Anklängen im Volksbegriff. Entsprechend wird auch ein Urteil über die sozialphilosophischen Potenziale seiner Existenzialanalytik differenziert ausfallen müssen. 4.1. Was heißt ›Dasein ist immer schon Mitsein‹?
Besonders Heideggers Ausführungen über das Man gaben Anlass zu gegensätzlichen Interpretationen. Auf der einen Seite steht eine Lektüre des Man als kulturkritischer Kategorie, mit der Heidegger an Kierkegaards Kritik der modernen Massengesellschaft anknüpfe. Exemplarisch wurde diese Deutung bereits 1930, drei Jahre nach Erscheinen von Sein und Zeit, von Karl Löwith vertreten: Es kann nicht gut ein bloßes ontisches Mißverständnis sein, wenn man, besonders bei der Analyse des »Man« so oft an Kierkegaard und seine »Kritik der Gegenwart« und seinen »Begriff der Angst« erinnert wird, oder auch an andere, spezifisch protestantische Kennzeichnungen der Öffentlichkeit des Lebens. (Löwith 1930, 385)
Verbreitung fand diese Deutung durch Frederick Olafson (1987), der das Man mit der öffentlichen Meinung, die Konformismus fördert und authentisches
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Selbstsein behindert, identifiziert. Diese Interpretation kann insofern an Heideggers Text anknüpfen, als dieser Öffentlichkeit – in Anknüpfung an Kierkegaards (1914) Bestimmung des ›Publikums‹ – immer mit Uneigentlichkeit verbunden sieht (Thonhauser 2016a, 256–261). Sie kann jedoch nicht berücksichtigen, dass Heidegger vom Man als einem »Existenzial« spricht, das »als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins« gehört (GA 2, 172). An diese Kernaussage Heideggers anknüpfend, hat sich eine alternative Deutung herausgebildet, die den existenzialen Begriff des Man betont. Diese von Haugeland (1982) und Dreyfus (1991) entwickelte und von zahlreichen DreyfusSchülern (Carman 2003; Wrathall 2011) verfeinerte ›pragmatistische‹ Deutung geht von einem Sozialapriori des Man aus. Dieser Sicht zufolge sind es die im Man artikulierten normativen Strukturen der öffentlichen Ausgelegtheit der Welt, welche die konstitutive Grundlage aller Bedeutsamkeit und somit die unhintergehbare Ermöglichungsbedingung aller Daseinsvollzüge darstellen. Während diese Leseweise den Vorzug hat, die existenzontologische Dimension des Man erfassen zu können, besteht ihre Schwäche darin, durch die Hypostasierung des Man zur Quelle aller Bedeutsamkeit nicht mehr verständlich machen zu können, wieso Heidegger überhaupt kritisch über Ausprägungen des Man spricht. In jüngster Zeit gibt es Bestrebungen, die beiden Interpretationslinien zusammenzudenken und zu einer einheitlichen Deutung des Man zu gelangen. Dafür kann der Hinweis dienen, dass sich Heidegger für seine Analyse des Man nicht nur auf eine Kulturkritik kierkegaardscher Prägung berufen konnte, sondern auch auf die Soziologie seiner Zeit, etwa auf Georg Simmels Grundlegung der Soziologie, dessen Werk vermutlich Einfluss auf seine Daseinsanalytik hatte (Grossheim 1991). Daraus lässt sich die These gewinnen, dass die kritische Evaluation des Man ein zentraler Aspekt von Heideggers ontologischer Untersuchung ist. Folglich handelt es sich bei der Kombination ontischer und ontologischer Elemente in Heideggers Ausführungen zum Man um keine leichtfertige Vermischung von Betrachtungsebenen, sondern um eine der Sache angemessene methodische Vorgehensweise. Der zentrale Schlüssel zur geforderten einheitlichen Deutung besteht darin, das Man zwar als die ontologische Ermöglichungsbedingung aller Daseinsvollzüge zu verstehen, zugleich aber zu bedenken, dass dem Man die ontische Tendenz eingeschrieben ist, Konformismus zu befördern (Christensen 2012). Eine kritische Weiterentwicklung erhielten Heideggers sozialtheoretische Ausführungen beim oben bereits genannten Löwith, der sich 1928 mit der Arbeit Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen an der Universität Marburg bei Heidegger habilitierte (Thonhauser 2016b). Das zentrale zweite Kapitel dieses Werks beinhaltet eine Strukturanalyse des Miteinanderseins, in der Löwith Heideggers Überlegungen zum Man in den Situationen zwischenmenschlicher Interaktion konkretisiert (Löwith 1981, 29–142). Demgemäß besteht die ursprüngliche Begegnung mit anderen nicht in der kontextfreien Erfahrung eines Alter Ego, sondern im konkreten Wechselspiel in spezifischen Kontexten und Rollen. Andere
VI.4. Was ist Gemeinschaft eigentlich?
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begegnen uns stets in einer bestimmten Bedeutsamkeit, als Männer oder Frauen, Polizisten oder Passanten, Pizzabäcker oder Taxifahrer, alt oder jung, Anzugträger oder leger gekleidet (ebd., 65 f.). Unsere Fähigkeit, auf Bedeutsamkeiten reflektieren zu können, sorgt zudem dafür, dass dieser Prozess auf Metaebenen fortgesetzt wird – Löwith verwendet dafür den Ausdruck »Korreflexivität« (ebd., 94) –, sodass soziale Begegnungen in vielfacher Weise durch sich überlagernde Rollenerwartungen geprägt sind. Eine andere Weiterentwicklung des heideggerschen Theorierahmens findet sich bei Jean-Luc Nancy, der Heideggers Überlegungen zum Mitsein in ein Verständnis von Sozialität als singuläres Pluralsein bzw. plurales Singulärsein überführt. Nancy betont nicht nur die Ko-Konstitutivität von Selbstsein und Mitsein, sondern versteht Sein insgesamt als Miteinandersein: »Das Wesen des Seins ist, und ist nur, als Mit-Wesen.« (Nancy 1996/2004, 59) Dieser Gedanke beschränkt sich dabei nicht auf Dasein, sondern greift alles Seiende in dieses Geschehen des Mit-ein-ander-Seins ein. Wie die in diesem Abschnitt diskutierten Interpretationen und Weiterführungen zeigen, ist es eine kontrovers diskutierte Frage, wie Heideggers sozialontologische These zu verstehen ist, dass »Dasein wesenhaft an ihm selbst Mitsein ist« (GA 2, 161). Der produktivste Weg, mit dieser Spannung umzugehen, dürfte in einer Perspektive bestehen, die sowohl die konstitutive als auch die konformismuskritische Dimension von Heideggers Überlegungen systematisch zu integrieren versucht (H.B. Schmid/Thonhauser 2017). Eine Kontrastierung mit Husserls Ansatz bei der transzendentalen Intersubjektivität wirft zudem die Frage auf, ob eine Phänomenologie der Sozialität bei dyadischen Einfühlungserlebnissen ansetzen – so Husserls These – oder vom Phänomen geteilter Bedeutsamkeit seinen Ausgang nehmen muss – so die von Heidegger nahegelegte These (Koo 2015; 2016; 2017). 4.2. Taugt Phänomenologie zu Sozialkritik?
Während der erste Abschnitt von Sein und Zeit Dasein in seiner Alltäglichkeit untersucht, wendet sich der zweite dem Dasein in seiner Eigentlichkeit zu. Die Untersuchungen von ›Sein zum Tode‹ und ›Ruf des Gewissens‹ führen zu einer Beschreibung des Daseins als ›vorlaufender Entschlossenheit‹. Der Kerngedanke ist, dass Dasein als ›geworfener Entwurf‹ in mehrfacher Hinsicht ›nichtig‹ ist. Die »Geworfenheit« konfrontiert Dasein mit dem Faktum seiner Existenz, die Heidegger auf die in der »Befindlichkeit« entdeckte Formel »daß es ist und zu sein hat« (GA 2, 179, 377) bringt; Dasein kann des Grundes seiner Existenz niemals habhaft werden, sondern muss diese Grundlosigkeit in seiner Existenz übernehmen, indem es sich auf konkrete Möglichkeiten hin entwirft. Doch auch als Entwurf ist Dasein nichtig, denn die Wahl einer Möglichkeit impliziert »das Tragen des Nichtgewählthabens und Nichtauchwählenkönnens der anderen« (GA 2, 378). Die ›Nichtigkeit‹ stellt das Dasein vor die Aufgabe, sich in seinem Seinkön-
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nen, d. h. im Entwerfen auf konkrete Möglichkeiten seiner Existenz, ständig den Grund seiner eigenen Existenz zu legen, ohne dabei auf eine Letztbegründung zu stoßen. In dieser ›notwendigen Möglichkeit‹, sich und seine Umstände beständig zu transzendieren, erblickt Heidegger einen existenzialen Begriff von Freiheit (GA 26). Im Existenzialismus Jean-Paul Sartres wird dieses Freiheitsverständnis radikalisiert und sozialdiagnostisch fruchtbar gemacht. Neben Heideggers Existenzialanalytik beruft sich Sartre dabei auf Hegels Phänomenologie des Geistes, insbesondere die Dialektik von Herr und Knecht, und auf seine originelle Bewusstseinstheorie, die er in Auseinandersetzung mit Husserl entwickelte. Im Zentrum steht der Begriff des ›vorreflexiven Selbstbewusstseins‹ (conscience de soi), wie er zunächst in Die Transzendenz des Ego eingeführt wurde (Sartre 1936/1982a). Bewusstsein ist demnach nicht nur Bewusstsein von etwas, sondern erfährt immer auch sich selbst mit, ohne dabei für sich selbst zum Objekt zu werden; folglich ist jedes Bewusstsein Selbst-Bewusstsein, ohne dafür auf sich reflektieren zu müssen. In diesem nichtthematischen, nichtvergegenständlichenden Gewahrsein seiner selbst besteht das konstitutive Selbstverhältnis, das die Spontanität des Bewusstseins ausmacht. In Das Sein und das Nichts entwickelt Sartre (1943/2020) daraus die für seine Ontologie zentrale Unterscheidung von ›Für-sich-Sein‹ und ›Für-andere-Sein‹. Im Vergleich zum Für-sich-Sein des Bewusstseins, das in der nichtenden Transzendierung jeder Bestimmung besteht, kann das Für-andere-Sein, in dem das Subjekt im Blick des Anderen auf eine Bestimmung festgelegt wird, nur als Objektivierung verstanden werden. Entsprechend wird auch die Identifizierung mit sozialen Rollen als ›Unaufrichtigkeit‹ entlarvt. Im Wesen der Subjektivität, jede Festlegung zu transzendieren, besteht der radikale Freiheitsbegriff des Existenzialismus. Diese radikale, ontologische Freiheit impliziert eine radikale Verantwortung für das eigene Tun. In Entwürfe für eine Moralphilosophie wird die sozialkritische Stoßrichtung des sartreschen Existenzialismus weiter geschärft (Sartre 2005): Die ontologische Freiheit des Subjekts ist das Kriterium, anhand dessen sich die Verhältnisse, in denen sich das Subjekt historisch situiert findet, als uneigentlich bewerten lassen. Diese Diagnose betrifft sämtliche Strukturen, die der radikalen Freiheit und Verantwortung des Subjekts nicht Rechnung tragen, sondern dieses auf eine Bestimmung festlegen wollen. Hier zeigt sich ein Näheverhältnis zur Kritischen Theorie, in deren Rahmen Heideggers ›Uneigentlichkeit‹ und Sartres ›Unaufrichtigkeit‹ als Formen der Entfremdung gedeutet werden können. Einerseits ›verdinglicht‹ sich das uneigentliche bzw. unaufrichtige Selbst, wenn es sich, am Leitbild der es umgebenden Dinge, anhand einer festen ontologischen Bestimmung versteht und damit übersieht, dass es sein Leben zu bestimmen hat. Andererseits entfremdet es sich von seiner Existenz, wenn es sich seine Projekte von seiner Mitwelt vorgeben lässt und damit verkennt, dass es selbst sein Leben zu führen hat (Jaeggi 2006, 35–40; H.B. Schmid 2017a; Thonhauser 2020).
VI.5. Gibt es eine Phänomenologie der Pluralperspektive?
371
Eine weitere Strömung, die an Heideggers fundamentalontologisches Projekt anknüpft, kann Oliver Marchart folgend als »Heideggerianismus der Linken« (Marchart 2010, 59) bezeichnet werden. Dieser Titel versammelt verschiedene Ansätze, denen gemeinsam ist, die ›Grund-losigkeit‹ des Daseins zu einem Denken der kontingenten Grundlagen von Politik zu radikalisieren (Butler 1995). Häufig passiert dies, in Anknüpfung an Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy (1997), in der Unterscheidung des Politischen (le politique) und der Politik (la politique) (Bedorf/Röttgers 2010). Neuerdings gibt es Bestrebungen, diese Linie in Rückbesinnung auf Heideggers Ausführungen zur Befindlichkeit (Ratcliffe 2008; 2013) affekttheoretisch weiterzudenken (Slaby 2017; Slaby/ Thonhauser 2019). Diese Strömungen zeigen die Möglichkeit einer sozialphilosophischen Theoriebildung, die in kritischer Abgrenzung von Heideggers eigener kulturkonservativer Konkretisierung seines Denkens die sozialkritischen Potenziale existenzphilosophischer Spielarten der Phänomenologie weiterverfolgt ( D.VII). 5. Gibt es eine Phänomenologie der Pluralperspektive? Wenn Phänomenologie, wie im ersten Abschnitt entwickelt, als »die Untersuchung von Bewusstseinsstrukturen, wie sie in der Perspektive der ersten Person erlebt werden« (D.W. Smith 2013, o.S.), verstanden wird, ist damit stillschweigend meist der Singular gemeint. Aber Erstpersonalität gibt es nicht nur im Singular, sondern auch im Plural; zumal Pluralität Charakteristikum des Sozialen ist, darf es als eine aus sozialphilosophischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive besonders interessante Frage gelten, ob die Phänomenologie der Pluralper spektive – wenn es sie gibt – eine Erweiterung des phänomenologischen Forschungsfeldes darstellt. Dazu gibt es neuerdings einige Debatten, in denen die Phänomenologie eine wichtige Rolle spielt. 5.1. Was ist kollektiv an der kollektiven Intentionalität?
›Kollektive Intentionalität‹ bezeichnet das Teilen intentionaler Zustände bzw. das gemeinsame Einnehmen intentionaler Einstellungen (Schweikard/Schmid 2013). In der jüngeren Forschung spielt dieses Thema eine wichtige Rolle, gerade auch unter Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Befunde aus der Linguistik, der Entwicklungspsychologie und den Wirtschaftswissenschaften. Einigkeit besteht darin, dass das Gemeinsamhaben von Ansichten und Absichten grundlegend für wesentliche Formen der Sozialität und den Aufbau einer sozialen Wirklichkeit ist. Demgegenüber besteht Dissens bezüglich der Frage, wodurch sich Intentionalität als geteilt auszeichnet. Die diesbezüglichen Diskussionen sind in eine Vielzahl von Problemen verästelt. Indes spiegeln sich in einzelnen grundlegenden Debatten mitunter Diskussionen, die man bei näherem Hinblicken
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schon in der frühen Phänomenologie findet; in diesen Fällen ist aus der Geschichte der phänomenologischen Forschung viel zu lernen (Caminada 2019). Während einige Autoren geteilte Intentionalität als Komplex individueller Einstellungen der Beteiligten beschreiben, die mehr oder weniger elaborierte Strukturen wechselseitigen Voneinanderwissens beinhalten, bestehen andere darauf, dass kollektive Intentionalität irreduzibel auf eine wie auch immer komplizierte Konstellation individueller Einstellungen sei. Die letzte Position findet in Scheler (1912/1973; 1926/1960) einen phänomenologischen Advokaten; die erste Richtung hat etwa Walther (1923) in ihrer mutualistischen Konstruktion gemeinsamen Erlebens vertreten. Mutualistische Konzeptionen tendieren dazu, das Kollektive an der kollektiven Intentionalität im Gehalt der individuellen Einstellungen der daran Beteiligten zu verorten. Im Falle der gemeinsamen Absicht, welche – im Unterschied zu der am gemeinsamen Erleben orientierten phänomenologischen Debatte – das Paradigma der gegenwärtigen Diskussion darstellt, besteht das Hauptproblem dieses Versuchs darin, dass gemeinsame Handlungen keine Distributionen individueller Handlungen sind und kollektive Handlungen im Normalfall (d. h. in Abwesenheit entsprechender Ermächtigungen) nicht von einem einzelnen Individuum ausgeführt werden können. Gleichzeitig kann aber auch kein Individuum beabsichtigen, wovon es mit Sicherheit annimmt, dass es die entsprechende Handlung nicht ausführen kann, denn Individuen können nur eigene Handlungen beabsichtigen, nicht die Handlungen anderer. Auf diese Problematik der Handlungsselbstbezüglichkeit von Absicht reagieren subjektbezogene Analysen mit einer naheliegenden Lösung: Wenn keines der beteiligten Individuen eine gemeinsame Handlung selbst beabsichtigen kann, so können es die beteiligten Individuen doch gemeinsam; weder ich noch du, sondern wir gemeinsam – als plurales Subjekt – beabsichtigen unser gemeinsames Tun. Diese Antwort auf die Frage nach der Kollektivität kollektiver Intentionalität stößt aber auf das Bedenken, dass sie eine mysteriöse Entität postuliert; wenn wir zwei gemeinsam handeln, so handeln du und ich – zwei Subjekte, nicht bloß eins (ein Kollektivsubjekt), und schon gar nicht drei (du, ich und wir). Aus solchen Bedenken hat sich in der Diskussion ein dritter Ansatz etabliert, welcher die Kollektivität kollektiver Intentionalität weder im Gehalt noch im Subjekt, sondern in der beide verbindenden intentional-analytischen Dimension verortet – dem intentionalen Modus. In diesem Zusammenhang wird dann von ›Wir-Modus‹ gesprochen; die Annahme lautet, dass die an gemeinsamer Intentionalität Beteiligten je selbst intendieren, und nicht als plurales Subjekt, dass sie dies aber in einem besonderen Modus tun. Allerdings stößt auch diese Analyserichtung auf eine Reihe von Problemen: Erstens ist zu bedenken, dass die Unterscheidung zwischen individuellen und gemeinsamen Einstellungen nicht in die Liste intentionaler Modi gehört, sondern quer zur Unterscheidung intentionaler Modi steht. Zweitens modifizieren intentionale Modi den Gehalt intentionaler Einstellungen; soweit die Unterscheidung zwischen individuellen und gemeinsamen Einstellungen als Modifikation zu verstehen ist, modifiziert sie aber das Subjekt der Einstellung.
VI.6. Resümee
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Soweit Intentionalität durch Gehalt, Subjekt und Modus definiert ist, dürfte es zu diesen drei Analyserichtungen kaum Alternativen geben. Im näheren Blick auf die jeweiligen Probleme der drei Analysen scheinen jene des Subjektansatzes am ehesten überwindbar. Ein phänomenologisch inspirierter Vorschlag, plurale Subjektivität zu verstehen, ohne in die Fallen einer metaphysischen Hypostasierung einer mysteriösen Kollektivsubjektivität zu geraten, lautet, Subjektivität nicht als Substanz zu verstehen, welcher Einstellungen als Eigenschaft zukommen, sondern als adverbiale Eigenschaft der Einstellungen selbst. Was individuelle Einstellungen subjektiv macht, ist die Fähigkeit, sich ihrer unter geeigneten Umständen als eigener inne zu sein. Dieses Bewusstsein hat, wie die Phänomenologie unter dem Stichwort ›vorreflexiv-unthematisches Selbstbewusstsein‹ immer wieder herausgearbeitet und wie es die Analytische Philosophie des Geistes in der jüngeren Forschung in immer neuen Ansätzen untersucht hat, eine von allem gegenständlichen Bewusstsein unterschiedene Form; es ist selbstidentifizierend, selbstvalidierend, selbstfestlegend und selbstautorisierend (H.B. Schmid 2017b). Obwohl im Falle gemeinsamen Eingestelltseins diese vier Funktionen nicht auf exakt dieselbe Weise realisiert sind, finden wir sie – auf plurale Weise – auch in der Analyse gemeinsamer Einstellungen. Die Kollektivität kollektiver Intentionalität besteht darin, dass wir, die Beteiligten, ihrer unter geeigneten Umständen auf die richtige, vorreflexiv-unthematische Weise inne sind: als unsriger. 6. Resümee In diesem Beitrag wurde das spannungsgeladene Verhältnis der Phänomenologie zur Sozialphilosophie und Soziologie anhand von fünf Fragekomplexen inhaltlich konturiert. Es zeigte sich dabei, dass die Phänomenologie ebenso vielfältig ist, wie es die Anknüpfungen und Abgrenzungen in den Feldern sozialphilosophischer Theoriebildung und sozialwissenschaftlicher Forschung. sind Angesichts dieser komplexen Theoriekonstellation scheint der vielversprechendste Weg für eine produktive Rolle der Phänomenologie in der Sozialphilosophie und Soziologie darin zu bestehen, sich nicht auf Grundsatzfragen der Methodologie zu versteifen, sondern zentrale Begrifflichkeiten der Phänomenologie dort aufzugreifen und weiterzuentwickeln, wo sie in den jeweiligen Debatten zu einem besseren Verständnis der Sache beitragen können. Hans Bernhard Schmid, Gerhard Thonhauser
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VII. Politische Philosophie Die Phänomenologie kann nur prima facie als eine Philosophie gelten, die sich mit politischen Gegenständen schwertut. Zwar kommt sie in der Perspektive der politischen Philosophie oder der politischen Wissenschaften nur am Rande vor (Ottmann 2012), weil die transzendental-subjektive Konstitution politische, institutionelle oder staatliche Tatsachen nicht zu erschließen scheint. In der Tat bleiben die Ansätze politikphilosophischen Denkens bei Husserl auf eine Konstitutionslehre des Staatlichen beschränkt. Doch sosehr Phänomenologie schon seit Husserls Anfängen Sozialphilosophie ist, so sehr finden sich in den nachhusserlschen Phänomenologien zahlreiche produktive Anknüpfungspunkte für ein Denken des Politischen jenseits von blankem Realismus oder normativer ideal theory. 1. Husserls Staatsphilosophie Politik ist kein naheliegender Gegenstand für eine Philosophie, die sich als reine Wissenschaft jenseits aller gesellschaftlichen Funktionalität verstand, wie Husserl dies tat. In den Ideen I heißt es apodiktisch, dass die »reine Phänomenologie […] natürlich auch Wirklichkeiten der Art, wie Staat, Sitte, Recht und Religion« (Hua III/1, 122) ausschließen müsse. Brieflich notiert Husserl, dass sein Werk überhaupt als »ein an sich völlig Unpolitisches« (Husserl, Brief an Gerhart Husserl vom 5. Juli 1935, zit. nach Schuhmann 1988a, 18 f.) zu gelten habe. Zugleich kann allerdings eine Grundlagenwissenschaft wie die Phänomenologie es nicht zulassen, sich für einen ganzen Teilbereich der menschlichen Realität für unzuständig zu erklären. Husserl kommt denn auch – wenn auch abstrakt – auf die Fundamente subjektiver Assoziationen höherer Ordnung zu sprechen. Der universale Ausgriff des Anspruchs der Phänomenologie muss zwar auch das politische Feld umfassen, er erfolgt jedoch von den Fundierungsleistungen der Intersubjektivität her. In seinen Arbeiten und Nachlassnotizen zum Thema der Intersubjektivität macht Husserl klar, dass alle Sinnkonstitution eine leibliche Monade zur Voraussetzung hat, die andere leibliche Egos appräsentiert. Diese Verbindung ist Bedingung für gemeinsamen Sinn, d. h. objektive Gehalte, womit Husserl dem Solipsismus-Einwand begegnen kann. Intersubjektivität liegt nun aber nicht gewissermaßen blank vor, als epistemologische Basis der Genese von Sinnvollzügen, sondern ihr eignet eine teleologische Struktur von höheren Stufen sozialer Ordnung. Der Grundgedanke des Übergangs vom Intersubjektiven zum Sozialen lautet, dass die Monaden sich nacheinander »richten« (Hua XIV, 266 f.), d. h. aneinander ausrichten und ihre Willen und Strebungen aufeinander abstimmen und in gemeinsamen Zielen vereinen. »Das Monadenall, eine monadische All-Einheit, [unterliegt dem] Prozeß einer Steigerung in infinitum« (Hua XV, 610). Mit der Überzeugung vom Vorhandensein einer primären »Lust an dem Mitdasein Anderer« (Hua XIII, 107) knüpft Husserl an die aristotelische Linie der
VII.2. Totalitarismuskritik
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Antworten auf die Frage nach dem Grund des Sozialen an (und richtet sich damit gegen den Hobbes’schen Atomismus vereinzelter Individuen). Damit lässt sich nachvollziehen, dass Husserl die Bildung sozialer Einheiten durch die Abstimmung der Monaden aufeinander gewährleistet sieht. »Mitteilungsgemeinschaften«, die kommunikativ gemeinsame Ziele teilen, werden zu Gruppen, deren »Gemeinschaftsgeiste« ihre Teilhaber zu gemeinsamen Handlungen, Zweck setzungen und Entscheidungen motivieren (Hua XIV, 201). Während Husserl hierunter noch je eine lose Einheit versteht, eine »unbestimmte, offene Vielheit« (Hua XIV, 229), sind Personalitäten höherer Ordnung Gebilde wechselseitiger Verpflichtungen, die in Institutionen übergehen können. Gemeinsam ist beiden Sozialformen eine gemeinsame Kultur, die das Gemeinschaftsleben mit einer Tradition, mit geteilten Werten und allgemeiner: mit einer Sitte versorgt. Das übergreifende Ideal für dieses soziale Mitleben mit Anderen stellt dabei die Liebesgemeinschaft dar, die wiederum ihren Beitrag zur Verwirklichung eines wahren Selbst leistet. Politische Fragen berührt diese teleologisch geordnete Stufung des Sozialen nicht. Die Funktion des Staates ist allenfalls »in der Verhinderung grundsätzlicher sozialer Disharmonie zu suchen« (Schuhmann 1988a, 112), die dem telos einer universal-rationalen Monadengemeinschaft einen Strich durch die Rechnung macht. Eine Rekonstruktion von Husserls ›Staatsphilosophie‹ steht überdies vor der Herausforderung, die wenigen, verstreuten Bemerkungen mit den unbearbeiteten und ungelösten internen Widersprüchen zu vermitteln. In jüngerer Zeit wurde die politische Philosophie Edith Steins (2000) wiederentdeckt und dafür argumentiert, in ihrem Werk eine gründlichere und realitätsnähere Version einer phänomenologischen Staatsphilosophie entdecken zu können (Calcagno 2016). 2. Totalitarismuskritik Die unbestimmte, offene Vielheit, die Husserl noch als die Einheit des Gemeinschaftsgeistes verstand, wird dann zur Grundlage einer Charakterisierung des Politischen, wenn sie mit einer prinzipiellen Dimension allen Handelns zusammengedacht wird: der Freiheit. Hannah Arendt geht von der Pluralität als dem Faktum aus, das menschliche Existenz unhintergehbar prägt. Das Politische wird dann das genannt werden, was die pluralen Freiheiten miteinander artikuliert. »Der Sinn von Politik ist Freiheit.« (Arendt 1993, 28) Freiheit besagt hier nur so viel wie »Nicht-beherrscht-Werden und Nicht-Herrschen« (ebd., 39), woraus sich – positiv gesprochen – ein Ort oder besser: ein Raum ergibt, den die Pluralität der Vielen gestaltet und in dem keine/keiner unter ihnen Herrschaftsrechte genießt, anders gesagt: ein Raum der Gleichheit. Arendt betont, dass diese Gleichheit als streng politische Gleichordnung gedacht werden muss und mit sozialer Gleichheit nichts zu tun hat, Gerechtigkeitsfragen somit nicht tangiert werden.
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Das Politische als »Raum der Freiheit« (ebd., 41) ist aber für die Sicherung der menschlichen Existenz nicht notwendig. Das schlichte Überleben, aber auch viele Kulturleistungen können auch ohne politische Freiheit gewährleistet sein. Das Politische in diesem offenen Sinne ist also weder geschichtlich garantiert noch anthropologisch verankert. ›Handeln‹ als gemeinsame Verwirklichung pluraler Freiheit droht vielmehr durch die Orientierung an der bloßen Subsistenz (›Arbeiten‹) oder durch die Herrschaft instrumenteller Imperative (›Herstellen‹) zurückgedrängt zu werden. Die Macht des gemeinsamen Handelns (dem Gewaltbegriff streng entgegengesetzt) ist eine historische Möglichkeit, die sich nicht von selbst versteht. Im Extremfall verschwindet das Politische durch das Tilgen aller Spielräume mit ungewissem Ausgang unter der Kontrolle totalitärer Herrschaft. Diese vernichtet die Macht der Bürger:innen, indem sie im 20. Jahrhundert anders als frühere Despotien nicht nur die öffentliche Ausübung der politischen Freiheit verbietet und unterdrückt, sondern ihr alle ihre Voraussetzungen entzieht. Das »Totale« der totalitären Herrschaft besteht darin, dass noch verhindert wird, dass »die völlig Isolierten und voneinander Verlassenen zu politischen Aktionen (wiewohl natürlich nicht zu echtem politischem Handeln) wieder eingesetzt werden können« (Arendt 1986, 727). Es wird also die Pluralität selbst als Voraussetzung des Politischen unterbunden und damit jede Artikulationsform der Freiheit unmöglich gemacht. Diese Entwicklung wird verstärkt, indem jedes Individuum auf eine Identität der Reaktionen reduziert wird, die mit kreativen und offenen Handlungsvollzügen nichts mehr zu tun haben und die durch mittels Propaganda unterschobene Fiktionen stillgestellt werden. Maurice Merleau-Ponty steht dieser Kritik am Totalitarismus nahe, ohne jedoch den emphatischen Freiheitsbegriff zu teilen. Zwar heißt es: »Es gibt keine wirkliche Freiheit ohne irgendeine Macht. Die Freiheit ist nicht diesseits der Welt, sondern in Berührung mit ihr.« (Merleau-Ponty 2000, 199) Doch hat Merleau-Ponty den Machtbegriff anders als Arendt nicht explizit ausgearbeitet. Es steht vielmehr die ›Berührung‹ mit der Welt im Vordergrund, die Verflechtung jedes Handelns mit der Welt und mit Anderen, die impliziert, dass von den komplexen Möglichkeitsräumen nicht »eine wahrer sei als die andere« und es somit keine Basis gibt, auf der eine politische Option sich anders als gewalttätig zur Totalität erklären könnte (Merleau-Ponty 1968/1973, 65/77). Damit gilt für die Politik, dass sie anders als bei Arendt kein Raum ist, der im gemeinsamen Handeln zu gestalten wäre, sondern ein offenes Geschehen in der Geschichte, die ihrerseits weder feste Wahrheiten kennt noch eine bloße Anhäufung sinnloser Ereignisse ist. Merleau-Ponty betont vielmehr, dass es »zugleich eine Logik der Geschichte und eine Kontingenz der Geschichte gibt, daß nichts absolut zufällig, aber auch nichts absolut notwendig ist.« (Merleau-Ponty 2000, 163; 1947/1990, 84; zum weiteren Hintergrund M. Schnell 1995; Held 2010b) Totalitäre Regime zeichnen sich demnach dadurch aus, dass sie Kontingenzen, die sich nie verdecken lassen, gewaltsam ausschließen wollen.
VII.3. Institution
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Es ist – wie Claude Lefort ergänzt – eine Illusion zu meinen, »daß das politische Feld jemals vollständig beherrscht werden kann« (Lefort/Gauchet 1990, 104). Stattdessen bestehen stets Lücken, Neuerfindungen, Widerstände und andere Transzendenzen, die über die herrschende Ideologie hinausgehen. Um die Infragestellung, die von diesen Erfahrungen her stets möglich ist, auszuschließen, wird im totalitären Staat »ein partikularer zum universellen Diskurs erhoben« (ebd., 111). Damit setzt er das Imaginäre als bereits an sich wirklich, was doch allein symbolisch darstellbar ist. Eine Einheit (etwa eines Volkes) ist imaginär in dem Sinne, dass sie gerade nicht empirisch besteht. Wird diesem Imaginären (der fluiden Zivilgesellschaft) eine symbolische Form (eine Staatsform) gegeben, wird sie kommunikabel. Entscheidend ist nun in diesem Verhältnis, dass der Spalt zwischen Imaginärem und Symbolischem unüberbrückbar ist oder – politisch gesprochen – dass Staat und Zivilgesellschaft nur totalitär als identisch begriffen werden können. Indem eine Partikularität (ein Volk unter anderen) zur verkörpernden Macht erhoben wird (das homogene und sich selbst transparente Volk), wird ein organizistisches Ideal mit einem funktional-künstlichen identifiziert: »Das Bild des Körpers verbindet sich mit dem der Maschine.« (Lefort 1990b, 288) So leugnet das Phantasma der Einheit im Totalitarismus alles Dysfunktionale, die Konflikte, Widerstände und die Teilung, die Lefort für das Gesellschaftliche für wesentlich hält. Auf der Basis der Akzeptanz der gesellschaftlichen Teilung jedoch beruht die Demokratie, sodass der Totalitarismus in »einer Umkehrung des demokratischen Modells begründet« (ebd., 47) ist und somit eine Erscheinung der Moderne und nicht bloß eine aufgerüstete Variante klassischer Despotismen darstellt. 3. Institution Der Begriff der Institution bezeichnet in dem Sinne, wie er aus Anthropologie, Soziologie und Politikwissenschaft bekannt ist, ein Regelsystem oder eine durch es definierte Einrichtung, das eine bestimmte soziale Ordnung erzeugt und dadurch Handeln erwartbar macht. In der französischen Phänomenologie fungiert er zunächst aber als Übersetzung des husserlschen Ausdrucks ›Stiftung‹. Mit ›Stiftung‹ oder ›Ur-Stiftung‹ bezeichnete Husserl die ursprüngliche Erfahrung etwa der Wahrnehmung eines Gegenstandes, in der die Ganzheit eines Gegenstandssinnes gegeben ist. Der Sinn, der mit dieser Stiftung gegeben wird, hält sich auch in der Habitualisierung von Erfahrungsformen durch, die auf die Urstiftung folgen (»Nachstiftung«; Hua VI, 72), bis ihre Aufgabe in der »Endstiftung« (Hua VI, 73) vollkommene Klarheit erlangt hat. Die passive Genesis, d. h. die Erfahrung, dass das Ego den Gegenstandssinn nicht alleine konstituiert, sondern er ihm gleichsam ›zustößt‹, verweist stets auf eine Stiftung als Ursprung. Husserl überträgt den Begriff der Stiftung auf den Ursprung der Identität des personalen Ichs (»Urstiftung der Selbstregierung«; Hua VI, 486) sowie auf die Stiftung der
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Wissenschaften und der Philosophie in der griechischen Antike bzw. der mit Descartes einsetzenden Neuzeit (Hua VI, 10 f., 427, 432, 438). Hervorgehoben wird damit jeweils die Nichtkonstituiertheit der Identität, die sich ereignishaft erst herausbildet und nicht auf ein vorfindliches Konstituens zurückgreifen kann. Damit stellt Husserl eine begriffliche Möglichkeit bereit, in der Instituierung des Sinns die Einmaligkeit eines historischen Gründungsereignisses mit den Variationen seiner Fortschreibung (was Husserl ›Habitualisierung‹ nennt) zusammenzudenken ( C.I.12). Merleau-Ponty gehört zu den Ersten, die die Bedeutung des Begriffs der institution erkennen. Er erweitert ihn, um damit in die Dominanz der Konstitution, wie sie bei Husserl vorherrscht, einzugreifen. Während Konstitution von Bedeutung ohne eine Bewusstseinsleistung kaum denkbar ist und damit eine sich darauf stützende Philosophie zu bewusstseinsphilosophischen Einseitigkeiten neigt, erlaubt die institution mehr Spielraum, indem auch leibliche Sinnbildungen formulierbar werden. Die Welt als gestiftete anstatt als konstituierte zu verstehen (Merleau-Ponty 1968/1973, 59/74), ermöglicht, eine fungierende Bedeutung zu denken, die auf vorausgehende Bedeutungen zurückverweist und den Gehalt künftiger Bedeutungen formt. Das Subjekt als stiftend statt als konstituierend zu verstehen, ermöglicht, Intersubjektivität zu denken, ohne dass der Andere das Doppel oder das Negativ des Subjekts ist. Merleau-Ponty (1955/2003) betont in seiner Fassung des Begriffs der Stiftung, dem er insbesondere in seinen Arbeiten zur Malerei und in der Vorlesung von 1954/55 Aufmerksamkeit widmet, drei Wesenszüge der Stiftung: Sie ist antisubjektivistisch, kontingent und ereignishaft (Terzi 2016a). Während die Fundierung ein Nacheinander von Ursprung und geschichtlicher Variation nahelegt, ist Stiftung ein performativer Begriff, in dem Vergangenheit und Gegenwart in Resonanz stehen (vgl. Merleau-Ponty 1968/1973, 62/75; im Original wird die Metapher eines wechselseitigen ›Echos‹ verwendet) »se font écho l’un à l’autre«. Das Gegebene ist stets nur durch ein Aufgreifen einer Tradition gegeben, die ihrerseits ihren Ursprung vergessen hat, während die Schöpfung des Neuen wie die Urvergangenheit alles dessen wirkt, worin auf es zurückgegriffen und es umgeformt wird. Der Begriff der Stiftung verweigert sich dadurch sowohl einer Teleologie der Vernunft als auch einem aktivistischen Dezisionismus (Dupond 2001, 27 ff.). In einer Stiftung ereignet sich Sinn und wird das Subjekt mit hervorgebracht, sodass ein vorgängiges konstituierendes Subjekt nicht mehr benötigt wird (Merleau-Ponty 1955, 37). Diese Grundintention des Begriffs wird von Claude Lefort aufgegriffen, aber ausschließlich politisch gewendet, was Merleau-Ponty eher nebenbei erwähnt hatte: Die Stiftung »ist nicht das Gegenteil der Revolution, die Revolution ist eine weitere Stiftung« (ebd., 44). Lefort hält mit Merleau-Ponty fest, dass kein Ursprung einer politischen Ordnung in eine historische Chronologie eingeordnet werden kann (Lefort/Gauchet 1990, 95). Den Ursprung einer Ordnung absolut zu setzen, schließt eine Vogelperspektive aus, in der die historischen Ereignisse der Ordnungsgründung in eine funktionale Abfolge gebracht werden. Um-
VII.3. Institution
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gekehrt kann eine konsequente Geschichtsphilosophie einem Gründungakt als Ursprung einer politischen Ordnung nie die Geltung zuerkennen, die dessen Narrativ beansprucht. Eine »Verzerrung des Ursprünglichen« (ebd., 96) besteht in der doppelten »Unmöglichkeit, uns den Ursprung zu vergegenwärtigen« und »die Abwesenheit des Ursprungs festzusetzen« (ebd., 95 f.). Mit dieser Aporie nimmt Lefort Distanz sowohl zur ökonomistischen Theorie des Marxismus, der die Legitimation der Macht jeweils von den Eigentumsverhältnissen ableitet, als auch zu klassischen Geschichtsphilosophien, die alle Innovation und alle Brüche der Geschichte dem fortschreitenden Gang einer vernünftigen Entwicklung der Menschheit unterordnet (zum Verhältnis des Revolutions- und des Stiftungsbegriffs vgl. Bedorf 2021a). Gegen solche Teleologien, die dem politischen Gründungsereignis nur eine sekundäre Rolle zumessen, formuliert Lefort die »anwesend-abwesende Gründung« als eine »fortgesetzte Stiftung und Institution« der gesellschaftlichen Ordnung selbst (ebd., 96). Die Stiftung der sozialen Ordnung ist ihrerseits grundlos, kommt aber nicht aus dem Nichts. Lefort wendet den ontologischen Begriff des ›Fleisches‹, wie ihn Merleau-Ponty entfaltet hatte, sozialphilosophisch als Bezeichnung jener Relationalitäten, die noch einer Formgebung entbehren. ›Fleisch‹ bedeutet bei Lefort eine lebensweltliche »Weise der Unterscheidung von Bezugspunkten, mithilfe derer die Erfahrung des Zusammenlebens sich ordnet« (Lefort 1999, 39). Die Bezugspunkte sind dabei nicht empirisch gegeben, sondern erhalten ihren Sinn erst aus dem differentialen Geschehen eines »In-Beziehung-Setzen[s]« (ebd.). Erst durch den weiteren Schritt der Formgebung jedoch erhält das gestalthafte »Fleisch des Gesellschaftlichen« (Lefort 1990b, 289) seine Konfiguration. »Diese Formgebung (mise en forme) ist eine Sinngebung (mise en sens) und zugleich eine Inszenierung (mise en scène).« (Ebd., 284) Die Formgebung stellt Leitunterscheidungen bereit, die einer Gesellschaft ermöglichen, sich selbst als eine geordnete wahrnehmen, ja sich überhaupt als eine bestimmte Gesellschaft erkennen zu können. Sie verleiht ihr Sinn. Dieser sinnstiftende Akt ist nun aber nicht als eine intentionale Bedeutungszuweisung zu verstehen, der bewusst und rational von bereits konstituierten sozialen Akteuren vorgenommen würde, sondern eine ›Inszenierung‹. Diese theatrale Metapher meint, dass die Formgebung – wie man mit heutigem Theorievokabular sagen würde – ein praktischer Vollzug oder ein performativer Akt ist. Die »instituierende Funktion der Macht« (Lefort 1990a, 51) bringt das, was sie bezeichnet, durch den Formgebungsvorgang selbst hervor. Die Formgebung stiftet das Symbolische, mittels dessen eine Gesellschaft sich ihres Selbstverständnisses vergewissert. Da es sich bei der Symbolisierung durch Zeichen nicht um eine einfache Abbildung einer bereits gegebenen Ordnung handelt, bezeichnet Lefort die repräsentierende Funktion auch als ›Quasi-Repräsentation‹, um die performative Hervorbringung von der bloßen Abbildung zu unterscheiden. Auch Cornelius Castoriadis (1978/1986, 113) greift unter explizitem Bezug auf Merleau-Ponty den Stiftungsbegriff auf. Er unterscheidet ebenfalls zwischen
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transzendentaler Konstitution und einer gesellschaftlich-geschichtlichen Institution. Sosehr Merleau-Pontys Denken als ein Denken der Öffnung geachtet wird, so kritisiert Castoriadis an Merleau-Ponty dessen vermeintliche ontologische Statik. Hätte Merleau-Ponty den Begriff der Stiftung ernster genommen, so hätte er ihn weniger als ontologischen Begriff einsetzen dürfen, sondern sehen müssen, dass schon unsere Wahrnehmung kulturell und historisch konfiguriert ist. »Ist unsere Wahrnehmung kulturell-historisch, so bedeutet dies, daß sie zu einem Teil […] in der Institution ihren Ursprung nimmt.« (Ebd., 131) Institutionen sind sozial, kulturell und historisch situiert und anders nicht denkbar. Die Kontingenz, die dem Stiftungsbegriff wesentlich ist, bedeutet, wie Castoriadis betont, die Unmöglichkeit einer vernünftigen Letztbegründung. Die Institution »ist Schöpfung, die außerhalb ihrer selbst keine notwendigen und zureichenden Bedingungen findet […]. Sie ist Ins-Sein-Bringen, Erscheinungsform des radikalen Imaginären« (ebd., 132). Merleau-Pontys Verbleib in der Ontologie setzt Castoriadis das Imaginäre entgegen. Mit Anleihen bei der Psychoanalyse versteht er darunter eine schöpferische Kraft, die sowohl individuell wie kollektiv verankert ist und aus der die Institutionen allererst hervorgehen. Castoriadis betont nun, dass schöpferische Handlungen nur dann denkbar sind, wenn das Sein als ›Magma‹, also als energiegeladener Stoff, noch ungeformt oder zumindest nicht vollends bestimmt ist. Andernfalls wären Schöpfungen nur Reproduktionen von bereits vorliegenden oder zumindest keimhaft angelegten Formen. Politisches kreatives Verhalten, wie etwa die Erfindung der griechischen Demokratie, ist in diesem Sinne eine »Institution einer neuen gesellschaftlichen Regel, Erfindung eines neuen Gegenstands oder einer neuen Form« (Castoriadis 1978/1984, 77). Eine Gesellschaft, die sich selbst instituiert, also sich seine Regeln und Ordnungen selbst gibt, gilt Castoriadis als autonom. Sie unterliegt keinem vorfindlichen oder vorgeschriebenen Gesetz (griechisch nomos), sondern gibt es sich selbst (griechisch autos). Dadurch, dass Castoriadis die permanente Möglichkeit vertritt, prinzipiell autonom schöpferisch zu handeln, kulminiert seine Auffassung in einer creatio ex nihilo, die er auch so bezeichnet. Die Unterbestimmung des Verhältnisses von Reflexion und kreativer Veränderung einerseits und den Widerständen und der Eigenlogik des Bestehenden andererseits ist vielfach kritisiert worden. Mit vergleichbarer Betonung der Kontingenz jeder sozialen Form greift die Hegemonietheorie Ernesto Laclaus auf Husserls Begriff der Stiftung zurück. Laclau (1990, 34) wendet Husserls Aufdeckung der original institutions politisch, indem er zeigt, wie sich soziale Sedimentierungen auf ein Moment der Stiftung zurückführen lassen. Jede Sedimentierung jedoch verdrängt andere mögliche Stiftungen, die vergessen worden sind. Eine vollkommene Setzung eines sozialen Raums ist deswegen nicht möglich, weil Momente der Kontingenz und Geschichtlichkeit ( C.I.14) jeder sozialen Ordnung stets sichtbar bleiben (Marchart 2009). Das Politische als das Stiftungsmoment und das Soziale als dessen Verfestigung kommen nie zur Deckung und halten so die Möglichkeit einer an-
VII.3. Institution
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deren Ordnung offen. »Die Unterscheidung zwischen dem Sozialen und dem Politischen ist somit ontologisch konstitutiv für soziale Beziehungen« (Laclau 1990, 35). Anders als die Diskurstheorie Laclaus, die systematische Anleihen bei Husserl macht, um ihn aufgrund seiner Vernunftteleologie hinter sich zu lassen, hat für Marc Richir die Stiftung eine ganz fundamentale Bedeutung nicht nur für die Frage politischer Ordnungskontingenzen, sondern für seine gesamte Phänomenologie der Sinnbildung. Die Stiftung einer autorisierten politischen Macht (l’institution symbolique du théologico-politique, wie er es nennt) ist demnach stets deswegen ein prekäres Manöver, weil durch sie der Spalt zwischen verleihender Autorität und ausübender Autorität nicht zu schließen, sondern nur kontingenterweise zu überbrücken ist. Einer puissance d’incarnation der Machtverleihung steht ein pouvoir d’incorporation gegenüber (Richir 1994, 23), die von einer leiblichen Gemeinschaft getragen wird, der soziopolitische Körperschaften gegenüberstehen. Wie Claude Lefort, auf den er systematisch zurückgreift, sieht Richir das Charakteristikum der Demokratie darin, dass die leibliche Gemeinschaft ein nicht bestimmbarer, ein leerer Ort sei: »Die Macht der Verkörperung erscheint machtlos« (ebd., 28), was gerade die symbolische Instituierung notwendig macht. Die performative Kraft politischer Stiftungen, wie Lefort sie entwickelt hatte, wird auch andernorts in der französischen Philosophie herausgearbeitet. Auch wenn diese nur noch am Rande zur Phänomenologie zu zählen sind, sei doch auf sie verwiesen. Jacques Derrida und Jean-François Lyotard verdanken ihre philosophischen Anfänge der phänomenologischen Tradition und sind während ihrer weiteren Werkentwicklung immer wieder auf phänomenologische Texte zurückgekommen. In seiner Lektüre des Textes der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung arbeitet Derrida das Paradox der Signatur heraus. Das amerikanische Volk (in the name of the good people) erklärt sich in der Unabhängigkeitserklärung als frei und dokumentiert diese Freiheit und ihre künftige Geltung durch die Niederschrift des Textes. Es unterzeichnet diesen also zu Recht. Doch zugleich konstituiert sich das amerikanische Volk erst durch den Text als Souverän. Es kann ihn also gar nicht unterzeichnen, weil es das Volk als Bürgen dieser Freiheit noch nicht gibt. Vielmehr erzeugt sich der Unterzeichner durch den Akt der Unabhängigkeitserklärung erst selbst. Das unterzeichnende Subjekt unterzeichnet daher quasi im Vorgriff auf seine künftige Existenz. Lyotard reformuliert das Problem im Widerstreit als Aporie der Autorität. Der Souverän, der spricht, muss bereits autorisiert sein, wenn er spricht. Die Frage jedoch, wer der Souverän oder woher er autorisiert sein könnte, ist schlechterdings unbeantwortbar, da ein von anderswoher autorisierter Souverän eben nicht souverän wäre. Anhand der doppelten, nichtidentischen Autorisierung der Menschenrechtserklärung durch das französische Volk, aber im Namen der Menschheit, wird die aporetische Struktur der performativen Stiftung offenbar (Derrida 1976/2002; Lyotard 1983/1987, 241–245). Auch wenn schließlich Michel Foucault die husserlsche Idee einer Ur-
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stiftung der Vernunft deutlich zurückweist, so sieht er doch in der Vervielfältigung von Stiftungen (»verschiedene Stiftungen, verschiedene Schöpfungen, verschiedene Modifikationen«, Foucault 1983/2005, 535) den Grund für die konflikthafte Gleichzeitigkeit und wechselseitige Modifikation von Rationalitäten. In Bernhard Waldenfels’ responsiver Phänomenologie wird der Begriff der Stiftung zur Bezeichnung des kontingenten Ursprungs einer Ordnung erweitert, was sich nicht nur auf politische Ordnungen beziehen muss. Stiftungsereignisse sind ›Schlüsselereignisse‹ einer Gründung, wobei für die daraus entstehende Ordnung charakteristisch ist, dass sie weder zufällig noch notwendig, sondern eben kontingent ist. »Diese herrenlosen Ereignisse«, in dem Sinne, dass sie nicht von demjenigen verursacht sind, für den sie Schlüsselereignisse sind, sind solche, »die sich nicht in einen bestehenden Kontext einordnen lassen, sondern selber Szenarien bilden und Geschichten auslösen«, sind »Urstiftungen, in denen Geltung und Genesis untrennbar verknüpft sind« (Waldenfels 1987/2013, 151). Ordnungen stiftende Schlüsselereignisse finden sich nach Waldenfels in allen geschichtlich verfassten Verläufen: in Biografie, Wissenschaftsgeschichte, der Geschichte politischer Regime, der Naturgeschichte der Menschheit. Der Stiftungscharakter drückt sich darin aus, dass das jeweils Neue als »index sui [fungiert], als Bild, das Urbild und Abbild in eins ist« (ebd., 153; für den Versuch einer systematischen Erschließung des Stiftungsbegriffs Bedorf 2019). 4. Radikale Demokratie Wo bleiben die Differenz, der Konflikt und der Kampf, die man als wesentliche, wenngleich noch näher zu bestimmende Begriffe des Politischen nehmen darf, wenn die Phänomenologie gemäß der Aussage in Husserls Krisis das Aufeinander-verwiesen-Sein aller Sinngeltungen in einer »Einstimmigkeit in der Gesamtwahrnehmung der Welt« (Hua IV, 142) kulminieren sieht? Für die posthusserlsche Phänomenologie ist insgesamt kennzeichnend, die teleologische Orientierung an einer harmonischen Vernünftigkeit infrage zu stellen oder gar ganz zu überwinden. Unter den ganz unterschiedlich akzentuierten Titeln der ›Ambiguität‹ (Maurice Merleau-Ponty), der ›Andersheit‹ (Emmanuel Levinas), der ›Differenz‹ (Jacques Derrida), dem ›Überschuss‹ (Jean-Luc Marion), dem ›Entzug‹ (Marc Richir) oder dem ›Fremden‹ (Bernhard Waldenfels) haben Phänomenologen nach Husserl und Heidegger daran gearbeitet, die harmonische Ganzheit, die Husserls Fragestellungen mit dem idealistischen Erbe verband, aufzubrechen, wenn es um die Analyse von Wahrnehmung, Erfahrung und leiblichem ZurWelt-Sein geht. Politiktheoretisch drückt sich das in einer Abkehr vom Ideal einer Monadengemeinschaft und der Hinwendung zum spannungs- und konflikthaften Politischen aus. Die Skepsis gegenüber der Eignung der Phänomenologie zur Reflexion des politischen Feldes ist daher für ihre nachheideggerschen Varianten nicht mehr angebracht.
