Handbuch der soziologischen Forschung: Methodologie, Methoden, Techniken [Reprint 2021 ed.] 9783112534625, 9783112534618


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German Pages 588 [589] Year 1990

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Handbuch der soziologischen Forschung: Methodologie, Methoden, Techniken [Reprint 2021 ed.]
 9783112534625, 9783112534618

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Handbuch der soziologischen Forschung Herausgegeben von Horst Berger und Herbert F. Wolf unter Mitarbeit von Arndt Ulimann

Handbuch der soziologischen Forschung Methodologie • Methoden Techniken Herausgegeben von Horst Berger und Herbert F. Wolf unter Mitarbeit von Arndt Ulimann

Akademie-Verlag Berlin

1989

ISBN 3-05-000606-4

Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, DDR-1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1989 Lizenznummer: 202 • 100/22/88 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Einbandgestaltung: Eckhard Steiner LSV 0185 Bestellnummer: 7548591 (9096) 03800

Autorenverzeichnis

Berger Fischer Freitag f Gensei Gladitz Häder Hanf Hennig Hinrichs Kapelle Lautsch Lindig Lindtner Mächler Mühler Piens Priller Rentzsch Reymann Schwarz Ulimann Wilsdorf Wolf

Horst Klaus Joachim Berndt Johannes Michael Thomas Werner Wilhelm Günter Erwin Dieter Manfred Hermann Kurt Irina Eckhardt Doris Wolfgang Rainer Arndt Steffen H. Herbert F.

1.1; 1.2.; 1.3.; 2.1.; 2.2.; 4.1.; 4.6. 4.3. 2.11. 2.10.; 4.4. Anhang 3.3.4.; 2.9.1. 2.3.; 2.7. 2.9.2.; 3.3.5.; 3.3.6. 4.8. 4.5. 4.2. 3.2.4. 2.8. 2.9.2. 2.5.; 3.2.3. Anhang 2.6. 2.4. 4.5. 4.5. 1.3.; 3.2.1.; 3.3.3.; 4.1.; 4.6. 3.3.3.; 3.3.7. 1.3.; 3.1.; 3.2.2.; 3.3.1.; 3.3.2.; 3..

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

XI

1. Kapitel:

Methodologische Voraussetzungen soziologischer Forschungen. Grundlegende Begriffe und Prinzipien 1.1. 1.2. 1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.3.3. 1.3.4.

Soziologische Forschungen in der sozialistischen Gesellschaft Methodologische Prinzipien und Grundprobleme der marxistisch-leninistischen soziologischen Forschung Ebenen, Typen und Formen soziologischer Erkenntnis Ebenen der Gesellschaft und soziologische Erkenntnis Arten sozialer Zusammenhänge und Typen soziologischer Forschung Grundformen soziologischer Forschung (Forschungsstrategien) Arten soziologischer Forschungsprozesse

1 1 8 33 34 38 41 48

2. Kapitel:

Das Forschungsprogramm. Methodologische Ansätze und Operationen

57

2.1. 2.2. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 2.3.4. 2.3.5. 2.4. 2.4.1.

57 64 73 74 76 78 79 80 81

2.4.2. 2.5. 2.6. 2.6.1. 2.6.2.

Forschungsprobleme Hypothesen Modellierung Allgemeine Bemerkungen zur Modellierung Funktionen von Modellen in der Soziologie Ausgangspunkte der Modellbildung bzw. -anwendung Mathematische Modelle Klassifikation von mathematischen Modellen Systemanalyse Der systemanalytische Zugang bei der Widerspiegelung eines realen sozialen Sachverhalts in empirisch-soziologischen Forschungen Die systemanalytische Regulierung des ganzheitlichen Erkenntnisprozesses in empirisch-soziologischen Forschungen Prognostizierung Begriffe, Operationalisierung, Indikatoren Operationalisierung als erkenntnistheoretische und wissenschaftslogische Aufgabe in der soziologischen Forschung Empirische Interpretation von Begriffen

83 86 87 94 94 96

VIII 2.6.3. 2.6.4. 2.7. 2.7.1. 2.7.2. 2.7.3. 2.7.4. 2.7.5. 2.8. 2.8.1. 2.8.2. 2.8.3. 2.8.4. 2.8.5. 2.9. 2.10. 2.10.1. 2.10.2. 2.10.3. 2.10.4. 2.10.5. 2.11. 2.11.1. 2.11.2. 2.11.3. 2.11.4. 2.11.5. 2.11.6. 2.11.7.

Inhaltsverzeichnis Indikatoren Klassifikation, Typologie, Index und standardisierte empirische Verfahren. . . . Grundprobleme der Messung Allgemeiner Begriff des Messens und seine Einordnung Allgemeiner Charakter von Messungen Spezifik der Messung in der Soziologie Arten der Messung Spezieller soziologischer Begriff der Messung Skalierungsverfahren Grundlagen der Skalierung Kennzeichnung der Skalen-und Aussagenniveaus Skalierungsverfahren (allgemeiner Überblick) Spezielle Skalierungsverfahren Mehrdimensionale Skalierungsverfahren (MDS) Gütekriterien in soziologischen Untersuchungen Typologisierung und Klassifizierung Soziale Wirklichkeit und Typologien sozialer Sachverhalte Typologie und Typologisierung Klassifikation und Klassifizierung Methodologischer Ansatz einer typologischen Datenanalyse Verfahren zur typologischen Datenanalyse Auswahlproblematik (Objektauswahl, Stichproben) Einordnung der Auswahlproblematik in den Forschungsprozeß Bestandteile der Auswahlproblematik Bemerkungen zur Objektauswahl Total-oder Teilerhebung Grundtypen von Teilerhebungen Arten wahrscheinlichkeitstheoretischer Auswahlverfahren Einflußfaktoren auf den Mindestumfang der Stichprobe .

102 111 113 113 119 121 122 125 127 127 130 138 141 147 152 163 163 164 166 169 170 174 174 175 176 179 180 185 192

3. Kapitel:

Methoden und Techniken der Datenerhebung

201

3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.3.3.

201 206 211 228 231 231 259 301 318 330 330 339 344

Generelle Probleme und Prinzipien soziologischer Erhebungen Was sind Daten? Methodenwahl Fehlerquellen bei der Erhebung Grundformen der Datenerhebung Beobachtung Befragungen Dokumentenanalyse Analyse statistischer Dokumente Spezielle Untersuchungsformen Fallstudien Gruppendiskussion Vergleichs-, Quer-und Längsschnittuntersuchungen

Inhaltsverzeichnis 3.3.4. 3.3.5. 3.3.6. 3.3.7.

Soziales Experiment Einstellungstests Gruppenanalytische Verfahren Zeitbudgetstudien

IX 360 370 378 -392

4. Kapitel:

Auswertung und Anwendung soziologischer Forschungsergebnisse

405

4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.4.1. 4.4.2. 4.4.3. 4.5. 4.5.1.

405 417 424 432 432 436 452 457

4.5.2. 4.5.3. 4.5.4. 4.5.5. 4.6. 4.6.1. 4.6.2. 4.6.3. 4.6.4. 4.7. 4.8. 4.8.1. 4.8.2. 4.8.3. 4.8.4.

Prinzipien der Datenauswertung (Auswertungsstrategien) Planung der Auswertung Datenverarbeitung im soziologischen Forschungsprozeß Mathematisch-statistische Auswertungsverfahren Allgemeine Grundlagen der mathematisch-statistischen Datenanalyse Verfahren zur Prüfung von Unterschieden Analyse von Merkmalszusammenhängen Rechnergestützte Datenanalyse Grundbegriffe zur Nutzung der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) bei soziologischen Untersuchungen Phasen der EDV-Anwendung Stellung der rechnergestützten Datenanalyse im soziologischen Forschungsprozeß Übersicht der Verfahren zur rechnergestützten Datenanaiyse Methodik der Datenanalyse Empirische Interpretation und theoretische Auswertung Zur Einordnung der empirischen Interpretation Die wichtigsten Arten der empirischen Interpretation Methodische Hinweise Theoretische Auswertung Hinweise zur Anfertigung von Forschungsberichten Anwendung soziologischer Forschungsergebnisse Etappen im soziologischen Theorie-Praxis-Verhältnis „Anwender" soziologischen Wissens Anwendungsorientierte Ergebnisformen Voraussetzungen und Bedingungen hoher Praxiswirksamkeit

457 461 473 477 481 491 491 492 495 496 499 505 505 508 510 512

ANHANG

Einsatz von Mikrocomputern in der soziologischen Forschung — Stand und Perspektiven

517

1. 2. 3. 4. 5. 6.

517 518 521 527 530 530

Personalcomputer als Vorboten der Zukunft Was ist ein PC? Software für PC's Möglichkeiten der PC-Nutzung in der empirischen Forschung Hohe Auslastung oder allseitige Verfügbarkeit? Zur Kopplung Großrechner-Personalcomputer

X 7. 8. 9.

Inhaltsverzeichnis Mathematisierung der Soziologie Wissensverarbeitung — ein Ausblick Einige Schlußbemerkungen

Bibliographie

531 532 535 537

Personenregister

•. 555

Sachwortregister

561

Vorwort

In diesem Handbuch haben die Erfahrungen soziologischer Forschungen, die seit mehr als einem Vierteljahrhundert in der DDR systematisch betrieben werden, ihren Niederschlag gefunden. Zugleich haben Herausgeber und Autoren den Versuch unternommen, an den internationalen Wissensstand soziologisch-methodischer Erkenntnis anzuknüpfen und den gegenwärtigen und künftigen Aufgaben soziologischer Forschung zu entsprechen. Wir hoffen, damit den Bedürfnissen vieler Gesellschafts-, Technik- und Naturwissenschaftler nach einer stärkeren empirischen Fundierung und methodologischen Durchdringung ihrer Forschungsarbeiten über die Wechselbeziehungen zwischen wissenschaftlich-technischem, ökonomischem und sozialem Fortschritt entgegenzukommen und somit die Interdisziplinarität bei der Erforschung der Entwicklungstendenzen, Gesetzmäßigkeiten und Triebkräfte des Sozialismus zu befördern. Wir wenden uns nicht nur an Spezialisten, sondern an einen breiten Kreis soziologisch Interessierter — Lehrende und Studierende, Leiter und Forscher, Praktiker und Funktionäre gesellschaftlicher Organisationen —; wir tun dies in der Hoffnung, ein übersichtliches, handhabbares und an den praktischen Erfordernissen orientiertes Buch bieten zu können, welches zugleich gesichertes Grundlagenwissen verständlich und fundiert darstellt und neue Problemstellungen erörtert. Unsere spezialisierten Fachkollegen und Vertreter verwandter Disziplinen bitten wir um Nachsicht, daß es nicht möglich war, ihren speziellen Interessen nachzukommen. Wir verweisen auf die angegebene weiterführende Literatur und bitten zugleich um Hinweise und Kritik. Die soziologische Forschung hat sich in den letzten Jahren sehr stark differenziert und spezialisiert, nicht allen Anwendungsgebieten konnte daher entsprochen werden. Die Erfahrungen und Beispiele entstammen vor allem der arbeits-, industrie- und betriebssoziologischen Forschung, der Sozialstrukturforschung, der Jugendforschung und der Erforschung sozialistischer Bewußtseinsentwicklung. Freilich kam es uns immer darauf an, methodologische Begründung und Darstellung grundlegender Prinzipien und Regeln anschaulich zu vermitteln. Der Bedarf an soziologischen Analysen über den Verlauf konkreter sozialer Prozesse und deren Entwicklungstendenzen ist beträchtlich gewachsen. Wie der XI. Parteitag der SED erneut bekräftigte, stehen Forschungen zur Bestimmung sozialer Ziele, Bedingungen und Wirkungen ökonomischen Wachstums, der umfassenden

XII

Vorwort

Intensivierung unserer Volkswirtschaft und der Verbindung der wissenschaftlich-technischen Revolution mit den Vorzügen des Sozialismus im Zentrum gesellschaftswissenschaftlicher Arbeit. Grundlegende soziale Faktoren wie Arbeitsinhalte und -bedingungen, Bildung und Qualifikation, soziale Beziehungen, Persönlichkeitsentwicklung, Gesundheit und Umwelt bedürfen daher tieferer Analyse, um Wege und Mittel zur weiteren Verwirklichung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik erkunden zu können. Die Realisierung eines solchen Handbuches wäre nicht möglich gewesen ohne die kontinuierliche, kameradschaftliche und fruchtbare Zusammenarbeit im Problemrat Methodologie/Methodik des Wissenschaftlichen Rates für Soziologische Forschung in der DDR, dessen Leitung das Vorhaben stets förderte. Die Herausgeber hoffen, daß es gelungen ist, die kompetentesten Autoren für jeden Abschnitt zu finden. Wir sind uns aber auch im Prozeß der Arbeit bewußt geworden, welche Lücken noch vorhanden sind und welche Schwächen es zu überwinden gilt, um den hohen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht werden zu können. Für alle Hinweise und Anregungen sind wir zu Dank verpflichtet. Die Erforschung grundlegender sozialer Beziehungen, Strukturen, Prozesse und Bedingungen als Triebkräfte sozialen Handelns bei der Bewältigung der wissenschaftlich-technischen Revolution ist mit dem zur Zeit verfügbaren methodischen Instrumentarium nicht hinreichend möglich. Insbesondere Probleme der Messung und Modellierung, der Systemanalyse und Prognostizierung sowie der Prozeß-, Ursachen- und Trendanalysen bedürfen grundlegender Lösungen. Durch den direkten Dialog mit dem Rechner und die Nutzung von Mikrocomputern eröffnen sich neue Möglichkeiten qualitativer und quantitativer Analyse sozialer Sachverhalte. Über moderne mathematisch-statistische Verfahren konnten wir lediglich einen Überblick geben, verwiesen sei daher auf die in den letzten Jahren erschienenen Statistikbücher. Das Tempo der Aneignung der Informatikkenntnisse muß zweifellos forciert werden. Unser Dank gilt zunächst den Autoren, die ihre Erfahrungen und spezielle Sachkenntnis eingebracht haben und in mehreren Diskussionen zum Gelingen des gesamten Buches beitrugen. Wir beziehen in diesen Dank auch jene Problemratsmitglieder ein, deren Beiträge nicht aufgenommen werden konnten. Besonders danken wir jenen, die kurzfristig Beiträge übernahmen bzw. Überarbeitungen durchführten. Viel Verständnis mußte aufgebracht werden, um der notwendigen Beschränkung und somit dem Verzicht auf umfassendere Passagen und erläuternde Beispiele zuzustimmen. An der Fertigstellung dieses Buches haben die Gutachter Prof. Dr. habil. Erhard Förster, Prof. Dr. sc. Rudhard Stollberg und Prof. Dr. sc. Rudi Weidig, die ihre Gutachten schnell vorlegten und viele kritische Hinweise gaben, einen besonderen Anteil. Die Herausgeber sind ihren Einrichtungen und ihrem engeren Mitarbeiterkreis für die zahlreichen Diskussionen, das Verständnis und wohl-

Vorwort

XIII

wollende Entgegenkommen bei den umfangreichen und zeitlichen Belastungen dankbar. An der technischen Realisierung haben Gisela Enderlein, Brigitte Hausstein, Dagmar Kusior, Jutta Lauterbach und Ilona Schrade mitgewirkt. Die Studentinnen Katrin Seifert und Kathrin Vogt fertigten das Sach- bzw. Personenregister an. Das Literaturverzeichnis ist Teil einer umfassenden Bibliographie, die Annemarie Dotschew zusammengestellt hat und die in der Schriftenreihe des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik veröffentlicht worden ist. Berlin, Leipzig und Dresden, im Frühjahr 1986

Horst Berger, Herbert F. Wolf und Arndt Ulimann

1. KAPITEL

Methodologische Voraussetzungen soziologischer Forschungen. Grundlegende Begriffe und Prinzipien 1.1. Soziologische Forschungen in der sozialistischen Gesellschaft Wie ist in der heutigen Zeit soziologische Forschung zu betreiben? Welche Prinzipien müssen beachtet werden, damit die Soziologie ihren notwendigen und unverwechselbaren Beitrag zur weiteren Vervollkommnung der Theorie von der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und zur Lösung sozialer Entwicklungsprobleme tatsächlich leisten kann? Die Beantwortimg dieser Fragen ist von Bedeutung für jeden Soziologen, für jedes Forschungskollektiv, unabhängig von der speziellen Thematik oder dem Objektbereich der gesellschaftlichen Praxis. „Die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ist ein historischer Prozeß tiefgreifender politischer, ökonomischer, sozialer und geistig-kultureller Wandlungen." 1 Dieser gesellschaftliche Wandlungsprozeß historischer Dimension durchdringt alle Sphären und Bereiche der Gesellschaft und ist von hoher Dynamik. Daraus leiten sich für die marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften als theoretisches und politisch-ideologisches Instrument der Arbeiterklasse und ihrer Partei bedeutsame Aufgaben ab: „Das zentrale Thema der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung sehen wir darin, die objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung noch genauer zu erforschen, die Dynamik ihrer Wirkungsweise unter den gegenwärtigen und zukünftig zu erwartenden Bedingungen aufzudecken und die geeigneten Formen, Mechanismen und Institutionen für die Durchsetzung und Nutzung dieser Gesetzmäßigkeiten auszuarbeiten." 2 Diese Aufgabenstellung schließt die Verbreiterung der empirischen Grundlagen der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung ein. In dieser Hinsicht hat die Soziologie die besondere Aufgabe, grundlegende soziale Prozesse, Bedingungen und Triebkräfte des gesellschaftlichen Handelns der Werktätigen zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu erforschen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Bedingungen der intensiv-erweiterten Reproduktion und des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts in der DDR, die Dynamik der sozialen Beziehungen und der Sozialstruktur der sozialistischen Gesellschaft, die Entwicklung und An1 2

Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1976, S. 19. K. Hager, Gesetzmäßigkeiten unserer Epoche — Triebkräfte und Werte des Sozialismus, Berlin 1983, S. 73.

2

Methodologische Voraussetzungen

näherung der Klassen und Schichten, von Stadt und Land sowie von körperlicher und geistiger Arbeit, die Triebkraftfunktion der sozialen Interessen, Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Motivationen, die Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten und Kollektive, der Arbeits- und Lebensbedingungen und der Lebensweise der Klassen, Schichten, sozialen Gruppen und Individuen. Soziologische Forschungen zu diesen Themen zielen letztlich darauf ab, die „Ursachen, Bedingungen und Triebkräfte der fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklung aufzudecken und zur Verwirklichung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie zur weiteren Ausarbeitung wissenschaftlicher Grundlagen der Leitung und Planung sozialer Prozesse beizutragen" 3 . Die Soziologie hat sich auf dem 4. Soziologiekongreß der DDR (März 1985) dieser Aufgabe gestellt und zum Thema „Soziale Triebkräfte ökonomischen Wachstums" profunde Forschungsergebnisse vorgelegt sowie Ziele für die künftigen Forschungen formuliert. Soziale Grundprozesse bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in ihren objektiven Gesetzmäßigkeiten und ihrem konkreten Verlauf unter den spezifischen Bedingungen der DDR zu erforschen 4 und dabei einen Beitrag zur Erarbeitung von Varianten und Lösungswegen für neue soziale Aufgaben zu leisten5, ist ein hoher Anspruch, ja eine Herausforderung an die Soziologen der DDR. „Die marxistisch-leninistische Soziologie kann ihre Leistungen für die Aufdeckung und Entfaltung der dem Sozialismus eigenen sozialen Triebkräfte besonders dadurch erbringen und sich damit selbst als geistige Triebkraft der sozialistischen Gesellschaft entwickeln, daß sie durch fundierte Analysen und entsprechende theoretische Verallgemeinerungen konstruktiv dazu beiträgt, neue Entwicklungstendenzen und Prozesse aufzudecken und dazu brauchbare Schlußfolgerungen und Lösungsvorschläge für die Führungs- und Leitungstätigkeit erarbeitet. Das gilt besonders für solche der Spezifik der Soziologie entsprechenden Gegenstände bzw. Objekte der Forschung wie die Entwicklung der sozialen Bedingungen des sozialen Verhaltens, der sozialen Aktivität und der sozialen Beziehungen, der sozialen Struktur, der sozialen Interessen und Bedürfnisse sowie des Bewußtseins der Werktätigen in verschiedenen Bereichen der sozialistischen Gesellschaft." 6 In der soziologischen Literatur der D D R hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß die Soziologie die Gesellschaft, ihre Ebenen und Teilbereiche als System sozialer Beziehungen erforscht sowie die gesellschaftlichen Triebkräfte (Interessen) 3

4 5 6

Zentraler Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften der DDR 1986 bis 1990, in: Einheit, 8/86; S. 681. Vgl. ebenda. Vgl. Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, a. a. O., S. 47. R. Weidig, Soziale Bedingungen und Triebkräfte hoher Arbeitsleistungen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (im folgenden DZfPh), 1/85, S. 4.

Soziologie im Sozialismus

3

des sozialen Handelns der Individuen, sozialen Gruppen, Schichten und Klassen, wodurch dieses System konstituiert wird.7 Diese Auffassung impliziert die Tatsache, daß die Gesellschaft und ihre Ebenen bzw. Teilbereiche insbesondere hinsichtlich der Struktur, der Entwicklung, der Organisationsformen, der Funktionsweise und anderer Bewegungsformen untersucht wird. Die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung und die Vielfalt sozialer Bewegungsformen haben dazu geführt, daß sich innerhalb der soziologischen Forschung eine weitreichende Spezialisierung vollzogen hat, die zur Herausbildung von Zweigsoziologien (Arbeitssoziologie, Bildungssoziologie, Medizinsoziologie, Sportsoziologie, Kultursoziologie, Jugendsoziolog'ie, Stadtsoziologie, Militärsoziologie, Agrarsoziologie, Familiensoziologie u. a.) führte 8 und zur Entwicklung spezieller soziologischer Theorien (Sozialstrukturtheorie, soziale Organisationstheorie, soziologische Persönlichkeitstheorie u. a.). Diese Zweigsoziologien bzw. speziellen soziologischen Theorien haben zwar ein unterschiedliches Entwicklungsniveau erreicht, sie sind aber als integraler Bestandteil der soziologischen Wissenschaft Ausdruck der sich in der soziologischen Forschung vollziehenden Arbeitsteilung. Gleichzeitig und damit verbunden wächst die Bedeutung des historischen Materialismus als philosophische Gesellschaftstheorie und allgemeine soziologische Theorie. Um von der Vielfalt und Mannigfaltigkeit der sozialen Erscheinungen und Prozesse zum Wesen der gesellschaftlichen Verhältnisse und insbesondere zu den grundlegenden formationsspezifischen Bewegungsgesetzen vordringen zu können, bedarf jegliche soziologische Forschung der Fundierung durch die dialektisch-materialistische Entwicklungstheorie der Gesellschaft, durch den historischen Materialismus. Im Sozialismus sind ökonomischer, wissenschaftlich-technischer und sozialer Fortschritt untrennbar miteinander verbunden — das Maß (Qualität) dieser Verbindung ist konkret-historisch bestimmt und in sich widersprüchlich. Die vom X. Parteitag begründeten Schwerpunkte der ökonomischen Strategie sind ein weitreichendes Programm, um die dem gesellschaftlichen Fortschritt innewohnenden Widersprüche zu lösen und insbesondere durch ökonomischen Leistungsanstieg weiteren sozialen Fortschritt zu gewährleisten. Dies findet in der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik seinen praktischen Ausdruck. Die Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft als tiefgreifender Prozeß gesellschaftlicher Wand-

7

Vgl. R. Weidig, Stichwort „Soziologie", in: Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, Berlin 1983, S. 600; R. Stollberg, Gegenstand und Aufgaben der marxistisch-leninistischen Soziologie, in: G. Aßmann/R. Stollberg (Hrsg.), Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, 2. Aufl., Berlin 1979, S. 9/10.

8

Vgl. R. Stollberg, Warum und wozu Soziologie?, Berlin 1983, S. 66—68, 75—87.

2

Soziolog. F orschung

4

Methodologische Voraussetzungen

lungen wird daher entscheidend durch die zunehmende Intensivierung des volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozesses determiniert 9 : Erstens vollziehen sich gegenwärtig in den Beziehungen zwischen der Ökonomie und den anderen Sphären bzw. Bereichen der Gesellschaft, d. h. in den Grundlagen des sozialen Lebensprozesses, bedeutsame Wandlungen, vor allem in zweierlei Hinsicht: Einerseits verstärkt sich die Abhängigkeit des gesellschaftlichen Fortschritts von der ökonomischen Leistungsentwicklung, die wiederum vor allem durch den sozialen Fortschritt determiniert ist; andererseits erfordert die raschere Entwicklung der Produktivkräfte auch ein höheres Niveau der nichtökonomischen Bereiche der Gesellschaft. Zweitens verstärkt sich das Gewicht der einzelnen Sphären und Bereiche für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung sowohl hinsichtlich der spezifischen Funktion als auch hinsichtlich des Zusammenwirkens im Vergleich zu vorangegangenen Entwicklungsetappen (Beispiel: Dienstleistungsbereich, politische Organisation). Drittens sind wegen der herausragenden Rolle der Ökonomie jene Veränderungen sichtbar zu machen, die sich direkt aus den qualitativen und quantitativen Wandlungen in der Ökonomie ergeben (z. B. die zunehmende ökonomische Wirksamkeit des Bildungspotentials). Viertens erhalten die Beziehungen zwischen Basis und Überbau der Gesellschaft einen zunehmenden Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung. Fünftens nimmt die Tendenz der wechselseitigen Durchdringung und Verflechtung der Sphären und Bereiche der Gesellschaft zu. Diese grundlegenden gesellschaftlichen Wandlungen haben natürlich Einfluß auf alle Objektbereiche soziologischer Forschung. Die zunehmende Verflechtung aller gesellschaftlichen Prozesse, die ihr innewohnende Dynamik und Widersprüchlichkeit beeinflussen die Wirkungsbedingungen, Wirkungssphären, Formen, Mechanismen, Bewegungsabläufe und Entwicklungstendenzen der objektiven gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Die Verflechtung beeinflußt alle sozialen Prozesse, Verhältnisse, Ereignisse, Situationen und daher auch das soziale Verhalten gesellschaftlicher Subjekte (Persönlichkeiten, Gruppen, Schichten, Klassen, Gemeinschaften) und die diesem Verhalten zugrundeliegenden Interessen. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt, ökonomisches Wachstum und gesellschaftlicher Fortschritt befinden sich in einem dialektischen Wechselverhältnis, das besonders in der Verflechtung von Produktivkraftentwicklung und Entwicklung der Persönlichkeit zum Ausdruck kommt. 1 0 Es gibt keinen Objektbereich 9

10

Vgl. Dialektik des Sozialismus, Autorenkollektiv unter Ltg. vonA. Rösing, Berlin 1981, S. 178; W. Heinrichs (Hrsg.), Grundfragen der sozialistischen Reproduktionstheorie, Berlin 1982. Vgl. H. Hörz/D. Seidel, Humanität und Effektivität — zwei Seiten der wissenschaftlich-technischen Revolution? Berlin 1984, S. 54; G. Stiehler, Worauf unsere Freiheit beruht, Berlin 1984, S. 168.

Soziologie im Sozialismus

5

soziologischer Forschung, der von der determinierenden Rolle dieser Verflechtung nicht beeinflußt wird. Für die Soziologie wie für andere Gesellschaftswissenschaften haben sich also in den letzten Jahren neue Forschungssituationen ergeben, die mit Notwendigkeit zur interdisziplinären Zusammenarbeit drängen. Gründliche interdisziplinär angelegte Analysen sind erforderlich, um Auskunft darüber geben zu können, wie die miteinander verflochtenen ökonomischen, politischen, technologischen, sozialen und geistig-kulturellen Prozesse tatsächlich verlaufen, welche Bedingungen und Voraussetzungen den Verlauf dieser Prozesse beeinflussen und welche Wirkungen sie hervorbringen. In dem grundlegenden Wirkungszusammenhang der Sphären und Bereiche der Gesellschaft ist die Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution, deren große politische und ökonomische Bedeutung in der internationalen Klassenauseinandersetzung unbestritten ist, d. h. die Aufdeckung der miteinander verflochtenen Gesetzmäßigkeiten des wissenschaftlich-technischen, ökonomischen und sozialen Fortschritts, ein hervorstechendes Merkmal des Vergesellschaftungsprozesses im Sozialismus. 11 Natürlich muß die Soziologie dabei ihren spezifischen Beitrag exakt bestimmen. Er besteht unseres Erachtens in der Erforschung der Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge zwischen sozialen Verhältnissen, sozialen Strukturen, sozialen Interessen und sozialem Verhalten. Soziologische Forschung ist vor allem prozeß- und strukturorientiert. Die analytische Abhebung von sozialen Strukturen und sozialen Prozessen darf nicht den dialektischen Zusammenhang von Struktur und Prozeß negieren. Die Erforschung von Grundprozessen der Sozialstrukturentwicklung unter den Bedingungen der Durchsetzung des intensiv-erweiterten Reproduktionstyps der Volkswirtschaft schließt die Untersuchung des Übergangs von extensiven zu intensiven Reproduktionsprozessen ebenso ein wie die Untersuchung der Entwicklung des quantitativen und qualitativen Wachstumspotentials der Klassen, Schichten und sozialen Gruppen. Indessen muß beachtet werden, daß nicht jeder soziale Prozeß ein Entwicklungsprozeß ist. Die Soziologie hat es daher auch mit einer Vielfalt sozialer Bewegungsformen zu tun. Sowohl mit einfacheren sozialen Bewegungsformen wie Veränderungen sozialer Erscheinungen und Prozesse, Wechsel von sozialen Ereignissen, sozialen Quantitäten und Qualitäten, Funktionsweise sozialer Systeme, Koexistenz sozialer Erscheinungen und Prozesse, Reproduktion sozialer Erscheinungen und Prozesse als auch mit unterschiedlichen Stufen der Entwicklung. 12 Die Gesetzmäßigkeiten sozialer Entwicklung und Struktur müssen als dominant hervorgehoben werden, was auch in der Gegenstandsbestimmung der Soziologie zum Ausdruck kommt. 11 12

Vgl. ebenda, S. 46. Vgl. Materialistische Dialektik, Autorenkollektiv unter Ltg. von P. N. Fedossejew, Berlin 1983, S. 3 4 / 3 5 .

2*

6

Methodologische Voraussetzungen

Eine Charakterisierung der sozialen Entwicklungsprozesse, die auch die Reproduktion allgemeiner Merkmale der Mannigfaltigkeit und Vielfalt sozialer Zusammenhänge, Erscheinungen, Beziehungen, Strukturen und Prozesse einschließt, sowie eine Charakterisierung der sozialen Entwicklungsprozesse unter dem Gesichtspunkt des Übergangs von quantitativen zu qualitativen Veränderungen sozialer Wandlungen sind von großer methodologischer Bedeutung. Eine solche Charakterisierung wird als Klassifikation der Entwicklungsstufen der Organisation sozialer Objekte bezeichnet. 13 Gegenwärtig stehen vor allem folgende soziale Erscheinungen und Prozesse im Mittelpunkt soziologischer Forschung : — Grundprozesse der Sozialstrukturentwicklung; — Entwicklungs- und Wandlungsprozesse sozialer Organisationen, Institutionen, Gemeinschaften und Verbände; — Entwicklungs-, Veränderungs- und Wandlungsprozesse in der sozialen Lage, der Lebensweise, den Lebensbedingungen und Lebenssituationen der Klassen, Schichten und sozialen Gruppen; — soziale Prozesse in den Kombinaten und Betrieben; — Entwicklungs-, Veränderungs- und Wandlungsprozesse in der sozialen Struktur, den Arbeits- und Lebensbedingungen und den sozialen Beziehungen in verschiedenen territorialen Einheiten (Bezirke, Kreise, Städte, Gemeinden und Dörfer); — ^Entwicklungstendenzen der Interessen und Bedürfnisstrukturen der Klassen, Schichten und sozialen Gruppen; — Entwicklungstendenzen des Bewußtseins, der Wertorientierungen, Lebensziele, Traditionen, Gewohnheiten und Bräuche; — Familienentwicklung; — sozialistische Persönlichkeitsentwicklung; — Kollektiventwicklung; — Grundtendenzen des Freizeitverhaltens der Klassen, Schichten und sozialen Gruppen. Aus diesen gesamtgesellschaftlichen Forschungsthemen leiten sich vielfaltige spezielle Forschungsaufgaben ab, die in den zweigsoziologischen Forschungen bearbeitet werden (vgl. Materialien zum 4. Soziologiekongreß). Daß dabei die sozialen Erscheinungen und Prozesse in der Arbeitssphäre im Zentrum soziologischer Forschung stehen, ergibt sich aus der überragenden Rolle der Arbeit bzw. der Arbeitsleistungen für die Entwicklung der sozialistischen Lebensweise und des gesellschaftlichen Fortschritts. Der Soziologe wird demzufolge mit sehr unterschiedlichen Forschungssituationen konfrontiert. Von zentraler Bedeutung ist die soziologische Erforschung 13

Vgl. ebenda, S. 39.

Soziologie im Sozialismus

7

der sozialen Beziehungen, der Sozialstruktur, der Entwicklung und Annäherung der Klassen und Schichten, von Stadt und Land sowie von körperlicher und geistiger Arbeit. All die genannten Objektbereiche soziologischer Forschung sind als Teil des gesamtgesellschaftlichen Organismus zwar von den grundlegenden Entwicklungstendenzen der Sphären und Bereiche der Gesellschaft betroffen, indessen mitunter nur in vermittelter bzw. abgeschwächter Form. Aufgabe der Soziologie ist es, in der Mannigfaltigkeit und Vielfalt gesellschaftlicher Zusammenhänge und Abhängigkeiten innerhalb der angeführten Objektbereiche und zwischen ihnen die gesetzmäßigen Zusammenhänge aufzudecken. In der sozialen Wirklichkeit werden diese Zusammenhänge letztlich durch das Handeln gesellschaftlicher Subjekte konstituiert und durch objektive Bedingungen determiniert. Der Vermittlungsmechanismus zwischen objektiven gesellschaftlichen Entwicklungsanforderungen und sozialem Handeln ist daher auch ein wichtiger Forschungsgegenstand der Soziologie. In der bisherigen Forschungspraxis wurden dabei vor allem die dem sozialen Handeln „nahen" objektiven und subjektiven Determinationsfaktoren wie unmittelbare Arbeits- bzw. Lebensbedingungen, Leiter-KollektivBeziehungen, territoriale Bedingungen, familiale Bedingungen, Wohnbedingungen etc. und subjektive Determinationsfaktoren wie Einstellungen, Motive, Meinungen, Erwartungen, Initiative, Bewußtheit, Einsatzbereitschaft etc. einer eingehenden empirischen Analyse unterzogen. Dies hatte natürlich Auswirkungen rnf die Methodik soziologischer Forschung, indem vor allem die Befragung als grur dlegende Datenerhebungsmethode genutzt wurde. Zweifellos ist eine solche Herangehensweise auch legitim. Indessen reicht sie heute nicht mehr aus, um die dargestellten Objektbereiche auch nur annähernd hinreichend tief untersuchen und die eingangs formulierten Ziel- und Aufgabenstellungen realisieren zu können. Aus der konkret-historischen Qualität der gesellschaftlichen Praxis bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft erwachsen nicht nur neue Bedürfnisse und Anforderungen an die Qualität und Erkenntnisfahigkeit der soziologischen Theorie, sondern auch an die Leistungsfähigkeit der soziologischen Forschungsmethodik. Diese Konsequenzen betreffen die umfassende Nutzung der soziologischen Informationsquellen durch die Ausarbeitung neuer Strategien soziologischer-Informationsgewinnung und -Verarbeitung. Die für die Erforschung der Wechselbeziehungen von wissenschaftlich-technischem, ökonomischem und sozialem Fortschritt notwendige neue Qualität der Forschungsmethodik muß insbesondere geeignet sein, Zusammenhänge von Struktur, Bewegung, Organisationsformen, Prozeß und Entwicklung sozialer Beziehungen differenzierter zu erfassen (unter anderem durch Quer- und Längsschnittstudien). Dies gilt für Entwicklungstendenzen der Bedürfnisse und Interessen von Klassen, Schichten, Gruppen und Individuen ebenso wie für den Determinationsmechanismus des sozialen Handelns von Individuen und sozialen Gruppen unter den konkreten Bedingungen der intensiv-erweiterten Reproduktion der Volkswirtschaft. Es sind

Methodologische Voraussetzungen

also soziologische Methoden für die Untersuchung der Qualität sozialer Sachverhalte, von Ursache-Wirkungszusammenhängen, der Komplexität sozialer Determinationsfaktoren und der Struktur und Prozeßhaftigkeit sozialer Entwicklungen auszuarbeiten und anzuwenden. Diese Konsequenzen beziehen sich aber auch auf einen verstärkten systemanalytischen Zugang zu den soziologischen Forschungsobjekten, auf die Messung und Modellierung sozialer Erscheinungen und Prozesse, auf die Erfassung von Ausprägungsniveaus struktureller Beziehungen, sozialer Organisationsformen und Entwicklungstendenzen und auf die Ausarbeitung methodologischer Grundlagen für die Prognostizierung sozialer Erscheinungen und Prozesse. Es ist die grundlegende Aufgabe der Soziologie, bei der Analyse der genannten sozialen Grundprozesse die objektiven Gesetzmäßigkeiten sowie ihre Existenz-, Wirkungs- und Entwicklungsbedingungen aufzudecken und davon abgeleitet wissenschaftlich begründete Unterlagen für die Leitung und Planung sozialer Prozesse auszuarbeiten. Die Erhöhung der gesellschaftlichen Wirksamkeit der Soziologie ist daher auch ein hoher Anspruch an die Vervollkommnung der soziologischen Forschungsmethodik und ihrer theoretischen und methodologischen Grundlagen. Insbesondere geht es darum, die Fähigkeiten zur Anwendung der dialektisch-materialistischen Methode zu erhöhen.