VII.4. Radikale Demokratie
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So knüpft der Merleau-Ponty-Schüler Lefort nicht nur an einen von MerleauPonty umakzentuierten Begriff der Stiftung an, sondern rückt für sein Verständnis von Demokratie den Konflikt geradezu in den Mittelpunkt. Lefort hatte seine Kritik am Totalitarismus auf die systematische These gestützt, diese bestehe in einer Umkehrung des demokratischen Modells. Dem totalitären Phantasma der Einheit (Volk, Nation, Ethnie, Klasse) setzt die Demokratie die Einsicht in den konflikthaften Charakter jeder gesellschaftlichen Organisation entgegen. Die Demokratie setzt nicht ein Partikulares identisch mit dem Symbolischen, das die Gesellschaft organisiert, sondern besteht in einem »beständigen Wettstreit« (Lefort/Gauchet 1990, 105) um die Macht. Die in diesem Wettstreit verfügbaren Alternativen verdanken sich einer Teilung im politischen Feld, die selbst konstitutiv für die Möglichkeit der Demokratie ist und nicht etwa ein Makel, der durch einen Konsens erledigt werden müsste. Da in Demokratien in der Regel durch Wahl regelmäßig im Wettstreit entschieden wird, ist der Inhaber der Macht nur provisorisch, sodass niemand die Macht auf Dauer und somit ›an sich‹ verkörpern kann. »Der Ort der Macht wird zu einer Leerstelle.« (Lefort 1990b, 293) Wenn die Gesellschaft nicht als die substanzielle Identität eines Kollektivs aufgefasst wird, fallen auch Zivilgesellschaft und Ort der Macht auseinander, da der Ort der Macht jene Position ist, von der aus ein externer Beobachter die Angelegenheit der Gesellschaft zu regeln wüsste. Damit setzt sich die Gesellschaft zu einem Außen in Beziehung, von dem aus ein nichtpartikularer Standpunkt möglich wäre. Aber genau diese Objektivität ist nicht zu haben, wovon die ›Unbesetzbarkeit‹ oder ›Undarstellbarkeit‹ dieses Ortes zeugt. »In dem Augenblick, wo die Macht überzeugt ist, das zu sein, was sie darstellen soll, ist sie in den Augen der gesellschaftlichen Akteure auf den Status des Partikularen zurückgeführt.« (Lefort/Gauchet 1990, 100) Die Macht wird provisorisch eingenommen, darf sich aber um den Preis der Substanzialisierung nicht für mehr als ein Provisorium halten. Der Ort der Macht ist nicht leer, weil niemand dort wohnt, sondern weil niemand ihn dauerhaft mit Gründen besetzen kann. Umgekehrt ist es so, dass die Macht ihre stiftende Funktion verliert, wenn »sie sich vom Imaginären gefangen nehmen läßt, wenn sie einem Signifikat jene Identität zuweist, die ihrer Bestimmung nach gerade offen bleiben soll« (ebd.). Die Gesellschaft als konflikthafte Vielheit ist das Gegenteil einer organischen Totalität, deren gottgesandter oder naturgesetzlich legitimierter Repräsentant der Monarch noch gewesen war. Wird Gesellschaft ohne Substanz gedacht, so ist sie jedoch nicht nur eine »körperlose Gesellschaft« (Lefort 1990b, 295), sondern erzeugt auch eine »Infragestellung […], deren Antwort niemand besitzt« (ebd., 296). Demokratie ist eine prekäre und ungewisse Einrichtung. Lefort arbeitet die Offenheit der demokratischen Form aufgrund der Teilung der Gesellschaft heraus. In der demokratischen Wahl sieht er daher, bei aller Skepsis gegenüber ihrer konkreten parlamentarisch-repräsentativen Organisation in der liberalen Demokratie, ein wichtiges Mittel, um die Teilung der Gesellschaft politisch zum Ausdruck zu bringen. Cornelius Castoriadis, der wie Lefort
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zu den Schülern Merleau-Pontys gehört, sieht in der Demokratie weniger die politische Bearbeitung einer sozialen Spaltung als vielmehr ein Erbe der griechischen ›Urstiftung‹ der Demokratie. Deren Besonderheit besteht darin, dass sich die poleis in Autonomie eine eigene Ordnung geben. Gesellschaft ist nun nicht Teilung, sondern Kreation: »Gesellschaft ist Selbstschöpfung.« (Castoriadis 1986/1990, 300) Die griechische Demokratie ist dabei nicht ein Modell unter vielen, sondern ›Ursprungssamen‹, d. h. der Keim, aus dem alle weiteren Bestimmungen sich organisch herleiten. Die Leistung der Demokratie ist in diesem Sinne radikaler angesetzt, als sie es bei Lefort war, insofern die ›instituierende Gesellschaft‹, die schöpferische, der instituierten Gesellschaft entgegengesetzt wird. Jede historische Institution einer Gesellschaft stellt eine »partikulare Schöpfung« dar, die die »Einrichtung eines neuen Eidos, eines neues Wesens« (ein Rekurs auf phänomenologisches Vokabular), darstellt: »von neuen Setzungen, neuen Normen, neuen Gesetzen« (ebd., 301). Wo die Selbstschöpfung der Gesellschaft ihre Grenzen hat, worin sie überhaupt Orientierungen oder Kriterien findet, ohne die creatio ex nihilo aus dem Nichts auch in das Nichts zu führen, hat Castoriadis sich des Öfteren selbst gefragt, ohne auf der Basis seiner begrifflichen Vorentscheidungen eine Antwort gefunden zu haben. Unter dem Titel der ›Theorien radikaler Demokratie‹ hat man neben Lefort und Castoriadis auch Werke anderer Autorinnen und Autoren gefasst, die zur Phänomenologie keinen Bezug haben: Alain Badiou, Chantal Mouffe/Ernesto Laclau und Jacques Rancière. Jean-Luc Nancy ist hier sicher ein Sonderfall, weil er zur Phänomenologie stets auf Distanz geht, aber zugleich sein Werk in enger Auseinandersetzung mit Heidegger und Derrida entwickelt hat, die wiederum ihre phänomenologischen Wurzeln nicht leugnen. Die Unterscheidung des Politischen von der Politik lässt sich als gemeinsamer Nenner der phänomenologischen und der nichtphänomenologischen Ansätze formulieren. 5. Die politische Differenz Mit der Unterscheidung zwischen dem Politischen und der Politik, der politischen Differenz, wird eine terminologische Entscheidung getroffen, mit der sich die hier skizzierten Ansätze zusammenfassen und erweitern lassen. Dabei ist klar, was mit der Politik (politics, la politique) gemeint ist. Sie bezeichnet die organisierten, institutionalisierten Verfahren politischen Handelns und Aushandelns, die in bestehenden Ordnungen praktiziert werden. Weniger eindeutig ist der Gegenbegriff des Politischen (the political, le politique). In der Differenz zur Politik bezeichnet das Politische die kontingente Natur aller verfassten Politik. Die folgenden drei Varianten der politischen Differenz sind für den vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung. 1) Norm. Das Politische als Maßstab für die Politik: Hannah Arendt hatte das Reich des Politischen als den Raum der artikulierten Freiheit der Vielen aufge-
VII.5. Die politische Differenz
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fasst. Dabei hatte sie betont, dass angesichts der Vorherrschaft von Arbeiten und Herstellen die freie Praxis der Vielen historisch eher eine Ausnahme darstellt und nicht zuletzt in jüngerer Zeit vom Totalitarismus bedroht war. Der Inhalt des Politischen in Arendts emphatischem Sinne ist demgegenüber nicht eine Regeln oder Gesetze erfindende steuernde Tätigkeit, sondern das »aktive In-Erscheinung-Treten eines grundsätzlich einzigartigen Wesens« (Arendt 2002, 214). Für die Bestimmung der politischen Differenz bedeutet das, dass die Politik, wenn sie mit den historischen Formen der Bestimmung, Legitimation und Durchsetzung von Herrschaft identifiziert wird, wie Arendt es nahezulegen scheint, der Vielen nicht bedarf, weil sie idealtypisch letztlich einem Einzelnen übertragen werden kann. Das Politische meint dann die Potenzialität des gemeinsamen Handelns gegenüber dieser Politik als Ausdruck der Steuerung der gemeinsamen Belange. Dass die tatsächlich zu beobachtende Politik bloß »eitle Betriebsamkeit« sowie »unproduktiv und nutzlos« ist, ist für Arendt keine neuzeitliche oder gar moderne Entdeckung, sondern eine Konsequenz aus einem falschen Verständnis dessen, was das Politische heißen soll (ebd., 278). »Die bloße Politik« im Sinne unserer Unterscheidung ist genau genommen »unpolitisch« und steht dem Politischen als einer »immerwährenden Bühne, auf der es gewissermaßen nur ein Auftreten, aber kein Abtreten gibt«, gegenüber (ebd., 249). Für unseren Zusammenhang ist dabei entscheidend, dass diese Bühne der politischen Pluralität den kritischen Maßstab abgibt, an dem die jeweils herrschende Ordnung der Politik zu messen ist. Das Politische ist nicht nur die Möglichkeitsbedingung für Politik, sondern auch und vor allem ihr kritischer Maßstab. Das Politische ist in dieser ersten Bestimmung also der gegenüber der Politik normative Begriff ( D.III). 2) Stiftung. Das Politische als Stiftung der Politik: Das Motiv der Stiftung wurde bereits oben im Ausgang von Husserl und Merleau-Ponty sowie ihrer politiktheoretischen Weiterentwicklung bei Castoriadis und Lefort entwickelt. Die Unterscheidung zwischen der Politik (der instituierten Verteilung und Ausübung von Macht) und dem Politischen, das den Vorgang der Instituierung, der Formgebung sozialer Beziehungen, voraussetzt, ermöglicht nach Lefort den Eintritt in das politische Sein, in dem wir uns immer schon bewegen. Während die objektivistische Betrachtung der Politik einzelne, historische Formen politischer Machtverfassung beobachtet, interessiert sich das Denken des Politischen für die Performativität der symbolischen Stiftung. Das Politische erscheint nur als so oder so gestiftetes, das mit semantischen Grundunterscheidungen das gesellschaftliche Sein überhaupt erst ordnet und für die Wahrnehmung zugänglich macht. 3) Relationalität. Das Politische als (unmögliche) offene Gemeinschaft: Phi lippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy (1981) haben in den frühen 1980erJahren wesentlich zur Prägung der politischen Differenz beigetragen. Sie fragen sich, ob nicht in einer »ursprünglichen Sozialität« (Lacoue-Labarthe/Nancy 1983, 197) gerade das Politische gesehen werden muss, das der institutionalisierten Politik vorausgeht? Die Identifikation des Politischen mit dem sozialen Band wird Nancy in seinen späteren Werken ausarbeiten, indem er dies als eine Philo-
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sophie der Koexistenz von Sinnstiftungen fortschreibt. Das Politische erscheint dann als die Kommunikation dieser sozialen Basiserfahrung (Nancy 1996/2004). Mit der Differenz zwischen dem Politischen und der Politik wird – wie in den anderen Varianten der Differenz – ein Primat des Politischen vor der daraus bloß abgeleiteten Politik behauptet. Nancy bezeichnet das Politische als »Erfahrung der (Mit-)Teilung der Gemeinschaft« (Nancy 1988a/2016, 105) und grenzt ein sozialphilosophisch verstandenes Mitsein von einer konkreten politischen Ordnung ab, der es zugrunde liegt. Nur wenn die Singularität des jeweiligen Sinnhorizonts zugleich mit ihrer pluralen Gegebenheit gedacht wird, erhält man nach Nancy einen Begriff davon, was unter einem sozialen Band verstanden werden kann, wenn es weder auf eine Substanz noch auf reine Empirie zurückgeführt werden soll. Damit ist behauptet, dass die Politik einen Grund im singulär pluralen Sein hat, ohne dass dieser Grund die Argumente für eine bestimmte Politik liefern würde. Eine Politik, die diesem Denken einer geteilten und dadurch auf Anderes und Andere bezogenen Existenz entspricht, hält die Möglichkeiten unterschiedlicher Teilungen und Anordnungen offen. Sie wäre in diesem, der ›Leerstelle‹ Leforts ähnlichen Sinne demokratisch (Nancy 2008/2009, 34/40). Das Politische ist demnach keine bestimmte Anordnung, Gestaltung oder Bewertung der Weisen zu existieren, sondern der Ort, von dem aus die verschiedenen Weisen sich ausdrücken können. Das Politische ist weder selbst eine Ordnung noch eine bestimmte Affirmation einer Singularität, sondern der offene Möglichkeitsraum der Singularitäten in ihrer Pluralität. Neben den drei genannten ließen sich noch weitere Aspekte der Unterscheidung anführen. So bezieht sich in der Hegemonietheorie Chantal Mouffes und Ernesto Laclaus das Politische auf die ontologische Ebene eines polemischen Antagonismus, der von der ontischen Ebene der Politik allzu oft verdeckt wird. In den politischen Philosophien radikaler Gleichheit von Jacques Rancière oder Alain Badiou stellt das Politische die ereignishafte Unterbrechung dar, die Gleichheitsaxiome zur Maßgabe einer Neuverteilung von Subjektpositionen macht (Bedorf 2010; Marchart 2010). Die politische Differenz dient so als terminologisches Band, das phänomenologische und nichtphänomenologische Theorieoptionen politischen Denkens miteinander verknüpft. 6. Situiertheit Im Gegensatz zu den individualistischen Grundannahmen der analytischen philosophy of mind, wie sie sich im Diskussionsfeld um die sogenannte kollektive Intentionalität zeigen (›sogenannt‹, weil sie keineswegs mit dem phänomenologischen Begriff der Intentionalität zu verwechseln ist; C.I.2), ist Phänomenologie immer schon Sozialphilosophie gewesen. Während in den Theorien kollektiver Intentionalität stets die Rede von ›Zuständen‹ ist, die sich auf Objekte oder Sachverhalte beziehen und anschließend ›kollektiviert‹ werden sollen, impliziert
VII.6. Situiertheit
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der phänomenologische Begriff der Intentionalität zugleich weniger und mehr als eine individuelle Handlungsabsicht. Er setzt schon auf der Ebene von Sinnbildungsprozessen an, noch bevor wir Absichten bilden oder Zwecke setzen (Szanto/Moran 2016). Denkt man an die Vielzahl von Versuchen, mit denen dies seit ihrer Gründung ausbuchstabiert wurde, von der ›Einfühlung‹ in der intersubjektiven Begegnung oder dem ›Gemeingeist‹ (Husserl) über das ›Mitsein‹ (Heidegger), die gemeinsame Konstitution einer ›sozialen Mitwelt‹ (Schütz), die ›Personengemeinschaft‹ (Scheler), die intercorporalité (Merleau-Ponty) oder das être-pour-autrui (Sartre), lässt sich mit guten Gründen behaupten, dass Phänomenologie immer schon Sozialphänomenologie ist. Jenseits der intersubjektiven Begegnung mit dem anderen rückt die Berücksichtigung von Affektivität, Habitus und kultureller Verkörperung Sozialität als grundlegenden Modus unseres Zur-Welt-Seins in den Blick. Das erfolgt vor allem dadurch, dass in der nachheideggerschen Phänomenologie das für die philosophy of mind konstitutive Subjekt-Objekt-Verhältnis unterlaufen wird, indem der/die Existierende die Welt »inkorporiert« (Merleau-Ponty 1965, 168), also sowohl sie sich ›einverleibt‹ als auch sie ›verkörpert‹. Leibkörperlich Existierende sind nicht individuierte Körper mit Gehirnen, sondern von vornherein durch eine intercorporéité verbunden. Entsprechend hängt die Koexistenz Anderer nicht von Interaktionen ab, die ein primär atomistisches Individuum eingeht, um sekundär Sozialität herzustellen, sondern meine Welt ist immer schon durch die Ko-Präsenz Anderer mitkonstituiert. Da sich in ihr das Verhalten Anderer »abzeichnet« (ebd., 390), kann sie nie allein meine Welt sein. In der Phänomenologie übernimmt der Begriff der ›Situation‹ die Funktion, die sinnhaft relevante Welt für das in sie eingelassene leibkörperliche Subjekt zu bezeichnen und damit die Dichotomie zu unterlaufen, die absichtsvoll handelnden Individuen oder Kollektiven eine Welt repräsentierbarer Gegenstände gegenüberstellt. Aus der Perspektive der Erfahrung in einer belebten Welt, deren Teil die Existenz ist, bezeichnet ›Situation‹ die Bedeutsamkeit des Gesamtzusammenhangs der Erfahrungen. Der Gegenbegriff ist somit ›Position‹ ( C.I.6), der die Lokalisierung von außen in einem dreidimensionalen, objektiven Raum bezeichnet. Während die Position eine Koordinate in einem Raum der Dinge meint, erschließt die Situation die Bedeutungs- und Verweisungszusammenhänge von der Erfahrung des/der Existierenden her (ebd., 125). Prägend für den Begriff der Situation sind Heidegger, Sartre und Merleau-Ponty. In Heideggers existenzialer Analytik ist eine Situation als subjektiv relevante Wirklichkeit nur für jene erschlossen, die ›entschlossen‹ sind. Dabei meint ›Entschlossenheit‹ gerade nicht ein problemloses Zutageliegen der Möglichkeiten, die sich gewissermaßen von selbst nahelegen, sondern einen Raum, zu dem die Unbestimmtheit hinzugehört und in dem die Möglichkeiten entworfen und identifiziert werden müssen. Das ›Man‹ hingegen ist ›unentschlossen‹ oder ›verloren‹, es gefährdet das Dasein beständig, in die Unentschlossenheit zurückzufallen. Entsprechend kann Heidegger sagen, dass dem ›Man‹ ›die Situation wesenhaft
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verschlossen‹ ist, da es nur eine ›allgemeine Lage‹ (also: Positionen) kennt. Indem Heidegger die Raumsemantik des Situationsbegriffs aufnimmt, stellt er dieser Lage des ›Man‹ den situativen Ort des Daseins gegenüber. »Die Situation ist das je in der Entschlossenheit erschlossene Da, als welches das existierende Seiende da ist.« (SuZ, 299) Sartre spitzt diese Semantik des Begriffs der Situation als ›wirklichem Möglichkeitsraum‹ zu, der bei ihm die Rolle eines Substituts für einen ›objektiven‹ Begriff der Realität übernimmt. Die Situation ist die durch das Für-sich erfasste Position, die für dessen Seinsweise verantwortlich ist, ohne ein fester Grund für die sich verwirklichende Freiheit sein zu können. »Diese Situation spiegelt mir zugleich meine Faktizität und meine Freiheit« (Sartre 1943/ 2020, 468 f.). ›Situiertheit‹, être-en-situation, wie Sartre häufiger sagt, bestimmt sich durch die Gesamtheit dessen, was an Realitäten, Faktizitäten, Widrigkeiten, Hindernissen, aber auch Optionen und Handlungsangebote sich mir im Hinblick auf meine Zwecksetzungen bietet. In der Wahl der absoluten Zwecksetzung durch das Subjekt ist Situiertheit zugleich ein Ergebnis der Freiheit, die sich in Situationen und ihren Gegebenheiten realisiert. Was für die eine Freiheit ein Hindernis ist, ist für eine andere je nach ihren Zwecksetzungen keines, was Sartre beispielhaft am Felsen durchspielt, der nur »im Lichte einer geplanten Besteigung« (ebd., 843) der Bergsteigerin als unbesteigbar gelten kann, während der Spaziergänger die Landschaft ästhetisch genießt und gar nicht zu klettern vorhat. Programmatisch gesprochen gibt es »Freiheit nur in Situation, und [gibt es] Situation nur durch die Freiheit« (ebd., 845). Bei Merleau-Ponty wird der Begriff der Situation einerseits leibtheoretisch fundiert und zugleich um den Feldbegriff erweitert. Das Subjekt ist »Möglichkeit von Situationen, weil es seine Selbstheit nur verwirklicht als wirklich Leib seiendes und durch diesen Leib in die Welt eingehendes.« (Merleau-Ponty 1965, 464) Über die Felder, die sich in Situationen eröffnen, wird die Veränderbarkeit von Möglichkeitsräumen betont. Situierte Freiheit gibt es »nicht ohne Feld« (ebd., 499), sodass eine »offene Situation mehrere Möglichkeiten zulässt und uns immer wieder nötigt, neue Antworten zu erfinden« (Waldenfels 2000, 375). Darin besteht auch eine zentrale Bezugslinie zur Konzeption feministischer standpoint theory (der Ausdruck geht auf Nancy Hartsock [1983b] zurück). Die Feld-Metaphorik vermeidet schließlich auch, die Situation einseitig existenzial-solipsistisch misszuverstehen. Denn das Subjekt wird nicht isoliert in Situationen vorgefunden, in denen es sich allein zu orientieren und schließlich zu wählen hat, als wären die Situationen nur die seinen. Der Sinn einer Situation ist im Gegenteil nie nur der meine, da ich immer schon mit Anderen räumlich-leibkörperlich situiert bin. Zusammengefasst ergibt sich aus der Geschichte des phänomenologischen Begriffs der Situation ein systematisch gehaltvoller semantischer Kern. Er besteht in der Bezeichnung einer nichtobjektiven Wirklichkeit, in deren Relevanz- und Sinnstrukturen Möglichkeiten und Widerstände eingezeichnet sind. Da Situationen uns keine »Daten«, sondern »Motive« (Sartre 1947/2020, 843; Merleau-
VII.7. Politische Affekte
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Ponty 1965, 495) liefern, geht das (implizite) Verstehen einer Situation Hand in Hand mit Handlungsoptionen ebenso wie mit Handlungshindernissen. Für die Politizität von Situation kommt schließlich der Verantwortung besondere Bedeutung zu, der ich in Situationen nicht ausweichen kann. 7. Politische Affekte Gegen ›klassische‹ Sichtweisen einer Trennung von rational begründbarer, öffentlicher politischer Ordnung und irrationalen, privaten Gefühlen haben sich Forschungen gewandt, die Gefühle, Emotionen und Affekte als per se sozial ansehen, wodurch die Separierung in einen emotional ›kühlen‹ Raum des Politischen und einen Vorrat an ›unpolitischen‹ Gefühlen aufgehoben wird. Das hängt insbesondere mit einem Methodenwechsel zusammen, insofern nun statt epistemischen, ontologischen oder psychobiologischen philosophisch-praktische Fragen zentral werden. Die Phänomenologie hat zu diesem Wandel in der Affektforschung einen erheblichen Beitrag geleistet. Um mit der Phänomenologin Sara Ahmed zu sprechen: »Statt zu fragen: ›Was sind Emotionen?‹, werde ich fragen: ›Was richten Emotionen an?‹« (Ahmed 2014, 4) Voraussetzung für die Wendung zum ›Tun‹ der Gefühle ist die grundbegriffliche Verabschiedung von einem Innen/Außen-Modell von Emotionen und Gefühlen, gemäß denen Emotionen als Verhältnisse von äußeren affizierenden Objekten (Qualitäten, Gegenständen, Individuen) zu Binnenzuständen des Körpersubjekts konzipiert werden. Hinsichtlich der Sozialität von Emotionen lässt sich dabei ein inside out model von einem outside in model unterscheiden (ebd., 8 ff.). Das Erstere fasst Emotionen als psychische Zustände auf, die subjektiv erlebt werden und sich anschließend einen sozialen Ausdruck suchen. Letzteres geht den umgekehrten Weg, indem bereits sozialisierte Gefühle als existierend angenommen werden, denen das Subjekt sich seinerseits unterwirft. Dabei besteht das Problem weniger darin, sich zwischen beiden Auffassungen entscheiden zu müssen, als vielmehr darin, dass beide die Unterscheidbarkeit von ›Innen‹ und ›Außen‹ voraussetzen. Versteht man hingegen Emotionen als ›performativ‹, sodass sie diese Grenze zwischen subjektiv und sozial, eigen und fremd, individuiert und symbolisiert überschreiten und gestalten, dann darf sie nicht bereits als gegeben vorausgesetzt werden. Zu den Theorien, die diese Voraussetzung nicht teilen, sondern in denen Gefühle vielmehr als verteilte, zirkulierende Affekte betrachtet werden, gehören phänomenologische Affekttheorien. Es bedurfte in der Phänomenologie keiner ›affektiven Wende‹, um den Affekten theoretisch und begrifflich den gebührenden Raum einzuräumen. Wenn wir die Redeweise von ›affektiver Intentionalität‹ – wie sie seit Merleau-Ponty (1965, 430) üblich ist – als phänomenologischen common sense annehmen dürfen, so ist darunter die Einsicht zu verstehen, dass Affekte auf die Welt bezogen sind, die sie uns erschließen oder auch verschließen,
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sodass sie sich als »kontingente Bindungen an die Welt« (Sartre 1947/2020, 589) bestimmen lassen. Über ihre verschiedenen Ansätze hinweg kommen phänomenologische Affektauffassungen in zwei Thesen überein. Sie gehen erstens von einer sozialen Einbettung der Gefühle in die soziale Welt und in ihre materiell-symbolischen Praktiken aus. Sie setzen zweitens voraus, dass Affekte immer schon geteilte Intensitäten sind, die Empfindung und Empfundenes aneinander binden. In Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung steht das leibkörperlich fundierte Zusammenspiel der Sinne im Vordergrund (Merleau-Ponty 2006, 25). Qualitäten, die wir über unsere Sinne wahrnehmen, sind nicht voneinander gesondert, sondern über eine ›affektive Bedeutung‹ miteinander verbunden. Mit dem Körperschema nutzt Merleau-Ponty eine Konzeption, die sinnliche Wahrnehmung mit Bewegungs- und Affektfunktionen zusammenzudenken erlaubt, insofern es dem Subjekt eine »affective geography« (Whitney 2018, 492) verleiht, das ihm sinnhafte intersubjektive und weltliche Orientierung erlaubt. Affektive Kraft wird dann nicht einem Subjekt als sekundäre Qualität verliehen, sondern strukturiert die Materialisierung der Möglichkeiten, die dem leibkörperlichen Subjekt zu Gebote stehen. In der intersubjektiven Interaktion wirken Affekte, noch bevor die Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung zutage tritt. Beispielsweise sehe ich im Gesicht des Anderen seine Wut, die mich affiziert, wenn er/sie verärgert ist. Ich sehe nicht nur den Ärger im Gesicht des Anderen, sondern ich empfinde ihn zugleich, weil er sich gewissermaßen im Raum des Zwischen ausbreitet (Merleau-Ponty 2006, 41). Interkorporal bedeutet die affektive Dimension des Körperschemas den Einfluss des Anderen und der Welt auf mich wie auch umgekehrt. In jede Sinnkonstitution ist die Zirkulation affektiver Kräfte bereits integriert. Auch in Sartres früher Theorie der Emotionen wird über den Gedanken einer orientierenden Funktion der Gefühle die Bindungskraft an die Welt herausgearbeitet. Die Welt, in die das Bewusstsein emotional geworfen ist, ist eine Welt, in der es ›gefangen‹ ist. Diese »magische« (Sartre 1982/1997, 308) Funktion der Affekte bezeichnet eine doppelte Bewegung: Einerseits ist diese Welt selbst affektiv belebt, das Affektive ist »in den Dingen, im Kern des Dings, es ist seine affektive Textur« (ebd., 309) und andererseits konstituiert die Emotion die Welt als affektiv aufgeladene. Affektive Intentionalitäten sind nicht nur welt-, sondern auch handlungskonstitutiv. Leibkörper werden affektiv in einem Möglichkeitsraum situiert, in dem manche Handlungen nahegelegt werden, andere verschlossen sind. Die von Affekten erschlossenen Möglichkeiten werden also nicht nur passiv erfahren, sondern aktiv ergriffen. Wenn man davon ausgeht, dass Affekte Praktiken formen oder doch zumindest mitgestalten, so lässt sich an Sartres Grundeinsicht, dass die ›Magie‹ der Affekte Welten erzeugt, neu perspektiviert oder zutage treten lässt ( C.I.10), die nicht ohne Affekte auch schon vorhanden, aber eben ›emotionslose‹ Gegenstände wären, sinnvoll und produktiv anschließen. Praktiken als kollektive Vollzugsensembles sind sozial verankert, geteilt und kulturell reprodu-
VII.8. Phänomenologien der Rassifizierung
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ziert. Daher sind Affekte in einer »affective practice« (Wheterell 2012, Kap. 3) nie nur unsere, sondern »Koaffektionen«, die mit Korrespondenzen und Kointentionen Hand in Hand gehen, in denen zweifellos nicht alle das Gleiche tun, aber »eigenes mit fremdem Tun interferiert, […] eines das andere verstärkt, dämpft, hemmt oder auch durchkreuzt« (Waldenfels 2015, 105). 8. Phänomenologien der Rassifizierung Der phänomenologische Begriff der Situiertheit und die phänomenologischen Affekttheorien gewinnen ihre politische Bedeutung derzeit wohl am deutlichsten in den zahlreichen Versuchen, der Erfahrung der Rassifizierung mit phänomenologischen Mitteln auf den Grund zu gehen. Mit Frantz Fanon hat einer der Begründer postkolonialer Theoriebildung phänomenologische Anregungen verarbeitet, um die Erfahrungen des kolonialen Rassismus zu erfassen (was keineswegs heißen kann, dass man ihn allein als Phänomenologen lesen dürfte). In Fanons frühem Werk Schwarze Haut, weiße Masken (Fanon 1952/1980) finden sich Anleihen bei Sartres Existenzialontologie und bei Merleau-Pontys Leibphänomenologie (Fanon war 1947 Hörer Merleau-Pontys in dessen Zeit als Maître de conférence in Psychologie an der Universität Lyon gewesen, vgl. Bentouhami-Molino 2014). Fanon nutzt in diesem Werk eine bricolage aus psychoanalytischem, sozialpsychologischem, literarischem, sprachphilosophischem und phänomenologischem Vokabular, um zu zeigen, dass leib-körperliches Situiertsein in der Welt nicht nur nicht unbeeinträchtigt von rassistischen Verhältnissen, sondern durch sie konstitutiv geprägt ist. Koloniale Rassifizierungspraktiken stören die leib-körperliche Verankerung des In-der-Welt-Seins durch den rassistischen Blick. Dieser macht aus dem Körperschema ein »historisch-rassisches Schema« (Fanon 1952/1980, 72 f.). Ähnlich wie Sartre dies in Réflexions sur la question juive für den Antisemitismus analysiert, zeigt Fanon für die Erfahrungen rassifizierter Subjekte, dass der Blick des Anderen für die soziale Existenz des Ich konstitutiv ist. Wirksam erweist sich dieser Blick darin, dass er nicht schlicht die Behauptung einer Erkenntnis ist, die man kognitiv bestreiten könnte, sondern eine leibliche Relationierung, die die Welterfahrung des Schwarzen praktisch verändert. Das leib-körperliche In-der-Welt-Sein verändert sich mit den Dominanzstrukturen und Herrschaftsdiskursen, die Körpern Plätze in der Welt zuweisen. Es ist nicht so, dass die Anrede oder Ansprache der leib-körperlich fundierten Erfahrungsebene äußerlich bliebe oder auch nur äußerlich bleiben könnte. Indem das Körperschema selbst mit angegriffen und durch ein »epidermische[s] Rassenschema« (ebd., 73 f.) ersetzt wird, verschiebt sich der Platz in der Welt, wird der Leib-Körper disloziert, und gerät in der Konsequenz die Welt selbst aus den Fugen. In der Folge von Fanons Pionierarbeit haben sich die Versuche, mit phänomenologischen Mitteln rassistisch strukturierten Erfahrungen nachzugehen, plura-
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lisiert. Zu ihnen zählen die existenzialphilosophischen Arbeiten von Lewis Gordon, die Vorstöße zu einer Theorie verkörperter rassifizierter Identität von Linda Martín Alcoff (2006) und die Theoretisierung der Latinidad bei Mariana Ortega (2016), die situierte Queer Phenomenology Sara Ahmeds (2000; 2006) sowie die eher philosophisch-genealogisch ausgerichteten Arbeiten einer Critical Philosophy of Race von Robert Bernasconi (2003) (vgl. Gordon 1997; 2000). (Für einen Überblick über das Forschungsfeld vgl. Bedorf 2021b.) Gemeinsam ist diesen phänomenologischen Ansätzen ihr ›Kontextualismus‹. Denn sie stehen zwischen nominalistischen Auffassungen, die aus Überzeugung über die universale Gleichheit aller Individuen Rassifizierungen als reine Äußerlichkeit auffassen, die daher auch ohne Weiteres abzustreifen seien auf der einen Seite; und den Essenzialismen, die von rassischen Differenzen als Naturgegebenheit ausgehen, auf der anderen Seite. Linda Martín Alcoff unterscheidet weiter zwischen einem subjektivistischen und einem objektivistischen Kontextualismus. Während der objektivistische Kontextualismus sozio-historische Größen und Parameter heranzieht, um die Funktion und die Effekte des Rassismus zu erklären, fehlt ihm eine Betrachtung der Erfahrung des Rassifiziertwerdens. Die Alltäglichkeit des Rassismus geht hinter Statistiken verloren. Subjektivistische Kontextualismen tendieren zur Depolitisierung des Zeugnisgebens, indem sie strukturelle Gründe für Erfahrungen ausblenden. Die phänomenologische Aufmerksamkeit für den habituellen Körper hingegen kann jenes implizite Wissen in den Blick rücken, das Rassismus erzeugen, reproduzieren und am Leben halten hilft (Alcoff 2006, 184). Rassistische Wahrnehmungen sind keine rein diskursiven Zutaten eines neutralen Blicks, sondern beruhen auf der Sedimentierung rassistischer Differenzierungen in der Wahrnehmung selbst. Indem Phänomenologien zeigen können, dass Rassifizierungen weder Ergebnis bloßer Konstruktionen noch bloßer Irrtümer vorurteilsbehafteter Weißer sind, tragen sie durch die Beschreibung der Erfahrung selbst zur Sichtbarmachung dieser Erfahrungen bei. Sie sind darin politisch, dass sie es ermöglichen, an diesen sichtbar gewordenen Erfahrungsstrukturen und ihrer Veränderung zu arbeiten. Anhand dieser Kernelemente phänomenologischer Ansätze zeigt sich, dass die Phänomenologien immer schon Optionen für die Theoriebildung politischer Philosophie geboten haben. Sie wird sich dessen gegenwärtig allerdings erst zunehmend bewusst, wo sich Konturen einer politischen oder kritischen Phänomenologie abzeichnen (Bedorf/Herrmann 2019; G. Weiss et al. 2020; sowie die Zeitschrift Puncta). In ihren vielfältigen Positionierungen hat sie sich damit von harmonisierenden Einseitigkeiten der Gründerzeit weitgehend entfernt. Thomas Bedorf
VIII. Feministische Theorie und Gender Studies
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VIII. Feministische Theorie und Gender Studies Ob Phänomenologie und Feministische Theorie oder Phänomenologie und Gender Studies sinnvoll in Beziehung gebracht werden können, war anfänglich umstritten. Aus feministischer und gendertheoretischer Sicht gab es diesbezüglich Vorbehalte: Zum einen präsentiert die Transzendentalphänomenologie Edmund Husserls ein transzendentales Ego, das in seiner körperlosen und ungeschlechtlichen Vernunft und entrückt von der Welt Bedeutungen zu konstituieren vermag; zum anderen schreibt der phänomenologische Ansatz Martin Heideggers dem Dasein, das der Welt zugewandt oder das in Beziehungen ist, den Status der Durchschnittlichkeit und des Verfallenseins zu; und Maurice Merleau-Ponty entfaltet zwar die Geschlechtlichkeit, Sexualität und das Verhältnis des Selbst zur Welt in seinem leibphänomenologischen Ansatz, aber aus einer Perspektive der Allgemeinheit, die die Geschlechterdifferenz zugunsten eines androzentrischen Blicks verschwinden lässt. Gleichwohl erweist sich die Phänomenologie als inspirierender Boden und Weg für Forschungen und Denkansätze in feministischen Theorien und Gender Studies, die ihrerseits nun zu einer provozierenden Herausforderung und kritischer Inspirationsquelle für eine Re-Lektüre und gedankliche Weiterentwicklung der klassischen Phänomenologie geworden sind. Ein feministischer Ansatz bricht mit den Vorstellungen, es gebe eine allgemeine Perspektive auf den Menschen im Singular, auf die Erfahrung oder die Gesellschaft. Geschlechterverhältnisse sind verschränkt mit erkenntnistheoretischen Diskursen, ethischen Normen und politischen Machtverhältnissen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich die Heteronormativität als Strukturierungsinstrument von Gesellschaft und Wissenschaft, das hinterrücks zum Erhalt bestimmter Wissenspraktiken und Herrschaftsverhältnisse eingesetzt ist. Eine große Gemeinsamkeit zwischen Phänomenologie und feministischer Theorie bzw. Gender Studies liegt im methodischen Interesse: Sowohl phänomenologische wie auch feministische und gendertheoretische Ansätze möchten tradierte Dualismen von Subjekt und Objekt, Kultur und Natur, Aktivität und Passivität oder Vernunft und Körper unterlaufen. Beide möchten unausgewiesene Voraussetzungen und Selbstverständlichkeiten, die in unserer alltäglichen Erfahrung und unseren gesellschaftlichen Bedeutungsverhältnissen wirken, herausarbeiten und hinterfragen. Für diese unterschiedlichen Ansätze sind die Erfahrungen und das Subjekt, das als leibliches in der Welt lebend verstanden wird, zentral. Der gemeinsame Nenner einer feministischen Phänomenologie ist die Annahme, dass das leibliche Subjekt als geschlechtliches affizierbar, verletzlich, in Beziehungen mit anderen lebt und sozial in eine Welt der Wissens- und Bedeutungsordnungen, Normen und Werte eingebunden ist. Das Verhältnis zwischen Phänomenologie und feministischer Theorie bzw. Gender Studies hat verschiedene Phasen durchlaufen und ist vielschichtig. Die Geschichte der feministischen Phänomenologie ist lebendig und verzweigt. Nach dem Auftakt in den 1960er- und 1970er-Jahren, über die Heraufkunft der Gender Studies und die Debatten um differenztheoretische Ansätze
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in den 1970er- und 1980er-Jahren wurde eine feministische Phänomenologie ab den 1990er-Jahren entfaltet. Wenngleich der Begriff ›feministische Phänomenologie‹ von Judith Butler 1989 erstmalig genannt und erst später etabliert wurde, können doch die vorherigen Diskurse und einzelnen Studien durchaus unter diesem Titel gefasst werden. Diese Diskurse in ihrer Gänze nachzuzeichnen, kann dieser Beitrag nicht beanspruchen; lediglich einige Überlegungen und Positionen, die im direkten Zusammenhang mit den klassischen phänomenologischen Positionen stehen, werden vorgestellt, um so einen Boden für Kritik und weiterführende Debatten vorzubereiten. 1. Feministischer Aufbruch In Deutschland waren die ersten für eine Geschichte der feministischen Phänomenologie wichtigen Autorinnen Edith Stein (1891–1942), Gerda Walther (1897–1977) und Hannah Arendt (1906–1975). Stein und Walther waren Studentinnen von Edmund Husserl. Walther entwickelte eine Phänomenologie des Mystizismus. Stein (2008) promovierte über das Thema der Einfühlung und war Husserls Assistentin in Freiburg. Sie thematisierte die prekäre Lage der Frau in der Universität (Wobbe 1996). 1938 siedelte sie mit ihrer Schwester Rosa in ein niederländisches Kloster über. Arendt, die selbst stets ablehnte, als Feministin bezeichnet zu werden, war Studentin von Heidegger. Ihre Werke wirkten sowohl im allgemeinen phänomenologischen Diskurs als auch im politischen Denken und in der feministischen Theorie. In Frankreich hatte sich Simone de Beauvoir (1908–1986), auch im täglichen Austausch mit Jean-Paul Sartre, von den Phänomenologen Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty, auch von Levinas beeinflussen lassen. 1.1. Simone de Beauvoir: Das zweite Geschlecht
Politisch engagierte Romane, Essays und biografisch inspirierte philosophische Schriften machen die Pariserin Beauvoir zu einer der einflussreichsten Intellektuellen über die Grenzen Frankreichs hinaus. Aufgrund ihres philosophischen, literarischen und politischen Interesses am ›Anderen‹ (wie etwa in dem 1945 erschienenen Roman Das Blut der anderen), am situierten Körper in der gelebten Erfahrung sowie, wie auch ihr langjähriger Lebensgefährte Jean-Paul Sartre, an der politischen Situation der Zeit gilt sie als Vertreterin einer feministischen Theorie und existenziellen Phänomenologie. Beauvoir war philosophisch von unterschiedlichen Traditionen beeinflusst: sowohl von den historischen feministischen Denker:innen wie Christine de Pisa, François Poulain de la Barre, Mary Wollstonecraft, John Stuart Mill, Virginia Woolf, und Sidonie-Gabrielle Colette, wie auch von existenzialistischen Vorläufern und Philosophen der Ambivalenz wie Søren Kierkegaard und Friedrich
VIII.1. Feministischer Aufbruch
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Nietzsche. Obgleich sich Beauvoir von Sartres teilweise sehr dualistisch gedachten Konzeptionen und androzentrischen Theorien distanziert, impliziert das nicht, dass sie damit auch die existenzialistische oder phänomenologische Bewegung zurückgelassen hätte. Bereits Beauvoirs frühere Werke, wie der 1943 philosophische Roman Sie kam, um zu bleiben und ihr 1947 erschienenes Werk Für eine Moral der Doppelsinnigkeit zeigen, wie stark ihr Denken von phänomenologischen Grundlagen und feministischen Interessen geprägt war. Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (1983) handelt vom grundsätzlichen Problem der Freiheit. Ausgangsort von Beauvoirs Überlegungen ist die These, dass Menschen gleichzeitig Subjekt und Objekt, Immanenz und Transzendenz sind und sowohl getrennt voneinander als auch bedrohlich füreinander leben. Mit diesem Moment der Doppelsinnigkeit, wohlgemerkt nicht Widersinnigkeit, setzt sie sich mit Hegels Dialektik und vor allem mit Sartres Begriff der »Doppelsinnigkeit« (ebd., 81) auseinander. Sie übernimmt die Ausgangsthese des Existenzialismus, dass der Mensch nicht ist, sondern existiert – d. h., sich in jedem Augenblick als Existenz verwirklichen muss, um Subjekt zu sein. Aber sie überschreitet letztendlich Sartres absoluten Existenzialismus, da sie nicht an eine radikale Freiheit des Einzelnen glauben kann (vgl. zum Verhältnis von Beauvoir zu Sartre Bergoffen 1997b; M.A. Simons 1995; 1981/1999; Heinämaa 2003). Denn diese Möglichkeit der Subjektverwirklichung bleibt Frauen versagt. Mit einer Verschiebung des sartreschen Ansatzes rückt sie Merleau-Pontys Konzeption des verleiblichten Subjekts näher. Dieses bleibt stets in einem Verhältnis zwischen Selbst, Leib und Welt eingespannt und erfährt sich als In-der-Welt-Sein. Doch im Unterschied zu ihm benennt sie politisch deutlich, dass soziale Unterdrückung die Geschlechter in zwei Klassen einteilt: in Unterdrücker und Unterdrückte. Den Unterdrückten bleibt die Möglichkeit zur Transzendenz durch die Unterdrückung stets negiert. Husserls Methode der phänomenologischen Reduktion, sein Begriff der Intentionalität und seine Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (Hua I; Hua X) haben Beauvoir beeindruckt und beeinflusst. Husserls Weg dient Beauvoir, um sich gegen Hegel zu wenden und sich für eine Verwirklichung einer Ambivalenz des Seins auszusprechen, die weder eine Transzendenz leugnet noch sich selbst in ihr inhaltsleer verleugnet. Durch die Einklammerung des Willens zum Sein, indem also der Mensch die Möglichkeit des Scheiterns ausschaltet, gelangt dieser »zum Bewusstsein seiner wirklichen Lage« (Beauvoir 1983, 84), ohne den Irrtümern des Dogmatismus oder eines fremden Absoluten aufzusitzen. Die Ambiguität der menschlichen Situation liegt in einer Umformung der husserlschen Intentionalitätsstruktur, die nun eine Aufspaltung erfährt: des Begehrens, »Sein zu enthüllen, und des Begehrens zu sein« (ebd., 82 f.). Der Begriff des Sein-enthüllen-Wollens lehnt sich deutlich an Husserls Konzept der Epoché an (Bergoffen 1997a, 189; Moser 2002, 33). Das andere Geschlecht (1986), das 1949 unter dem Titel Le Deuxième Sexe erschien, gilt als der Beginn des Feminismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Beauvoir thematisiert den Feminismus ihrer Zeit gleich auf den ersten Seiten. Aber
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erst in den 1970er-Jahren, nach einem Treffen mit Alice Schwarzer, engagierte sie sich auch in der Frauenbewegung. Beauvoirs Werk Das andere Geschlecht besteht aus zwei Bänden: Der erste Band handelt von einer wissenschaftlichen, literarischen und philosophischen Analyse von biologischen, psychoanalytischen und historischen Fakten und Mythen über Frauen, Frausein und Weiblichkeit. Gelebte Erfahrung (l’expérience vécue) als Titel des zweiten Bandes weist auf einen bereits in der französischen Phänomenologie eingeführten Begriff, der nun im Zusammenhang des weiblichen Selbst- und Weltverständnisses entfaltet werden soll. Beauvoir geht davon aus, dass sich Frauen in einer spezifischen Situation befinden, in der sie ihre existenzielle Freiheit nicht entwickeln können. In ihrer phänomenologischen Aufarbeitung geht es ihr nicht um die Bestimmung der Frau oder um ewige Wahrheiten. Vielmehr möchte sie »den gemeinsamen Urgrund […] beschreiben, aus dem jede weibliche Einzel-Existenz hervorgeht« (Beauvoir 1949/1986, 264). Für diese Beschreibung verknüpft sie eine dialektisch-materialistische Analyse mit phänomenologischer Explikation im Rückgang auf Hegels Analyse der Herr-Knecht-Beziehung, Heideggers (1979) Begriff des existenziellen In-der-Welt-Seins, Sartres (1993) Freiheitsanspruch der Existenz und insbesondere Merleau-Pontys (1966) Leibphänomenologie. Beauvoir erwähnt Husserl nicht, was aber nicht untypisch in der französischen Literatur der Zeit ist. Doch die Lektüre Husserls (Hua IV) könnte helfen, Beauvoirs Denkbewegungen besser nachzuvollziehen (Heinämaa 2003). Beauvoir bleibt durch ihren Fokus auf die von Merleau-Ponty nach Husserl weiterentwickelten Beschreibungen des Körpers und der lebendigen Erfahrung methodisch der Phänomenologie zugehörig (Kruks 1990; Heinämaa 2003; S. Stoller 2010). Sie lehnt aber Sartres These der Freiheit der Existenz ab, da Frauen aufgrund ihres Schicksals und ihrer Situation nicht frei seien. Sie seien in ihrer spezifischen Situation und in einer für sie ungünstigen Weise den Männern und den männlich konnotierten gesellschaftlichen Normen ausgesetzt. Scharf beobachtet sie, dass die von Sartre (1946/1994) gesetzte freie Wahl, die er in Der Existenzialismus ist ein Humanismus propagiert, für Frauen keine lebbare Realität sei. Mit dieser Beobachtung verschiebt Beauvoir die Begriffe der Transzendenz und Immanenz. Transzendenz bezeichnet nun nicht mehr, wie noch in Sartres Das Sein und das Nichts, die Existenzweise des Subjektes, durch die es sich frei, ohne Einschränkungen der Intentionalität, entwerfen kann. Beeinflusst von ihrer Lektüre von Hegel und Marx, aber auch durch die Beobachtung, dass für Frauen vorgezeichnete bestimmte Praktiken und Erziehungsstile, Hausarbeit und Schönheits- und Verhaltensansprüche gelten, setzt Beauvoir den Tätigkeitsbereich der Frauen mit Immanenz und den traditionell männlichen Bereich mit Transzendenz gleich. Ähnlich den Sklaven wird den Frauen in vielen Kulturen eine »Situation zugewiesen, da sie keine andere Möglichkeit haben, als die von den Männern geschaffenen Gesetze, Güter, Sitten und Wahrheiten passiv hinzunehmen« (Beauvoir 1983, 101). Der Leib »ist« eine Situation, schreibt sie mit Bezug auf die Ge-
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schlechtlichkeit, denn »wenn in der Perspektive, die ich mir zu eigen mache – es ist diejenige von Heidegger, von Sartre, von Merleau-Ponty –, der Leib nicht eine Sache ist, so ist er doch eine Situation; er ist unser Mittel zur Erfassung der Welt« (Beauvoir 1949/1986, 48). Mit dieser Bemerkung knüpft sie nicht nur unmittelbar an Merleau-Pontys (1966) Phänomenologie des Leibes an, sondern sie beeinflusst so auch die Entwicklung einer feministischen Phänomenologie. Der Leib hat nicht einfach einen Kontext, sondern er wird leiblich gelebt – wie auch Judith Butler (1997b, 184) später schreiben wird. Der Leib ist nicht einfach ein biologisches Objekt, sondern Subjekt der Erfahrung ( C.I.9). Inspiriert vom phänomenologischen Stil des Fragens nach dem ›Wie‹ geht Beauvoir drei Fragen nach, die jeweils das Thema der Erfahrung, des Leibes, der geschlechtlichen Differenz und der Sexualität berühren. Diese Fragen sind nicht neu, werden nun aber neu gewendet: Wie wird »weibliche Wirklichkeit« (Beauvoir 1949/1986, 22) oder geschlechtliche Differenz erfahren? Wie ist die Frau als Andere definiert worden? Und wenn die Frau als Andere definiert ist, wie kann dann aus der Situation der Frau die Welt beschrieben werden, wie sie ihr dargeboten wird? Wer sich diesen Fragen nähert, wird – so schreibt Beauvoir 1949 – das »Drama der Frau« (ebd., 21) verstehen, auf das sie – die Frau – stößt. Dieses Drama wird dargestellt als ein Konflikt zwischen dem Anspruch des Subjektes, das sich als wesentlich mit seinem »männlichen Prestige« (ebd., 640) setzt, und der situativen Zumutung, die sie – die Frau als ›Andere‹ – als unwesentlich kon stituiert. Beauvoir verknüpft die gelebte Erfahrung mit dem Werden der Frauen als Frauen. Sie zeichnet minutiös deren Empfindungen, Gefühle und Erfahrungen nach und rekonstruiert, was diese aufgrund der zugeschriebenen Lage empfinden (ohne dass sie sich notwendig dessen bewusst sind). Diese Art Selbstbeschreibung ersetzt die Fremdbeschreibung, die sich häufig als Fremdzuschreibung herausstellt. Die Beschreibungen dessen, was ›man‹ tut, zulässt oder verhindert, offenbart die vielen Situationen, durch die und in denen Frauen und ihre Empfindungen formiert werden. Die gesellschaftlichen Praktiken – hier die der 1950erJahre – bewirken, dass man Jungen und Mädchen unterschiedlich gegenübertritt und die Mädchen als Mädchen entsprechend normiert und behandelt. Sie erleben unter dem Blick des Anderen das »Drama des Existierens, d. h. das Drama seiner Beziehung zum Anderen« in einer jeweils formenden Weise, die zur »Verlassenheit«, »Angst« oder auch zu »glücklicher Passivität« führen kann (ebd., 266 f.). An Geschichten aus Alltag, Literatur und Psychologie wird das, was an Erfahrungen erlebt, an körperlichen Zuschreibungen erlitten, an Enttäuschungen beeinflusst oder an Aktivität oder Passivität erwartet wird, zu einer Genese der sexuellen Differenz und zum Werden der Frau zusammengesetzt. Die Frau ›erlernt‹ ihr Frausein und ›empfindet‹ es sogar entsprechend. Das heißt, die Bedeutungsformierung greift in die Erfahrungen, Gefühle und Empfindungen selbst ein. In diesem Kontext diskutiert Silvia Stoller, ob »eine Philosophie aus der Perspektive der gelebten Erfahrung […] an sich […] schon eine Phänomenologie der
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Erfahrung« ist und inwiefern Beauvoirs »Gleichsetzung von Erfahrung (expérience) und Empfindung (sentiment) […] problematisch« erscheint (S. Stoller 2010, 169). Beauvoirs Konzeption, die im berühmten Satz »Man ist nicht als Frau geboren, man wird es« (Beauvoir 1949/1986, 264) gipfelt, expliziert, dass Weiblichkeit und Frausein auf Erziehung und Sozialisation beruhen. Durch sie wird die Bedeutung einer geschlechtlichen Differenz und des Werdens einer Frau mit ihren Empfindungen und Erfahrungen konstituiert. Doch kann ihre Konzeption nicht schlicht auf eine sex/gender-Unterscheidung oder auf die Sozialisation von Frauen und ihren Rollen hin reduziert werden. Natur (sex) liegt ihr zufolge dem Geschlecht nicht einfach zugrunde. Natur wird interpretiert und ihr werden Werte zugeschrieben. Mit dieser Position ist Beauvoir nicht nur Initiatorin einer feministischen Existenzphänomenologie, sondern auch Vorgängerin der Gender Studies. Luce Irigaray kritisiert Beauvoir in Bezug auf die Frage, welche Rolle die Psychoanalyse spielen sollte. Aus dieser Kritik heraus formuliert sie die These: »Ich bin als Frau geboren, aber ich muss die Frau werden, die ich von Natur aus bin.« (Irigaray 1992, 168) Die Annahme unterschiedlicher vorgegebener Strukturen deutet bereits auf Unterschiede zwischen den beiden Autorinnen hin. Doch teilen sie beide eine radikale antinaturalistische Position in Bezug auf den Körper und das Geschlecht, weil ihr Denken auf ähnlichen phänomenologischen Grundlagen basiert. 1.2. Die Gebürtlichkeit der Menschen
Eine von den feministischen Diskussionen lang verschmähte originelle Denkerin des 20. Jahrhunderts ist die 1906 in Hannover geborene und 1975 in New York verstorbene Hannah Arendt. Bevor sie 1933 nach Frankreich und dann 1941 in die USA emigrierte, studierte sie in Marburg, Freiburg und Heidelberg Philosophie, Evangelische Theologie und Klassische Philologie. Der Einfluss der antiken und modernen Klassiker, wie etwa Platon, Aristoteles, Augustinus, Kant, Machiavelli, Montesquieu und Tocqueville, sowie ihre Auseinandersetzung mit der hermeneutischen Phänomenologie ( B.III.3) von Martin Heidegger und der Existenzphilosophie ( B.III.2) von Karl Jaspers bleiben in Arendts philosophischen, politischen und literarischen Werken sicht- und spürbar. Heideggers Kritik an der abendländischen Philosophie, sein Entwurf einer ontologischen Basis eines neuen Weltverständnisses ebenso wie Jaspers Begriff der ›Existenzerhellung‹ (Jaspers 1932) stehen, wenn auch in unterschiedlicher Weise, in einer von Husserl geprägten Denktradition. Von daher ist auch Arendts Denkstil eingebettet in die phänomenologische Tradition der Suche nach dem »Verstehen« (Arendt 1996, 53), der Konstitution von Erfahrungen und Tätigkeiten der Menschen. In einem 1946 geschriebenen Aufsatz »Was ist Existenzphilosophie?« setzt sich Arendt mit ihren phänomenologischen und existenzphilosophischen Wurzeln
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auseinander. Sie wird Husserl in ihren späteren Texten gar nicht erwähnen, bewundert ihn aber dafür, dass er als Initiator der Phänomenologie den Menschen durch den Aufweis der »intentionalen Struktur des Bewusstseins die Heimat in der Welt« garantiert hat, nämlich dadurch, dass »ich die Gegenstände meines Bewusstseins ›habe‹« (Arendt 1990, 7). Arendt zeigt in einem »phänomenologischen Rekonstruktionsversuch« auf, wie Husserls Bewusstseinsanalyse, die zwar der Existenzphilosophie wenig zu sagen hatte, doch befreiende Momente aufweist: Husserl befreie nicht nur die moderne Philosophie von den »Fesseln des Historismus« und des Psychologismus – auch versuche er die Welt wieder menschlich zu machen, indem er auf »kleine Dinge« aufmerksam mache, damit der Mensch, und nicht einfach ein geschichtlicher, psychologischer oder biologischer Ablauf, »Thema der Philosophie werden konnte« (ebd., 10). Heidegger und Arendt interessieren sich beide für die Stellung der Menschen in der Welt und für das Verhältnis von Sein und Denken, von Wesen und Existenz, von Existierendem und dem durch Vernunft fassbaren Was des Existierenden. Diese Grundkonstellation entfalten beide mithilfe ähnlicher Wörter. Doch weil Arendt Heideggers Denken öffnet und zum Teil umkehrt, bekommt dieses Vokabular eine neue Bedeutung und hat andere interpretative Konsequenzen. Der Mensch ist keine Substanz, man kann nur nach dem ›Wer‹ eines Menschen fragen, so äußern sich beide (Heidegger 1979, 114; Arendt 1987, 169 f.). Aber Heidegger verwendet den Ausdruck ›Mensch‹ nicht mehr, denn das Sein des Menschen nennt er schlicht Dasein und gibt diesem, vor allem in den späteren Schriften, eine gottähnliche, ontisch-ontologische Vorrangstellung. Das Dasein ist nicht einfach, sondern es hat eine Grundstruktur der ›Sorge‹, bei der es ihm um sein Sein selbst geht. Arendt übernimmt den Begriff der Sorge, allerdings nicht im Sinne einer rückbezüglichen Selbstsorge, sondern – und hier liegt eine Umkehrung der heideggerschen Philosophie – als Sorge um die Welt. Ihr Buch Vita activa sollte zuerst Amor mundi heißen, denn der Slogan »für die Welt zu sorgen und die Welt als Zwischenraum« (Arendt 1993, 23) zu verstehen, in dem für die Menschen gesorgt wird, umschreibt am besten, worauf sich Arendts Interesse richtet und worum es im politischen Handeln gehen sollte ( D.VII). In einer kritisch-dialogischen Hermeneutik und phänomenologischen Strukturanalyse stellt Arendt in Vita activa oder Vom tätigen Leben (1960/1987) die Frage: ›Was tun wir, wenn wir tätig sind?‹ Diese Frage ist mit der Frage ›Was ist Politik?‹ verbunden (Arendt 1993). Arendt fragt und schreibt vor dem Hintergrund eines Totalitarismus und der Gräueltaten während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, in der die Grundkategorien des Denkens und das Politische zusammengebrochen waren. Sie reagiert auf eine moderne ›Weltentfremdung‹, in der Denken und Handeln auf die Ebene eines utilitaristischen Pragmatismus und auf die Funktionalität und Prozesshaftigkeit der Arbeits- und Massengesellschaft reduziert wurden. Die Folge war die Zerstörung der politischen Handlungsdimension. Der englische Titel The Human Condition (Arendt 1958) macht deutlich, dass es ihr um die Bedingtheit und Verfasstheit der Men-
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schen geht, deren Beziehungen zur Welt sich unter dem Eindruck des Nationalsozialismus radikal geändert haben. Der Begriff conditio humana bezeichnet eine ›politische Kategorie‹ sowie ein anthropologisches ›dynamisches Grundprinzip‹ von natürlichen und geschaffenen Bedingungen, welches nicht als feststehende Struktur oder Anzahl von Eigenschaften gesehen werden kann. Mit dieser Auffassung folgt Arendt Heideggers Kritik an der traditionellen Metaphysik und der gegenwärtigen Massengesellschaft. Sie knüpft an seine Daseinsanalyse an, die er unter den Aspekt des In-der-Welt-Seins, des Verfallenseins, auch der Mitwelt und Sorge gestellt hat. Hierdurch habe er »für Philosophen Möglichkeiten geschaffen, den politischen Bereich zum Gegenstand des Denkens zu machen« (Benhabib 1998, 97). Aber sie wendet sich auch von Heideggers Daseinsanalyse kritisch ab, weil er durch seine These, dass die »Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung« aller Seinsmöglichkeiten die »Seinsweisen des Man, das, was wir als ›die Öffentlichkeit‹ kennen« (Heidegger 1979, 127), den »Abfall von sich selbst« (Arendt 1990, 34) konstituiere und die darunterliegende Vereinzelung des Selbst bewirke. Dieses von Heidegger an die Stelle des Menschseins gesetzte Selbstsein verkürzt die von Arendt als grundlegend anerkannte Pluralität der Menschen auf die Existenzform der Eigentlichkeit. Wenn sich so das Selbst »als Gewissen an die Stelle der Menschheit gesetzt« hat und in »mythologisierenden Unbegriffen wie Volk und Erde« diesen »isolierten Selbsten« eine gemeinsame Unterlage untergeschoben wird, dann ist es »evident, daß derartige Konzeptionen nur aus Philosophie heraus- und in irgend einen naturalistischen Aberglauben hineinführen können« (ebd., 38). Diese Interpretation weist auf Heideggers Nähe zum Nationalsozialismus hin. In einer weiteren Interpretation der heideggerschen Gedanken des Verfallenseins des Selbst folgt sie zum Teil Heideggers Kritik an der Massengesellschaft und dem damit einhergehenden Problem des »Konformismus« und eines »einheitlichen Sich-Verhaltens«; jedoch kritisiert sie ihn dafür, dass der öffentliche politische Bereich zunichte gemacht wird und eine »gemeinsame Welt« verschwindet (Arendt 1987, 41 f., 57). Anknüpfend an die griechische Antike, hier insbesondere an Aristoteles, aber auch an die Philosophie Augustinus’, wendet Arendt Heideggers Vorstellung von Welt und Öffentlichkeit hin zur Pluralität und zum Denken eines Beziehungszusammenhangs zwischen den Menschen. Pluralität und Beziehung sind entscheidend für die Konstitution eines politischen Raums. Die Öffnung des Heidegger’schen Weltbegriffs gelingt Arendt dadurch, dass sie seine Bestimmung des Seinscharakters des Daseins als »Geworfenheit in den Tod« (Heidegger 1979, 308) umwendet in eine Philosophie der Natalität, die das Geborensein der Menschen als konstitutiv für ihr Anfangenkönnen in der Welt setzt. Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen. (Arendt 1987, 165)
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Arendt erwähnt die Tatsache der Geburt in vielen ihrer Schriften. Die Tatsache des Geborenseins ist für die Arendt’sche politische Theorie zentral. Die Geburt wird mit gedanklichem Schwung der Gebürtlichkeit, also Natalität gleichgesetzt. Sie verleihe, so Arendt, dem Menschen die Fähigkeit des Anfangens, welche für die Pluralität und für die Beziehungen zwischen den Menschen und die Möglichkeit des politischen Handelns und Sprechens grundlegend ist. Entsprechend schreibt sie in Vita activa: »[W]ill man den Jemand, der einzigartig in jedem neuen Menschen in die Welt kommt, bestimmen, so kann man nur sagen, dass es in Bezug auf ihn vor seiner Geburt ›Niemand‹ gab« (ebd., 167). Wie genau die Tatsache des Geborenseins strukturell und phänomenologisch verstanden werden kann, haben in Anknüpfung an unter anderem Arendts These der Natalität verschiedene Phänomenologinnen entfaltet. Der Ausdruck ›in Bezug‹ wird von Adriana Cavarero in dem Sinne interpretiert, dass eigentlich eine Andere, die sich ›in Bezug‹ auf jemand Neues ›tragend‹ eingesetzt hat, immer schon mitgemeint werden muss. Diese andere Person hat »auf dem Schauplatz der Geburt jenen kon stitutiven Aspekt des Erscheinens [garantiert], durch den das Ex-istieren in seiner phänomenalen Gegebenheit in erster Linie als Beziehung definiert ist« (Cavarero 1997, 211). Arendts Werk erfuhr von feministischer Seite Ablehnung und Zustimmung, unberührt ließ es seine Leser:innen kaum. Arendt selbst interessierte sich wenig für die sozialen Fragen, die über die Identität einzelner Gruppen angesprochen wurden – daher setzte sie sich auch nicht für die Frauenbewegung ein. In den 1970er- und 1980er-Jahren haben Feministinnen nach der ›Frauenfrage‹ in Arendts Texten gesucht und diese nicht gefunden. So meinte etwa Adrienne Rich, dass Vita activa ein »hochmütiges und verkrüppeltes Buch« sei, welches »die Tragödie des weiblichen Geistes, die sich an der männlichen Ideologie nährt, verkörpere« (Rich 1979, 211 f.). Die positive feministische Rezeption von Arendt setzte mit Nancy Hartsocks (1983a) Beobachtung ein, dass in Arendts Werk ein sich entwickelnder Feminismus hervorscheine, da sie die Natalität mit politischem Handeln verknüpfe und ihren Machtbegriff mit einer Uminterpretation in ein Konzept eines gemeinsamen, praxisorientierten Handelns aus dem hierarchischen Herrschaftskonzept herauslöse. Feministische Theoretikerinnen, die aufgrund der Tatsache, dass Arendt eine Frau ist, glauben, sie müsse nun auch eine gynozentrische politische Theorie entlang von Gender-Dualismen entwickeln, werden enttäuscht. Diejenigen, die sehen, dass Arendt Geschlechterbinaritäten transzendiert (Dietz 1995) oder überschreitet (Zerilli 1995), kritisieren Arendt dennoch dafür, dass sie den privaten und den öffentlichen Raum trennt. Eine breite Debatte über zentrale Strukturelemente in Arendts Texten wurde ab den 1980ern geführt, die sich deutlich abgrenzt von essenzialistischen oder identitätspolitischen Definitionen, was ›eine Frau‹ sei (Honig 1995a; Vasterling 2011). Hierzu zählten etwa Fragen, ob der politische Raum eher agonistisch (Honig 1995b) strukturiert oder narrativ-assoziativ (Benhabib 1998; Kristeva 2001) fundiert wird; welche Rolle der ›Paria‹ (Arendt 1978) spielt (der Paria ist
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ein Mensch, der wegen besonderer Merkmale zum Außenseiter der Gesellschaft wird); oder ob die binären oder trinären Strukturen in Arendts Werk feministisch weiterentwickelt werden können oder gerade einem feministischen Denken entgegenwirken. Ein wichtiger Strang hin zur Verknüpfung einer politischen Theorie mit Phänomenologie ist Arendts weitergedachte Orientierung weg von einer Subjektphilosophie hin zur Konstitution einer Welt zwischen den Menschen und einer Welt als solcher. Feministische Theorien haben seit den 1990er-Jahren die Suche nach einer analytischen Kategorie des Begriffs ›Frau‹ auch mithilfe der Gender Studies, der Racial Theory und der Queer Studies verabschiedet. Deshalb können sie nun leichter an Arendts grundlegende Ansprüche – den ursprünglichen und radikalen Anspruch auf politische Freiheit, auf eine politische Praxis des Neuanfangens, der Weltgestaltung und der Beziehung von Denken, Urteilen und Handeln – anknüpfen. Ein Beispiel hierfür ist Linda Zerillis (2005) Buch Feminismus und der Abgrund der Freiheit, das für eine Neuorientierung des Feminismus plädiert und für einen radikalen Anspruch der Frau auf politische Freiheit, auf die politische Praxis des Neuanfangens und der Weltgestaltung eintritt. 2. Gender Studies Die Gender Studies haben sich aus der feministischen Bewegung heraus in den 1980er-Jahren in Deutschland etabliert. Zum Etablierungsschub kam es unter anderem durch die Soziologin Carol Hagemann-White (1984), die die Herleitung der Zweigeschlechtlichkeit aus den biologischen Grundlagen infrage stellte. Butlers viel diskutiertes Buch Das Unbehagen der Geschlechter (1990/1991) führte dazu, dass das Geschlecht als ein Ergebnis von Diskursen gesehen wurde. Der Poststrukturalismus, etwa mit Joan Wallach Scott (1994), trug zudem dazu bei, dass der Begriff Gender zur Analysekategorie der Wissenschaftsforschung des 20. Jahrhunderts erhoben wurde. Der Fokus der Gender Studies richtet sich speziell auf Fragen der Konstitution von Geschlecht und Geschlechterdifferenz. Neben den Einflüssen dieser genannten Richtungen bietet auch die Phänomenologie wichtige Anknüpfungsstränge für diese Fragen. Die Gender Studies (sowie die Queer Studies) gründen auf einem gemeinsamen feministischen Ansatz hinsichtlich folgender geteilter Postulate: Das Geschlecht ist zentral für die Theoriebildung, die gegenwärtigen Geschlechterverhältnisse sind problematisch und weder naturgegeben noch unveränderlich. Der prominenteste phänomenologische Bezugsautor für viele Autor:innen der Gender Studies und der feministischen Phänomenologie ist Merleau-Ponty. Er hat den Körper als geschlechtlich differenziert im Verhältnis zu Anderen, zur Welt und Geschichte und im Kontext der Sexualität thematisiert. Gleichzeitig hat er den Status des Subjektes hinterfragt und dann in seinem späteren Werk Das Sichtbare und das Unsichtbare versucht, mit dem Begriff des Chiasmus die prinzi-
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pielle Verschränkung von Subjekt und Objekt nicht mehr als dualistische Trennung aufzufassen, sondern diese Verschränkung wirklich neu zu denken. Die von der Phänomenologie am meisten beeinflussten Richtungen der Gender Studies sind differenztheoretische und poststrukturalistische Ansätze. 2.1. Differenztheoretische Ansätze
Differenztheoretische Ansätze versuchen in sehr unterschiedlicher Weise, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern zu bestimmen. Der Verdacht eines Essenzialismus, also der Frau aufgrund wesentlicher Strukturen eine Stimme zu geben, hat diese Ansätze stets begleitet. Ob sich ein Verdacht jeweils als begründet erweist, bleibt eine offene Diskussion. Im folgenden Abschnitt werden die gedanklichen Linien von Luce Irigaray und Adriana Cavarero vorgestellt. Luce Irigaray ist eine französische Psychoanalytikerin, Psycholinguistin, Philosophin und Kulturtheoretikerin. Sie ist im Zusammenhang der Phänomenologie besonders bekannt für ihre Werke wie Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts (1980) und Das Geschlecht, das nicht eins ist (1979) sowie Ethik der sexuellen Differenz (1991). Ihr Buch Speculum hat in der Lacan’schen Schule für Kontroversen gesorgt, weil Irigaray es wagte, als Frau und Feministin Freud genau zu lesen und vor allem zu hinterfragen. In Speculum legt Irigaray eine dualistische Bestandsaufnahme der Geschlechter vor, die unser Ordnungssystem als Phallokratie darstellt. Eine Phallokratie setzt den Phallus und Logos – hier zeigen sich Irigarays Bezüge zu Jacques Derrida – in eins und stilisiert den Phallus – bei Lacan als Zeichen des Begehrens – als das Eine des Mannes zur Universalinstanz, weil diese die Frau zur Ware und zum Tauschobjekt zwischen Männern herabwürdigt, wie Irigaray im Rückgriff auf Marx’ Theorie kritisiert. Somit begreift Irigaray in ihrer Dekon struktion, im Unterschied zu den meisten Feministinnen wie z. B. Judith Butler, die abendländische Kultur als homosexuell, also als auf einem Geschlecht gründend, und nicht als heterosexuelle Zwangsgemeinschaft, die eine nur von ›männlichen‹ Parametern aus gedachte Spiegelfrau des Patriarchats aufzuweisen hat (Irigaray 1979; 1980). Deshalb ist es ihr Anliegen in einer Beziehung der radikalen Differenz, die Frau mit ihrem Körper, ihrem Begehren und ihrer Sexualität zum Ausdruck zu bringen. Denn es muss ein »Zwischenraum« und »eine Symbolik zwischen Frauen geschaffen [werden], wenn es Liebe zwischen ihnen geben soll«, so ihr Plädoyer (Irigaray 1991, 125). Hierzu erfindet Irigaray eine Art und Weise der weiblichen Lust, die die Schamlippen als Ort – wohl eher theoretisch – erfährt, wo das Begehren körperlich und verbal spricht. Die Frau ›berührt sich‹ immerzu, ohne dass es ihr übrigens verboten werden könnte, da ihr Geschlecht aus zwei Lippen besteht, die sich unaufhörlich aneinanderschmiegen. Sie ist also in sich schon immer zwei, die einander berühren, die jedoch nicht in eins (einen) und eins (eine) trennbar sind. (Irigaray 1979, 23)
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Mit Überlegungen der Analogie zwischen Schamlippen und Mund setzt Irigaray Körper und Sprache in eins und will damit nicht eine starre Theorie konzipieren, sondern weibliches Sprechen in fließenden Wellen finden. Ob diese Versuche einem Essenzialismus gleichkommen oder ob Irigaray nicht biologisch, sondern symbolisch und metaphorisch, das Weibliche in der Schwebe lassend, spekuliert und von daher eine identitäre Position vertritt, wird kontrovers diskutiert (Schor 1992; S. Stoller 2010). Obgleich Irigaray Merleau-Pontys und Levinas’ Schriften gelesen und diese auch kommentiert hat, bleibt ihr Denken eher von der Psychoanalyse von Lacan und vom Denken der Dekonstruktion ( B.III.4) von Derrida beeinflusst. Produktiv nimmt sie Merleau-Pontys Konzept des Chiasmus auf, das gegen einen cartesianischen Dualismus gewendet ist und den »Austausch Ich – Anderer«, »zwischen mir und der Welt, zwischen dem phänomenalen Leib und dem ›objektiven‹ Körper, zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen«, umfasst (Merleau-Ponty (1964/1986, 274). Chiasmus bedeutet nicht ein drittes Element zwischen den Polen einer dualistischen Gegensatzspannung wie Aktivität oder Passivität, Ich oder Welt, die einander ausschließen. Vielmehr ermöglicht ein Chiasmus »ein ganz neuartiges Differenzierungsmodell« (S. Stoller 2010, 343), das problemlos auf die Frage nach dem Geschlechterverhältnis angewandt werden kann. Chiasmus bedeutet nicht einfach Vermischung der vormals als getrennt oder gegensätzlich gedachten Pole. Es bedeutet Implikation, Substitution und Komplementarität. »Männlichkeit impliziert Weiblichkeit usw. Grundlegender Polymorphismus, der bewirkt, dass ich den Anderen nicht vor den Augen des Ego konstituieren muss: er ist schon da, und das Ego ist ihm abgerungen.« (Merleau-Ponty 1964/1986, 281) Den Aspekt der Verschränkung und der Zwischenleiblichkeit, die niemals auf eine Vermischung hinauslaufen noch absolute Trennung bedeuten, zeigt Merleau-Ponty mit dem Bild von zwei Händen, die sich berühren. Der Berührende ist der Berührte und umgekehrt – sie bleiben in Differenz, aber doch in der Berührung als Einheit, sie bleiben eine Einheit in meinem »taktilen Erleben« (ebd., 194; Levinas 1986), aber doch differenziert. Silvia Stoller (2000) etwa argumentiert hier, dass Merleau-Pontys Begriff der ›Anonymität‹ die Geschlechterdifferenz und Differenzierung hilfreich verständlich machen könne (Sullivan 2000). Chiasmus bedeutet für Irigaray (1979) ein Denkmodell der Differenz in der Einheit, die Differenz ist, entsprechend ihrem Titel, »das Geschlecht, das nicht eins ist«. Da Irigaray in ihrem Ansatz nur die Frau im Blick hat, die nicht eins ist, läuft sie Gefahr, trotz eines bedenkenswerten Differenzierungsmodells, letztendlich doch einen Geschlechterdualismus zu reproduzieren. Merleau-Pontys und Irigarays Verständnisse des Chiasmus bzw. des Fleisches sind in unterschiedlichen feministischen Theorien der Gegenwart kritisch oder zustimmend integriert und weiterentwickelt worden (Grosz 1993; Chanter 2000; Olkowski 2000). Adriana Cavarero lehrt Politische Philosophie an der Universität von Verona und ist eine Hauptvertreterin des feministischen Diskurses »Pensiero della diffe-
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renza sessuale« sowie Gründerin der Philosophinnengruppe DIOTIMA in Italien. Auch wenn ihr philosophischer Ausgangsort in Platon zum Trotz (1992), Relating Narratives: Storytelling and Selfhood (2000) oder Inclinations (2016) in der Antike liegt, diskutiert sie ebenfalls Autoren der Moderne und des 20. Jahrhunderts, wie etwa Thomas Hobbes, Heidegger oder Levinas, und lässt sich auch von Literaten wie William Shakespeare, Ingeborg Bachmann, Virginia Woolf oder Gertrude Stein inspirieren. In der Antike bezieht sie sich produktiv auf weibliche Figuren wie etwa Penelope, die thrakische Magd, Demeter oder Diotima. Ähnlich wie auch Heidegger knüpft sie kritisch an Platon an und wendet die symbolische und ontologische Ordnung der metaphysischen Tradition. So skizziert sie etwa das Lachen der thrakischen Magd als Symbol für eine weibliche symbolische Ordnung, das einem philosophischen Denken mit trügerischem Begriffsgebäude die »Stützpfeiler wegzieht« (Cavarero 1992, 89; Schües 2008; 2013). Cavareros phänomenologische Bezüge gehen zurück auf Heidegger, mit dem sie, neben dem Bezug zur Antike, auch die Frage nach der Grundkonzeption des Daseins teilt. Wie Arendt kritisiert sie die damit verbundene Lebenswirklichkeit und eine Perspektive, die sich obsessiv auf den Tod richtet. Cavarero greift Arendts Konzepte der Natalität und des Erzählens von Geschichten auf und versucht so, das geborene Subjekt aus erzähltheoretischer Perspektive zu rekonstruieren (Arendt 1987; 1979; Cavarero 1997; 2000). Wie Arendt kritisiert sie, dass sich die Philosophiegeschichte immer nur dafür, ›was‹ der Mensch ist, interessiert habe, aber nicht dafür, ›wer‹ er ist (Arendt 1987, 169; Cavarero 1997, 214; 2000, 13). Die Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit des Subjektes verlange aber nach einer ihm angemessenen Form der Darstellung. Sie aber entspricht weniger dem rationalen Denken, als dem Erzählen von Geschichten, wer jemand ist. Heidegger interpretiert die Existenz des Menschen als ein Ek-sistieren. »Ek-sistenz bedeutet inhaltlich Hinaus-Stehen in die Wahrheit des Seins« (Heidegger 1991, 18). Diese Ansicht wendet Cavarero, im Einklang mit Arendt, zur Tatsache, dass die »Existenz jedes Existierenden die Geburt ist« (Cavarero 1997, 207). Hatte Arendt noch die Frage, woher der Mensch komme, mit ›aus dem Nirgends‹ beantwortet, so fragt die Natalitätsphänomenologie, von wem die Existierende geboren sei. Die Wendung von der Sterblichkeit hin zur Natalität, also zur Frage, ›von wem‹ jemand geboren sei, führt nicht zur Sentimentalisierung oder Hofierung von ›Mutterschaft‹, sondern zur Sichtbarmachung des »Schauplatzes der Geburt« (Cavarero 1997, 211), der durch die gebärende Frau und dem geborenen Kind garantiert wird. Die »Beziehung ist der Anfang« (ebd., 210), eine Beziehung, die hier im Rückgriff auf Jean-Luc Nancy (1988b) Gemeinschaft bedeutet, insofern sie Mit-Erscheinen, auch eine Mit-Konstitution, eine »leibliche Co-Konstitution« (Schües 2016a, 371 f.), durch jeweils Andere beinhaltet. Gegen die abendländische Tradition gewendet, vertritt Cavarero die These, dass die Frau, die auf dem Schauplatz der Geburt und der unabweislichen Geschlechterdifferenz »in Erscheinung tritt, […] keine metaphysische Substanz, kein kollektives Gespenst und keine Essenz« ist (Cavarero 1997, 223). Dem
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möglichen Vorwurf eines unfundierten Dualismus ausweichend, ist das Einzigartige »immer absolut und unwiderruflich different« und als solches erscheint es auch. »Materielle und relationale Kontextualität« erzeugt die Sinngebung des Selbst und verhindert somit ein statisches, fest bestimmtes Geschlecht als »Wiedererkennungsfigur« (ebd., 224 f.). Wie die Schauplätze des Miterscheinens eröffnet werden, hängt für Cavarero davon ab, wie die Sprache spricht, wie Geschichten erzählt werden, welche Bedeutung der ›Rest‹ neben, vor oder nach dem Mit-Erscheinen durch diskursive Strategien oder politische Taktiken bekommt. Die These, dass der Mensch nicht Eins ist, sondern Zwei (oder mehr), also die Geschlechterdifferenz grundlegend ist, wird von differenztheoretischen Denker:innen gegen die abendländische Tradition der Metaphysik des Seins und des Subjektes eingewendet. Sie habe, so der Vorwurf, mit dem Begriff des ›Seins‹ sogar die Verbergung der Geschlechterdifferenz verhüllt – also selbst das Neutrum als ausgeschlossenes Drittes eines Weder-noch vergessen. Bei einigen zeitgenössischen Philosoph:innen weist der Gebrauch des ›Neutrums‹ auf die in der Philosophie verschleierte Geschlechterdifferenz hin. Für Levinas (1997a) hat das Neutrum einen Platz im Zusammenhang des Ursprungs als Undifferenziertheit des Seins – als il y a, Element, Anonymität, Unpersönliches, konstruiertes Neutrales (Tommasi 1989, 111). Cavarero nennt die Verschleierung der Geschlechterdifferenz eine Ungeheuerlichkeit, weil so das rationale Denken die Geschlechterdifferenz noch nicht einmal thematisieren kann, sondern sie nur als unwesentliche Spezifizierung den Menschen – also den Frauen – hinzugefügt wird (Cavarero 1989, 66; Schües 2005, 46 f.). Das Ergebnis ist, dass uns in dieser Denkweise Frauen zwar als sinnhaftes, aber nicht sinnstiftendes Weltvorkommnis in der Welt begegnen (Waldenfels 1997, 67). »Indem der Mann die Begrenztheit seiner Geschlechtlichkeit universalisiert, überschreitet er sie und setzt sich als Wesen, das unabdingbar zur ›Objektivität‹ des Diskurses gehört.« (Cavarero 1989, 68) Die Frau aber wird als »Dem Mann-Gegenüberstehend« negativ begründet und als das Besondere, als das endlich Andere, das im Neutrum Mensch/Mann Enthaltene vorgefunden. Somit wird die geschlechtliche Differenz »als friedliches Sichspezifizieren des Universalen« vor-gestellt, »aber in diesem Danach-Kommen ist ihre Ursprünglichkeit schon verloren gegangen« (ebd.). In Deutschland wurde Cavarero lange Zeit lediglich als Differenztheoretikerin gelesen, die die Geschlechter auf eine Binarität verpflichtet, weil sie für eine Aufwertung des Weiblichen und die Anerkennung des ›irreduziblen Andersseins‹ (Cavarero 1990) eintrat. Doch die Anlehnung an Arendts Philosophie und die Umkehrung der symbolischen Ordnung hin zur mitmenschlichen Welt aller Personen in ihrer Konkretheit macht Cavarero auch zu einer Denkerin von Beziehungen und Weltzugewandtheit, wie z. B. Andrea Günter (1999; 2003) in zahlreichen Schriften über sie und die Gruppe DIOTIMA aufzeigt. Cavareros Überlegungen, z. B. in Relating Narratives, werden von Butler (2005b) sehr geschätzt und diskutiert. Butler fragt besonders nach der Rolle des Subjekts angesichts der Tradition der Metaphysik und hebt die Dringlichkeit her-
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vor, Politik und Ethik in den Kontext einer relationalen Ontologie zu stellen. Nur so kann das gegenseitige Ausgesetztsein, die Abhängigkeit und Verletzlichkeit eines leiblichen Selbst, dem der Andere als notwendig vorausgesetzt ist, angemessen thematisiert werden. Beide Autorinnen stimmen darin überein, dass das Subjekt nicht in der Lage ist, seine eigene Geschichte zu erzählen. Während Butler eher auf der Unmöglichkeit des Erzählens beharrt und Bedingungen der Unmöglichkeit entfaltet, setzt Cavarero (2000) hingegen auf die Fähigkeit der Anderen, die jeweilige Geschichte zu erzählen. 2.2. Poststrukturalismus und Phänomenologie
Judith Butler ist eine an der Universität Berkeley lehrende Feministin und Theoretikerin der Gender und Queer Studies. Klassiker, wie etwa Hegel, die Sprachphilosophie, wie Austin oder Saussure, der Poststrukturalismus, etwa von Jacques Derrida und Scott, und die Phänomenologie umfassen ihren Theoriehintergrund. Die Phänomenologie Husserls und Merleau-Pontys hat sie bereits in ihren Studienjahren auch durch ihren Doktorvater Maurice Natanson kennengelernt (S. Stoller 2010, 365 f.). Bereits in ihren früheren Schriften hat Butler (1989; 1997a) Merleau-Pontys Kapitel »Der Leib als geschlechtlich Seiendes« (Merleau-Ponty (1945/1966, 185–206) in feministischer Perspektive interpretiert. In ihrer Auseinandersetzung mit Merleau-Pontys (1966) Studie zur Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit kann Butler fruchtbar und kritisch an die Konzeption des gelebten geschlechtlichen Leibes und seiner Situierung anknüpfen. Ihre inspirierende Kritik beruht vor allem auf dem Vorwurf einer angenommenen Heteronormativität, die das heterosexuelle Verhältnis zwischen Mann und Frau in ihren tradierten Rollen annimmt, und eines Androzentrismus, der beinhaltet, Ereignisse, z. B. die Frage des sexuellen Begehrens, nur aus der Perspektive des Mannes gesehen zu haben. In ihrem Aufsatz »Performative Acts and Gender Constitution« argumentiert sie richtungsweisend, dass die »Geschlechteridentität performativ durch soziale Sanktionen und Tabus zur Vollendung erzwungen wird« (Butler 1988, 520). Unter dem Begriff ›Performanz‹ versteht sie, John Austins Theorie der Sprechakte folgend, dass eine Tätigkeit, etwa die des Dankens, indem man ›danke‹ sagt, eine Handlung ist, die konstitutiv wirkt. Gender wird durch die performativen, weltlichen und sozialen Tätigkeiten des Leibes (lived body) und in ihnen konstituiert. Aufgrund ihrer Fokussierung auf Performanz und Konstitution kann Geschlecht (gender) selbst nicht der Einsatzort der Untersuchung sein. Geschlecht wird als Identität gesehen, die durch ihre Wiederholung in Zeit, Gesellschaft und Körper konstituiert wird. Obgleich historisch und traditionell das Geschlecht konstituiert ist, so ist es doch die performative Handlung, die das Geschlecht (gender) für das Individuum ausmacht. Diesen für die Entwicklung der Gender Studies zentralen Ansatz behält Butler (1997b) auch in ihren weiteren Werken, wie etwa Körper von Gewicht, bei. Einerseits wird aufgrund der sozial konstruierten Hetero-
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normativität Geschlecht diskursiv hergestellt. Somit gibt es Beschränkungen des Handelns. Weil aber andererseits der Charakter der Handlungen performativ ist, »ist es ihnen möglich, ihren verdinglichten Status zu bestreiten« (Butler 1988, 520). Wir wählen und wiederholen eine »geteilte kulturelle Struktur« (ebd., 522). In phänomenologischer Einstellung macht Butler deutlich, dass Gender nicht natürlich, sondern naturalisiert ist. Diese Naturalisierung ist unter der vermeintlichen Geschlechterwirklichkeit verdeckt. Geschlecht ist in einem historischen und gesellschaftlichen Diskurs in zeitlichen und körperlichen habitualisierten performativen Handlungen objektiviert. Die soziale Performanz unterstreicht Butler, wie auch etwa Beauvoir, besonders in ihren verschiedenen Schriften. Bereits in der vorgeburtlichen Zuschreibung ›Es ist ein Mädchen!‹ wird das Mädchen durch die normative Wirkmacht sprachlicher Zuschreibungen ›mädchenhaft‹ naturalisiert. »Das Benennen setzt zugleich eine Grenze und wiederholt einschärfend eine Norm.« (Butler 1997b, 29; I.M. Young 1980/1993) Wegweisend für kategoriale Begriffsverschiebungen in der Philosophie, den Gender Studies und den Queer Studies ist Das Unbehagen der Geschlechter (1990/1991). Hierin stellt Butler die Unterscheidung zwischen einem biologischen und einem sozialen Geschlecht infrage und behauptet so die Konstruiertheit beider Kategorien. Sie stellt sich damit gegen eine feministische Identitätspolitik und formuliert als neues feministisches Ziel das subversive Unterlaufen heteronormativer Strukturen. Nach dem Erscheinen von Das Unbehagen der Geschlechter wurde Butler vorgeworfen, sie vergesse die faktische Materialität von Körpern und verstehe die Geschlechterdifferenz als sprachliche Konstruktion. Ihre Schriften bis in die Gegenwart zeigen im Gegenteil, dass Butler die leibliche Verfasstheit von Performanz, Sprache und Politik zentral im Blick hat. Ihr wenige Jahre später erschienenes Buch Körper von Gewicht (1997b) diente als Antwort auf die Kontroverse, die durch ihre vorherigen Thesen entfacht wurde. In diesem zentralen Werk vertieft sie die Frage nach der Materialität von Körpern und den subtilen Machtmechanismen, die unsere Körper formen und die bewirken, dass Frauen »ihrem Körper von Grund auf entfremdet werden« (Butler 1997b, 11). In der Infragestellung dieser Mechanismen geht es Butler um einen Weg zum »Körper als einem gelebten Ort der Möglichkeit, dem Körper als einem Ort für eine Reihe sich kulturell erweiternder Möglichkeiten« (ebd., 10 f., Hervorhebung im Original). Indem Butler die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht als kulturell konstruierte Ideologie entlarvt, unterläuft sie nicht nur die Zuordnungen von den Zuschreibungen männlich oder weiblich, sondern auch scheinbar feststehende Kategorien wie Natur und Kultur, Körper und Geschlecht. Auch hier diente Merleau-Ponty als Inspirationsquelle: In seinen Notizen Das Sichtbare und das Unsichtbare (1986) geht es um die Abwehr der Annahme, dass es sich bei einer »Zweiheit« um »zwei Akte, zwei Synthesen« handele. Er strebt ein Nachdenken über »eine Möglichkeit der Unterscheidung, Gebrauch des Diakritischen, Aufkommen der Differenz« (Merleau-Ponty 1964/1986, 276) an. Butler möchte den Sinn in seiner Entstehung, seinem Aufkommen, er-
VIII.2. Gender Studies
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fassen. Das lässt ihre Texte einem phänomenologischen Kanon zugehörig werden (Merleau-Ponty 1945/1966, 18). Mitgedacht wird somit von Butler der »Aspekt des dynamischen Prozesses des Unterscheidens als die ›Differenz in ihrer aktiven Bewegung‹, die immer schon das Sein, vor seiner Bestimmung in Abwesenheit oder Anwesenheit, schon im Gedanken der Differenz impliziert« (S. Stoller 2010, 328; Derrida 1967/1974, 248). Butler schätzt Merleau-Pontys Kritik an einer reduktiven Psychologie und sie hebt besonders in Anknüpfung an die Phänomenologie der Wahrnehmung den Leib als Situation und die Sprache als performative Praxis hervor. Für Butler, wie auch für Beauvoir, ist folgende Textstelle zentral: Geschlechtlichkeit und Existenz durchdringen einander, die Existenz strahlt in die Geschlechtlichkeit, die Sexualität in die Existenz aus, so daß die Feststellung des Anteils sexueller Motivation und desjenigen andersartiger Motivationen für einen bestimmten Entschluß oder eine gegebene Handlung unmöglich ist, unmöglich, einen solchen Entschluß oder eine solche Handlung als »sexuell bedingt« oder als »nicht sexuell bedingt« zu charakterisieren. (MerleauPonty 1945/1966, 202)
Butler entlarvt, wie es auch schon Beauvoir getan hatte, eine vermeintlich universale Perspektive auf die subjektive Erfahrung als männlichen Blick und kritisiert das »von jeglichem sozialen Geschlecht [gender] losgelöste Subjekt«, das angeblich »jedes soziale Geschlecht [all genders] charakterisieren« solle. Die Frage ist hier: »wessen Sexualität und wessen Körper wird beschrieben« (Butler 1997b, 183)? Ist der Leib als Situation und Chiasmus verstanden, dann verschiebt sich die Phänomenologie, ähnlich wie es Merleau-Ponty (1964/1986) in seinen späten Schriften getan hat, weg von einer ›Sozialontologie des Blicks‹ und weg von einer Subjekt-Objekt-Unterscheidung hinsichtlich von Sexualität und leiblicher Existenz, hin zu einer Öffnung für eine ›Ontologie des Taktilen‹ und einen ›Bereich des Fleisches‹, der der Zuordnung zu den Begriffen Subjekt oder Objekt widersteht (Butler 1997b, 182). Ebenso wie Irigaray knüpft Butler kritisch und produktiv an Merleau-Pontys Versuch an, eine »Ontologie des rohen Seins«, eine »Sphäre des Lebens als Sphäre der Einfühlung und der Zwischenleiblichkeit« zu entfalten (Merleau-Ponty 1964/1986, 215, 223). Dann aber lässt Butler Mer leau-Ponty zurück und empfiehlt eine »Dekonstruktion dieser verdunkelnden und verdinglichenden Strukturen« (Butler 1997b, 184), welche die Geschichtlichkeit und konkrete Wirklichkeit ausblenden und somit Strukturen der sexuellen Unterdrückung legitimieren und verallgemeinern. Butler (1997b; 1998) verwendet die rhetorische Figur des Chiasmus, um zu verschränken, was ungleich erscheint: Sprache und Materialität sowie Körper und Sprache. Die Figur des Chiasmus und der Einbezug der leiblichen Verfasstheit durchziehen Butlers vielfältige Schriften bis in die Gegenwart. In einer 2015 von Butler zusammengestellten Aufsatzsammlung Senses of the Subject werden ihre phänomenologischen und existenzialistischen Wurzeln (Kierkegaard, Sartre,
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Merleau-Ponty und Levinas) sehr deutlich offengelegt. Sie entfaltet die vorbewusste Sinnerfahrung, das Begehren und die Leidenschaften sowie die Namensgebung vor jeder Individuation, die entscheidend das Narrativ der »Subjektformation« (Butler 2015, 12) prägen. Butlers auch auf Deutsch erschienenes Buch Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung (2015/2016) richtet sich auf die politischen Geschehnisse auf der Straße und wendet sich kritisch gegen Arendts ›körperlose Politik‹. 3. Feministische Phänomenologie Beauvoir, Irigaray, Cavarero und Butler haben zur Entwicklung einer feministischen Phänomenologie maßgeblich beigetragen. Die Forderung eines ›phänomenologischen Feminismus‹ erhob Butler bereits in den 1980er-Jahren, damit die »feministische Stimme so klar und laut gehört werde wie die phänomenologische« (Butler 1997a, 182; Fisher 1997b, 42; 2010, 85). Eine Reihe von Sammelbänden, Aufsätzen und Monografien, die in den letzten 20 Jahren erschienen, haben unter dem Begriff ›feministische Phänomenologie‹ die Verbindung und das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Feminismus ausgelotet und zur Etablierung einer feministischen Phänomenologie beigetragen (S. Stoller/Vetter 1997; Fisher/Embree 2000; S. Stoller et al. 2005; Fielding et al. 2007; Schües et al. 2011; Landweer/Marcinski 2016; Fielding/Olkowksi 2017). Ganz allgemein gesprochen geht es den Autor:innen nicht um eine phänomenologische Analyse des Geschlechts im Sinne einer regionalen Ontologie oder eines empirischen Problems, sondern um phänomenologische Analysen, die durch eine feministische Perspektive geprägt sind. Eine »[f]eministische Phänomenologie [… ist] eine phänomenologische […] Philosophie in feministischer Perspektive« (S. Stoller et al. 2005, 10; Fisher 2010, 85). Die Gegenwartsdiskussion ist von einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Ansätze geprägt, die den Begriff feministische Phänomenologie zu einem Sammelbegriff für Thema und Methode machen. Viele Ansätze finden ihren Ausgangsort in leiblichen Erfahrungen, einer interrelationalen Ontologie und einer Auffassung von Menschen, die relational in die Lebenswelt eingebettet sind und deren Selbst sich in einer situierten, leiblichen Praxis und Welt bildet (Merleau-Ponty 1964/1986; Fielding 2017) Diese phänomenologische Grundsituation wird methodisch unterschiedlich verhandelt und mit verschiedenen erkenntnistheoretischen, politischen und ethischen Themen konfrontiert, sie wird transformiert oder weitergedacht. Grob unterschieden werden können (1) eine beschreibende, angewandte Phänomenologie, (2) eine theoretische Transformation der Phänomenologie und (3) thematische Ausrichtungen, die zu interdisziplinären Forschungen führen.