1.2. Methodologische Prinzipien und Grundprobleme der marxistisch-leninistischen soziologischen Forschung Methodologische Prinzipien der soziologischen Forschung sind wissenschaftliche Grundsätze der Methodenentwicklung und Methodenanwendung14 oder auch allgemeine regulative Mittel15 soziologischer Forschung. Methodologie wird gemeinhin als Methodenlehre oder Theorie der Methoden bezeichnet. Die Methodologie untersucht die objektiven Grundlagen der Methoden, die Zusammenhänge zwischen den Methoden, die Subjekt-Objekt-Dialektik der Erkenntnis, die logische Struktur des Erkenntnisprozesses und prüft die Anwendungsmöglichkeiten und Grenzen der verschiedenen Methoden. Soziologische Methoden sind Systeme von Regeln zur Realisierung soziologischer Forschungsziele. Diese Regeln implizieren Handlungsvorschriften, Anweisungen und Anleitungen für Forschungsoperationen unter gegebenen Forschungsbedingungen. Methoden haben demzufolge Aufforderungscharakter. Als Methodik bezeichnet man die Gesamtheit der auf ein Forschungsobjekt bezogenen und benutzten Forschungsmethoden. 14 15

Vgl. W. Segeth, Materialistische Dialektik als Methode und Methodologie, Berlin 1984, S. 68. Vgl. D. Wittich/K. Gößler, K. Wagner, Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie, Berlin 1980, S. 47.

Prinzipien und Grundprobleme

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Eine Abhandlung über Methoden der soziologischen Forschung hat viererlei Voraussetzungen zu beachten: Erstens, daß die Gesetze, Kategorien und Prinzipien der materialistischen Dialektik die Grundprinzipien des soziologischen Erkenntnisprozesses sind. Die materialistische Dialektik verwirklicht sich als theoretische und methodologische Grundlage soziologischer Forschung durch den historischen Materialismus, der als philosophische Gesellschaftstheorie die allgemeine soziologische Theorie darstellt. Die Einheit von philosophischer Theorie und Methode im historischen Materialismus schließt die Anerkennung der Theorie als grundlegend und bestimmend gegenüber der Methode ein.16 Daraus folgt, daß die materialistische Dialektik ihre heuristische Funktion gegenüber der Soziologie insofern erfüllt, als die Gesetze und Kategorien in Grundsätzen, Prinzipien, Forderungen und Regeln formuliert werden. Zweitens sind in der soziologischen Forschung methodologische Prinzipien der Logik zu beachten. Drittens ergeben sich methodologische Prinzipien für die soziologische Forschung aus dem Gegenstand und den Funktionen der Soziologie. Viertens werden die Prinzipien und Regeln soziologischer Forschung durch die spezifischen Eigenschaften und Wirkungsbedingungen soziologischer Forschungsobjekte determiniert. Die Anerkennung der Gesetze und Kategorien der materialistischen Dialektik als allgemeine methodologische Voraussetzungen und Prinzipien soziologischer Erkenntnis schließt ihre Adaption an den spezifisch soziologischen Erkenntnisprozeß und die spezifischen Formen und Qualitäten soziologischer Erkenntnisobjekte ein.17 Insbesondere gilt dies für die konstitutive wissenschaftliche Bedeutung des Begriffs „ökonomische Gesellschaftsformation", die darin besteht, daß von der Vielfalt und Mannigfaltigkeit der sozialen Erscheinungen und Prozesse zum Wesen, zur Gesetzmäßigkeit vorgedrungen werden kann. 18 Die methodologische Bedeutung dieses Grundbegriffs materialistischer Gesellschaftsbetrachtung für die Soziologie äußert sich in der Aufdeckung der sozialökonomischen Spezifik, d. h. der konkret-historischen, qualitativen Bestimmung der soziologischen Forschungsobjekte. Soziale Erscheinungen, Zustände, Beziehungen, Strukturen und Prozesse der sozialistischen Gesellschaft werden in ihrer Wesensbestimmtheit vor allem aus dem Charakter der sozialistischen Produktionsweise heraus erklärt. 19 16 17

18

19

Vgl. E. Hahn (Hrsg.), Grundlagen des historischen Materialismus, Berlin 1976, S. 58. Vgl. Materialistische Dialektik, Autorenkollektiv unter Ltg. von P. N. Fedossejew, a. a. O., S. 27. Vgl. W. Rüttler, Lenins Formationsanalyse der bürgerlichen Gesellschaft in Rußland vor 1905, Berlin 1978, S. 106. Vgl. E. Hahn (Hrsg.), Grundlagen des historischen Materialismus, a. a. O., S. 60/61.

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Methodologische Voraussetzungen

Die materialistische Dialektik für den soziologischen Erkenntnisprozeß zu erschließen erfordert, die untrennbare Einheit ontologischer und gnoseologischer Aspekte zu wahren, 20 d. h., die Untersuchung der objektiven Entwicklungs-, Struktur- und Funktionsgesetze der Gesellschaft und der Widerspiegelungsprozeß der objektiven sozialen Wirklichkeit sind im soziologischen Forschungsprozeß untrennbar miteinander verbunden. Lenin betonte daher auch die Einheit bzw. das Zusammenfallen von Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie. 21 Über die materialistische Dialektik als Wissenschaft, insbesondere als Entwicklungslehre, gibt es eine umfangreiche Literatur. Dabei wird die objektive Dialektik und deren Widerspiegelung in der subjektiven Dialektik (Dialektik der Erkenntnisresultate) von der Dialektik des Erkenntnisprozesses abgehoben. Dies ergibt sich aus der Nichtidentität von Denken und Sein. 22 Die Dialektik des Erkenntnisprozesses, insbesondere des sozialwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses, bedarf dringend der weiteren Erforschung. Dies gilt natürlich auch für den soziologischen Erkenntnisprozeß. Die materialistische Dialektik als Methodologie und Methode wird auf der Grundlage der Theorie der Dialektik vor allem über die Untersuchung der Dialektik konkreter Erkenntnisprozesse zu wesentlichen Struktur-, Bewegungs- und Entwicklungszusammenhängen erforscht. 23 In der D D R hat sich die marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie als Bestandteil der marxistisch-leninistischen Philosophie besonders profiliert. 24 Die Notwendigkeit, die objektive Dialektik über die subjektive Dialektik zu erschließen und für die Dialektik des Erkenntnisprozesses zu nutzen, hat zu bemerkenswerten Ergebnissen geführt. In der deutschsprachigen Literatur hat Segeth den Versuch unternommen, auf der Grundlage sowjetischer Publikationen (Kedrov, Kopnin, Rosental) die von Lenin formulierten „Elemente der Dialektik" zusammenzufassen und zu interpretieren. 25 Darüber hinaus gibt es wertvolle Abhandlungen zu wichtigen Prinzipien der materialistischen Dialektik als philosophischer Denkweise, die für die Methodologie und Methoden der marxistisch-leninistischen Soziologie wesentliche Anhaltspunkte vermitteln. 26 20

Vgl. Materialistische Dialektik, Autorenkollektiv unter Ltg. von P. N. Fedossejew, a. a. O.,

21

Vgl. W. I. Lenin, Philosophische Hefte, in: Werke, Bd. 38, Berlin 1968, S. 316.

S. 116. 22

Vgl. H. Hörz/K. F. Wessel (Hrsg.), Struktur, Bewegung, Entwicklung, Berlin 1985, S. 25.

23

Vgl. ebenda, S. 26.

24

Vgl. D. Wittich/K. Gößler/K. Wagner, Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie, a. a. O.

25

Vgl. W. Segeth, Materialistische Dialektik als Methode und Methodologie, a. a. O.

26

Vgl. G. Bartsch (Hrsg.), Philosophisch-methodologische Probleme der Gesellschaftswissenschaften,

Berlin

1982; W. Bahner/M. Buhr/H. Hörz/H. Horstmann/W. Neumann

Wissenschaftlichkeit — Objektivität — Parteilichkeit,

Berlin

1981; H. Horstmann

(Hrsg.), (Hrsg.),

Denkweise und Weltanschauung, Berlin 1981; G. Richter, Gesetzmäßigkeit und Geschichtsprozeß. Logisches und Historisches, Berlin 1985.

Prinzipien und Grundprobleme

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Dialektisch-materialistisches Vorgehen in der soziologischen Forschung setzt die Kenntnis der Gesetze, Kategorien und Prinzipien in ihrem wechselseitigen Zusammenhang voraus, insofern wenden wir uns daher nun zunächst der Darstellung der wichtigsten Gesetze, Kategorien und Prinzipien der materialistischen Dialektik zu. Erstens: Grundgesetze und Kategorien der materialistischen Dialektik als Entwicklungslehre Die Theorie der materialistischen Dialektik geht von der Tatsache aus, daß die Dinge und Erscheinungen der objektiven Realität wechselseitig miteinander verbunden sind, einander gegenseitig bedingen und in unaufhörlicher Bewegung und Entwicklung begriffen sind. Die dialektische Entwicklungstheorie ist daher untrennbar mit der Lehre von der materiellen Einheit der Welt verbunden. Die materielle Einheit der Welt kann nur als dialektische Mannigfaltigkeit und Vielfalt unterschiedlicher Bewegungsformen begriffen werden, die qualitativ verschiedenen Entwicklungsstufen angehören. Die Beziehungen zwischen diesen verschiedenen Bewegungsformen sind außerordentlich kompliziert und schließen die Koexistenz voneinander unabhängiger Dinge, Erscheinungen und Prozesse ein, die Gegenstand spezieller Wissenschaften sind. 27 Die von der Soziologie zu erforschenden sozialen Sachverhalte existieren nicht isoliert, sondern sind stets Bestandteil gesellschaftlicher Zusammenhänge. Soziales Verhalten, soziale Beziehungen, Bedingungen und Ereignisse sind vielschichtig vermittelt, insbesondere durch die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse; sie sind Elemente von Struktur-, Entwicklungs- und Funktionszusammenhängen. Ziel der soziologischen Forschung ist es daher, die Totalität der mannigfaltigen Beziehungen, in die der jeweilige Sachverhalt eingeordnet ist, in ihren wesentlichen Dimensionen zu erfassen, die Vermittlungsglieder aufzudecken und die spezifischen Eigenschaften, Merkmale, Seiten und Funktionen dieses Sachverhalts im sozialen Wirkungsmechanismus und Beziehungsgefüge zu bestimmen. Natürlich ist es eine Illusion anzunehmen, die Totalität der sozialen Beziehungen, Handlungen und Wirkungsbedingungen könnte empirisch vollständig abgebildet werden. Die objektive Dialektik der sozialen Wirklichkeit und die Abbildung durch Theorien und Forschungsmethoden stehen in einem Widerspruchsverhältnis: „Wir können die Bewegung nicht vorstellen, ausdrücken, ausmessen, abbilden, ohne das Kontinuierliche zu unterbrechen, ohne zu versimpeln, zu vergröbern, ohne das Lebende zu zerstückeln, abzutöten. Die Abbildung der Bewegung durch das Denken ist immer eine Vergröberung, ein Abtöten — und 27

Vgl. Materialistische Dialektik, Autorenkollektiv unter Ltg. von P. N . Fedossejew, a. a. O., S. 3 0 - 3 2 .

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Methodologische Voraussetzungen

nicht nur die Abbildung durch das Denken, sondern auch durch die Empfindung, und nicht nur die Abbildung der Bewegung, sondern auch die jedes Begriffes. Und darin liegt das Wesen der Dialektik." 28 Dieses Widerspruchsverhältnis muß bei jeder soziologischen Untersuchung konkret aufgelöst werden, denn wie Marx im „Kapital" schreibt: „Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden." 29 Weiter ist zu beachten, daß die Wirkungsbedingungen den jeweiligen sozialen Sachverhalt mit unterschiedlicher Intensität beeinflussen, es direkte und indirekte objektive und subjektive Vermittlungsstufen gibt. Eine der sozialen Qualität des Untersuchungsobjekts angemessene Betrachtung erfordert daher, auch außersoziale Zusammenhänge, Faktoren, Beziehungen und Bedingungen zu berücksichtigen. Wesentlich ist vor allem, die systeminternen Zusammenhänge, in die der jeweilige soziale Sachverhalt eingeordnet ist, aufzudecken. Hauptziel der Forschung ist die Aufdeckung der gesetzmäßigen Zusammenhänge und Verflechtungen in der sozialen Wirklichkeit. So ist beispielsweise die Bestimmung der sozialen Qualität bzw. des sozialen Profils einer Klasse oder sozialen Schicht nur innerhalb des strukturellen Beziehungsgefüges zwischen den Klassen und Schichten der Gesellschaft möglich. Gleiches gilt für die Angehörigen der Klassen und sozialen Schichten. Daraus resultiert unter anderem das methodologische Prinzip soziologischer Forschung, das Individuelle stets auf das Soziale zurückzuführen. Allerdings ist das gesellschaftliche Eingeordnetsein eines Individuums bzw. einer sozialen Gruppe nicht statisch zu sehen. Es wird bestimmt durch den Grad der Subjektivität, durch Qualität und Ausmaß gesellschaftliche Verhältnisse bildenden sozialen Handelns, d. h. die Individualität hat einen eigenständigen Wert. Was für die Gesellschaft insgesamt gilt, daß sie als lebendiger sich entwickelnder Organismus begriffen werden muß, gilt auch für die soziologische Analyse sozialer Sachverhalte; ihre Qualität und Existenzweise, ihre Struktur und Funktionsweise können nur in Kenntnis ihres historischen Gewordenseins verstanden werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß im Werdegang des sozialen Sachverhalts unterschiedliche Wirkungsbedingungen existieren, die den Grad der Veränderung entscheidend beeinflussen. Vor allem aber auch dem Sachverhalt innewohnende Elemente der Selbstbewegung haben Einfluß auf Entwicklungsrichtung, Entwicklungstempo und Entwicklungstendenzen. Die Beantwortung der Frage nach dem historischen Gewordensein ist Voraussetzung für die Erkundung und Klärung der Entwicklungsperspektive. 28 29

W. I. Lenin, Philosophische Hefte, in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 246. K. Marx/F. Engels, Das Kapital, Erster Band, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (im folgenden MEW), Bd. 23, Berlin 1962, S. 27.

Prinzipien und Grundprobleme

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Bei der soziologischen Erforschung der sozialen Wirklichkeit ist die Bestimmung der Gerichtetheit der Entwicklung wichtig. Zwar ist die allgemeine Richtungstendenz der Gesellschaft und ihrer Teilbereiche die Höherentwicklung, d. h. der gesellschaftliche Fortschritt. So ist beispielsweise die Höherentwicklung der Klassen und Schichten im Sozialismus Hauptobjekt der Sozialstrukturforschung. Sozialstrukturforschungen über den Kapitalismus haben indessen der Tatsache Rechnung zu tragen, daß es Klassen und Schichten gibt, die sich im Aufstieg befinden (Arbeiterklasse, Intelligenz), aber auch Klassen und Schichten gesellschaftlichen Niedergangs (Bourgeoisie, Adel). Aber selbst innerhalb dieser „großen" Entwicklungsrichtungen gibt es eine Vielfalt und Mannigfaltigkeit in der Gerichtetheit gesellschaftlicher Entwicklungen (Progreß, Regreß, Veränderung, Reproduktion, Stillstand, Deformation, Wiederholung etc.). Auch die Ermittlung der Gerichtetheit gesellschaftlicher Entwicklung im Sozialismus ist nur in historischen Dimensionen möglich. Wobei zu beachten ist, daß die Gerichtetheit der Entwicklung gesellschaftlicher Teilbereiche primär durch die Grundtendenzen des gesellschaftlichen Fortschritts bestimmt wird. Unterschiedliche Entwicklungstempi zwischen den gesellschaftlichen Teilbereichen sind zwar möglich, dennoch bestimmt die proportionale planmäßige Entwicklung der Gesamtgesellschaft Entwicklungsrichtung und Entwicklungstempo der Teilbereiche. Insgesamt sind die Entwicklungsrichtungen und Entwicklungstempi der verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche widersprüchlicher Natur. Zu schnelle Entwicklung bzw. zu langsame Entwicklung eines Bereiches kann zu Disproportionen führen. Gleiches gilt bezüglich der Entwicklung von Klassenangehörigen, Gemeinschaftsangehörigen, Gruppenangehörigen etc. Konkret-historische soziologische Untersuchungen sind daher vonnöten, um die spezifische soziale Qualität sozialer Sachverhalte hinreichend bestimmen zu können. Das Wesen der materialistischen Dialektik als allgemeiner Theorie des Zusammenhangs, der Bewegung und Entwicklung kommt in den drei Grundgesetzen: Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative und umgekehrt, Einheit und Kampf der Gegensätze sowie Negation der Negation zum Ausdruck. Jede gesellschaftliche Entwicklung — ergo auch jede Entwicklung eines sozialen Sachverhalts — ist durch die Einheit von quantitativen und qualitativen Veränderungen gekennzeichnet, diese resultieren selbst wiederum aus der Bewegung und Lösung der dialektischen Widersprüche. Zwar ist echter gesellschaftlicher Fortschritt mit qualitativen Veränderungen verbunden, er wird aber meist durch vorhergehende quantitative Veränderungen vorbereitet. Quantitative Veränderungen sind nur innerhalb bestimmter Grenzbereiche möglich, die bestimmte Entwicklungsstufen markieren. Nicht außer acht bleiben darf, daß es verschiedene Übergangsformen zu einer neuen Qualität gibt; diese sind abhängig von systeminternen und systemexternen Bedingungen. Sowohl quantitative als auch qualitative soziale Veränderungen sind an soziales Handeln gebunden.

14

Methodologische Voraussetzungen

Für die soziologische Forschung ist der Übergang von der quantitativen Bestimmtheit eines sozialen Sachverhalts durch meßbare äußere Prozesse, Erscheinungen und Merkmale zu Aussagen über die qualitative Bestimmtheit — die wesentlichen Eigenschaften eines sozialen Sachverhalts — von entscheidender Bedeutung. Für die soziologische Triebkraftforschung ist zweifellos die Bestimmung der qualitativen Beschaffenheit von sozialen Strukturen, Beziehungen, Organisat i o n - und Kooperationsformen, Funktionsmechanismen etc. von eminenter Bedeutung. Aber auch die Ermittlung des Strukturniveaus, Organisationsniveaus, Kooperationsniveaus, Funktionsniveaus vermag wichtige soziologische Informationen über das Profil sozialer Sachverhalte zu erbringen, insbesondere hinsichtlich eines sich andeutenden Abbrechens der Allmählichkeit quantitativer Veränderungen und des Übergangs zu einer neuen sozialen Qualität (dialektischer Sprung). Um einen sozialen Sachverhalt wirklich erklären zu können, muß man die ihm innewohnenden Widersprüche als Quelle und Triebkraft der Entwicklung aufdekken. Damit ist nach Lenin der Kern der Dialektik angesprochen. 30 Es genügt nicht, die Merkmalsstruktur des Sachverhalts lediglich zu beschreiben, man muß zur Erklärung seiner Qualität vordringen. Die verschiedenen Merkmale, Seiten, Tendenzen, Kräfte etc. stehen in einem dialektischen Beziehungszusammenhang. Dieser ist nicht statischer Natur, die verschiedenen Seiten, Eigenschaften bzw. Tendenzen innerhalb eines sozialen Sachverhalts — man kann im allgemeinen Sinne von Elementen eines sozialen Systems sprechen — haben einen unterschiedlichen Prägungsgrad (Einflußgrad) auf die ganzheitliche Qualität jedes sozialen Systems. Dialektische Widersprüche innerhalb sozialer Erscheinungen, Beziehungen, Prozesse und Strukturen bestimmen die Qualität und das Wesen dieser sozialen Sachverhalte. Der Charakter der dialektischen Widersprüche in der sozialen Wirklichkeit ist formationsspezifisch bestimmt; Widersprüche drücken sozialökonomische Qualitäten aus. So ist der dialektische Widerspruch zwischen sozialer Gleichheit und sozialer Differenziertheit im Sozialismus vor allem durch das historisch-konkrete Entwicklungsniveau der gesellschaftlichen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse (vor allem der Eigentumsverhältnisse) und den daraus resultierenden sozialen Existenz- und Entwicklungsbedingungen für alle Individuen bestimmt. Das dadurch erreichte Maß an sozialer Gleichheit, welches vor allem soziale Sicherheit und günstige Bedingungen für die allseitige Persönlichkeitsentwicklung einschließt, bildet die entscheidende Grundlage für die weitere Ausprägung der gemeinsamen Grundinteressen der Klassen, Schichten, sozialen Gruppen und Individuen. Die den sozialen Gruppen und Individuen zugrunde liegenden Unterschiede in den objektiven konkreten Existenz- und Entwicklungsbedingungen, z. B. im Platz in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, in den Arbeits- und Lebensbedin-

30

Vgl. W. I. Lenin, Philosophische Hefte, in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 339.

Prinzipien und Grundprobleme

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gungen, im Arbeitsinhalt, im Qualifikationsniveau, in den Einkommensverhältnissen etc., äußern sich aber auch in besonderen Bedürfnissen und Interessen. Aus der sozialen Differenziertheit ergeben sich Interessenunterschiede, die sich natürlich auch im unterschiedlichen sozialen Verhalten äußern. Auf der Erscheinungsebene der sozialen Realität sind es aufeinander bezogene, miteinander wirkende, von unterschiedlichen individuellen Interessen geleitete, miteinander ringende bzw. mitunter gegeneinander agierende soziale Individuen, also Angehörige von sozialen Klassen, Gemeinschaften bzw. Gruppen. Jedes einzelne Individuum erhält seine spezifische soziale Qualität, woraus eine bestimmte Qualität des sozialen Handelns folgt, durch die spezifische Art und Weise des Eingeordnetseins in die Klasse, Gemeinschaft oder Gruppe. Diese spezifische Qualität wird bestimmt durch die Qualität der sozialen Beziehungen bzw. Verhältnisse. Jedes Individuum ist — nach Maßgabe seiner Möglichkeiten, seiner Interessen, seiner Lebensbedingungen, seiner Fähigkeiten und individuellen Voraussetzungen — Mitgestalter dieser Beziehungen bzw. Verhältnisse. Dabei ist zu beachten, daß jedes Individuum wiederum in sich selbst widersprüchlich ist (Beispiel: Bewußtsein und Handeln). Die Handlungsmöglichkeiten sozialer Subjekte innerhalb einer Gruppe, Gemeinschaft oder Klasse sind immer an bestimmte soziale Bedingungen gebunden, Bedingungen, die diesen Gruppen, Gemeinschaften bzw. Klassen immanent sind, aber auch an darüber hinausgehende Bedingungen, von denen die formationsspezifischen, den Produktionsverhältnissen innewohnenden materiellen Bedingungen die ausschlaggebenden sind. Es bedarf daher einer sorgfaltigen Analyse, um widerstreitende objektive und subjektive Elemente hinsichtlich ihres Wirkungsgrades auf die gesellschaftliche Entwicklung als die entscheidenden Triebkräfte gesellschaftlicher Entwicklung eines sozialen Systems bzw. sozialen Sachverhalts bestimmen zu können. Gesellschaftliche Entwicklung verläuft nicht gleichförmig, die Art und Weise des sozialen Fortschritts, die Durchsetzung des Neuen gegen das Alte vollzieht sich außerordentlich mannigfaltig — kontinuierlich und diskontinuierlich. Höherentwicklung sozialer Klassen, Schichten und Gruppen schließt immer auch die Erhaltung, Bewahrung, Wiederholung und Reproduktion bestimmter Merkmale, Bedingungen und Funktionen sozialer Sachverhalte ein. Sozialer Fortschritt kann aber auch mit Rückschritten oder mit Stagnation auf bestimmten Teilgebieten verbunden sein; er ist also in sich selbst widersprüchlich. Sozialer Fortschritt bedeutet insgesamt sowohl Uberwindung des historisch Uberlebten und Herausbildung des Neuen als auch Bewahrung des Positiven — augenscheinlich kommt dies z. B. bei sozialen und kulturellen Traditionen zum Ausdruck. Zweitens: Kategorien und Prinzipien der Dialektik des Erkenntnisprozesses Die Dialektik des Erkenntnisprozesses, d. h. die Anwendung der Gesetze, Kategorien und Prinzipien der materialistischen Dialektik, setzt die Kenntnis der sub-

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Methodologische Voraussetzungen

jektiven Dialektik voraus, denn die subjektive Dialektik stellt das Wesen der Erkenntnisresultate des gesellschaftlichen Erkenntnis- und Abbildprozesses der objektiven sozialen Wirklichkeit dar. Die Anwendung dieser Erkenntnisse auf konkrete soziologische Erkenntnisprozesse ist indessen selbst dialektisch-widersprüchlich und schließt dialektische Beziehungen zwischen Dialektik, Logik ünd soziologischer Theorie und Methodologie ein. Die Dialektik des soziologischen Erkenntnisprozesses ist durch objektive und subjektive Momente bestimmt — soziologische Erkenntnis muß daher bemüht sein, die Dialektik von Subjektivität und Objektivität zu beherrschen. Natürlich ist der soziologische Erkenntnisprozeß vor allem vom spezifischen Erkenntnisgegenstand und der praktischen Aneignung der sozialen Wirklichkeit abhängig. Aus dieser Tatsache ergibt sich die grundlegende Bedeutung der gesellschaftlichen Praxis für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß. Darüber hinaus spielen aber auch andere Faktoren eine Rolle, wie die theoretischen und methodischen Voraussetzungen, die Qualität der Wissenschaftsleitung, die Praxisbeziehungen, der wissenschaftliche Meinungsstreit, die Rolle von Wissenschaftlerpersönlichkeiten oder wissenschaftlichen Schulen, die Qualität und G r ö ß e von Forschungskollektiven, die technischen Voraussetzungen etc. Der soziologische Erkenntnisprozeß ist also polydeterminiert. Als wesentliche Ebenen der Polydetermination werden genannt: Gegenstandsdetermination, Resultatdetermination, Individuendetermination, Gruppendetermination, Arbeitsdetermination und Vergegenständlichungsdetermination. 3 1 In der weiteren Abhandlung konzentrieren wir uns zunächst auf die Darstellung der methodischen Bedeutung von Prinzipien, Gesetzen und Kategorien der materialistischen Dialektik für den soziologischen Erkenntnisprozeß. — Prinzip der Einheit von Theorie und Praxis Gesellschaftliche Praxis ist materielle, gegenständliche und revolutionär-umgestaltende Tätigkeit der gesellschaftlich organisierten Menschen und insofern auch Quelle, Triebkraft, Ziel und Kriterium soziologischer Erkenntnis. An der gesellschaftlichen Praxis orientierte soziologische Forschung zu betreiben heißt vor allem, die gesellschaftliche Wirksamkeit soziologischer Forschung zu erhöhen. „Sich den Reichtum der gesellschaftlichen Praxis zu erschließen ist Voraussetzung und G r u n d lage für die weitere Entwicklung unserer Theorie — einer Theorie, die der Praxis den Weg zu erhellen vermag." 3 2 Dabei kommt der Soziologie in besonderem M a ß e 31

32

Vgl. J. Erpenbeck, Determinanten der Wissenscnaftsentwicklung (DWE) — ein Forschungsprogramm, in: DZfPh, 1/1986, S. 28—31. Gesetzmäßigkeiten unserer Epoche — Triebkräfte und Werte des Sozialismus. Diskussionsreden auf der Gesellschaftswissenschaftlichen Konferenz des ZK der SED am 15. und 16. Dezember 1983 in Berlin, Berlin 1984, S. 9.

Prinzipien und Grundprobleme

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die Aufgabe zu, auf der Grundlage fundierten empirischen Materials, den aktuellen Verlauf sozialer Prozesse zu erforschen. Die Beziehungen zwischen soziologischer Theorie und gesellschaftlicher Praxis lassen sich thesenartig wie folgt bestimmen: 1. Die gesellschaftliche Praxis ist Triebkraft soziologischer Erkenntnis, indem sie im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß stets neue Problemsituationen erzeugt. 2. Die gesellschaftliche Praxis ist entscheidendes Objekt soziologischer Forschung. Die Bestimmung des jeweiligen Praxisbereichs, des zu untersuchenden Ausschnitts aus dem materiellen Lebensprozeß hat von den konkret-historischen Interessen der Arbeiterklasse und der mit ihr verbundenen Klassen und Schichten auszugehen — diese bestimmen mithin auch Richtung und Ziel der soziologischen Forschung. 3. Die gesellschaftliche Praxis ist das entscheidende Wahrheitskriterium für die gewonnenen theoretischen Erkenntnisse. Die Praxis ist reicher als jede Theorie, sie hat konkret-historische Entwicklungsstufen und umfaßt den gesamten materiellen Lebensprozeß. 4. Aus der gesellschaftlichen Praxis erwachsen ständig neue Bedürfnisse an die Entwicklung der soziologischen Theorie. Die gesellschaftliche Praxis ist daher auch ein Kriterium für die Güte oder Qualität der Soziologie bzw. ihres Theoriegebäudes. 5. Theorie und Praxis stehen in produktivem Widerspruchsverhältnis; die sich entwickelnde gesellschaftliche Praxis verlangt einerseits ständig nach neuen theoretischen Lösungen, andererseits ist die Überführung neuer theoretischer Erkenntnisse in die Praxis ein Prozeß, der Engagement und Durchsetzungsvermögen verlangt sowie Praxisverbundenheit und Praxiskenntnis voraussetzt. 6. Die Beziehungen zwischen soziologischer Theorie und gesellschaftlicher Praxis werden unter anderem über empirisch-soziologische Untersuchungen vermittelt. Empirisches Wissen vermag theoretisches Wissen zu begründen, wenn es den objektiv-realen sozialen Sachverhalten entspricht. Empirisch ermittelte wissenschaftliche Tatsachen sind gesicherte Widerspiegelungs formen von Struktur- und Entwicklungselementen der gesellschaftlichen Praxis. Andererseits ist es die Aufgabe soziologischer Theorien, ermittelte Tatsachen zu erklären, d. h., sie als Bestandteile allgemeiner, notwendiger und wesentlicher Zusammenhänge der sozialen Wirklichkeit nachzuweisen. 7. Die Soziologie ist bzw. die Soziologen sind durch ihre auf die Veränderung und Entwicklung der Gesellschaft gerichtete Forschung in die gesellschaftliche Praxis unmittelbar integriert. Der Nützlichkeitsaspekt der Soziologie umfaßt die Verwertung der Forschungsergebnisse und zeigt sich insbesondere in der Ausarbeitung von wissenschaftlich begründeten Entscheidungsvorschlägen für die Sozial-

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politik des sozialistischen Staates. 3 3 Die Anwendbarkeit soziologischer Erkenntnisse in vielfaltigen Formen macht die Soziologie zu einer nützlichen Wissenschaft. 3 4 Die Erforschung der konkret-historischen Dialektik von gesellschaftlicher Vergegenständlichung und Aneignung der sozialen Wirklichkeit durch das soziale Handeln der Individuen, vor allem in F o r m praktischer Tätigkeit (Produktionstätigkeit und revolutionär-umgestaltende Tätigkeit) als wesentlichem und notwendigem Moment der gesellschaftlichen Praxis, rückt im Prozeß zunehmender Vergesellschaftung mehr und mehr in den Mittelpunkt soziologischer Forschung, indem zunehmend ein wissenschaftlicher Beitrag geleistet wird, um Entwicklungsstrategien für die künftige Gestaltung der gesellschaftlichen Praxis auszuarbeiten. Die Soziologie hat gegenwärtig die wichtige Aufgabe, soziale Kriterien für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt auszuarbeiten, soziale Ziele für die ökonomische Entwicklung zu bestimmen und soziale Bedingungen und Triebkräfte ökonomischen Wachstums zu erforschen. 3 5 Nicht zuletzt ist es eine wichtige Aufgabe für die Soziologie, den praktisch-politischen und theoretisch-ideologischen K a m p f der Arbeiterklasse und aller progressiven politischen Kräfte für gesellschaftlichen Fortschritt und gegen Restauration historisch-überlebter gesellschaftlicher Zustände und Verhältnisse durch wirksame Beiträge zu unterstützen. Besondere Bedeutung erlangen soziologische Analysen von Ursachen, Hintergründen, Zielen und Folgen von Kriegen. 3 6 — Prinzip der Objektivität und Parteilichkeit Objektivität, Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit sind einander bedingende Merkmale soziologischer Forschung. Die Parteilichkeit ist ein immanenter Bestandteil der marxistisch-leninistischen Soziologie, weil es ihr immer um die Aufdeckung des mit den objektiven Interessen der Klassen «und Schichten der sozialistischen Gesellschaft zusammenfallenden Wirkens gesellschaftlicher Entwicklungsgesetze geht. Damit ist der entscheidende Grund f ü r die Einheit von Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit gegeben, sie wurzelt im objektiv-realen Geschichtsprozeß und ist auf Veränderung bzw. Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse ausgerichtet. Wir haben bereits daraufhingewiesen, daß die Erforschung der gesellschaftlichen Interessen, da diese wesentlich das soziale Handeln der Indi33

Vgl. R. Weidig/G. Winkler, Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik — Errungenschaft und Triebkraft des Sozialismus, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1985, Berlin 1985, S. 29.

34

Vgl. R. Stollberg, Warum und wozu Soziologie, a. a. O., S. 87—96.

35

Vgl. R. Weidig/G. Winkler, Soziologie und gesellschaftliche Praxis, in: Jahrbuch für Soziologie

36

Vgl. R. Weidig/G. Winkler, Soziologie und Frieden, Berlin 1984, S. 1 (Manuskriptdruck).

und Sozialpolitik 1982, Berlin 1982, S. 30—35.