VIII.3. Feministische Phänomenologie
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3.1. Beschreibende, angewandte Phänomenologie
War für Husserl die phänomenologische Reduktion zentral, so wendete bereits Merleau-Ponty die Transzendentalphänomenologie als »strenge Wissenschaft« und als präzise Methode des »Prinzips aller Prinzipien« (Hua III/1, 51) hin zu einer Phänomenologie der leiblichen Existenz. Damit öffnete er die Phänomenologie für eine Praxis der Anwendung, an die eine Reihe von feministischen Phänomenolog:innen anschließen konnten. Einen Initiationstext für die feministische Phänomenologie hat Iris Marion Young mit ihrem Aufsatz »Werfen wie ein Mädchen« vorgelegt. Er wurde 1977 anlässlich eines Treffens der Mid-West Division of the Society for Women in Philosophy (SWIP) geschrieben. In der Gefolgschaft von Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung (1966) und Beauvoirs Das andere Geschlecht (1986) beschreibt dieser Aufsatz die körperlichen Praktiken und kulturellen Kodierungen, die die Differenz zwischen den Körperbewegungen und der Vereinnahmung des Raums zwischen den Geschlechtern sehr deutlich machen. Damit hat Young einen der Grundsteine für die »Wiedergewinnung der Leiblichkeit« (Vasterling/Stoller 2005, 11) durch die Phänomenologie in feministischer Wendung gelegt. Youngs Grundthese ist es, »dass die Modalitäten weiblicher Körperhaltung, Motilität und Räumlichkeit eben diese Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen Subjektivität und bloßem Objekt-Sein zum Ausdruck bringen« (I.M. Young 1980/1993, 711). Im Rückgriff auf Merleau-Pontys Begriffe des gelebten Körpers und der primordialen Existenzstrukturen, die als die vorgängigen Strukturen der Erfahrungen unser Verhältnis zur Welt bestimmen, führt Young eine Beobachterperspektive auf spezifische Momente der Geschlechterdifferenz ein und unterscheidet drei Modalitäten weiblicher Motilität: Die mehrdeutige Transzendenz beschreibt den weiblichen Körper, der durch passive und verharrende Teile des Körpers von Immanenz überdeckt wird, während sich andere Teile des Körpers durchaus überschreitend auf die Welt zubewegen. Die damit einhergehende gehemmte Intentionalität stützt sich auf Merleau-Pontys Konzept der Motilität, in dem die Intentionalität als ›Ich kann‹ verankert ist; doch die weibliche Körperexistenz hält zugleich ihren Einsatz in einem »selbstauferlegten ›Ich kann nicht‹ zurück« (ebd., 716). Mit diesen beiden Aspekten verschränkt ist schließlich die Körperexistenz, die sich in nicht kontinuierlicher Einheit mit der Umgebung befindet. Frauen neigen dazu, wie Young beobachtet, die Objekte auf sich zukommen zu lassen, eben nicht zum Ball zu rennen. Sie erfahren sich somit körperlich als weniger aktiv und raumgreifend, also eher zerbrechlich und gehemmt. Aufgrund dieser Beobachtungen schließt Young, dass Frauen weniger Raum einnehmen, als ihnen physikalisch möglich wäre, und dass die weibliche Körperexistenz »selbstbezüglich« und damit »als Objekt« gelebt wird (ebd., 721). Merleau-Pontys (1945/1966) Grundstrukturen des gelebten Körpers in der Bewegung und im Raum sind überaus nützlich für Young, um die aufgezeigten einzelnen Parameter der Betrachtung herauszuarbeiten. Aber die von ihm ange-
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nommene Allgemeinheit der Strukturen wird wegen der ›speziellen Situation der Frauen‹ durchkreuzt. Nur so kann die »sexistische Unterdrückung in der heutigen Gesellschaft«, in der Frauen »körperlich behindert« sind, sichtbar werden (ebd., 722). Sie werden behindert durch Erziehung, Schule, Blicke, Entmutigungen für körperliche Aktivität, Ermutigungen für Spiele im Sitzen, und all das verinnerlichen sie – ähnlich wie auch schon Beauvoir beschrieben hat –, sobald sie begreifen, dass sie Mädchen sind. Sie lernen, ihren Körper als Objekt zu leben, der in gefährlicher Weise der Welt ausgesetzt ist, weshalb sie selbst sich »nicht offen bewegen« (ebd., 724) können. In der gegenwärtigen feministischen Phänomenologie gibt es den Trend, der im Stil Young folgt, Phänomenologie als Beschreibung der vorreflexiven Erfahrungen und verinnerlichten Normen und Strukturen zu betreiben. Es geht dabei um die Erfahrung aus der Perspektive der betroffenen Frauen, also der Erste-Person-Perspektive ( D.VI) und der Erfahrungsdimensionen in der Lebenswelt. Besonders Themen, die den Frauenkörper in den Zusammenhang mit der Reproduktion stellen, wie etwa die Schwangerschaft, das Gebären oder das Stillen, werden gegenwärtig vielfach diskutiert (I.M. Young 1984; Lundquist 2008; Cohen Shabot 2016; 2018). Die Besonderheit weiblicher Erfahrungen wird in feministischer Absicht beschrieben. Ohne gesonderte Reflexion jedoch lauert hier die Gefahr, dass diese Zuspitzung lediglich zum regionalen Unterthema in der Phänomenologie einer allgemeinen Phänomenologie zur Seite gestellt wird. Die Konsequenz wäre nicht nur ein Essenzialismus, sondern auch die eines Erfahrungsbegriffes, dem es an ›kritischer Distanz‹ und Hinterfragung mangelt (Oksala 2006). Die Anknüpfung an Merleau-Pontys Begriff der leiblichen Erfahrung bietet zwar ein reiches Beschreibungsinstrumentarium, das allerdings durch eine »strukturelle (überindividuelle) Ebene von Normen und Ordnungen (kritisch) ergänzt werden« müsste (Wehrle 2016, 238). Die Schwierigkeiten um die ›Erfahrung‹ wurden in den methodischen Debatten zwischen der feministischen Phänomenologie und dem Poststrukturalismus aufgenommen (S. Stoller 2005, 141, 145, 170; 2010, 145). 3.2. Transformationen der Phänomenologie
Feministische Phänomenologie bedeutet nicht nur, klassische Ansätze weiterzudenken oder Phänomenologie anzuwenden bzw. zu beschreiben, sondern sie ist auch selbst eine Bewegung der Transformation der klassischen Ansätze. Inspiriert von Arendts Kritik an der Privilegierung der Sterblichkeit, Heideggers Nennung der Gebürtlichkeit als Existenzial, die allerdings bei ihm weitgehend folgenlos blieb, und Husserls Überlegungen, dass der Andere vorausgesetzt und die Geburt ein »transzendentales Rätsel« (Hua I, 168 f.; Hua XV, 171) sei, hat Schües (2008) eine Philosophie des Geborenseins vorgelegt, in der eine generative Phänomenologie entfaltet wird. Nach einem Rückblick in die Philosophiegeschichte, in der die Geburt als Herkunftsort eines jeden Menschen vereinnahmt, missachtet oder
VIII.3. Feministische Phänomenologie
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vergessen wurde, soll damit gezeigt werden, wie ein Denken von der Geburt als Grundbedingung menschlicher Existenz her generative Zusammenhänge, Beziehungen und die Pluralität als phänomenologisch entfalten kann. Diese generative Theorie des Geborenseins steht im weiteren Zusammenhang dessen, was heute weithin als ›generative Phänomenologie‹ diskutiert wird (Steinbock 2003) und innerhalb derer der Status des transzendentalen Subjekts kritisch reflektiert wird. Die vom Denken des Geborenseins her als grundlegend gedachten zeitlich-geschichtlichen und weltlich-mitmenschlichen Beziehungen, die sich nur aus einer ›Ko-Konstitution von Selbst, Welt und Geschichte‹ ergeben können, machen es unmöglich, das Ego als Isoliertes zu setzen, und rufen dazu auf, die generative Phänomenologie in feministischer Perspektive zu denken. Auf der Basis einer Phänomenologie der Gebürtlichkeit und in der Annahme, dass die Beziehung der Anfang sei und die Pluralität zwischen den Menschen grundlegend, kann eine Phänomenologie des Politischen entwickelt werden (Schües 2016b; 2018). Neben den zentralen Themen der geschlechtlichen Differenzen oder leiblichen Situierung werden politische Themen wie Macht oder Unterdrückung, ethische und epistemische Ungerechtigkeit (Guenther 2017), Zeit und ihre Verhältnisse (Schües et al. 2011), Gewalt und Verletzlichkeit (Butler 2005a; Cavarero 2009) oder, sehr allgemein benannt, die kulturelle und gesellschaftliche Abhängigkeit von Sprache, Normzuschreibung und Wissensordnungen kritisch aufgenommen. Dieser Trend ist einerseits eine Herausforderung für die Phänomenologie selbst, andererseits unterstützt er eine Hinwendung zur angewandten Phänomenologie sowie die Offenheit der Phänomenologie für Interdisziplinarität. 3.3. Feministische Phänomenologie und Interdisziplinarität
Feministische Phänomenologie wird gegenwärtig immer deutlicher verbunden mit Queer Studies, Racial Studies, Disability Studies und Medizin (Ahmed 2006; Alcoff 2006; G. Weiss 2011; Fisher 2014; Zeiler/Folkmarson Käll 2014; S. Stoller 2017; Cohen Shabot/Landry 2018). Auch in interdisziplinärer Beziehung mit qualitativer Sozialforschung wird neuerdings die feministische Phänomenologie zur »kritischen Phänomenologie« (Simms/Stawarska 2013, 11). Die Ränder der feministischen Phänomenologie sind unscharf, das Reflexionsniveau und die methodischen Ausrichtungen durchaus unterschiedlich. Die offene und zukunftsweisende Gemeinsamkeit ist ein Philosophieren entlang einer Subjektivität, deren Beziehungszusammenhang, Leiblichkeit, Geschlechtlichkeit, Generativität und leibliche Sensibilität die feministische Phänomenologie selbst und das Verhältnis zur Welt prägen (Landweer/Marcinski 2016; Fielding 2017). Als Forschungsfeld und methodische Herausforderung ist die feministische Phänomenologie historisch verankert, fest etabliert in der Gegenwart und wirkend in die und in der Zukunft. Christina Schües
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IX. Medien- und Kulturwissenschaften 1. Vermittelte Unvermitteltheit oder: Der Topos der Unmittelbarkeit Innerhalb der Kulturwissenschaften erfreuen sich phänomenologische Grundmotive und Denkfiguren wie Leiblichkeit, Anschauungsnähe, Situativität und erstpersonale Erfahrung jüngst einer vermehrten Aufmerksamkeit. Gleichzeitig kommen aber auch immer wieder systematische Vorbehalte gegenüber der Phänomenologie zum Ausdruck, die vorwiegend einer bestimmten Assoziation geschuldet sind: Die Phänomenologie, zumal husserlscher Prägung, sei in ihrem Wunsch, zur ›Sache selbst‹ zurückzukehren, eine Philosophie der Unmittelbarkeit. Während die Kulturwissenschaften ihren Minimalkonsens darin finden, dass sie von einem Weltzugang ausgehen, der grundsätzlich (historisch, sprachlich, technisch, soziokulturell und politisch) vermittelt ist, scheint eine Phänomenologie, die nach der Selbstgegebenheit der Dinge fragt, nicht anschlussfähig zu sein. Doch dieses Bild der Phänomenologie als methodischer Befragung einer unmittelbaren Erfassung hält der genaueren Betrachtung nicht stand: Einen naiven Begriff von Unmittelbarkeit haben weder Husserl noch Heidegger, noch Merleau-Ponty. Vielmehr hat die phänomenologische Methode ihre Spezifik gerade darin, die Phänomene als sinnhafte Gebilde und ihre Erfahrung als intentional zu begreifen. Das heißt, unsere Bezogenheit auf die Welt stellt sich von vornherein als eine durch zahlreiche Faktoren vermittelte dar. Denn nicht nur sind wir in der Welt, die wir intersubjektiv und sozial teilen, situiert. Die intentionale Struktur, die der Phänomenologie zufolge grundsätzlich Sinnbezüge auszeichnet, bedingt sämtliche qualitative Selbst- und Weltbezüge, deren leibliche und aisthetische, sprachliche und technische Vermitteltheit erforscht werden soll. Der systematische Fokus auf dem Wie, auf der Art und Weise, wie die Dinge erscheinen, geht von Anfang an von einer ganzen Reihe von Vermittlungsbedingungen aus. Dabei kommt man zwar nicht umhin, zunächst offenzulassen, wie die Bedingungsverhältnisse gegenständlicher Erscheinungsweisen jeweils ausfallen. Dass Erfahrungen jedoch stets kulturell und sozial überformt sind, darüber sind sich die allermeisten phänomenologischen Theorien einig, wenngleich freilich mit unterschiedlich starken Akzentuierungen. Recht verstanden ist der Vorwurf eines naiven Unmittelbarkeitsdenkens daher verfehlt; es dürfte im Gegenteil schwierig sein, überhaupt einen Autor zu finden, der nicht von der paradoxalen Struktur vermittelter Unmittelbarkeit ausgeht: Unter den Bedingungen perspektivischer Abschattungen, leiblicher Verankerung und einer fundamentalen, die Differenz von Subjekt und Objekt übergreifenden Medialität zeigt sich ›die Sache selbst‹ im Sinne eines spezifischen Korrelats der Erfahrung. Was in der Erfahrung gegeben ist, ist folglich kein dubioses Ding an sich, sondern sind vielmehr Gegenstände, Situationen und Ereignisse, die durch ihre jeweiligen historischen, sozialen und kulturellen Umstände imprägniert sind. Obwohl es durchaus bis heute
IX.1. Vermittelte Unvermitteltheit
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Verwendungsweisen der Phänomenologie gibt, die diese als eine methodologisch vertretene Unmittelbarkeitsphilosophie verstehen, dürfte ein Blick in die lange Geschichte der phänomenologischen Bewegung und ihrer Wirkungsweisen ausreichen, um deutlich zu machen, wie unterkomplex eine derartige Lesart ist. Dieses Kapitel ist in doppelter Absicht verfasst. Es bietet einerseits einen Abriss davon, wie die Gegenstandsbereiche Kultur, Technik und Medialität innerhalb der Phänomenologie und ihrer Tradition verhandelt wurden. Andererseits spürt es den systematischen Schnittstellen zwischen Phänomenologie und Kulturwissenschaften nach, und zwar auch dort, wo eine explizite Rezeption ausblieb. Schließlich geht es in dem Kapitel auch um exemplarisch ausgewählte Streitplätze, an denen nicht nur Übergänge, sondern auch Abgrenzungen und Unvereinbarkeiten deutlich zutage treten. Dabei ist das Feld dessen, was alles unter Medien- und Kulturwissenschaften verstanden wird, derart vielgestaltig, dass es sich übersichtlichen Rubrizierungen schwer bis gar nicht fügen will, welche doch für einen orientierenden Handbuchartikel gefordert sind. Nicht ohne einige mehr oder weniger rabiate Schnitte vorzunehmen, konzentrieren wir uns daher auf einige Tendenzen und Positionen, indem wir davon ausgehen, dass sich unter dem Sammelbegriff ›Kultur‹ sowohl medientheoretische als auch technikphilosophische Konzepte subsumieren lassen. Kultur im Sinne einer zweiten Natur, so primär sie sein mag, umfasst Technik als Medium und Medien der Technik ebenso wie mediale Praxen und praktische Medialität. Wir folgen demnach spannungsreichen Rezeptionslinien, die sich rhizomatisch an bestimmten Knotenpunkten verzweigen, um dann aber in unterschiedliche Richtungen weiterzuwachsen. Zu solchen Knotenpunkten verdichten sich die systematischen Stichwörter wie Leib, Anschauung, Phänomen, wenn sie auch jeweils verschieden ausbuchstabiert werden. So entwickeln sowohl der maßgebliche Kulturphilosoph des 20. Jahrhunderts, Ernst Cassirer, wie auch der sich selbst als Phänomenologe verstehende Hans Blumenberg die Phänomenologie in die Richtung einer Anthropologie weiter und lassen sich von der Forderung nach Anschaulichkeit leiten, ohne damit im engeren Sinne husserlsche Fragestellungen fortzuschreiben. Womöglich noch diffiziler wird die Rezeptionslage, wenn wir zu den technikphilosophischen und medientheoretischen Rhizomen und Fortschreibungen kommen. Doch für die Frage, welche konzeptuellen Ressourcen die phänomenologische Tradition für die gegenwärtigen Kulturwissenschaften bereithält, ist es keineswegs nötig, sich auf eine Analyse des Kulturbegriffs zu beschränken. Auffällig ist, dass gerade auch im Zuge anderer disziplinärer Zugänge teils in Vergessenheit geratene Autor:innen, aber auch begriffliche Ansätze neu entdeckt werden. Hierin zeichnet sich an vielen Stellen eine produktive Diskussion ab, ohne dass darüber Differenzen verwischt werden. Der Beitrag arbeitet sich sukzessive durch die folgenden drei Themenkreise vor: Phänomenologie der Kultur (2.), Phänomenologie der Technik (3.), Phänomenologie der Medien (4.), und wird durch einen Ausblick abgerundet.
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2. Phänomenologie der Kultur In der Herausarbeitung dessen, was Kultur ausmacht und worin die Kulturalität menschlicher Existenz besteht, bietet die phänomenologische Tradition zahlreiche Anknüpfungspunkte. Historisch betrachtet war das allerdings keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Um 1900 war der Begriff der ›Kultur‹ eng an ein anderes Unterfangen geknüpft, das Projekt der Kulturphilosophie, das sich zunächst mit Namen wie Georg Simmel, Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert verbindet. Husserl war sehr daran gelegen, dass sein Neubegründungsversuch der Philosophie nicht mit dieser kulturalistischen Wertephilosophie verwechselt wird, und es kann hier geradezu als programmatische Geste gewertet werden, dass er seine Streitschrift »Philosophie als strenge Wissenschaft« 1911 in der ersten Ausgabe des editorischen Organs der Kulturphilosophie – der Zeitschrift Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur – publizierte. Zu einer regelrechten Frontstellung gegen die Kulturphilosophie kommt es dann vor allem bei Heidegger, der seine existenzialontologisch gewendete Phänomenologie von jedem Kulturalismusverdacht freihalten möchte: In Sein und Zeit und darüber hinaus äußert sich Heidegger stets despektierlich über all dasjenige, was mit Kultur zusammenhängt und für ihn in den Bereich der Uneigentlichkeit und des ›Man‹ gehört. Husserls Spätdenken lässt sich allerdings unschwer kulturtheoretisch deuten, insbesondere seine Beobachtungen aus den 1930er-Jahren. Der Vortrag vor dem Wiener Kulturbund 1935, aus dem später die einflussreiche Krisis-Schrift hervorgeht, versteht sich explizit als Antwort auf die »Krisis unserer Kultur« (Hua VI, 3). In dem Artikel, den er für die japanische Zeitschrift Kaizo (›Erneuerung‹) verfasst, definiert Husserl kulturelles Leben als […] den universalen Bereich des freien tätigen Lebens der miteinander im Medium der Wechselverständigung in personaler Gemeinschaft stehenden Menschen: Das zwecktätige, auf selbstgesetzte Zwecke gerichtete Leben, dessen Leistungen sich immerfort in sinnlich verleiblichten Werkgestalten objektivieren. Diese Objektivierungen bilden das Gegenstandsfeld der Kultur. Kulturobjekte sind Gebilde des sozialen Geistes. (Hua XXVII, 110)
Husserls Impulse stießen eine bestimmte phänomenologische Sozialtheorie an, in der die gesellschaftliche Existenz als eine kulturelle Existenz gewertet wird, namentlich bei Alfred Schütz und in dessen Phänomenologie der Alltagswelt (siehe auch D.VI). Die Alltagswelt gilt Schütz als ›intersubjektive Kulturwelt‹: […] intersubjektiv, da wir in ihr als Mensch unter Menschen leben, an welche wir durch gemeinsames Einwirken und Arbeiten gebunden sind, welche wir verstehen und von welchen wir verstanden werden. Es ist eine Kulturwelt, da die Welt des täglichen Lebens von allem Anfang an für uns ein Universum von Bedeutung ist, also ein Sinnzusammenhang, den wir interpretieren müssen. (Schütz 1971, 11)
Auch in der Kulturanthropologie spielten ähnliche Motive hinein, etwa bei Clifford Geertz, der Husserl über die Vermittlung von Alfred Schütz entdeckte. Wenn
IX.2. Phänomenologie der Kultur
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die kulturelle Verfasstheit bedeutet, dass die Existenz in Kulturen bestimmten sinnhaften Mustern folgt, dann besteht die Aufgabe einer Kulturanthropologie darin, derartige Muster freizulegen, zu entziffern und zu deuten. Diese Rezeption in der Kulturanthropologie vermag einen wichtigen Aspekt der phänomenologischen Beschäftigung mit Kultur hervorzuheben: die Begegnung mit demjenigen, was Husserl als ›Fremdwelt‹ charakterisiert, verweist lediglich darauf, dass auch die ›Heimwelt‹ einem ganz eigenen und teils eigenwilligen Regelwerk folgt, über das wir nur deshalb meist hinwegsehen, weil es uns allzu vertraut ist. Was als ›Lebenswelt‹ bezeichnet wird, ist damit immer schon geortet und beschränkt; eine ›Lebenswelt an sich‹ ist nicht vorstellbar, stets hängt sie von unserem jeweiligen Erfahrungsraum ab. Zwischen dieser ›Heimwelt‹, die so etwas wie den konkreten praktischen Möglichkeitshorizont absteckt, und der abstrakten Äußerlichkeit der Natur, die jedwede beliebige ›Besetzung‹ erfahren kann, liegt der Raum fremder Kulturen: Damit eine fremde Kultur als fremd erfahren werden kann, muss sie in Kontrast zur eigenen gesetzt werden, womit sie bereits in den Bereich des Vergleichbaren hineingerät. Es gibt, so Husserl, so etwas wie ein »fremdes Lebensfeld«, das allerdings selbst wiederum eine abstrakte Natur eingemeindet und bearbeitet hat, wodurch die fremde Kultur gleichsam ein Außen im Innen darstellt, eine Binnenexteriorität innerhalb des Horizonts des Vorstellbaren: Darin läge dann gewissermaßen der Sinn der cultura, die bereits mehr ist als nur der »Erdboden« (Hua XV, 177). Während Husserl zwar stellenweise die Erfahrung der fremden Kultur mit der Erfahrung der fremden Person vergleicht (vgl. die Überlegungen zu Fremderfahrung, C.I.11), hebt er beide auch voneinander ab. Husserl gilt als der erste Autor, der von »interkultureller Erfahrung« spricht (Hua XV, 234; Därmann 2005). Fruchtbare Fortführung fanden seine Gedanken diesbezüglich im weiteren Verlauf der Phänomenologie. Mit der Kritik am Eurozentrismus hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass es sich bei einer die eigene Kultur übergreifenden Perspektive um ein Problemfeld eigener Art handelt. Besonders stark wurde die phänomenologische Herangehensweise innerhalb der japanischen Philosophie rezipiert, und zwar schon früh, sowohl im Anschluss an Husserl als auch an Heidegger, der besonders auf die Kyōto-Schule Einfluss nahm (vgl. das Gespräch mit einem Japaner in Unterwegs zur Sprache; GA 12, 79–145). Das Thema der Interkulturalität und Transkulturalität hat sich innerhalb der Phänomenologie mittlerweile als eigener Forschungszweig etabliert, insbesondere im Anschluss an Bernhard Waldenfels’ Phänomenologie der Fremdkulturalität und der Existenz in Kulturen. In jüngerer Zeit wurden diverse Vorschläge einer Phänomenologie interkultureller Erfahrungskontexte ausgearbeitet (Waldenfels 2006b; Lau 2016; Elberfeld 2017; Stenger 2006). Zurück zum allgemeinen Kulturbegriff: Obwohl sich durchaus immer wieder Ansätze dazu finden lassen, bei Autoren wie Max Scheler, Jan Patočka oder Michel Henry, sucht man in den klassischen Positionen der Phänomenologie vergeblich nach einer ausgearbeiteten Theorie der Kultur. Über die Gründe dafür
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darf spekuliert werden, und es könnte sogar vermutet werden, dass der Begriff der ›Lebenswelt‹ schlicht das ersetzt, was anderswo als ›Kultur‹ angesprochen wird. Die Betonung erstpersonaler Erfahrung, die mit der Berufung auf die Lebenswelt angemahnt wird, muss gleichwohl nicht im Widerspruch stehen zu Konzepten, die mehr Augenmerk auf intersubjektive, transkulturelle und transhistorische Vermittlungen legen. Es ist daher nicht zufällig, wenn die Protagonist:innen der ›hermeneutischen Wende‹ ( D.III.3) von Heidegger über Gadamer und Ricœur bemüht waren, genau diesen Zusammenhang zu denken. Lebensweltlich zu existieren, hielt der Phänomenologe Wilhelm Schapp bereits 1953 fest, heißt ganz grundsätzlich, in Verstrickungen zu leben: Wir sind historisch und kulturell verstrickt, und diese Verstrickung verlangt selbst die Verfertigung von Narrativen (Schapp 1953/2012). Wir wenden uns nun zwei Autoren zu, die die systematischen Bezüge zwischen der Phänomenologie und Kulturtheorien besonders verdeutlichen: Ernst Cassirer (1874–1945) und Hans Blumenberg (1920–1996). Anders als Blumenberg, der sich seit seiner Habilitation über Husserls Krisis-Schrift zeitlebens mit der Phänomenologie auseinandersetzte, macht Cassirers Kulturphilosophie nur wenige explizite Anleihen bei der Phänomenologie. Dennoch kann dieser distanzierte Blick gerade deshalb aufschlussreich ausfallen, wenn es um die Herausarbeitung des spezifischen Beitrags der Phänomenologie geht. Cassirer hält für die »grundlegenden Verdienste[…] der Husserlschen Phänomenologie, daß sie für die Verschiedenheit der geistigen ›Strukturformen‹ erst wieder den Blick geschärft und für ihre Betrachtung einen neuen, von der psychologischen Fragestellung und Methodik abweichenden Weg gewiesen hat«. (Cassirer 2010, 14, Anm. 12) Umgekehrt schätzt Husserl an Cassirer, dass dieser »den alten Marburger Kantianismus um phänomenologische Motive, ja um eine große und echte phänomenologische Problematik« erweitert habe (Brief an Cassirer von 1925, Hua Dok III/5, 4). Beide Denker wissen sich eng verbunden in dem, was sie zurückweisen und wogegen sie anschreiben, nämlich sowohl gegen den Psychologismus wie auch den Naturalismus ihrer Zeit. Aber das heißt nicht, dass sie nicht doch getrennte Wege gingen. Es mögen hier nur wenige markante Schnittstellen und Bifurkationen nachgezeichnet werden, die um Fragen der Anschauung und Wahrnehmung kreisen. Von ursprünglich erkenntnistheoretischen Problemstellungen aus entwickelt Cassirer nach und nach seine Konzeption des animal symbolicum und seiner kulturellen Welterschließung. Der symbolic turn folgt aus der Einsicht in eine vermittlungsvergessene Tradition und eine Distanzierung von der kantischen Dichotomie von Verstand und Sinnlichkeit. Sinn verkörpert sich in symbolischen Formen, Bedeutung begegnet immer schon in der Gestalt bestimmter Formierungen; was dem Bewusstsein gegeben ist, ist demnach eine Durchdringung von Begrifflichem und Sinnlichem. Hier gibt es der Sache nach eine systematische Nähe zum phänomenologischen Zentralbegriff der Anschauung, der freilich bereits begriffsgeschichtlich ambig
IX.2. Phänomenologie der Kultur
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ist. Anschauung ist keineswegs gleichbedeutend mit sinnlicher Wahrnehmung und koinzidiert auch nicht mit dem empiristischen Erfahrungsbegriff, sondern steht vielmehr als Übersetzung des lateinischen intuitus von Anfang an im Kontext des Begrifflichen. Durch die Unterscheidung zwischen kategorialer Anschauung und dem Derivativum ›Anschaulichkeit‹ wird aber in jedem Fall die Bedeutung von Konkretion im Gegensatz zur Abstraktion aufgerufen. Wenn man unter Anschauung nicht das versteht, was Blumenberg Goethe zuschreibt, nämlich »daß es immer genügt, das Auge weit zu öffnen, um dem Sich-zeigen der Wahrheit zu begegnen« (Blumenberg 1998, 46), sind die Unterschiede zwischen Phänomenologie und Kulturphilosophie der Sache nach nicht mehr so groß. Mit seinem Fokus auf den sinnlich konkretisierten Artikulationen kultureller Selbstverständigung fragt Cassirer nämlich ebenso wie Husserl auch nach dem Wahrnehmungserleben. Doch glaubt er nicht an ein theoriefreies Erkennen oder eine Anschaubarkeit des im Begrifflichen ausgedrückten Allgemeinen. Anders als Husserl geht er auch nicht von der vortheoretischen Beschreibbarkeit einer Sache aus, wohl aber von der Möglichkeit einer geistigen Anschauung. Mit seinem Konzept der symbolischen Prägnanz als der »Art […], in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt« (Cassirer 2002, 235), entfaltet Cassirer die kantische Pro blematik in neuer Weise. Mit seiner Phänomenologie der Erkenntnis (Cassirer 2002), wie der dritte Band der Philosophie der symbolischen Formen untertitelt ist, bekommt die kantische Epistemologie eine neue Grundlage, die allerdings weniger mit Husserls Phänomenologiebegriff als mit demjenigen Hegels zusammenhängt. Die oft bemühte Formel eines ›hegelianisierten Neukantianers‹ trifft hier einen wichtigen Punkt, und zwar nicht zuletzt im diskursiven Vorgehen selbst. Sein Denken vollzieht sich, wie Birgit Recki erläutert, »durchweg nicht im Duktus von Revisionen, sondern von Integrationen und explikativen Anreicherungen« (Recki 2004, 53, Anm. 2). Wie nach ihm Blumenberg interessiert Cassirer die Technik hauptsächlich als ein Phänomen der Kultur. Beiden geht es nicht um diese oder jene spezifische Technik im Einzelnen, sondern um den ›Geist der Technik‹ im Sinne einer bestimmten Denkungsart, die nicht als gegeben hinnimmt, was sie vorfindet, sondern auf Steigerung, Erweiterung und Optimierung zielt. Im Gegensatz zu Heideggers Kritik am ›Gestell‹ begreift Cassirer diese Zielsetzung vornehmlich als Möglichkeitssinn: »Technik fragt […] nach dem, was sein kann« (Cassirer 1985, 81). Und es klingt nachgerade phänomenologisch, wenn er diese Frage nach dem Möglichen als paradigmatischen Wechsel der »Art des Sehens« (ebd., 42) qualifiziert. Zwar meint Sehen hier eine Art theoriegeladenes Schauen, doch wirkt dieses freilich in die sinnliche Wahrnehmung hinein oder zurück. Cassirers Denken, auf das sich etwa Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung mehrfach bezieht, weist zahlreiche systematische Berührungspunkte mit der Phänomenologie auf, nicht zuletzt in seiner Analyse der »Ausdruckswelt« sowie
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der kulturtheoretischen Phänomene der »Umständlichkeit« (Cassirer 2002, 90). Ihn als Rezipienten der Phänomenologie darzustellen, wäre aber dennoch fehl am Platze. Ganz anders bei der zweiten Figur, auf die wir in diesem Rahmen etwas ausführlicher eingehen wollen: Hans Blumenberg. Hans Blumenberg stellt mit seiner Kulturphänomenologie eine eigentümliche Mischung von rezipierendem und rezipiertem Phänomenologen dar. Seit seiner Habilitation über Die ontologische Distanz (1950) bis hin zu den späten Phänomenologischen Schriften (Blumenberg 2018) setzt sich Blumenberg kritisch mit Heideggers, vor allem aber mit Husserls Denkhinterlassenschaft auseinander, und dabei speziell mit der Frage, wie sich die phänomenologische Theorie der Lebenswelt zu Aspekten von Technizität und Kulturalität verhält. In dem Programm einer ›Rückkehr zur Lebenswelt‹ vermutet Blumenberg zunächst einen kulturkritischen, ja geradezu rousseauistischen Impuls: »Lebenswelt ist dann die Welt, in der wir immer schon nicht mehr sind, aber doch sein zu können oder sogar sein zu sollen glauben« (Blumenberg 2010, 38). Husserls Phänomenologie reiht sich demnach, mindestens wo sie einen durch Mathematisierung und Technisierung erfolgten Erfahrungsverlust beklagt, in eine vertraute kulturkritische Rhetorik ein. Wenn sie jedoch die Rolle der kulturell sedimentierten Bedeutung betont, um so etwas wie eine verlässliche Sinnkulisse unserer intersubjektiven Aushandlungen zu garantieren, sei sie im Kern bereits eine Kulturphilosophie. Dass wir uns auf die Auskunft anderer verlassen, auf Wissen zweiter Hand, mag zwar die Möglichkeit eigener Erfahrung blockieren, entlastet jedoch auch von dem Zwang, immer wieder selbst diese Erfahrungen machen zu müssen. Kultur ist Blumenberg zufolge ein Raum von Vorurteilen, die nicht (wie von der Philosophie oft vermutet) nur negativ, sondern auch Existenz ermöglichend sind: Als Vorstrukturierungen entlasten sie einen notgedrungen begrenzten Bewusstseinshaushalt. Die Lebenswelt, den Horizont von sozialen wie individuellen Sinngebilden, versteht Blumenberg wesentlich von ihrer Technisierung her (Blumenberg 1981), sodass sich der Gegensatz von Lebens- und Kulturwelt von Anbeginn relativiert. »Kulturelle Systeme tendieren auf die Herstellung von Lebenswelten und, bei deren Verlust, auf ihre Wiederherstellung« (Blumenberg 2010, 59). Im Übrigen folgt das Konzept der Lebenswelt bei Blumenberg aus dem phänomenologischen Begriff des »Bewusstseins als Intentionalität« (ebd., 25); denn Intentionalität ist kein individueller Zustand, sondern kulturell bedingt. Die kulturalistische Wendung, die die Phänomenologie dergestalt bei ihm nimmt, besteht im Kern in einer Anthropologisierung der husserlschen Befunde, womit er sich bewusst über Husserls Ablehnung der Anthropologie hinwegsetzt ( D.V). Wie Cassirer versteht auch Blumenberg Kultur im Sinne der von Menschen gemachten Welt ursprünglich anthropologisch, stellt dabei jedoch mehr auf die sichtbare Leiblichkeit des Menschen ab. Die menschliche Leibhaftigkeit als Bedingung der Möglichkeit des Sichtbarseins für andere, als »Ineinander von Visibilität und Opazität«, ist derjenige systematische Ausgangspunkt, der »eine phänomenologische An-
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thropologie möglich« mache (Blumenberg 1997, 140). Wie schon Cassirer fragt Blumenberg nach den »Motivationen eines auf Technik zielenden und von Technik getragenen Lebensstils« (Blumenberg 2009, 13) und legt darin ebenfalls einen systematischen Zusammenhang von Sehen und Handeln frei: Technik entwickelt sich aus einem geistigen Fortschritt, nämlich aus der Entwicklung neuer Theorien, die das fälschlich für endgültig Gehaltene neu sehen lehrt. Er kritisiert die Antithese von Natur und Technik und fragt stattdessen nach den »wechselseitig gerichtete[n] Wirkungen zwischen Idee und Realität« (ebd., 28). Auf Distanz zu Husserl geht Blumenberg dort, wo er kritisiert, dass dieser »eine transzendentale Konstitution der prädikativen Formen beschreiben« wolle, ohne »zuzugestehen, daß sie ein Kulturprodukt sein könnten« (Blumenberg 2006, 76). Stattdessen erforscht er die kulturellen Produktionen in ihren Schutzund Entlastungsfunktionen, etwa wenn er schreibt, dass Kultur »schon auf niedrigster Stufe das Anwachsen der Leistungsfähigkeit abschirmender Gehäuse« bedeute: »schon der Eintritt in die Höhle entspannt den Mittelbarkeitseffekt.« Gehäuse beschirmen den Menschen und setzen die »Fähigkeit frei, aus dem riskanten Gesehenwerdenkönnen das kalkulierte Sich-Zeigen und spielerische Sich-Darstellen zu machen, indem man heraustritt vor die anderen« (ebd., 144 f.). Als »Überführung von Selbstverständlichkeiten in Verständlichkeiten« (Blumenberg 2002, 304) ist die Phänomenologie Blumenbergs ein in der Gegenwart noch weiter zu entdeckendes Wirkfeld eigener Art. 3. Phänomenologie der Technik Phänomenologie ist nicht gerade dafür bekannt, besonders technikaffin zu sein. Dafür gibt es – folgt man Blumenbergs Deutung – durchaus Gründe. In Husserls Krisis-Schrift wird der Mathematisierung und Technisierung die Verantwortung des neuzeitlichen ›Sinnverlusts‹ angelastet, bei dem die erstpersonale Einsicht durch automatisierte Verfahren ersetzt wird. Eine evidenzbasierte Philosophie wie diejenige Husserls müsse technischen Abläufen gegenüber dementsprechend skeptisch eingestellt sein. Denn tatsächlich ist es gerade ein Merkmal von Technik, dass sie gleichsam evidenzentlastend wirkt: Die Nutzerin braucht nicht eigens darüber im Bild zu sein, wie die Apparatur genau funktioniert, um sie erfolgreich nutzen zu können. In technisierten Umgebungen kann sie sich mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegen, ohne jemals imstande sein zu müssen, die konkreten Operationen zu erklären. So gesehen entscheidet sich die Frage nach »Anwendbarkeit« unabhängig von der »Einsichtigkeit des Vollzugs« (Blumenberg 1981, 42). Blumenberg belässt es allerdings nicht bei dieser Gegenüberstellung von Evidenz und alltäglicher Verwendung, die das Vorurteil der phänomenologischen Technikaversion bekräftigen würde, sondern treibt seine Überlegungen weiter. Was Phänomenologie und Technik verbindet, ist gerade ihr fortwährendes Oszillieren »zwischen Leistung und Einsicht« (ebd., 51): Schließ-
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lich interessiert sich Husserl mindestens genauso sehr für unanschauliche Leistungsvollzüge wie für evidente Bewusstseinsmomente und betont wiederholtermaßen, dass sich Evidenz unzähligen verdeckten Prozessen verdankt (darin liegt sogar der Sinn des Begriffs der »Leistung«). Analog dazu schwankt jede Techniktheorie zwischen diesen zwei Polen: Entweder funktioniert Technik und kommt dann ihrer Aufgabe weitgehend unbemerkt nach, oder aber sie verweigert den Dienst und wird dann genau in dieser Leistungsverweigerung in ihren Merkmalen negativ sichtbar. Technikphänomenologien verbindet der Umstand, dass beide Momente des Technischen – das Funktionieren und die Evidenzproduktion – nicht gegeneinander ausgespielt, sondern komplementär gedacht werden. Technik ist dementsprechend mehr als eine bloße »funktionierende Simplifikation« (Luhmann 1997, 164), die hinter den Kulissen abläuft, sondern gehört eigens in den Bereich des Erfahrbaren. Folgt man Blumenbergs Intuition, so bietet sich gerade ein phänomenologischer Ansatz an, um sich gegen Verkürzungen in der herkömmlichen funktionalistischen Techniktheorie zu verwahren, aber auch gegen naturalistische und objektzentrierte Erfahrungstheorien. Denn die Selbstverpflichtung auf eine Rückkehr zu den Sachen bedeutet ebenso wenig, dass damit artifiziell hergestellte Sachen aus dem Untersuchungsgebiet per se ausgeschlossen wären, wie dass Erfahrung nur etwas mit statischen Erkenntnisgegenständen anstatt mit laufenden Prozessen zu tun haben müsste. Zu den wohl berühmtesten Beispielen einer technikphänomenologischen Untersuchung, in der diese Pendelbewegung zwischen Funktionieren und Innehalten, zwischen Unauffälligkeit und Sichtbarkeit eingängig vorgeführt wird, gehört Martin Heideggers Zeuganalyse in Sein und Zeit (SuZ, §§ 15–18). Laut Heidegger stehen wir Dingen nur in Ausnahmefällen in einem theoretischen Betrachtungsmodus gegenüber: In-der-Welt-Sein heißt, es mit Dingen zu tun zu haben, die uns immer schon etwas Bestimmtes bedeuten und zu denen wir in einem ›besorgenden‹ Umgang stehen. Die meisten Dinge sind demnach Gebrauchsdinge (»Zeug«), die uns als Mittel zum Zweck dienen. Ein technischer Gegenstand wie der Hammer wird nicht für sich betrachtet; seine Bedeutsamkeit liegt in seinem »Worumwillen«. Handlich muss er sein, um damit hämmern zu können. Im alltäglichen »Bewandtniszusammenhang«, der sich durch instrumentelle Tätigkeiten charakterisiert, fällt das Werkzeug als solches nicht auf und bleibt unauffällig; erst in der Störung der »Bewandtnisganzheit«, wenn das Werkzeug abhandenkommt, drängt es sich selbst in den Vordergrund. Mit anderen Worten: Das technische Gerät geht im eigenen Vollzug nicht mehr auf, sondern wird thematisch. In verschiedenen Steigerungsgraden der Störung, die Heidegger jeweils als »Auffälligkeit«, »Aufdringlichkeit« und schließlich »Aufsässigkeit« beschreibt, meldet sich das Zeug und ist nun nicht mehr ›unter der Hand‹, sondern tritt entgegen: in die »Vor-Handenheit«. In seinem späteren Denken, das wiederum vor dem Hintergrund der sogenannten ›Kehre‹ zu lesen ist ( B.I.4), legt Heidegger eine explizite Philosophie
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der Technik vor. Gegen die klassische Entlastungsthese, wonach neuere Technologien wie die des Fliegens oder der Rundfunkübertragung etwa die Rolle des »Landbriefträgers« obsolet werden lassen, vertritt Heidegger die These von der Technik als Erschließungs- und als Ermöglichungsinstanz (GA 53, 53). Jede Technik macht Neuartiges zugänglich, wie Heidegger etwa am Beispiel des Films als neuer Sichtbarmachungstechnik ausführt (GA 7, 167). Neben diesem ermöglichenden Aspekt umfasst Technik jedoch auch einen feststellenden Aspekt, den Heidegger auch als »Ge-Stell« beschreibt. Anders als Husserl, der in der Technisierung vor allem den Anschauungsverlust beklagt, warnt Heidegger davor, dass mit jeder Technik die Verfestigung einer bestimmten, formatierten Zugangsweise zum Seienden einhergeht (GA 79, 24–45). Es muss eigens unterstrichen werden, dass Heidegger damit weniger am Gestell per se Kritik übt (»es kommt überhaupt nicht in Frage, das Heraufkommen der Technik als negatives Geschehen anzusehen«; Heidegger 2005b, 366), sondern eher daran, welche Erfahrungssteuerungen durch derlei Formatierungen vorgenommen werden. Heideggers Technikdenken wurde umfassend diskutiert und insbesondere im Kontext der US-amerikanischen Technikphänomenologie rezipiert. Mit der Entstehung der Robotik und der Künstlichen Intelligenz wird in den 1960er- und 1970er-Jahren eine hitzige Mind-Body-Debatte geführt. Gegen Positionen wie diejenige Daniel Dennetts greift etwa Hubert Dreyfus (1929–2017) auf Heidegger, aber auch auf Merleau-Ponty zurück, um einen verkörperungstheoretischen Ansatz in der Technikreflexion starkzumachen. In diesem Zusammenhang werden Heideggers Kategorien von Zuhandenheit und Vorhandenheit von Dreyfus in Bezug auf menschliches und automatisiertes Problemlösen in die Differenz von knowing-how und knowing-that übersetzt (Dreyfus/Dreyfus 1986) mit dem Ziel nachzuweisen, dass qualitative phänomenale Aspekte keine Entsprechung in Algorithmen haben können. In What Computers Can’t Do wird dieser Unterschied noch einmal ein wenig anders erläutert: Computer sind nicht in Situationen verwickelt. […] Zwar sind Computer nicht, wie Kant es ausdrücken würde, ›transzendental dumm‹, sie können eine Regel auf einen bestimmten Fall anwenden […]. Sie können so eine Form des theoretischen Verstehens simulieren. Aber Maschinen fehlt praktische Intelligenz. Sie sind insofern ›existenziell‹ dumm, als sie nicht mit einer speziellen Situation fertig werden. (Dreyfus 1972/1985, 149)
Don Ihde (*1934) empfiehlt, Heideggers In-der-Welt-Sein als eine MenschInstrument-Welt-Beziehung zu denken: Während die klassische Phänomenologie damit eine entschiedene Erweiterung um technische Artefakte und Interfaces erfährt, argumentiert Ihde, dass die Interaktion mit Maschinen selbst als eine leiblich vermittelte Form von Intersubjektivität verstanden werden muss (Ihde 1983; 2010; 2016). Er knüpft damit an Merleau-Pontys Erläuterungen leiblichen Raumempfindens an, das auch im deutschen Sprachraum für produktive Überlegungen zur Mensch-Maschine-Interaktion geführt haben (Meyer-Drawe 1996). Laut Ihde wächst das technische Artefakt vielfach mit dem Nutzer zusam-
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men zu einer quasi-symbiotischen Beziehung, sodass die künstliche Prothese etwa oder der Pointer der Computermaus zum »Quasi-Selbst« werden; bei anderen technischen Beziehungen wird der Apparat im Gegenteil zum undurchdringlichen, autonomen Gegenspieler (Ihde 1990). Als Technikphänomenologe ist unlängst ein anderer Autor wieder vermehrt in der Diskussion: Günter Anders (1902–1992). Das ereignisreiche Leben des ehemaligen Schülers von Husserl und Heidegger, ersten Ehemannes Hannah Arendts und jüdischen Exilintellektuellen ( B.I.5) war von zwei Ereignissen überschattet: vom Holocaust sowie vom Atombombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki. Die darin zum Ausdruck kommende Verselbstständigung der instrumentell-technischen Vernunft führe letztlich beim Menschen zu einer »prometheischen Scham«, da ihm die von ihm selbst entwickelten Geräte unendlich überlegen sind in ihrer Wirksamkeit, Treffsicherheit, aber auch in ihrer Gefühlskälte (Anders 2002). Neben dieser prometheischen Scham diagnostiziert Anders weiterhin eine Umkehrung der Verhältnisse: Wir tun nicht nur etwas mit Geräten, sie tun es auch mit uns. Da uns die Apparaturen zum »Mit-Tun« einladen, kann dem Piloten des B-29-Bombers Enola Gay, der am 6. August 1945 die Little Boy über der japanischen Metropole per Knopfdruck abwarf, demnach nur noch »Mit-Täterschaft« angelastet werden. Ein weiterer, wenn auch verwandter Schauplatz ist die Auseinandersetzung mit der Kybernetik. Heideggers kritische Auslassungen über die Kybernetik sind unlängst wiederentdeckt und in einen größeren historischen Kontext der Nachkriegsjahre gestellt worden (Hörl 2004; Babich 2012). Bereits in den 1950er-Jahren befasst sich Heidegger ausgiebig mit den Projekten der Kybernetisierung organischer Prozesse und speziell mit Norbert Wiener und Gotthard Günthers Das Bewußtsein der Maschinen (1957). Während Heinz von Foerster am Biological Computer Lab Biologen, Informatiker, Soziologen und Waffenexperten versammelt, um über Gesellschaften nach dem Vorbild selbststeuernder Maschinen nachzudenken, warnt Heidegger eingängig vor der Reduzierung des Seins auf den Schaltkreis: »Der kybernetische Weltentwurf unterstellt vorgreifend, daß der Grundzug aller berechenbaren Weltvorgänge die Steuerung sei« (GA 80/2, 1318). Andererseits findet Heidegger durchaus billigende Worte, wenn es darum geht, die ›erschließende‹ kognitive Kraft der Maschinen anzuerkennen. Die Maschine wird, mit Gotthard Günther gesprochen, zur »Denkprothese«, mit deren Hilfe »der Mensch […] Problembereiche sichtbar machen kann, deren bloße Existenz dem natürlichen und technisch ununterstützten Denken überhaupt nicht zum Bewußtsein kommen können« (Günther 1980, 231). Elemente einer Technikphänomenologie finden sich ferner im Denken Bernard Stieglers (1952–2020), der an Husserls Analysen zum Zeitbewusstsein anschließt (Stiegler 2009; 1994). Zeitobjekte werden in primären Retentionen erfahrbar und in sekundären, aktiven Retentionen erinnert, und das Gedächtnis selbst stellt sich damit – Stiegler knüpft hier an Derridas Husserl-Lektüren (Derrida 1963/1987) an – als eine immer schon medial gestützte Bewusstseinsleis-
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tung heraus. Zwischen der mentalen Erinnerungsspur und der Kulturtechnik der Schrift – von Stiegler als ›tertiäre‹ Retention beschrieben – besteht funktional keinerlei Unterschied. Gedächtnisstützen (Hypomnemata) sind Teil einer kulturellen Entwicklung der Externalisierung und Grammatisierung von Sinn: Bedeutungen werden dadurch intersubjektiv mitteilbar, weil sie technisch nieder- und industriell bzw. institutionell fortgeschrieben werden können. Neben der technischen Retentionalität, mit der sich Stiegler vornehmlich befasst, wäre allerdings auch eine technische Protentionalität in den Blick zu nehmen, mit der Zukunftsoptionen erschlossen werden. Visualisierungen des Künftigen, Orientierungstechniken und bildgebende Verfahren bezeugen, dass Technik keineswegs anschauungsfern vonstattengehen muss, sondern dass Technik an den Phänomenalisierungsprozessen immer schon konstitutiv beteiligt ist. Dieser möglichen Verbindung von Phänomenologie und Technik begegnete bereits früh der französische Wissenschaftsphilosoph Bachelard mit einer Skepsis, auf die wir nun einen besonderen Schwerpunkt legen möchten. In Gaston Bachelard (1882–1964) hat die Phänomenologie zwar zunächst einen ihrer schärfsten Kritiker, denn er distanziert sich von nahezu allem, was mit Phänomen gemeint sein kann. Die völlig inkommensurablen Weltbeschreibungen von Wissenschaft und Lebenswelt verböten es gerade, Anschauung und phänomenologische Erfahrung für Berufungsinstanzen zu halten, im Gegenteil: Phänomene resultierten erst aus Technik und Theorie. Das Unmittelbare müsse vor dem Konstruierten zurücktreten (Bachelard 1993), jede Erkenntnis entstehe gerade »trotz gegenläufiger Evidenz, jede neue Erfahrung trotz des unmittelbar Gegebenen« (Bachelard 1994, 18, Hervorhebungen von uns). Dennoch lässt sich Bachelards Epistemologie als entschiedenes Wirkfeld der Phänomenologie betrachten, hält er doch daran fest, dass eine »wahre wissenschaftliche Phänomenologie ihrem Wesen nach Phänomenotechnik« sein soll (ebd.). Der erstmals 1931 gebrauchte Neologismus der Phänomenotechnik (Bachelard 2017) ist indes ein vehementer Protest gegen jedwedes naive Unmittelbarkeitsdenken. Der im Labor technisch erst erzeugte Gegenstand der Erkenntnisbemühungen verdanke sich »eine[r] Organisation von Gedankengegenständen«, deswegen sei die Phänomenologie »durch eine Noumenologie zu ersetzen« (Bachelard 1993, 64 f.). Als Kritiker widerstreitender Kulturen der Natur- und Geisteswissenschaften bzw. der Diskurse Wissenschaft und Kunst sucht Bachelard nach Komplementaritäten und möglichen Synthesen, Analogien und verkannten Zusammenhängen. Dabei geht es ihm um den inneren Zusammenhang von Theorie und sinnlicher Erfahrung: denn das Sichtbare ist eben nicht schlechthin gegeben, sondern abhängig von einer theoretischen Fragestellung (Bachelard 2017). Auf diese Weise versucht Bachelard, dem kantischen Vokabular von Sinnlichkeit und Begrifflichkeit durch einen grundlegenden Paradigmenwechsel zu entkommen, der mehr Aufmerksamkeit auf die praktischen Vollzugsformen von Bewusstsein und Gegenstand lenkt. Konsequenterweise führt sein Denkweg damit auch zur Einbildungskraft und zur Kunst, wenn er in künstlerischen Bild-
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feldern dasselbe schöpferische Potenzial erkennt, das er auch für wissenschaftliche Erkenntnisfortschritte verantwortlich macht. Maler und Dichter seien die wahren Phänomenologen, wenn es darum gehe, »daß die Dinge zu uns ›sprechen‹ und wir infolgedessen, wenn wir dieser Sprache vollen Wert beimessen, einen Kontakt mit den Dingen haben« (Bachelard 1960, 22, seinen Zeitgenossen, den Phänomenologen Van den Berg zitierend). Es ist also vornehmlich das Ethos der Phänomenologie, das Bachelard an dieser festhalten lässt und ihn selbst zu einem phänomenologischen Philosophen macht. Er verspricht sich von einer phänomenologisch unterrichteten Philosophie, die Komplementarität wissenschaftlicher und künstlerischer Weltzugänge enthüllen zu können. Ob seine Überlegungen zur ›Phänomenotechnik‹ wirklich so antiphänomenologisch sind, wie er selbst vermutet, bleibt dahingestellt. Dass Evidenz nicht bloß gegeben ist, sondern gewonnen werden will, legt nahe, dass sich vieles von dem, was sich uns zeigt, bestimmten Zeigetechniken verdankt. Eine umfassende Analyse all jener phänomenotechnischen Verfahren in Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst steht noch aus (Alloa 2015). 4. Phänomenologie der Medien Ähnlich wie schon im Kontext der Kulturphilosophie und der Techniktheorie war die Rezeption der Phänomenologie im Kontext der Medienwissenschaften ebenfalls durchsetzt. Folgendes Zitat aus einer Studie zur Stellung der Phänomenologie im wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang fasst eine gängige Meinung zusammen: »Husserl, das kann man so pauschal behaupten, mag Medien nicht« (Tyradellis 2006, 16). Die eingangs erwähnte Unterstellung, die Phänomenologie sei eine naive Unmittelbarkeitsphilosophie, dürfte dieser Lesart Vorschub geleistet haben. Doch darüber hinaus wurden vielfach auch systematische Einwände ins Feld geführt. Der Kulturtheoretiker Boris Groys (*1947) vertrat in Unter Verdacht: Eine Phänomenologie der Medien (Groys 2000) etwa die These, dass Medien prinzipiell immer deshalb suspekt sind, weil das, was sie leisten, unbemerkt und verstohlen geschieht. In dem Essay (in dem der Begriff Phänomenologie im Übrigen sehr frei verwendet wird) argumentiert Groys wie folgt: Sowenig man aus dem Gesichtsausdruck schließen kann, wie das dahinterliegende Gehirn funktioniert, so wenig verrät die Oberfläche des Fernsehgeräts über dessen Funktionsweise. Medien dienen, so die These, zunächst einmal als Zeichenträger, die gewährleisten, dass sich Zeichen zeigen; sie selbst bleiben dabei aber unsichtbar und entziehen sich damit erst einmal einer herkömmlichen phänomenologischen Untersuchung. Unter Medien sind dann nicht nur sogenannte ›neue Medien‹ zu fassen, sondern auch sogenannte analoge Medien, darüber hinaus aber all das, was als Bedeutungsträger herhält. Groys betont, dass sich die medialen Abläufe nicht in den technischen Schaltkreisen erschöpfen, sondern dass Mediengesellschaften
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auf ein ganzes komplexes Netzwerk von submedialen Architekturen aufruhen, welche dafür sorgen, dass zwischenmenschliche Kommunikation möglich wird. Was Medien tun, ist damit, so Groys, gemeinhin immer verdächtig. In seinem weithin rezipierten Essay wiederholt Groys eine in der Medientheorie sattsam perpetuierte Überzeugung, diejenige nämlich, dass Medien selbst in den Bereich der Unsichtbarkeit gehören. Medien liegen dann, in einer geradezu neometaphysischen Aufteilung, ›hinter‹ den Erscheinungen als deren gleichsam transzendentale Bedingung. Medientheorie beerbt hier die Frage nach dem letzten Grund; Phänomenologie kann dann nur prä- bzw. außerphilosophisch sein. Mit seiner Metaphysik der Paranoia (im Sinne von: ›was hinter der Oberfläche geschieht, bleibt uns vorenthalten‹) steht Groys gleichwohl nicht allein, und auch nüchterner vorgetragene Medienkonzepte zehren von alten metaphysischen Binarismen, so etwa in der gängigen These von der Transparenz der Medien. Medien, so die Überzeugung, funktionieren umso zuverlässiger, wenn sie unbemerkt agieren und ihre Tätigkeit erfolgreich verschleiern. Ein perfektes Medium gleicht dann mithin einer Fensterscheibe, die ihre eigene Stofflichkeit vergessen macht und den Blick unverstellt auf anderes freigibt. Das Wesen des Mediums wird hingegen offenbar, so die medientheoretische Gegenfigur zu dieser These, wenn die Transparenz gestört wird und der mediale Träger in seiner eigenen Stofflichkeit entgegentritt. Heideggers berühmte Zeuganalyse aus § 16 von Sein und Zeit, bei der ausgerechnet in der »Störung der Verweisung« der »Zeugzusammenhang« offenbar wird, dient hier vielfach als Begründung für diese medientheoretische Figur (hierzu ausführlicher Alloa 2010). Wie Sybille Krämer darlegte, wird das in Verruf geratene Projekt der apriorischen Transzendentalphilosophie nun unter medienwissenschaftlichem – und damit unverdächtigerem – Titel weitergeführt (Krämer 2008, 20–40). Dabei bleibt außen vor, dass die phänomenologische Tradition für eine Beschreibung medialer Abläufe keineswegs nur die begriffliche Alternative von Transparenz und Störung bereithält, sondern noch weitaus mehr. Ein Wirkfeld sui generis bildet die Wiederaufnahme von Husserls Phänomenologie in den soziologischen Medientheorien. Für Niklas Luhmann, dessen Systemtheorie darauf abzielt, den Unterschied zwischen mentalen und nichtmentalen Systemen letztlich zugunsten einer allgemeinen Theorie gesellschaftlicher Kommunikation aufzuheben, lässt sich die Intentionalitätslehre wie folgt übersetzen: Dass alles Bewusstsein von etwas ist, bedeutet nichts anderes, als dass jedes psychische System fremdreferenziell funktioniert und sich nie direkt, sondern nur über Umwege auf sich selbst beziehen kann. Die Leitunterscheidung Immanenz–Transzendenz des Bewusstseins kehrt bei Luhmann als Leitunterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz wieder, wobei sich auch die Selbstreferenz paradoxerweise als vermittelt herausstellt (Luhmann 1995b, 144; zur Phänomenologierezeption bei Luhmann allgemeiner D.VI). Ähnlich argumentiert auch der Phänomenologe Ferdinand Fellmann (1930–2019), wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen: Das Bewusstsein übernimmt strukturell und funktionell die gleiche Aufgabe wie künstliche Medien, indem es Bedeutungen vergegen-