Prinzipien und Grundprobleme

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viduen und sozialen Gruppen determinieren, eine vorrangige Aufgabe soziologischer Forschung ist. „Gesellschaftliche Interessen widerspiegeln . . . gesetzmäßige Existenzbedingungen gesellschaftlicher Subjekte und — als Interessenvielfalt — die Unterschiede dieser Bedingungen." 37 Innerhalb dieser Interessenvielfalt gibt es übergreifende Interessen — wie das Interesse an der Sicherung des Friedens, an der Festigung des Sozialismus, an der Verwirklichung der historischen Mission der Arbeiterklasse, an der Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts sowie ander ökonomischen und sozialen Entwicklung. Auf Grund ihrer spezifischen Klasseninteressen haben die gesellschaftlichen Klassen ein unterschiedliches Verhältnis zu den Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft, eine unterschiedliche Haltung zum gesellschaftlichen Fortschritt. Entsprechend ihrer historischen Mission (Durchführung der sozialistischen Revolution und Errichtung der kommunistischen Gesellschaft) ist die Arbeiterklasse konsequent am gesellschaftlichen Fortschritt interessiert — ihre objektiven Klasseninteressen fallen mit dem Wirken der gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze zusammen, die auf Überwindung historisch überholter gesellschaftlicher Zustände und Verhältnisse drängen. Das revolutionäre Herangehen der Arbeiterklasse an die soziale Wirklichkeit ist daher theoretisch konsequent, historisch untermauert und auf gesellschaftlichen Fortschritt ausgerichtet.38 Wissenschaftliche Interessenerkenntnis und parteiliche Interessendurchsetzung bedingen einander. „Die Arbeiterklasse kann sich nur parteilich verhalten, ihre Interessen verwirklichen, wenn sie sich wissenschaftlich verhält, und sie verhält sich nur dann wissenschaftlich, wenn sie ihrer objektiven, historischen Mission bewußt nachkommt." 39 Für den marxistisch-leninistischen Soziologen gibt es keine sozialen Erkenntnisschranken, seine Herangehensweise bei der Erforschung sozialer Erscheinungen und Prozesse impliziert eine politisch-ideologische Grundhaltung, die sich an der historischen Mission der Arbeiterklasse orientiert und auf der Einheit von Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit beruht. Im Unterschied zur Arbeiterklasse verhält sich die Bourgeoisie der Gegenwart konservativ zur gesellschaftlichen Entwicklung, sie ist an der Erhaltung und Restauration der kapitalistischen Gesellschaft interessiert. Dies widerspiegelt sich auch in Theoriekonzepten spätbürgerlicher Soziologen neopositivistischer Prägung, wie etwa bei K. R. Popper, der behauptet, in der besten Welt zu leben, die je exi-

37 38

39

3

G. Stiehler, Worauf unsere Freiheit beruht, a. a. O., S. 23. Vgl. M. Buhr, Wissenschaftlichkeit — Parteilichkeit, in: W. Bahner/M. Buhr/H. Hörz/ H. Horstmann/W. Neumann (Hrsg.), Wissenschaftlichkeit — Objektivität — Parteilichkeit, a. a. O., S. 24. H. Horstmann (Hrsg.), Denkweise und Weltanschauung, a. a. O., S. 15. Soziolog. Forschung

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Methodologische Voraussetzungen

stierte 40 oder bei H. Schoeck, der den „Nachweis führte", daß Maßnahmen zur Minderung sozialer Unterschiede „freiheitliche Grundordnung" und „Marktwirtschaft" zerstören würden und der menschlichen Natur zuwiderliefen. 41 Diese Aussagen spätbürgerlicher Soziologen leugnen nicht nur den gesellschaftlichen Fortschritt, sondern rechtfertigen die bestehenden imperialistischen Verhältnisse. Sie offenbaren Parteilichkeit ohne Wissenschaftlichkeit. Der Begriff „Objektivität" wird von Lenin in drei verschiedenen Bedeutungen verwendet: 1. als Eigenschaft der Dinge und Sachverhalte außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein zu existieren; 42 2. als Eigenschaft wahrer Aussagen; 43 3. als besondere Art und Weise des Herangehens an den Erkenntnisgegenstand und seiner Betrachtung in seinen Zusammenhängen, seiner innerlichen Widersprüchlichkeit etc. 44 In dieser dritten Bedeutung sind Objektivität und Wissenschaftlichkeit identisch. Die Forderung nach Objektivität in der wissenschaftlichen Erkenntnis meint vor allem, die sozialen Sachverhalte in ihrer wesensbestimmenden Qualität zu erfassen, die Wirklichkeit darzustellen, wie sie ist, und nicht wie sie sein sollte, und die dafür benötigten Instrumentarien und Mittel bewußt einzusetzen. Kriterium für die gewonnenen soziologischen Erkenntnisse ist die gesellschaftliche Praxis. Die ständige Überprüfung wissenschaftlicher Aussagen in der gesellschaftlichen Praxis ist ein Grundmerkmal wissenschaftlicher Tätigkeit. Objektive wissenschaftliche Erkenntnis realisiert sich in der Wahrheitssuche, d. h. in der zielorientierten und methodisch gesicherten Herstellung einer Übereinstimmung des wissenschaftlichen Abbildes mit dem Abgebildeten (sozialer Sachverhalt). Die von der Soziologie zu erforschenden sozialen Sachverhalte sind im sozialen Wirkungsmechanismus, als Struktur- und Entwicklungselemente, als Teil eines Ganzen, in ihren mannigfaltigen Beziehungen zu anderen sozialen Sachverhalten, in der Einheit ihrer Gegensätze, als Verursachtes und Wirkendes, als Gewordenes und Werdendes, in ihrer Einheit als Qualität und Quantität zu analysieren und darzustellen. Für wissenschaftliche Objektivität ist die innere Konsistenz von Theorie, Methode und Praxis als Wahrheitskriterium entscheidend. „ Wahrheit ist die praktisch überprüfte Adäquatheitsrelation zwischen objektiv-realen Prozessen (Erschei-

40

Vgl. Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 2. Aufl., Neuwied—Berlin(West) 1970, S. 141.

41

Vgl. H. Schoeck, D a s Recht auf Ungleichheit, M ü n c h e n - B e r l i n ( W e s t ) 1979, S. 17.

42

Vgl. W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, Berlin 1968, S. 260.

43

Vgl. ebenda, S. 116.

44

Vgl. W. 1. Lenin, Philosophische Hefte, in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 212.

Prinzipien und Grundprobleme

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nungen) und Erkenntnisresultaten (Begriffen und Theorien), ausgedrückt in Termini, Aussagen und Aussagensystemen." 45 Mitunter wird die Parteilichkeit nur auf die Bewertung wissenschaftlicher Erkenntnisse bzw. empirisch ermittelter Tatsachen bezogen — Parteilichkeit ist indessen auch für die Auswahl der Forschungsobjekte, die Ausarbeitung des Forschungsprogramms und für die Realisierung des Forschungsprogramms, d. h. für den gesamten Forschungsprozeß, relevant. Wissenschaftliche Parteilichkeit gibt der soziologischen Forschung Orientierung und Richtung. Im Verzicht auf theoretische Ausgangspositionen, und sei es in Form hypothetischer Ausgangsvorstellungen, äußert sich im Grunde eine objektivistische Denkhaltung, die die soziale Wirklichkeit voraussetzungslos zu analysieren trachtet und in orientierungsloser Datensammlung verflacht. Im gesamten soziologischen Forschungsprozeß ist das Prinzip der Einheit von Objektivität und Parteilichkeit konsequent zu verwirklichen. Dazu gehören die theoretische und weltanschauliche Fundierung des Forschungsprogramms, die Beachtung von Gütekriterien in der Methodenanwendung bei der Gewinnung intersubjektiv prüfbarer Daten und die Überführung der Forschungsergebnisse in die gesellschaftliche Praxis (richtige Darstellung, verantwortungsbewußte Information und praktikable Vorschläge). — Prinzip der Einheit von Historischem und Logischem Um das Wesen eines sozialen Sachverhalts zu erfassen, ist es notwendig, seinen realen historischen Herausbildungsprozeß bzw. Entwicklungsprozeß theoretisch zu reproduzieren. Dies schließt die Erforschung der den jeweiligen Entwicklungsetappen immanenten konkret-historischen Bedingungen, Beziehungen und Strukturen ein. Das Historische ist der reale Entstehungs-, Herausbildungsprozeß gesellschaftlicher Verhältnisse. 46 Das Logische ist „die Widerspiegelung des Historischen in theoretischer Form . . . durch Abstraktion." 4 7 Die Einheit des Historischen und Logischen ist ein notwendiges methodologisches Prinzip, um zur Aufdeckung der miteinander verbundenen Entwicklungs-, Struktur- und Funktionsgesetze zu kommen. Sowohl die historische Methode als auch die logische Methode sind theoretische Methoden. „Die logische Methode dient der logisch-systematischen Darstellung eines sich entwickelnden Gegenstandes in seinen historisch entstandenen inneren und äußeren gesetzmäßigen Zu-

45

H. Hörz, Wahrheit und Wert wissenschaftlicher Erkenntnisse, a. a. O., S. 43.

46

Vgl. P. V. Kopnin, Dialektik, Logik, Erkenntnistheorie, Berlin 1970, S. 238.

47

Ebenda, S. 237.

3*

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Methodologische Voraussetzungen

sammenhängen und seiner gesetzmäßigen Perspektive." 48 Dem gegenüber wird das Wesen der historischen Methode wie folgt bestimmt: „Die historische Methode dient der folgerichtigen Darstellung der gesetzmäßigen Entstehung und Entwicklung eines sich entwickelnden Gegenstandes." 49 Die Einheit von Historischem und Logischem ist ein wichtiges Forschungsprinzip der Soziologie. Sie verlangt bei der Untersuchung sozialer Sachverhalte, die Geschichtswissenschaft heranzuziehen. Dies gilt besonders bei jenen Gegenständen soziologischer Forschung, die über mehrere Gesellschaftsformationen hinweg existent sind (Klassen, Schichten, soziale Gruppen, Parteien, Gemeinschaften, Kommunen etc.). Aber auch bei der soziologischen Erforschung von typisch sozialistischen Verhältnissen, Strukturen und Gemeinschaften ist dieses Prinzip konsequent anzuwenden, hat doch der Sozialismus selbst eine eigenständige Geschichte, dies gilt insbesondere für spezifisch sozialistische gesellschaftliche Erscheinungen und Prozesse (Beispiel: Aktivistenbewegung, Neuererbewegung). In der neueren erkenntnistheoretischen Literatur wird unter „Historischem die kognitive Erfassung der Geschichte realer Gegenstände und unter Logischem die kognitive Erfassung der Gesetzmäßigkeiten und des Systems gegebener realer Gegenstände" verstanden. 50 Logisches und Historisches sind demzufolge korrelative Begriffe, ihre heuristische Funktion dient der theoretischen Reproduktion gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse. In der Tat sind die Beziehungen, Elemente, Strukturen und Organisationsformen in ihrer Qualität nicht zu verstehen, wenn sie nicht als historisch entstandene, sich entwickelnde bzw. verändernde soziale Gebilde untersucht werden und auf die jeweilige Qualität der gesellschaftlichen Entwicklungsstadien gesellschaftlicher Verhältnisse und Strukturen bezogen werden (Beispiel: Niveau der Bewußtseinsentwicklung, der Bedürfnisstrukturen oder Lebensziele sozialer Gruppen in den verschiedenen Entwicklungsetappen der sozialistischen Gesellschaft). — Prinzip der Einheit von Analyse und Synthese Analyse und Synthese sind immanente und einander bedingende Bestandteile des soziologischen Forschungsprozesses, sie sind allen Phasen des soziologischen Forschungsprozesses zugehörig. Aufgabe der Analyse ist es, das jeweilige Forschungsobjekt in seine Teile oder Elemente aufzugliedern und dabei die wesentlichen Eigenschaften, Merkmale, Relationen und Wirkungsbedingungen von unwesentlichen zu trennen. Auf diese Weise kommt man zu einer differenzierten Betrach-

48 49 50

W. Segeth, Materialistische Dialektik als Methode und Methodologie, a. a. O., S. 318. Ebenda, S. 319. Vgl. D. Wittich/K. Gößler/K. Wagner, Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 483.

Prinzipien und Grundprobleme

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tung des zu untersuchenden Sachverhalts, weil Platz und Funktion der einzelnen Elemente innerhalb der Struktur des Ganzen bestimmt werden. Eine exakte Analyse sozialer Sachverhalte setzt theoretische Vorstellungen über die Ganzheit bzw. spezifische soziale Qualität des Untersuchungsobjektes voraus; mitunter geschieht dies in hypothetischer Form. Diese Voraussetzung gestattet es, den jeweiligen sozialen Sachverhalt in seinen wesentlichen Beziehungen, Wirkungsbedingungen und Existenzformen durchschaubar zu machen. Ohne Analyse keine Synthese und umgekehrt. 51 Die Analyse ist eine wichtige Grundlage für die Synthese, deren Aufgabe es wiederum ist, eine gedankliche Vereinigung der durch die Analyse zergliederten Teile, Elemente, Eigenschaften, Seiten, Merkmale, Beziehungen und Wirkungsbedingungen des Untersuchungsobjekts vorzunehmen. Indessen handelt es sich hierbei nicht um eine einfache Zusammensetzung der Elemente, sondern um eine theoretische Reproduktion der Mannigfaltigkeit und Vielfalt der Bestimmungsmerkmale, Beziehungen und Wirkungsbedingungen des Untersuchungsobjekts. Diese Reproduktion des Ganzen impliziert eine Anreicherung des Wissens durch die mittels Analyse gewonnenen Erkenntnisse über Strukturbeziehungen und Bestandteile des Objektes. Umgangssprachlich ist der Begriff der Analyse weit verbreitet; häufig wird Analyse mit Untersuchung oder Forschung gleichgesetzt, etwa wenn von Sozialstrukturanalysen, Persönlichkeitsanalysen, Motivationsanalysen, Bewußtseinsanalysen, Zustandsanalysen oder Prozeßanalysen die Rede ist. Dies ist dann berechtigt, wenn der analytische Aspekt überwiegt. Ohne gründliche Analysen, insbesondere empirische Analysen, bleiben der Soziologie neue Erkenntnisse verschlossen; indessen ermöglichen erst Synthesen, die Verallgemeinerungen, Generalisierungen und theoretische Erklärungen einschließen, wirkliche soziologische Erkenntnis. Eine strenge Abfolge von Analyse und Synthese gibt es nicht, beide Erkenntnisprinzipien durchdringen einander und sind bei soziologischen Untersuchungen komplizierter Untersuchungsobjekte wiederholt anzuwenden. Durch ihre analytische Forschungsweise hat die Soziologie einen spezifischen Zugang zur Analyse der sozialen Wirklichkeit erschlossen und einen Fundus empirischen Materials erbracht, dessen Auswertung auch für andere Gesellschaftswissenschaften von nicht geringem Nutzen ist, um den Verlauf sozialer Prozesse, die Entwicklung sozialer Strukturen und die Qualität sozialer Erscheinungen gründlich und allseitig bestimmen zu können. Andererseits ergeben sich für die Soziologie aus der Analyse von Forschungsergebnissen anderer Wissenschaften, von Statistiken und Dokumenten wichtige Informationen für theoretische Verallgemeinerungen. Analyseobjekt soziologischer Forschung sind also nicht nur die in der sozialen Wirklichkeit ablaufenden objektiven sozialen Prozesse, sondern auch 51

Vgl. F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: MEW, Bd. 20, Berlin 1962, S. 39.

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die Informationssysteme, Informationsträger bzw. Informationsspeicher im weitesten Sinne. — Prinzip des Fortschreitens von den Erscheinungen zum Wesen Die marxistisch-leninistische Soziologie geht von dem allgemeinen philosophischen Grundsatz von der Erkennbarkeit der objektiven sozialen Wirklichkeit und der ihr innewohnenden Gesetzmäßigkeiten aus. Der Dialektik des soziologischen Erkenntnisprozesses ist indessen der Widerspruch zwischen der außerordentlichen Mannigfaltigkeit und Vielfalt der sich entwickelnden und verändernden sozialen Wirklichkeit und der Begrenztheit der objektiven und subjektiven Erkenntnismittel immanent. Die Erkenntnisfahigkeit bzw. das Erkenntnisvermögen jedes Soziologen bzw. jeder soziologischen Forschungsinstitution ist begrenzt. Dieser Widerspruch kann durch wohlabgestimmte Forschung, durch Kooperation und Arbeitsteilung im nationalen und internationalen Rahmen partiell gelöst werden. Indessen ergeben sich im Prozeß des Fortschreitens von den Erscheinungen zum Wesen vielfaltige Probleme. Sie betreffen sowohl die Erweiterung als auch die Vertiefung soziologischer Erkenntnis. Die Notwendigkeit erweiterter soziologischer Erkenntnis ergibt sich aus der Tatsache, daß Sachverhalte sich sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht verändern. Daraus folgt, daß sich die Objektbereiche soziologischer Forschung nicht nur erweitern, sondern auch wandeln, sich mit den Objektbereichen anderer Gesellschaftswissenschaften überlagern und neue Lösungsbedürfnisse für praktische Probleme entstehen. Das betrifft auch die Dialektik von Erscheinung und Wesen. Mit der Entwicklung sozialer Sachverhalte werden einerseits ihre Erscheinungsformen vielfaltiger, andererseits findet auch Veränderung und Entwicklung des Wesens sozialer Erscheinungen statt. Des weiteren entwickeln und verändern sich äußere Determinationszusammenhänge. Die Möglichkeit vertiefter soziologischer Erkenntnis ergibt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, daß die Soziologie als Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten sich zu einer systematischen, theoretisch fundierten und nützlichen Disziplin entwickelt hat. Wesenserkenntnis selbst kann nur auf der Grundlage gesicherter theoretischer Kenntnisse erfolgen, dies schließt die Verfügbarkeit über theoretische Methoden ein. Den hohen Stellenwert, den die Soziologie in unserem Lande genießt, verdankt sie nicht zuletzt der Tatsache, daß sie die Vielfalt und widersprüchliche Formbestimmtheit sozialer Sachverhalte nicht nur beschrieben hat, sondern auf der Grundlage von Ursachenanalysen auch entsprechende Lösungsvorschläge zur Planung und Leitung der sozialen Entwicklung unterbreitet. Natürlich sind die wissenschaftlichen Kenntnisse über die realen Entwicklungsprozesse unserer Gesellschaft, über Strukturentwicklungen, soziale Zustände und Situationen durchaus unterschiedlich. Es gibt auch dem Schein der sozialen Wirklichkeit verhaftete, d. h. wesentliche soziale Zusammenhänge verschleiernde bzw.

Prinzipien und Grundprobleme

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aus dem Zusammenhang gerissene Datendarstellungen, die für theoretische Verallgemeinerungen unbrauchbar sind und daher nicht praxiswirksam werden. Andererseits wird der reiche Fundus empirischen Materials über wesentliche soziale Erscheinungen, Strukturen, Bewegungsabläufe und Prozesse nicht immer hinreichend gesellschaftlich genutzt bzw. von Leitungsorganen und Institutionen nicht zur Kenntnis genommen. Der Anwendungsgrad soziologischer Erkenntnisse wird durch verschiedene Faktoren bedingt 52 — das Spektrum reicht vom theoretischen Niveau der Forschungsergebnisse, von der gesellschaftlichen Wirksamkeit, der Plausibilität für den Anwender (oft scheinbarer Widerspruch der Forschungsergebnisse mit individuellen Erwartungen und Erfahrungswerten), von der empirischen Fundiertheit bis zu ökonomischen Voraussetzungen für ihre Realisierbarkeit, von mangelnder Einsicht in den Wert der Forschungsergebnisse bis zur Ignoranz. In der soziologischen Forschung wird nicht selten versucht, in einer empirischen Untersuchung alle relevanten sozialen Erscheinungen und Prozesse zu erfassen. Das ist nicht möglich. Abgesehen davon, daß theoretisch-soziologische Erkenntnis nicht immer ein empirisches Durchgangsstadium durchlaufen muß, wird es uns niemals gelingen, die Gesamtheit der Erscheinungsformen sozialer Sachverhalte empirisch abzubilden; schon gar nicht in einem räumlich und zeitlich begrenzten Objektbereich. So wie die Erscheinung sozialer Sachverhalte vielfältiger ist als das Wesen, so muß auch die Vielfalt und Mannigfaltigkeit empirischer Forschung gewährleistet werden, ohne jedoch eine Totalerfassung der sozialen Wirklichkeit je erreichen zu können. Durch die Anwendung von Auswahlverfahren in der soziologischen Forschung wird das Problem hinsichtlich der Erfassung der Einheiten des Untersuchungsobjektes partiell gelöst. Nicht hinreichend gelöst ist bislang die Berücksichtigung der zeitlichen Komponente soziologischer Dauerbeobachtung. Wir müssen uns also in der soziologischen Forschung schon aus forschungstechnischen Gründen beschränken. Diese „Beschränkung" muß indessen nach einem theoretischen Konzept erfolgen. Empirisch-soziologische Untersuchungen sind gewissermaßen Sonden, mit denen Tatsachenmaterial eines spezifischen Praxisbereiches gesammelt wird. Die Wahl des Objektbereichs soziologischer Forschung leitet sich primär aus der Zielstellung der Forschung ab. So erfordern Sozialstrukturuntersuchungen Objektbereiche in entsprechender räumlicher Ausdehnung und soziale Entwicklungsuntersuchungen solche in entsprechender historischer Dimension. Freilich sind dies relative Abgrenzungen. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Immer muß es sich beim Objektbereich soziologischer Forschung um einen dem Forschungsziel adäquaten repräsentativen Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit handeln. 52

Vgl. H. Hörz, Wahrheit und Wert wissenschaftlicher Erkenntnisse, a. a. O., S. 45.

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— Prinzip der Einheit von Abstraktem und Konkretem Das Prinzip der Einheit von Abstraktem und Konkretem ist eng mit den Prinzipien der Einheit von Analyse und Synthese bzw. von Logischem und Historischem verknüpft. „Abstraktionsprozesse ermöglichen es, spezifische, wesentliche, notwendige, allgemeine oder gesetzmäßige Merkmale der Erkenntnisgegenstände ideell hervorzuheben." 5 3 Die Funktion der Abstraktion besteht nach Marx vor allem darin, Klassen von Merkmalen auf der Grundlage objektiver Eigenschaften zu bilden und somit Ordnung in das empirische Material über das Real-Konkrete zu bringen. 5 4 Demgegenüber ermöglichen Konkretisierungsprozesse, die Totalität der vielen Bestimmungen und Beziehungen in der Gesamtdarstellung des Objekts als Geistig-Konkretes zu erreichen. 5 5 Das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten „als Art für das Denken ..., sich das Konkrete anzueignen, es als geistig Konkretes zu reproduzieren" wurde von M a r x in seiner „Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie" als „die Methode der politischen Ökonomie" bezeichnet 56 und ist für die Soziologie als systematische Gesellschaftswissenschaft von besonderer Bedeutung. Geht es ihr doch vor allem darum, den „wirklichen, empirisch anschaulichen Lebensprozeß unter bestimmten Bedingungen" 5 7 zu erforschen und ein systematisches Abbild des sozialen Lebensprozesses zu liefern. Dieser komplizierte Erkenntnisprozeß, der empirische und theoretische Stadien durchläuft, Analyse und Synthese in sich vereinigt, dringt von der Erscheinung zum Wesen, vom Nebeneinander der Wirkungsbedingungen zur Kausalität, von der wechselseitigen Abhängigkeit der Merkmale zum tieferen allgemeinen Zusammenhang, von Regelhaftigkeit zur Gesetzmäßigkeit vor. Diese fortschreitende Erkenntnis vom einfachsten Verhältnis zum allgemeinsten Verhältnis bzw. zum grundlegenden Verhältnis muß die dominierenden Verhältnisse und Beziehungen im sozialen Wirkungsprozeß ermitteln und die diesem Wirkungsprozeß immanenten objektiven Widersprüche aufdecken. Dominierende Verhältnisse sind die materiellen Verhältnisse, vor allem die Produktionsverhältnisse, sie bestimmen die grundlegende Entwicklungstendenz der sozialen Verhältnisse, also „die Art und Weise wie sich die Individuen und Gruppen zueinander verhalten", 5 8 denn Verhältnisse erfahren „nur durch Abstraktion eine besondere Verkörperung". Verhältnisse können nur gedacht werden, „wenn sie fixiert werden 53 54 55

56

57 58

D. Wittich/K. Gößler/K. Wagner, Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 209. Vgl. K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1958, S. 27. Vgl. D. Wittich/K. Gößler/K. Wagner, Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 475/476. Vgl. K. Marx/F. Engels, Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 13, Berlin 1961, S.631. K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 29. Ebenda, S. 423.

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sollen, im Unterschied von den Subjekten, die sich verhalten". 5 9 N a c h M a r x können „Alle Verhältnisse ... in der Sprache nur als Begriffe ausgedrückt w e r d e n " 6 0 . D a r a u s ergibt sich aber auch, d a ß Begriffe zu den wesentlichen Instrumentarien soziologischer Forschung gehören. Sie ermöglichen die Erfassung des sozialen Verhaltens, also des Verhaltens sozialer Subjekte (Klassen, Schichten, G r u p p e n , Gemeinschaften) in seiner Komplexität, d. h. sowohl des Inhalts sozialen Verhaltens, des äußeren Handlungsablaufs, der inneren Triebkräfte, der Disposition zur konkreten Tätigkeit, des Resultats sozialen Handelns, der Bedingungen des sozialen Verhaltens, der Motive, Einstellungen und Zielstellungen und der Reaktionen der Verhaltenspartner. 6 1 Die empirische Erfassung konkreten sozialen Verhaltens ist daher nicht allein eine Angelegenheit empirischer Erhebungsmethoden. Engels bezeichnete die von Marx entwickelte M e t h o d e des Aufsteigens vom Abstrakten zum K o n k r e t e n als „ein Resultat, das an Bedeutung k a u m der materialistischen G r u n d a n s c h a u u n g nachsteht" 6 2 u n d beschreibt diese Herangehensweise wie folgt: „ W i r gehen bei dieser Methode aus von dem ersten u n d einfachsten Verhältnis ... Dies Verhältnis zergliedern wir. Darin, daß es ein Verhältnis ist, liegt schon, d a ß es zwei Seiten hat, die sich zueinander verhalten. Jede dieser Seiten wird f ü r sich betrachtet; d a r a u s geht hervor die Art ihres gegenseitigen Verhaltens, ihre Wechselwirkung. Es werden sich Widersprüche ergeben, die eine Lösung verlangen. D a wir aber hier nicht einen abstrakten G e d a n k e n p r o z e ß betrachten ..., sondern einen wirklichen Vorgang ..., so werden auch diese Widersprüche in der Praxis sich entwickeln u n d wahrscheinlich ihre Lösung gefunden haben. Wir werden die Art dieser Lösung verfolgen u n d finden, daß sie durch Herstellung eines neuen Verhältnisses bewirkt worden ist, dessen zwei Seiten entgegengesetzte Seiten wir n u n m e h r zu entwickeln haben werden usw." 6 3 D a m i t lieferte Marx den Schlüssel für das Verständnis der Bewegung und Veränderung der inneren Widersprüche gesellschaftlicher Verhältnisse u n d Prozesse. D e n n wie Lenin schreibt: „Im eigentlichen Sinne ist die Dialektik die Erforschung im Wesen der Dinge selbst: Nicht nur die Erscheinungen sind vergänglich, beweglich, fließend, nur durch bedingte Grenzen getrennt, sondern die Wesenheiten der Dinge selbst." 6 4

59

K. Marx, Grundrisse zur Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 61.

60

K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 347.

61

Vgl. H. F. Wolf, Soziologische Probleme der marxistisch-leninistischen Persönlichkeitstheorie, in: G. Aßmann/R. Stollberg (Hrsg.), Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, Berlin 1977, S. 255.

62

K. Marx/F. Engels, Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: M E W , Bd. 13, a. a. O., S. 475.

63

Ebenda.

64

W. I. Lenin, Philosophische Hefte, in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 240.

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Methodologische Voraussetzungen

Erkenntnistheoretische Mittel zur Erforschung dieser Wesenheiten sozialer Erscheinungen und Prozesse sind unter anderem auch Begriffe. Der Prozeß der Konkretisierung ist daher der A u f b a u eines Theoriegebäudes und auch eine Anreicherung der Begrifflichkeit durch Schaffung eines Kategoriensystems. 6 5 Begriffe sind in der Soziologie eine bedeutsame Widerspiegelungsform der realen sozialen Wirklichkeit, weil sie allgemeine Eigenschaften, Zusammenhänge und Beziehungen der objektiven sozialen Realität erfassen. Sie drücken Bedürfnisse der praktischen gesellschaftlichen Tätigkeit aus und bilden sich dann heraus, wenn die sozialen Erscheinungen und Prozesse einen bestimmten Reifegrad ihrer Entwicklung erreicht haben. Indem die Begriffe die wesentlichen invarianten Eigenschaften, Seiten, Merkmale und Beziehungen sozialer Sachverhalte widerspiegeln, stellen sie neben anderen Erkenntnismitteln wie Aussagen, Urteilen, Vergleichen, Schlüssen, Hypothesen etc. wichtige Bestandteile der soziologischen Theorie dar. Ohne begriffliche Klarheit ist es schwerlich möglich, soziale Sachverhalte in ihren wesentlichen Bestimmungen, Bedingungen und Beziehungen als konkrete Totalität zu reproduzieren. Dies ist aber die Aufgabe soziologischer Forschung. — Prinzip der Einheit von Theorie und Empirie Das Prinzip der Einheit von Theorie und Empirie in der soziologischen Forschung wird vor allem durch das grundlegende Prinzip der Einheit von gesellschaftlicher Praxis und gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnis bestimmt. U m die soziale Wirklichkeit in ihrer Totalität, ihren strukturellen Beziehungszusammenhängen, ihren Funktionsmechanismen und Entwicklungstendenzen erfassen zu können, bedarf es eines ausreichenden F u n d u s empirischen Materials und gründlicher, allseitiger Analysen, die ein exaktes Bild davon geben, wie die Prozesse in der Praxis tatsächlich verlaufen, unter welchen konkreten Voraussetzungen welche Wirkungen hervorgebracht werden, wie sich objektive und subjektive Faktoren wechselseitig verhalten und welchen Einfluß die nationalen und internationalen Bedingungen auf Richtung, Tiefe und Tempo der gesellschaftlichen Entwicklung ausüben. 6 6 In der objektiven sozialen Realität sind die Erscheinungen und Prozesse durch außerordentliche Mannigfaltigkeit, Zufälligkeit und Vielgestaltigkeit gekennzeichnet. Der soziologischen Forschung geht es aber immer darum, tiefere Einsichten in den konkret-historischen Verlauf und den Ausprägungsgrad sozialer Prozesse zu gewinnen mit dem Ziel, Regelmäßigkeiten und gesetzmäßige Zusammenhänge zu ergründen. Die wissenschaftliche soziologische Abbildung der 65

66

Vgl. M. M. Rosenthal, Die Dialektische Methode der politischen Ökonomie von Karl Marx, Berlin 1969, S. 431. Vgl. K. Hager, Gesetzmäßigkeiten unserer Epoche — Triebkräfte und Werte des Sozialismus, a. a. O., S. 74.

Prinzipien und Grundprobleme

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sozialen Wirklichkeit ist daher mit Notwendigkeit eine reduzierte Widerspiegelung, die sich auf ausgewählte Merkmale, Strukturen und Zusammenhänge konzentriert. Dabei bemüht sich die Soziologie in besonderem Maße, die Komplexität objektiver und subjektiver Wirkungsfaktoren zu erfassen und die Triebkräfte sozialen Handelns aufzudecken. Die Soziologie erforscht die sozialen Erscheinungen, Prozesse, Strukturen und Funktionsmechanismen vor allem in zweierlei Hinsicht: erstens in ihrer Wirkung auf die soziale Entwicklung der Individuen, Gruppen, Gemeinschaften und Organisationen hinsichtlich ihrer sozialen Beziehungen, ihrer Existenzweisen und ihres sozialen Verhaltens und zweitens als konkrete Resultate des sozialen Handelns gesellschaftlicher Subjekte, d. h. der in sozialen Gruppen, Klassen, Schichten vereinten und in gesellschaftlichen Organisationen, Verbänden, Gemeinschaften und Institutionen wirkenden Individuen. Die sozialen Erscheinungen und Prozesse werden zwar immer in den bereits genannten Teilbereichen der Gesellschaft untersucht, diese Teilbereiche sind aber stets als Objektbereiche soziologischer Forschung hinsichtlich ihrer Einordnung in die Gesamtgesellschaft und ihrer formationsspezifischen Konkretheit zu betrachten. Daraus leitet sich die unabdingbare Forderung an jede soziologische Untersuchung ab, diese theoretisch zu fundieren. Mitunter wird die empirische Stufe der soziologischen Forschung als „ein Spiegelbild der sozialen Wirklichkeit, in dem ihre Vielseitigkeit und Mannigfaltigkeit erhalten geblieben ist, das sehr viel Individuelles und Zufalliges wiedergibt" 6 7 , bezeichnet. Dies ist ungenau, denn auch das empirische Wissen ist bereits rationaler Bearbeitung unterzogen worden und wurde auf der Grundlage theoretischer Einsichten gewonnen. So wird bei der Messung, Bewertung und Interpretation des gewonnenen Datenmaterials bereits eine Auswahl oder Gruppierung nach ausgewählten Merkmalen, Indikatoren, Regeln und theoretischen Gesichtspunkten vorgenommen. Es werden Abhängigkeiten, Zusammenhänge und Trends ermittelt und gewisse Verallgemeinerungen getroffen. Indessen können auf der empirischen Ebene der Forschung noch keine Einsichten in die inneren, wesentlichen und notwendigen Zusammenhänge der sozialen Erscheinungen und Prozesse gewonnen werden. Die den sozialen Erscheinungen und Prozessen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten im Systemzusammenhang widerzuspiegeln, ist Aufgabe der theoretischen soziologischen Erkenntnis. Das Verhältnis von Theorie und Empirie im soziologischen Forschungsprozeß ist vor allem durch den Begründungs- und Erklärungszusammenhang wissenschaft-

67

H. Berger/H. Jetzschmann, Der soziologische Forschungsprozeß, in: G. Aßmann/R. Stollberg (Hrsg.), Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, a. a. O., S. 57.

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licher Erkenntnis determiniert. 68 Empirisches Wissen vermag theoretisches Wissen zu begründen, wenn es die Merkmalsstruktur, die Beziehungen und die Wirkungsbedingungen objektiv-realer sozialer Sachverhalte widerspiegelt. Empirische Aussagen sind insofern wissenschaftliche Tatsachen, als sie erstens „— Struktur- und Entwicklungselemente innerhalb einer ökonomischen Gesellschaftsformation, in der die Menschen in geschichtlich konkret bestimmten Produktions- und Klassenverhältnissen handeln, zweitens Ereignisse im Handeln und Denken der Menschen, d. h. der von Klassen geprägten Volksmassen und Persönlichkeiten" 69 widerspiegeln. Empirisches Wissen ist in diesem Sinne Tatsachen feststellendes Wissen. Empirisches Wissen wird indessen nicht nur durch empirisch-soziologische Forschung gewonnen. Empirisches Wissen entsteht auch und vor allem als sozialhistorische Massenerfahrung der Klassen, Schichten und sozialen Gruppen im Prozeß der gesellschaftlichen Praxis und wird insbesondere durch die Partei der Arbeiterklasse zu theoretischem Wissen verallgemeinert. 70 Sehr wichtige empirische Substanz gewinnt die marxistisch-leninistische Soziologie neben der eigenständigen Datengewinnung durch Primärerhebungen aus der staatlichen Statistik. Als umfassende Informationsquelle vermittelt sie insbesondere Daten über viele Tatsachen gesamtgesellschaftlicher Dimension. 71 Theorie und Empirie sind zwei dialektisch miteinander verbundene, qualitativ verschiedene Erkenntnisstufen, die sich insbesondere im Hinblick auf den Grad des Eindringens soziologischer Erkenntnis in das Forschungsobjekt unterscheiden. In diesem Sinne enthält die Theorie systematisch geordnete Aussagen über die inneren, notwendigen, wesentlichen und allgemeinen, d. h. gesetzmäßigen, Zusammenhänge sozialer Sachverhalte und die Empirie durch Beobachtung gestützte Aussagen über Erscheinungsformen von Abhängigkeiten, über Trends, wechselseitige Zusammenhänge, Regularitäten, Regelmäßigkeiten, Eigenschaften sowie Existenz- und Wirkungsbedingungen sozialer Sachverhalte. Theorie und Empirie sind nicht nur untrennbar miteinander verbunden, sondern gehen ständig auch ineinander über. Innerhalb von Theorie und Empirie gibt es selbst wiederum verschiedene Abstufungen: allgemeine und spezielle Theorien einerseits und Daten, Tatsachen, Bestimmungs-, Bedingungs-, Sollaussagen, statistische Kennziffern, Indizes etc. andererseits. Indessen scheint uns eine Ausweitung des Empiriebegriffs dahingehend, daß theoretische Erkenntnisse einer 68

69 70 71

Vgl. D. Wittich/K. Gößlcr/K. Wagner, Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 223. E. Engelberg, Theorie, Empirie und Methode in der Geschichtswissenschaft, Berlin 1980, S. 72. Vgl. E. Hahn (Hrsg.), Grundlagen des historischen Materialismus, a. a. O., S. 763—768. Vgl. W. Küttler, Lenins Formationsanalyse der bürgerlichen Gesellschaft in Rußland vor 1905, a. a. O., S. 101.

Prinzipien und Grundprobleme

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Wissenschaftsdisziplin gleichzeitig als empirische Angaben einer allgemeineren Wissenschaft bezeichnet werden, 72 nicht gerechtfertigt, das verwischt den qualitativen Unterschied zwischen Theorie und Empirie. Aufgabe der soziologischen Theorie ist es, gewonnenes empirisches Wissen bzw. ermittelte Tatsachen zu erklären. Die theoretische Erklärung empirischen Wissens über soziale Sachverhalte bedeutet, die ermittelten Tatsachen als Bestandteile allgemeiner, notwendiger und wesentlicher Zusammenhänge, also von gesetzmäßigen Zusammenhängen, nachzuweisen. Die theoretische Erkenntnis ist demzufolge eng mit der empirischen Erkenntnis verbunden — wie umgekehrt auch —, sie ist jedoch zugleich qualitativ von ihr verschieden. Die theoretische Erklärung soziologischer Tatsachen erfolgt mit Hilfe von Begriffen und theoretischen Aussagen, Urteilen und auch Hypothesen. Natürlich können nur theoretisch bestimmte und ausgewählte soziologische Forschungsobjekte das empirische Material für theoretische Verallgemeinerungen liefern. — Prinzip der Einheit von Theorie und Methode Die Einheit von Theorie und Methode resultiert aus der Tatsache, daß Theorie als ein System von Aussagen über Gesetzmäßigkeiten bestimmt wird und der Terminus Methode als ein System von Regeln, wie man zu diesen Aussagen gelangt. Methoden haben also Aufforderungscharakter. Natürlich ist diese Einheit zwischen Theorie und Methode widersprüchlicher Natur, dies offenbart sich vor allem im Zusammenhang von Forschungsproblem und Forschungsmethode. 73 In der soziologischen Forschung treten dabei zwei Arten von Problemsituationen auf: 1. Das Nichtvorhandensein von adäquaten Methoden zur Lösung vorhandener Forschungsprobleme und 2. das Vorhandensein von Forschungsmethoden, die nicht entsprechend genutzt werden. Soziologische Forschung impliziert daher immer auch Methodenentwicklung, Methodenanwendung und Methodenkritik. Im Unterschied zur Theorie als einem Aussagesystem sind Prinzipien und Methoden regulative Mittel der Forschung. Wie wir weiter vorn dargestellt haben, können theoretische Aussagen und Begriffe aüch als Forschungsprinzipien formuliert werden. Forschungsprinzipien sind allgemeine Grundsätze und Forderungen, Methoden hingegen konkrete Leitsätze, Handlungsanweisungen und Regeln soziologischer Forschung. Die Hierarchie soziologischer Methoden umfaßt 72

73

Vgl. H. Steiner, Intensiv-erweiterte Reproduktion und Aufgaben der soziologischen Forschung, in: Informationen zur soziologischen Forschung in der D D R , 3/1983, S. 18. Vgl. H. Parthey (Hrsg.), Problem und Methode in der Forschung, Berlin 1978, vgl. H. Parthey/ K. Schreiber (Hrsg.), Interdisziplinarität in der Forschung, Berlin 1983.

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Methodologische Voraussetzungen

sowohl einzelne Regeln als auch Systeme von Regeln zur Realisierung theoretischer und praktischer Zielsetzungen in der Forschung. Die soziologischen Methoden lassen sich, ausgehe td von den beiden grundlegenden Ebenen soziologischer Erkenntnis (Theorie und Empirie), in theoretische und empirische Methoden untergliedern. Aus soziologischer Sicht muß einer gelegentlichen Gegenüberstellung von empirischer und rationaler Methode widersprochen werden. 74 Sowohl Theorie als auch Empirie sind der rationalen Erkenntnisstufe zuzuordnen. Dementsprechend gehören zu den rationalen Methoden neben den theoretischen auch die empirischen Forschungsmethoden. Damit sei nicht gesagt, daß empirische Methoden ausschließlich durch die Empirie determiniert sind. Die bestimmende Rolle der Theorie im Verhältnis von Theorie und Empirie bezieht sich selbstverständlich auch auf die empirischen Methoden. Empirische Methoden sind demnach nicht schlechthin empirische Regeln. Der Einsatz empirischer Methoden ist theoriegeleitet, ihre Anwendung gründet sich auf theoretische Voraussetzungen, sei es in Form von gesichertem Wissen oder von Hypothesen. Wohl aber ist es unter dieser Voraussetzung berechtigt, sie als Methoden zu bezeichnen, die auf empirische Objekte gerichtet sind und Regeln enthalten, die zu empirischem Wissen führen. Dies gilt sowohl für die Erhebungsphase,als auch für die Auswertungsphase soziologischer Forschung. Auf beide Methodenarten übt die dialektische Methode einen orientierenden und regulierenden Einfluß aus — die Forderungen der dialektischen Methode gelten gegenüber den Forschungsmethoden der Soziologie also als Prinzipien. Die soziologischen Methoden sind in ihrer Spezifik des weiteren durch den Gegenstand der Soziologie bestimmt. Wenn man ihre Objektbereiche untersuchen will, muß man die in der Gegenstandsbestimmung der Soziologie gegebene Problemsicht kennen und in adäquate Methoden umsetzen. Die Methoden soziologischer Forschung und der Forschungsgegenstand sind wechselseitig miteinander verknüpft. Die Qualität des soziologischen Forschungsgegenstandes erheischt zunächst eine adäquate Forschungsmethodik. Der Gegenstand orientiert die Methoden auf die Erfassung spezifischer Objekteigenschaften und fordert die Beachtung objektspezifischer Prinzipien. 75 Andererseits machen die Forschungsmethoden die relevanten Eigenschaften des Forschungsobjekts sichtbar. Die Fähigkeiten des Erkenntnissubjekts (Wissenschaftlerpersönlichkeit, Forschungskollektiv) zur Erforschung des soziologischen Erkenntnisgegenstandes (sozialer Sachverhalt) äußern sich daher nicht zuletzt im Grad der Beherrschbar74 75

Vgl. W. Segeth, Materialistische Dialektik als Methode und Methodologie, a. a. O., S. 226,232. Vgl. G. Wangermann, Objekt und Methode als Korrelat der Interdisziplinarität in der experimentellen Forschung, dargestellt am Beispiel der Elektronenmikroskopie, in: H. Parthey/K. Schreiber (Hrsg.), Interdisziplinarität in der Forschung, a. a. O., S. 55.

Ebenen, Typen, Formen soziologischer Erkenntnis

33

keit der verfügbaren soziologischen Methoden. Jeder soziologisch Forschende muß den Stand des soziologischen Wissens, insbesondere der soziologischen Theorie und der Forschungsmethodik, angemessen repräsentieren. In der soziologischen Forschung hat die Theorie gegenüber den Methoden vor allem zwei Funktionen zu erfüllen: — eine methodologisch orientierende und — eine operative, die insbesondere die Methodenanwendung bei der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung soziologischer Untersuchungen reguliert und beeinflußt. So bestimmen Struktur und Entwicklungsgrad der soziologischen Theorie auch Charakter und Gerichtetheit der Methoden. Andererseits vermitteln die soziologischen Methoden den Zusammenhang zwischen Theorie und Gegenstand der soziologischen Wissenschaft, indem sie Anleitungen zur Erreichung des Forschungszieles enthalten. Es ist daher folgerichtig, daß die Entwicklung der Zweigsoziologien auch die Entwicklung spezifischer Forschungsmethoden einschließt. Die innere Einheit von Theorie und Methode kommt vor allem in disziplinarer Entwicklung der soziologischen Wissenschaft zum Ausdruck.

1.3. Ebenen, Typen und Formen soziologischer Erkenntnis Die Ebenen, Typen und Formen soziologischer Forschung sind so vielfaltig wie die Ziele und Objektbereiche soziologischer Forschung selbst. In den vorangegangenen Abschnitten haben wir hinsichtlich des Forschungsobjekts der Soziologie insgesamt (Gesellschaft als System sozialer Beziehungen) zwischen Sphären und Bereichen der Gesellschaft unterschieden und hinsichtlich des Erkenntnisniveaus zwischen theoretisch-soziologischer Forschung und empirisch-soziologischer Forschung. Diese Unterscheidung ist natürlich zu grob, um die Vielfalt und Mannigfaltigkeit der sozialen Erscheinungen und Prozesse adäquat und entsprechend der Spezifik soziologischer Forschung abbilden zu können. Beim Erkenntnisniveau hat sich die Gliederung in Bestimmungsaussagen, Bedingungsaussagen, Sollaussagen und Gesetzesaussagen als tragfähige Grundlage soziologischer Forschung erwiesen. 76 Hinsichtlich der Gliederung des Forschungsobjekts sind ebenfalls Vorschläge unterbreitet worden, um die Gesellschaft als System sozialer Beziehungen, als strukturierte organische Ganzheit erklären zu können. 7 7 Diese 76 77

Vgl. H. Berger/H. Jetzschmann, Der soziologische Forschungsprozeß, a. a. O., S. 45—57. Vgl. R. Weidig, Stichwort „Soziologie", in: Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, a. a. O., S. 600; R. Stollberg, Die Spezifik der Erforschung gesellschaftlicher Erscheinungen, in: G. Aßmann/R. Stollberg (Hrsg.), Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, a. a. O., S. 35—40; H. Berger/H. F. Wolf, Indikatoren für die soziologische Analyse von

34

Methodologische Voraussetzungen

Vorschläge beziehen sich sowohl auf die Strukturierung der Gesellschaft nach Bereichen als auch nach Ebenen.

1.3.1. Ebenen der Gesellschaft und soziologische Erkenntnis Ausgangspunkt für die Unterscheidung von Ebenen soziologischer Erkenntnis ist die horizontale Gliederung der Gesellschaft nach Sphären und Bereichen und die vertikale Gliederung nach Ebenen. Wir unterscheiden in soziologischer Sicht folgende Ebenen gesellschaftlicher Beziehungen, Strukturen und Prozesse: 1. Gesamtgesellschaftliche

Beziehungen,

Strukturen

und Prozesse

(vor allem der

Klassen, Schichten und anderen Makrogruppen); 2. Soziale

Organisationen,

Institutionen

und territoriale

Einheiten;

3. Soziale Kleingruppen (Kooperations- und Kommunikationsbeziehungen); 4. Soziales Verhalten der Individuen (unmittelbare soziale Beziehungen, soziale Aktivität Determinanten der Persönlichkeitsentwicklung etc.). Aus der inneren Einheit und Wechselwirkung der Sphären, Bereiche und Ebenen der Gesellschaft als organische Ganzheit ergibt sich, daß die vorgenommene vertikale und horizontale Gliederung einander durchdringen, allerdings mit verschiedenen Modifikationen. Dennoch ist die analytische Unterscheidung von Ebenen sozialer Beziehungen und Prozesse für die soziologische Forschung von besonderer Bedeutung, weil dadurch die Relationen zwischen den sozialen Beziehungen und Prozessen sowie das Verhältnis von Individuum, sozialen Gruppen und Gesellschaft in bezug auf Vermittlungsebenen und Vermittlungsglieder genauer bestimmt werden können. Soziale Komplexität und Verflochtenheit sozialer Erscheinungen und Prozesse sowie soziale Determination der unmittelbaren Beziehungen und des Verhaltens der Individuen erhalten dadurch eine soziologische Interpretation. 78 Die marxistisch-leninistische Soziologie erforscht die Gesellschaft auf den jeweiligen historischen Entwicklungsstufen (Gesellschaftsformationen) als innere Einheit von Sphären, Bereichen und Ebenen. Diese stadial-strukturelle Formationsanalyse ermöglicht erst, die Gesellschaft als System sozialer Beziehungen einer materialistischen strukturell-funktionalen Analyse zu unterziehen und damit den dialektischen Zusammenhang zwischen Ökonomischem und Sozialem, zwi-

78

Sozialstruktur und Lebensweise, in: DZfPh, 1/1980, S. 95/96; D. Dohnke, Zur Struktur der soziologischen Theorie, in: Aus dem wissenschaftlichen Leben des Instituts für marxistischleninistische Soziologie der Humboldt-Universität zu Berlin, 1/1981, S. 56 — 76; E. Priller, Klassifikation der Indikatoren, in: H. Berger/E. Priller (Hrsg.), Indikatoren in der soziologischen Forschung, Berlin 1982, S. 84/85; A. Meier, Wie allgemein ist die allgemeine soziologische Theorie, in: Informationen zur soziologischen Forschung in der DDR, 3/1982, S. 31—35. Vgl. D. Dohnke, Zur Theoriestruktur und Theoriebildung in der marxistisch-leninistischen Soziologie, in: Informationen zur soziologischen Forschung in der DDR, 3/1982, S. 36 —39.

Ebenen der Gesellschaft

35

sehen Produktions- und Klassenverhältnissen, zwischen ökonomischer und sozialer Grundstruktur aufzudecken: „Die ökonomische Grundstruktur umfaßt somit die Produktionsverhältnisse und die Klassenverhältnisse, insofern sie direkt aus dem Kernstück der Beziehungen der Menschen in der Produktion, nämlich den Eigentumsverhältnissen, hervorwachsen. In diesem Sinne sind die ... Fragen nach Strukturtyp (Form) und Stadium als Fragen ökonomischer und soziologischer Analyse zu verstehen, die die theoretischen Ausgangs- und Zielpunkte der formationsanalytischen ... Tatsachenforschung bilden: Ausgangspunkte als theoretische Muster für die anzuwendende Fragestellung und Materialverarbeitung, Zielpunkte in F o r m des Ergebnisses, als Beweisführung und Gesellschaftsbild — wohlverstanden nicht nach vorgegebenen theoretischen Schablonen, sondern entsprechend den Resultaten subtiler Tatsachenforschung." 7 9 Deshalb dürfen Sphären, Bereiche, Ebenen und Teilprozesse der Gesellschaft niemals losgelöst von der sozialökonomischen Qualität und Bestimmtheit des Gesamtsystems und der Grundprozesse der Gesellschaft betrachtet werden. Eine von den sozialökonomischen Tatsachen isolierte Betrachtung der kleinen sozialen Gruppen, die Untersuchung des „menschlichen Wesens" an sich, die Herauslösung individuellen sozialen Handelns aus dem gegebenen sozialökonomischen Kontext, wie es bei vielen Vertretern der nichtmarxistischen Soziologie geschieht, 80 ist daher für die marxistisch-leninistische Soziologie nicht akzeptabel. Die Vermittlung der angeführten Ebenen der Gesellschaft ist vor allem durch folgende Merkmale gekennzeichnet: 1. Die sozialen Prozesse und Beziehungen in Organisationen, Institutionen, Gemeinschaften, kleinen Gruppen und das soziale Verhalten der Individuen sind letztlich durch gesamtgesellschaftliche Verhältnisse und Prozesse determiniert, in diese eingebettet. Die Grundstruktur sozialer Beziehungen ist in den Produktionsverhältnissen gegeben, die ihrerseits durch den Entwicklungsstand der Produktivkräfte determiniert sind und mit diesen den Charakter der Produktionsweise konstituieren. Die Grundstruktur sozialer Beziehungen, die insbesondere in den Klassen- und Schichtbeziehungen ihren Ausdruck findet, ist der Schlüssel für das soziologische Verständnis der Regelhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit sozialer Erscheinungen und Prozesse. Diese soziale Grundstruktur und ihr Bewegungsmechanismus ist die allgemeinste und wichtigste Bezugsgröße für jedwede soziologische Forschung. 2. Gesamtgesellschaftliche Prozesse bzw. soziale Grundprozesse vollziehen sich in sozialen Gruppen, Organisationen, Institutionen und letztlich durch das soziale 79

W. Küttler, Lenins Formationsanalyse der bürgerlichen Gesellschaft in Rußland vor 1905, a. a. O., S. 110.

80

Vgl. K. D. Opp, Der verhaltenstheoretische Ansatz, in: K. M. Bolte (Hrsg.), Materialien aus der soziologischen Forschung, Darmstadt 1978.

4

Soziolog. Forschung

36

Methodologische Voraussetzungen

Handeln der Menschen. Die Ebenenbetrachtung der Gesellschaft setzt also Abstraktion voraus und hat keinen Platz für naive Auffassungen, daß die jeweiligen Ebenen der Gesellschaft in der sozialen Wirklichkeit isoliert, nebeneinander, gewissermaßen „ f ü r sich" existieren; sie sind vielmehr miteinander verflochten und ineinander verschachtelt. 3. Gesamtgesellschaftliche Entwicklungs-, Struktur- und Funktionsgesetze realisieren sich demzufolge in den sozialen Prozessen, Strukturen und Mechanismen aller Gesellschaftsebenen und werden durch spezifische Gesetzmäßigkeiten der anderen Ebenen überlagert bzw. modifiziert. Gesamtgesellschaftliche soziale Gesetzmäßigkeiten wirken demzufolge nicht in „reiner F o r m " und getrennt von den Gesetzmäßigkeiten und den Besonderheiten der sozialen Wirkungsbedingungen und Prozesse in den verschiedenen Ebenen sozialen Geschehens ; sie werden durch das soziale Handeln der Menschen realisiert, gleich von welchen individuellen Motiven diese sich leiten lassen mögen. 4. Soziale Prozesse, Organisationen, Institutionen, Klassen-, Schicht- und Gruppenbeziehungen sowie soziales Handeln der Individuen werden durch die Verflechtungen von Sphären, Bereichen und Ebenen der Gesellschaft beeinflußt. Natürlich vollziehen sie sich zunächst in bestimmten Sphären und Bereichen der Gesellschaft (Ökonomie, Politik, Kultur, Bildung etc.) und erhalten durch diese ihre Spezifik. Zugleich ergeben sich aus der Wechselwirkung der Sphären und Bereiche besondere Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen. 5. Soziale Prozesse und Erscheinungen, soziale Organisationen, Institutionen und Gemeinschaften, Klassen-, Schicht- und Gruppenbeziehungen werden auch durch spezifische territoriale Bedingungen determiniert und modifiziert. Zugleich hat der Grad sozialer Strukturiertheit und Organisiertheit beträchtlichen Einfluß auf territoriale Einheiten. 6. Soziale Prozesse und Erscheinungen, soziale Organisationen, Institutionen und Gemeinschaften, Klassen-, Schicht- und Gruppenbeziehungen werden schließlich auch durch den unterschiedlichen Vergesellschaftungsgrad der Produktion in Kombinaten und Betrieben determiniert. (Dies schließt unterschiedliche Ausprägungsniveaus des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ein.) Die genannten Ebenen der Gesellschaft sind also vielschichtig vermittelt und gerade im Aufsuchen der Vermittlungsfunktionen, Vermittlungsebenen, Vermittlungsglieder und Vermittlungsprozesse besteht eine wesentliche Aufgabe der marxistisch-leninistischen Soziologie. Bisweilen wird nur herausgearbeitet, wie Gesellschaftliches über Organisationen und Gruppen bis zum Individuum hin vermittelt wird (Rückführung des Individuellen auf Soziales). Aber auch die gegenläufige Richtung, von den Individuen hin zur Konstituierung der Gesellschaft, m u ß beachtet werden, auch wenn diese Art der „Mensch-Gesellschafts-Relation" erst als zweiter Schritt getan werden darf, will man nicht Gesellschaftliches auf Individuelles zurückführen. Die undifferenzierte Übertragung von Kategorien, Mecha-

Ebenen der Gesellschaft

37

nismen, Gesetzmäßigkeiten des individuellen Verhaltens oder der Kleingruppenprozesse auf die Ebene der gesamtgesellschaftlichen Prozesse ist bei vielen nichtmarxistischen Soziologen eine Quelle der fehlerhaften Gesellschaftsbetrachtung. 81 Allerdings werden bisweilen auch von marxistischen Soziologen unseres Erachtens in unzulässiger Weise in umgekehrter Richtung Fehler begangen. Das individuelle Handeln wurde bzw. wird nicht in seiner eigenen Qualität gesehen, sondern lediglich als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse (so z. B. die sozialistische Persönlichkeit als Ausdruck des Klassenwesens der Arbeiterklasse). Mitunter wird individuelles Handeln als reine Angelegenheit der Psychologie angesehen und die Aufgabe der Soziologie lediglich auf das Aufsuchen des „Sozialtypischen" reduziert. In Wirklichkeit sind wir in der empirisch-soziologischen Forschung nicht nur in der Lage, sondern sogar gezwungen, zunächst Individuelles als unmittelbaren Beobachtungsgegenstand aufzunehmen und in seiner eigenen Qualität zu erfassen. Erst dann können über die soziale Vermittlung der anderen Ebenen klassenbestimmte Züge nachgewiesen, und das Individuelle kann durch theoretischsoziologische Erkenntnis in gesellschaftliche Prozesse eingeordnet werden. Es geht bei der soziologischen Betrachtung also nicht um eine einfache Unterscheidung von Mikro- und Makro-Soziologie, sondern um eine differenzierte Betrachtung der Ebenen sozialer Prozesse, wobei die übergeordnete Ebene die nachfolgenden einschließt und sie determiniert. 82 Die „unteren" Ebenen dürfen jedoch nicht lediglich unter dem Aspekt des Vollzugs gesamtgesellschaftlicher Prozesse gesehen werden, obwohl manche Soziologen die „soziologische Optik" darauf reduzieren möchten. Die Soziologie wird dann mit ihrer empirischen Forschung unweigerlich in die Rolle gedrängt, die allgemeinen gesellschaftlichen Gesetze des historischen Materialismus lediglich empirisch zu „belegen". Zusammenfassend können wir folgende Aussagen treffen : — Jede Ebene der Gesellschaft hat eine bestimmte eigene Qualität als System sozialer Beziehungen, als sozialer Prozeß bzw. soziale Erscheinung. — Die soziologische Widerspiegelung der Entwicklung, Struktur und Funktionsweise einschließlich der spezifischen Gesetzmäßigkeiten erfolgt durch eine ganze Hierarchie von Theorien, Begriffen und Methoden. — Theoretisch-soziologische und empirisch-soziologische Forschung wird auf jeder dieser Ebenen betrieben. — Die Forderung nach Verallgemeinerung soziologischer Aussagen bezieht sich auf jede der genannten Ebenen.

81

82

4*

Vgl. G. C. Homans, Theorie der sozialen Gruppe, Köln—Opladen 1960; T. Parsons, Beiträge zur soziologischen Theorie, Neuwied 1964; J. L. Moreno, Die Grundlagen der Soziometrie, K ö l n - O p l a d e n 1954. Vgl. A. Meier, Wie allgemein ist die allgemeine soziologische Theorie?, a. a. O., S. 34.

38

Methodologische Voraussetzungen

— Für die soziologische Erforschung dieser Ebenen gelten die weiter vorn angeführten Prinzipien der materialistischen Dialektik gleichermaßen, sie sind indessen durch spezifische Prinzipien der Forschung zu ergänzen, die sich aus der eigenständigen Qualität der ebenenspezifischen Forschungsobjekte ergeben. — Für die Erforschung der Entwicklungstendenzen, strukturellen Beziehungen und Funktionsmechanismen der den jeweiligen Ebenen zugeordneten bzw. immanenten sozialen Erscheinungen und Prozesse ist ein adäquates methodisches Instrumentarium erforderlich.

1.3.2. Arten sozialer Zusammenhänge und Typen soziologischer Forschung Zwischen den Sphären, Bereichen und Ebenen der Gesellschaft und innerhalb derselben gibt es eine Vielzahl von Beziehungen, Zusammenhängen und Abhängigkeiten zwischen sozialen Ereignissen, Erscheinungen und Prozessen, deren Aufdeckung Ziel soziologischer Forschung ist. Die Bestimmung der Arten und Formen der sozialen Zusammenhänge ist eine wichtige Voraussetzung für die Art und Weise des Vorgehens in der soziologischen Forschung. Eine Typologisierung der objektiv-realen Zusammenhänge ist daher von beträchtlicher methodologischer Bedeutung für die Anwendung adäquater Mittel und Methoden der soziologischen Forschung. Die verschiedenen Arten sozialer Zusammenhänge sind Ausdruck unterschiedlicher genetischer, struktureller und funktioneller Stufen der Organisiertheit sozialer Systeme und stellen sich als spezifische Formen direkter und vermittelter, innerer und äußerer Wechselwirkung dar. 8 3 Die analytische Hervorhebung bestimmter Arten oder Formen sozialer Zusammenhänge darf daher nicht verabsolutiert werden, sie dient lediglich als methodologisches Ordnungsprinzip in der Vielfalt und Mannigfaltigkeit der Zusammenhänge zwischen sozialen Ereignissen, Erscheinungen und Prozessen und orientiert auf die Erforschung wichtiger, insbesondere wesentlicher Zusammenhänge. Dadurch wird eine bestimmte Rangfolge bzw. Wertung im objektiven sozialen Wirkungsmechanismus ermöglicht und der Zugang zur Ursachenforschung bzw. Gesetzeserkenntnis eröffnet. Die verschiedenen Arten sozialer Zusammenhänge können wie folgt untergliedert werden 8 4 : — genetische Zusammenhänge, — strukturelle Zusammenhänge, 83

Vgl. P. Fedossejew (Hrsg.), Materialistische Dialektik, a. a. O., S. 63.

84

Vgl. H. Hörz, Der dialektische Determinismus in Natur und Gesellschaft, 4., erweit. Aufl., Berlin 1971.

Soziale Zusammenhänge, Typen der Forschung

39

— funktionelle Zusammenhänge, — räumlich-zeitliche Zusammenhänge, — Prozeßzusammenhänge, . — Ereignis-Bedingungszusammenhänge, — Wechselwirkung, — Kausalität (konkrete und elementare Vermittlung des Zusammenhangs), — Gesetz. Diese Arten von Zusammenhängen äußern sich in verschiedenen Formen: Notwendigkeit und Zufall, Möglichkeit und Wirklichkeit, Form und Inhalt. 85 In der soziologischen Literatur sind vor allem die verschiedenen Wirkungsbedingungen sozialer Sachverhalte einer näheren methodologischen Betrachtung unterzogen worden. 86 Dabei wird der Ursachenforschung besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Zwar sind alle sozialen Erscheinungen und Ereignisse, die in einer soziologischen Untersuchung untersucht werden, kausal bedingt, allerdings werden sie durch objektiv vermittelte Zusammenhänge verschiedener Bedingungen (notwendige und hinreichende Bedingungen; allgemeine und spezifische Bedingungen; Begleitbedingungen und Randbedingungen; innere und äußere Bedingungen; soziale, ökonomische, politische, technologische, territoriale u. a. Bedingungen) determiniert. Infolge der Komplexität und Kompliziertheit soziologischer Untersuchungsgegenstände ist die in bezug auf die Relation von Notwendigkeit und Zufall vorgenommene Unterscheidung von Existenz- und Wirkungsbedingungen 87 für die soziologische Forschung besonders relevant. Dementsprechend unterschiedlich sind die Typen empirisch-soziologischer Forschung. Ziel soziologischer Forschung ist letztlich die Aufdeckung von Entwicklungs-, Struktur- und Funktionsgesetzen. Gesetzeserkenntnis kann daher als höchster Typ soziologischer Erkenntnis bezeichnet werden. Gesellschaftliche Gesetze sind „objektive notwendige und allgemeine Zusammenhänge innerhalb der gesellschaftlichen Tätigkeit der Menschen, die sich folglich auch nur durch das Handeln der Menschen durchsetzen" 88 . Auf Grund der unterschiedlichen sozialen Handlungsqualitäten der Individuen, die durch objektive Faktoren (soziale Organisationsformen, Lebensbedingungen etc.) und subjektive Faktoren (soziale Erfahrungen, politisch-ideologische Bewußtheit, Bildungsstand, Fähigkeiten etc.) bestimmt werden, und auf Grund der unterschiedlichen Wirkungsbedingungen realisieren sich gesellschaftliche Gesetze als mit eherner Notwendigkeit wirkende 85 86

87 88

Vgl. P. Fedossejew (Hrsg.), Materialistische Dialektik, a. a. O., S. 59—63. Vgl. R. Weidig, Sozialistische Gemeinschaftsarbeit, Berlin 1969; J. Kunze, Betriebsklima, Berlin 1969; W. A. Jadow/W. P. Roschin/A. G. Sdrawomyslow (Hrsg.), Der Mensch und seine Arbeit, Berlin 1971; H. Berger/H. Jetzschmann, Der soziologische Forschungsprozeß, a. a. O., S. 55, 130—139; R. Stollberg, Arbeitssoziologie, Berlin 1978. Vgl. H. Hörz, Zufall — eine philosophische Untersuchung, Berlin 1980, S. 87. E. Hahn (Hrsg.), Grundlagen des historischen Materialismus, Berlin 1976, S. 108.

40

Methodologische Voraussetzungen

und sich durchsetzende Tendenzen. 89 Gesellschaftliche Gesetze setzen sich vor allem als statistische Gesetzmäßigkeiten durch. Für soziale Ereignisse eines statistischen gesetzmäßigen Zusammenhangs existieren immer verschiedene Möglichkeiten ihres Auftretens. Daher sind soziale Ereignisse immer auch nur mit einer, bestimmten Wahrscheinlichkeit vorauszusagen; die Notwendigkeit ihres Auftretens zeigt sich erst in der statistischen Verteilung der Einzelfälle in einer Gesamtheit. Dies gilt auch für den Zeitpunkt des Eintretens sozialer Ereignisse. Bei der soziologischen Erforschung sozialer Sachverhalte muß berücksichtigt werden, daß soziale Handlungen der Menschen der objektiven Dialektik von Gesetz und Zufall unterliegen, sich das Bedingungsgefuge im zeitlichen Verlauf ändert, soziale Prozesse von hoher Variabilität sind, äußere Einflüsse mit unterschiedlicher Intensität wirken und daß es sich überlagernde und teilweise entgegenwirkende Tendenzen in der sozialen Wirklichkeit gibt. Die „unteren" Ebenen sozialer Beziehungen und Prozesse sind in eine Hierarchie verschiedener Gesetzestypen einbezogen (System sozialer Gesetze). Schließlich muß betont werden, daß es für das soziale Verhalten der Individuen immer eine Reihe von Handlungsmöglichkeiten und -alternativen gibt. Die individuelle Entscheidungsfreiheit jedes Pv enschen führt zu einer großen Varianz und Formenvielfalt der sozialen Erscheinungen und Ereignisse. Diese Komplexität und Kompliziertheit sozialer Prozesse offenbart sich in den Erscheinungs-, Realisierungs- und Durchsetzungsformen sozialer Gesetzmäßigkeiten, die innerhalb der Wechselwirkung unterschiedlicher sozialer Zusammenhänge das beständige, dauerhafte und bestimmende Moment darstellen. Folgende spezifische Merkmale sozialer Gesetzmäßigkeiten bzw. Gesetze müssen unseres Erachtens hervorgehoben werden: 1. Soziale Gesetze sind objektive, allgemein-notwendige, sich unter gleichen Bedingungen wiederholende und wesentliche, d. h. den Charakter sozialer Sachverhalte bestimmende Zusammenhänge, die sich in ihrer konkreten Erscheinungsform in einmaligen „individuellen" sozialen Ereignissen realisieren. 2. Soziale Gesetze verwirklichen sich durch das soziale Handeln der mit Bewußtsein begabten Menschen. Soziale Gesetze sind aber nicht vom Bewußtsein und Willen abhängig, sie tragen objektiven Charakter. 3. Soziale Interessen der Klassen, Schichten, Gruppen und Individuen haben als Ausdruck objektiver Lebensbedingungen entscheidenden Einfluß auf die Verwirklichungsformen sozialer Gesetze. 4. Soziale Gesetze tragen statistischen Charakter, sie setzen sich als Tendenz im massenhaften sozialen Verhalten bzw. Handeln der Menschen durch. Sie betreffen demzufolge Massenerscheinungen und Massenprozesse. Das einzelne

89

Vgl. K. Marx, Das Kapital, Erster Band, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 12.

Forschungsstrategien

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Ereignis bzw. Verhalten ist demgegenüber zufällig (Wahrscheinlichkeitsaspekt des Auftretens). 5. Soziale Gesetze können durch die Überlagerung bzw. das Entgegenwirken von anderen gesellschaftlichen Gesetzen (ökonomischen, politischen, außenpolitischen etc.) modifiziert oder gar deformiert werden. 6. Soziale Gesetze können durch rechtzeitige oder verspätete Erkenntnis in ihrer Wirkung gefördert bzw. gehemmt werden. Die Entfaltungsmöglichkeiten sozialer Gesetze werden durch objektive und subjektive Faktoren beeinflußt. Im Sozialismus ist Bewußtheit eine notwendige Bedingung für die optimale Nutzung sozialer Gesetze. 7. Soziale Gesetze können in latenter Form wirken, wenn bestimmte Bedingungen für die bewußte Nutzung nicht gegeben sind. 8. Soziale Gesetze haben eine geschichtlich veränderliche Vollzugssphäre; die Wirkungsbedingungen können sich verändern und daher die sozialen Gesetze in ihren Erscheinungs- und Verwirklichungsformen stark modifizieren. Die Durchsetzungswahrscheinlichkeit ist Schwankungen und Zyklen unterworfen. 9. Soziale Gesetze erklären immer nur bestimmte soziale Erscheinungen, Prozesse und Ereignisse. Sie sind daher immer als Bestandteil der Hierarchie sozialer Gesetze zu begreifen. Spezifische soziale Gesetze werden von allgemeinen Gesetzen in ihrer Wirkungsweise beeinflußt. Das ökonomische Grundgesetz bestimmt entscheidend die Qualität und Verwirklichungsformen sozialer Gesetze. 10. Soziale Gesetze äußern sich in bezug auf das soziale Handeln in verschiedenen Variationen; sie reichen vom Zwang über die Notwendigkeit und das Erfordernis bis zu verschiedenen Stimuli und Möglichkeiten ihrer Befolgung. Dabei können sich soziale Gesetze in sich überschneidenden Zwängen, Notwendigkeiten, Erfordernissen und Möglichkeiten äußern (z. B. Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft) und in Konflikten manifestieren. 11. Soziale Gesetze kommen optimal zur Wirkung, wenn ein hoher Grad an Interessenübereinstimmung im sozialen Handeln der Individuen verschiedener Klassen, Schichten und sozialen Gruppen gegeben ist. 12. Soziale Gesetze werden in ihrer Struktur, ihrer Entwicklungstendenz und ihrer Wirkungsweise durch die Grundgesetze der materialistischen Dialektik bestimmt. 13. Soziale Gesetze werden im Sozialismus bewußt durch die Politik des sozialistischen Staates ausgenutzt bzw. durchgesetzt. Indem die Partei der Arbeiterklasse die Wirkungsweise und die Wirkungsbedingungen erforscht, ist sie in der Lage, die sozialen Gesetze optimal zur Wirkung zu bringen.