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wärtigt, durch die es zwar über sich hinausweist, jedoch auf Zusammenhänge, in die es letztlich selbst einbezogen ist (Fellmann 2015, 151–183). In dem medienwissenschaftlichen Feld war rezeptionsgeschichtlich hingegen vor allem ein anderer Grundbegriff der Phänomenologie breitenwirksam: der Leibbegriff. Husserls wegweisender Unterscheidung zwischen dem gegenständlichen Körper und dem erlebten Leib liegt de facto die Differenz zwischen Ding und Medium zugrunde: Der Körper, den ich habe, ist insofern gegenständlich, als er in seiner Stofflichkeit erschöpfend beschrieben werden kann, ebenso sehr wie darin, dass er einen spezifischen Raum einnimmt, der anderen Körpern dadurch verwehrt ist. Der Leib, der ich bin, ist als einziger erstpersonal erfahrbar, weist jedoch immer auch schon über die jeweilige Lage meines Körpers hinaus. Aufgrund seiner Leiblichkeit vermag sich ein Körper im Raum zu bewegen, als buchstäbliches Orientierungsmittel benennt der Leib (dieses ›absolute Hier‹) die Möglichkeitsbedingung räumlicher Verhältnisse und Verhaltensweisen. Der Leib ist dann weniger jenes Ding, das wir sind, sondern das Medium, mittels dessen ein Ego wirkt (Hua I, § 44; IV, 56). Merleau-Ponty schließt hieran an und radikalisiert diese Grundeinsicht zugunsten einer regelrechten Phänomenologie medialer Verkörperung. Anders als das Körperding lässt sich der Leib nie vollständig vergegenständlichen; er liegt mehr ›auf meiner Seite‹, als dass er mir gegenüberstünde: als Mittel meiner Erkundungen ist er selbst nicht vollkommen auszuloten und nie nur gegenständlich. Als Medium unserer Welterschließung steht der Leib selbst nie im Fokus, sondern wird vielmehr am »Rand meiner Wahrnehmung« ›mitgesehen‹ (Merleau-Ponty 1945/1966, 115). Jenseits der Alternative von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit will diese ›Mitgegebenheit‹ von Medien bedacht werden. In seinem Spätwerk grenzt sich Merleau-Ponty allerdings von Husserls Vorstellung vom Leib als ›ureigenstem‹ Zugangsmittel ab. Die Aporien, in die sich Husserl verstrickt, wenn er versucht, ausgehend von der Eigenerfahrung analogisch die Fremderfahrung anderer leiblicher Subjekte abzuleiten, resultieren daraus, dass er den Leib als privates Vorrecht auffasst. Der Leib ist entsprechend »das ursprünglichst Meine, das mir zur Verfügung steht« (Hua XIV, 58) – und Heidegger knüpft unvermittelt an, wenn er von der »Jemeinigkeit des Leibes« spricht (GA 89, XXIV). Ein solches Verständnis geht Merleau-Ponty zufolge am Merkmal von medialer Leiblichkeit vorbei: Der Leib ist kein Ding, das ich nach Belieben heranziehen oder beiseitelegen könnte, sondern Medium zur Welt. Er ist in dieser Hinsicht weder nur Werkzeug noch bloßer Resonanzraum und enthält doch Aspekte von beidem. Er eröffnet mir Handlungsoptionen, versetzt mich aber aufgrund seiner Reizbarkeit auch in ungewünschte Zustände, die sich einer willentlichen Kontrolle bzw. der Intentionalität meines Bewusstseins entziehen. Der Leib ist daher ebenso ein Schauplatz praktischer Aneignungen wie affektiver Enteignungen. Analog dazu, dass Teile des eigenen Leibes aufgrund traumatischer Vorfälle als ›fremd‹ wahrgenommen werden können (und bei einigen Patienten zu Selbstver-
IX.4. Phänomenologie der Medien
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stümmelungen führen können), können ›Fremdkörper‹ der körperlichen Selbstwahrnehmung derart ›einverleibt‹ werden, dass die Differenz nicht mehr spürbar ist. Es spielt dabei keinerlei Rolle, ob es sich um technische Prothesen handelt (De Preester 2011) oder um das Ergebnis einer Organtransplantation, wie sie etwa Jean-Luc Nancy in seinem autobiografischen Bericht über das Leben mit einem fremden Herzen in Der Eindringling beschreibt (Nancy 2000). Durch diesen Prozess der Einverleibung wird die Prothese zur ›zweiten Natur‹ und wird Teil gewohnheitsmäßiger, alltäglicher Erfahrungen. Phänomenologische Ansätze bieten diesbezüglich einen deutlichen Vorteil gegenüber klassischen Körpersoziologien: Mit Marcel Mauss und seinem Begriff der Techniques du corps (Mauss 1934/1974) ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass körperliche Abläufe keineswegs allein anatomischen Selbstverständlichkeiten gehorchen, sondern dass allerlei Haltungen und Handlungen eingeübt werden müssen, angefangen bei so basalen Tätigkeiten wie Gehen, Sitzen, Greifen oder Laufen. Während Mauss’ Soziologie allerdings nur die drittpersonale Perspektive einnehmen kann, interessiert sich eine Phänomenologie der »Leibtechniken« für all solche Verfahren, bei denen der eigene Körper als erstpersonal erfahrenes, leibliches Medium fungiert (Sternagel/Goppelsröder 2016). Die neuronale Plastizität, wodurch Hirnareale selbst nach schweren Läsionen funktional wiederbesetzt oder moduliert werden können, hat auf der praktischen Ebene eine Entsprechung, wenn die ›eingefleischten‹ Routinen nach Unfällen, Amputationen oder chirurgischen Eingriffen neu gelernt oder alternativ ausgelegt werden müssen (Malabou 2015). Dass ich durch meinen Leib wirken kann, verdanke ich – folgt man dem späten Merleau-Ponty – weniger irgendeinem ›bewusstseinsinternen‹ Privileg als der sinnlich-materiellen Verfasstheit der Welt. Nur deshalb kann ein Subjekt leiblich wahrnehmen, weil es teilhat an einer allgemeinen stofflichen Textur von Welt, aus der Sinnlichkeit hervorgeht. In seinen späten Texten nennt Merleau-Ponty diese stoffliche Textur la chair, »Fleisch«, und charakterisiert sie als »formendes Milieu für Subjekt und Objekt« (Merleau-Ponty 1964/1986, 143). Diese Milieuqualität von Medialität geht weit über einen gegenständlichen Begriff des Mediums hinaus. Das Fleisch, das Merleau-Ponty mit einem aus Ferdinand de Saussures Linguistik geborgten Ausdruck als »diakritisch« verstanden wissen will, verdankt sich keiner Organprojektion, keiner Ausweitung der Leibstruktur auf die Welt; vielmehr geht es darum, die sinnlich-materielle Dimension der Welt zu betonen. Aus dieser allgemeinen Zwischenleiblichkeit (intercorporéité) leitet sich mein spezifischer Leib ab; mein Medium zur Welt verdankt sich folglich einer allgemeineren Struktur der Welt, die sie bedingt. Man könnte von der Einsicht in die grundsätzliche Heteronomie des Medialen sprechen, die auch von anderen Medienphilosophien herausgearbeitet wurde (Sybille Krämer erinnert in ihrem Botenmodell des Medialen [Krämer 2008] daran, dass Medien immer mit ›fremder Stimme‹ sprechen und nie eigens initiativ werden). In Merleau-Pontys Ontologie wird daraus ein Denken über das sinnliche Milieu der Existenz, insofern Medium sowohl darauf verweist, dass Sein immer ›zwischen‹ und ›inmitten‹ bedeutet
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(être-parmi), aber auch im kausalen Sinne auf ein »Durch-(etwas)-sein« hindeutet (Bermes 2002; Alloa 2012; Gerlek 2020). Neben diesem heteronomen, außenbedingten Aspekt streicht Merleau-Ponty jedoch mit der Betonung der Materialität auch den widerständigen und widersetzlichen Aspekt des Medialen hervor. Gegen bloße funktionalistische Erklärungen von Medienprozessen liefert Mer leau-Pontys Wahrnehmungsontologie Argumente, warum Medien bei aller Fremdbestimmung auch einen materiellen Eigensinn aufweisen. Dass Medien von anderswoher ihre Aufträge entgegennehmen, die sie dann mal besser, mal schlechter ausführen, und einer Stimme Ausdruck verleihen, die nicht die ihre ist, bedeutet gleichwohl noch nicht, dass sie in diesem Verkörperungsprozess nicht auch Eigenes hinzufügten. Obwohl Medien folglich nie aus eigener Initiative handeln, geben sie dem, was sie sicht- und hörbar werden lassen, eine unweigerlich eigene Wendung. Diese Eigenart, dieser spezifische Stil ist nie ganz zu tilgen. Zweifellos: Wo Medien am Zug sind und wo ein medialer Vollzug im Gange ist, versperrt sich der Vollzug selbst in gewissem Umfang der Nachvollziehbarkeit, eben weil Medien stets anderes in Erscheinung treten lassen als sich selbst. Dennoch bleibt ihre Wirkung oft noch spürbar, in Gestalt von Wasserzeichen gleichsam, die durch dasjenige durchscheinen, was in ihnen zum Vorschein kommt. Merleau-Ponty erläutert diesen Zusammenhang am Beispiel eines von Zypressen umgebenen Wasserbeckens in Südfrankreich: Wenn ich auf dem Boden des Schwimmbeckens durch das Wasser hindurch die Fliesen sehe, sehe ich nicht trotz des Wassers und der Reflexe, ich sehe sie eben durch diese hindurch, vermittels ihrer. Wenn es nicht jene Verzerrungen, jene durch die Sonne verursachten Streifen gäbe, wenn ich die Geometrie der Fliesen ohne dieses Fleisch (chair) sähe, dann würde ich aufhören, sie zu sehen, wie sie sind und wo sie sind, – nämlich: weiter weg als jeder sich selbst gleiche Ort. (Merleau-Ponty 1964/2003, 305)
An entsprechende Denkmotive setzen rezente Ansätze an, die bemüht sind, aus der phänomenologischen Reflexion für medienwissenschaftliche Untersuchungen neue Funken zu schlagen. Das gilt für Entwürfe einer medialen Diaphänomenologie (Alloa 2018) sowie für eine phänomenologisch inspirierte mediale Anthropologie des Geistes (E. Schürmann 2013; 2018). Theorien des Anthropomedialen stehen systematisch nahe (Voss 2013), wiewohl die Rezeption von Merleau-Pontys Verkörperungsphänomenologie her indirekt verläuft, insbesondere über Vivian Sobchacks Entwürfe zur Leiblichkeit filmischer Illusionsmedien (Sobchack 2004), aus der die Theorie der »Leihkörperschaft« gewonnen wurde. Überhaupt gibt es vielerlei Anknüpfungspunkte an ein Denken der leibbasierten Virtualisierung, etwa wenn Merleau-Pontys Gedanken zum ›virtuellen Leib‹ in Studien zu immersiven virtuellen Räumen zur Anwendung kommen (Hansen 2006), oder über die Veränderung des Körperschemas in digitalen Environments. Diskussionen über Zeichenkulturen und Präsenzkulturen (Hörisch 2001; Gumbrecht 2004; Wiesing 2005; Mersch 2010b) gehören in einen nahe gelagerten Bereich. Die holzschnittartige Gegenüberstellung von distanziertem Lesen
IX.5. Ausblick
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und Präsenzerlebnis wird hier allerdings von Anfang an durch das Phänomen der Tele-Präsenz unterminiert, das in hochtechnologischen Kommunikationsgesellschaften zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Zahlreiche Schnittstellen ergeben sich ferner mit medienökologischen Skizzen, welche Medialität anstatt vom Kommunikationskanal vielmehr von medialen Umräumen und Atmosphären her denken (Sprenger 2019), oder zu den Netzwerktheorien, die künstliche mediale Netzwerke als »elemental« verstanden wissen wollen (Galloway/Thacker 2007, 157). In neuerer Zeit zeichnet sich jedenfalls ein Konsens ab, dass der Medienbegriff weiter gefasst werden muss als in herkömmlichen Theorien der Massenkommunikation: Luft oder Wasser können dann ebenso Medien darstellen wie das Medium der Schrift oder der Telegrafie, die menschliche Stimme ebenso wie das Radio und der Körper des Schauspielers ebenso wie eine Bildschirmübertragung. Mit Dieter Mersch gesprochen geht es dabei allgemein weniger um das Meta der Übertragung als um das Dia des medialen Zwischenraums (Mersch 2010a). In der Schnittmenge medienwissenschaftlicher und phänomenologischer Methoden entstehen neue Forschungsthemen sowie spezifische Fachgesellschaften, die an deren Verschränkung arbeiten (Majkut/Carrillo Canán 2010). Im Zuge dieser Initiativen werden eine Reihe von Autor:innen wiederentdeckt, die mal enger, mal loser mit phänomenologischem Werkzeug gearbeitet haben, ob es darum geht, Fritz Heiders wegweisendem Essay »Ding und Medium« von 1926 (Heider 1926/2005) oder Eugen Finks Medienontologie (Fink 1955) einer neuen Lektüre zu unterziehen, oder aber, daran zu erinnern, dass der 1920 in Prag geborene Pionier der Kommunikologie, Vilém Flusser (Flusser 1994b; 1995), sein Denken selbst als eigenwillige Fortführung der Phänomenologie verstand. Wiewohl die jeweiligen Verwendungsweisen der Begriffe Phänomenologie und Medien im Einzelnen miteinander abzugleichen sind, bleibt unbenommen, dass mediale Dimensionen zum Untersuchungsgebiet einer phänomenologisch inspirierten Philosophie gehören, und sei es nur – wie schon von Bernhard Waldenfels unterstrichen –, weil Medien maßgeblich an der Modalisierung von (leiblicher, raumzeitlicher, sozialer, ästhetischer) Erfahrung mitbeteiligt sind (Waldenfels 2004, 176). 5. Ausblick 1923 veröffentlicht der Neukantianer Heinrich Rickert seinen Aufsatz »Die Methode der Philosophie und das Unmittelbare« (Rickert 1999). Husserls Phänomenologie lastet er dort die Verantwortung an, einen für die Philosophie gefährlichen Intuitionismus zu propagieren. Die Ablehnung der kantianischen Erkenntnisschemata zugunsten einer Rückkehr zu den Sachen selbst habe »mehr beigetragen, das Problem des Unmittelbaren zu verdecken, als es zu klären« (ebd., 118). Rickerts Deutung der Phänomenologie widerspricht Heidegger daraufhin
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scharf. Zu Rickert sei »zunächst allgemein zu sagen, dass die Phänomenologie weder eine Philosophie der Intuition sein will noch eine Philosophie des Unmittelbaren« (GA 20, 121). Zwischen dem Ding an sich und dem Ding für mich liegt keine metaphysische Kluft, sondern lediglich ein Unterschied in der Art und Weise, wie man sich – denkend oder wahrnehmend – darauf bezieht. Das gegenständliche Was etwas ist tritt zugunsten des Wie seiner Erfahrungsgegebenheit zurück; darin besteht der radikale Blickwechsel phänomenologischen Fragens. Mit ihren systematischen Fragen nach dem ›Wie‹, der erstpersonalen Erfahrungsperspektive und den Vermittlungsbedingungen der Anschauung richtet die Phänomenologie den Untersuchungsschwerpunkt auf verschiedene Ebenen des Modalen. Man kann darunter Stilfragen ebenso verstehen wie auch Rahmenvoraussetzungen, performative Dimensionen ebenso wie auch Einstellungsqualitäten, welche ihrerseits hinsichtlich ihrer sozialen oder individuellen, materialen oder intentionalen Verfasstheit befragt werden können. Damit besteht de facto eine prinzipielle Affinität zu den Medien- und Kulturwissenschaften, welche ebenfalls mehr nach dem Wie als dem Was fragen, wenn und indem sie die Relationalität der wechselseitigen Überformung gegenüber dem Vorhandensein der Relata priorisieren. Das Wie kann gleichwohl sehr unterschiedlich akzentuiert werden, indem mal mehr auf die instrumentellen und apparativen, mal mehr auf milieuhafte und strukturelle Ausprägungen von Medialität abgestellt wird. Ein Fehlschluss wäre es hierbei zu meinen, dass ein Denken, das sich der Erfahrung der Sachen selbst verschrieben hat, zugleich auch behaupten müsse, dass Sachen unvermittelt in Erscheinung treten. Im Gegenteil: Die Sachen selbst zeigen sich oder werden gezeigt durch zahlreiche Vermittlungsbedingungen hindurch. Ob es sich um einen willentlich hervorgebrachten Einstellungswechsel handelt oder um die Winkelfixierung des Sichtobjektivs, hängt wie so vieles von der Einstellung ab. Emmanuel Alloa, Eva Schürmann
X. Ästhetik und Künste Zwischen Phänomenologie und Ästhetik besteht eine natürliche Affinität – die Aufmerksamkeit auf die Modi des Erscheinens, die Betonung der Rolle der Wahrnehmung, schließlich die Modelle leiblicher Interaktion mit der Welt lassen die Phänomenologie als naheliegenden methodischen Zugang zur Ästhetik und die Ästhetik als wesentliches Betätigungsfeld der Phänomenologie erscheinen. Dennoch hat die Ästhetik in der klassischen Phänomenologie nie die zentrale Stelle besetzt, die man hätte erwarten können. Tatsächlich sind für Husserl, Heidegger, Sartre und Merleau-Ponty, um hier nur die wichtigsten Vertreter zu nennen, ästhetische und kunstphilosophische Motive auf sehr unterschiedliche Weise von Bedeutung gewesen, ohne dass einer von ihnen eine systematische Ästhetik vorgelegt hätte. Ausführlichere Auseinandersetzungen mit Ästhetik und Kunst fin-
X.1. Positionen und Konstellationen
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den sich unter anderem bei Roman Ingarden, Mikel Dufrenne und Henri Maldiney. Dabei ist die Diskussion fast immer in allgemeine philosophische Erwägungen eingebunden, wobei die Kunst weniger als bloßes Beispiel benutzt wird, an dem andere Fragen verhandelt werden, als vielmehr als heuristisch bedeutsamer oder gar anthropologisch oder ontologisch zentraler Modus der Weltaneignung aufgefasst wird. Im Folgenden sei im ersten Teil kurz auf die begriffliche Grundkonstellation jedes der genannten Autoren eingegangen, um dann im zweiten Teil einzelne künstlerische Felder anhand exemplarischer Positionen in den Blick zu nehmen (für Einträge zu weiteren Personen und Disziplinen Embree 1997; Sepp/Embree 2010). Dabei werden manche Motive der im ersten Teil behandelten Philosophen erst im zweiten ihren Ort finden bzw. dort wiederholt werden. Auf darüber hinausgehende Hinweise auf phänomenologische Motive bei zahlreichen Autoren, die in Selbstbeschreibung und öffentlicher Wahrnehmung nicht in dieser Tradition verortet werden, musste aus Platzgründen verzichtet werden.
1. Positionen und Konstellationen 1.1. Edmund Husserl: Bild und Fantasie
Der Einsatzpunkt ist für Husserl die Diskussion um Bild und Bildlichkeit, und er beginnt mit einer dezidierten Abwehr: In den Logischen Untersuchungen (Hua XIX/1, 436 ff.) wendet er sich gegen Repräsentationstheorien der Wahrnehmung, insbesondere solche, die von der Vermittlung durch eine Art innere Bilder ausgehen. Diese verkennen Husserl zufolge die spezifische Funktionsweise von Bildern im Unterschied zu bloßen wahrgenommenen Gegenständen. Intentional auf einen Gegenstand bezogen zu sein, bedeutet, diesen als direkten Bezugspunkt zu haben, ohne die Vermittlung einer zusätzlichen Instanz wie eines inneren Bildes. Bilder auf der anderen Seite sind keine abgeschwächte Form der Wahrnehmung, wie Hume es sich dachte, und anders als leibhaftig anwesende Gegenstände sind sie nicht einfach gegeben, sondern setzen eine spezielle Bewusstseinsleistung voraus, durch die sie als Bilder fungieren, also etwas darstellen können. Wenige Jahre später (1904/05) wendet Husserl sich der Frage nach Bildlichkeit systematischer zu, und auch diesmal ist sie eingebettet in die Auseinandersetzung mit der ›Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis‹. Ausgangspunkt ist hier die Unterscheidung von Fantasie und Wahrnehmung, und Husserl behandelt das Sehen von Bildern als Fall, an dem die spezifische Auffassungsweise von Fantasiebildern expliziert werden kann, auch wenn er sich durch die physische Realität des Bildträgers von diesen unterscheidet. Der Bildbegriff ist nun dreistellig, indem physisches Bild, Bildobjekt und Bildsujet unterschieden werden (Hua XXIII, 19). Gedacht ist dies wiederum rein funktional, denn eine bloße vorliegende Ähnlichkeit einer Sache mit einer anderen reicht als Voraussetzung nicht aus; er-
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forderlich ist vielmehr die Auffassung von etwas als Bild und damit als Darstellung von etwas anderem. Bilder sind dementsprechend keine aus sich selbst bestimmte Klasse von Gegenständen, und im Prinzip kann alles zum Bild werden, indem es als solches aufgefasst wird. Angelpunkt dieser Operation ist das Bildobjekt, also das Bild als Bild, das einen Zwischenstatus einnimmt: Es erscheint aufgrund der bildhaften Auffassung eines physischen Gegenstandes, ist aber nicht selbst physisch; ebenso wenig ist es aber ein ›reelles Bestandsstück‹ des Bewusstseins. Es ist, wie es immer wieder heißt, nichts. Von der normalen Wahrnehmung der Welt und der Dinge hebt es sich ab, indem es eine Zone bildet, in der die reale Gegenständlichkeit nichts gilt, ohne aber zu verschwinden. Damit steht das Bildobjekt im ›Widerstreit‹ sowohl zur Welt um es herum als auch zu seinem eigenen Träger, denn die Auffassung des Gesehenen als physischer Gegenstand und als Bildobjekt sind nicht miteinander vereinbar, bleiben aber beide im Spiel. Die bisweilen emphatische Rede von Nichts und Widerstreit darf dabei nicht so missverstanden werden, als handelte es sich beim Bildbewusstsein um eine Negation des Realen. Vielmehr ist es ein spezifischer Typ von Neutralisierung, der die Frage nach der Wirklichkeit des so Aufgefassten nicht dementiert, sondern suspendiert (Hua III/1, § 111). Komplettiert wird der Bildbegriff durch die dritte Instanz des Bildsujets, das sich vom Bildobjekt wie die Darstellung vom Dargestellten unterscheidet. Im Bildobjekt sehen wir das Sujet an, das in diesem Sinne keine dritte Erscheinung ist, sondern das durch das Bild Gemeinte: Das Bild »weist auf den Gegenstand durch sich selbst hindurch« (Hua XXIII, 34). Dabei beruht die Darstellung darauf, dass Bildobjekt und Bildsujet einander zwar ähnlich sind, aber gerade nicht miteinander verwechselt werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Sujet selbst ein Reales ist oder nicht: Der dreistellige Bildbegriff (Alloa 2009) gilt auch bei Darstellungen von Tod und Teufel, Engeln und Einhörnern, auch wenn von Ähnlichkeit hier nur uneigentlich die Rede sein kann ( C.I.8). Bezeichnend und prägend für ein phänomenologisches Verständnis von Ästhetik ist Husserls Diskussion in mehrerlei Hinsicht: Einmal wird bei all dem dem Bild die paradigmatische Rolle eingeräumt – die Musik hingegen taucht an ganz anderer Stelle, nämlich in der Phänomenologie des Zeitbewusstseins, auf, und zwar als bloßes, wenn auch wichtiges Beispiel. Von hier aus ist eine Diskussion über Kunst und Ästhetik zuerst einmal eine Diskussion über das Bild, was Folgen für den Darstellungsbegriff hat und eine Ordnung der Künste impliziert, in der die bildende Kunst das Zentrum einnimmt. Noch bedeutsamer ist die mehrfache Rolle, die der Kunst eingeräumt wird. Husserl geht nicht ursprünglich von einem Interesse an Kunst oder auch nur an Darstellung aus, und Bild und Fantasie sind zuerst einmal vor allem deswegen bedeutsam, weil sie e contrario Rückschlüsse auf die natürliche Einstellung erlauben. Allerdings ist die Fantasie als »freie Umgestaltung« des Wahrgenommenen von größter Bedeutung für die Wesenswissenschaft Phänomenologie, sodass Husserl die Fiktion als das »Lebenselement« der Phänomenologie beschreiben
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kann (Hua III/1, 148). Fantasiebilder, aber auch die Kunst sind von hier aus das entscheidende Medium, innerhalb dessen wir gerade über die Abweichung vom Gegebenen etwas über die Wesensstrukturen der Wirklichkeit lernen können. Darüber hinaus hält er 1907 in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal eine prinzipielle Affinität von ästhetischer und phänomenologischer Einstellung fest, die beide auf einer Art Suspendierung der Wirklichkeit und auf eine je unterschiedliche Erforschung der Erscheinungen als Erscheinungen zielen (Hua Dok III/7, 133–136). Im Anschluss daran konnte schließlich die Phänomenologie selbst als ästhetische Theorie konzipiert werden (Fellmann 1989). Dennoch bleibt die implizite Ästhetik und Einteilung der Künste, die auch Derrida (1967/1972, 386, Anm. 13) in Husserls Beispielen aus der Kunst findet, noch zu schreiben. 1.2. Roman Ingarden: Ontologie des ästhetischen Gegenstands
Der Husserl-Schüler Ingarden war der erste Phänomenologe, der sich systematisch der Kunstphilosophie zuwandte, ohne dass man sagen könnte, dass er eine übergreifende Ästhetik verfasst hätte. Dennoch stehen seine Untersuchungen zur Literatur, zur Musik, zum Bild, zur Architektur und zum Film in einem engen Zusammenhang. Ingarden ist in vielem orthodoxer Husserlianer, argumentiert aber ontologisch und betrachtet seine ästhetischen Untersuchungen als Beitrag zur Realismus-Idealismus-Debatte ( B.III.1), in der ihm Husserls transzendentaler Idealismus nicht das letzte Wort zu sein scheint. Den Ausgangspunkt bildet für ihn dabei die Literatur, der er zwei Bücher gewidmet hat (1931/1965 und 1968) und an der sein Grundmodell der Ontologie des Kunstwerks entwickelt wird. Das literarische Werk bleibt auch bei den Untersuchungen zu anderen Kunstformen der Referenzpunkt, und das Grundmodell wird nicht verändert, sondern für Musik, Bild, Architektur und Film nur unterschiedlich ausbuchstabiert (Ingarden 1962). Entsprechend ist es nicht das Bild, sondern der Satz bzw., noch elementarer, der Meinungsakt, von dem ausgegangen wird. Dabei bleibt die mehrstellige Unterscheidung in Husserls Bildbegriff grundsätzlich verbindlich, auch wenn sie transformiert wird. Ingardens Kategorie des ›reinen intentionalen Gegenstands‹ beerbt diejenige des Bildobjekts, wird aber von Aussagen her gedacht und daher weiter gefasst. Solche Gegenstände sind nicht »seinsautonom« (Ingarden 1931/1965, 121 ff.), sondern verweisen auf sie hervorbringende Bewusstseinsakte, die als ihr Träger bezeichnet werden. Entsprechend ist der Ausgangspunkt hier nicht eine an einem Gegenstand gemachte Unterscheidung, sondern ein stiftender Akt, mit dem Bedeutung hervorgebracht wird. Dieser Akt ist näher betrachtet eine Vorstellung, die aber an eine Wortbedeutung oder einen Satz gebunden ist. Wort und Satz nehmen so die Stelle des »physischen Seinsfundaments« (Ingarden 1962, 207) des Bildes ein und sind damit zwar nicht physische, aber doch als solche benennbare Träger jener intentionalen
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Gegenstände, aus denen sich ein literarisches Werk aufbaut. In diesem Aufbau identifiziert Ingarden eine Reihe von Schichten – Lautgebilde, Bedeutungseinheiten, dargestellte Gegenständlichkeiten, schematisierte Ansichten –, die sich zu einer ›polyphonen Harmonie‹ zusammenfügen. Auch wenn all dies sich im rein Intentionalen abspielt, ist es ein ›intersubjektiv‹ Intentionales, das im Prinzip von jedem auf die gleiche Weise aufgefasst werden kann und auch nicht an die Erlebnisse oder Absichten des Autors zurückgebunden werden muss. Auf der anderen Seite ist jedes Kunstwerk angewiesen auf ›Konkretisation‹, also Rezeption – bei der Musik auch Aufführung –, und nur in seinen Konkretisationen wird es uns zugänglich. Dennoch beharrt Ingarden darauf, diese vom Werk selbst zu unterscheiden, das in mancher Hinsicht schematisch ist und Lücken und Potenzialitäten aufweist, die von den Lesern gefüllt bzw. realisiert werden müssen, und das als identisches Moment der verschiedenen Konkretisationen erscheint. Dabei kann es sich in der Geschichte der unterschiedlichen Auffassungen schließlich auch selbst verändern, was die kategoriale Grenzziehung zwischen Werk und Lektüre zumindest problematisch werden lässt. Die tatsächliche konkrete Lektüre wird in einem eigenen Buch im Sinne eines ›Erlebnisses‹ (Ingarden 1969) beschrieben, das von einer Ursprungsemotion über die Rekonstruktion des ästhetischen Gegenstands bis zu einer wertenden Antwort auf ihn reicht und das jederzeit klar von ihm unterschieden werden kann. Sie wird noch einmal abgegrenzt vom »betrachtenden Erkennen der ästhetischen Konkretisation« (Ingarden 1968, §§ 28 f.), also dem analytischen wissenschaftlichen Blick, der es auf Struktur und Bewertung abgesehen hat. Beide Haltungen sind als Referenzpunkt und Korrekturinstanz wechselseitig aufeinander verwiesen. Das ›Leben‹ des Werks findet in dieser Verflechtung des reinen intentionalen Objekts mit den unterschiedlichen Typen seiner Rezeption statt. 1.3. Martin Heidegger: Kunst und Ereignis
In seiner Auseinandersetzung mit der Kunst hält Heidegger sowohl zur Ästhetik als auch zur Kunstwissenschaft die größte Distanz: Während Erstere für ihn zu stark auf Erfahrung und Erleben und damit auf das Subjekt bezogen und überdies in überkommenen philosophischen Kategorien befangen ist, behandelt Letztere die Kunst als ein Vorliegendes, zu dem sie sich ordnend und verstehend verhalten kann (GA 6/1, 74 ff.). Für Heidegger ist die Kunst bedeutsam als eine Weise, in der Wahrheit sich ins Werk setzt und zu der Ästhetik und Wissenschaft immer im Verhältnis der Nachträglichkeit stehen. Nur eine Philosophie, die sie als ihr selbst gleichberechtigt behandelt, ist ihr gewachsen. Im Zentrum des in den 1930er-Jahren entstandenen und 1950 zuerst veröffentlichten Vortrags Der Ursprung des Kunstwerks (GA 5, 1–74) steht das Werk, das vom Ding und dem Zeug abgegrenzt wird (SuZ, 66 ff.). Während Letzteres um des Gebrauchs willen hergestellt wird und so als Quelle der Unterscheidung von Stoff und Form angesehen werden kann, entzieht sich Ersteres in seinem schieren
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Dass den traditionellen Kategorien. Das Kunstwerk ist weder ein Zeug noch ein Ding ( C.I.5), das außerdem noch künstlerisch gestaltet ist oder ästhetisch aufgefasst wird, sondern bildet eine ontologisch eigene Kategorie; dass es auch dinglich ist, wird erst aus seinem Werkcharakter deutlich. Von Husserl und Ingarden ist dies denkbar weit entfernt. Der zentrale Begriff ist dabei der der Wahrheit, der hier nichts mit einer Abbildungsbeziehung oder korrekten Darstellung zu tun hat, sondern vom Altgriechischen als Unverborgenheit (alētheia) gefasst wird. Diese ist nichts, was vorhanden oder gegeben wäre, sondern ereignet sich als Offenheit im Seienden, als ›Lichtung‹. Diese wird verstanden als Weise des Erscheinens des Seins. Insofern sie immer spezifisch ist, ist sie Entbergen und Verbergen zugleich und nie vollständig, alternativlos oder frei von Unklarheit und Dunkelheit. Als emphatische Weisen des sich Ereignens von Wahrheit nennt Heidegger neben dem Kunstwerk die Staatsgründung, die Religion, das Opfer und die Philosophie. Dabei treten Lichtung und Unverborgenheit als Voraussetzung dessen, dass uns überhaupt etwas gegeben ist, nur ausnahmsweise als solche in Erscheinung; in besonderer Weise tun sie dies im Kunstwerk. Dieses tritt nicht nur als Erscheinendes auf oder stellt etwas dar, sondern lässt dabei gleichzeitig das Ereignis des Erscheinens einer Welt selbst sichtbar werden. Dabei stellt Heidegger Welt und Erde gegenüber, die im Erscheinen in Form des Streites aufeinander bezogen sind. Mit Welt ist die Offenheit eines Gefüges von Sinn und Bedeutung gemeint, also so etwas wie ein grundlegendes Weltverständnis, das nicht einem Einzelnen, sondern einem Volk oder, wie man vielleicht etwas neutraler sagen könnte, einer Lebensform zugeordnet wird. Erde ist demgegenüber die schiere Gegebenheit der Dinge, für die das Verständnis nicht aufkommen kann und auf die es angewiesen ist, die aber auch erst in seinem Zusammenhang erscheint; er nennt etwa das Leuchten der Farbe und das Klingen der Töne. Welt und Erde sind im Streit vereint, insofern die Offenheit der Welt auf die in sich ruhende Verschlossenheit der Erde als ihr Widerlager angewiesen ist und diese nur in der Offenheit erscheinen kann. Mit der Rede vom ›Riss‹ bringt Heidegger dabei mehreres zusammen: das Aufreißen einer Weise des Erscheinens von Welt, den Riss zwischen Welt und Erde und den Grund- oder Umriss als Gestalt, in der dies im Kunstwerk geschieht. Seine Beispiele funktionieren dabei auf sehr unterschiedliche Weise: Im Gemälde eines Paars Schuhe von van Gogh entfaltet sich die Welt einer Bäuerin allein aus der Darstellung dieses spezifischen Zeugs (für eine Kritik dieser Deutung Schapiro 1968), der griechische Tempel stellt nichts dar, sondern lässt durch sein Dastehen Boden, Berge und Himmel erscheinen – man könnte sagen, dass er die ihn umgebende Natur als Welt erscheinen lässt, indem er sie auf sich bezieht. Schließlich aber wird der Sprache – und nicht der Wahrnehmung – die zentrale Rolle eingeräumt, die nicht als Kommunikationsmedium, sondern als dasjenige gedacht wird, das Welt allererst erschließt und insofern Voraussetzung dafür ist, dass dies im Kunstwerk noch einmal auf explizite Weise geschehen kann. Von
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hier aus kann Heidegger (GA 5, 59 f.) sagen, dass alle Kunst Dichtung ist, insofern sie sich in den von der Sprache eröffneten Raum stellt und ihn gestaltet, und von hier aus ist es auch zu verstehen, dass es zunehmend die Auseinandersetzung mit Hölderlin ist, die den größten Raum in seiner Beschäftigung mit den Künsten einnimmt (GA 7, 189–208). Dabei wird zwar betont, dass Produktion und Rezeption essentiell für das Kunstwerk sind, ihre Rolle wird aber von derjenigen einer als Ereignis auftretenden Kunst in die zweite Reihe gedrängt. Das Geschaffensein des Werks ist in es eingeschrieben nicht als Verweis auf eine Autorin, sondern im Sinne des Gemachtseins als solchem. Dieses erscheint für Rezipienten oder ›Bewahrende‹ als ›Stoß‹, als Unwahrscheinlichkeit des Welt eröffnenden Ereignisses, das die Welt und unser Verhältnis zu ihr in ein neues Licht rückt. Trotzdem werden sie mehr noch als die Produzentin zur Funktion des Werks, das auf Rezeption angewiesen ist, diese aber nicht frei lässt. Entscheidend sind vielmehr die Unwahrscheinlichkeit der Existenz des Werks und der Anspruch, den es stellt. Ebenso wie der ›Riss‹ ist der ›Stoß‹ eine der Figuren des Zwischen, von denen das Ereignisdenken des späten Heidegger geprägt ist und von denen aus Mensch und Sein, Welt und Erde, Schaffende und Bewahrende gedacht werden sollen. 1.4. Jean-Paul Sartre: Imagination und Negation
Mit Sartres Theorie der Einbildungskraft oder Imagination beginnt die Geschichte der Phänomenologie in Frankreich, und sie speist sich wesentlich aus einer Lektüre der damals verfügbaren Schriften Husserls, die er allerdings einer gravierenden Transformation unterzieht; Heideggers Kunstwerk-Aufsatz konnte er damals noch nicht kennen. Wie bei Husserl werden Fantasie (images mentales) und reale Bilder im selben Zusammenhang verhandelt, wobei Sartre (1940/1971, 40 ff., 62 ff.) sie noch näher aneinanderrückt: Die beiden unterscheiden sich lediglich in der Art ihrer Materie, die einmal psychisch und einmal physisch ist, der Auffassungsakt aber, der sie zum Bild macht, ist in beiden Fällen derselbe. Zu Beginn von Das Imaginäre werden noch mit Husserl vier Varianten der Setzung von etwas in der bzw. als Vorstellung unterschieden – darunter die husserlsche Neutralitätsmodifikation –, im Verlaufe des Buches werden diese aber einander angeglichen und schließlich allesamt als Negation aufgefasst. Der entscheidende Punkt ist für Sartre die scharfe Abgrenzung zur Wahrnehmung; anders als bei Husserl, für den Bildbewusstsein und Wahrnehmung zwei Typen der Auffassung desselben sind und daher im Widerstreit zueinander stehen, sind Bild und Vorstellung für Sartre die Stiftung einer Sphäre, die sich von der Wahrnehmung radikal unterscheidet, weil sie sich auf Abwesendes oder nicht Existierendes bezieht. Wenn das Dargestellte sich im Bild ›inkarnieren‹ kann, so nur deshalb, weil es zwar im Hier und Jetzt ein Analogon findet, ihm aber dabei entgegengesetzt wird. Entsprechend kann man auch nicht davon sprechen, dass man
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ein Bild sieht, sondern man müsste sagen, dass man es sich anlässlich einer visuellen Wahrnehmung vorstellt. Die Theorie der Imagination ist für Sartre die Grundlage seiner späteren ›phänomenologischen Ontologie‹ (Sartre 1943/2020), deren Zuspitzungen sie vorwegnimmt. Die Imagination ist hier kein peripheres Vermögen, sondern paradigmatisch für Bewusstsein überhaupt, indem sie eine Distanznahme von der Fülle und der Massivität des Seins ermöglicht. Bereits hier werden nicht nur die unterschiedlichen Typen der Setzung, sondern wird jede Form der Distanznahme, Abweichung oder Suspension als Negation verstanden, die gleichzeitig die Grundlage der Freiheit ist und die Wirklichkeit als ›Situation‹, also als je spezifisches Profil von Anforderungen und Potenzialitäten, erscheinen lässt ( C.I.6). Vorstellung und Bild werden zum emphatisch Irrealen, das auf einer ›Nichtung‹ der Welt beruht und dessen Armut gegenüber der unendlichen Fülle der Wahrnehmung durch ihre Freiheit gegenüber dem Gegebenen ausgeglichen wird. Diese Irrealität gilt Sartre zufolge für jede Kunst, selbst für die nicht darstellende Musik, und Schönheit als solche hat im Realen keinen Platz. Die physischen Dinge und Handlungen, die die reale Grundlage der Künste bilden, werden nur insofern zur Kunst, als sie negiert werden und damit vom Irrealen ›heimgesucht‹ werden können. Dabei werden die nicht bildlichen Künste ganz vom Bild her gedacht und nur kursorisch behandelt. In Was ist Literatur? schließlich wird eine scharfe Grenze zwischen dieser – genauer der Prosa – und den anderen Künsten gezogen, denn nur sie operiert mit Zeichen und Bedeutung und ist insofern eine »imaginäre Präsentation der Welt […], insofern sie die menschliche Freiheit verlangt« (Sartre 1947/1981, 53). Indem sie Situationen darstellt, zeigt sie Handlungsmöglichkeiten und kann zum Handeln aufrufen, und nur an sie ergeht der Aufruf des Engagements. 1.5. Maurice Merleau-Ponty: Bild und Werden der Welt
Merleau-Ponty ist unter den klassischen Phänomenolog:innen vermutlich der, bei dem zwischen der zentralen Bedeutung der Kunst und der Zahl der ihr explizit gewidmeten Texte die größte Diskrepanz herrscht. Bereits früh findet sich eine Parallelisierung der künstlerischen und der phänomenologischen Arbeit, die an Husserls Brief an Hofmannsthal erinnert, aber neu akzentuiert wird: Die gemeinsame Aufgabe besteht für Merleau-Ponty darin, die Welt nicht als fertige, sondern in statu nascendi zu beschreiben und darzustellen (Merleau-Ponty 1945/1966, 18). Dabei sind Philosophie und Kunst nicht nur parallele Unternehmungen, sondern die Philosophie kann und muss immer wieder auf künstlerische Arbeiten und Prozesse zurückgreifen, weil sich in ihnen das Werden der Welt in der Wahrnehmung auf ausgezeichnete Weise darstellt. Die Referenz künste sind einmal mehr die Malerei und die Literatur. Dabei interessiert ihn weniger die Existenzweise der Kunst als ihre Organisationsform und die Prozesse, die sie verkörpert. So ähnelt die Einheit des Leibes
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derjenigen des Kunstwerks insofern, als beide als räumlich und zeitlich Situierte eine von dort ausstrahlende Bedeutung haben, die in einer Organisation verkörpert ist, in der die einzelnen Teile einander implizieren und nur um den Preis der Zerstörung des Gefüges verschoben oder getilgt werden können (ebd., 181 f.). Die Figuren der Physiognomie und des Stils als inkarnierter Bedeutung, die nicht dekodiert, sondern als ganze erfasst wird, verbinden beide Bereiche. Neben zahlreichen literarischen Referenzen, bei denen die Werke Marcel Prousts als eine Art Phänomenologie mit literarischen Mitteln begriffen werden, ist es systematisch in erster Linie die Malerei und dort vor allem Cézanne, auf die er sich bezieht. Dabei kann die von Gasquet überlieferte und von Merleau-Ponty zitierte Formulierung Cézannes, dass die Landschaft »sich in ihm denkt« (Gasquet 1982, 137), als Anhaltspunkt dienen: Zum einen ist diese Malerei nicht die Kreation eines Subjekts, sondern stellt sich in den Dienst eines Darzustellenden, das ihr vorausgeht; zum anderen ist dieses kein bereits Vorliegendes, von dem ein Abbild geschaffen werden könnte, sondern ein selbst in Entstehung Begriffenes. Als »Ausdruckshandlung« (Merleau-Ponty 1948/2000a, 23) ist die Malerei das Aufgreifen und Fortsetzen des Sehens als des Mediums, in dem die Welt sich macht. Diese Welt ist nicht in fertige Dinge gegliedert und auch nicht nach sinnlichen Registern getrennt, und die Malerei stellt sie im Prozess ihres Sich-gliederns, Formierens und Ankommens dar. Weil dieser Prozess in der alltäglichen Wahrnehmung immer schon überschritten ist, erscheint diese sich formierende Welt als vormenschliche, unvertraute. Auch das Kunstwerk selbst ist nichts in sich Abgeschlossenes, Fertiges, sondern ein als Prozess verstandener verkörperter Ausdruck, der seinerseits wahrnehmend aufgegriffen werden muss. Die Ausdruckshandlung oder -bewegung ist dabei eine je spezifische und als solche geprägt von Darstellungskonventionen und dem je eigenen Stil, worunter eine Formulierungsweise zu verstehen ist, die bereits in der Wahrnehmung beginnt und sich in der Gestaltung fortsetzt und die dem Maler oder der Malerin selbst nicht verfügbar ist. Um diese spezifische Weise des Ausdrucks zu charakterisieren, kombiniert Merleau-Ponty schließlich die Grundfigur der strukturalen Linguistik Saussures mit Motiven von Malraux und spricht von einem »System von Äquivalenzen« als »kohärente[r] Deformierung« (Merleau-Ponty 1960/ 2007, 74). Jede bildliche Gestaltung wird so verstanden als Verformung des Gewebes des Sichtbaren, durch die der implizite Sinn der sich vollziehenden Wahrnehmung auf eine je charakteristische Weise zur expliziten Darstellung kommt. Bereits hier, vor allem aber in seinem letzten veröffentlichten Text Das Auge und der Geist werden diese Figuren aus dem ontologischen Entwurf verstanden, an dem Merleau-Ponty (1964/1986) in seinen letzten Lebensjahren gearbeitet hat und der posthum als Das Sichtbare und das Unsichtbare veröffentlicht wurde. Die Ausdrucksbewegung wird nun von einem ›polymorphen‹ oder ›rohen‹ Sein gedacht, das sich auf unterschiedliche Weise artikulieren lässt. Diese Artikulation findet nicht ›in‹ einem Subjekt statt, wie es noch Cézannes Formulierung nahelegt, sondern in der Verschränkung von Sehendem und Gesehenem. Der Blick
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kommt aus der Mitte des Seienden, der sehende Leib ist immer selbst sichtbar, und deshalb tritt er den Dingen nicht gegenüber, sondern ist unter ihnen. An dieser Stelle führt Merleau-Ponty den Begriff des Fleisches (chair) ein, der das Element bezeichnen soll, in dem sich diese wechselseitige Artikulation vollzieht. Die Subjektphilosophie soll so nicht, wie bei Heidegger, dadurch durchbrochen werden, dass Wahrnehmung durch ein neutrales Sich-ereignen substituiert wird, sondern dadurch, dass sie gerade ernst genommen wird. Die Wahrnehmung wird so zum Ort einer Reversibilität von Sehen und Sichtbarsein, von einem gegenseitigen Übergreifen des wahrnehmenden und sich bewegenden Leibes ( C.I.9) und der Dinge, das er ›Chiasmus‹ nennt (ebd., 172 ff.). Der Ausdruck ist die aktive Fortsetzung eines Bewegtwerdens durch die Welt, wobei Aktivität und Passivität genauso wenig sauber zuzuordnen sind, wie zwischen Sichtbarem und Gesehenem eine klare Grenze gezogen werden kann. Nimmt man dies ernst, so ist damit gesagt, dass die Dinge zumindest virtuell zurückblicken, denn die Sichtbarkeit des Sehenden ergibt sich nicht erst aus dem Blick des Anderen. Die Malerei ist wiederum keine Abbildung, sondern eine Modulation oder Verformung des Sichtbaren selbst, die diese eigentümliche Verschränkung artikuliert: eine Darstellung des Sehens und Gesehenwerdens als Vollzug der Welt (Merleau-Ponty 2003a). 1.6. Mikel Dufrenne: Sinnliches und Ausdruck
Dufrenne ist der erste, der 1953 mit der zweibändigen Phénoménologie de l’expérience esthétique eine wirklich systematische phänomenologische Ästhetik vorgelegt hat. Anders als Ingarden in seinem ähnlich weit gespannten Entwurf mustert er dabei nicht die verschiedenen Künste anhand eines an einer von ihnen entwickelten Schemas durch, sondern setzt von vornherein allgemein an. Die beiden Bände sind dem ästhetischen Objekt bzw. der ästhetischen Erfahrung gewidmet, die aber stets aufeinander bezogen werden. Dabei finden sich exemplarische Untersuchungen von Musik und Bild, um zu zeigen, dass der Ausdruck im Sinnlichen als Kern der Kunst tiefer liegt als die Unterscheidung nach repräsentationalen und nichtrepräsentationalen und nach Raum- und Zeitkünsten (Dufrenne 1953, II, iiff.). Die erste Unterscheidung, die Dufrenne einführt, ist die zwischen Kunstwerk und ästhetischem Objekt: Während das Erstere ein vorliegendes, materielles Ding ist, dessen Struktur distanziert beschrieben werden kann, zeigt sich Letzteres nur für eine ästhetische Erfahrung; es ist der eigentliche Gegenstand der Ästhetik. Dabei ist das ästhetische Objekt kein zweiter Gegenstand und wird auch nicht der Erfahrung unterstellt: Es ist eine spezifische Auffassungsweise, nach der das Kunstwerk selbst verlangt. Sich auf das Kunstwerk als Kunstwerk, also ästhetisch – und nicht als beliebiges Ding oder auch als Gegenstand der Analyse – zu beziehen, bringt es als ästhetisches Objekt zur Erscheinung. Dufrenne macht immer wieder deutlich, dass die Initiative dabei vom Werk ausgeht und dieses auch
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seine eigene Auffassung leitet. Entsprechend ist die Rezeption eher ein Vollzug, als dass sie selbst etwas leistet oder hervorbringt. Diese Unterordnung sieht er auch in der Ausführung (exécution), also der Aufführung z. B. von Musik- oder Theaterstücken: Sie unterstellt sich der Sache, und unterschiedliche Interpretationen sind verschiedene Perspektiven auf das Gleiche, das nicht im eigentlichen Sinne eine Geschichte hat. Interessanterweise wird auch die Produktion etwa von Bildern oder Skulpturen als eine Form der Ausführung beschrieben, nämlich als Darbieten eines Sinnlichen. Nur in dieser Hinsicht, nämlich als Unterwerfung unter das zu produzierende Werk interessiert sich Dufrenne (1953, II, 62 ff.) für die Produktion, die ansonsten den konkreten Schaffensprozess und die Strukturen des Kunstwerks betrifft und für ihn Gegenstand der Psychologie und der Strukturanalyse und nicht der Ästhetik ist. Was das ästhetische Objekt auszeichnet, ist eine Organisation des Sinnlichen (le sensible), und es findet als ganzes im Sinnlichen statt. Das Sinnliche, der Zentralbegriff von Dufrennes Ästhetik, ist weder irreal noch imaginär wie bei Sartre, sondern real und ganz der Wahrnehmung dargeboten. In der alltäglichen Erfahrung ist es allerdings immer schon in Richtung auf eine pragmatische Bedeutung überschritten; als solches erfahren wird es nur am Kunstwerk, das als seine »Apotheose« (Dufrenne 1976, 63) erscheint. Das Sinnliche zeigt sich als eine Alterität und verweist den Betrachter auf die reine Wahrnehmung; in seiner konkreten Organisation verkörpert es einen Sinn, der sich nur auf diese Weise artikulieren lässt. In seiner Form umfasst es auch die Ebene des intelligiblen Sinns und schließlich, als höchste Stufe, die des Ausdrucks, in dem das Werk als Totalität seine Vollendung findet. Als Werk verkörpert es eine Welt für sich, die über das Dargestellte hinausgeht, und erscheint in seiner inneren Kohärenz als eine Art Quasi-Subjekt. Dem Ausdruck korrespondiert auf der Subjektseite das Gefühl (sentiment), mit dem das Werk aufgefasst wird und das Dufrenne (1953, II, 184 ff.) deutlich von Emotion abgrenzt. Gefühl ist hier ein Modus der Erkenntnis, einer Erkenntnis allerdings, die sich immer noch ganz im Sinnlichen hält und nicht ins Begriffliche übergeht. Entsprechend ist Gefühl auf der Seite der ästhetischen Erfahrung nicht ihr Anfang, sondern ihre Krönung. Ihm geht eine leiblich erfahrene sinnliche Präsenz voraus, die in Richtung von Reflexion und Erkenntnis überschritten und schließlich im Gefühl vollendet wird. An dieser Stelle sieht Dufrenne ein Apriori am Werk, das sich nicht auf das Subjekt beschränken lässt, sondern Subjekt und Objekt miteinander verbindet. Diese ursprüngliche Affinität liegt im Ausdruck und im Gefühl. Diesem Konzept des Apriori als Affinität ist er im Folgenden detailliert nachgegangen und hat es historisch und systematisch entfaltet (Dufrenne 1959). Das Poetische, das als die spezifische verbindende Qualität von Mensch und Welt ausgezeichnet wird, ist schließlich das Thema eines weiteren Buches, das insofern eine Art ontologische Wende vollzieht, als es die Natur als Quelle des Poetischen und als bereits selbst ausdrucksvoll beschreibt. Natur wird zu einer wirkenden Kraft, die sich zu
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bewohnbaren Welten »kristallisiert« (Dufrenne 1963, 175) und als solche ihre Darstellung in Kunstwerken inspiriert. Auch wenn hier tatsächlich die Dichtung im Mittelpunkt steht, umfasst das Prinzip des Poetischen dabei ähnlich wie bei Heidegger letztlich alle Künste. 1.7. Henri Maldiney: Form und Rhythmus
Von seinen ersten Publikationen hat sich Maldiney mit der Kunst beschäftigt, später kamen die Daseinsanalyse und Psychopathologie hinzu, zu denen er ebenfalls einen eigenständigen Beitrag geliefert hat. Umgekehrt haben Konzepte von Ludwig Binswanger und Erwin Straus Eingang auch in seine kunsttheoretischen Texte gefunden. Maldiney unterscheidet zwei Bedeutungen von ›ästhetisch‹, von denen die eine auf die Kunst bezogen ist, während die zweite von der ursprünglichen Bedeutung von aisthēsis ausgeht, die er als sentir wiedergibt (Maldiney 1973a, 124 ff.). Sentir wird Straus (1956) folgend als ›pathische‹, nichtintentionale Weise, in Kontakt mit der Welt und offen für sie zu sein, von der Wahrnehmung als ›gnosischem‹, aktivem Bezug und aktiver Aneignung unterschieden und ließe sich entsprechend mit dem Straus’schen ›Empfinden‹ übersetzen. Es ist dieses Empfinden, an das die Kunst anschließt – und auch hier sind es bildende Kunst und Dichtung, die als Paradigmata dienen. Wenn Kunst nun emphatisch als die Wahrheit des Empfindens bezeichnet wird, das sie explizit macht und artikuliert, so gilt dies nicht von aller Kunst und schon gar nicht von jedem Bild. Insofern Kunst illustrativ ist, d. h. Bilder dessen anfertigt, was es ohnehin gibt, kann sie diesen Anspruch nicht erheben; stattdessen muss sie existenziell werden. Dies geschieht, insofern sie in einem starken Sinne Form ist. Der Formbegriff Maldineys ist eng gekoppelt mit seinem Verständnis von Rhythmus, und beide bilden den Kern seiner Kunstauffassung. Die Kunst unterhält dementsprechend ein kompliziertes Verhältnis zum Bild, das sich zwischen einer bloßen Wiederholung des Gegebenen, Erinnerungs- und Appellbild bewegen kann (Maldiney 1993b/2011). Maldiney greift hier auf die Unterscheidung von Gestalt und Gestaltung zurück, wie Paul Klee sie vornimmt: Die Form ist Gestaltung, Form im Werden und damit selbst Rhythmus, sie ist sich formende ›Autogenese‹. Rhythmus darf nicht mit Takt, also der regelmäßigen Einteilung gegebener Zeit, verwechselt werden. Er findet überhaupt nicht in einer als Erstreckung gedachten, messbaren Zeit statt, sondern ist sich entfaltende Artikulation von Gegenwart und als solcher immer spezifisch. Die visuelle Form ist Rhythmus als Kraftfeld, als sich artikulierendes Gefüge von Abständen, Abweichungen, Brüchen und Übergängen (Maldiney 1973b/2007). Wie Rhythmus überhaupt ist sie nicht objektivierbar und zeigt sich nur im gelebten Vollzug. Die Form ist es, die uns in Kontakt mit dem Realen bringt oder uns in es eintaucht. Real ist aus dieser Perspektive nicht das Objektive, Vorliegende, sondern das Ereignishafte, das sich überraschend Zeigende, das als solches aber den Ein-
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druck mit sich bringt, immer schon da gewesen zu sein. Die Kunst, so Maldiney, lässt das ›y‹ in il y a (es gibt), also das Erscheinen selbst, erscheinen (Maldiney 1993a, 29, 32, 345). Von hier aus hat es keinen Sinn, eine kategoriale Trennung zwischen figurativer und abstrakter Kunst vorzunehmen, da die Abstraktion lediglich das Moment rhythmisch sich gestaltender Form verallgemeinert; man kann umgekehrt sogar davon sprechen, dass die Abstraktion das eigentliche Prinzip aller Kunst ist (Maldiney 1973a, 1 ff.; 2000). Es stellt jene Wahrheit des Empfindens dar, indem es nicht Dinge abbildet, sondern das Wie des Existierens verkörpert, das wesentlich durch eine Offenheit oder Durchlässigkeit (transpassibilité) gekennzeichnet ist (Maldiney 1991).