1.3.3. Grundformen soziologischer Forschung (Forschungsstrategien) Ausgehend von Gegenstand und Aufgaben soziologischer Forschung lassen sich verschiedene Grundformen soziologischer Forschung unterscheiden, in denen spe-

42

Methodologische Voraussetzungen

zifische Methoden zur Problemlösung eingesetzt werden, d. h. spezifische Forschungsstrategien erforderlich sind. R. Stollberg hebt folgende Forschungsstrategien als wesentlich heraus: 1. Ermittlung des erreichten Niveaus gesellschaftlicher Entwicklung; 2. Analyse der Einflußfaktoren, die auf gesellschaftliche Erscheinungen und Prozesse einwirken; 3. Aufdeckung von Entwicklungstendenzen im gesellschaftlichen Leben, so daß eine Prognose künftiger sozialer Situationen möglich wird. 9 0 Damit sind wichtige Aufgaben der Soziologie angesprochen, die sie als Instrument zur Leitung und Planung sozialer Prozesse zu erfüllen hat. D a ß in diesem Kontext die Forderung erhoben wird, die sozialen Zusammenhänge in ihrer K o m plexität aufzudecken, ist völlig berechtigt. Zu diesen Forschungsstrategien gehören auch solche G r u n d f o r m e n soziologischer Forschung wie die Analyse der Determinationsfaktoren sozialen Handelns (Determinationsanalyse), die Analyse konkreter sozialer Situationen in den verschiedenen Sphären, Bereichen und Ebenen der Gesellschaft, die Analyse von Ursachen sozialen Verhaltens (z. B. Fluktuationsanalyse), aber auch Einzelanalysen zu spezifischen sozialen Erscheinungen, Routineuntersuchungen zu speziellen Fragestellungen gesellschaftlicher Organisationen, staatlicher Einrichtungen und von Betrieben. D a f ü r steht ein ausgearbeitetes methodisches Instrumentarium zur Verfügung, welches im dritten und vierten Kapitel ausführlich dargestellt wird. So vielfaltig die sozialen Sachverhalte 9 1 als Objekt soziologischer Forschung sind, folgende Eigenschaften kommen ihnen gleichermaßen zu: — Entwicklung: Soziale Sachverhalte verändern ihre Qualität in aufsteigender Linie (Progression) infolge innerer und äußerer Widersprüche. Soziale Entwicklung setzt sich als Fortschrittstendenz progressiver und regressiver Entwicklungsformen durch. — Organisation : Soziale Sachverhalte haben einen objektiven und zweckbestimmten strukturellen A u f b a u (Ordnung, Anordnung, Gliederung) zur Realisierung ihrer Funktion. — Struktur: Soziale Sachverhalte sind aus Elementen bzw. Teilen aufgebaut, zwischen denen innere (beständige) Relationen bestehen, welche die innere Ordnung sozialer Sachverhalte bilden. — Funktion : Soziale Sachverhalte haben die Fähigkeit, soziale Verhaltensweisen realisieren zu können.

90

Vgl. R. Stollberg, Gegenstand und Aufgaben der marxistisch-leninistischen Soziologie, in: G. Aßmann/R. Stollberg (Hrsg.), Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, a. a. O., S. 2 6 - 3 1 .

91

Unter „sozialen Sachverhalten" verstehen wir Gesamtheiten sozialer Beziehungen.

Forschungsstrategien

43

— Prozeß: Soziale Sachverhalte befinden sich in Bewegung (Entwicklung, Veränderung) und nehmen dabei aufeinanderfolgende verschiedene Zustände ein. — System: Soziale Sachverhalte sind Gesamtheiten bzw. Ganzheiten aus Teilen bzw. Elementen mit bestimmten Eigenschaften, zwischen denen Relationen bestehen. Die Gesamtheit dieser Relationen bildet die Struktur des Systems. — Zusammenhang: Soziale Sachverhalte befinden sich in Beziehung und Wechselwirkung zu anderen sozialen Sachverhalten. Die fundamentale Form sozialer Zusammenhänge ist die Kausalität (Ursache-Wirkungs-Beziehung). Gesetze bilden den inneren, wesentlichen, notwendigen und daher allgemeinen Zusammenhang. — Ereignis: Soziale Sachverhalte wirken in Ereignissen, diese sind Manifestationen sozialer Handlungen in einem sozialen Beziehungsgefüge. — Element: Soziale Sachverhalte bestehen aus Bestandteilen (Elementen), denen bestimmte Eigenschaften zukommen und die in Beziehung zueinander stehen. — Merkmal: Soziale Sachverhalte haben eine Merkmalsstruktur und Merkmalsdimensionen. Diese Merkmale sind Eigenschaften von Elementen bzw. Einheiten dieser sozialen Sachverhalte. Man unterscheidet kategoriale Merkmale (Beruf, Qualifikation, soziale Erfahrung etc.) und meßbare Merkmale (Alter, Berufsjahre, Familiengröße etc.). — Bedingung: Soziale Sachverhalte existieren immer unter bestimmten Bedingungen, die diese Sachverhalte hervorrufen, realisieren, beeinflussen, modifizieren oder gar deformieren. — Veränderung'. Soziale Sachverhalte wechseln aus inneren und äußeren Ursachen ihre Quantität oder Qualität bzw. bestimmte Merkmale oder Beziehungen zu anderen sozialen Sachverhalten. — Fortschritt: Soziale Sachverhalte entwickeln sich vom Niederen zum Höheren durch die objektiven Möglichkeiten der Produktionsverhältnisse als Entwicklungsformen der Produktivkräfte. — Niveau-, Soziale Sachverhalte erreichen bei ihrer Entwicklung bzw. Veränderung bestimmte quantitative und qualitative Zustände, Stufen und Ausprägungsgrade, die durch bestimmte Merkmale und Bedingungen charakterisiert sind. Wir haben bereits hervorgehoben, daß die soziologische Forschung vor allem struktur- und prozeßorientiert ist. In diesem Zusammenhang muß auch der Begriff der Organisation genannt werden. Leider ist in der Vergangenheit der soziologischen Organisationsanalyse nicht die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet worden (im Unterschied etwa zur Betriebswirtschaft). Dagegen ist die Strukturanalyse seit fast zwei Jahrzehnten eine Domäne soziologischer Forschung. 9 2 Immerhin 92

Vgl. H. Berger, Interdisziplinarität in der Sozialstrukturforschung, in: H. Parthey/K. Schreiber (Hrsg.), Interdisziplinarität in der Forschung, a. a. O., S. 243—256.

44

Methodologische Voraussetzungen

gibt es aber wichtige theoretische und methodologische Ansätze der soziologischen Organisationsanalyse als Forschungsstrategie, diese beziehen sich vor allem auf soziale Organisationen als spezifische Systeme sozialer Beziehungen (soziale Kooperationssysteme), als konkret-historische soziale Gebilde der Gesellschaft. 9 3 Soziale Entwicklung, soziale Struktur, soziale Organisation und sozialer Prozeß sind Grundbegriffe soziologischer Forschung. Als dominierendes Forschungsobjekt der Soziologie m u ß die soziale Entwicklung angesehen werden. Soziale Entwicklung schließt Struktur, Organisation und Prozeß in sich ein. Wenn wir also von soziologischen Organisationsanalysen, Strukturanalysen und Prozeßanalysen als Forschungsstrategien sprechen, so m u ß immer dieser innere Zusammenhang zur sozialen Entwicklungsanalyse als dem übergeordneten Forschungsprinzip beachtet werden (z. B. Sozialstrukturanalyse als Moment der soziologischen Erforschung von sozialen Grundprozessen der Strukturentwicklung der Gesellschaft als System sozialer Beziehungen). Exemplarisch soll dies an der soziologischen Prozeßanalyse demonstriert werden. Die wachsende Bedeutung der bewußten Durchsetzung des Gesetzes der Ökonomie der Zeit, die mit dem allgemeinen Übergang zum intensiven Reproduktionstyp verbundene engere Verflechtung von ökonomischen und sozialen Prozessen, die damit wiederum zusammenhängende Beschleunigung von wissenschaftlichtechnischem Fortschritt und seine Auswirkungen auf den ökonomischen, sozialen, kulturellen, moralischen etc. Fortschritt machen es mehr und mehr erforderlich, die zeitliche Dimension sozialer Prozesse zu analysieren und bei ihrer Gestaltung im Sinne einer Einflußnahme auf die allgemeine Entwicklungsrichtung der Gesellschaft zu berücksichtigen (vgl. Abschnitt 2.5). Ob die analysierten Prozesse oder wesentliche Prozeßkomponenten auf den allgemeinen gesellschaftlichen Prozeß fordernd oder hemmend einwirken, m u ß bekannt sein, um richtige Entscheidungen für den künftigen Prozeßablauf treffen zu können. In diesem Sinne vereint die soziologische Prozeßanalyse in sich Methoden der Erkenntnis und des Handelns. Beispielsweise ist die Analyse sozialer Komponenten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ohne Berücksichtigung der Dauer und der Art und Weise des Verlaufes von Innovationsprozessen unvollständig, weil sie auf diese Weise nicht zu wissenschaftlich begründeten Aussagen über die konkrete Entwicklungsrichtung dieser Prozesse und somit nicht zu praktikablen Gestaltungsvorschlägen führen könnte. Die soziologische Prozeßanalyse ist besonders gut geeignet, soziale Komponenten des wissenschaftlich-technischen und anderer Arten des gesell93

Vgl. K. Braunreuther/H. Meyer, Zu konzeptionellen Fragen einer marxistischen Organisationstheorie, in: Jahrbuch des Instituts für Wirtschaftswissenschaften der DAW, Bd. 10, Berlin 1967; M. Lötsch/H. Meyer, Soziologie und Organisation, in: Die Wirtschaft, 21/1969, Beilage; A. Meier, Soziologie des Bildungswesens, Berlin 1974; G. Aßmann, Soziale Organisation und soziale Gruppe, in: G. Aßmann/R. Stollberg (Hrsg.), Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, a. a. O., S. 188—243.

Forschungsstrategien

45

schaftlichen Fortschritts zu analysieren, weil sich in ihr wichtige Prinzipien der materialistischen Dialektik wie die Einheit von Theorie und Praxis, von Wesen und Erscheinung, von Theorie und Empirie, Theorie u n d Methode, Logischem und Historischem sowie Objektadäquatheit und Zeitbezogenheit verwirklichen lassen. D a es keine sozialen Effekte technischer Neuerungen an sich gibt, ist eine objektu n d prozeßbezogene Analyse sozialer Effekte des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zugleich eine wesentliche Voraussetzung f ü r die dynamische Modellierung sozialer K o m p o n e n t e n des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. In diesem Sinne ist die soziologische Prozeßanalyse eine theoretisch-methodologisch begründete Forschungsstrategie. Diese Strategie u m f a ß t die theoretische Modellierung sozialer K o m p o n e n t e n von Fortschrittsprozessen einschließlich der theoretischen Analyse von Grundbegriffen und deren empirischer Interpretation, die bis zu operationalen Modellen (Indikatorensysteme) h i n f ü h r t ; die Analyse und D a r stellung des Zeitverhaltens sozialer Effekte (langfristige, mittelfristige und kurzfristige bzw. vorübergehende Wirkung) von Fortschrittsprozessen; die Analyse, Bewertung, Messung u n d Interpretation der Wechselwirkung zwischen den einzelnen technisch-technologischen, ökonomischen, politischen, organisatorischen, juristischen, sozialen, kulturellen, moralischen, ideologischen, psychologischen u. a. F a k t o r e n innerhalb der untersuchten sozialen K o m p o n e n t e n ; das Instrumentarium der Erhebung objektiver und subjektiver I n f o r m a t i o n e n ; Bewertungs- und Erklärungsmuster; Leitungsempfehlungen und Gestaltungsvorschläge. Diese Strategie ermöglicht die Diagnose und Prognose von Fortschrittsprozessen in ihrer Einheit auf der Ebene der gesamten sozialistischen Gesellschaft sowie in ihren Sphären u n d Teilbereichen auf der Ebene des Territoriums, auf der Ebene der K o m b i n a t e und Betriebe und schließlich auf der Ebene der Kollektive u n d Persönlichkeiten. Dabei sind Diagnose u n d Prognose sowohl auf Prozesse gerichtet, die allen Bereichen und Ebenen gemeinsam bzw. übergreifend sind, als auch auf solche, die n u r in einzelnen Bereichen und Ebenen verlaufen. Die soziologische Prozeßanalyse ist somit eine komplexe Forschungsstrategie zur Erfassung von Bedingungen und Wirkungen von Prozeßverläufen mit dem Ziel einer effektiven und optimalen Prozeßgestaltung. Sie stellt eine Synthese zwischen theoretischen u n d empirischen, qualitativen und quantitativen, analytischen u n d normativen Methoden her. W e n n gesicherte theoretische Kenntnisse über den zeitlichen Verlauf, die Struktur, die Ursachen und Wirkungen, den Inhalt eines sozialen Prozesses und seine Wechselwirkung mit anderen Prozessen vorliegen, k a n n ein methodisches, komplexes Instrument eingesetzt werden, das ohne Repräsentativuntersuchungen a u s k o m m t . Dieses Instrument ist die Fallstudie,94 Sie ist gewissermaßen eine indikative Sonde, oie an der 94

Vgl. M. Häder, Erkenntnismöglichkeiten einiger komplexer Erhebungsmethoden, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1983, Berlin 1983, S. 187—191; siehe auch Kapitel 3.

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Methodologische Voraussetzungen

richtigen Stelle und zum richtigen Zeitpunkt in den Prozeßverlauf einzubringen ist, um festzustellen, ob die theoretisch formulierten (und vielleicht früher empirisch ermittelten) Tendenzen, Trends, Folgen in ihrer Wirkungsrichtung noch zutreffen bzw. noch existieren, oder ob sie sich geändert haben bzw. nicht mehr wirken (vgl. Abschnitt 3.3.1). Nichtstandardisierte Verfahren bestimmen gegenwärtig die Methodik der soziologischen Prozeßanalyse. Ihr Vorteil besteht darin, daß die ohnehin beschränkte Analysekapazität der soziologischen Fachkader beträchtlich erweitert wird, wenn Stabsorgane der Betriebe befähigt werden, selbst soziologische Prozeßanalysen (möglicherweise im Sinne einer Dauerbeobachtung betrieblicher Schwerpunktprozesse) auf der Grundlage von leicht erlernbarem Anleitungsmaterial durchzuführen. Dazu können auch Algorithmen verwendet werden, die verbindlich den Leistungsvergleichen in Industrie und Bauwesen zugrunde zu legen sind und die Nichtsoziologen ebenfalls in die Lage versetzen, eine laufende Berichterstattung über die mit der Verwirklichung der ökonomischen Strategie unserer Partei verbundenen wissenschaftlich-technischen Prozesse zu gewährleisten. Das Wesen der soziologischen Prozeßanalyse besteht im Aufdecken der Vermittlungen zwischen Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem sowie zwischen den diesen Prozeß bewegenden objektiven und subjektiven Triebkräften. Sie ist die objektbezogene Analyse von Komponenten oder Repräsentanten (typischen Vertretern) eines an sich umfassenderen sozialen Prozesses, ihrer zeitlichen Entwicklung und Wechselwirkungen. Die Aufdeckung von dynamischen Beziehungsgefügen ist eine ihrer wesentlichen Aufgaben. Dabei spielen ganz unterschiedliche Zeitbegriffe eine Rolle, auf die hier nur verwiesen werden soll. 95 Was das methodische Instrumentarium betrifft, so sei, ohne Vollständigkeit anzustreben, auf folgendes verwiesen: Modellierung von Faktorensystemen mit Wechselwirkung in m x «-Tabellen, Ausarbeitung von Leitkriterien und Zielstellungen für Maßnahmeprogramme, Dauerbeobachtung bzw. Längsschnittstudien, Fallstudien, Wirkungsanalysen, Nutzung statistischer Kennziffernsammlungen, Trendanalysen, Darstellung stochastischer Prozesse als Modelle sozialer Entwicklungen, Kombination verschiedener nichtstandardisierter Erhebungsverfahren. Im Ergebnis der soziologischen Prozeßanalyse entstehen oft Funktionen der Art y = _f(x, t). Meistens ist nicht die Kenntnis des konkreten Verlaufs dieser Funktionen erforderlich, sondern es genügt, einige Eigenschaften dieser Funktionen zu kennen (z. B., ob monoton steigend oder fallend, nicht monoton etc.). Das trifft z. B. auch auf die Darstellung von Rangwerten und Korrelationskoeffizienten als Funktionen von der Zeit zu. Auf diese Weise können fördernde oder hemmende, 95

Vgl. A. Ullmann, Zur Bedeutung soziologischer Prozeßanalysen, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1983, Berlin 1983, S. 1 7 6 - 1 8 3 ; A. Ullmann/St. H. Wilsdorf, Bewertung und Vergleich, Berlin 1977, S. 68.

Forschungsstrategien

47

aktive oder passive Faktoren in ihrem zeitlichen Verlauf und in ihrer Entwicklungsrichtung, in ihrer Eigenbewegung besser erkannt und differenziert dargestellt werden. Es ergibt sich auch die konkrete Möglichkeit des Erkennens von Übergängen und Qualitätsumschlägen in den untersuchten Prozeßverläufen. Folgende methodologische Prinzipien sind bei der soziologischen Prozeßanalyse besonders zu beachten: Ein erstes solches Prinzip ist das der Einheit von Objektund Prozeßbezogenheit soziologischer Analysen zum wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Unter Objektbezogenheit ist dabei die Analyse einer konkreten technischen Neuerung, einer konkreten technisch-technologisch-organisatorischen Lösung eines Überleitungsbereiches oder einer konkreten Struktureinheit zu verstehen, wobei sich Meinungen, Haltungen, Denkweisen, Strebungen etc. genau lokalisieren lassen, d. h., wo sich zwischen objektivem Prozeß und seiner subjektiven Reflexion eine eindeutige Beziehung herstellen läßt. Hier wird ein großer Vorteil soziologischer Prozeßanalyse sichtbar, weil sich die Einheit von Denken, Handeln und Bedingungen nur auf diese Weise erklären läßt. So können z. B. bei der Untersuchung von Leistungsverhalten eindeutige Relationen zwischen Arbeitsergebnis, Art und Weise seiner Erzielung, Leistungsverhalten, Leistungsbereitschaft und konkreter Leistungsmotivation empirisch eindeutig nachgewiesen werden, und zwar jeweils unter der konkreten Bedingungskonstellation. Prozeßbezogenheit heißt, die Dynamik der miteinander verflochtenen technischökonomischen und sozialen Prozesse mittels Dauerbeobachtung, Wiederholungsoder Paneluntersuchungen, aber auch der Analyse von Zeitreihen aus der betrieblichen Statistik zu erfassen. 96 Die konkreten Wirkungsmechanismen für die Auslösung von Leistungs- und Sozialverhalten lassen sich nicht allein mit Meinungsumfragen ermitteln, sondern nur in prozeß- und objektbezogenen Einzelfallstudien mit spezifischer Methodenkombination (z. B. Dokumentenanalyse, Beobachtung, Expertengespräch, Gruppendiskussionen, Kurzinterview) und ihrer regelmäßigen Wiederholung bei variierten Bedingungen bzw. durch Vergleichsuntersuchungen in bewußt nach Leitkriterien ausgewählten Bereichen mit vergleichbaren sozialen, ökonomischen, technologischen und organisatorischen Strukturen. Andererseits müssen arbeitswissenschaftliche, insbesondere arbeitspsychologische Verfahren, die in der Regel dem methodologischen Prinzip der Objekt- und Prozeßbezogenheit der Untersuchung folgen, stärker für die betriebssoziologische Forschungspraxis erschlossen werden. Dabei darf Soziales nicht nur in individuelle Persönlichkeitsmerkmale und -anforderungen aufgelöst werden. Daraus leiten sich bestimmte Schlußfolgerungen für die Erhebungsmethodik ab, aber auch für die Ergebnisdarstellung. So ergibt sich z. B. aus der Überschaubarkeit der Untersuchungsfelder und der relativ geringen Populationsgröße sowie aus der immer zwin96

Vgl. auch Abschnitt 3.2.4.

48

Methodologische Voraussetzungen

gender werdenden Notwendigkeit der Erfassung von Zeitstrukturen die Fallstudie als dominierende Erhebungsmethode. Ein weiteres methodologisches Prinzip ist das der Entsprechung von Ziel, Objekt, Inhalt und Methode. Dieser Zusammenhang wird im 4. Teil dieses Abschnitts und im Abschnitt 3.1. erläutert. Für die Zielstellung soziologischer Untersuchungen ergeben sich zwei wichtige Aspekte. Erstens sollten soziologische Forschungsziele berücksichtigen, daß soziologisch relevante soziale Sachverhalte in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und Prozesse eingeordnet sind und ökonomische, wissenschaftlich-technische, sozialpolitische und andere Sachverhalte tangieren. Entsprechend der sozialökonomischen Komplexität soziologischer Forschungsgegenstände sind daher die entsprechenden bereichs- und fachspezifischen Probleme zu berücksichtigen. Im anderen Falle wird es Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Ergebnisse in Leitungsmaßnahmen geben. Zweitens darf das Ziel der Untersuchung nicht bloße Erkenntnis der Prozesse und ihrer Wirkbedingungen sein, sondern es müssen Vorschläge für die praktische Prozeßgestaltung gemacht werden, sonst wird der Soziologe auf Dauer nicht als Partner des industriellen Leiters akzeptiert. Das aber setzt die Bewertung der analysierten Prozesse voraus, wobei die Bewertungskriterien nur interdisziplinär erarbeitet werden können. Ohne Bereitschaft zur interdisziplinären Arbeit und ohne richtige Einordnung in den gesamten Leitungs- und Planungsprozeß des wissenschaftlich-technischen Fortschritts wird die Arbeit des Soziologen ohne Einfluß auf reale Prozesse, z. B. im Betrieb und Kombinat, bleiben. Deshalb mußerdialogfähig sein, muß auch technische und technologische sowie Kenntnisse der Wissenschaftlichen Arbeitsorganisation (WAO) im umfassenden Sinne erwerben.

1.3.4. Arten soziologischer Forschungsprozesse Der soziologische Forschungsprozeß ist hinsichtlich seiner allgemeinen Struktur in der soziologischen Literatur hinreichend beschrieben worden. 97 Wenn wir im folgenden vom soziologischen Forschungsprozeß sprechen, beziehen wir uns auf die Bearbeitung einer bestimmten Thematik, auf eine zeitlich begrenzte Phase soziologischen Forschens durch ein Forschungskollektiv. In der Wissenschaft ist es üblich, zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung zu unterscheiden. In den Gesellschaftswissenschaften, namentlich

97

Vgl. W. Friedrich/W. Henning (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, 2., erweit. Aufl., Berlin 1980; H. Berger/H. Jetzschmann, Der soziologische Forschungsprozeß, a. a. O., S. 55—115, 130—139.

Arten soziologischer Forschung

49

in der Soziologie, ist eine solche Unterscheidung nicht üblich. Allerdings befassen sich auch die Soziologen mit unterschiedlichen Typen von Forschungsaufgaben und realisieren verschiedene Forschungsstrategien bei der Erforschung sozialer Sachverhalte in den verschiedenen Sphären, Bereichen und Ebenen der Gesellschaft. 9 8 Natürlich kann man nicht von jeder soziologischen Untersuchung erwarten, daß neue Gesetzmäßigkeiten sozialer Entwicklung aufgedeckt werden — dies ist die Aufgabe des Gesamtprozesses soziologischer Forschung. Beginnend bei einfachen Forschungsaufgaben lassen sich folgende Typen des soziologischen Forschungsprozesses erkennen: 1. Anwendung bekannter Methoden und bereits ausgearbeiteter Erhebungstechniken und Nutzung von bereits ausgearbeiteten Theorien in bezug auf einen konkreten Fall (z. B. eine Routineuntersuchung über Ursachen der Fluktuation in einem bestimmten Betrieb, über Ergebnisse der Frauenqualifizierung oder die Beteiligung der Jugendlichen an der Neuererbewegung). Ein solches Vorgehen ähnelt der Anwendung von Tests in der Psychologie, ein bereits ausgearbeitetes, wissenschaftlich geprüftes Verfahren wird routinemäßig auf bestimmte Fälle angewendet, um Erkenntnisse für den Einzelfall zu gewinnen. 2. Soziologische Untersuchungen mit dem Ziel der Beschreibung, der Analyse von Zusammenhängen, der Erfassung einer Struktur oder der Entwicklung in einem begrenzten Bereich. Dabei werden die methodischen Instrumente neu ausgearbeitet und geprüft sowie ad-hoc-Theorien gebildet, im wesentlichen existieren jedoch bereits theoretische Grundlagen, und es geht um ihre Anwendung auf die Erkundung neuer Erscheinungsformen bzw. um eine vertiefte Kenntnis über Strukturen und Entwicklungstendenzen unter bestimmten Bedingungen. Beispiele dafür sind soziologische Untersuchungen über die Ergebnisse des Einsatzes der Mikroelektronik im Hinblick auf Veränderung von Charakter und Inhalt der Arbeit, auf Kollektivbeziehungen und Leitung, auf Leistungsverhalten und Stimulierungsmittel u. a. in einem Industriezweig oder in der Landwirtschaft. 3. Soziologische Untersuchungen mit dem Ziel, die Wirkung und Veränderung bekannter Gesetzmäßigkeiten in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft innerhalb eines bestimmten Zeitabschnittes zu analysieren (z. B. Entwicklungstendenzen der sozialistischen Lebensweise oder Veränderungen in der Sozialstruktur der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, Prozesse der Annäherung und auch der 98

Vgl. A. Meier, Soziologie des Bildungswesens, a. a. O., R. Stollberg, Arbeitssoziologie, Berlin 1978; Autorenkollektiv unter Ltg. von K. Krambach, Genossenschaftsbauern, gestern — heute — morgen, Berlin 1977; Autorenkollektiv unter Ltg. von K. Krambach, Die Genossenschaftsbauern in den achtziger Jahren, Berlin 1984; S. Grundmann, Die Stadt, Berlin 1984; Rabocaja kniga sociologa, otv. red. G. V. Osipov, 2., Überarb. u. erweit. Aufl., Moskva 1983.

50

Methodologische Voraussetzungen

Differenzierung von Klassen, der Zunahme sozialer Gleichheit, Ausprägung sozialer Unterschiede etc.). Hier werden nicht nur spezifische methodische Instrumente neu ausgearbeitet und Schlußfolgerungen aus bekannten Theorien abgeleitet, es werden auch neue Tendenzen und Entwicklungsgesetze aufgedeckt und in das theoretische Aussagesystem der marxistisch-leninistischen Soziologie überführt. 4. Theoretische Arbeiten und empirische soziologische Untersuchungen zu einer komplexen Thematik, für die Theorien zwar schon bestehen, jedoch das theoretische Aussagesystem mehr auf Hypothesen als auf gesicherter Erkenntnis aufbaut. Dabei geht es z. B. um prognostische Aussagen bei einer komplexen Prozeßanalyse, wobei die Verflechtung sozialer Bereiche, die Wechselwirkungen zwischen bestimmten Sphären, Bereichen und Ebenen zu analysieren sind und neue Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt werden. Dieser Typ soziologischer Forschung schließt die vorgenannten in sich ein. Generell muß betont werden, daß die exakte Beschreibung sozialer Sachverhalte, die Forschungen des 1. und 2. Typs eine unabdingbare Voraussetzung zur Lösung der komplizierten Aufgaben in der Art der Forschungen vom 3. und 4. Typ sind. Der Gegenstand der Soziologie prägt die Forschungsmethoden vor allem in zweierlei Hinsicht: 1. er legt die Objekte der Forschung und die Problemsicht fest und 2. er bestimmt die Aussagenspezifik über diesen Objektbereich, mit der sich der jeweilige Forschungsprozeß (und damit die Methodik) befaßt. Zweifellos besteht in der Soziologie eine große Vielfalt und Varianz in den Forschungsobjekten und in den Typen und Aufgabenstellungen für die Forschung. Die Spannweite soziologischer Forschungen reicht von der Tätigkeit eines Betriebssoziologen, der nach einer Standardmethodik bestimmte Analysen für die Leitung seines Betriebes durchführt, über angewandte Forschungen von Forschungsgruppen in einer Zweigsoziologie, die sowohl auf theoretischen Erkenntnisgewinn wie auch auf praktische Empfehlungen abzielen, bis zu den langfristig angelegten theoretischen Arbeiten, die viele einzelne empirische Forschungen einbeziehen und in Forschungsberichte und Publikationen münden, die mit grundlegenden theoretischen Erkenntnissen und praktischen Empfehlungen von Gewicht für die Gesellschaftsstrategie sind. Wir gehen davon aus, daß soziologische Forschung im idealen Fall mehrere Ziele verbinden sollte und auch kann: 1. einen praktischen Beitrag zur Lösung von Problemen der Leitung sozialer Prozesse zu leisten (Analysen und Empfehlungen für die Leitung eines Betriebes, eine gesellschaftliche Organisation etc.); 2. theoretischen Erkenntnisgewinn zu erzielen; 3. methodische Erfahrungen zu sammeln (Standardmethodiken ausarbeiten, neue Methoden testen, Beiträge zum Datenspeicher etc.) und schließlich

Arten soziologischer Forschung

51

4. an Universitäten auch Ausbildungsziele mit der Forschung zu realisieren. Im folgenden geben wir in gedrängter und vereinfachter Form einen Überblick über den singulären soziologischen Forschungsprozeß, da dies für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs der methodologischen und methodischen Probleme, die im 2., 3. und 4. Kapitel dargestellt werden, wichtig ist. Vier allgemeine Aussagen über den soziologischen Forschungsprozeß seien vorangestellt : 1. Der soziologische Forschungsprozeß ist eine spezifische Form des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses; 2. er hat letztlich praktisch nützliche Ergebnisse zu liefern (befriedigt jeweils bestimmte gesellschaftliche Bedürfnisse); 3. er fußt auf weltanschaulichen und politischen Positionen und folgt methodologischen Prinzipien und methodischen Regeln; 4. er ist in sich gegliedert und stellt in dieser Strukturiertheit in jedem Abschnitt wissenschaftliche, organisatorische und auch materiell-technische Anforderungen an den Forscher sowie an Auftraggeber, Praxispartner und Anwender soziologischer Forschung. Weiter gilt es, ein bisweilen immer noch verbreitetes Mißverständnis zu klären: Soziologische Forschung ist nicht identisch mit Datenerhebung. Die soziologische Datenerhebung ist lediglich ein bestimmter Abschnitt im soziologischen Forschungsprozeß, zwar ein sehr wichtiger, meist jedoch auch relativ kurzer Abschnitt (vgl. Abschnitt 3.1.). Die direkte Datenerhebung kann im Forschungsprozeß auch entfallen, wenn empirisches Material in hinreichendem Umfang zur Verfügung steht oder das Forschungsproblem durch theoretische Bearbeitung gelöst werden kann. Den größten zeitlichen Umfang beanspruchen im Ablauf eines soziologischen Forschungsprozesses die theoretischen Arbeiten. Bildlich und sehr vereinfacht gesagt, ist der forschende Soziologe nicht ein Mensch, der unentwegt Leute befragt und beobachtet, sondern der eine spezifische Form geistiger Arbeit verrichtet." In stark vereinfachter Form wird der Forschungsablauf in Abbildung 1 dargestellt (vgl. Abb. 1). Folgende Fragen sind bei der Forschungsplanung zu berücksichtigen: 1. Welcher theoretische Kenntnisstand über das Forschungsproblem ist bereits erreicht worden? 2. Ist es möglich, das Problem durch theoretische Arbeit zu lösen bzw. theoretisches Wissen zur Problemlösung zu nutzen? (Eine eigene empirische Erhebung entfallt dann). 3. Ist es möglich, falls zur Problemlösung neues empirisches Wissen benötigt wird, dieses aus bereits durchgeführten soziologischen Untersuchungen oder 99

5

Vgl. R. Stollberg, Warum und wozu Soziologie?, a. a. O., S. 33—96. Soziolog. Forschung

52

Methodologische Voraussetzungen Theoretische

Vorbereitung

Praktisch-methodische und organisatorische Vorbereitung

Erhebung

\

Datenaufbereitung Dotenono/yse

und

Theoretische Auswertung und Überführung

Abb.

1

Vereinfachte Darstellung des Ablaufs eines soziologischen Forschungsprozesses

aus anderen Quellen zu entnehmen? (Wenn dies hinreichend gegeben ist, entfällt die eigene Primärerhebung von Daten.) Wenn die Notwendigkeit einer eigenen empirischen Erhebung gegeben ist, müssen eine ganze Reihe von Faktoren bei der konkreten Planung berücksichtigt werden. Wir gliedern die Fragen, die bei der Planung des gesamten Forschungsprozesses

zu

beantworten sind, in drei Gruppen: 1. Probleme, die unmittelbar mit dem Forschungsziel zusammenhängen; 2. Probleme, die mit den Forschungsbedingungen zusammenhängen und 3. Erfordernisse bei der Methodenwahl. Zu 1.: Fragen, die unmittelbar mit dem Forschungsziel zusammenhängen. — Für wen wird geforscht? Welches gesellschaftliche Bedürfnis wird befriedigt, welcher gesellschaftliche Auftraggeber ist an den Forschungsergebnissen interessiert? — Welcher praktische Nutzen soll erbracht werden? Genügt die bisherige Alltagserfahrung? Welcher Aufwand wird durch den Nutzen gerechtfertigt? Welche weiterreichenden Wirkungen hat die Forschung? — Welcher theoretische Erkenntnisgewinn soll erzielt werden? Kann man die Erkenntnisse aus vorhandenem Wissen übernehmen? Welcher Erkenntniszuwachs soll erbracht werden? Welche Bedeutung hat der Erkenntnisgewinn?

53

Arten soziologischer Forschung

— Welche Forschungen wurden bereits zu der Thematik durchgeführt? Welche Ergebnisse, welche Erfahrungen liegen vor, was kann an methodischen Erfahrungen, was an Daten und theoretischen Erkenntnissen übernommen werden? Welche Schlußfolgerungen wurden bisher gezogen, welche Wirkung hatten die praktischen Empfehlungen? Zu 2.: Fragen, die unmittelbar mit den Forschungsbedingungen und mit der Durchfiihrung einer Datenerhebung

zusammenhängen.

— — — —

Wieviel Zeit ist vorhanden? Wieviel Geldmittel stehen zur Verfügung? Wie groß ist das Forschungskollektiv? Welche praktischen und theoretischen Erfahrungen bestehen bei der Forschungsgruppe? — Welche Eigenarten hat das Untersuchungsfeld? — Welche Bedingungen bestehen für die Datenaufbereitung und -analyse? — Welche Bedingungen bestehen für die Verwertung der Forschungsergebnisse? Aus der Beantwortung dieser Fragen leitet sich der Genauigkeitsgrad und der Aufwand der Forschung ab. Zu 3.: Erfordernisse

der

Methodenwahl.