2. Felder 2.1. Bild
In den Abschnitten des ersten Teils wurde deutlich, dass Bild und Bildlichkeit für zahlreiche Phänomenolog:innen zentrale Bezugspunkte waren und dabei vielfach eine weit über die Ästhetik hinausgehende Bedeutung hatten. Angesichts dessen kann es an dieser Stelle nur darum gehen, anhand einiger Schlaglichter unterschiedliche Formen dieses Bezugs aufzuzeigen, wobei einiges bereits Ausgeführte kurz in Erinnerung gerufen werden muss. Husserls Bildbegriff ist formal und funktional. Als paradigmatischer Fall von Darstellung und Ansatzpunkt für die Untersuchung von Fantasie und Imagination ist Bildlichkeit eine Form des Bezugs auf Gegenstände, die nicht einmal unbedingt darauf angelegt sein müssen. Eine Differenzierung von Bildtypen spielt dabei keine explizite Rolle – allerdings rückt Abbildlichkeit in einer Theorie, für die Bilder zur Erforschung der Wirklichkeit beitragen sollen, notwendigerweise in den Hintergrund. Eine vollkommen andere Konstellation liegt bei Merleau-Ponty vor, der von vornherein einen bestimmten Typ Bild, nämlich die Malerei, in den Blick nimmt. Das Motiv einer Darstellung einer im Werden begriffenen Welt aus ihrer eigenen Mitte ist so sehr von der Malerei und hier vor allem von Cézanne her gedacht, dass bereits die Übertragung auf künstlerische Arbeiten in anderen Medien schwierig erscheint, von nichtkünstlerischer Fotografie ganz zu schweigen. Die Bilder, die Merleau-Ponty interessieren, sind Gemälde, denn an ihnen verkörpert sich die künstlerische ›Ausdruckshandlung‹ auf paradigmatische Weise. Jean-François Lyotard (1971) knüpft mit seinem Buch Discours, figure in vielerlei Hinsicht an Merleau-Ponty an, geht aber schließlich in eine andere Richtung. Die beiden titelgebenden Begriffe werden von Lyotard in einen scharfen Gegensatz gebracht, womit er seinen Protest gegen die zunehmende Universalisierung des Textparadigmas im Gefolge des Strukturalismus artikuliert. Die Insistenz auf Differenzen, die gesehen werden müssen und nicht gelesen werden können – figürlich und nicht diskursiv sind –, und die Rede von einer »Verteidigung des
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Auges« (ebd., 11) scheinen sich unmittelbar auf Merleau-Ponty zu beziehen, aber es wäre ein Missverständnis, Figur schlicht mit Gestalt zu identifizieren: Weder ist alles Sichtbare figural noch schließt Sprache Figurales vollständig aus. Die zentrale Unterscheidung ist hierbei die zwischen Entgegensetzung (opposition) und Differenz: Während Erstere für einen Unterschied zwischen zwei auf einer Ebene liegenden Instanzen steht, und das heißt für Lyotard vor allem für die Opposition von Elementen in einem strukturalistisch aufgefassten Sprachsystem, bezeichnet Letztere den nicht in einem System aufgehenden, sich der Ordnung widersetzenden oder sie durchbrechenden Unterschied, der mit der Figur, mit dem Außen des geschlossenen Systems, mit Kraft und Form zusammengebracht wird. Nun ist auch die Wahrnehmung eine Ordnung des Wissens, und auch sie verkörpert das Figurale nicht einfach, sondern es findet sich an ihren Rändern und bricht auch sie auf. Das geordnete Wissen steht hier einer emphatisch mit dem Ereignis identifizierten Wahrheit gegenüber, die mit dem Begehren und dem freudschen Primärprozess zusammengebracht wird, und die Phänomenologie wird von der Psychoanalyse abgelöst ( D.IV). Ort der Darstellung dieses ereignishaft Figürlichen ist die Kunst und hier wiederum die Malerei, für die Lyotard zwei entscheidende Wendepunkte ausmacht: zum einen die Etablierung einer homogenen Raumvorstellung in der Renaissance, das die Darstellung selbst zu einem System macht, zum anderen die Durchbrechung dieses Systems in den Jahrzehnten um die Wende zum 20. Jahrhundert – wobei einmal mehr Cézanne eine wichtige Rolle spielt, dessen Bilder Ereignisse im Visuellen verkörpern. In seinen späteren Texten wird diese Konstellation noch einmal verschärft, indem das Erhabene als Darstellung des Undarstellbaren in den Mittelpunkt gerückt wird. Dieses ist nicht mehr figürlich zu denken, sondern vollbringt eine negative Darstellung des unwahrscheinlichen Dass des Ereignisses der Welt angesichts der Möglichkeit ihres Entzugs (Lyotard 1983/1989). Besonders deutlich formuliert findet sich die Unterscheidung zwischen Bildern im emphatischen Sinne, die sich in der Kunst finden, und Darstellungen des ohnehin Gegebenen, die für die Theorie von keinem größeren Interesse sind, in Maldineys Philosophie des Rhythmus als sich artikulierender Form; sie kann aber auch für Merleau-Ponty und Lyotard in Anschlag gebracht werden. Dabei fällt vor allem auf, dass der Strukturalismus für Maldiney keinerlei Rolle spielt, während sich Lyotard zur gleichen Zeit deutlich von ihm abgrenzt und MerleauPonty bereits in seine Philosophie der Wahrnehmung und der Kunst strukturalistische Motive integriert hatte. Anders als die bisher behandelten Autoren hat Georges Didi-Huberman seine intellektuelle Herkunft nicht in der Phänomenologie, sondern in einer vom Strukturalismus, von der Psychoanalyse und der Ikonografie geprägten Kunstgeschichte, die die Kunst auf Lesbarkeit ansieht. Didi-Huberman hat sich stets gegen diese Festlegung gewandt, ohne in einen blanken Phänomenalismus zu verfallen. Es geht ihm um Bedingungen und Verschiebungen von Lesbarkeit, vor allem aber tritt das in den Blick, was sich der Lesbarkeit entzieht und sie durch-
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bricht. Er unterscheidet dabei zwischen dem Sichtbaren (le visible), also dem sich als bereits gegliedert und verstehbar Zeigenden, und dem Visuellen (le visuel), der ereignishaften Präsentation des Bildes, einer unendlich gestaltbaren Matrix, die die Betrachter mit einer eigenen Kraft angeht (Didi-Huberman 1990). Auch hier begegnen wir dem Motiv wieder, dass dasjenige, was uns derart angeht und anspricht, uns anblickt (Didi-Huberman 1999). Das ›Nachleben der Bilder‹, das Didi-Huberman unter anderem mit Aby Warburg und Walter Benjamin verfolgt, bildet für ihn keine lineare Geschichte, sondern verläuft in Sprüngen und Kurzschlüssen. Die paradigmatische Situation ist diejenige ›vor einem Bild‹, das Vergangenheiten und Zukünfte gespeichert hat und Geschichte eher in ihrer Dichte als in einer chronologischen Ordnung erfahrbar werden lässt (Didi-Huberman 2000; 2010). Dabei geht es, wie sich in seiner Auseinandersetzung mit Bildern des ›Sonderkommandos‹ in Auschwitz zeigt, gerade nicht nur um künstlerische Bilder, sondern um die Frage des Nachlebens insgesamt, die eine ethische Komponente hat und sich vor allem auf das bezieht, was nicht in Verstehensordnungen und Systeme integrierbar ist (DidiHuberman 2007). 2.2. Skulptur, Land Art und Architektur
1948 publizierte Sartre einen international rezipierten Text über die Skulpturen Giacomettis, der ganz im Zeichen seiner Philosophie des Imaginären als Ermöglichung und Ausdruck menschlicher Freiheit stand (Sartre 1948/1956). Während es für Sartre darum ging, die Objekthaftigkeit, also Äußerlichkeit und Teilbarkeit des realen Materials zugunsten der Darstellung gesehener menschlicher Figuren radikal zu durchbrechen, war es in der Folge gerade die Affirmation dieser Objekthaftigkeit und der realen Rezeptionssituation, die in den Mittelpunkt rückte. Rosalind Krauss war die erste, die die Minimal Art (Donald Judd) mit Merleau-Pontys Leibphänomenologie zusammenbrachte (Krauss 1966; 1977, 239 f.). Die Phänomenologie der Wahrnehmung war kurz zuvor auf Englisch erschienen und erfuhr in Kunstkreisen eine weitere Rezeption als die unmittelbar der Kunst gewidmeten Texte, die sich im Übrigen kaum mit den im engeren Sinne raumbezogenen Künsten beschäftigen. Wenn hier von einem »phenomenological turn« (Potts 2000, 207) gesprochen werden kann, so muss dies weniger auf die direkte Rezeption der Texte als auf eine allgemeine inhaltliche Affinität bezogen werden, die die Minimal Art auszeichnet und auch in Texten über sie, seien sie affirmativ (Morris 1966–1969; Judd 1995) oder kritisch (M. Fried 1995), zu bemerken ist. Die von Michael Fried beklagte ›Theatralität‹ verweist darauf, dass diese Kunst nicht als Darstellung und auch nicht primär strukturell, sondern als reales Gegenüber eines situierten, beweglichen Betrachters erscheint. Krauss hat schließlich Richard Serras Arbeiten, vor allem das Land-Art-Projekt Shift, ganz von Merleau-Ponty her gelesen, wobei nicht die perzeptuelle Einheit, sondern Zeitlichkeit, Unabschließ-
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barkeit und Inkommensurabilität der Perspektiven im Mittelpunkt stehen (Krauss 1983/1985). Auch in Robert Smithsons Arbeiten sind diese Motive zentral und können mit seiner Husserl-Lektüre zusammengebracht werden, wobei in seinen Texten explizite Verweise fehlen (Reynolds 2003, 264, Anm. 73). Heideggers Auseinandersetzung mit der Skulptur (1969) geht noch einmal in eine andere Richtung: Im späten Text Die Kunst und der Raum zu Eduardo Chillida (GA 13, 203–220) versteht er die Skulptur nicht als Objekt, sondern als Stiftung eines Ortes und Eröffnung eines Raumes, in dem Versammlung und Wohnen möglich sind Diese Motive speisen sich aus dem früheren Bauen Wohnen Denken, in dem Raum ausdrücklich vom Ort und dieser vom Wohnen her gedacht ist. Bauen und Wohnen gehören zusammen und werden als unsere Weise bestimmt, in der Welt zu sein. Raum ist von hier aus kein neutral Vorgegebenes, sondern als Nähe und Ferne Ergebnis eines Einräumens, das vom Wohnen ausgeht (GA 7, 145–165). Edward Casey (1993) hat von hier aus eine Philosophie des Ortes und Christian Norberg-Schulz (1971; 1982) eine Theorie der Architektur ausgearbeitet. Wiederum eher von Merleau-Ponty und der Frage der leiblichen Wahrnehmung gehen Juhani Pallasmaas (2005) und Steven Holls (Holl et al. 1994/2006) Architekturtheorien aus, wobei gegen eine auf die visuelle Dimension fixierte Architektur die Momente der zeitlichen Erschließung von Räumen und die multisensorische Erfahrung von Gebäuden im Vordergrund stehen. Mit dem Mu seumsbau Kiasma in Helsinki bezieht sich Holl explizit auf Merleau-Pontys Spätphilosophie (Drake 2005). 2.3. Musik
Husserl ist nicht der Erste, der in seiner Philosophie der Zeit auf musikalische Beispiele zurückgreift (Hua X, § 7): Die Melodie ist das Paradigma eines Zeitobjekts schlechthin, also eines Gegenstands, der sich selbst in der Zeit entfaltet, und an ihr lassen sich Fragen der temporalen Organisation von Teil und Ganzem exemplarisch verhandeln. Insgesamt ist die Zeit ein wesentlicher Fokus der phänomenologischen Auseinandersetzung mit der Musik geblieben. Ein weiteres Thema ist die Frage nach der Seinsweise, die sich bei der scheinbar immateriellen Musik auf besondere Weise stellt. In seinem frühen Text zum ›ästhetischen Gegenstand‹ bezeichnet Waldemar Conrad das Musikstück, ähnlich wie später Ingarden, als intentionales Objekt, das nicht mit den akustischen Ereignissen zusammenfällt und das die Hörer vor die Aufgabe seiner strukturellen Realisierung stellt (W. Conrad 1908). Als der immer neuen Konkretisierung bedürftiger, rein intentionaler Gegenstand fällt das Musikstück weder mit der Partitur noch mit seinen Realisierungen zusammen, sondern bildet ein Schema, das gleichzeitig einen Möglichkeitsraum eröffnet (Ingarden 1962). Ausgehend vom musikalischen Hören beschreibt Günther Anders demgegenüber die Musik als Situation, die die Hörer ebenso sehr in sich verwickelt und in einen Nachvollzug
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zwingt, wie sie von ihnen intendiert wird. Das Hören von Musik ist wesentlich der Nachvollzug von Bewegungsformen, die dem Menschen normalerweise nicht zur Verfügung stehen und Aufschluss über sein eigenes In-der-Welt-Sein geben (Anders 2017). Alfred Schütz (1944/2016; 1951/2016) wiederum versteht Musik vor allem als zeitliche Koordination von Stück, Interpreten und Hörern und beschreibt das gemeinsame Musizieren als paradigmatische Form einer sozialen Beziehung ( D.VI). Neben den philosophischen Auseinandersetzungen gab es vor allem in den 1920er-Jahren auch von musikwissenschaftlicher Seite Versuche, sich der Musik phänomenologisch zu nähern. Verwandt sind hier der Ansatz von Hans Mersmann (1925) und die von diesem selbst als Psychologie verstandene Energetik Ernst Kurths, die beide die Musik als Feld von Kräften und Spannungen beschrieben, wobei Mersmann eher die zeitliche und Kurth (1931) die räumliche Dimension betont. Beinahe materialistisch und entsprechend weit entfernt von der philosophischen Phänomenologie geht demgegenüber Paul Bekker (1928) vor, wenn er die Kräfte physikalisch versteht und entsprechend die omnipräsente Verbindung von Musik und Gefühl rein historisch erklärt. Er stellt zwei Grundtypen von Musik gegenüber, von denen die eine stimmlich, organisch und zeitlich und die andere instrumental, mechanisch und räumlich bestimmt wird. Ernest Ansermets (1961/1965) Versuch, die nichttonale Musik als der menschlichen Auffassung zuwiderlaufend und damit letztlich als sinnlos zu erweisen, kann entgegen seiner Selbstbeschreibung nur sehr bedingt als phänomenologisch gelten. Spätere Ansätze sind vor allem mit dem Ziel angetreten, gegenüber einer partitur- und analysefixierten Musikwissenschaft die tatsächlich gehörte Musik zur Geltung zu bringen, angesichts derer auch strukturelle Fragen anders zu stellen sind (Grüny 2014). Wiederum ist es die musikalische Zeit, die den Ansatzpunkt bildet und einer Rekonstruktion von Musik als quasi-architektonische, räumlich imaginierte Struktur im Wege steht (Joseph Smith 1979; Clifton 1983). Bruce Ellis Benson (2003) schließlich hat vorgeschlagen, den Werkbegriff phänomenologisch zu dekonstruieren und auch die Interpretation klassischer Werke prozesshaft als hermeneutisch-improvisatorischen Dialog zu begreifen. 2.4. Literatur
Unter dem Titel der Literatur wird es hier vor allem um die Prosa gehen, denn für die meisten der hier zu behandelnden Philosophen und Literaturtheoretiker ist sie es, die den primären Gegenstand bildet; die Lyrik folgt anderen Regeln und erfordert einen anderen Ansatz. Am deutlichsten ist dies bei Sartre, wo die Prosa als Einzige der Gesamtheit der anderen Künste entgegengestellt wird, zu der auch die Lyrik gehört. Dabei wird auch die Prosa von seiner Theorie des Imaginären her gedacht, wobei sich aber die Schwerpunkte vollständig verschieben: Während bei den anderen Künsten ihre Irrealität im Zentrum stand, wird diese im Falle der Literatur nicht einmal erwähnt; da sie als Einzige mit Zeichen und Bedeutungen
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umgeht, ist sie auch die Einzige, die die Welt als Situation und Herausforderung der Freiheit darstellen kann. Dies kann geschehen, indem sie die Leserin nicht in eine Position und zu einer Reaktion zwingt, sondern an ihre eigene Freiheit appelliert, sich zum Text und damit letztlich zur Welt zu verhalten. Der gelesene Text ist entsprechend eher eigene Schöpfung als bloße Reaktion auf Vorgegebenes (Sartre 1947/1981). Ins Zentrum gestellt wird diese kreative Rolle der Leser in der Konstanzer Rezeptionsästhetik, die sich vor allem mit den Namen Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß verbindet; hier ist es Iser, der sich explizit auf die Phänomenologie bezieht. Ansatzpunkt ist dabei unter anderem Ingardens Theorie der Konkretisation des literarischen Kunstwerks, wobei Iser die konstitutive Rolle der Leser ernster nimmt, als Ingarden dies tut, und sie nicht auf das vereindeutigende Füllen von Unbestimmtheitsstellen aufgrund eines affektiven Zugangs zum Text beschränkt. Der Umgang mit einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven verlangt eine Eigenleistung, die strukturelle und inhaltliche Auswirkungen hat, und der drastischen Zunahme interpretativer Offenheit in der Literatur der Moderne ist endgültig nicht mehr mit Vereindeutigung zu begegnen; sie eröffnet der Leserin Reflexionsmöglichkeiten bezüglich der eigenen Rolle (Iser 1975). Der konkrete Leseakt zeichnet sich durch eine Position inmitten ihres Gegenstandes aus, die in einem Wechselspiel von zeitlichen Synthesen, Verräumlichungen und Verbildlichungen das literarische Werk als Ganzes hervorbringt (Iser 1976). Die eigentümliche Lage der Leserin zwischen Freiheit dem Text gegenüber und Bindung an ihn findet ihren Niederschlag in Isers Formulierungen von der ›Appellstruktur des Textes‹, der sich zur vollständigen Realisierung an potenzielle Leser wendet, und vom ›impliziten Leser‹, der selbst in seiner Freiheit bereits in den Strukturen des Textes angelegt ist (Iser 1972). Letzterem Motiv folgend hat die Rezeptionsästhetik nicht konkrete Leserreaktionen erforscht, sondern sich an die Texte selbst in ihrer strukturellen Offenheit gehalten ( B.III.3). Vor allem auf die zeitliche und historische Dimension hat sich Paul Ricœur fokussiert. Dabei reicht sein Motiv der Erzählung weit über die Literatur hinaus und umfasst nicht nur andere Erzähltypen wie die Geschichtsschreibung, sondern wird bis in die Erfahrung selbst zurückverfolgt. Ricœur unterscheidet drei Stufen der Mimesis, deren erste sich auf ein elementares Vorverständnis von Handlung überhaupt bezieht. Handlungen sind keine bloßen Vorkommnisse, sondern immer bereits symbolisch vermittelt und als solche strukturiert und damit verstehbar, bewertbar und erzählbar; man muss geradezu von einem elementaren Erzählbedürfnis ausgehen. Insofern greift die tatsächliche Erzählung, die zweite Mimesis, auf bereits artikulierte Zusammenhänge zurück, die sie zu einer spezifischen, nachvollziehbaren Konfiguration synthetisiert, wobei sie auf historisch und kulturell vorgeprägte Formen zurückgreift. Die dritte Mimesis wiederum ist den Rezipienten zugeordnet und bezieht das Erzählte auf ihre eigene Erfahrung. Die Erzählung erscheint so als »Vorschlag einer Welt« (Ricœur 1985/1991, 127/162), in der sich die Leser:innen einrichten können und die ihre
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eigene Welt als Möglichkeitsraum bereichert. Die Metapher als ›Neubeschreibung‹ (Ricœur 1975b/1991) der Welt, in der die heuristische Kraft der Fiktion gegründet ist, ist eines ihrer wichtigsten Mittel. Eine Phänomenologie der Zeit ist für Ricœur nur aufgrund von konkreten zeitlichen und historischen Strukturen möglich, und die verschiedenen Typen der Erzählung bieten ihr entscheidende Ansatzpunkte. Für die Literatur erfordert dies eine Auseinandersetzung mit semiotischen Zwängen, sprachlichen Formen und exemplarischen Gestaltungen, was Ricœur (1984/1989) anhand von Virginia Woolf, Thomas Mann und Marcel Proust vorführt. 2.5. Tanz und Performance
Beim Tanz als der am unmittelbarsten leiblichen Kunst mag es am meisten verwundern, wie wenig sich dazu in der klassischen Phänomenologie findet und wie spät und vereinzelt phänomenologische Ansätze in der Tanztheorie auftauchen; auch bei der sich in den 1960er-Jahren aus unterschiedlichen Quellen formierenden Performancekunst spielt die Phänomenologie keine zentrale Rolle. Die erste explizit phänomenologische Theorie des Tanzes hat Maxine SheetsJohnstone (1966) vorgelegt. Sie bezieht sich neben Sartre und (weniger) MerleauPonty vor allem auch auf Susanne K. Langer, was ihrer Theorie einen symboltheoretischen Einschlag gibt. Exemplarisch ist ihre Studie darin, dass sie die Perspektive der Tänzerin in den Mittelpunkt stellt und dabei auf das unmittelbare Erleben fokussiert, das in keiner Objektivierung oder Diskursivierung einzuholen ist. In einer gewissen Spannung dazu steht die Betonung der Form des Tanzes als sinnlich-intelligibler symbolischer Gestalt im Sinne von Langers Feeling and Form (1953/2018). Erst mehr als zwanzig Jahre später erschien die nächste systematische Auseinandersetzung mit dem Tanz aus phänomenologischer Perspektive, auch sie von einer ursprünglich als Tänzerin hervorgetretenen Theoretikerin. Sondra Fraleigh (1987) bezieht sich auf existential phenomenology, wobei nicht Ambivalenz und Kontingenzbewusstsein, sondern ein emphatischer Sinn von Einheit der Erfahrung und eine Betonung des Affektiven im Zentrum stehen; entsprechend lehnt sie die Vorstellung einer isolierbaren Form des Tanzes ab und identifiziert Tanz und Tänzerin. Mit Rückgriff auf Sartre hält sie dennoch daran fest, dass Bewegung etwas ›sagt‹, dies aber in Form eines Bildes tut, also in Sartres Sinne im Imaginären. Dabei wird Spannung als Grundprinzip tänzerischer Gestaltung von der konkreten Körperbewegung bis zum Kosmischen durchbuchstabiert, das der Tanz zur Darstellung bringt. Die Fragen, die sich an derartige Entwürfe anschlossen, bestanden etwa darin, wie man phänomenologisch arbeiten kann, ohne essenzialistisch zu werden oder von einer neutralen Grundstruktur auszugehen, die von kulturellen, gesellschaftlichen und Geschlechterdifferenzen und von der gesellschaftlichen Formierung von Körpern nichts weiß (Rothfeld 2010). Vor allem im Bereich der Perfor-
X.2. Felder
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mancetheorie sind Ansätze hervorgetreten, die die Phänomenologie durch eine durch poststrukturalistische und feministische Kritik informierte Brille lesen, ohne den Fokus auf leiblicher Erfahrung fahrenzulassen (Bleeker et al. 2015). Dabei können sie sich auch auf die künstlerische Rezeption der Phänomenologie in der in den 1960er-Jahren entstehenden Performancekunst beziehen. Amelia Jones (1998) greift hier auf den späten Merleau-Ponty zurück, um mit dem Motiv des Chiasmus die untrennbare Verflochtenheit von Performern, kultureller Welt und Zuschauern zu fassen zu bekommen. Dem nie einheitlichen, in Gender- und kulturelle Normen verstrickten körperlichen Subjekt nähert sie sich mit dem damals konkurrierenden Begriff der Body Art, mit dem ein spezifischer Blick auf die Geschichte der Performancekunst geworfen werden kann. Eine explizite Einbeziehung der technologischen Dimension findet sich schließlich bei Susan Kozel (2007), die die technische und mediale Vermittlung in der Performancekunst nicht im Sinne eines Verlustes von Präsenz und Einheit liest, sondern mit phänomenologischen Mitteln als Möglichkeit einer anderen Form der Nähe, wobei Technologie und Leiblichkeit sich wechselseitig explizieren. 2.6. Film
Die Entstehung des Films fällt zeitlich mit derjenigen der Phänomenologie weitgehend zusammen, auch wenn sie sich auch ihm erst relativ spät zugewandt hat. In seinem Text »Das Kino und die neue Psychologie« beschreibt Merleau-Ponty (1948/2000b) den Film und die Gestalttheorie – letztlich seine eigene Philosophie – sozusagen als parallele Unternehmen: Die ›melodische Einheit‹ des Films, seine zeitliche Artikulation, sein synästhetischer Charakter, die Verkörperung von Motiven und geistigen und emotionalen Zuständen bringen es mit sich, dass sein Sinn in seiner konkreten und nicht teilbaren Artikulation liegt und er auf diese Weise die grundlegenden Erkenntnisse der neuen Psychologie bestätigt bzw. erfahrbar macht. Unter den Stichwörtern ›Habitus der Realität‹ und ›Musik der Verwandlung‹ beschreibt Ingarden den Film mit ganz ähnlichen Kategorien; im Sinne seiner eigenen Theorie ist Film für ihn ein besonders komplexes polyphones Gebilde (Ingarden 1962). Eine vollständig ausgearbeitete phänomenologische Filmtheorie hat schließlich Vivian Sobchack vorgelegt. Sie kritisiert die strukturalistische, neomarxistische und psychoanalytische Filmtheorie dafür, die konkrete Erfahrung der Rezeption zu unterschätzen, die nur mit einer »dichten und radikalen Beschreibung der Erfahrung« (Sobchack 1992, xv) angemessen zu erfassen ist. Von MerleauPonty ausgehend, beschreibt sie aber nicht nur die Zuschauerin als leibliches Wesen, das mit allen Sinnen an der Erfahrung beteiligt ist, sondern spricht auch von einem ›Leib‹ des Films, was ausdrücklich nicht als Metapher verstanden werden soll. Die technische Apparatur des Films erzeugt die Darstellung eines zwar hochgradig technisch vermittelten, aber unmittelbar erfahrbaren Weltzugangs, der selbst als leiblich im Sinne Merleau-Pontys verstanden werden muss. Jennifer
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Barker (2009) hat dies noch einmal in Richtung einer durch Apparat und Auge vermittelten Taktilität ausbuchstabiert. Entsprechend verkörpert der Film selbst eine Sicht, die die Zuschauerin sich zu eigen macht; Merleau-Pontys Formulierung, dass man einem Bild »gemäß« sieht (Merleau-Ponty 1964/2003, 282), erscheint beim Film besonders angemessen. Auf der anderen Seite wird der Film selbst gesehen, und diese beiden Modi bleiben in der Rezeption ebenso im Spiel wie der Doppelcharakter von Unmittelbarkeit und Vermittlung. In diesen Doppelungen liegt für Sobchack die Freiheit der Zuschauerin gegenüber der Sicht des Films begründet: Sie macht sich diese Sicht zu eigen, kann sie aber auch verlassen und als solche reflektieren. Christian Grüny
XI. Kognitions- und Lebenswissenschaften Im Laufe ihrer Entwicklung gab es zwischen der Phänomenologie und unterschiedlichen nichtphilosophischen Forschungsprogrammen immer wieder konstruktive Bezüge und wechselseitige Inspirationen. Dabei behielten Phänomenolog:innen jedoch meist eine kritische Grundhaltung gegenüber Versuchen, das Bewusstsein naturwissenschaftlich zu erklären. Akademische Nachbarfächer der Philosophie wie die Psychologie, die Gegenstände und Probleme behandelt, die auch in den Kernbereich der Phänomenologie fallen (wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Erinnerung, bildhaftes Vorstellen oder propositionales Denken), haben sich im 20. Jahrhundert zunehmend den Evidenzkriterien der Naturwissenschaften angepasst. Seit den 1950er-Jahren sind in die psychologische Erforschung des menschlichen Geistes Impulse aus Kybernetik, Informationstheorie und Neurologie eingegangen, was zur Etablierung einer neuen Leitwissenschaft, nämlich der Kognitionswissenschaft, geführt hat. Diese ist mittlerweile weltweit fest an den Universitäten und in Fachgesellschaften verankert und hat mehrere Paradigmenwechsel durchlaufen, die mit Blick auf die Frage interessant sind, inwiefern die Kognitionswissenschaft insgesamt als Wirkfeld der Phänomenologie bezeichnet werden kann. Wie unten erläutert wird, war die Phänomenologie eine wichtige Impulsgeberin für neue Weichenstellungen in der kognitionswissenschaftlichen Theoriebildung. Ein zweiter Bereich, der viele methodische und thematische Überschneidungen mit der Kognitionswissenschaft aufweist, ist derjenige der Lebenswissenschaften, womit zunächst jegliche wissenschaftliche Erforschung des Lebendigen gemeint sein kann (Biologie im weitesten Sinne) – im Unterschied zu den Wissenschaften, die die unbelebte Natur untersuchen (Physik im weitesten Sinne). Auch hier lassen sich zahlreiche Beispiele für eine spannungsvolle Wirkungsgeschichte phänomenologischer Grundideen bei theoretischen Konzeptualisierungen sowie praktischen Anwendungen finden, von denen einige im Folgenden vorgestellt werden.
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Vorausschickend sei bemerkt, dass ganz verschiedene Modellvorstellungen darüber entwickelt wurden, in welches Verhältnis sich die Phänomenologie zu den Wissenschaften setzen kann bzw. setzen soll. Bei Husserl überwiegt insgesamt der Anspruch auf Letztbegründung von Erkenntnis und Letztfundierung aller Wissenschaften durch die transzendentale Phänomenologie, was sich schon im Antipsychologismus der Logischen Untersuchungen (Hua XIX) und im Antinaturalismus von »Philosophie als strenge Wissenschaft« (1911), dann aber vor allem im Spätprojekt der Krisis (Hua VI) zeigt. Gleichzeitig findet man bei Husserl aber auch programmatische Ideen für eine Arbeitsteilung mit der empirischen Psychologie und für die Entwicklung einer phänomenologischen Psychologie (Hua IX; D.IV.2). Bei Merleau-Ponty zeigt sich – bei aller Kritik am Empirismus als metaphysischer Einstellung –, wie fruchtbar eine Kooperation und wechselseitige Ergänzung zwischen Phänomenologie und Psychopathologie sowie Entwicklungspsychologie sein kann. Und in neuerer Zeit vertreten Phänomenolog:innen zunehmend den undogmatischen Einsatz deskriptiver Analysewerkzeuge im Sinne einer »angewandten Phänomenologie« (Zahavi 2019) in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen, die im Vergleich zur »reinen Phänomenologie« keinen transzendentalen Begründungsanspruch erhebt. Ungeachtet dieser Fragen des Selbstverständnisses der Phänomenologie in Bezug auf die Wissenschaften sind ihre Einsichten, Kernanalysen und Denkfiguren natürlich auch ohne direkten Austausch aufgenommen und weiterverarbeitet worden. Vor diesem Hintergrund verfolgt dieses Kapitel die Frage, wie die Phänomenologie in die Kognitions- und Lebenswissenschaften hineinwirkt, welches Umdenken sie dort provoziert und welche Spuren sie hinterlässt. Wie allerdings Graumann (2001) zurecht hervorhebt, bringt eine solche Fragestellung das Pro blem der Ungleichzeitigkeit mit sich. In der Gründungsphase der Phänomenologie gab es natürlich noch keine Kognitions- und Lebenswissenschaften im heutigen Sinne. Bestenfalls gab es Denkströmungen, die erst später zu genuinen Disziplinen wurden. So war etwa die Psychologie Anfang des 20. Jahrhunderts keine einheitliche Wissenschaft, sondern bestand in einer Vielfalt konkurrierender Denkschulen. Der frühe Assoziationismus und Elementarismus unterscheidet sich beispielsweise erheblich von der Gestaltpsychologie, diese wiederum vom Behaviorismus und dieser schließlich vom Kognitivismus. Ebenso stellt sich die Phänomenologie – wie die in diesem Handbuch präsentierten ›Wendungen‹ zeigen – als plurale (mit Blick auf die Gründungsfigur Husserl häufig ›häretische‹; Ricœur 1986c) Bewegung dar. So weichen nicht nur die Verständnisse davon, was Phänomenologie ist und wie sie sachgemäß zu betreiben sei, von Autor:in zu Autor:in ab, sondern damit verbunden auch die Einschätzung des Verhältnisses zu den Wissenschaften. Deshalb ist es stets wichtig mitzubedenken, welche Spielart der Phänomenologie mit welcher Spielart der jeweiligen Wissenschaft in Zusammenhang gebracht wird, wenn es um Wirkfelder oder auch um reziproken Ideentransfer geht.
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1. Kognitionswissenschaften 1.1. Begriffe und Paradigmen
Unter der Bezeichnung »Kognitionswissenschaften« (cognitive sciences) werden heute interdisziplinäre Forschungsrichtungen zur Untersuchung des Geistes und seiner Prozesse zusammengefasst, was von Psychologie und Neurologie bis hin zu Computerlinguistik und Künstlicher Intelligenz reicht und sich das Methodenarsenal unterschiedlicher empirischer, formaler und synthetischer Disziplinen zunutze macht, d. h. mit quantitativen Erhebungen, Experimenten, algorithmischen Modellen und robotischen Agenten operiert. Die »Kognitionswissenschaft« (cognitive science) im Singular wurde in den 1950er-Jahren in den USA begründet, und zwar als Zusammenschluss von Wissenschaftler:innen, die darum bemüht waren, der Erforschung des Mentalen eine informationstheoretische Grundlage zu geben. Stark geprägt war diese Entwicklung von der Kybernetik und einem grundsätzlich mechanistischen Computermodell des Geistes, bei dem zwischen Hardware (Gehirn, Datenträger) und Software (Geist, Programm) unterschieden wurde. In kritischer Abwendung vom Behaviorismus versuchte die Kognitionswissenschaft nicht das beobachtbare Verhalten zu analysieren, sondern zu den unsichtbaren Verarbeitungsprozessen im Innern kognitiver Agenten vorzudringen und diese zu formalisieren. Wichtige Prämissen der klassischen Kognitionswissenschaft sind der Funktionalismus (Block 1982) und die These der multiplen Realisierbarkeit (Bickle 1992). Der Funktionalismus geht davon aus, dass man einen kognitiven Prozess am besten dadurch erfasst, dass man seine kausale Rolle im Verhalten eines kognitiven Systems erklärt; multiple Realisierbarkeit meint, dass kognitive Prozesse prinzipiell auf unterschiedlichen physischen Trägern implementiert sein können – für die abstrakte Struktur eines Denkvorgangs macht es dieser Ansicht nach keinen grundsätzlichen Unterschied, ob er beispielsweise in einem menschlichen Gehirn oder auf den Leiterplatten eines Digitalrechners stattfindet. Hierin zeigt sich schon klar die cartesianische Hintergrundannahme der klassischen Kognitionswissenschaft, dass Geist und Körper getrennt sind und getrennt voneinander beschrieben werden können – eine Sichtweise, die von der Phänomenologie immer wieder vehement bestritten wurde. Im Folgenden ist von den Kognitionswissenschaften im Plural die Rede, da sich der interdisziplinäre Rahmen seit der Anfangs- und ersten Blütephase der Kognitionswissenschaft als relativ eigenständigem Forschungsprogramm stark erweitert hat und sich die darin enthaltenen Perspektiven und Methoden zunehmend diversifiziert haben. Im weitesten Verständnis untersuchen die Kognitionswissenschaften die Grundstrukturen der Kognition, um deren Stellenwert und Funktionsweise im Gesamtgefüge des Verhaltens und der Einbettung von Systemen (biologischen Organismen oder künstlichen Intelligenzen) in ihre jeweilige Umwelt (physisch wie sozial) zu ermitteln. Kognitionswissenschaftler:innen un-
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tersuchen Intelligenz und Verhalten im Hinblick darauf, wie beispielsweise Nervensysteme oder informatische Träger Informationen repräsentieren, verarbeiten und transformieren. Zu den mentalen Fähigkeiten, die hier von Belang sind, gehören Sprache, Wahrnehmung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, logisches Denken und Emotionen. Um diese Fähigkeiten zu verstehen, machen sich Kognitionswissenschaftler:innen die Erkenntnisse und Methoden in Bereichen wie Linguistik, Psychologie, künstliche Intelligenz, (analytische) Philosophie, Neurowissenschaft und Anthropologie zunutze. Eine typische kognitionswissenschaftliche Analyse erstreckt sich demgemäß über mehrere Organisationsebenen, vom Lernen und Entscheiden bis hin zu Logik und Planung, von neuronalen Schaltkreisen bis hin zur modularen Hirnorganisation. Der zentrale Ansatz ist hierbei, dass Kognition im Sinne von Repräsentationsstrukturen und Rechenverfahren, die auf diese Strukturen einwirken, zu verstehen ist. Philosophisch betrachtet steht hinter dieser Annahme ein realistisches Weltbild: Es geht darum zu verstehen, wie die Außenwelt von einem kognitiven System repräsentiert wird und welche Interaktionen zwischen beiden Sphären stattfinden. Kognitive Prozesse können unterschiedlich modelliert werden, weshalb sich im Lauf der Zeit mehrere Paradigmen in den Kognitionswissenschaften entwickelt haben, von den klassischen symbolverarbeitenden Systemen über künstliche neuronale Netzwerke bis hin zu neueren Ansätzen im Bereich der dynamischen Systeme und der prädiktiven Kodierung. Die Modellierentscheidung gibt vor, wie Information verarbeitet wird und wie man sich dementsprechend die Operationen des Geistes vorstellt. Im Symbolismus (A. Newell 1980) bedeutet Wissen die Menge von systeminternen Inhalten und ist zweifach definiert, einmal als Zustand und einmal als Prozess. Als Zustand entspricht es einer Datenstruktur, als Prozess entspricht es algorithmischen Verrechnungen. Insofern eine solche Formalisierbarkeit besteht, geht die Kognitionswissenschaft davon aus, dass Wissen prinzipiell auf unterschiedlichen physischen Systemen implementiert sein kann, ohne sich dabei wesentlich zu verändern – auf einem Computer, in einem Gehirn oder in einem Ameisenhaufen. Dass die hiermit verknüpfte Computertheorie des Geistes nicht angemessen ist zur Beschreibung dessen, was wirklich im Menschen vorgeht, betonte etwas später der Konnektionismus (Feldman/ Ballard 1982). Er versucht, die Informationsverarbeitung im Gehirn nachzubilden. Wissen ist hier als Muster der Aktivierung in künstlichen neuronalen Netzen repräsentiert. Immer wenn ein hinreichend ähnliches Informationsmuster im Netzwerk erzeugt wird, kann man vom Aufrufen eines bestimmten Wissensinhalts sprechen. Dass aber auch eine solche Beschreibung zu abstrakt ist und es nicht erlaubt, die mannigfaltigen Beziehungen, in denen ein biologisches System mit seinen unterschiedlichen Kontexten steht, betont seit den 1990er-Jahren die verkörperte Kognitionswissenschaft (Varela et al. 1991). Sie geht von mehreren Prämissen aus: (1) Wissen ist kein Systemzustand, der sich unabhängig von dem realisierenden physischen Substrat als Informationsstruktur oder als Algorithmus betrachten lässt. (2) Das kognitive System kann Wissen überhaupt nur er-
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zeugen und aufrechterhalten im permanenten Kontakt mit der Systemumgebung. Es müssen daher die Wechselwirkungen etwa zwischen Gehirn und dem ganzen Organismus, in den es eingebettet ist, sowie auch zwischen dem Organismus und seiner ökologischen wie sozialen Umwelt betrachtet werden. (3) Nicht nur der aktuelle Systemzustand, sondern auch dessen Entstehung in der Interaktion muss berücksichtigt werden. Das Paradigma der Verkörperung rückt also die Aspekte von Genesis und Geltung in ein neues, leiblich fundiertes Verhältnis. Verkörperung heißt mit Bezug auf Wissen und Kognition dann allgemein zweierlei: (a) Jedes Wissen braucht einen Wissenskörper, durch den es artikuliert wird (z. B. ein Zeichen, eine Geste, einen USB-Stick) und (b) jedes Wissen ist nur als verkörpertes Wissen zu haben, d. h., der Wissende ist abhängig von seinen leibkörperlichen Vermögen (z. B. individuelles Erinnern, Zugang zu Bibliotheken). Spezieller sind damit die leibkörperlichen Verfahren des Umgangs mit Wissen bezeichnet (z. B. Habitualisierung von technischem Ausführungswissen) und die Speicherung von praktischem Vollzugswissen im Leibgedächtnis. Dabei lässt sich festhalten, dass diese Betonung des Leibes für den menschlichen Selbst- und Weltbezug allgemein sowie die Ausdifferenzierung von unterschiedlichen Modi der gesamtkörperlichen Aktivität, die Reduktionismen auf das Gehirn oder ein abstraktes kognitives Verarbeitungssystem unterläuft, sich wesentlich dem Einfluss der Phänomenologie auf die Autor:innen der embodied cognitive science verdankt. 1.2. Kritik der Künstlichen Intelligenz
Ein wichtiger Einfluss der Phänomenologie auf die Entwicklung der Kognitionswissenschaften ging von dem amerikanischen Philosophen Hubert Dreyfus aus, der bereits in den 1960er-Jahren eine Kritik der künstlichen Intelligenz entwickelte. In einer Reihe von Schriften (Dreyfus 1965; 1972; Dreyfus/Dreyfus 1986) legte er eine pessimistische Diagnose des Fortschritts der künstlichen Intelligenz und eine Kritik der philosophischen Grundlagen der Kognitionswissenschaften vor. Laut Dreyfus laufen die meisten kognitiven Prozesse beim Menschen ohne bewusste Kontrolle ab, sind also nicht als explizite Symbolmanipulationen zu verstehen, die sich vollständig in formale Regeln umwandeln lassen. Hierbei beruft sich Dreyfus auf phänomenologische Quellen, insbesondere auf Heidegger und Merleau-Ponty. Mit Heidegger hebt er den Gedanken eines holistischen In-der-Welt-Seins und praktischer Sinnbezüge, die in unserem unthematischen bzw. vorreflexiven Umgang mit den Dingen (Werkzeugen usw.) bestehen, hervor. Merleau-Ponty fungiert als Bezugsautor im Blick auf die Leiblichkeit und die operative Intentionalität des menschlichen Weltbezugs, die laut Dreyfus nie komplett in Algorithmen, d. h. von Maschinen auszuführenden Anweisungen, übersetzbar ist. Die phänomenologisch inspirierte Kritik von Dreyfus wurde innerhalb der Kognitionswissenschaften selbst zwar anfänglich wenig aufgegriffen und sogar belächelt, aber im Zuge unterschiedlicher konzeptueller und technologischer Inno-
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vationen zunehmend ernst genommen. Im Bereich der Robotik wurde beispielsweise deutlich, dass die Art der Informationsverarbeitung wesentlich von der physischen Konstitution kognitiver Agenten abhängt und demnach die These der multiplen Realisierung bzw. der Neutralität abstrakter Kognitionen hinsichtlich des materiellen Trägers in Zweifel gezogen werden muss. Was die Modellierumgebungen betrifft, so war der Trend hin zu konnektionistischen Systemen ebenfalls im Sinne von Dreyfus, da hier behauptet wurde, dass Kognition im Wesentlichen auf einer subsymbolischen Ebene funktioniert, nämlich als Aktivationsausbreitung gemäß statistischen Gewichtungen in einem komplexen Netzwerk ohne zentrale Exekutive, die einem thematischen Bewusstsein entsprechen würde. Zur präreflexiven Fähigkeit bei der menschlichen Problemlösung gehört nach Dreyfus ferner ein Hintergrundgespür für den Kontext und die Situation, eine Art pragmatisches Wissen (knowing how), das sich vom theoretischen Wissen (knowing that) unterscheidet. Die erste Form ist für Dreyfus – im Anschluss wiederum an Heidegger – die primäre Art und Weise, wie wir normalerweise mit den Dingen umgehen. Wir handeln in sinnhaften Verweisungszusammenhängen, ohne eine bewusste Repräsentation der Sachverhalte erzeugen zu müssen. Erst wenn Störungen im unthematischen Vollzug auftreten, die Dinge sich als unbrauchbar, umständlich oder aufsässig erweisen, sind wir zu einer explizierenden Reflexion herausgefordert. Erneut betont Dreyfus, dass der menschliche Sinn für Kontext und Situation eine Dimension ist, die von unseren Intuitionen und Affektionen, unseren Hintergrundeinstellungen und Dispositionen gespeist wird und sich – um im Hintergrund fungieren zu können – nicht thematisch in den Vordergrund bringen und in formalisierbare Funktionen überführen lassen kann. 1.3. 4E Cognition
Die Impulse aus der Verkörperungstheorie und aus der Diskussion um die Einbettung kognitiver Systeme in einen je spezifischen situationalen Hintergrund synthetisierend und weiterführend hat sich in den vergangenen Jahren das Paradigma der 4E Cognition (Menary 2010; Newen et al. 2018) herausgebildet, wobei 4E für folgende vier Aspekte von Kognition steht: Embodied, Embedded, Extended und Enactive. (1) Embodiment dient dabei gewissermaßen als Oberbegriff für die drei anderen Dimensionen, denn um eingebettet, erweitert und enaktiv zu sein, muss ein Geist notwendigerweise verkörpert sein. Die Verkörperung des Mentalen bedeutet, dass alle kognitiven Operationen entscheidend von der Funktionsweise des physischen und biologischen Körpers abhängen, mit dem sie verbunden sind. Während rationalistische und idealistische Philosophien sowie die klassische funktionalistische Kognitionswissenschaft argumentieren, dass die Funktionsweise des Geistes unter Rückgriff auf Logik und Prinzipien der reinen Vernunft beschrieben werden sollte, argumentiert die verkörperte Kognitionswissenschaft,
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dass Veränderungen der physikalischen Eigenschaften auch zu Veränderungen in der Art und Weise der kognitiven Informationsverarbeitung führen. Die Darstellung eines Objekts oder Zustands in der Welt – z. B. ein gefährliches Tier, dem man gegenübersteht – kann ganz unterschiedliche Relevanzen und Sinngehalte haben, je nachdem, ob die ›mentale Repräsentation‹ dieses Sachverhalts von einem Menschen oder von einem Roboter generiert wird. Selbst wenn die Information als abstrakte Aussage formuliert werden kann und als solche unabhängig davon ist, wer oder was sie verarbeitet, können die Reaktionen auf diese Information sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob es sich um so etwas wie die existenzielle Sorge um das eigene Sein handelt oder ob es nur eine weitere unter vielen gleichrangigen abstrakten Propositionen ist. Bei biologischen Systemen muss die Tatsache berücksichtigt werden, dass es angeborene Antriebe und Motivationen gibt, die mit der Lebenserhaltung verbunden sind. Und vergleicht man die verschiedenen biologischen Systeme, z. B. Mensch und Fledermaus, so sind die Strukturen der Sinnesorgane sehr unterschiedlich, was zu sehr unterschiedlichen subjektiven Erfahrungen führt. Als Menschen können wir uns kaum vorstellen, wie es ist, Insekten mit Echoortung aufzuspüren. Kurz gesagt bedeutet Verkörperung die Abhängigkeit der subjektiven Erfahrungen von der Art und Weise, wie der Körper und die Sinne strukturiert sind, wie die Materialität des Körpers mit der Mentalität der Kognition verbunden ist. (2) Embeddedness bedeutet, dass kognitive Vorgänge immer in einem Kontext räumlicher, instrumenteller und kultureller Bedeutungen stattfinden. Das kontextuelle Feld von Landschaften, Architektur, natürlichen Objekten und kulturellen Artefakten schafft Möglichkeiten für das Subjekt, mit der Umwelt in einer Weise zu interagieren, die zum Teil durch seine eigene Leiblichkeit bestimmt wird. Ein und dasselbe Objekt kann sehr unterschiedliche ›Affordanzen‹ (Gibson 1979) bieten und Organismen dazu einladen, auf verschiedene Weise mit ihm zu interagieren. So kann ein Stuhl für einen Menschen eine Anforderung zum Sich-Setzen implizieren, während er für eine Ameise das Hinaufklettern indiziert. Dieses einfache Beispiel soll veranschaulichen, dass die Interaktion mit der Umwelt durch die Körperstrukturen des darin eingebetteten Organismus geprägt wird. Andersherum wird aber auch die Umwelt durch die Bedürfnisse und Intentionen von Agenten so geformt, dass sie neue Möglichkeiten und Verankerungspunkte für kognitive Prozesse bietet. Dies kann auf einer individuellen (idiosynkratischen) Ebene, aber auch auf einer eher sozialen (öffentlichen) Ebene geschehen, beispielsweise durch geschickte Anordnung von Werkzeugen am Arbeitsplatz oder durch Aufstellen von Hinweisschildern im Straßenverkehr. Die Tatsache, dass der Mensch seine Umwelt in einer Weise gestaltet, die immer neue Formen des kognitiven Zugangs zu ihr ermöglicht, weist ihn als Schöpfer seiner eigenen »epistemischen Nische« (Sterelny 2003, 146) aus. (3) Extension: Zu sagen, dass der Geist erweitert ist, bedeutet, dass er nicht ›eingeklemmt‹ zwischen sensorischem Input und motorischem Output ist – Susan Hurley (1998) spricht vom ›Sandwich-Modell‹ der Kognition –, sondern dass
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er in diese beiden Bereiche hineinreicht. Die Sinne sind keine passiven Rezeptoren, die nur registrieren, was ›draußen‹ ist, sondern sie werden durch kognitive Faktoren – etwa durch das, was wir über eine bestimmte Objektdomäne wissen – geformt. So hört ein Dirigent beim Erklingen einer Symphonie aufgrund seines professionell geschulten musikalischen Ohres mehr und anderes als ein musikalischer Laie. Wenn man bestimmte Formen der kognitiven Aneignung und sprachlichen Interpretation einer Sinnesdomäne einmal gelernt und internalisiert hat, dann werden Differenzen und Spezifika dieser Domäne nach und nach immer mehr auch sinnlich erlebt. Das bedeutet, dass das Mentale sich in den Sinnen sedimentiert, ein Motiv, das wir aus der Phänomenologie natürlich unter Schlüsselbegriffen wie Typisierung und Habitualisierung ( C.I.12) kennen. Konzepte können sich aber auch in Korrelation mit den Sinneserfahrungen verändern. Wenn die Sinne nicht bestimmten Reizen ausgesetzt sind, sind die Konzepte, mit denen solche Reize beschrieben werden könnten, mehr oder weniger nutzlos. Es existiert also eine Art hermeneutischer Zirkel, in dem sich Sinnlichkeit und Verstand gegenseitig informieren. Eine weitere Illustration der »Extended Mind-These« (Clark/Chalmers 1998) ist die Tatsache, dass wir häufig externe Medien benutzen, um Informationen zu speichern, die für die Ausführung mentaler Prozesse entscheidend sind. Die meisten Menschen sind beispielsweise nicht in der Lage, eine komplexe mathematische Aufgabe allein im Kopf zu lösen. Sie müssen Zwischenergebnisse etwa auf einem Blatt Papier festhalten. Insofern die so externalisierte Information konstitutiv für den kognitiven Prozess der mathematischen Problemlösung ist, wird auch das externe Medium zu einem integralen Bestandteil dieses Prozesses. Die Kognition reicht in solchen Fällen nach Ansicht von Andy Clark und David Chalmers in einem manifesten Sinn sogar über den Körper hinaus und integriert Elemente aus der materiellen Umgebung als Vehikel des Denkens. Entscheidend ist, dass der Körper in all diesen Fällen als das universelle Medium fungiert, das den Kontakt mit der Umwelt überhaupt erst herstellt und das uns erlaubt, nach Gegenständen zu greifen, mit dem Bleistift etwas aufzuschreiben usw. – ein Gedanke, der von Merleau-Ponty stammt und der die Kognitionswissenschaften nachhaltig beeinflusst hat. (4) Enaktivität meint schließlich, dass der menschliche Organismus nicht passiv über die Sinne Input von einer vorgegebenen Realität empfängt, um dann bestimmte innere Repräsentationen von dieser Außenwelt zu schaffen. Vielmehr ist Wahrnehmung als ein interaktiver Prozess zu verstehen, durch den die Welterscheinung vom wahrnehmenden Subjekt ko-aktiv hergestellt wird. Wie der Titel des Buches von Alva Noë (2004) besagt, gibt es immer schon »Handlung in der Wahrnehmung« (Action in Perception). Dass der Geist enaktiv ist, impliziert, dass das wesentliche Kriterium für den Erfolg eines kognitiven Prozesses nicht das Verhältnis der Angemessenheit ist, das zwischen einer inneren Repräsentation und der äußeren Welt besteht, sondern die Möglichkeit einer sinnvollen Fortsetzung einer Interaktion zwischen Akteur und Umwelt. Vorläufer dieses antirepräsentationalistischen Ansatzes finden sich dabei nicht nur in der Phänomeno-
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logie, sondern auch etwa im Pragmatismus eines John Dewey. Eine interessante jüngere Entwicklung weitet das enaktivistische Programm auf den Bereich der sozialen Kognition aus. So sprechen Hanne De Jaegher und Ezequiel Di Paolo (2007) von einer »partizipativen Sinnstiftung« (participatory sense-making) in der konkreten zwischenleiblichen Begegnung von Subjekten. Sie argumentieren, dass der Interaktionsprozess selbst eine Form von operational definierter Selbstständigkeit entfaltet. Soziale Kognition wäre dann die Erzeugung und Transformation von Sinn durch die jeweils verkörperten und enaktiven Individuen. Das greift Motive der Phänomenologie der Intersubjektivität auf, die bereits auf Husserl zurückgehen und von an ihn anschließenden Autor:innen vertieft wurden. 2. Lebenswissenschaften Unter dem Begriff ›Lebenswissenschaften‹ können alle Forschungsrichtungen gefasst werden, die sich mit lebendigen Organismen und ökologischen Systemen beschäftigen, an denen diese beteiligt sind. Diese Liste der Biowissenschaften ist entsprechend umfangreich und beinhaltet neben den biologischen Fächern wie Zoologie und Botanik auch die Medizin, die Umweltwissenschaft und die Humangeografie. Schematisch können die Lebenswissenschaften als Teilbereich der Naturwissenschaften von den physikalischen Wissenschaften abgegrenzt werden, die sich mit der unbelebten Natur beschäftigen. Manche Lebenswissenschaften analysieren Entitäten im Mikromaßstab (z. B. Molekularbiologie, Biochemie), andere zielen auf größere Zusammenhänge ab (z. B. Zytologie, Epidemiologie, Ethologie). Ein weiterer wichtiger Zweig der Biowissenschaften betrifft das Verständnis des Mentalen als Teil der natürlichen Veranlagung von Lebewesen wie dem Menschen, wobei die Neurowissenschaften hier eine dominante Rolle spielen. Neben der Grundlagenforschung haben die Lebenswissenschaften zahlreiche Anwendungsfelder und werden zur Verbesserung der Lebensqualität und des Lebensstandards von Menschen und anderen Tieren eingesetzt, etwa im Gesundheitswesen, in der Landwirtschaft, in der Medizin sowie in der pharmazeutischen und lebensmittelwissenschaftlichen Industrie. Angesichts des breiten Spektrums an lebenswissenschaftlichen Theorien und Praxisbereichen kann im Folgenden nur schlaglichtartig angedeutet werden, in welchen Feldern die Phänomenologie rezipiert wurde und einen erkennbaren Einfluss ausgeübt hat. Dies ist insbesondere dort der Fall, wo der gelebte Leib eine zentrale Rolle spielt und die phänomenologischen Analysen des Leibkörpers und der Kinästhetik sowie die ontologischen Überlegungen zum Verhältnis von Materie und Geist Eingang in die wissenschaftstheoretische Reflexion finden. Konkret hat die Phänomenologie eine Wirkung entfaltet in den Bereichen (1) Biologie, (2) Ökologie, (3) Neurowissenschaften und (4) Medizin (inklusive Pflegewissenschaft).
XI.2. Lebenswissenschaften
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2.1. Biologie
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts lassen sich unterschiedliche konzeptuelle Komplementaritäten zwischen der Phänomenologie Husserls und der theoretischen Biologie feststellen, auch wenn diese nicht unbedingt auf einen direkten Einfluss in die eine oder andere Richtung zurückzuführen sind. Nach Jakob von Uexküll (1928, 9) ist »alle Wirklichkeit subjektive Erscheinung […]. Ganz umsonst wird man die gesamte Welt durchstöbern nach Ursachen, die unabhängig vom Subjekt sind, immer wird man auf Gegenstände stoßen, die ihren Aufbau dem Subjekt verdanken.« Jedes Subjekt lebt dem Biologen zufolge in einer Umwelt, in dem Subjekt und Objekt eine in sich geschlossene Einheit bilden. Zunächst sind Objekte neutral, aber wenn ein Subjekt eine Beziehung zu einem Objekt eingeht, wird Letzteres bedeutungsvoll. Subjekte verleihen den Objekten auf diese Weise Bedeutung und verwandeln sie in Sinngebilde. Wenn ein Objekt so zum Bedeutungsträger wird, nimmt es eine bestimmte funktionale Qualität an, die davon abhängig ist, in welchem Zustand sich das Subjekt jeweils befindet und wie es affektiv disponiert ist. Auch geht Uexküll davon aus, dass Lebewesen im Lauf ihrer individuellen Entwicklung Erfahrungen machen, die vorprägen, welche Gegenstände für sie im weiteren Verlauf relevant werden. Tiere können Erfahrungen sammeln und diese bedingen ihre Einstellungen zu neuen Eindrücken: Es werden ›Merkbilder‹ mit korrespondierenden ›Wirktönen‹ geschaffen. In ähnlicher Weise beschreibt Husserl in phänomenologischen Termini des Interesses und des Habitus, wie sich das Subjekt seiner Lebenswelt situationsbezogen zuwendet und wie die genetischen Prozesse von Assoziation und Weckung funktionieren (Sheets-Johnstone 2015). Über strukturelle Analogien hinaus gibt es aber auch konkretere Wirkungsbeziehungen zwischen Phänomenologie und Biologie, so etwa in Werner Brocks Studie zur Grundstruktur des Lebendigseins (1931), der sich stark auf Heidegger beruft, sowie Helmuth Plessner, der sich in methodischer Hinsicht unter anderem in der Einleitung zu den Stufen des Organischen (1928/1975) mit der Phänomenologie auseinandersetzt. Wie Meacham (2013) herausarbeitet, wirken vor allem zwei husserlsche Motive in die Biologie hinein: zunächst in die philosophische Biologie von Hans Jonas (1973) und – durch seine Konzeption vermittelt – in neuerer Zeit in Evan Thompsons (2007) Theorie des autopoietischen Selbstseins, die er als leibphänomenologisch inspirierten Enaktivismus entwickelt. Das erste Motiv besteht in der Annahme, dass es eine einfühlende Beziehung des menschlichen Bewusstseins zu anderem animalischen Bewusstsein gibt, was Husserl in Beilage XXIII der Krisis (Hua VI) notiert. In Jonas’ ungleich bekannterer Formulierung heißt das, dass ›Leben nur durch Leben‹ erkannt werden kann. Ein körperloser, rein mathematischer Intellekt könnte demzufolge nicht die Autonomie und gleichzeitige Transzendenz des Organismus in seinen Beziehungen zur Umwelt erfassen, sondern würde nur eine Reihe abstrakter Mechanismen beobachten. Entscheidend sind nach diesem Gedanken die Lebenserfah-
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rungen, die Organismen als verkörperte Subjekte machen. Nur Erfahrungen machende Wesen können die Erfahrungsdimension auch bei anderen Wesen wahrnehmen und verstehen. Insofern stellt die Biologie, verstanden als wissenschaftliche Aneignung und Auslegung dieser fundamentalen Relation, eine gewissermaßen empathische Wissenschaft dar. Das zweite Motiv, welches als ontologische Kehrseite der epistemologischen Annahme einer Verstehensbedingung im Lebendigen gelesen werden kann, lautet, dass alle lebendige Natur letztendlich subjektiv konstituiert ist. Subjektivität ist in dieser Perspektive jedoch minimal gefasst, nämlich als Differenz zwischen Organismus und Umwelt, die es für den Organismus erforderlich macht, sich mit der Umwelt dergestalt auseinanderzusetzen, dass Stoffwechselprozesse und dadurch Überlegen möglich werden. Es geht dem Organismus – heideggersch gewendet – auf einer fundamentalen Ebene um sich selbst, er muss sich mit demjenigen auseinandersetzen, was er nicht selbst ist, um sich selbst erhalten zu können. Die Welt erscheint insofern als Horizont aller Bedürfnisse; Thompson vergleicht dies mit der spinozistischen Idee des conatus, also der Triebhaftigkeit, der Strebungen und der Sorge des Lebendigen um seine eigene Existenz. Ein weiteres wichtiges Motiv, das bei vielen Phänomenolog:innen auftaucht, ist der Antidualismus im ontologischen Sinne, der häufig an der Erfahrungsdimension des Leibkörpers expliziert wird. Wenn Jonas die »psychophysische Einheit des Lebens« (Jonas 1973, 3 f.) betont und diese gegenüber einem cartesianischen Dualismus von Mentalem und Materiellem in der Biologie sichern will, dann greift er dieses klassische Motiv auf; seine Forschungswerkzeuge bezeichnet er dabei explizit als »in der Hauptsache kritische Analyse und phänomenologische Beschreibung«. Der niederländische Biologe Frederik Buytendijk suchte den Austausch mit der Phänomenologie und lud beispielsweise Max Scheler zu Vorträgen ein, um insbesondere ein Verständnis von der phänomenologischen Methodologie zu erlangen. Ein zentrales Element von Schelers Überlegungen zum zwischenmenschlichen Verstehen, die er in seinem Werk Wesen und Formen der Sympathie (1923) entfaltet und das bei Buytendijk und Plessner ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, ist die Annahme einer ›psychophysischen Indifferenz des Ausdrucks‹. Die Sphäre der Expressivität ist für Scheler der genuine Austragungsort des intersubjektiven Geschehens. Hier gibt es keine privaten Zustände, die von isolierten Subjekten gehabt werden und die für andere verschlossen im psychischen Innern sind. Vielmehr haben im Ausdruck selbst die psychischen Erfahrungsqualitäten einen objektiven Charakter, sind sichtbar und können von anderen erkannt und verstanden werden. Mit der Behauptung einer prinzipiellen Vorgängigkeit dieser Dimension bringt sich die Phänomenologie ebenso wie die von ihr inspirierte Biologie in Stellung gegen einen Dualismus cartesianischer Prägung, der mit einem mechanistischen Bild des menschlichen Körpers und einer Ideenlehre hinsichtlich der res cogitans einhergeht. In seiner Haltungs- und Bewegungslehre sucht Buytendijk (1956) folgerichtig nach einer Zwischenposition zwischen Materialismus und Vitalismus, von der aus er insbesondere den Mechanismus in der
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Physiologie seiner Zeit bekämpfen will. Dabei greift er auch Motive der Gestalttheorie auf und schließt in der Betonung der Einheit von Wahrnehmung und Bewegung erneut implizit an Husserl und dessen Analysen der leibkörperlichen Kinästhesen an. Ein Gedanke, der Buytendijk zudem mit Uexküll verbindet, ist die funktionelle Einheit in der Interaktion zwischen Organismus und Umwelt, von der ausgehend er eine Konzeption sensomotorischer Kreisläufe entwickelt, die viel von aktuellen Theorien des Enaktivismus vorwegnimmt. Weitere Einflüsse der Phänomenologie lassen sich darin erkennen, dass er Sartres Reflexionen zum Imaginären bei der Unterscheidung zwischen Antizipation und Fantasie aufgreift, die für die Beschreibung des vitalen funktionalen Zusammenhangs von Individuum und Situation wichtig ist. Wie Buytendijk ausführt, ist unser normales Verhalten in Abstimmung mit den Anforderungen und Angeboten der jeweiligen Situation von Antizipationen maßgeblich beeinflusst, die uns erlauben, den Verlauf von Ereignissen vorherzusehen und angemessen ihnen gegenüber zu handeln. Mit Blick auf die Thematik des Zeitbewusstseins schließt diese Konzeption, was den Gedanken der Kontinuität im Erfahrungsablauf und der Zukunftsgerichtetheit betrifft, an Husserls Analysen von Retention, Impression und Protention sowie des Zusammenhangs von Intention und Erfüllung an. Eine lange Freundschaft und intensive wissenschaftliche Kollaboration verband Buytendijk mit dem Biologen und Hauptvertreter der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessner ( D.V). Gemeinsam erarbeiteten sie eine Theorie des menschlichen Ausdrucks und der Bewegungsgestalten, die biologische ebenso wie phänomenologische Konzeptionen zu integrieren versuchten (Buytendijk/Plessner 1925; 1935). Lediglich angedeutet werden können des Weiteren Verbindungen zwischen Biologie und Phänomenologie in gegenwärtigen Ansätzen, etwa durch eine erneute Rezeption von Merleau-Ponty und seiner Thematisierung der Haut sowie des Fleisches, die Jesper Hoffmeyer (2008) bei seiner Analyse biologischer Membranen inspirierte (Westling 2014). Die biologische Philosophie von Hans Jonas und insbesondere seine Konzeption der Affektivität und die These der Subjektivität des Lebens wurden in einem biosemiotischen Rahmen von Andreas Weber (2002) weiterentwickelt. 2.2. Ökologie
Eine gewisse Wirkung entfaltete die Phänomenologie in Wissenschaftsbereichen, die die Beziehungen zwischen Menschen und ihren Umwelten untersuchen, also etwa die Humanökologie und die Humangeografie. Außerdem entwickeln Autor:innen innerhalb der Phänomenologie ihre eigenen Ansätze in Richtung einer phänomenologischen Ökologie (Melle 2007), die mittelbar auch den Naturbegriff neu zu schärfen vermag. Michael Marder hat Überlegungen der Ethik der Alterität im Kontext seiner phänomenologisch geprägten Pflanzenphilosophie einbezogen: Anstatt das Leben stets vom Paradigma der Autonomie her zu denken, zwingt das pflanzliche Leben dazu, die Abhängigkeit des Organismus von
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seiner Umwelt, der Nahrungs- und vor allem Lichtquellen, her zu denken (Marder 2013). Die Richtung der ›Postphänomenologie‹ (Ihde 1995) bietet ferner einen reichen Fundus an Beschreibungen der technischen Umwelt ( D.IX). Inspiriert durch Husserls Konzept der Lebenswelt und Heideggers Analysen zum Werkzeuggebrauch, zum In-der-Welt-Sein und zum Wohnen haben sich zunächst ab den 1970er-Jahren Forscher:innen aus den Umweltwissenschaften (aber auch in der Architektur) – häufig vermittelt durch die Arbeiten von Alfred Schütz und Aron Gurwitsch – der Phänomenologie zugewandt (NorbergSchulz 1971; 1982; Seamon 1979; Pickles 1985). Bevorzugte Themen dieses Transfers sind die Raum- und Ortsgebundenheit des menschlichen Weltbezugs, die Herstellung von Sinnbezügen zwischen natürlicher und kultureller Umgebung oder der theoretischen Differenzierung von Raum (space) und Ort (place). Während mit ›Raum‹ der objektive und geografisch so oder so beschaffene Raum ist, bezeichnet ›Ort‹ den subjektiv erlebten und mit je spezifischen persönlichen (z. B. erinnerungsmäßigen oder emotionalen), sozialen (z. B. durch konventionelle Praktiken) und kulturellen (z. B. historisch gelernten Bezügen) Bedeutungen aufgeladenen Raum. Hierzu passend wurde unter dem Einfluss von MerleauPonty die Situationalität der menschlichen Existenz als leibliches Sein zur Welt zu einem wichtigen Fokus. Anstelle einer Gegenüberstellung von Raum und Organismus liegt die Betonung hierbei auf der lebendigen Erzeugung von Örtlichkeit – Dovey (1985) spricht vom Geschehen des making place, das die menschliche Natur als Kulturwesen kennzeichnet, und zwar schon auf der Ebene einfacher Handlungen wie dem Aufstehen, Gehen, Greifen, Zeigen usw. Empirische Untersuchungen können sich diese konzeptuellen Ressourcen zunutze machen, und so wurden beispielsweise das Wohnverhalten und die Wahrnehmung urbaner Umwelten in phänomenologischer Hinsicht analysiert (Graumann/Kruse 1993). Um die subjektiven Wahrnehmungs- und Bewertungsweisen der Befragten (Einwohner:innen von Paris im Vergleich zu Heidelberg) zu erschließen, kommt eine Art Epoché zum Einsatz, d. h. ein Verzicht auf bekannte wissenschaftliche Theorien und eigene Ideen, wodurch die Gefühle, Motive und Absichten der interviewten Menschen klarer zum Vorschein kommen können. Um die affektive Komponente der Identifikation mit einem Wohnort zu beleuchten, kann beispielsweise gefragt werden, ob es in ihrer Umgebung etwas gibt, worauf sie besonders stolz sind, wofür sie sich schämen oder was im Allgemeinen hoch geschätzt wird. Dies können beispielsweise physische Merkmale (Flüsse, Brücken, Monumente) sein, anhand derer eine Stadt identifiziert werden kann. Primäre Identifikationsobjekte sind das eigene Haus oder die eigene Straße, aber ebenso wichtig, vor allem auf der Ebene der Nachbarschaft, sind soziale Beziehungen und Mitgliedschaften (Graumann 2002). Im Bereich der Ökophänomenologie bzw. Eco-Phenomenology (C. Brown/ Toadvine 2012; W. Smith et al. 2018) und spezieller in der Tiefenökologie bzw. Deep Ecology (Naess/Sessions 1986; Drengson et al. 2011) werden phänomenologische Konzepte – speziell im Anschluss an Merleau-Pontys Vorlesungen
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zum Naturbegriff (1995/2000) – eingesetzt und weiterentwickelt. Die Tiefenökologie ist eine Umweltphilosophie, die den Eigenwert aller Lebewesen unabhängig von ihrem instrumentellen Nutzen für die menschlichen Bedürfnisse sowie die Umstrukturierung moderner menschlicher Gesellschaften in Übereinstimmung mit solchen Vorstellungen fördert. Dabei wird argumentiert, dass die natürliche Welt ein Komplex von Beziehungen ist, in denen die Existenz von Organismen von der Existenz anderer Organismen innerhalb von Ökosystemen abhängig ist. So gesehen ist die durch den Menschen verursachte Bedrohung und Zerstörung der Umwelt nicht nur für ihn selbst, sondern für alle Organismen relevant. Hieraus ergibt sich als Kernprinzip der Tiefenökologie die Überzeugung, dass die lebende Umwelt als Ganzes respektiert werden sollte und dass ihr bestimmte grundlegende moralische Werte und rechtliche Sicherheiten zugestanden werden sollten. Die Umwelt und im weiteren Sinne der Planet Erde werden als umfassende Lebensgemeinschaft konzeptualisiert, was den Bereich der Ethik und der Verantwortlichkeit entsprechend ausweitet. Als ›tief‹ wird diese Vorstellung von Ökologie bezeichnet, weil sie sich in manchen Teilen über wissenschaftliche Ansprüche in der Beschreibung und Erklärung von humaninduzierten Veränderungen einem holistischen – und teilweise ins Spirituelle reichenden – Bild der Mensch-Umwelt-Korrelation und der Kovivenz der Arten verpflichtet. Philosophiehistorisch tun sich Bezüge zum Panpsychismus auf, der Vorstellung also, dass die Fähigkeit zum Bewusstsein oder zur ›Beseelung‹ nicht nur dem Menschen zukommt (McWeeny 2019). Wie David Wood (2003) kritisch hervorhebt, können auch gefährliche politische Implikationen haben und sich aus den genannten normativen Setzungen ergeben, so etwa, dass man unter bestimmten Umständen eine aktive Regulierung oder gar Reduzierung der menschlichen Population rechtfertigen könnte, um den Bedürfnissen anderer Spezies Rechnung zu tragen, und dass im weiteren Sinne die Rechte des einzelnen Menschen denen der Spezies untergeordnet werden sollten. 2.3. Neurowissenschaften
In die Hirnforschung sind Einsichten der Phänomenologie insbesondere ab den 1990er-Jahren mit den Arbeiten von Francisco Varela eingegangen und haben seither auf eine bestimmte Richtung innerhalb der Neurowissenschaften, die sich als ›autopoietischer Enaktivismus‹ bezeichnen lässt, großen Einfluss gehabt. Varela hatte bereits in den 1980er-Jahren gemeinsam mit Humberto Maturana das wegweisende Werk Der Baum der Erkenntnis (1987) vorgelegt, in dem das Konzept der ›Autopoiesis‹ in der Theorie biologischer kognitiver Systeme eingeführt wird. Maturana selbst war stark von Uexkülls theoretischer Biologie beeinflusst, die, wie gesehen, Korrespondenzen zur Phänomenologie aufweist. Die Theorie der autopoietischen Systeme, die Varela und Kollegen in The Embodied Mind (1991) weiterentwickeln, versucht, die notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu formulieren, unter denen biologisches Leben als emer-
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genter und zirkulärer, sich selbst reproduzierender Prozess charakterisiert werden kann. Bei Varela bietet das Grundkonzept der Verkörperung (siehe oben), unter Rückgriff auf die Phänomenologie der Leiblichkeit von Merleau-Ponty, den systemischen und dynamischen Rahmen für ein Verständnis davon, wie subjektive Erfahrung in einem biologischen Organismus gemäß internen Regulationen und der fortlaufenden sensomotorischen Kopplung mit der Umwelt entstehen kann. In seinen späteren Arbeiten entwickelt Varela das Programm der ›Neurophänomenologie‹ (Varela 1996) als Methode der systematischen erstpersonalen Erforschung des Bewusstseins in naturalistischen Experimentalsettings ( B.III.8). Sie versucht heuristische Rahmenbedingungen für ein wechselseitiges Verständnis biophysikalischer Daten von Probandenberichten über subjektive Erfahrungen zu definieren. Über diese zunächst mehr ökologisch orientierte Konzeption hinaus, die auf die Interaktionsbeziehungen zwischen Gehirn, Organismus und materieller Umwelt abhebt, entwickelte sich ein weiteres Bezugsfeld zwischen Hirnforschung und Phänomenologie durch die Entdeckung der sogenannten ›Spiegelneuronen‹, die grundlegende Fragen der sozialen Kognition neu aufwarf. Die Phänomenologie ist in der modernen Philosophie sicherlich diejenige Richtung, die die unterschiedlichen Formen und Konstitutionsbedingungen von Intersubjektivität und Sozialität am intensivsten analysiert hat. Es ist daher naheliegend, dass einerseits Phänomenolog:innen den wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Stellenwert dieser Entdeckung evaluierten und andererseits philosophisch geneigte Neurowissenschaftler:innen phänomenologische Konzepte wie Einfühlung, Sympathie, Analogisierung oder Paarung mobilisierten, um die Funktionsweise der Spiegelneuronen zu interpretieren (Lohmar 2006). Ganz allgemein definiert, ist ein Spiegelneuron ein Neuron, das sowohl dann feuert, wenn ein Lebewesen eine Aktion ausführt, als auch dann, wenn das Tier die gleiche Aktion bei einem anderen beobachtet, das sie ausführt. Das Neuron ›spiegelt‹ in diesem Sinne das Verhalten des anderen in einer Weise, als ob der Beobachter selbst handeln würde. Eine Gruppe von Neurophysiolog:innen um Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma stießen Anfang der 1990er-Jahre – der anekdotischen Überlieferung nach eher zufällig – auf diese spezifischen Nervenzellen, als sie mit Makaken experimentierten, denen sie Elektroden in den ventralen prämotorischen Kortex einführten, um die Kontrollmechanismen von Hand- und Mundbewegungen zu studieren (Di Pellegrino et al. 1992). Hierbei zeigte sich, dass bestimmte Nervenzellen in grundsätzlich der gleichen Weise feuerten, wenn ein Affe einen/eine Experimentator:in beobachtete, die/der ein Stück Futter aufhob, und wenn der Affe selbst das Futter aufhob. Bei Menschen wurde später im prämotorischen Kortex, im primären somatosensorischen Kortex sowie im inferioren parietalen Kortex eine Hirnaktivität gefunden, die mit der Funktion dieser Spiegelneuronen übereinstimmt (Molenberghs et al. 2009). Seither gibt es zahllose Spekulationen darüber, für welche zwischenmenschlichen Prozesse die Spiegelneuronen die biologische Grundlage bilden könnten.
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Über die pauschale Emphase hinaus, dass es ein evolutionär verwurzeltes soziales Band zwischen Menschen zu geben scheint, das es ihnen von Geburt an erlaubt, mit anderen in Resonanz zu treten und sinnvolle Interaktionen ausführen zu können, gibt es empirische Hinweise auf die Rolle der Spiegelneuronen in unterschiedlichen spezielleren Bereichen wie Lernen durch Nachahmung und sprachliche Kommunikation. Die wichtigste Weiterentwicklung in der Theoretisierung über Spiegelneuronen liegt hierbei im Bereich der Empathie, also der Fähigkeit, die psychischen Erlebnisse anderer zu erkennen, nachzuvollziehen, mitzuerleben und zu verstehen. Diese mehrdimensionale intersubjektive Fähigkeit umfasst Aspekte wie das Erkennen einfacher Handlungsabsichten (Fogassi et al. 2005), das Teilen von Emotionen oder das Nachempfinden von Erlebnisqualitäten (Botvinick et al. 2005). Vilayanur Ramachandran (2009) ging noch weiter und behauptete, Spiegelneuronen seien nicht nur involviert in das Verstehen anderer, sondern ebenfalls die Grundlage des menschlichen Selbstbewusstseins, nämlich dadurch, dass sie Metarepräsentationen eigener früherer Aktivierungsmuster erzeugen und Introspektion sowie den Abgleich von Selbst- und Fremdwahrnehmung ermöglichen. Als Entdecker der Spiegelneuronen rekurriert nun Rizzolatti selbst explizit auf die Phänomenologie, namentlich Merleau-Ponty (1966/2000), wenn er seine »Hypothese der direkten Übereinstimmung« (Rizzolatti et al. 2001) formuliert. Diese besagt, dass wir Handlungen verstehen, wenn wir die visuelle Repräsentation der beobachteten Handlung auf unsere motorische Repräsentation derselben Handlung abbilden. Demzufolge verstehen wir eine Handlung dann, wenn ihre Beobachtung eine unmittelbare Resonanz hervorruft, d. h. motorische System der Beobachterin zum ›Mitschwingen‹ bringt. Bei diesem Ansatz wird das motorische Wissen des Wahrnehmungssubjekts genutzt, um die wahrgenommene Handlung zu verstehen. Aus der Phänomenologie wird hier der Gedanke einer leiblichen Weltbeziehung entlehnt, die es verstehbar macht, inwieweit ›innere‹ und ›äußere‹ Handlungen, erstpersonale und drittpersonale Perspektiven miteinander vermittelt bzw. ineinander verschränkt sind. Doch wieweit trägt der Vergleich zwischen phänomenologischen Konzepten und der naturalistischen Erklärung sozial-kognitiver Prozesse anhand von neurologischen Befunden? Für Matthew Ratcliffe (2009) besteht eine wichtige Parallele zwischen Husserls Gedanken der Intersubjektivität als präreflexive »analogisierende Apperzeption« (Hua I, § 50) und der Spiegelneuronenforschung, insofern in beiden Konzeptionen nicht von einem höherstufigen kognitiven Akt ausgegangen wird, der inferentiell ein Wissen vom Fremdpsychischen erzeugt, sondern unmittelbar in der Wahrnehmungsleistung liegende bzw. subpersonale Mechanismen am Werk sind. Auch Evan Thompson (2001) hebt die präreflexive Paarung von Selbst und Anderen hervor, die ihr neurologisches Korrelat in der Kopplung von motorischen Aktivationsmustern bei der Beobachtung und Ausführung von Handlungen habe. Wie Dan Zahavi einräumt, gibt es in der Tat schon bei Husserl Formulierungen, die man in ähnlicher Form bei Neurowissenschaftlern wie Vittorio
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Gallese findet, was die Analogisierung von Fremd- und Eigenbewegung betrifft (Hua IV, 164; XV, 642). Anhand von Husserls Beschreibungen der Kinästhesen und Empfindnisse sowie bei seinen Analysen der analogisierenden Paarung mit dem Leib des Anderen, den ich als Alter Ego auffasse, scheint die Parallelisierung naheliegend. Dennoch muss die Divergenz der Erkenntnisinteressen und metaphysischen Ausgangslagen berücksichtigt werden, die zwischen der Phänomenologie als transzendentaler Philosophie und reduktionistischen Forschungsprogrammen schon in methodologischer Hinsicht und mit Blick auf die Interpretation von Experimentaldaten herrscht. Wie Zahavi zu bedenken gibt, ist die phänomenologische Theorie der Intersubjektivität zu komplex, als dass sich eindeutig feststellbare neuronale Korrelate der jeweiligen Konstitutionsschichten und Erlebnisqualitäten aufweisen lassen könnten. Schon bei Husserl ist die dyadische Beobachtungssituation nur eine Konstellation, in der sich das leibkörperliche Geschehen von Selbst- und Fremderfahrung manifestiert. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Erweiterungen der Intersubjektivität in Richtung einer lebensweltlichen Sozialität und Kulturalität. Ein weiterer kritischer Hinweis betrifft die Verwertung von Ergebnissen zu Spiegelneuronen zur Untermauerung einer Theorie der sozialen Kognition, die in vielen Punkten konträr zu einem phänomenologischen Verständnis läuft, nämlich der Simulationstheorie (Gallese/ Goldman 1998). Fremdverstehen funktioniert dieser gemäß durch Projektion psychischer Zustände auf andere, die im eigenen internen Repräsentationssystem anhand zur Verfügung stehender Informationen erzeugt wurden. Was hierdurch vermeintlich nivelliert wird, ist die Erfahrung von Alterität und Differenz, die für Intersubjektivität nach der Ansicht der meisten Phänomenolog:innen unhintergehbar ist. Vor dem Hintergrund dieser Auswahl nur weniger Kritikpunkte kann festgehalten werden, dass die Debatte um die Spiegelneuronen zwar interessante wechselseitige Reflexionen angestoßen, aber keineswegs zu einer grundlegenden Annäherung geführt hat, vielmehr sind die methodischen und epistemologischen Prämissen und Unterschiede noch deutlicher hervorgetreten. Das kann vor allem deswegen nicht verwundern, weil Husserl, wie eingangs beschrieben, die phänomenologische Methode in Abgrenzung zu naturalistischen bzw. empiristischen Methoden konzipierte. Ein anders gelagertes und mehr metatheoretisches neueres Forschungsprogramm ist die ›kritische Neurowissenschaft‹ (Choudhury/Slaby 2016). Diese versteht sich als eine reflexive wissenschaftliche Praxis, die auf die sozialen, kulturellen und politischen Herausforderungen reagiert, die sich aus den Fortschritten in den Neurowissenschaften ergeben. Diese Fortschritte der Hirnforschung haben eine wachsende Zahl von Initiativen und Neuinterpretationen in den Bereichen Soziologie (Baecker 2014) und Ethik (Hildt 2012) zur Folge. Auch die theoretische Philosophie sieht sich herausgefordert und es gibt zahlreiche Projekte unter dem Label einer ›Neurophilosophie‹, die sich etwa mit Fragen der Willensfreiheit und des Determinismus auseinandersetzen (Walter 1998). Auf diese Entwicklung reagiert die kritische Neurowissenschaft und ist dabei insofern
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phänomenologisch inspiriert, als zum einen das Selbstverständnis des Menschen im Angesicht naturalistischer und reduktionistischer Szenarien und zum anderen das Verhältnis von Lebenswelt (inklusive öffentlicher Diskussion) und Wissenschaften neu ausgelotet werden. Was den ersten Punkt betrifft, so ist eine Grundannahme mancher Neurowissenschaftler (Frith 2007/2010) und Neurophilosophen (Metzinger 2009), dass die Welt, die wir wahrnehmen, nichts anderes sei als eine von unserem Gehirn erzeugte Illusion. Gemäß diesem Neurokonstruktivismus projiziert das Gehirn auf der Grundlage aktuell empfangener Reize und aus früherer Erfahrung generierter Wahrscheinlichkeiten permanent eine Simulation der Welt. In Ergänzung zur fundamentalen Ablehnung eines naiven Repräsentationalismus bei gleichzeitiger Zentrierung dessen, was und wie sich etwas in der Erfahrung zeigt, reagieren Phänomenolog:innen wie Dan Zahavi (2018) mit einer Kritik, die auf weitere Aspekte abhebt. Erstens ist das Gehirn schon rein biologisch betrachtet kein isoliertes System, sondern befindet sich in ständiger neuronaler und hormoneller Interaktion mit dem gesamten Körper. Die peripheren Prozesse werden aus dem ›Ego-Tunnel‹ aber ausgeschlossen – es ergibt sich ein Bild eines solipsistischen ›Gehirns im Tank‹. Zweitens befinden wir uns nicht nur in körperlicher Interaktion mit der physischen Umwelt, sondern auch mit anderen sozialen Agenten, wir kommunizieren und bearbeiten gemeinsam das Erscheinende. Diese Kooperation scheint aber als Möglichkeit unplausibel, wenn jedes Individuum nur seine eigene Hirnwelt hervorbringt. Was die Phänomenologie unter Intersubjektivität und intersubjektiver Validierbarkeit versteht, fällt gleichsam unter den Tisch bzw. kann nur als kontingentes Ergebnis von Rückkopplungen zwischen neuronalen Vorgängen interpretiert werden. An der Schnittstelle von Phänomenologie, Enaktivismus und Neurowissenschaft hat Thomas Fuchs (2017b) in neuester Zeit eine ökologische Konzeption des Gehirns als »Beziehungsorgan« entwickelt, die sich kritisch an der neurokonstruktivistischen Epistemologie und ihrem Repräsentationalismus abarbeitet. Gegen ein in der Hirnforschung prominentes Konzept der phänomenalen Realität als interne Modellierung der objektiven Außenwelt durch neuronale Prozesse wendet Fuchs eine Theorie der Wahrnehmung als aktiver Erkundung der Umwelt und der Doppelaspektivität von Leib und Körper, im Anschluss an Husserl, Merleau-Ponty und Plessner, an. In dieser Sicht erscheint das Gehirn als Organ der ganzen menschlichen Person, inklusive ihrer Eingebundenheit in ökologische und soziale Umwelten und Interaktionszusammenhänge. Nicht nur steht das Gehirn in permanenter Wechselbeziehung zum gesamten Leib und dessen Vermögen zur Bewegung und zum Handeln, sondern auf empathische Weise auch mit den intentionalen Sinngehalten, die intersubjektiv zugänglich sind. 2.4. Medizin
Eine wichtige Figur für die Integration phänomenologischer Einsichten in die Medizin war Viktor von Weizsäcker als Begründer der Psychosomatik. Für seine
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Vision von Biologie ist zunächst zentral, dass die/der Wissenschaftler:in mit teilnehmendem Blick an den jeweiligen Gegenstand der Forschung herantritt und die eigene Involviertheit in den Prozess der Erkenntnisgenerierung anerkennt und thematisiert: »Der Biologe […] lebt sich in seinen Gegenstand ein und erfährt ihn durch sein eigenes Leben. Um Lebendes zu erforschen, muß man sich am Leben beteiligen.« (Weizsäcker 1940/1973, 295) Die zu erforschende Welt ist also keine vom forschenden Subjekt unabhängige – ein Grundsatz, der insbesondere auch in der Medizin gilt, wo es um ständige Interaktions- und Abstimmungskreisläufe zwischen Ärzt:innen und Patient:innen geht (Rinofner-Kreidl 2005). Die Medizin ist so gesehen eine paradigmatische intersubjektive Wissenschaft. Wie das Kapitel Psychologie und Psychiatrie ( D.IV) zeigt, hat die Phänomenologie im Bereich der Psychiatrie und Psychosomatik eine große Wirkung entfaltet. Die dort geschilderten Strömungen – ausgehend von Karl Jaspers bis heute – können an dieser Stelle freilich nicht eigens nachgezeichnet werden. In Der kranke Mensch (1951) entwickelt Weizsäcker eine Theorie der Krankheit als subjektivem Erlebniszusammenhang. In der Krankheit erfährt der Mensch seine Abhängigkeit vom eigenen Leib und von dessen sich der bewussten Kontrolle entziehenden Vorgängen. Krankheiten sind deshalb Chiffren für Unsicherheiten und motivieren zu vielfältigen Deutungen. Diesem lebensweltlichen Sachverhalt steht das Ideal der modernen Medizin entgegen, Krankheiten als biologische, objektive, sinnfreie Phänomene zu verstehen. Eine von einer Patientin als Katastrophe erlebte Krankheit mag im Kontext der modernen Medizin beispielsweise nur als mehr oder weniger kontingente Anhäufung von Mikroorganismen gedeutet werden. An der konkreten subjektiven Situation von Kranken versagt aber das Modell eines biologischen Zufalls; die medizinische Diagnose schafft ein Deutungsvakuum. Dabei ist die Medizin in ihrer Ursprungssituation – dem Ärzt:innen-Patient:innen-Gespräch – de facto auf eingespielte soziale und kulturelle Deutungsmuster angewiesen. Deshalb ist zu fragen, wie sich medizinische und lebensweltliche Deutungen von Krankheit zueinander verhalten und sich wechselseitig determinieren. Die maßgebliche Wirkung der Phänomenologierezeption auf die Medizin kann also darin gesehen werden, dass man sich von einem reduktionistischen physiologischen Krankheitsbegriff hin zu subjektiven Krankheitserfahrungen bewegt und die Interaktionsbeziehungen zwischen Behandelnden und Behandelten in den Blickpunkt stellt. Abgesehen von dieser ganz allgemeinen Charakterisierung gibt es zahlreiche Fälle konkreter Anwendungen phänomenologischer Konzepte, gerade auch in neueren medizinisch-klinischen Kontexten. Schon der oben besprochene Francisco Varela (2001) thematisiert beispielsweise das Verhältnis von Nähe und Distanz bei der Organtransplantation und zunehmend wird die subjektive Erfahrung bei der Organtransplantation auch in der Medizin gewürdigt und klinisch untersucht (Peyrovi et al. 2014). Dabei kommen phänomenologische Konzepte des Leibes und Körpers zum Einsatz, die hilfreich sind, wenn man lebensweltliche Vorstellungen von Patient:innen und Angehöri-
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gen – beispielsweise darüber, ob der tote Körper als materielle Ressource zu sehen ist, aus dem Organe entnommen und in einen anderen, lebendigen Leib eingesetzt werden können – empirisch (etwa im Interview) erheben möchte (Haddow 2005). Auf phänomenologischer Seite gibt es erstpersonale Beschreibungen (Nancy 2000) und theoretische Reflexionen über den Organbegriff selbst, über das Verhältnis von Eigenheit und Fremdheit sowie die Thematik der personalen Identität bei Organtransplantation (Svenaeus 2010; 2012). Im Sinne einer ›viszeralen Phänomenologie‹ (Shildrick 2014) wird die Aufmerksamkeit zunehmend auf die leiblichen Empfindungen und die interpretatorischen Aneignungen bzw. Abstoßungen im Hinblick auf fremdes Gewebe analysiert. Nicht nur ist die Phänomenologie hierbei Stichwortgeberin und konzeptuelle Ressource für die Lebenswissenschaften, sondern sie erweitert zugleich das Spektrum ihrer Beschreibungen der Leiblichkeit, indem sie durch medizinisch-technische Innovationen wie die Organtransplantation herausgefordert wird. Ein anderes Erscheinungsbild, an dem sich ein fruchtbarer Dialog zwischen Medizin (sowie Neurologie) und Phänomenologie aufzeigen lässt, sind Phantomglieder. Für diese interessierte sich schon Merleau-Ponty (1966/2000), der die Empfindung von Phantomschmerzen als Ergebnis einer leiblichen Verdrängung deutete. Der Mediziner Herbert Plügge (1970) stellte später »klinisch-phänomenologische Untersuchungen« zur Erlebnisweise von Phantomgliedern an und bediente sich bei deren Interpretation des phänomenologischen Konzepts des Körperschemas. In den vergangenen Jahren hat der Neurologe Ramachandran (2000) eine Theorie der Phantomempfindungen ausgearbeitet, die von einem neuronalen ›Remapping‹ im somatosensorischen Kortex ausgeht und mit phänomenologischen Strukturbeschreibungen zur Kinästhetik, zu intersubjektiven Spiegelungsprozessen und zum Leibgedächtnis zusammengedacht werden kann (Breyer 2018). Ein weiterer Bereich der Medizin, für den die Phänomenologie immer wich tiger wird, ist die Pflegewissenschaft. Insbesondere im angloamerikanischen Sprachraum haben sich in den vergangenen Jahrzehnten im Kontext der Gesundheitswissenschaften und mit Blick auf die Ausbildung von Pflegepersonal die sogenannten nursing studies etabliert; sie umfassen die theoretische und praktische Ausbildung von Krankenpfleger:innen mit dem Ziel, sie auf ihre Aufgaben als Pflegefachkräfte vorzubereiten. Traditionell wurden Fachkräfte in der Pflegewissenschaft und den Pflegeberufen insofern phänomenologisch instruiert, als Methoden wie Epoché und Reduktion als Mittel zur Vermeidung von Verzerrungen eingeführt wurden, sodass man sich den jeweiligen Krankheitsbereichen unvoreingenommen widmen kann. Doch auch phänomenologische Kernbegriffe wie Selbstbewusstsein, Einfühlung, Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Affektivität und Leiblichkeit lassen sich nutzen, um die Sensibilität für die Komplexität psychischer Phänomene zu erhöhen und im Verständnis der Behandelnden reduktionistische Sichtweisen abzubauen und die subjektiven Erfahrungen von Patient:innen besser zu verstehen (Fernandez 2020). Im Kontext klinischer Praxis erhofft man
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sich hiervon auch ein emanzipatorisches Potenzial der Phänomenologie im Sinne der Patient:innen, die sich in den Artikulationen ihrer Befindlichkeiten wahrgenommen fühlen können, wodurch die gelebte Erfahrung im Unterschied zu messbaren Symptomen des objektivierten Körpers einen besonderen Stellenwert erhält (Dahlberg 2019). Thiemo Breyer
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E. Apparat
I. Hilfsmittel und Ressourcen Die hier gebotene Auflistung gibt einen Überblick über wichtige textuelle und institutionelle Ressourcen der Phänomenologie. Aufgrund der überaus großen Zahl an Publikationsorganen, wissenschaftlichen Gesellschaften und Forschungseinrichtungen weltweit kann hierbei keine umfassende Darstellung angestrebt, sondern in jeder Kategorie nur eine kleine Auswahl gegeben werden.
1. Chroniken Schuhmann, Karl (1977) Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, Den Haag. Spiegelberg, Herbert (1960) The Phenomenological Movement. A Historical Introduction, Den Haag.
2. Einführungen Bernet, Rudolf, Iso Kern und Eduard Marbach (1996) Edmund Husserl – Darstellung seines Denkens, Hamburg. Fellmann, Ferdinand (2015) Phänomenologie zur Einführung, 3., vollständig überarb. Aufl., Hamburg. Gallagher, Shaun (2016) Phenomenology, Basingstoke. Gallagher, Shaun, und Dan Zahavi (2007) The Phenomenological Mind. An Introduction to Philosophy of Mind and Cognitive Science, London (2. Aufl. 2012, 3. Aufl. 2020). Hopp, Walter (2020) Phenomenology. A Contemporary Introduction, London. Ingarden, Roman (1992) Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls, Tübingen. Lewis, Michael, und Tanja Staehler (2010) Phenomenology. An Introduction, New York. Marx, Werner (1987) Die Phänomenologie Edmund Husserls. Eine Einführung, München. Moran, Dermot (2000) Introduction to Phenomenology, London. Römpp, Georg (2005) Husserls Phänomenologie. Eine Einführung, Wiesbaden. Schnell, Alexander (2019) Was ist Phänomenologie?, Frankfurt a. M. Sokolowski, Robert (2000) Introduction to Phenomenology, Cambridge. Waldenfels, Bernhard (1992) Einführung in die Phänomenologie, München. Wehrle, Maren (2002) Phänomenologie. Eine Einführung, Berlin. Zahavi, Dan (2007) Phänomenologie für Einsteiger, Paderborn. – (2009) Husserls Phänomenologie, Tübingen.
3. Lexika und Handbücher De Santis, Daniele, Burt Hopkins und Claudio Majolino (Hg.) (2020) The Routledge Handbook of Phenomenology and Phenomenological Philosophy, London. Gallagher, Shaun, und Daniel Schmicking (Hg.) (2009) Handbook of Phenomenology and Cognitive Science, Dordrecht. Gander, Hans-Helmuth (Hg.) (2009) Husserl-Lexikon, Darmstadt.