Die ausgewählten Methoden müssen dem Gegenstand der Forschung (Objekt, Bereich, Ebene usw.), dem Ziel der Forschung (besonders den praktischen und theoretischen Verwertungsbedingungen der Ergebnisse), den verfügbaren Mitteln (Zeit, Geld, Kräfte etc.), den Eigenarten des Untersuchungsfeldes (Erhebungsbereich) sowie den politischen und ethischen Prinzipien soziologischer Forschung entsprechen (vgl. Abschnitt 3.1., Abb. 6). Ausgangspunkt und Endpunkt des soziologischen Forschungsprozesses ist die gesellschaftliche Praxis (praktische gesellschaftliche Erkenntnisbedürfnisse als Ausgangspunkt und die Überführung der Erkenntnis in praktische Empfehlungen als Endpunkt). Der soziologische Forschungsprozeß durchläuft zu Beginn eine Phase theoretischer Arbeit: die Formulierung der Probleme und die Übersetzung in Forschungsfragen (vgl. Abschnitt 2.1); das Aufsuchen und die Übernahme des bereits vorhandenen Wissens in Forschungsprobleme; die Ausarbeitung von Hypothesen (vgl. Abschnitt 2.2) und Untersuchungsstrategien zur Problemlösung; die Methodenwahl und die wissenschaftliche Begründung des methodischen Instrumentariums zur Erkenntnisgewinnung einschließlich Begründung und Operationalisierung von Begriffen und Aussagen über Sachverhalte (vgl. Abschnitt 2.6). Theoretische Arbeiten überwiegen aber auch in der Auswertungsphase und betreffen die Prüfung des Datenmaterials im Hinblick auf die Hypothesen, die Datenanalyse und die empirische und theoretische Interpretation der gewonnenen Erkenntnisse unter dem Aspekt der Problemlösung (vgl. Abschnitte 4.1., 4.2., 4.6.). Der For5*

54

Methodologische Voraussetzungen

schungsprozeß kann als ein Weg der Bereicherung der Theorie und als ein theoriegeleitetes Vorgehen in der Forschung angesehen werden. Diese Betrachtungsweise des soziologischen Forschungsprozesses kommt in Abbildung 2 zum Ausdruck. Der Weg beginnt bei den gesellschaftlichen Bedürfnissen, d. h. den Anforderungen der gesellschaftlichen Praxis, und führt über Forschungsprobleme, Wissensübernahme, Formulierung von Hypothesen bis zu jenem Punkt, an dem entschieden werden muß, ob eine eigene Datenerhebung notwendig ist, oder ob das vorhandene empirische und theoretische Wissen genügt, um auf theoretischem Wege eine Problemlösung und damit einen Erkenntniszuwachs herbeizuführen. In diesem Fall würde der obere kleine Kreis durchlaufen werden, im Falle der Möglichkeit der Datenübernahme der mittlere Kreis und im Falle der Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung der untere Bogen bis zur Beantwortung der Forschungsfragen. Es sei hier lediglich vermerkt, daß der „kleine" Kreis, der theoretische Kreislauf, in der Regel mehrmals durchlaufen wird, ehe der Übergang zur empirischen Untersuchung vollzogen werden kann (vgl. Abb. 2). Die politische Verantwortlichkeit des Soziologen ist in allen Phasen des Forschungsprozesses von großer Bedeutung: 1

. Bei der Wahl der Forschungsthematik: Sie soll gesellschaftlich bedeutsam sein, aktuelle Fragen und zugleich auch Fragen, die in der Perspektive noch an Bedeutung gewinnen, aufgreifen und relevant für praktische Empfehlungen und den theoretischen Erkenntniszuwachs sein. 2. Der theoretische Ansatz muß von den gesicherten Erkenntnissen des Marxismus-Leninismus ausgehen und den theoretischen und praktischen Orientierungen der marxistisch-leninistischen Partei entsprechen. 3. Bei der Entscheidung über die Methoden: Ökonomischer Einsatz der Mittel, Präzision und Schnelligkeit im Erreichen des Ergebnisses, Originalität und vorausschauende Aufmerksamkeit im Hinblick auf Nebenwirkungen des Methodeneinsatzes im Forschungsfeld sind erforderlich. 4. Bei der Durchführung der Datenerhebung: Gründliche Vorbereitung der Erhebung mit staatlichen Leitungsorganen, Parteileitungen und Leitungen anderer gesellschaftlicher Organisationen ist erforderlich. Die hinreichende Information und das Gewinnen der Werktätigen im Untersuchungsfeld zur Mitarbeit, der Einsatz politisch erfahrener und besonnener „Erheber" (z. B. Interviewer) und die sofortige Auswertung von Ereignissen und Informationen, die nicht zur Forschungsthematik gehören, jedoch von Belang für die Leitungsorgane im Bereich sind, und zugleich die Wahrung der Vertraulichkeit über alle Aussagen von Werktätigen (z. B. in Interviews zum Forschungsgegenstand), gehören zum ABC des Feldforschers (Achtung der Persönlichkeit, z. B. der Befragten). 5. Bei der Aufbereitung und Interpretation: Die Aufbereitung soll ökonomisch und schnell, vor allem zielgerichtet und die Interpretation höchst verantwortungsbewußt erfolgen.

55

Gesellschaftliche

Praxis als Ausgangspunkt soziologischer Forschung

und Ziel

/

Oberführung gesellschoftl.

/

\

Gesellschaftliche Erkenntnisbedürfnisse

in die Praxis

\

Theoret. Erkenntniszuwachs (Bereicherung der Theorie)

f

Verknüpfung vorh. theor. \

Arten soziologischer Forschung

Praxisprobleme Nutzung vorh. Wissens zur Problemlösung (auch anderer Disziplinen) bzw. Problembearbeitung j

mit dem Missen

Formulierung neuer und Hypothesen

Probleme

Formulierung probleme

\

linci

erklärung)

Theor. Auswertung (Problemlösung)

der

Forschungs-

Begriffs

-

y

Hypothesenbi/dung

Theor. - logische Problembearbeitung (Problemanalyse) Empir. (Kurzbericht

Forschungsbericht an Praxispartner)

Verifikation der empir. (umfass. math.-statist. onatyse )

Hypothesen Daten-

Folgerungen aus Hypothesen (empir. Hypothesen) ^ Feststellung von Erfordernissen neuer empir. Erkenntnisse (neue Tatsachenermittlung)

I

\

Methodenwahl für empir Untersuchungen

/

Operationalisierung und Aussagen Sekundäranalyse von Statistiken und Dokumenten Nachuntersuchungen \

von

Begriffen

(Indikatoren) /

Auswahl des empirischen Untersuchungsobjektes, des Untersuchungs feldes und der Untersuchungseinheiten

Erste Daten interpretation \

Methoden

Erste Daten analyse

\

I

Organisatorische Vorbereitung der Datenerhebung

Datenaufbereitung Datenerhebung Abb. 2

Kreislaufschema des soziologischen Forschungsprozesses

testung

56

Methodologische Voraussetzungen

6. Bei der Überführung der Ergebnisse in die Praxis: Es müssen Formen der Darstellung gefunden werden, die die Forschungsergebnisse für Leitungsorgane verständlich und nutzbar machen, praktische Empfehlungen gegeben und vor allem höchst verantwortungsbewußte Wertungen vorgenommen werden. 7. Bei der Speicherung der Daten und der Sicherung der Zugriffsmöglichkeit und des entsprechenden Vertraulichkeitsgrades für alle Materialien: Dazu ist erforderlich, eine Dokumentation der Untersuchung anzufertigen, die es ermöglicht, diese Daten in künftigen Sekundäranalysen wiederzuverwenden. „Datenhalden" zeugen auch von politischer Verantwortungslosigkeit.

2. KAPITEL

Das Forschungsprogramm - Methodologische Ansätze und Opera tionen

2.1. Forschungsprobleme Die Funktion der soziologischen Forschung besteht vor allem darin, durch Gewinnung neuen Wissens zur Lösung von Problemsituationen in der sozialen Wirklichkeit beizutragen. Das heißt, sie wirkt als Bestandteil der marxistisch-leninistischen Gesellschaftstheorie an der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft aktiv mit. Bei der Lösung von Problemsituationen geht es wesentlich um die Aufdeckung der Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen Struktur, Funktionsweise, Veränderung und Entwicklung komplexer sozialer Sachverhalte in den verschiedenen Bereichen und Ebenen der sozialistischen Gesellschaft, wobei die zugrunde liegenden sozialen Triebkräfte, die inneren und äußeren Widersprüche in den gesellschaftlichen Prozessen aufgedeckt werden sollen.1 Mit anderen Worten: „Die gesellschaftliche Praxis, ihre verschiedenen Seiten, Erscheinungen, Bereiche, Prozesse und Zusammenhänge sind wesentliches Objekt der verschiedenen Richtungen soziologischer Forschung, jeglichen soziologischen Nachdenkens über die Wirklichkeit, ihres Gewordenseins und ihres Werdens." 2 Praxisprobleme entstehen also in der praktischen Tätigkeit gesellschaftlicher Subjekte bei der Bewältigung konkret historischer sozialer Situationen. Sie verlangen „Wissen..., das nicht bereits vorhandenen Wissensspeichern entnommen werden kann, sondern neu gewonnen werden muß" 3 . Derartige Praxisprobleme sind eine Herausforderung an die Wissenschaft; sie sind die Grundlage für die Ableitung von Zielen und Aufgaben soziologischer Forschung (gesellschaftlicher Erkenntnisinteressen). Ziele und Aufgaben soziologischer Forschung ergeben sich also letztlich aus den realen Widersprüchen gesellschaftlicher Entwicklung und werden durch konkret historische Analysen der sozialen Wirklichkeit dem Forscher bzw. dem Forscherkollektiv in Form von Forschungsproblemen bewußt. Solche realen Entwicklungswidersprüche existieren in unserer Gesellschaft unter den Bedingungen der Durch1

2

3

Vgl. K. Hager, Gesetzmäßigkeiten unserer Epoche — Triebkräfte und Werte des Sozialismus, Berlin 1983, S. 67. R. Weidig/G. Winkler, Soziologie und gesellschaftliche Praxis, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1982, Berlin 1982, S. 23. H. Parthey (Hrsg.), Problem und Methode in der Forschung, Berlin 1978, S. 15.

58

Forschungsprogramm

setzung der intensiv-erweiterten Reproduktion, z. B. zwischen der Notwendigkeit zum effektiven Wiedereinsatz von freigesetzten Arbeitskräften und deren Qualifikation, familiären Bedingungen, Wohnbedingungen etc., zwischen den Erfordernissen sozialistischer Rationalisierung in jedem Betrieb und der demographisch und territorial differenzierten Qualifikationsstruktur und damit Disponibilität der Werktätigen, zwischen Rationalisierung von Entscheidungsprozessen und demokratischen Formen der Teilnahme der Werktätigen an ihnen, zwischen Reproduktionsprozessen der Sozialstruktur und Reproduktionsprozessen der Bevölkerung, zwischen Reproduktionsprozessen der Sozialstruktur und der Entwicklung sozialer Organisationsformen etc. Ein Forschungsproblem kann auch dann auftauchen, wenn der Problemgegenstand (sozialer Sachverhalte) zwar noch nicht in der sozialen Wirklichkeit existiert, wenn jedoch auf der Grundlage gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Entwicklungsrichtung der sozialen Wirklichkeit angenommen werden muß, daß die Entwicklungstendenzen unter voraussehbaren Bedingungen zu solchen Widersprüchen führen werden, daß zu ihrer Lösung neue wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse und Empfehlungen oder Gestaltungsvorschläge rechtzeitig bereitgestellt werden müssen. Derartige prognostische Aussagen wurden zum Beispiel hinsichtlich des ökologischen Systems formuliert, bevor die Umweltbelastungen sichtbar in Erscheinung traten. Ähnliche Aussagen wurden hinsichtlich weiterer globaler Probleme der Menschheitsentwicklung fprmuliert, wie der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen, der Bevölkerungsentwicklung, der Energieressourcen, der Ernährung u. a. Selbstverständlich verlangen solche globalen Probleme auch globale Lösungsansätze. Aber auch für spezifisch soziale Entwicklungsprozesse und Strukturentwicklungen ist eine derartige Problemsicht relevant. Genannt seien nur soziale Voraussetzungen und Konsequenzen moderner Informationstechnologie. Daher sind sowohl aktuelle soziale Widersprüche als auch die Entwicklungstendenzen sozialer Widersprüche bzw. potentielle Widersprüche der Zukunft eine Herausforderung an den Soziologen. Über Definition und Klassifikation von Forschungsproblemen gibt es eine umfangreiche Literatur. 4 Unter einem Forschungsproblem wird gemeinhin verstanden : „Ein System von Fragen und Aussagen, das — bezogen auf ein gesetztes Ziel — sowohl bereits vorhandenes Wissen als auch Fragen nach noch fehlendem Wissen enthält, ..., wenn kein Algorithmus bekannt ist, durch den der festgestellte Wissensmangel in einer endlichen Zahl von Schritten beseitigt werden kann,"5 4

5

Vgl. Autorenkollektiv, Logik der wissenschaftlichen Forschung, Berlin 1969; P. V. Kopnin/M. W. Popowitsch(Hrsg.), Dialektik, Logik, Erkenntnistheorie, Berlin 1970; H. Berger/H. Jetzschmann, Der soziologische Forschungsprozeß, Berlin 1973; W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, Berlin 1975; H. Parthey (Hrsg.), Problem und Methode in der Forschung, a. a. O., u. a. H. Parthey (Hrsg.), Problem und Methode in der Forschung, a. a. O., S. 13/14.

Forschungsprobleme

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Ein soziologisches Forschungsproblem ist demzufolge ein Erkenntnisproblem, dem ein aktuelles bzw. künftiges Praxisproblem zugrunde liegt. Erkenntnisprobleme existieren in Form von Erklärungsproblemen, Beschreibungsproblemen, Beweisproblemen, Explikationsproblemen und Definitionsproblemen. 6 Erklärungsprobleme und Beschreibungsprobleme sind die entscheidenden Problemtypen soziologischer Forschung, wobei zu beachten ist, daß Erklärungsprobleme die anderen genannten Problemtypen implizieren. Jeder Problemformulierung geht eine bestimmte Problemsituation voraus, die objektiver Natur ist. Der Drang zur Problemformulierung ergibt sich erst dann, wenn der Forscher bzw. das Forscherkollektiv auf der Grundlage relevanter Informationen über das Forschungsobjekt, seine Merkmalsstruktur und Wirkungsbedingungen, seine Existenzform und Funktionsweise bzw. seine Entwicklungstendenz ein bestimmtes Problembewußtsein erlangt hat. Ein Forschungsproblem ist also die wissenschaftliche Widerspiegelung bzw. Abbildung einer objektiv-realen Problemsituation. Problemsituation und Forschungssituation sind nicht identisch; eine Problemsituation geht in eine Forschungssituation über, wenn die Möglichkeiten und Mittel zur Problembearbeitung tatsächlich gegeben sind. Forschungsprobleme werden formuliert, um bearbeitet und gelöst zu werden. Ein wohlformuliertes Problem ist der erste Schritt zu seiner Lösung. Problemformulierung und Problemanalyse (im Sonderfall Systemanalyse des Untersuchungsobjekts) sind notwendige Schrittfolgen der Programmierungsphase soziologischer Forschung. 7 Zur soziologischen Forschung gehören sowohl materielle wie auch idelle Erkenntnismittel. Die materiellen Erkenntnismittel (wissenschaftliche Arbeitsbedingungen, Geräte, Apparaturen, Arbeitsmittel, verfügbare Informationsmittel, finanzielle Mittel) wie die ideellen Erkenntnismittel (Theorien, Forschungsprobleme, Hypothesen, Modelle, Prinzipien, Methoden) sind notwendige Voraussetzungen für den soziologischen Forschungsprozeß. So können z. B. großangelegte Sozialstrukturforschungen heute nur noch computergestützt durchgeführt werden. Entscheidend jedoch ist das dialektisch-materialistische Vorgehen bei der Problemformulierung. Dies erfordert, in das Wesen, den Inhalt, die Bewegungsformen, Wirkungs- und Funktionsmechanismen der widergespiegelten Widersprüche einzudringen und Anforderungen zu ihrer Lösung zu bestimmen. Die bewußte Anwendung der im 1. Kapitel genannten Prinzipien, Gesetze und Kategorien der materialistischen Dialektik ist eine notwendige Voraussetzung, damit die formulierten Forschungsprobleme ihre heuristische Funktion im soziologischen Forschungsprozeß auch tatsächlich erfüllen können. 6 7

Vgl. ebenda, S. 21. Vgl. Raboöaja kniga sociologa, otv. red. G. V. Osipov, 2., Überarb. u. erweit. Aufl., Moskva 1983, S. 112/113.

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Forschungsprogramm

Abb. 1 Funktioneller Zusammenhang zwischen Forschungsproblemen und Forschungsmethoden

Der funktionelle Zusammenhang zwischen Forschungsproblemen und Forschungsmethoden läßt sich wie folgt darstellen (vgl. Abb. 1). Da soziale Sachverhalte immer in Wechselwirkung mit politischen, ökonomischen, technologischen, psychologischen und anderen gesellschaftlichen Sachverhalten existieren, durch diese nicht selten besondere Modifikationsformen annehmen und durch diese determiniert bzw. beeinflußt werden, sind wissenschaftliche Aussagen und Fragen der entsprechenden Wissenschaftsdisziplinen in die soziologische Problemformulierung einzubeziehen oder doch zumindest zu berücksichtigen. Es ist evident, daß auch bei der soziologischen Problemlösung die Methoden anderer Disziplinen zu nutzen sind bzw. die Problemlösung überhaupt auf interdisziplinärem Wege erfolgen muß. Kein sozialer Sachverhalt kann tiefgründig von der Soziologie erforscht werden, wenn nicht die direkten und indirekten Bedingungen seiner Existenz, seines Funktionierens, seiner Struktur und seiner Entwicklung aufgedeckt und erklärt werden. Ursachen- und Folgenanalyse sozialer Sachverhalte sind daher immanenter Bestandteil einer Problemanalyse. Die Wirkungsbedingungen sozialer Sachverhalte bestimmen auch deren konkrete Erscheinungsformen. Die realen, möglichen und wahrscheinlichen Wirkungsbedingungen eines sozialen Sachverhaltes untergliedern sich in hinreichende und notwendige, objektive und subjektive, allgemeine und besondere, spezifische und nichtspezifische, direkte und indirekte, soziologische und nichtsoziologische, individuelle, kollektive und und gesellschaftliche Wirkungsbedingungen. Darüber hinaus sind besondere Begleitbedingungen zu berücksichtigen. Für die Analyse dieser Wirkungsbedingungen gewinnt auch in der soziologischen Forschung die Systemanalyse an Bedeutung (vgl. Abschnitt 2.4.). Damit ein Forschungsproblem bearbeitet werden kann, muß es bestimmten Kriterien genügen:

Forschungsprobleme

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1. Es muß wissenschaftliche Aussagen enthalten, deren Wahrheitswert bereits festgestellt worden ist und die dem abzubildenden sozialen Sachverhalt adäquat sind. 2. Es muß Aufforderungen (Zielsetzungen) und Fragen enthalten, deren Beantwortung relevant für den abzubildenden sozialen Sachverhalt ist und die auf neue Erkenntnisse abzielen. 3. Es muß zur Problemlösung eine hinreichende Menge wissenschaftlicher Aussagen, die zu weiteren Fragestellungen stimulieren, enthalten. 4. Es muß Aufforderungen zur Nutzung vorhandener Methoden enthalten, die der Problemlösung dienlich sind bzw. auf die Ausarbeitung problemadäquater Methoden orientieren. 5. Das Niveau der im Problem enthaltenen Aussagen, Fragen und Aufforderungen muß dem Problemtyp entsprechen. Problemtypen werden hinsichtlich des Erkenntnisniveaus der zu bestätigenden Aussagen (Bestimmungs- bzw. Beschreibungsaussagen, Bedingungsaussagen, Gesetzesaussagen) und hinsichtlich des Charakters des zu untersuchenden sozialen Sachverhalts (Ereignisprobleme, Verhaltensprobleme, Beziehungsprobleme, Strukturprobleme, Funktionsprobleme, Prozeßprobleme, Entwicklungsprobleme) unterschieden. Der Charakter der Problembearbeitung und Problemlösung ist dementsprechend verschieden. Von eminenter Bedeutung ist der Charakter der Zielfrage (Programmfrage) jeder Untersuchung. Aus ihr werden präzisierte Detailfragen abgeleitet, die einerseits einen unmittelbaren Bezug zu dem vorhandenen Wissen (bereits bestätigte Aussagen) und zum anderen zur möglichen, vermuteten Merkmals- und Bedingungsstruktur des zu untersuchenden Sachverhalts haben (Relation zwischen beiden Strukturen eingeschlossen). Die Problemanalyse und die Problemlösung sind als Phasen des Forschungsprozesses in spezifischer Weise mit soziologischen Forschungsmethoden verknüpft. Die Problemanalysemethoden werden in den nachfolgenden Abschnitten des 2. Kapitels noch eingehender dargestellt; die Problemlösungsmethoden dagegen im 4. Kapitel, so daß wir uns im folgenden auf die Darlegung einiger Grundregeln beschränken. Für die Problemanalyse in der Programmierungsphase soziologischer Forschung sind vor allem folgende heuristische Regeln relevant: „ 1. Stelle die Bestandteile eines Problems exakt fest, trenne das Bekannte vom Unbekannten und finde heraus, ob das Vorhandene für eine Lösung notwendig ist oder nicht. 2. Bestimme den Problemtyp und füge das Problem in eine bestimmte Wissenschaftsdisziplin bzw. eine Gruppe von Wissenschaftsdisziplinen ein. 3. Zerfalle das Problem in elementare Probleme und ordne die elementaren Probleme für die Bearbeitung entweder nach ihrer logischen Priorität oder, wenn das unmöglich ist, nach ihrem Schwierigkeitsgrad.

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Forschungsprogramm

4. Variiere die Bestandteile und/oder die Formulierung eines Problems, simplifiziere unter Umständen die Zielstellung, verdichte und vereinfache die gegebenen Informationen, eliminiere problemirrelevante Informationen, damit das Problem zugänglicher wird. 5. Versuche eine geeignete Methode für die Bearbeitung des Problems zu finden und im voraus die Vor- und Nachteile dieser Methode abzuschätzen. 6. Suche nach ähnlichen, aber gelösten Problemen, bette das Problem in eine Problemfolge ein, oder verlagere es in ein neues Gebiet, um vorhandene Lösungen und Lösungswege nutzbar machen zu können." 8 Derartige Regeln sind erste Konstruktionshinweise für die Problemformulierung bzw. Problemanalyse. Zweckmäßigerweise beginnt man mit der Sammlung problemrelevanter Informationen in Form gesicherter Aussagen über den zu untersuchenden sozialen Sachverhalt. Die eigentliche Konstruktivität beginnt indessen mit der Aufstellung eines Fragekatalogs (ausgehend von den vorhandenen Informationen), z. B. : Fragekatalog zum Thema „Soziale Triebkräfte ökonomischen Wachstums": — Wie ist die qualitative Beschaffenheit sozialer Beziehungen, Strukturen und Organisationsformen ? — In welchen Proportionen müssen soziale Strukturen reproduziert werden, um dem intensiv-erweiterten Reproduktionstyp der Volkswirtschaft zu entsprechen? — Wie erfolgen die spezifischen Ausprägungen der sozialökonomischen Verhältnisse in den sozialen Beziehungen, Strukturen, Funktionsmechanismen und Organisationsformen ? — In welcher Qualität und in welchem Ausprägungsniveau erfolgt die Transformation ökonomischer Reproduktionsanforderungen in soziales Handeln? — Welche sozialstrukturellen Differenzierungen erfolgen durch die Vertiefung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bei der Durchsetzung des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts? — Welche Persönlichkeitsmerkmale müssen ausgeprägt werden, um hohes Leistungsverhalten zu erzeugen ? — Wie entwickelt sich die Übereinstimmung von gesellschaftlichen, kollektiven und persönlichen Interessen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen? — Wie wirkt das Leistungsprinzip in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und sozialen Gruppen? — Welche sozialen Bedingungen bzw. Faktoren hemmen und welche fordern hohes Leistungsverhalten?

8

H. Korch, Die wissenschaftliche Hypothese, Berlin 1972, S. 181/182.

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Jede dieser Fragen läßt sich weiter untersetzen (vgl. Abschnitt 2.2). So können unter anderem als soziale Bedingungen fördernd oder hemmend auf das Leistungsverhalten wirken: • Arbeitsinhalte, • Qualifikationsniveau, • Lohn und Prämien, • Anerkennung bzw. Sanktion der Arbeitsleistung durch Leiter und Kollektiv, • Kollektivbeziehungen, • Arbeitsklima, • Leitungstätigkeit, • Arbeitsteilung und Kooperation, • materielle, soziale und zeitliche Arbeitsbedingungen, • Technisierungsniveau. Ein solcher Fragenkatalog ist Ausdruck des benötigten Wissens; je umfassender und präziser die Fragestellung, desto mehr Voraussetzungen werden für das regulative Vorgehen in der Forschung geschaffen. Das eigentlich „Heuristische" ist der Frageinhalt, er bestimmt den Informationsgehalt der Antwort (Aussage). Kluge Fragen regen zum Mit- bzw. Weiterdenken und damit zur Ideenfindung an. Bei der Problemformulierung sollte daher auf Expertenbefragungen nicht verzichtet werden. Eine wichtige Voraussetzung für eine wissenschaftliche Problemformulierung ist allenthalben die Bestimmung des Problemgegenstandes (sozialer Sachverhalt) hinsichtlich seiner Merkmalsstruktur, Wirkungsbedingungen und Relationen zu anderen relevanten sozialen Sachverhalten (Vermittlungsglieder). Dies ist eine der wichtigsten, aber auch schwierigsten Aufgaben inhaltlicher Forschung, d. h., die wissenschaftliche Formulierung von Problemen kann nur auf der Grundlage eines theoretischen konzeptualen Modells vom Problemgegenstand vorgenommen werden. Problemformulierungen erfolgen nicht nur im Hinblick auf empirische Untersuchungen im engeren Sinne (unmittelbare Datenerhebung), sondern sie sind notwendige Voraussetzungen zur Ausarbeitung eines profunden Forschungsprogramms (einschließlich Auswertungsprogramm bzw. Datenanalyseprogramm). Das Erkennen und die Formulierung von Problemen stellen eigenständige schöpferische Leistungen dar und sind der erste Schritt zur Problemlösung. Problemstellung, Problemerkenntnis, Problemformulierung und Problemlösung sind sich ständig wiederholende Phasen des soziologischen Forschungsprozesses im allgemeinen als auch im besonderen. Es liegt in der Relation von absoluter und relativer Wahrheit begründet, daß mit dem Problemlösen stets auch neue Forschungsprobleme auftauchen. Dies ist nicht nur ein Ausdruck der sich ständig vollziehenden Veränderungen und Entwicklungen in der objektiven sozialen Wirklichkeit, sondern auch ein Ausdruck der Wissenschaftsentwicklung. Werden jedoch Forschungsprobleme im Hinblick auf empirische Untersuchungen formuliert,

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so muß man sich der Relativität möglicher Problemlösungen bewußt sein. Andererseits ist Realitätssinn geboten — Forschungsprobleme, die man durch empirisch-soziologische Untersuchungen zu lösen trachtet, müssen auch auf die empirischen Repräsentanten bezogen formuliert werden. Das heißt, sie müssen das konkrete Untersuchungsobjekt auch tatsächlich abbilden. Die Problemformulierung für empirische Untersuchungen muß sich daher auf jenen Kreis von Merkmalen, Beziehungen und Bedingungen beschränken, der Gegenstand einer spezifischen soziologischen Untersuchung sein soll. Problemformulierungen sind daher immer objekt- und gegenstandsbezogen auszuführen. Der Typ der Forschungsprobleme wird sowohl durch das Erkenntnisziel als auch durch die Qualität des Untersuchungsobjekts bestimmt, deshalb sind Forschungsprobleme stets auf dem theoretischen und auf dem empirischen Erkenntnisniveau zu formulieren.

2.2. Hypothesen Soziologische Forschung ist zielgerichtete Forschung, Hypothesen gehören daher zu den wichtigsten Arbeitsmitteln des Soziologen. Als Entwicklungsform der Wissenschaft9 sind sie Leitideen soziologischer Forschung; als Arbeitsinstrument der empirisch-soziologischen Forschung sind sie wissenschaftlich begründete Annahmen bzw. Voraussetzungen zur Aufdeckung real existierender Ereignisse, Zusammenhänge und Prozesse in der sozialen Wirklichkeit. Darin liegt auch die zentrale Stellung von Hypothesen im Problemlösungsprozeß begründet (vgl. Abb. 2). Damit ist die Erklärungsfunktion von Hypothesen angesprochen. Durch den dargestellten Problemlösungsprozeß erfolgt mittels Hypothesen eine Wahrscheinlichkeitserklärung sozialer Sachverhalte hinsichtlich ihrer Existenzweise, Struktur, Funktionsweise, Ursachen bzw. Bedingungen und Veränderungs- bzw. Entwicklungstendenzen. Hypothesen sind also als Widerspiegelungselemente sozialer Sachverhalte Aussagen bzw. Aussagensysteme. Sie unterscheiden sich von Theorien und nachgewiesenen empirischen Aussagen aufgrund ihrer Eigenschaft, noch nicht bewiesen worden zu sein, d. h. noch nicht in der Praxis bestätigt. Der Charakter einer Hypothese ist dabei doppelt bestimmt, einmal durch die Art des abzubildenden sozialen Sachverhalts, seiner Merkmalsstruktur und Wirkungsbedingungen, seiner Einordnung in Struktur-, Funktions- und Entwicklungszusammenhänge und zum anderen durch den Grad der Tiefe des Eindringens in den sozialen Sachverhalt und das ihn determinierende soziale Beziehungsgefiige. 9

Vgl. Friedrich Engels, Dialektik der Natur, in: MEW, Bd. 20, a. a. O., S. 507; H. Lohse/R. Ludwig/M. Röhr, Statistische Verfahren für Psychologen, Pädagogen und Soziologen, Berlin 1982, S. 19, Abb. 2.2.

Hypothesen

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Abb. 2 Stellung und Funktion von Hypothesen im Problemlösungsprozeß Legende: Die gesellschaftliche Praxis ist Ausgangs- und Endpunkt der Erkenntnis.

Danach werden mithin auch die Arten der Hypothesen unterschieden. Die wissenschaftliche Begründetheit von Hypothesen ergibt sich aus der Tatsache, daß sie integrierte Bestandteile einer Wissenschaftsdisziplin sind. Hypothesen gründen sich auf Tatsachenwissen und sind auf die Erlangung neuen Tatsachenwissens orientiert. Wir können demzufolge definieren: Eine soziologische Hypothese ist ein konstruktiv-theoretisches System von bereits in der gesellschaftlichen Praxis bestätigten Aussagen und wissenschaftlich abgeleiteten, wahrscheinlich wahren, aber noch nicht bestätigten Aussagen über soziologische Untersuchungsobjekte. Zwischen beiden Aussagearten besteht insofern eine innere Relation, als die letzteren von den ersten Aussagen abgeleitet bzw. durch diese begründet worden sind. Die Aussagen selbst können ein unterschiedliches Erkenntnisniveau haben, sie können Bestimmungsaussagen, Bedingungsaussagen oder Gesetzesaussagen sein. Der Erklärungswert einer Hypothese wird indessen nicht nur durch die Art und Anzahl der in sie eingehenden Aussagenarten bestimmt, sondern auch und vor allem durch Niveau und Anzahl der bereits bestätigten Aussagen einerseits und Niveau und Anzahl der hypothetischen Aussagen andererseits. Je nach Strukturniveau spricht man von nomologischen oder empirischen Hypothesen bzw. von erklärenden oder beschreibenden Hypothesen oder auch grund-

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Forschungsprogramm

legenden und abgeleiteten Hypothesen. Hypothesen können auch nach der Art der Untersuchungsobjekte in Strukturhypothesen, Eigenschaftshypothesen, Zusammenhangshypothesen, Ursache-Wirkungshypothesen, Entwicklungshypothesen, Trendhypothesen, Zustandshypothesen, Prozeßhypothesen, Niveauhypothesen etc. unterschieden werden. Statistische Hypothesen sind eine besondere Art der Hypothesen. Man versteht darunter Annahmen bzw. mit Hilfe statistischer Modelle formulierte Aussagen über wahrscheinliche Merkmalsverteilungen in einer Grundgesamtheit (Menge gleichartiger Untersuchungseinheiten). Statistische Hypothesen beinhalten Behauptungen, die sich auf Populationen bzw. auf deren Parameter, auf Grundgesamtheiten (Verteilungsfunktionen) bzw. auf Parameter einer Verteilung beziehen. Sie sind ein notwendiges Glied im Verifikationsprozeß von Forschungshypothesen, weil sie entscheidbar formuliert und damit unmittelbar empirisch überprüfbar sind. Sie stellen also Operationalisierungen von Forschungshypothesen dar, so daß im allgemeinen einer Testhypothese (Nullhypothese) eine Alternativhypothese gegenübergestellt werden kann, die genau die gegenteilige Behauptung zur Nullhypothese enthält. Mittels geeigneter statistischer Testverfahren (vgl. 4. Kapitel) kann dann entschieden werden, welche der statistischen Hypothesen mit welchem Risiko (Fehler 1. und 2. Art) abzulehnen bzw. nicht abzulehnen ist. In der statistischen Literatur sind die Bildung und Prüfung statistischer Hypothesen, ihre Differenzierungen und spezifischen Inhalte, Arten und Verifikationsmodelle umfassend beschrieben. Zur Veranschaulichung dieser Problematik kann Abbildung 3 dienen (vgl. Abb. 3). Hypothesen sind also weitaus mehr als lediglich Vermutungen im umgangssprachlichen Sinne; sie entstehen auf der Grundlage reichhaltigen theoretischen und empirischen Materials, ihre Bildung ist ein spezifischer Erkenntnisprozeß. Oft genügt es nicht, für soziologische Untersuchungen nur eine Hypothese bzw. wenige Hypothesen zu entwickeln. Als Bestandteile des Forschungsprogramms vermögen sie am effektivsten ihre forschungsleitende und erklärende Funktion zu erfüllen, wenn sie in einem hierarchisch geordneten Hypothesensystem vereinigt sind, d. h., wenn zwischen den verschiedenen Hypothesentypen Relationen und Ableitungen hergestellt werden. Die Qualität eines der Forschung vorausgesetzten Hypothesensystems ist im Grunde Ausdruck der inhaltlich begründeten Forschung. Nun ist es nicht immer möglich, ein derartiges Hypothesensystem zu konstruieren, namentlich dann nicht, wenn die theoretischen Ausgangspositionen nicht hinreichend formuliert werden können. In solchen Fällen behilft man sich mit sogenannten Arbeitshypothesen. Eine Arbeitshypothese muß von der wissenschaftlichen Hypothese unterschieden werden, da es sich bei ihr um eine vorläufige Leitidee der Forschung handelt, deren Erklärungsgrad aufgrund des hohen Anteils von nicht hinreichend begründeten Vermutungen relativ gering ist. Vor allem für Voruntersuchungen sind derartige Arbeitshypothesen erforderlich, weil sie der Forschung

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Hypothesenbildung und Prüfung * Jede statistische Hypothese j^i = 1, 2, ..., e) ist als Paar Null- und Alternativhypothese zu formulieren. Quelle: H. Lohse/R. Ludwig/M. Röhr, Statistische Verfahren für Psychologen, Pädagogen und Soziologen, Berlin 1982, S. 19.

eine gewisse Systematik lind Planmäßigkeit ermöglichen und als Leitideen die Problemstellungen hinsichtlich des Untersuchungsobjektes einengen. Andererseits muß betont werden, daß trivial formulierte Hypothesen, die lediglich bekanntes Wissen auf den zu untersuchenden sozialen Sachverhalt transformieren, ohne dessen spezifische Merkmalsstruktur, Wirkungsbedingungen und Beziehun6

Soziolog. Forschung

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Forschungsprogramm

gen zu anderen tangierenden Sachverhalten zu beachten, k a u m f o r s c h u n g s o r i e n tierend wirken k ö n n e n . D e r Wert von Hypothesen e r h ö h t sich, wenn sie a u f der G r u n d l a g e u m f a s s e n d e r P r o b l e m a n a l y s e n entwickelt w o r d e n sind. Eine wissenschaftlich b e g r ü n d e t e H y p o these bzw. ein H y p o t h e s e n s y s t e m m u ß d a h e r b e s t i m m t e n Kriterien g e n ü g e n : 1. Sie müssen d e n Prinzipien der historisch- u n d dialektisch-materialistischen W e l t a n s c h a u u n g entsprechen. 2. Sie müssen auf d e r G r u n d l a g e d e r gesicherten theoretischen Position d e r marxistisch-leninistischen Soziologie f o r m u l i e r t w o r d e n sein. 3. Sie müssen die bisher g e w o n n e n e n E r k e n n t n i s s e der jeweiligen Zweigsoziologie berücksichtigen. 4. Sie müssen die o b j e k t a d ä q u a t e n b e k a n n t e n u n d gesicherten soziologischen T a t s a c h e n richtig widerspiegeln. 5. Sie müssen f ü r die G e s a m t h e i t der sozialen Erscheinungen u n d Prozesse, die d e m F o r s c h u n g s o b j e k t i m m a n e n t sind, gültig sein. 6. Sie müssen empirisch interpretierte bzw. interpretierbare Aussagen u n d Begriffe e n t h a l t e n . 7. Die gesicherten u n d nicht gesicherten A u s s a g e n einer H y p o t h e s e d ü r f e n sich logisch nicht widersprechen. 8. Sie d ü r f e n nicht im W i d e r s p r u c h zu gesicherten o b j e k t a d ä q ü a t e n A u s s a g e n a n d e r e r Wissenschaftsdisziplinen stehen. Als Fazit a u s diesen Kriterien o d e r F o r d e r u n g e n k a n n m a n formulieren, d a ß H y p o t h e s e n d e m F o r s c h u n g s o b j e k t , seinen W i r k u n g s b e d i n g u n g e n u n d determinierenden sozialen Verhältnissen tatsächlich angemessen sein m ü s s e n . N a t ü r l i c h ist es eine Illusion a n z u n e h m e n , d a ß der gesamtgesellschaftliche Wirk u n g s z u s a m m e n h a n g in allen seinen D i m e n s i o n e n u n d D e t e r m i n a t i o n s z u s a m m e n h ä n g e n in F o r m der H y p o t h e s e n e r f a ß t werden k ö n n t e . W o h l a b e r gestattet es eine theoretisch fundierte, die Prinzipien der materialistischen Dialektik berücksichtigende A u s g a n g s p o s i t i o n soziologischer F o r s c h u n g , die wesentlichen gesellschaftlichen Vermittlungen sowie die historischen, strukturellen u n d f u n k tionellen D i m e n s i o n e n sozialer Sachverhalte d u r c h ein H y p o t h e s e n g e f ü g e zu erfassen. Wir m a c h e n das a m Beispiel des Leistungsverhaltens deutlich u n d wählen dazu einen v o n mehreren möglichen A n s ä t z e n . Beispiel: Hypothese über die Wechselwirkung objektiver u n d subjektiver Bedingungen des Leistungsverhaltens Ausgangsposition : Leistungsverhalten als spezifische Q u a l i t ä t sozialen Verhaltens im A r b e i t s p r o z e ß zur E r r e i c h u n g qualitativer u n d q u a n t i t a t i v e r Arbeitsergebnisse in einer bestimmten Zeiteinheit wird d u r c h o b j e k t i v e u n d subjektive M o m e n t e des ö k o n o m i s c h e n R e p r o d u k t i o n s p r o z e s s e s b e s t i m m t . Leistungsverhalten schließt die rationelle N u t zung der Arbeitsmittel, A r b e i t s b e d i n g u n g e n , Arbeitsbeziehungen u n d a n d e r e r

Hypothesen

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Kooperationsformen ein sowie den optimalen Einsatz der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die materiellen Bedingungen, insbesondere die Entwicklungswidersprüche zwischen den Produktionsverhältnissen und Produktivkräften, die sich in bestimmten Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Sozialstruktur manifestieren, bilden die entscheidenden und bestimmenden objektiven Triebkräfte des Leistungsverhaltens. Die materiellen Triebkräfte kommen nur dann voll zur Geltung, wenn die grundlegenden Lebensinteressen der Menschen durch Formulierung von Zielen, Aufgaben, Leistungsanforderungen, Plänen und Programmen als konkrete Zwecksetzungen erscheinen und durch ideologische Triebkräfte ergänzt werden. Die Wechselwirkung materieller und ideologischer Triebkräfte wird durch das System der Planung und Leitung der Gesellschaft vermittelt (organisatorischwirtschaftliche und politisch-ideologische Funktion des Staates). Dabei wirkt die Durchsetzung des Leistungsprinzips als wichtiger F a k t o r der Orientierung, Stimulierung und Motivierung des Leistungsverhaltens. Die konkret-historischen Reproduktionsbedingungen bestimmen den Grad der Effektivitätsentwicklung und Persönlichkeitsentfaltung. Ableitungen : 1. Optimales Leistungsverhalten der Werktätigen wird erreicht, wenn die objektiven Reproduktionsanforderungen zeitgerecht durch entsprechende Gestaltung der Arbeitsbedingungen, der Arbeitsinhalte, der Organisationsformen, Stimulierungsformen und die politisch-ideologische Führungstätigkeit sowie konkrete Leitungstätigkeit zu inneren Antrieben (Interessen, Zielen, Überzeugungen, Bereitschaften, Normen, Werten, Sinngebungen etc.) werden. 2. Das konkrete Leistungsverhalten wird unter gegebenen objektiven Bedingungen (Technologie, Arbeitsorganisation, Arbeitsinhalt, Leistungsprinzip, Arbeitsregime, Informationsniveau, Wettbewerb, Leiter-Kollektiv-Beziehungen u. a.) durch individuelle Leistungsvoraussetzungen (politische und fachliche Qualifikation, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Erwartungen, geistiges Anspruchsniveau, physische Konstitution, Gesundheitszustand, familiäre Bedingungen etc.) und durch individuelle Leistungsbereitschaft (Verantwortungsbewußtsein, Wertorientierungen, individuelle Interessen, Initiative, Risikobereitschaft, Arbeitszufriedenheit, Ehrgeiz, Freude am Erreichten, Streben nach Anerkennung u. a.) determiniert. 3. Die Motivationen hohen Leistungsverhaltens sind individuell differenziert. Die Motivstruktur ist durch die Persönlichkeitsstruktur und diese wiederum durch die spezifische Art und Weise, in der die Individuen in den gesellschaftlichen Lebensprozeß einbezogen sind, durch ihre praktisch-gesellschaftliche Tätigkeit, durch die konkreten Lebensbedingungen und die konkreten sozialen Erfahrungen determiniert. Die Motivstrukturen des Leistungsverhaltens sind insbesondere in sozialstruktureller, demographischer und politisch-ideologischer Hinsicht differenziert. 6'

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Forschungsprogramm

Mit dem Aufstellen, der Formulierung und Präzisierung von .Hypothesen bzw. Hypothesensystemen wird die Absicht verfolgt, auf der Grundlage bereits gewonnener Einsichten und Bestimmungen über das Forschungsobjekt weitergehende und tiefere, letztendlich gesetzmäßige Erkenntnisse zu gewinnen. Diese Absicht begründet die hervorragende Stellung der Hypothesenüberprüfung im soziologischen Forschungsprozeß. Im Prozeß der Hypothesenüberprüfung kommt es zu einer Konfrontation von Forschungsprogrammen in Form der aufgestellten Hypothesen und den Tatsachen der gesellschaftlichen Praxis. Die Bestätigung bzw. Überprüfung von Hypothesen in der gesellschaftlichen Praxis ist allerdings ein Prozeß, der mehrere Stufen durchläuft. Bereits mit der Hypothesenbildung beginnt der Problemlösungsprozeß. Beim Übergang vom Problem zur Hypothese müssen dabei vor allem folgende Bedingungen erfüllt sein: 1. Die Problemstruktur muß der Merkmals- und Bedingungsstruktur des Untersuchungsobjekts entsprechen. 2. Die Hypothesenstruktur muß der Problemstruktur entsprechen. 3. Problemstruktur und Methodenstruktur müssen einander entsprechen. Weitere Schritte der Hypothesenbildung sind dann: — Regressiv-reduktive Ableitung hypothetischer Aussagen von gesicherten Aussagen (Folgerungen); — Umformulierung qualitativer Merkmale in quantitative, d. h. meßbare, Merkmale (Kennziffern, Indikatoren); — Entwurf eines hypothetischen Modells der wahrscheinlichen statistischen Verteilung qualitativer und quantitativer Merkmale in der Grundgesamtheit; — Bildung von Bedingungsaussagen — dies ist nicht lediglich ein formallogischer, sondern ein erkenntnistheoretischer Schritt, da er das Verhältnis von absoluter und relativer Wahrheit tangiert. Aus dem Dargelegten geht bereits hervor, daß wissenschaftliche Hypothesen bzw. Hypothesensysteme sich nicht unmittelbar empirisch überprüfen lassen. Im Problemlösungsprozeß abgeleitete Folgerungen und Behauptungen werden von den Hypothesen auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft. Für die Hypothesenbestätigung sind nun die verschiedenen Möglichkeiten der empirischen Überprüfung von Hypothesen bzw. der abgeleiteten Folgerungen von fundamentaler Bedeutung. Die Art der Folgerungen, die von der Hypothese abgeleitet werden, hat nicht geringen Einfluß auf den Grad ihrer Bestätigung. Folgende von Folgerungsarten sind auch für die soziologische Forschung relevant 1 0 :

10

Vgl. H. Parthey, Die empirische Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnis, in: Wege des Erkennens, Berlin 1969, S. 89.

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Hypothesen

1. Es werden alle bisher schon bekannten empirischen Aussagen aus der Hypothese abgeleitet; der Wahrheitswert dieser Folgerungen wird festgestellt, um die Hypothese zu bestätigen. 2. Aus der Gesamtheit der so abgeleiteten Folgerungen wird eine Auswahl jener getroffen, die in einem unmittelbaren Bezug zu den in der Hypothese enthaltenen zur Erklärung notwendigen Annahmen bzw. Vermutungen stehen; ihr Wahrheitsgehalt wird festgestellt. 3. Aus den abgeleiteten Folgerungen werden jene herausgesucht, die untereinander verschiedenartig sind und sich eventuell zu widersprechen scheinen; ihr Wahrheitsgehalt wird festgestellt. 4. Es werden weitere Folgerungen abgeleitet, die über das bisher bekannte Wissen hinausgehen, ihm mitunter widersprechen; ihr Wahrheitsgehalt wird festgestellt. Von besonderem heuristischen Wert sind Folgerungen, die über bisher bekanntes scheinbar gesichertes Wissen hinausgehen und dieses mitunter in Frage stellen; ihre Überprüfung muß aber auch mit besonderer Gründlichkeit vorgenommen werden. Während den Ableitungen von Folgerungen regressiv-reduktive Schlüsse zugrunde liegen, liegen den Zuordnungen der empirisch überprüften Folgerungen (Fe) zu den Ausgangshypothesen (H) progressiv-reduktive Schlüsse zugrunde. Als Verifikation der Hypothesen bezeichnen wir demzufolge die progressiv-reduktiven Schlüsse von den in der Grundgesamtheit überprüften Folgerungen auf den Wahrheitsgehalt der Forschungshypothesen (vgl. Abb. 4). Verifikation

Abb. 4 Schema des Verifikationsprozesses Legende: M = Minimum von Bedingungen und Kriterien für den Verifikationsprozeß.

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Forschungsprogramm

Die unmittelbare -Konfrontation zwischen den Folgerungen (F e ) und den in der Forschungspraxis vermittelten Tatsachen (Ta) wird auch als Identifikation von Tatsachen und hypothetischen Aussagen bezeichnet. Das zentrale Problem der Hypothesenbestätigung besteht demzufolge in der Bestimmung jener Bedingungen und Kriterien, die vorhanden sein müssen, um bei einer gegebenen Menge von überprüften Folgerungen mit Gewißheit bzw. hoher Wahrscheinlichkeit auf den Wahrheitsgehalt der Ausgangshypothese schließen zu können. Den progressivreduktiven Schlüssen von den überprüften Folgerungen auf den wahrscheinlichen Wahrheitswert der Hypothesen liegen die realen Beziehungen von Erscheinung und Wesen, Einzelnem und Allgemeinem bzw. Teil und Ganzem zugrunde. Es ist daher essentiell, solche Folgerungen auszuwählen, die wesentliche Elemente des zu erklärenden sozialen Sachverhalts betreffen. Die Überprüfung der aus den Hypothesen abgeleiteten Folgerungen nach ihrer Transformation in statistische Hypothesen erfolgt vorwiegend durch mathematisch-statistische Prüfverfahren. Dabei ist zu beachten, daß die Annahme einer statistischen Hypothese noch nicht die Verifikation der Forschungshypothese bedeutet, sondern lediglich auf die Wahrscheinlichkeit eines Wahrheitsgehalts der Ausgangshypothese hinweist. Damit Hypothesen ihre Erklärungsfunktion erfüllen können, müssen sie einer Reihe von Kriterien genügen: 1. Die Aussagen müssen den Tatsachen der sozialen Wirklichkeit entsprechen; d. h., das Explanandum (das Zuerklärende) muß gesichert wahr sein. 2. Die zur Erklärung herangezogenen Gesetzes- und Bedingungsaussagen des Explanans (das Erklärte) müssen eine genügende Menge wahrer Aussagen, mindestens jedoch eine wahre Aussage enthalten. 3. Die im Explanans enthaltenen Gesetzes- und Bedingungsaussagen müssen den Daseinsformen und Wirkungsbedingungen des sozialen Sachverhalts entsprechen. 4. Die Ableitung des Explanandums aus dem Explanans muß logisch einwandfrei erfolgen. 11 Die logische Struktur dieser Ableitung trägt reduktiven Charakter. Für reduktive Schlüsse gilt die Wenn-dann-Beziehung, vorausgesetzt, die Prämissen sind mit einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit wahre Aussagen. Daraus folgt, daß derartige Schlüsse nicht isoliert vom theoretischen Erkenntnisprozeß und der gesellschaftlichen Praxis als dem allgemeinen Wahrheitskriterium gezogen werden dürfen. Die gesellschaftliche Praxis darf jedoch nicht auf jenen Praxisbereich, in dem eine empirische Untersuchung durchgeführt wird, eingeengt werden. Für die soziologische Forschung ist es außerordentlich wichtig, das breite Spektrum gesellschaftlicher Praxis zu beachten und in ihren vielfaltigen Erscheinungsformen 11

Vgl. H. Parthey, Gesetzeserkenntnis mittels erklärender Hypothesen, in: G. Kröber (Hrsg.), Gesetzesbegriff in der Philosophie und in den Einzelwissenschaften, Berlin 1968, S. 153.

Modellierung

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zu erfassen. Daraus folgt auch, daß man sich auf einen adäquaten Methodenapparat orientieren muß. Bei der Überprüfung der Hypothesen ist also darauf zu achten, daß es verschiedene Wege zur Analyse der gesellschaftlichen Praxis gibt und dementsprechend vielfaltige Methoden genutzt werden müssen (Methodenpluralismus, Methodenkombination). Der komplexe Einsatz soziologischer Forschungsmethoden ist insbesondere mit einer exakten Analyse der Sozialstatistik zu kombinieren. Und schließlich sind Ergebnisse soziologischer Forschung mit den Erkenntnissen anderer Wissenschaften zu vergleichen. Erst durch Einordnung der soziologischen Forschungsergebnisse in den gesamtgesellschaftlichen Erkenntnisprozeß, der gesamtgesellschaftliche Prozesse, Zusammenhänge und Erscheinungen umfaßt, erhalten diese ein Höchstmaß an Verallgemeinerungsfahigkeit und Objektivität.

2.3. Modellierung Jede soziologische Untersuchung ist mit gewissen Modellvorstellungen vom Untersuchungsobjekt (bzw. der Menge der Untersuchungsobjekte) verbunden. Diese können den unterschiedlichsten Grad an Exaktheit bzw. Adäquatheit besitzen. So kann z. B. ein System von Forschungshypothesen (vgl. Abschnitt 2.2.) als theoretisches Modell vom Untersuchungsobjekt aufgefaßt werden. Auch wenn sich die Untersuchenden über die Tatsache eines modellartigen Herangehens bzw. über bestimmte Aspekte eines spezifischen Modellgebrauchs nicht im klaren sind, ist ihr Vorgehen an diese Voraussetzungen gebunden. Ihre Nichtbeachtung äußert sich letztlich in fehlerhaften Untersuchungsergebnissen — eingeschlossen die Interpretation und Verallgemeinerung empirischer Ergebnisse. Daher ist es in der soziologischen Forschung unerläßlich, den Untersuchungsprozeß als ganzen sowie seine einzelnen Phasen bzw. Schritte als Modellierung von Untersuchungsobjekten bewußt zu machen und diese Erkenntnismethode gezielt anzuwenden. Die Funktion und Aufgabe der Modellbildung bzw. Modellanwendung in der soziologischen Forschung ist in Abhängigkeit von vielen Bedingungen zu sehen. Dazu gehören unter anderem das Untersuchungsziel, die Problemformulierung, die Art des Hypothesengefüges, der einzusetzende (bzw. eingesetzte) Methodenapparat, die Qualität des Datenmaterials, die zur Verfügung stehenden Verfahren der Datenanalyse, das angestrebte Interpretationsniveau. Nicht jede Modellbildung verfolgt im einzelnen die gleichen Absichten und erreicht den gleichen Grad an Exaktheit und Adäquatheit. So können Modelle die Aufgabe haben, über ein noch wenig bekanntes Untersuchungsgebiet erste Grunderkenntnisse zu ordnen, bestimmte Eigenschaften hervorzuheben, dadurch Differenzierungen (Unterschiede) der Elemente kenntlich zu machen, einen allgemeinen Überblick über strukturelle oder temporäre Zusammenhänge der Untersuchungseinheiten zu ge-

74

Forschungsprogramm

Winnen u. a. Derartige, meist als Schema (schematische Darstellung) präsentierte Modelle können zur Kennzeichnung von Problemsituationen herangezogen werden, dienen also der Problemformulierung — manchmal sogar der Spezifizierung eines Untersuchungszieles. Sie können natürlich nur sehr allgemeiner Art sein und vermitteln ein grobes Abbild des Objektes. Andererseits ist mit der Formulierung theoretischer Grundaussagen das Untersuchungsobjekt in einer bestimmten Weise seiner qualitativen Grundstruktur vorausgesetzt, die andere Merkmale und Eigenschaften, Zusammenhänge und Beziehungen ausschließt (determinatio est negatio) — Theorie als Modell — und den möglichen Hypothesenbereich einschränkt. Auch die Art und Weise der empirischen Analyse impliziert Modellannahmen an das Objekt, so z. B. ob es als Einzelfall vorgestellt und analysiert wird oder als Massenerscheinung in einer Grundgesamtheit, ob als gesamtgesellschaftliches, strukturelles Problemgebiet oder eines des individuellen Handelns, ob in Dokumenten objektiviertes oder noch subjektiven Handlungsregulativen angehöriges Problemfeld etc. Gleiches gilt auch für die Datenanalyse. Einerseits bestimmen die theoretischen Voraussetzungen (unter anderem Hypothesen) und die Daten die Klassen der einzusetzenden Analyseverfahren. Andererseits erfordert der geplante Einsatz eines Verfahrens (z. B. einer Faktoranalyse) die Sicherung bestimmter Voraussetzungen (z. B. über die Verteilungsfunktion der Merkmale, über die Orthogonalität von Dimensionen), die als Modellannahmen bezüglich des Untersuchungsobjektes geprüft werden müssen. Kurzum, jeder Schritt soziologischer Forschung sollte im Zusammenhang mit dem Aufbau und der Anwendung von Modellen gesehen werden. Manche Autoren verstehen den gesamten Forschungsprozeß als Modellierung.12

2.3.1. Allgemeine Bemerkungen zur Modellierung Das Modellieren, die Konstruktion von Modellen, ist dem Wesen nach die Herstellung eines vergröberten, vereinfachten, abstrakten Abbildes der sozialen Wirklichkeit. Es ist zunächst nicht die vornehmliche Leistung des Geistes, sondern ein handgreiflicher Vorgang des gegenständlichen Bildens von gegenständlichen Systemen, das bestimmte (oft allgemeine) Eigenschaften oder das Verhalten von objektiven Systemen kopiert, nachahmt, simuliert oder auch adäquat abbildet (widerspiegelt). Das Wesentliche der Modellkonstruktion besteht nicht in der Anzahl oder der Art der modellierten Eigenschaften oder Verhaltensweisen — obwohl danach Modelle klassifiziert werden können —, sondern in der Tatsache, daß die modellierten Zusammenhänge im Modell nicht dem „natürlichen Ver12

Vgl. V. I. Bestuzev-Lada/V. M. Varygin/V. A. Malachov, Modelirovanie v sociologiöeskich issledovanijach, Moskva 1978, S. 5—9.

Modellierung

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schleiß" in der Art des Originals (des Urbildes) unterworfen sind. Modelle unterscheiden sich dadurch von ihren Originalen, daß sie nicht „verschleißen", also die Systemzusammenhänge so stabil wie möglich widerspiegeln. An Hand des Modells ist der Forscher in der Lage, interessierende Zusammenhänge zu studieren und sich ein geistiges Abbild des Sachverhaltes — eine Theorie — zu verschaffen. Dieser Zusammenhang besteht auch dann, wenn ein explizites Modell (im Sinne eines höheren theoretisch reflektierten Konkreten) noch nicht zur Verfügung steht und bestimmte Ausschnitte des Untersuchungsgegenstandes als Modelle unterstellt werden — und zwar in der Weise, daß von verändernden Einflüssen abgesehen oder ihre ändernde Wirkung auf das Objekt geschätzt werden kann. Dieser letzte Fall ist für viele Wissenschaftsbereiche (insbesondere die, welche jenseits der Wahrnehmungsgrenzen der Menschen operieren) und speziell auch für die Soziologie von besonderer Bedeutung. Jede Untersuchung eines sozialen Sachverhaltes ist — insofern sie unmittelbar empirisch vollzogen wird, d. h. in direkter Konfrontation mit dem Forschungsobjekt, mit einer Veränderung, einer Beeinflussung des Untersuchungsobjektes verbunden. Aus diesem Grunde sind oftmals Experimente am Originalobjekt ausgeschlossen. Die Modellierung ist dann der einzig gangbare methodische Weg. Das Bestreben, aus der Analyse des veränderten Objektes auf Zustände und Eigenschaften des unveränderten Objektes zu schließen, ist dem Wesen nach eine Modellbildung. Gleiches gilt für die Analyse des Verhaltens von Objekten bei gezielten, vom Forscher manipulierten Änderungen von Systembedingungen. Da für die Soziologie im allgemeinen keine gegenständlichen Modelle (insofern sie vom Objekt unterschieden sind) existieren, muß der Soziologe mit ideellen Abbildern — Modellen in Form von Theorien, Schemata, Rechenprogrammen, mathematischen Formalismen etc. — auskommen. Erkenntnistheoretisch wie forschungspraktisch ist es jedoch wichtig, darauf zu verweisen, daß allen diesen Modellen bestimmte Gegenstandsbereiche in besonderer Bedeutung — als ob sie Modelle wären — entsprechen. Im besonderen Fall kann diese Bedeutung auch hypothetischer Art sein. Der einzige Fall, in dem dieses Vorgehen explizit realisiert wird, sind die experimentellen Anordnungen. Hier wird der Modellcharakter der Untersuchungsobjekte besonders deutlich — er gilt aber prinzipiell für jede empirische Untersuchung. Wie bereits angedeutet, wird bei der Modellierung sozialer Sachverhalte von diesen als Systemen im allgemeinen Sinne ausgegangen. Das heißt, Elemente des Sachverhaltes (Personen, Gruppen, Eigenschaften, Merkmale, Verhaltensweisen u. a.) werden in einem strukturellen oder funktionalen Zusammenhang, als Ganzheiten, die von der „Umwelt" auf spezifische Weise unterschieden sind, unterstellt. Das Ziel der Modellbildung besteht darin, das Verhalten der Systemelemente oder des ganzen Systems in Abhängigkeit von der Variation der Einflußfaktoren zu studieren. Im ersten Fall handelt es sich um „Strukturmodelle", im zweiten Fall um dyna-

Forschungsprogramm

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mische Modelle. Nicht jede Untersuchung eines Zusammenhanges von Merkmalen ist demnach eine Modellbildung, obwohl die benutzten Verfahren eine Modellvorstellung implizieren. Es kommt also darauf an, daß Modelle als stabile Strukturen die Wirkung von unabhängigen Veränderlichen auf abhängige Veränderliche (Größen) abbilden. Unter einem Modell wird also die abstrakte oder symbolische Abbildung eines bestimmten Ausschnittes aus der sozialen Wirklichkeit verstanden. Methodisch untersetzt meint der Begriff der Abbildung hier eine Vorschrift, die angibt, wie die realen Objekte bzw. die Relationen zwischen den Objekten (empirisches Relativ) den symbolischen Abbildern bzw. deren Relationen (symbolisches Relativ) zugeordnet werden. Besteht das symbolische Relativ aus Zahlen (numerisches Relativ) und existiert zudem eine Abbildungsvorschrift, die die Zuordnung von Zahlen zu den Objekten des empirischen Relativs regelt, so nennt man das zusammen ein numerisches Modell. 1 3

2.3.2. Funktionen von Modellen in der Soziologie Modelle haben in der Forschung zwei grundsätzliche Funktionen: eine abbildende Funktion und eine instrumenteile Funktion. Als Abbilder beziehen sie sich auf einen bestimmten, wohldefinierten Objektbereich, dessen wesentliche Merkmale und Eigenschaften sie widerspiegeln. Sie repräsentieren den originären Objektbereich. Mit ihrer Hilfe können sowohl reale Strukturen und reales Verhalten als auch potenzielle Strukturen und Verhaltensmöglichkeiten beschrieben werden. Durch Modelle kann das gegenwärtige Wissen über einen Objektbereich erweitert und Neues endeckt werden. Da Modelle an bestimmte Geltungsbedingungen geknüpft sind, ist dieser mögliche Erkenntniszuwachs natürlich hypothetischer Art und m u ß an H a n d von empirischen Analysen (vgl. Abschnitt 2.7.) überprüft werden. Als Forschungsinstrumente haben Modelle methodischen, algorithmischen Charakter. Allgemein haben sie hierbei die Funktion der Informationsreduktion. Dabei wird eine Vielzahl von Einflußfaktoren, strukturellen Zusammenhängen und Prozeßverläufen auf einige wenige für wesentlich gehaltene zurückgeführt mit der (zu beweisenden) Unterstellung, daß die Zielfunktionen der Analyse durch das reduzierte System im Rahmen gegebener Fehlergrenzen ebensogut wie durch das Original erfüllt werden können. In der Praxis der soziologischen Forschung dominiert der instrumenteile Gebrauch von Modellen. Es muß jedoch betont werden, d a ß zwischen beiden Funktionen insofern ein Zusammenhang besteht, als abbildende Modelle instrumenteil verwendet werden können und der methodisch orientierten Modellanwendung 13

Vgl. J. Bortz, Lehrbuch der empirischen Forschung, Berlin(West)—Heidelberg—New York— Tokyo 1984, S. 43.

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Funktionen von Modellen

Konfrontation der Ableitungen aus dem Modelt mit der Reolität

Abb. 5 Theoriekonstruktion durch Modellierung Quelle: D. Dörner, Modellbildung und Simulation, in: E. Roth, (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Methoden, München-Wien 1984, S. 344.

eine theoretische Bedeutung im Objektbereich entspricht. Sie sind also in gewisser Weise identisch. Die Anwendung der Modellmethode ist in der marxistisch-leninistischen Soziologie unerläßlich, weil sie zur Aufwandsverminderung insofern beiträgt, als an Modellen sonst irreversible Entscheidungen hinsichtlich ihrer Konsequenzen reversibel „durchgespielt" werden können. Modelle haben eine wesentliche Bedeutung für die Theoriekonstruktion (vgl. Abb. 5). Insbesondere bei mathematisch formulierten dynamischen oder Strukturmodellen verhindert der implizierte Zwang zur Explikation bei der Modellherstellung logische Widersprüche, die zu falschen Schlußfolgerungen führen könnten. Speziell die damit gegebene Möglichkeit der Computersimulation bietet den unschätzbaren Vorteil, daß theoretische (konzeptionelle) Fehler im Modell unerbittlich aufgedeckt werden, weil bekanntlich Computer nicht mitdenken, sondern nur das tun, was vorher als Programm eingegeben worden ist. Computersimulation zwingt also zur Vervollständigung der Theorie. Der Nutzen der Modellkonstruktion besteht demnach darin, daß im Forschungsprozeß Explizitheit, Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit besser zu erreichen sind als ohne Modellierung. Der immer mögliche Vergleich zwischen den prognostischen Aussagen der Theorie (als Modellverhalten) und der Realität optimiert den Prozeß der Theoriebildung. Damit wird die soziale Wirklichkeit durch Beschleunigung der sukzessiven Approximation an die Realität mittels Modellvervollkommnung immer besser erkannt. 14 14

Vgl. D. Dörner, Modellbildung und Simulation, in: E. Roth (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Methoden, Lehr- und Handbuch für Forschung und Praxis, München—Wien 1984, S. 343—346.

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Forschungsprogramm

2.3.3. Ausgangspunkte der Modellbildung bzw. -anwendung Im wesentlichen können drei Ausgangspunkte unterschieden werden, die jedoch in praxi nicht getrennt zu betrachten sind. 1. Modellkonstruktion „aus dem Objekt heraus" Der Ausgangspunkt hierbei ist „das spezifische Objekt", das in theoretischer Form gegeben ist. Es liegt also eine spezifische fachwissenschaftliche Theorie vor. Aufgabe der Modellbildung ist es, den Wahrheitsgehalt der Elemente der Theorie (d. h. der Aussagen) oder (dazu äquivalent) den Geltungsbereich der Theorie zu prüfen. Die Theorie muß also neben gesicherten Erkenntnissen eine hinreichende Zahl hypothetischer Elemente enthalten. Zunächst wird die Theorie in eine formalisierte Sprache überführt. Im Anschluß daran wird ein Modell dieser Aussagenmenge der formalisierten Sprache, das die Theorie repräsentiert, im Sinne der Modelltheorie gesucht. 15 Das heißt, es wird eine Struktur (bestehend aus einer Menge und einer Klasse von Relationen und Operationen auf dieser Menge, vgl. den Begriff des Relativs) gesucht, die die Aussagen der Theorie als allgemeingültige Ausdrücke enthält. In der Regel handelt es sich aber hierbei um mathematische Strukturen. In einem erweiterten Sinn kann auch eine schematische Darstellung des Untersuchungsobjektes zu diesem Herangehen gezählt werden. Die Suche eines Modells in diesem Sinne ist jedoch nicht in einem Schritt zu bewältigen, sondern umfaßt meist mehrere Schritte (von der Operationalisierung bis zur Datenanalyse). 2. Modellanwendung aus methodischer Sicht Hierzu zählen alle Anforderungen an das Untersuchungsobjekt und an seine theoretische Verarbeitung, die sich aus spezifischen, standardisierten Methoden der Datenerhebung und Datenanalyse ergeben. 3. Modellkonstruktion aus einem gegebenen Kalkül heraus Im Vordergrund steht hier nicht ein spezifisches Objekt, sondern ein allgemeines Kalkül. Praktisch kommen nur logische Kalküle und mathematische Theorien in Frage. Es wird in der empirischen Forschung die Klasse der Objektbereiche (einschließlich ihrer theoretischen Darstellung) gesucht, für die ein bekanntes Kalkül als Modell dienen kann. Als Beispiel für ein Modell des Leistungsverhaltens kann das im Abschnitt 2.2. Beschriebene dienen. Dort wurden drei Faktoren: 1. Transformation objektiver Reproduktionsanforderungen in innere Antriebe bei den Werktätigen; 2. Determination des konkreten Leistungsverhaltens durch objektive Bedingungen, individuelle Leistungsvoraussetzungen und durch individuelle Leistungsbereitschaft; 15

Vgl. W. Schwabhäuser, Modelltheorie, Bd. 2, Mannheim—Wien 1971 — 1973, Bd. I, S. 35.

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Mathematische Modelle

3. Motivation durch Persönlichkeitsstruktur und konkrete Lebensbedingungen zugrunde gelegt, die als Konstituanten für ein sogenanntes Faktorenmodell aufgefaßt werden können. Ein Beispiel für ein dynamisches Modell wird im Abschnitt 2.4, Abbildung 7 gegeben.

2.3.4. Mathematische Modelle Mathematische Modelle haben in allen Wissenschaften Bedeutung. Das hat seinen Grund darin, daß in ihnen die Einheit qualitativer und quantitativer Bestimmungen des Objektes widergespiegelt werden kann. Mathematische Modelle sind „eine eindeutige Zuordnung von sozialen Sachverhalten, Eigenschaften, Strukturen, Verhaltensarten, Beziehungen (Verhältnissen) zu Objekten, Eigenschaften, Relationen, Operationen, Funktionen (Abbildungen), als den Bestandteilen mathematischer Theorien" 16 . Mathematische Modelle bilden in der Regel nicht einzelne, empirische Untersuchungsobjekte ab, sondern beziehen sich auf Klassen ähnlicher Objekte. Sie widerspiegeln daher Relationen und Eigenschaften von Objektklassen (Gattungen), d. h. allgemeine Zusammenhänge und Beziehungen von Sachverhalten. Durch Verknüpfung mit Meßergebnissen bzw. durch Anwendung auf diese können sie zu Abbildern einzelner Objekte (Sachverhalte) und damit praktisch nutzbar gemacht werden. Modellanwendung bedeutet aber auch in diesem Fall stets eine Reduktion bzw. Aggregation empirischer Informationen. Das die Reduktion bzw. Aggregation bestimmende Kriterium ist stets theoretisch bestimmt und kann innerhalb eines Modells selbst nicht empirisch geprüft werden. Mathematische Modelle stehen demnach in engstem Zusammenhang mit soziologischen Theorien (bzw. Theoriebestandteilen) und mit dem soziologischen Meßprozeß. Diese Beziehung kann veranschaulicht werden 17 (vgl. Abb. 6). Theorie

Modell

Messung (Daten) 16

17

Abb. 6 Mathematisches Modell

Th. Hanf, Indikatoren zur Messung und mathematischen Modellierung sozialer Sachverhalte, in: H. Berger/E. Priller (Hrsg.), Indikatoren in der soziologischen Forschung, Berlin 1982, S. 124. Vgl. R. K. Leik/B. F. Meeker, Mathematical Sociology, Prentice-Hall (N. Jersey) 1975, S. 27.