I. Hilfsmittel und Ressourcen
475
Luft, Sebastian, und Søren Overgaard (Hg.) (2013) The Routledge Companion to Phenomeno logy, London. Luft, Sebastian, und Maren Wehrle (Hg.) (2017) Husserl Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart. Moran, Dermot, und Joseph Cohen (2012) The Husserl Dictionary, New York. Thomä, Dieter (Hg.) (2013) Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart. Vetter, Helmuth (Hg.) (2004) Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, Hamburg. Zahavi, Dan (Hg.) (2012) The Oxford Handbook of Contemporary Phenomenology, Oxford. – (Hg.) (2018) The Oxford Handbook of the History of Phenomenology, Oxford.
4. Zeitschriften Nach aktuellem Stand werden über 100 Fachzeitschriften verzeichnet, die im Titel einen Bezug zur Phänomenologie aufweisen. Im Folgenden seien nur einige wenige aufgelistet: Alter. Revue de Phénoménologie, hg. von Etienne Bimbenet, Philippe Cabestan, Natalie Depraz, Julien Farges, Jean-Claude Gens, Vincent Houillon, Laurent Perreau, Camille Riquier, Pierre Rodrigo, François-David Sebbah, Claudia Serban und Grégori Jean (revue-alter.org). Analecta Husserliana. The Yearbook of Phenomenological Research, hg. von William Smith, Jadwiga Smith und Daniela Verducci (Springer). Bulletin d’Analyse Phénoménologique, hg. von Arnaud Dewalque und Denis Seron (Centre de recherches phénoménologiques, Université de Liège). Chiasmi International. Trilingual studies concerning the thought of Merleau-Ponty, hg. von Mauro Carbone, Galen Johnson, Federico Leoni, Ted Toadvine (Mimesis – Vrin – Penn State). Continental Philosophy Review, hg. von Anthony J. Steinbock (Springer). Études Ricœuriennes, hg. von Eileen Brennan und Jean-Luc Amalric (University Library System Pittsburgh). Heidegger-Jahrbuch, hg. von Alfred Denker und Holger Zaborowski (Herder). Heidegger Studies, hg. von Parvis Emad, Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Paola-Ludovika Coriando, Frank Schalow, Pascal David und Ingeborg Schüßler (Duncker & Humblot). Husserl Studies, hg. von Steven Crowell, Sonja Rinofner-Kreidl, Walter Hopp und Hanne Jacobs (Springer). Journal Phänomenologie, hg. von János Békési, Petra Gehring, Andreas Großmann, Christian Grüny, Ulrike Kadi, Ralf Linvers, Sebastian Luft, Leif Pullich, Marc Rölli, Helge Schalk, Martin Schnell, Silvia Stoller und Gerhard Unterthurner (Universität Wien). Journal of Phenomenological Psychology, hg. von James Morley (Brill). Levinas Studies, hg. von Robert Bernasconi (Philosophy Documentation Center). Meta. Research in Hermeneutics, Phenomenology, and Practical Philosophy, hg. von Alexandru Ioan (Cuza University Press). Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy, hg. von Andrea Altobrando und Alice Pugliese (sdvig press). The New Yearbook for Phenomenology and Phenomenological Philosophy, hg. von Burt Hopkins und Steven Crowell (Routledge). Phänomenologische Forschungen, hg. von Thiemo Breyer, Julia Jansen und Inga Römer (Felix Meiner).
476
E. Apparat
Phainomenon. Journal of Phenomenological Philosophy, hg. von Pedro Alves, Emanuele Mariani und Ricardo Mendoza-Canales (Public Knowledge Project). Phenomenological Reviews, hg. von Iulian Apostolescu und Anthony J. Steinbock (sdvig press). Phenomenology and the Cognitive Sciences, hg. von Shaun Gallagher und Dan Zahavi (Springer). Phenomenology and Mind, hg. von Roberta De Monticelli (Rosenberg & Sellier). Research in Phenomenology, hg. von John Sallis und James Risser (Brill). Sartre Studies International, hg. von John Gillespie und Katherine Morris (Berghahn). Schutzian Research. A Yearbook of Worldly Phenomenology and Qualitative Social Science, hg. von Michael Barber (Zeta Books). Studia Phaenomenologica, hg. von Cristian Ciocan (Zeta Books).
5. Buchreihen Contributions to Phenomenology, hg. von Nicolas de Warren und Ted Toadvine (Springer). Orbis Phaenomenologicus, hg. von Kah Kyung Cho, Yoshihiro Nitta und Hans Rainer Sepp (Königshausen und Neumann). Phaenomenologica, hg. von Julia Jansen und Stefano Micali (Springer). Phänomenologische Untersuchungen, hg. von Thomas Bedorf (Wilhelm Fink). Routledge Research in Phenomenology, hg. von Søren Overgaard, Komarine Romdenh-Romluc und David Cerbone (Routledge). Schriften zur Phänomenologie und Anthropologie, hg. von Thiemo Breyer (Wissenschaftliche Buchgesellschaft). Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Anthropologie, Psychiatrie und Psychotherapie, hg. von Thomas Fuchs, Thiemo Breyer, Stefano Micali und Boris Wandruszka (Karl Alber). Studien zur Phänomenologie und praktischen Philosophie, hg. von Christian Bermes, Hans-Helmuth Gander, Lore Hühn und Günter Zöller (Ergon). Studies in Contemporary Phenomenology, hg. von Peter Reynaert, Gert-Jan van der Heiden und Chris Bremmers (Brill). Studies in Phenomenology and Existential Philosophy, hg. von Anthony Steinbock (Northwestern University Press). Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, hg. von Wolfgang Eßbach und Bernhard Waldenfels (Wilhelm Fink) – abgeschlossen.
6. Forschungsstellen und Archive Husserl-Archive: Neben dem historischen Hauptarchiv an der Katholieke Universiteit Leuven (Belgien) gibt es Zweigstellen an den Universitäten Köln, Freiburg, an der ENS Paris und an der New School for Social Research in New York, an denen Transkriptionen der Originalmanuskripte einsehbar sind. Eugen-Fink-Archiv (Mainz) Marc-Richir-Archiv (Wuppertal) Bernhard-Waldenfels-Archiv (Freiburg) Alfred-Schütz-Gedächtnis-Archiv (Konstanz) Michel-Henry-Archiv (Louvain-la-Neuve)
II. Ausgaben phänomenologischer Hauptwerke
477
Edith-Stein-Archiv (Köln) Center for Advanced Research in Phenomenology (Memphis) Center for Subjectivity Research (Kopenhagen) World Phenomenology Institute (Bridgewater) Centro Mexicano de Investigaciones Fenomenologicas (Mexico City)
7. Online-Ressourcen Diccionario Husserl (Spanisch) digitalHusserl.eu et al. – ein Blog für phänomenologische Philosophie Le Fonds Ricœur Newsletter of Phenomenology The Husserl Page The Open Commons of Phenomenology
8. Gesellschaften Central and Eastern European Society for Phenomenology Circulo Latinoamericano de Fenomenologia (CLAFEN) Deutsche Gesellschaft für phänomenologische Anthropologie, Psychiatrie und Psychotherapie (DGAP) Deutsche Gesellschaft für phänomenologische Forschung (DGPF) Martin-Heidegger-Gesellschaft Max Scheler Gesellschaft Nordic Society for Phenomenology (NoSP) North American Society for Early Phenomenology (NASEP) Organization of Phenomenological Organizations (OPO) Society for Phenomenology and Existential Phenomenology (SPEP) The Husserl Circle The International Merleau-Ponty Circle
II. Ausgaben phänomenologischer Hauptwerke Werkausgaben auf Deutsch Eugen Fink (1905–1975) Gesamtausgabe (Herder) I. Phänomenologie und Philosophie 1 2
Nähe und Distanz. Studien zur Phänomenologie Textentwürfe zur Phänomenologie
478 3 4
E. Apparat
Phänomenologische Werkstatt. Finks Mitarbeit bei Edmund Husserl (4 Teilbände) Vom Wesen der Philosophie
II. Ontologie – Kosmologie – Anthropologie 5 6 7 8 9 10
Sein und Endlichkeit (2 Teilbände) Sein – Wahrheit – Welt Spiel als Weltsymbol Grundphänomene des menschlichen Daseins Mode. Ein verführerisches Spiel Epiloge zur Dichtung
III. Philosophische Ideengeschichte 11 12 13 14 15
Grundfragen der antiken Philosophie Descartes – Leibniz – Kant Kant: Kritik der reinen Vernunft (3 Teilbände) Hegel Nietzsche
IV. Sozialphilosophie und Pädagogik 16 17 18 19 20
Existenz und Co-Existenz Gesellschaft – Staat – Erziehung (2 Teilbände) Philosophie der Erziehung (3 Teilbände) Metaphysik der Erziehung. Im Weltverständnis von Platon und Aristoteles Geschichte der Pädagogik der Neuzeit (2 Teilbände)
Martin Heidegger (1889–1976) Gesamtausgabe (Vittorio Klostermann) I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976 1 2 3 4 5 6/1 6/2 7 8 9 10 11 12 13
Frühe Schriften (1912–1916) Sein und Zeit (1927) Kant und das Problem der Metaphysik (1929) Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1936–1968) Holzwege (1935–1946) Nietzsche I (1936–1939) Nietzsche II (1939–1946) Vorträge und Aufsätze (1936–1953) Was heißt Denken? (1951–1952) Wegmarken (1919–1961) Der Satz vom Grund (1955–1956) Identität und Differenz (1955–1957) Unterwegs zur Sprache (1950–1959) Aus der Erfahrung des Denkens (1910–1976)
II. Ausgaben phänomenologischer Hauptwerke
14 15 16
479
Zur Sache des Denkens (1962–1964) Seminare (1951–1973) Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (1910–1976)
II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944 Marburger Vorlesungen 17 Einführung in die phänomenologische Forschung (Wintersemester 1923/24) 18 Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (Sommersemester 1924) 19 Platon: Sophistes (Wintersemester 1924/25) 20 Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Sommersemester 1925) 21 Logik. Die Frage nach der Wahrheit (Wintersemester 1925/26) 22 Grundbegriffe der antiken Philosophie (Sommersemester 1926) 23 Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant (Wintersemester 1926/27) 24 Die Grundprobleme der Phänomenologie (Sommersemester 1927) 25 Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (Wintersemester 1927/28) 26 Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (Sommersemester 1928) Freiburger Vorlesungen 1928–1944 27 Einleitung in die Philosophie (Wintersemester 1928/29) 28 Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart (Sommersemester 1929). Im Anhang: Nachschrift »Einführung in das akademische Studium« (Sommersemester 1929) 29/30 Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (Wintersemester 1929/30) 31 Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie (Sommersemester 1930) 32 Hegels Phänomenologie des Geistes (Wintersemester 1930/31) 33 Aristoteles, Metaphysik Θ 1–3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft (Sommersemester 1931) 34 Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet (Wintersemester 1931/32) 35 Der Anfang der abendländischen Philosophie (Anaximander und Parmenides) (Sommersemester 1932) 36/37 Sein und Wahrheit 1. Die Grundfrage der Philosophie (Sommersemester 1933) 2. Vom Wesen der Wahrheit (Wintersemester 1933/34) 38 Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache (Sommersemester 1934) 39 Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« (Wintersemester 1934/35) 40 Einführung in die Metaphysik (Sommersemester 1935) 41 Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen (Wintersemester 1935/36) 42 Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809) (Sommersemester 1936) 43 Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst (Wintersemester 1936/37) 44 Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken: Die ewige Wiederkehr des Gleichen (Sommersemester 1937)
480
E. Apparat
45
Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik« (Wintersemester 1937/38) 46 Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung (Wintersemester 1938/39) 47 Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis (Sommersemester 1939) 48 Nietzsche: Der europäische Nihilismus (II. Trimester 1940) 49 Die Metaphysik des deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809) 50 Nietzsches Metaphysik (für Wintersemester 1941/42 angekündigt, aber nicht vorgetragen). Einleitung in die Philosophie – Denken und Dichten (Wintersemester 1944/45) 51 Grundbegriffe (Sommersemester 1941) 52 Hölderlins Hymne »Andenken« (Wintersemester 1941/42) 53 Hölderlins Hymne »Der Ister« (Sommersemester 1942) 54 Parmenides (Wintersemester 1942/43) 55 Heraklit 1. Der Anfang des abendländischen Denkens (Sommersemester 1943) 2. Logik. Heraklits Lehre vom Logos (Sommersemester 1944) Frühe Freiburger Vorlesungen 1919–1923 56/57 Zur Bestimmung der Philosophie 1. Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem (Kriegsnotsemester 1919) 2. Phänomenologie und transzendentale Wertphilosophie (Sommersemester 1919) 3. Anhang: Über das Wesen der Universität und des akademischen Studiums (Sommersemester 1919) 58 Grundprobleme der Phänomenologie (Wintersemester 1919/20) 59 Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung (Sommersemester 1920) 60 Phänomenologie des religiösen Lebens 1. Einleitung in die Phänomenologie der Religion (Wintersemester 1920/21) 2. Augustinus und der Neuplatonismus (Sommersemester 1921) 3. Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik (Ausarbeitung und Einleitung zu einer nicht gehaltenen Vorlesung 1918/19) 61 Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung (Wintersemester 1921/22) 62 Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zu Ontologie und Logik (Sommersemester 1922). Im Anhang: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles 63 Ontologie. Hermeneutik der Faktizität (Sommersemester 1923) III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen. Vorträge – Gedachtes 64 65 66 67
Der Begriff der Zeit (1924) Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–1938) Besinnung (1938/39). Im Anhang: Mein bisheriger Weg (1937/38) Metaphysik und Nihilismus 1. Die Überwindung der Metaphysik (1938/39)
II. Ausgaben phänomenologischer Hauptwerke
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2. Das Wesen des Nihilismus (1946–1948) 68 Hegel 1. Die Negativität (1938/39) 2. Erläuterung der »Einleitung« zu Hegels »Phänomenologie des Geistes« (1942) 69 Die Geschichte des Seyns 1. Die Geschichte des Seyns 2. κοινόν. Aus der Geschichte des Seyns (1939) 70 Über den Anfang (1941) 71 Das Ereignis (1941/42) 72 Die Stege des Anfangs (1944) 73 Zum Ereignis-Denken 74 Zum Wesen der Sprache und Zur Frage nach der Kunst 75 Zu Hölderlin – Griechenlandreisen 76 Leitgedanken zur Entstehung der Metaphysik, der neuzeitlichen Wissenschaft und der modernen Technik (1935–55) 77 Feldweg-Gespräche (1944/45) 78 Der Spruch des Anaximander (1946) 79 Bremer und Freiburger Vorträge 1. Einblick in das was ist. Bremer Vorträge 1949 2. Grundsätze des Denkens. Freiburger Vorträge 1957 80 Vorträge 81 Gedachtes IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102
Zu eigenen Veröffentlichungen Seminare: Platon – Aristoteles – Augustinus (1930–52) Seminare: Leibniz – Kant Seminar: Vom Wesen der Sprache. Die Metaphysik der Sprache und die Wesung des Wortes. Zu Herders Abhandlung »Über den Ursprung der Sprache« (1939) Seminare: Hegel – Schelling (1927–57) Nietzsche: Seminare 1937 und 1944 Seminare (Übungen) 1937/38 und 1941/42 1. Die metaphysischen Grundstellungen des abendländischen Denkens 2. Einübung in das philosophische Denken Zollikoner Seminare Zu Ernst Jünger (1934–54) Ergänzungen und Denksplitter Ausgewählte Briefe I Ausgewählte Briefe II Überlegungen II–VI Überlegungen VII–XI Überlegungen XII–XV Anmerkungen II–V Anmerkungen VI–IX Vier Hefte I: Der Feldweg Vier Hefte II: Durch Ereignis zu Ding und Welt Vigiliae I, II Winke I, II Vorläufiges I–IV
482
E. Apparat
Edmund Husserl (1859–1938) Husserliana (Hua) (Martinus Nijhoff, Springer) I II III IV V VI VII VIII IX X XI XII XIII XIV XV XVI XVII XVIII XIX XX/1 XX/2 XXI XXII XXIII XXIV XXV XXVI XXVII XXVIII
Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. 1. Halbband: Text der 1.–3. Auflage; 2. Halbband: Ergänzende Texte (1912–1929) Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925 Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917) Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten (1918–1926) Philosophie der Arithmetik. Mit ergänzenden Texten (1890–1901) Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905–1920 Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921–1928 Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935 Ding und Raum. Vorlesungen 1907 Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis Logische Untersuchungen. Ergänzungsband. Erster Teil. Entwürfe zur Umarbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logischen Untersuchungen (Sommer 1913) Logische Untersuchungen. Ergänzungsband. Zweiter Teil. Texte für die Neufassung der VI. Untersuchung: Zur Phänomenologie des Ausdrucks und der Erkenntnis (1893/94–1921) Studien zur Arithmetik und Geometrie. Texte aus dem Nachlass (1886–1901) Aufsätze und Rezensionen (1890–1910) Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlass (1898–1925) Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vorlesungen 1906/07 Aufsätze und Vorträge (1911–1921) Vorlesungen über Bedeutungslehre. Sommersemester 1908 Aufsätze und Vorträge (1922–1937) Vorlesungen über Ethik und Wertlehre (1908–1914)
II. Ausgaben phänomenologischer Hauptwerke
483
XXIX
Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte aus dem Nachlass 1934–1937 XXX Logik und allgemeine Wissenschaftstheorie. Vorlesungen Wintersemester 1917/18. Mit ergänzenden Texten aus der ersten Fassung von 1910/11 XXXI Aktive Synthesen. Aus der Vorlesung »Transzendentale Logik« 1920/21. Ergänzungsband zu »Analysen zur passiven Synthesis« XXXII Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927 XXXIII Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein (1917/18) XXXIV Zur phänomenologischen Reduktion. Texte aus dem Nachlass (1926–1935) XXXV Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen 1922/23 XXXVI Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908–1921) XXXVII Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924 XXXVIII Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Texte aus dem Nachlass (1893–1912) XXXIX Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916–1937) XL Untersuchungen zur Urteilstheorie. Texte aus dem Nachlass (1893–1918) XLI Zur Lehre vom Wesen und zur Methode der eidetischen Variation. Texte aus dem Nachlass (1891–1935) XLII Grenzprobleme der Phänomenologie. Analysen des Unbewusstseins und der Instinkte. Metaphysik. Späte Texte. Texte aus dem Nachlass (1908–1937) XLIII/1 Verstand und Gegenstand. Studien zur Struktur des Bewusstseins, Bd. 1 (Texte aus dem Nachlass) XLIII/2 Gefühl und Wert. Studien zur Struktur des Bewusstseins, Bd. 2 (Texte aus dem Nachlass) XLIII/3 Wille und Handlung. Studien zur Struktur des Bewusstseins, Bd. 3 (Texte aus dem Nachlass) XLIII/4 Textkritischer Anhang. Studien zur Struktur des Bewusstseins, Bd. 4 XLV Erfahrung und Urteil. Kritische Ausgabe in der Gesamtausgabe Husserliana Materialien (Hua Mat) I II III IV V VI VII VIII IX X
Logik. Vorlesung 1896 Logik. Vorlesung 1902/03 Allgemeine Erkenntnistheorie. Vorlesung 1902/03 Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1919 Urteilstheorie. Vorlesung 1905 Alte und neue Logik. Vorlesung 1908/09 Einführung in die Phänomenologie der Erkenntnis. Vorlesung 1909 Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934). Die C-Manuskripte Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen 1916–1920 Einleitung in die Phänomenologie. Vorlesung 1912
Dokumente (Hua Dok) I II/1
Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls Fink, Eugen: VI. Cartesianische Meditation. Teil I: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre
484 II/2 III IV V
E. Apparat
Fink, Eugen: VI. Cartesianische Meditation. Teil II: Ergänzungsband Edmund Husserls Briefwechsel. In 10 Teilbänden Spileers, Steven: Edmund Husserl Bibliography Bell, Winthrop P.: Eine kritische Untersuchung der Erkenntnistheorie Josiah Royces. Mit Kommentaren und Änderungsvorschlägen von Edmund Husserl. Texte aus dem Nachlass von Winthrop P. Bell (1914/22)
Jean-Paul Sartre (1905–1980) Gesammelte Werke (Rowohlt) Philosophische Schriften 1 2 3 4
Die Transzendenz des Ego Das Imaginäre Das Sein und das Nichts Der Existenzialismus ist ein Humanismus
Schriften zur Literatur 1 2 3 4 5 6 7 8
Der Mensch und die Dinge. Baudelaire Was ist Literatur? Saint Genet, Komödiant und Märtyrer Schwarze und weiße Literatur. Mallarmés Engagement. Was kann Literatur? Der Idiot der Familie I Der Idiot der Familie II Der Idiot der Familie III Der Idiot der Familie IV
Autobiografische Schriften 1 2 3 4 5 6
Die Wörter Sartre über Sartre. Sartre – Ein Film Briefe an Simone de Beauvoir 1926–1939 Briefe an Simone de Beauvoir 1940–1963 Tagebücher November 1939 – März 1940 Bilder eines Lebens
Max Scheler (1874–1928) Gesammelte Werke (Bouvier) 1 2 3 4 5
Frühe Schriften Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze Politisch-pädagogische Schriften Vom Ewigen im Menschen
II. Ausgaben phänomenologischer Hauptwerke
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
485
Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre Wesen und Formen der Sympathie – Die deutsche Philosophie der Gegenwart Die Wissensformen und die Gesellschaft Späte Schriften Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre Schriften aus dem Nachlass, Bd. 2: Erkenntnislehre und Metaphysik Schriften aus dem Nachlass, Bd. 3: Philosophische Anthropologie Schriften aus dem Nachlass, Bd. 4: Philosophie und Geschichte Schriften aus dem Nachlass, Bd. 5: Varia I Schriften aus dem Nachlass, Bd. 6: Varia II
Alfred Schütz (1899–1959) Werkausgabe (Herbert von Halem Verlag) 1 2 3.1 3.2 4 5.1 5.2 6.1 6.2 7 8 9
Sinn und Zeit. Frühe Wiener Arbeiten und Entwürfe Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie Philosophisch-phänomenologische Schriften, Bd. 1: Zur Kritik der Phänomenologie Edmund Husserls Philosophisch-phänomenologische Schriften, Bd. 2: Studien zu Scheler, James und Sartre Zur Methodologie der Sozialwissenschaften Theorie der Lebenswelt, Bd. 1: Die pragmatische Schichtung der Lebenswelt Theorie der Lebenswelt, Bd. 2: Die kommunikative Ordnung der Lebenswelt Relevanz und Handeln, Bd. 1: Zur Phänomenologie des Alltagswissens Relevanz und Handeln, Bd. 2: Gesellschaftliches Wissen und politisches Handeln Schriften zur Musik Schriften zur Literatur Strukturen der Lebenswelt
Edith Stein (1891–1942) Gesamtausgabe (Herder) A. Biografische Schriften 1 Aus dem Leben einer jüdischen Familie 2 Selbstbildnis in Briefen I 3 Selbstbildnis in Briefen II 4 Selbstbildnis in Briefen III B. Philosophische Schriften Abteilung 1: Frühe Phänomenologie 5 Zum Problem der Einfühlung 6 Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften
486 7 8
E. Apparat
Eine Untersuchung über den Staat Einführung in die Philosophie
Abteilung 2: Phänomenologie und Ontologie 9 »Freiheit und Gnade« und weitere Beiträge zu Phänomenologie und Ontologie 10 Potenz und Akt 11/12 Endliches und ewiges Sein C. Schriften zur Anthropologie und Pädagogik 13 14 15 16
Die Frau Der Aufbau der menschlichen Person Was ist der Mensch? Bildung und Entfaltung der Individualität
D. Schriften zur Mystik und Spiritualität Abteilung 1: Phänomenologie und Mystik 17 Wege der Gotteserkenntnis 18 Kreuzeswissenschaft Abteilung 2: Spiritualität und Meditation 19 Geistliche Texte I 20 Geistliche Texte II E. Übersetzungen 21 22 23 24 25 26 27 28
Übersetzung von John Henry Newman, Die Idee der Universität Übersetzung von John Henry Newman, Briefe und Texte zur ersten Lebenshälfte (1801–1846) Übersetzung: Des Hl. Thomas von Aquino Untersuchungen über die Wahrheit – Quaestiones disputatae de veritate 1 Übersetzung: Des Hl. Thomas von Aquino Untersuchungen über die Wahrheit – Quaestiones disputatae de veritate 2 Übersetzung von Alexandre Koyré, Descartes und die Scholastik Übersetzung: Thomas von Aquin, Über das Seiende und das Wesen – De ente et essentia (mit den Roland-Gosselin-Exzerpten) Miscellanea thomistica Neu aufgefundene Texte und Übersetzungen VII
Werkausgaben in anderen Sprachen Emmanuel Levinas (1906–1995) Œuvres Complètes (Éditions Grasset & Fasquelle) 1 2
Carnets de captivité et autres inédits Parole et silence et autres conférences inédites au Collège philosophique
III. Literaturverzeichnis
3
487
Eros, littérature et philosophie. Essais romanesques, notes philosophiques sur le thème d’éros
Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) Œuvres (Gallimard, 2010) Einzelausgabe in einem Band mit folgenden Texten: – Humanisme et terreur – Les aventures de la dialectique – Phénoménologie de la perception – La prose du monde – L’œil et l’esprit – Le visible et l’invisible – Sens et non-sens (Auszüge) – Signes (Auszüge) Die vollständige Edition der Vorlesungen und Nachlass-Manuskripte ist noch im Gange (Verlage Verdier, MetisPresses und Mimesis).
III. Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. (1956) Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1971 [= Adorno 1956/1971]. Affifi, Ramsey (2015) Generativity in Biology, Phenomenology and the Cognitive Sciences 14/1, 149–162 [= Affifi 2015]. Aguirre, Antonio (1970) Genetische Phänomenologie und Reduktion, Den Haag [= Aguirre 1970]. Ahmed, Sara (2000) Strange Encounters, New York [= Ahmed 2000]. – (2006) Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others, Durham [= Ahmed 2006]. – (2007) A Phenomenology of Whiteness, Feminist Theory 8/2, 149–168 [= Ahmed 2007]. – (2014) The Cultural Politics of Emotion, Edinburgh [= Ahmed 2014]. – (2019) Institutional Habits. About Bodies and Orientations that Don’t Fit, in: Merleau-Ponty and Contemporary Philosophy, hg. von Emmanuel Alloa, Frank Chouraqui und Rajiv Kaushik, Albany, 197–217 [= Ahmed 2019]. Al-Saji, Alia (2010) Bodies and Sensings, Continental Philosophy Review 43, 13–37 [= Al-Saji 2010a]. – (2010) The Racialization of Muslim Veils. A Philosophical Analysis, Philosophy & Social Criticism 36/8, 875–902 [= Al-Saji 2010b]. – (2014) A Phenomenology of Hesitation, in: Living Alterities, hg. von Emily Lee, New York, 133–173 [= Al-Saji 2014]. Albertazzi, Liliana (Hg.) (2013) Handbook of Experimental Phenomenology, Hoboken [= Albertazzi 2013]. – (2018) Naturalizing Phenomenology, Frontiers in Psychology, DOI 10.3389/fpsyg.2018.01933 [= Albertazzi 2018].
488
E. Apparat
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E. Apparat
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Emmanuel Alloa ist Professor für Ästhetik und Kunstphilosophie am Philosophischen Departement der Universität Freiburg (Schweiz). Thomas Bedorf ist Professor für Philosophie an der FernUniversität in Hagen. Jens Bonnemann ist Privatdozent am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Andris Breitling ist Professor für Ethik, Sozialphilosophie und Kulturtheorie an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach. Thiemo Breyer ist Professor für Phänomenologie und Anthropologie sowie Direktor des Husserl-Archivs an der Universität zu Köln. Jagna Brudzińska ist Professorin für Philosophie an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Emanuele Caminada ist Professor für Phänomenologie an der Katholieke Universiteit Leuven. Marco Cavallaro ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau. Nicolas de Warren ist Professor für Philosophie und Jüdische Studien an der Pennsylvania State University. Christopher Erhard ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophie I an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Christian Ferencz-Flatz ist Professor für Medienphilosophie an der Nationalen Universität für Theater und Film in Bukarest und Forscher. Thomas Fuchs ist Karl-Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Peter Gaitsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Universität Wien. Regula Giuliani war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Husserl-Archiv und Bernhard-Waldenfels-Archiv der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Christian Grüny ist Professor für Ästhetik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Hans Peter Hahn ist Professor für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Julia Jansen ist Professorin für Philosophie und Direktorin des Husserl-Arvhivs an der Katholieke Universiteit Leuven. Tobias Keiling ist Professor für Philosophie an der University of Warwick (GB). Iris Laner ist Professorin für Bildende Kunst/Bildnerische Erziehung an der Universität Mozarteum Salzburg. Karl-Heinz Lembeck ist emeritierter Professor für Philosophie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Paul Livingston ist Professor für Philosophie an der University of New Mexico. Dieter Lohmar ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität zu Köln. Oliver Müller ist Professor für Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Søren Overgaard ist Professor für Philosophie an der Universität Kopenhagen. Inga Römer ist Professorin für Philosophie an der Université Grenoble Alpes. Matthias Schloßberger ist Professor für Sozialphilosophie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Hans Bernhard Schmid ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Christina Schües ist Professorin für Philosophie am Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck.
556
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Eva Schürmann ist Professorin für Philosophie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Andrea Staiti ist Professor für Moralphilosophie an der Universität Parma. Ovidiu Stanciu ist Assistant Professor am Institut für Philosophie der Universidad Diego Portales in Santiago de Chile. Samuel Thoma ist Assistenzarzt für Psychiatrie an der Immanuel-Klinik Rüdersdorf, Universitätsklinik der Medizinischen Hochschule Brandenburg. Dieter Thomä ist Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen. Gerhard Thonhauser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt. Maren Wehrle ist Professorin für Philosophie an der Erasmus-Universität Rotterdam.
Personenregister Adorno, Theodor W. 15, 359 Ahmed, Sarah 313, 389, 392 Ales Bello, Angela 353 f. Anceschi, Luciano 60 Anders, Günther (= Stern, Günther) 29, 38, 45 f., 424, 447 Anscombe, Gertrude E. M. 130, 157 Ansermets, Ernest 448 Aristoteles 32, 40, 398, 400, 478–481 Aron, Raymond 58 Astrada, Carlos 64 Augustinus von Hippo 398, 400, 480 f. Austin, John L. 135 f., 281, 407 Avenarius, Richard 20, 22 Ayer, Alfred Jules 47, 129 f. Bachelard, Gaston 425 f. Bachmann, Ingeborg 405 Bachtin, Michail 106 Badiou, Alain 384, 386 Banfi, Antonio 59 Barbaras, Renaud 119 f., 124, 128, 152 Barison, Ferdinando 60 Barker, Jennifer 452 Basaglia, Franco 60, 322 Beaufret, Jean 80 Beauvoir, Simone de 16, 44, 57, 162, 308, 313, 394–398, 408 ff., 412, 484 Becker, Oskar 29, 31, 39 f., 65, 260 Bekker, Paul 448 Bell, Winthrop 27, 62, 484 Benjamin, Walter 47, 446 Benoist, Jocelyn 75, 171 Benson, Bruce Ellis 448 Berger, Gaston 58 Berger, Peter 251, 363 ff. Bernasconi, Robert 392, 475 Bernet, Rudolf 251, 474 Bhabha, Homi K. 103 Biemel, Walter 56 Binswanger, Ludwig 321, 325, 342, 443 Blankenburg, Wolfgang 317, 325 f. Bloch, Maurice 347 Blumenberg, Hans 2, 40, 333, 341 f., 415, 418–421 Boas, Franz 345
Bobbio, Norberto 59 Boehm, Rudolf 56 Bolzano, Bernard 21 Boole, George 258 Brecht, Bertold 46 Brentano, Franz 18 f., 21, 43, 131, 153, 159, 177, 187, 224 f., 255, 259, 266, 270, 274 Broad, Charlie Dunbar 134 Brock, Werner 39 Bröcker, Walter 40 Brudzińska, Jagna 251 Buber, Martin 106 Bühler, Karl 106, 266, 270 Burge, Tyler 281 Butler, Judith 103, 312, 394, 397, 403, 406–410 Buytendijk, Frederik 59, 318, 462 f. Cabral de Moncada, Luís 64 Cairns, Dorion 6, 29, 46, 62 Calvi, Lorenzo 60 Camus, Albert 44 f., 296 Candau, Joel 349 Cantor, Georg 254 Caputo, John 116 Cargnello, Danilo 60 Carnap, Rudolf 129-132, 134, 287, 357 Casey, Edward 447 Cassirer, Ernst 30, 35, 132, 266, 415, 418–421 Castoriadis, Cornelius 379 f., 383 ff. Cavaillès, Jean 58 Cavarero, Adriana 401, 403–407, 410 Cavell, Stanley 129 Cézanne, Paul 191, 440, 444 f. Chalmers, David 459 Chillida, Eduardo 447 Cho, Kah Kyung 66 Chrétien, Jean-Louis 111 f. Cixous, Hélène 103 Clark, Andy 459 Clauß, Ludwig Ferdinand 29, 39 f. Coenen, Herman 347 Colette, Sidonie-Gabrielle 394 Conrad-Martius, Hedwig 24, 26 f., 29, 69, 71 f., 74
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Personenregister
Conrad, Theodor 24–27 Conrad, Waldemar 447 Cossios, Carlos 64, 305 Critchley, Simon 312 Csordas, Thomas 346 Daubert, Johannes 24 ff., 55, 67, 73, 273 Davidson, Donald 129 f., 136 De Jaegher, Hanne 460 Delbos, Victor 58 Dennett, Daniel 5, 279, 423 Derrida, Jacques 92–103, 117 f., 129, 162, 269 f., 272 f., 277 f., 289, 381 f., 384, 403 f., 407, 424, 435 Descartes, René 28 f., 37, 52, 203, 208, 220, 232 f., 280, 378, 478, 486 Di Paolo, Ezequiel 460 Didi-Huberman, Georges 445 f. Dilthey, Wilhelm 22 f., 85 ff., 90, 222, 224 ff., 250, 336 Dovey, Kim 464 Dreyfus, Hubert 137, 172, 281 ff., 367 f., 423, 456 f. Drury, Maurice 134 Dufrenne, Mikel 123, 433, 441 f., Dummett, Michael 129 f., 274, 292 Durkheim, Émile 348 Dussel, Enrique 64 Ehrenberg, Alain 325 Ehrenfels, Christian von 19 Einstein, Albert 45 Elias, Norbert 35 Erdmann, Johann Eduard 20 Eucken, Rudolf 23 Eucken, Walter 40 Evans-Pritchard, Edward E. 348 Fahrenbach, Helmuth 339 Fanon, Frantz 16, 44, 308, 313, 391 Farber, Marvin 6 f., 29, 62 Fellmann, Ferdinand 427 Feyerabend, Paul 129 Fichte, Johann Gottlieb 286, 479 Figal, Günter 93 f., 172 Fink, Eugen 7, 28, 37, 43, 56, 65, 89, 123 f., 126 ff., 150 f., 154, 190, 243, 338, 431 Flusser, Vilém 431 Føllesdal, Dagfinn 61, 137, 264, 278
Formaggio, Dino 60 Foucault, Michel 129, 174, 235, 240, 274, 288 f., 313, 315, 322, 341, 381 Fraleigh, Sondra 450 Frege, Gottlob 20, 61, 129 f., 136, 170, 257, 259, 264, 278 Freud, Sigmund 90 ff., 105, 319 ff., 323, 403, 445 Fried, Michael 446 Fuchs, Thomas 342, 469 Funke, Gerhard 56 Gadamer, Hans-Georg 29, 35, 40, 88 ff., 92 f., 102, 172, 203, 270 f., 273, 339, 418 Gallese, Vittorio 468 Gaos, José 44 f., 63 f. García Morente, Manuel 63 Garelli, Jacques 124 Garfinkel, Harold 363, 366 Gebsattel, Victor Emil von 321, 324 Geertz, Clifford 343 f., 348, 416 Gehlen, Arnold 82, 338 f. Geiger, Moritz 7, 23 ff., 38, 69–72, 74, 247 Gelb, Adhémar 195, 267 Gerhart, Walter (= Gurian, Waldemar) 38, 41 f. Gibson, Boyce 29 Gierke, Otto von 23 Glock, Hans-Johann 130, 133 Gödel, Kurt 260 Goldstein, Kurt 105, 110, 195, 267, 342 Gondek, Hans-Dieter 2 Gramsci, Antonio 60 Graumann, Carl Friedrich 203, 318, 453 Grice, Herbert Paul 130 f. Groethuysen, Bernard 58 Grondin, Jean 93 Groys, Boris 426 f. Grunsky, Hans 39 Günter, Andrea 406 Günther, Gotthard 424 Gurian, Waldemar (= Gerhart, Walter) 38, 41 f. Gurwitsch, Aron 7, 29, 38, 43–47, 54, 56, 63, 201, 203, 263 f., 366, 464 Hafkesbrink, Hanna 74 Hagemann-White, Carol 402 Haglund, Dick 61
Personenregister
Hahn, Jeon Sook 66 Hall, Stuart 103 Harman, Graham 351 Hartmann, Nicolai 40, 42, 54, 71, 239, 301 Hartsock, Nancy 388 Hastrup, Kirsten 348 Haugeland, John 368 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18, 36, 77, 89, 114, 286, 395 f., 407, 478 f., 481 Heidegger, Martin passim Held, Klaus 124 f. Henckmann, Wolfhart 335 Henry, Michel 7, 111 ff., 117 f., 171, 192, 322, 417 Heraklit 37, 480 Herder, Johann Gottfried 40 f. Héring, Jean 25 ff., 43, 55, 58, 235, 247 Hilbert, David 257 f., 264 Hildebrand, Dietrich von 25, 41, 63, 247, 298 Hintikka, Jaakko 61, 137, 278 Hiromatsu, Wataru 65 Hitler, Adolf 40 f., 46, 51 Hocking, William Ernest 6, 62 Hoffmeyer, Jesper 463 Hofmannsthal, Hugo von 10, 231, 435, 439 Holenstein, Elmar 271 Holl, Steven 447 Hopkins, Burt 257 Horkheimer, Max 42, 47 Howes, David 349 Hume, David 28, 433 Hurley, Susan 458 Husserl, Edmund passim Husserl, Gerhart 7, 374 Husserl, Malvine 43 Ichikawa, Hiroshi 65 Ihde, Don 423 Ilting, Karl-Heinz 337 Ingarden, Roman 25 ff., 29, 61, 73, 89, 167, 235, 433, 435 ff., 441, 447, 449, 451 Ingold, Tim 345 Irigaray, Luce 103, 129, 398, 403 f., 409 f. Iser, Wolfgang 89 f., 449 Jackson, Michael 344, 348, 350 f. Janicaud, Dominique 107, 111 ff.
559
Jaspers, Karl 33, 45, 78, 81 ff., 85, 316, 321, 398, 470 Jauß, Hans Robert 89 f., 449 Jonas, Hans 35, 461 ff. Judd, Donald 446 Kanisza, Gaetano 60 Kant, Immanuel 23, 28, 30, 36, 163, 177 f., 188, 208, 240, 283, 286, 337, 398, 423, 478 f., 481 Katz, David 318 Kaufmann, Felix 7, 260, 304 Kaufmann, Fritz 7, 29 Kelly, Sean 137 Kelsen, Hans 304 f., 315 Kierkegaard, Søren 76–79, 81, 83 ff., 114 f., 367, 394, 409 Kimura, Bin 65 Klee, Paul 443 Klein, Jakob 257 Knoblauch, Hubert 365 Köhler, Wolfgang 105 Kolnai, Aurel 29, 41, 71 Koyré, Alexandre 6, 25 ff., 29, 260 Kozel, Susan 451 Krämer, Sybille 427, 429 Kraus, Alfred 322 Krauss, Rosalind 446 Kripke, Saul 129 Kronecker, Leopold 254 Krüger, Hans-Peter 336 Kulenkampff, Caspar 322 Kunz, Hans 318 Kurth, Ernst 448 la Rochelle, Drieu 44 Laclau, Ernesto 103, 380 f., 384 Lacoue-Labarthe, Philippe 371, 385 Laing, Ronald D. 322 Lambert, Johann Heinrich 18 Landgrebe, Ludwig 28, 40, 43, 56, 76 Landmann, Michael 337 Landsberg, Paul Ludwig 38, 42, 337 Lange, Friedrich Albert 27 Langer, Susanne K. 450 Lask, Emil 27 Latour, Bruno 351 Lautman, Albert 58 Lefort, Claude 377 ff., 381, 383–386
560
Personenregister
Leibniz, Gottfried Wilhelm 50, 258, 378 f., 381 Leistle, Bernhard 346, 351 f. Lévi-Bruhl, Lucien 353 Levinas, Emmanuel 6, 11, 14, 26, 29, 31, 35, 43 f., 54, 56 ff., 62, 64, 69, 95 f., 105 ff., 109 ff., 113, 116 ff., 129, 136, 150 ff., 156, 162, 183 ff., 192, 194, 198, 204, 207, 234, 273 f., 277, 290 f., 302, 305, 309–313, 382, 394, 410 Lévi-Strauss, Claude 352 Lewin, Kurt 105 Linke, Paul Ferdinand 69 f. Linschoten, Johannes 318 Lippitz, Wilfried 344 Lipps, Hans 25, 27, 29, 40 Lipps, Theodor 20, 22 ff., 55, 204 ff., 358 Locke, John 28 Lotze, Hermann 20, 258 Löwith, Karl 29, 39 f., 306, 339, 367 ff. Lucht, Hans 351 Luckmann, Thomas 157, 251, 363–366 Luhmann, Niklas 354, 360 ff., 366, 427 Lukács, György 47 Lyotard, Jean-François 381, 444 f. Mach, Ernst 19 f. Machado Neto, Antônio Luís 64, 305 Machiavelli, Niccolò 398 Mahnke, Dietrich 40 Maldiney, Henry 433, 443 ff. Mally, Ernst 21 Malraux, André 268, 440 Mann, Thomas 450 Marbach, Eduard 143 Marcel, Gabriel 58 Marchart, Oliver 371 Marcuse, Herbert 29, 35, 42 Marder, Michael 463 Marías, Julían 63 Marion, Jean-Luc 59, 107, 111–114, 117 f., 162, 171, 245, 382 Martín Alcoff, Linda 392 Marty, Anton 21, 266, 270 Marx, Karl 92, 396, 403 Masaryk, Tomáš 43 Maturana, Humberto 465 Mauss, Marcel 106, 110, 345, 353, 429 Mays, Wolf 137
McDowell, John 129, 173, 177, 281 ff. McIntyre, Ronald 264 Meacham, Darian 461 Meillassoux, Quentin 75 f., 152, 291 ff. Meinecke, Friedrich 23 Meinong, Alexius 21, 131 Merleau-Ponty, Maurice 6, 9, 10 f., 15, 42 ff., 56 ff., 62, 77, 95 f., 106, 111, 120, 123, 129 f., 133, 137, 140, 142, 145, 151 f., 156, 162, 166 f., 179, 190 ff., 195 ff., 198, 201, 203 f., 206, 208, 210 f., 213, 223, 234, 239, 243, 245, 266–272, 274, 276 f., 281 f., 316–320, 322, 340, 343, 345, 347, 349 f., 357, 376, 378 ff., 382 f., 384 f., 387–397, 402, 404, 407–412, 414, 419, 423, 428 ff., 432, 439 ff., 444–447, 450–453, 456, 459, 463 f., 466 f., 469, 471 Mersch, Dieter 431 Mersmann, Hans 448 Messer, August 318 Metzger, Arnold 38 Meyer-Drawe, Käte 341 Mićić, Zagorka 29 Miki, Kiyoshi 65 Mill, John Stuart 20, 394 Millián-Puelles, Antonio 64 Minkowski, Eugène 321, 325, 342 Montero Moliner, Fernando 64 Montesquieu, Charles de Secondat 398 Moore, George Edward 29, 129 f., 134, 301 Mouffe, Chantal 103, 384, 386 Mounier, Emmanuel 42 Mulligan, Kevin 62, 75 Musil, Robert 296 Natorp, Paul 27, 150 Neurath, Otto 48, 130 Newell, Sasha 348 Ni, Liangkang 66 Nietzsche, Friedrich 36, 60, 92, 272, 395, 478–481 Nishida, Kitaro 65 Noë, Alva 459 Noël, Léon 58 Norberg-Schulz, Christian 447 Olafson, Frederick 367 Olsen, Bjørnar 348 Ortega y Gasset, José 6, 29, 44 f., 63 f.
Personenregister
Ortega, Mariana 392 Otaka, Tomoo 29 Paci, Enzo 44, 59 f. Pallasmaa, Juhani 447 Pareyson, Luigi 59 Parnas, Josef 322 Parsons, Talcott 363, 366 Patočka, Jan 29, 46 61, 120, 124 f., 151, 192, 417 Pels, Dick 347 Pfänder, Alexander 7, 22–26, 38, 55, 69, 71–75, 156, 178, 247, 273 Piana, Giovanni 60 Piette, Albert 350 f. Pink, Sarah 349 Pisa, Christine de 394 Planck, Max 45 Plas, Guillaume 336 Plessner, Helmuth 35, 38, 42, 69, 82, 179, 239, 332, 334, 336 f., 338 ff., 461 ff., 469 Plügge, Herbert 471 Pöggeler, Otto 123, 338 Poincaré, Henri 260 Portmann, Adolf 35 Pos, Hendrik 29, 42, 59, 266, 271 Poulain de la Barre, François 394 Povinelli, Elizabeth 349 Price, Huw 134 Proust, Marcel 120, 440, 450 Putnam, Hilary 129 f., 174, 281, 292 Quesada, Miro 64 Quine, Willard Van Orman 129 f., 135 f., 265, 287 Ramachandran, Vilayanur 467, 471 Rancière, Jacques 384, 386 Ranke, Leopold von 88 Ratcliffe, Matthew 467 Raulet, Gérard 336 Reale, Miguel 64 Recki, Birgit 419 Reinach, Adolf 7, 23–27, 55, 64, 69, 71, 73 ff., 130, 136, 204 f., 247, 304 Reiner, Hans 40, 178 Renfrew, Colin 348 Reyna, Wagner de 64 Rich, Adrienne 401
561
Richir, Marc 7, 59, 119 f., 190, 234, 270, 381 f. Rickert, Heinrich 23, 27, 416, 431 f. Ricœur, Paul 9 f., 35, 44, 58, 90 ff., 94, 117, 119, 136, 151 f., 172, 190, 221, 270–277, 306, 308 f., 320, 418, 449 f. Riehl, Alois 27 Ritter, Joachim 35 Rizzolatti, Giacomo 466 f. Rodriguez Huéscar, Antonio 63 Romano, Claude 75, 94, 233 Romeo, Rábade 64 Romero, Francisco 64 Rorty, Richard 93, 103, 129 Rota, Gian-Carlo 60 Russell, Bertrand 129 ff., 134, 136, 254 Ryle, Gilbert 129 ff., 133, 135, 137, 281 Sartre, Jean-Paul 6, 9, 33, 44, 47 f., 57 f., 66, 77 f., 80 f., 83 ff., 111, 129, 152, 162, 175 f., 179 f., 190 ff., 194 f., 207, 268, 290, 294, 306 ff., 350, 370, 387 f., 391, 394–397, 409, 432, 438 f., 442, 446, 448, 450, 484 Sass, Louis 322 Saussure, Ferdinand de 268, 407 Schapp, Wilhelm 25, 247, 272, 418 Scheler, Max 2, 7, 9, 23–26, 41 f., 47, 64, 66, 69–75, 82, 115, 118, 148, 204, 206, 211, 247, 296–300, 303 f., 306, 332–339, 364, 372, 387, 417, 462, 484 Schleiermacher, Friedrich 35, 85 Schmalenbach, Hermann 359 Schmitt, Carl 41 Schmitz, Hermann 57, 157, 192, 197 f., 322, 340, 347 Schreier, Fritz 304 Schubert-Soldern, Richard von 357 Schües, Christina 412 Schuhmann, Karl 75 Schütz, Alfred 7, 38, 45 f., 56, 63, 157, 202, 204, 207, 209, 212, 216, 234, 251, 321 f., 343, 357 ff., 363–366, 387, 416, 448, 464, 485 Schwarzer, Alice 396 Scott, Joan W. 402, 407 Searle, John 157, 279, 281 Sellars, Wilfrid 281, 283 Serra, Richard 446 Shakespeare, William 405
562
Personenregister
Sheets-Johnstone, Maxine 450 Shen, Youding 66 Shestov, Lev 58 Shiyi, Xiao 66 Sigwart, Christoph 20 Silva, Sónia 350 Simmel, Georg 23, 416 Simons, Peter 62 Sini, Carlo 60 Smith, Barry 62 Smith, David Woodruff 264 Smith, Nicholas 251 Smithson, Robert 447 Sobchack, Vivian 451 f. Špeth, Gustav 61 Spiegelberg, Herbert 3, 7, 26, 38, 63, 74 f., 134, 316 Spivak, Gayatri Chakravorty 103 Stein, Edith 9, 22, 25, 27 ff., 33, 38, 62, 73 f., 178 f., 190, 204, 247, 394, 485 Stein, Gertrude 405 Steinbock, Anthony 118 Stern, Günther (= Anders, Günther) 29, 38, 45 f., 424, 447 Stern, Wilhelm 45 Stiegler, Bernard 424 f. Stoller, Paul 348 ff. Stoller, Silvia 397, 404 Strasser, Stephan 56 Strathern, Marilyn 346 f. Straus, Erwin 111, 321, 324 f., 339 f., 342, 443 Strauss, Leo 35 Strawson, Peter F. 130, 136 Stumpf, Carl 18 f., 255 Sybel, Alfred von 27, 40 Szilasi, Wilhelm 38 Takahashi, Satomi 29 Tanabe, Hajime 6, 29, 65 Tatossian, Arthur 316 Tellenbach, Hubertus 324 Tengelyi, László 2, 120, 124 Thompson, Evan 462, 467 Tocqueville, Alexis de 398 Troeltsch, Ernst 23 Tugendhat, Ernst 136 Twardowski, Kazimierz 20 f.
Uexküll, Jakob von 35, 345, 461, 463, 465 Valéry, Paul 269 Van Breda, Herman Leo 43, 56, 133 van den Berg, Jan 318, 426 van Gogh, Vincent 437 Vanni Rovighi, Sofia 59 Varela, Francisco 5, 143, 465 f., 470 Vattimo, Gianni 92 f. Viveiros de Castro, Eduardo 352 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz 56 Wacker, Otto 50 Waelhens, Alphonse de 56 Waldenfels, Bernhard 2, 7, 57, 107, 110, 156, 192, 197 f., 234, 274, 313, 320, 342, 351, 382, 417, 431 Walther, Gerda 29, 69, 73, 204, 358, 372, 394 Warburg, Aby 47, 446 Wartenburg, Graf Yorck von 87 Watsuji, Tetsuro 65 Weber, Andreas 463 Weber, Max 23, 301, 364 Weierstraß, Karl 18, 254 f. Weizsäcker, Victor von 342, 469 f. Wertheimer, Max 105 Weyl, Hermann 254 Wiener, Norbert 424 Wild, John 62 Wind, Edgar 47 f. Windelband, Wilhelm 23, 28, 416 Wittgenstein, Ludwig 8, 62, 129 f., 132, 134 ff., 266, 281, 287 Wölfflin, Heinrich 23 Wollstonecraft, Mary 394 Wood, David 465 Woolf, Virginia 394, 405, 450 Wundt, Wilhelm 18, 20, 256 Wunsch, Matthias 339 Wust, Peter 69 Xiong, Wei 66 Xirau, Joaquín 63 f. Young, Iris Marion 314, 411 f. Zahavi, Dan 62, 206, 283, 467 ff. Zambrano, Araceli 45
Personenregister
Zambrano, María 45, 63 Zermelo, Ernst 254 Žižek, Slavoj 103
Zubiri, Xavier 44 f., 63 Zutt, Jürg 322
563