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Forschungsprogramm

Dieses Beziehungsgefüge („Diagramm") muß als „kommutativ" unterstellt werden. Das bedeutet, daß der „Weg" von einem Moment (einer Ecke des Dreiecks) zu einem anderen über den dritten Aspekt zurückgelegt werden muß. Die sich aus diesem Diagramm ergebenden Beziehungen entsprechen verschiedenen Forschungsstrategien, denen jeweils eine spezifische methodische Orientierung zukommt. Beispiele 1. Überprüfung theoretischer Ansätze (Hypothesenprüfung): Wie oben schon erwähnt, sind theoretische Ansätze nicht unmittelbar durch Messungen verifizierbar, sondern bedürfen der Repräsentation durch ein Modell. Die Ausnahme bilden fundamentale Messungen (vgl. Abschnitt 2.8.) (Theorie -> Messung = Theorie Modell -> Messung). 2. Testung von Modellannahmen: Die empirische Interpretation (Belegung mit Daten) von Modellen hat die theoretische Begründung des Modells als auch des Meßvorganges (Datenerhebung) zur Bedingung (Modell -> Messung = Modell —• Theorie Messung). 3. Theoretisch begründete Datenanalyse: Ausgehend von einem gegebenen Datensatz werden unter der Voraussetzung theoretisch begründeter Annahmen über die Datenqualität und statistische Verteilungsparameter Datenmodelle zur Darstellung oder Analyseverfahren zur Datenreduktion und Zusammenhangsanalyse von Merkmalen und Probanden benutzt (Daten -> Modell = Daten Theorie -> Modell). Analog sind die anderen Beziehungen des Theorie-Modell-Datendreiecks zu interpretieren.

2.3.5. Klassifikation von mathematischen Modellen Mathematische Modelle können und müssen nach verschiedenen Gesichtspunkten klassifiziert werden. Ein Gesichtspunkt kann der zugrunde gelegte mathematische Apparat sein. In diesem Sinn ist zu unterscheiden zwischen — Modellen der Datenanalyse (Sie beruhen häufig auf der Annahme eines linearen Zusammenhangs zwischen zwei oder mehreren Variablen ( Y = AX + B). Der zugehörige mathematische Apparat ist die lineare Algebra. Zu unterscheiden sind deterministische und stochastische Modelle, je nachdem ob die Variablen deterministische oder Zufallsgrößen sind.); — Modellen des Grenzverhaltens sozialer Prozesse (Differentialgleichungen, Markov-Prozesse, Stabilitätstheorien); — Modellen der mathematischen Systemtheorie; — Entscheidungsmodellen (Operations research, Optimierungsmodelle, Spieltheorie) ; Netzplantechnik und theoretischen Modellen.

Systemanalyse

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Ein anderer Gesichtspunkt der Klassifikation kann die Stellung der Modelle im Forschungsprozeß sein: — mathematische Formulierung soziologischer Theorien (z. B. Hornaus, Simon); — von zweigsoziologischen Problemen ausgehende Modelle (z. B. kleine Gruppen, Strukturforschung, demographische Modelle); — Modelle der Datenanalyse; — Modelle experimenteller Anordnungen; — Simulationsmodelle; Von besonderer Bedeutung ist die mathematische Modellbildung in der angewandten Sozialindikatorenforschung und globalen Modellierung, d. h. bei der angewandten Systemanalyse. Hierbei werden komplexe soziale Prozesse in aggregierter Form an Hand stabiler Merkmale modelliert (vgl. Beispiele im Abschnitt 2.4.).

2.4. Systemanalyse Der marxistischrjeninistischen Soziologie ist eine Systemauffassung von Anfang an eigen (z. B. Herausarbeitung der Kategorie ökonomische Gesellschaftsformation durch Marx im „Kapital"). In den Gesellschaftswissenschaften ist auf Grund des universalen Zusammenhangs aller Dinge und Erscheinungen der Systembegriff stets relativ. Im allgemeinen wird unter „System" die endliche Gesamtheit einer Menge von miteinander verbundenen Elementen verstanden, die bestimmte Funktionen (Zwecke) erfüllt. Die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Elementen bilden die Struktur des Systems. 18 Durch die Systemauffassung wird es möglich, die dialektischen Prinzipien und Kategorien im Forschungsprozeß unmittelbar umzusetzen, indem Funktion, Struktur und Entwicklung sozialer Sachverhalte, die Verknüpfung ihrer Elemente, die Hierarchieebenen ihres Funktionierens, die Vermittlungen zwischen Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem, die zeitliche Veränderung von Relationen zwischen den Elementen etc. in Form von Modellen theoretisch dargestellt und empirisch überprüft werden können. In unserer Systemauffassung besteht der soziale Sachverhalt aus wechselseitig eng verbundenen „Teil"sachverhalten, ohne.auf diese reduzierbar zu sein und gehört gleichzeitig einem übergeordneten, größeren sozialen Sachverhalt an, der sein „Umfeld" bildet. Methodologisches Herangehen an soziologische Untersuchungen, das sich auf Systemprinzipien beruft, muß vor allem der Vielfalt der Beziehungen des zu analysierenden sozialen Sachverhalts — sowohl „intern" als auch „extern" — ausreichende Aufmerksamkeit zuwenden. Wesentliches Moment eines systemanaly-

18

Vgl. W. Salecker, S-ystem, in: Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, Berlin 1977, S. 6 5 2 - 6 5 4 .

82

Forschungsprogramm

tischen Zugangs in empirisch-soziologischen Forschungen ist z. B. ein zielstrebiges, bewußtes Berücksichtigen von Gesamtqualitäten der sozialistischen Gesellschaft und ihrer sozialen Entwicklung bei der Untersuchung eines ihrer Teilbereiche oder -prozesse. Ein systemanalytischer Zugang in empirisch-soziologischen Forschungen erfordert hier zumindest in zweierlei Hinsicht die volle Aufmerksamkeit der Soziologen: 1. in bezug auf die Art und Weise der wissenschaftlichen Erfassung und Widerspiegelung des zu untersuchenden realen sozialen Sachverhalts als eines in Entwicklung befindlichen Ganzen, das zur tieferen Aufdeckung seines Wesens theoretisch analysiert werden muß und 7, in bezug auf die Organisation und Regulierung der zu bewältigenden Erkenntnistätigkeit in ihrer logischen Folge als ganzheitlichen Forschungsakt, der dem Erkenntnisgewinn dient und demzufolge daraufhin zu analysieren ist, wie die Erkenntnismittel und -methoden diesem Ziel am besten dienen. Bei Einordnung des systemanalytischen Herangehens — und des mit ihm verbundenen aktiven Denkprozesses — in den methodologischen Kontext empirisch-soziologischer Forschungen insgesamt ist zu beachten, daß seine Vorzüge und potentiellen Möglichkeiten vor allem in der Analysephase wissenschaftlichen Vorgehens zum Tragen kommen. Das bedeutet, daß auch Systemanalyse nur ein wichtiger Baustein des vielseitigen dialektischen Erkenntnisprozesses sein kann und in dialektischer Beziehung zur Synthese als wissenschaftlicher Methode zu sehen ist. Für das methodologische Vorgehen der Systemanalyse ist ein praktisch handhabbarer Systembegriff von essentieller Bedeutung. Das Modell eines Systems ist ein Gefüge von Variablen und deterministischen oder stochastischen Einflußbeziehungen zwischen den Variablen. Seine Funktion wird beschrieben durch eine Menge von Beziehungen der Art „x bewirkt, daß y zum Zeitpunkt t + At den Wert f(x) annimmt". Von entscheidender Bedeutung für die Funktionen eines Systems sind die Begriffe Systemumgebung, Systemrand, Systemkern, Eingangsund Ausgangsrand. Voraussetzung für das Modell eines Systems ist mindestens eine Eingangs-Ausgangs-Zuordnung. 19 Die theoretische Beschreibung eines Systems kann verbal (z. B. als System von Hypothesen, Sätzen und dialektischen Beziehungen), graphisch (z. B. in Form von Block- und Flußdiagrammen) oder/und mathematisch (z. B. in Form von Gleichungssystemen, Rechnerprogrammen) erfolgen. Jede dieser Beschreibungsarten hat ihre spezifischen Funktionen im soziologischen Erkenntnisprozeß. Bei der Beschreibung großer Systeme ist die Ausnutzung der Erkenntnisse von Kybernetik, Systemtheorie und Informatik unerläßlich, weil diese ohne Verfügbarkeit über leistungsfähige Rechner nicht sinnvoll modelliert werden können.

19

Vgl. D. Dörner, Modellbildung und Simulation, a. a. O., S. 339—342.

Systemanalytischer Zugang

2.4.1.

83

Der systemanalytische Zugang bei der Widerspiegelung eines realen sozialen Sachverhalts in empirisch-soziologischen Forschungen

Wie in jeder Wissenschaft muß in empirisch-soziologischen Forschungen auf marxistisch-leninistischer Grundlage objektiven sozialen Sachverhalten und Prozessen letztendlich die entscheidende Bedeutung beigemessen werden. Wesentliche innere Beziehungen und Zusammenhänge des zu untersuchenden sozialen Problems mit anderen Problemen sowie seine eigene Entwicklung sind nur theoretisch erfaßbar. Einen sozialen Sachverhalt vom Wesen her zu untersuchen bedeutet deshalb, von einem solchen methodologischen Zugang in der empirisch-soziologischen Forschung auszugehen, daß tieferliegende theoretische Zusammenhänge des Untersuchungsobjekts von Anbeginn, d. h. mit Konzipierung der Forschungsaufgaben, berücksichtigt werden können. Dabei ist die Bestimmung der für das gegebene Forschungsproblem relevanten theoretischen Bezüge ein kompliziertes methodologisches Problem. Die Berücksichtigung wichtiger Systemprinzipien kann orientierend und unterstützend für den wissenschaftlichen Suchprozeß sein, der einen problemadäquaten theoretischen Ansatz der empirisch-soziologischen Forschung als Ziel hat. Zu diesem Zweck werden zunächst erste Vorstellungen über die Ganzheitlichkeit und Zusammensetzung des sozialen Sachverhalts oder Prozesses entwickelt. Eine erste Aufgliederung des Forschungsobjekts in Teilobjekte wird vorgenommen, eine erste, noch wenig detaillierte Strukturvorstellung entsteht. In dieser groben Struktur hat bereits jeder Teilbereich oder -prozeß eine bestimmte Funktion, er wird stets im Rahmen des Ganzen gesehen und ist folglich nur in bezug auf das zu untersuchende Forschungsobjekt genau bestimmt. An dieser Stelle ist einzufügen, daß die Widerspiegelung von sozialer Ganzheitlichkeit im soziologischen Forschungsprozeß keine Gedankenkonstruktion an sich ist, sondern ihre Grundlage im realen Entstehen und Entwickeln von ganzheitlichen sozialen Gegebenheiten als Ausdruck der objektiven Gesellschaftsdialektik hat. Die objektive Gesellschaftsdialektik ist die primäre Voraussetzung für die subjektive Dialektik, die sich im systemanalytischen Herangehen auf spezifische Weise niederschlägt. Auf diesem Wege wird der theoretische strukturelle Aspekt des Forschungsobjekts in seiner Ganzheitlichkeit und in Verbindung mit der Analyse seiner Spezifik ins Zentrum der wissenschaftlichen Betrachtung gerückt und ein systemstrukturelles Konzept der theoretischen Zergliederung des gegebenen sozialen Forschungsobjekts erarbeitet. Für das systemanalytische Fortschreiten bei der Widerspiegelung des Forschungsobjekts steht deshalb das Problem, seine bis dahin weitgehend qualitativ bestimmte Ganzheitlichkeit konzeptionell weiter zu untersetzen und zu präzi7

Soziolog. Forschung

84

Forschungsprogramm

sieren. Zu diesem Zweck sind in den darauffolgenden Schritten die wichtigsten funktionellen Bindungen des gegebenen sozialen Sachverhalts oder Prozesses an andere, außerhalb der bisher erörterten Problematik liegende Sachverhalte oder Prozesse zu analysieren. Über Entwicklungstendenzen und -möglichkeiten des gegebenen sozialen Sachverhalts oder Prozesses ist eine umfassende Vorstellung zu erarbeiten, indem gesellschaftliche Leitungsbeziehungen und gesellschaftliche Zielsetzungen auf ihn bezogen analysiert werden. Die auf diese Weise betriebene Entfaltung des Forschungsobjekts hinsichtlich seines Funktionierens und seiner Entwicklung ist im Anschluß an diese methodologische Prozedur mit den vorläufigen strukturellen Auffassungen gedanklich zu verbinden, so daß ein neues, von strukturellen, funktionellen und Entwicklungszusammenhängen getragenes Forschungskonzept (Modell) entsteht. Die aus diesem theoretischen Konzept hervorgehenden systembildenden Beziehungen bestimmen im weiteren methodologischen Vorgehen den Rahmen, in dem die theoretische Struktur des zu untersuchenden Problems sukzessive, d. h. immer konkreter und genauer, zu ermitteln ist. Dabei ist davon auszugehen, daß den vielfaltigen Wechselbeziehungen eines konkreten sozialen Sachverhalts oder Prozesses nur mit einer mehrdimensionalen Struktur entsprochen werden kann. Es entsteht damit als nächstes die Aufgabe, die konkreten inhaltlichen Dimensionen im gegebenen systembildenden Rahmen aufzudecken. Dabei ist in der Regel ein hierarchisches Strukturgefüge zu bestimmen, das die spezifische Berücksichtigung verschiedener gesellschaftlicher Ebenen in bezug auf den zu untersuchenden sozialen Sachverhalt oder Prozeß zuläßt. „Entweder-oder"-Entscheidungen hinsichtlich der wissenschaftlichen Erfassung von strukturellen, funktionellen oder Entwicklungszusammenhängen können bei einem systemanalytischen Zugang auf das Widerspiegelungsproblem zugunsten einer ,,sowohl-als auch"-Erfassung und Erforschung gelöst werden. So gesehen orientiert systemanalytisches Herangehen von Anfang an auf eine komplexe Sichtweise und ist deshalb ein unverzichtbarer methodologischer Zugang für die Lösung vieler praktischer Probleme unserer sozialen Wirklichkeit. Am Beispiel der Lebensweiseproblematik sollen Momente eines konkreten systemanalytischen Vorgehens im folgenden veranschaulicht werden. Für die Erforschung der sozialistischen Lebensweise mit der praktischen Zielstellung, wissenschaftliche Grundlagen der Leitung und Planung sozialer Prozesse gesamtgesellschaftlichen Maßstabs zu vertiefen,20 ist ein spezifisches theoretisches Konzept erforderlich. Systemanalytisch (im Rahmen eines Systems sozialer Indikatoren zur Erforschung der sozialistischen Lebensweise) geht man dabei zunächst von der Ganzheitlichkeit sozialistischer Lebensweise aus. Diese Vorstellungen wer20

Vgl. H. Berger/Th. Hanf/W. Hinrichs/E. Priller/D. Rentzsch/S. Kettler, System sozialer Indikatoren der sozialistischen Lebensweise, in: Soziologie und Sozialpolitik. Beiträge aus der Forschung, 1/1984.

Systemanalytischer Zugang

85

den zu einem vorläufigen theoretischen Modell gefugt und mit solchen wissenschaftlichen Voraussetzungen gedanklich in Beziehung gebracht, die aus planungsmethodischen Unterlagen zentraler Leitung und Planung sozialer Prozesse, insbesondere aus dem Vorgehen zur planmäßigen Entwicklung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus, folgen. In Verbindung mit inhaltlichen Zielstellungen zur Entwicklung sozialistischer Lebensweise sowie in Abstimmung mit Grundrechten und Pflichten in allen wichtigen Lebensbereichen wird zwischen den hypothetisch angenommenen strukturellen und funktionellen Entwicklungsbeziehungen sozialistischer Lebensweise eine gedankliche Verknüpfung vorgenommen, die zur Bestimmung der systembildenden Zusammenhänge führt. Folgende inhaltliche Dimensionen für die Lebensweisestruktur der sozialistischen Gesellschaft wurden beispielsweise ermittelt (Siehe auch Beilage): 1. Ökonomische, soziale, politische, ideologische, demographische und territoriale Grundlagen sozialistischer Lebensweise als qualitative Ausdrucksformen der Ganzheitlichkeit sozialistischer Lebensweise; 2. materielle Lebensbedingungen, Lebenstätigkeiten, soziale Beziehungen und subjektive Reflexionen und Werte als vier Hauptbestandteile sozialistischer Lebensweise als ganzheitlicher sozialer Erscheinung; 3. zehn Bedürfniskomplexe (Arbeiten, Ernähren, Bekleiden, Wohnen, Gesundheit und soziale Fürsorge, Bildung und Erziehung, Kultur und Kunst, Kommunikation und Information, Transport und Verkehr, Sport und Erholung) als Grundlage einer komplexen Einbeziehung von Lebensweiseaspekten in die Leitung und Planung sozialer Prozesse; 4. soziale Grundrechte und Pflichten sowie richtungweisende gesellschaftliche Ziele für die planmäßige Entwicklung sozialistischer Lebensweise entsprechend der Einheit von gesellschaftlichen und individuellen Interessen und unter besonderer Berücksichtigung sozialstruktureller Differenzierungsaspekte. In der nichtmarxistischen Soziologie gibt es eine große Zahl verschiedener struktureller, funktioneller oder strukturfunktioneller theoretischer Konzeptionen, die von ihren Autoren als Gegenentwurf zur marxistisch-leninistischen Philosophie verstanden werden wollen und Anspruch auf eine „neue" Gesellschaftstheorie erheben. So geht z. B. Parsons in seiner allgemeinen Theorie des Sozialen von einem sozialen Aktionssystem als tragendem Grundsachverhalt einer Gesellschaft aus, das über mehrere Aufgliederungen zur analytischen Konstruktion wird, die sozialen Realitäten „entgegengehalten" wird, ohne konkrete empirische Sachverhalte damit eigentlich erfassen und theoretisch verallgemeinern zu wollen. 21 Sozialökonomische Bewegungsgesetze bleiben bei diesem Herangehen von vornherein ausgeschlossen. Eigentlich geht es in nichtmarxistischen Systemansätzen mehr um eine — allerdings perfekt beherrschte — systematische Methode als um einen 21

7*

Vgl. D. Bergner/R. Mocek, Bürgerliche Gesellschaftstheorien, Berlin 1976, S. 186.

86

Forschungsprogramm

systemanalytischen Zugang im oben beschriebenen Sinne. Gesamtqualitäten der kapitalistischen Gesellschaftsordnung wie Ausbeutungsverhältnisse, antagonistische Interessengegensätze und Klassenkampf spielen in diesen Systemansätzen ohnehin keine Rolle und werden ignoriert.

2.4.2. Die systemanalytische Regulierung des ganzheitlichen Erkenntnisprozesses in empirisch-soziologischen Forschungen In jeder empirisch-soziologischen Untersuchung ist von der Prämisse auszugehen, daß Theorie und Empirie eine dialektische Einheit bilden. Die bewußte Wahrung des ihr entsprechenden ganzheitlichen Forschungsprozesses ist ein immer wieder mit jeder Forschungsaufgabe neu zu lösendes methodologisches Problem. Systemprinzipien können die dabei zu vollbringende Denkarbeit orientierend leiten. Sie in der wissenschaftlichen Untersuchung konkret umzusetzen hat neben dem inhaltlich-theoretischen auch einen forschungsorganisatorischen Aspekt. Für die Projektierung einer empirisch-soziologischen Forschung kann in allgemeinster Form auf ein Forschungsprogramm zurückgegriffen werden, das aus eil er Vorbereitungsphase, einer Erhebungsphase und einer Auswertungsphase besteht. Ausgehend von der Ganzheitlichkeit des damit zu vollziehenden Erkenntnisprozesses strebt ein systemanalytischer Zugang in einem Forschungsprogramm eine Übereinstimmung und Abstimmung zwischen diesen drei arbeitsteilig getrennten Phasen an. Schwerpunkt ist dabei die logische Verbindung von theoretischem Forschungskonzept, methodischem Erhebungsprogramm und methodischem Aufbereitungs- und Auswertungsprogramm. Das wird praktisch durch die Ausarbeitung eines theoretischen und eines empirischen Modells vom Forschungsprozeß erreicht, welche die sukzessive Approximation des hypothetischen Ausgangsmodells an ein theoretisch begründetes, erklärbares und empirisch abgesichertes und insofern konkreteres Modell vom Untersuchungsobjekt erst ermöglichen.22 Hervorzuheben sind diesbezügliche Schritte sowjetischer Soziologen bei der Erforschung der sozialistischen Lebensweise.23 Ihr systemanalytisches Vorgehen zeichnet sich dadurch aus, daß über eine detailliert ausgearbeitete Konzeption (Modell) in allen Phasen des Erkenntnisprozesses eine Abstimmung und wechselseitige Präzisierung von theoretischen Grundlagen der Lebensweiseforschung philosophischen Charakters und den Ergebnissen empirisch soziologischen Niveaus gewährleistet wird. Die Erarbeitung eines gut operationalisierbaren theoretischen Strukturschemas und seine Verbindung mit empirisch zu lösenden Aufgaben wird von diesen Soziologen als Hauptkettenglied ihrer systemanalytisch organi22 23

Vgl. A. Ullmann/St. H. Wilsdorf, Bewertung und Vergleich, Berlin 1977, S. 26—30. Vgl. R. W. Ryvkina, Obraz zizni sels'kogo naselenija, Novosibirsk 1979.

Prognostizierung

87

sierten Forschung bezeichnet. Nähere Auskunft über die realisierte Vorgehensweise kann das Untersuchungsschema geben, das sich nach Analyse- und Syntheseetappen untergliedern läßt (vgl. Abb. 7). Am weitesten verbreitet ist die Einbeziehung systemanalytischer Aspekte in die Anfangs- oder Vorbereitungsphase empirisch-soziologischer Forschungen. In der Problemanalyse kann der zu untersuchende soziale Sachverhalt mit Hilfe der Systemanalyse allseitig entfaltet werden. Dabei hat es sich bewährt, ein sogenanntes Konzeptions- oder Entwurfsmodell (theoretisches Modell) zu erarbeiten, das die vorgesehene wissenschaftliche Betrachtung und Untersuchung des gegebenen sozialen Sachverhalts durch das Forscherkollektiv offen darlegt und für die weitere Entwicklung des theoretischen Sachverhalts eine gute Voraussetzung bildet.

2.5. Prognostizierung Die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft fordert von der marxistisch-leninistischen Soziologie in zunehmendem Maße, ihre prognostische Funktion immer qualifizierter wahrzunehmen. Nachdem die Schwierigkeit konkreter Prognostizierung geraume Zeit unterschätzt wurde, resümierte z. B. Grundmann in den 70er Jahren über die Prognostizierung folgendermaßen: „Insofern hat also jede Prognose extrapolativen Charakter; der in ihr enthaltene Informationsgewinn kann nie anders entstehen als durch Verknüpfung von Informationen über Vergangenheit und Gegenwart. Deshalb kann auch die gewissenhafteste prognostische Arbeit und die kühnste Phantasie die qualitativen und quantitativen Unzulänglichkeiten von Ausgangsinformationen nicht wettmachen. Es hat aus dem gleichen Grund keinen Sinn, Prognosen ausarbeiten zu wollen, deren Prämissen in der Gegenwart nicht bzw. noch nicht gefunden werden können." 24 Die Möglichkeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verbinden, hängen in hohem Maße vom jeweiligen Erkenntnisstand, den methodologischen und methodischen Grundlagen der Wissenschaft im allgemeinen (Philosophie, Logik, Kybernetik, Mathematik) und im besonderen von der oder den Disziplinen, die das entsprechende Objekt zum Gegenstand haben, ab. Neues und Altes sind mit geeigneten Methoden zu vergleichen, um quantitative und qualitative Entwicklungen zu erkennen und richtig bewerten zu können. Aus der Erkenntnis progressiver Entwicklungsrichtungen lassen sich mit Hilfe von Prognosemethoden Voraussagemodelle entwickeln, die für die Leitung und Planung gesellschaftlicher Prozesse nützlich sein können. In diesem Prozeß erweisen sich Systemanalyse, Modellierung, Prozeßanalysen, Längsschnittuntersuchungen, Leistungsvergleiche 24

S. Grundmann, Arbeiterklasse — Gegenwart und Zukunft, Berlin 1975, S. 45.

88

Forschungsprogramm Etappen der Synthese

Etappen der Analyse

¿1 Vervollkommnung der Informationsbasis der Untersuchung der Lebensweise

Analyse der Ausgangs Konzeptionen, sozialistische Lebensweise im Dorf | Z Definition der ländlichen Lebensweise

10 Konkretisierung der Konzeption der sozialistischen Lebensweise im Dorf

Ausarbeitung eines Strukturschemas der ländlichen Lebensweise im weiten Sinne i Bestimmung der Komponenten, Charakteristik der inneren Verbindungen

\

4 Ausarbeitung eines Strukturschemas der ländlichen Lebensweise im weiten Sinne / Charakteristik der Verbindungen zwischen ihr und den äußeren sozialen Mechanismen j Heraussteller, eines Systems äußerer Faktoren

Systemauffassung der Lebensweise im weiten Sinne/ Komponenten•, äußere Faktoren; innere und äußere Verbindungen

21 Vervollkommnung des soziologischen Fragebogens

\ 19 Präzisierung des systems

Indikatoren-

t

18 Präzisierung der Konzeption der ländlichen Lebensweise

17 Präzisierung schemas

des

Struktur-

16 Bewertung der ländlichen Lebensweise insgesamt

15 ßanzheitliche Bewertung der Typen der Lebensweise über Integral indikatoren

89

Prognostizierung

Ausarbeitung integraler Indikatoren der ländlichen Lebensweise; Entwicklungsstufe Urbanisierungsstufe, Differenzierungsstufe, Ausbilanzierungsstufe \

7

Ausarbeitung logischer Charakteristika für die Strukturierung einzelner Komponenten der Lebensweise |

8

Entwicklung eines Systems spezifischer begrifflicher Indikatoren

Entwicklung eines Massivs von Befragungsindikatoren

14

Typo/ogische Analyse der Lebensweise in Verbindung mit äußeren Faktoren

73

Konstruktion von mehrdimensionalen Typologien der Lebensweise im engen Sinne

11 Feststellen der Verbindungen zwischen den Komponenten der Lebensweise

11 Synthese der spezifischen Indikatoren - ganzheitliche Beschreibung jeder Komponente

10

Analytische Beschreibung der Komponenten und äußeren Faktoren der Lebensweise über spezifische Indikatoren >-4bb. 7 Methodologisches Untersuchungsschema zur Erforschung der Lebensweise der Landbevölkerung Sibiriens Quelle: R. W. Ryvkina, Obraz 2izni sels'kogo naselenija, Novosibirsk 1979, S. 16/17.

und die Ausnutzung statistischer Methoden für die Auswertung von periodisch erhobenen Daten als unentbehrliche Hilfsmittel. Im Ausnahmefalle können völlig neue Qualitäten sozialer Sachverhalte, für die es bisher kein Beispiel gibt, prognostiziert werden. Das setzt aber eine bis ins Detail ausgereifte spezielle Theorie über den betreffenden Sachverhalt voraus. Prognosemethoden lassen sich wie folgt gruppieren: Die Unterscheidung zwischen Wachstumsprozessen und ihrem Verlaufstyp und qualitativer Entwicklung

90

Forschungsprogramm

und Veränderung führt zur Unterscheidung zwischen mathematischen Verfahren und Techniken in der Prognostizierung und den qualitativen oder Kreativitätstechniken. Für beide Methodengruppen — für die mathematischen noch deutlicher — gilt, daß sie für prognostische wie analytische Zwecke einsetzbar sind. Man kann also nicht von „reinen" Prognosemethoden sprechen. Ihr Verwendungszusammenhang entscheidet über die Einsetzbarkeit von Methoden zu prognostischen Zwecken neben einer Reihe von Modifikationen. Zu den mathematischen Grundverfahren zählen Extrapolationsmethoden, Trendverlängerung, Zeitreihenanalyse, Prognosemodelle, Regressionsanalyse, Ausgleichspolynome, exponentielle Glättungen und multivariate Verfahren. Ihnen ist gemeinsam, daß sie durch die bereits vorhandene Zeitreihe festgelegt werden; d. h., die Wahl der Funktion zur Erarbeitung einer Prognose resultiert aus dem für günstig erachteten Grad der Anpassung einer mathematischen Funktion an die Zeitreihe eines Prozesses bzw. seine vergangenen Zustände, Niveaustufen, quantitativen Größen. Neben dem Grad der Anpassung (prinzipiell kann eine mathematische Funktion eine beliebige lange Zeitreihe exakt beschreiben, was jedoch zu Lasten der prognostischen Aussage geht) ist die Länge der einzubeziehenden Zeitreihe von externen, d. h. theoretischen, Überlegungen abhängig. Für diese gibt es jedoch im Hinblick auf die Exaktheit der Prognose keine allgemeingültigen Kriterien. Ein fundamentales Problem der Prognostizierung resultiert daraus, daß konkrete gesellschaftliche Prozesse in einem hohen Grad stochastisch angelegt sind. Sie sind also nicht einfach ein modifiziertes lineares Resultat ihrer Vergangenheit, die eben hier — als Zeitreihe — ausschlaggebend für die Wahl der Prognosefunktion und damit das Prognoseresultat ist. Hoffnungen verbinden sich deshalb insbesondere mit der Anwendung stochastischer Verfahren (z. B. Markovsche Ketten) auf soziale Prozesse, die eine weniger direkte Beziehung (sogenannte Übergangswahrscheinlichkeiten) zwischen künftigem und vergangenem Zustand implizieren. Zu den qualitativen Methoden und Kreativitätstechniken zählen insbesondere das von Gordon und Helmer entwickelte DELPHI-Verfahren, das Szenario-writing (Kahn), morphologische Techniken (Zwicky), Brainstorming, Entscheidungsbaumverfahren, bis hin zu verschiedenen Formen von Gedankenexperimenten. Diese von Analysemethoden abgewandelten Verfahren und Techniken dienen — ihrer Gemeinsamkeit nach — der Ideenfindung, -systematisierung und -bewertung. Sie beschreiben insofern einen Gegensatz zu den mathematischen Verfahren, als durch ausgewählte Experten z. B. Entwicklungslücken systematisch gesucht werden (Brainstorming, morphologische Techniken), Alternativen künftiger Entwicklung zu bewerten sind (Entscheidungsbaumverfahren), die komplexe Beschreibung möglicher künftiger Zustände eines Systems (Szenario-writing) oder die systematische Meinungserfassung von Experten über das Eintreten von Innovationen in der Zukunft (Delphi) betrieben wird. Damit wird deutlich, daß nicht nur zwi-

Prognostizierung

91

sehen Wachstumsprognosen und Prognosen qualitativer Veränderungen zu unterscheiden ist, sondern auch zwischen normativen und erkundenden Prognosen. Zahlreiche qualitative Methoden dienen gerade der Erkundung möglicher Entwicklung, dem Aufzeigen von Alternativen, um eine zielbewußte Entscheidung zwischen ihnen herbeiführen zu können. 2 5 Damit hat die Prognostizierung die Aufgabe, beide Methodengruppen im dialektischen Sinne der Einheit von quantitativer und qualitativer Entwicklung und Veränderung, der Einheit von Logischem und Historischem, der Einheit von Analyse und Synthese und weiterer dialektischen Prinzipien (vgl. Abschnitt 1.2.) zu integrieren. Nur auf diese Weise wird es möglich, aus der differenzierten Einschätzung der Entwicklungsstadien eines sozialen Sachverhalts (Kleinform, einfache Form, entwickelte Form; nach Marx) Analogiebeziehungen bezüglich anderer sozialer Sachverhalte abzuleiten und für die Prognose ihrer Entwicklung zu verwerten. Die Prognoseproblematik läßt sich besonders deutlich an den ersten Globalmodellen des Club of Rome demonstrieren. Das erste Modell von Meadows ließ lediglich streng kausale, mathematisch definierbare Zustände und Entwicklungen zu. 26 Die Ergebnisse veranschaulichen den dabei entstandenen engen Horizont mit seiner fatalistischen Konsequenz, die weder methodischer noch theoretischer Kritik standhielt. Das Modell von Mesarovic und Pestel hingegen berücksichtigte vom systemanalytischen Ansatz her differenzierte Funktionsweisen gesellschaftlicher Prozesse (Kausalebene, Entscheidungsebene, Normenebene). 27 Insbesondere Wertvorstellungen, die der Entscheidungsfindung zugrunde liegen, wurden im Dialogverfahren schrittweise in das Modell einbezogen. Der Mehrebenenaufbau von Prognosemodellen beinhaltet eine fundamentale Entwicklungsrichtung, indem er quantitative und qualitative, materielle und ideelle Entwicklung zu integrieren sucht. 30 Mit diesem Programm bezeichnet die Modellierung als komplexes Erkenntnisinstrument eine grundsätzliche Überlegenheit gegenüber der Anwendung einzelner Methoden und Verfahren in der Prognostizierung. Für die Soziologie ergibt sich eine besondere Problematik, da sie die Komplexität gesellschaftlicher Prozesse (Verknüpfung ökonomischer, technischer, politi25

26 27

30

Die Grundmethoden sind ausführlich in folgenden Arbeiten, die hier stellvertretend stehen, beschrieben: Vgl. H.-D. Haustein, Prognoseverfahren in der sozialistischen Wirtschaft, Berlin 1970; H. Barth, Prognoseverfahren in den Sozialwissenschaften, Berlin(West) 1974. Vgl. D. Meadows, Die Grenzen des Wachstums, Reinbek b. Hamburg 1974, S. 30/31, 90/91. Vgl. M. D. Mesarovic/E. Pestel, Menschheit am Wendepunkt, Stuttgart 1974, S. 38—57; E. Pestel/H.-D. Heck, Das neue Weltmodell, in: Bild der Wissenschaft, 9/1974, S. 54—62. Eine Weiterführung und Verallgemeinerung des Mehrebenenaufbaus ist erhalten in: Vgl. N. Lapin, Soziale Indikatoren in Globalmodellen, in: Gesellschaftswissenschaften, Moskau 1/1979, S. 91-105.

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Forschungsprogramm

scher, kultureller, sozialer Prozesse) in der Prognostizierung zu berücksichtigen hat. Daraus leiten sich drei Probleme ab: 1. Es ist mit unterschiedlichen Umschlaggeschwindigkeiten der einzelnen Prozeßarten zu rechnen. Das bedeutet, daß die Prämissen unterschiedlich schnell — mit dem Auftreten von Innovationen oder sonstigen Veränderungen — veralten. 2. Diese Prozesse unterscheiden sich deutlich im Hinblick auf ihre forschungsgemäße Zugänglichkeif, Das bedeutet, es sind sehr unterschiedliche Forschungsansätze, direkte und indirekte Verfahren und Methoden der Datenerzeugung erforderlich (von Zählen bis Messen, direkt beobachtbaren bis nicht direkt zugänglichen Prozessen und Sachverhalten), was Probleme der Synthese dieser qualitativ unterschiedlichen Daten mit sich bringt. 3. Diese Prozesse unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Verlaufsqualität (von „einfachen" Wachstumsprozessen, über Wiederholungen und Fortschreibungen bis hin zu nichtlinearen Qualitätssprüngen). Daraus ist erkennbar, daß es zum einen um die Datenerschließung (Erstellen gültiger Prämissen) und zum anderen um die Synthese qualitativ verschiedener Daten in ein und demselben Modell geht. Im folgenden soll auf eine Prognosestrategie und nicht auf einzelne Methoden oder Methodengruppen hingewiesen werden, die gerade aus ihrer engen Verbindung von Analyse und Prognose der besonderen Problematik der Prognostizierung in der Soziologie nahekommt und vor allem das Problem der Datenerschließung zum Gegenstand hat: Die Prognose mittels sogenannter Vorausphänomene,31 Die Anlage folgt der von Fallstudien. Insbesondere folgende Nachteile der Prognostizierung könnten damit ausgeglichen werden: — die nur ungenaue Prognose des Zusammenhangs qualitativ unterschiedlicher Prozeßarten und — die hohe Abstraktion (zu geringe Detailnähe) von Prognosen. Vorausphänomene bezeichnen komplexe soziale Erscheinungen (z. B. soziale Gruppen), die aufgrund von Innovationen technischer, kultureller, organisatorischer Art oder ihrer Eigendynamik entstehen und die gesamtgesellschaftliche oder die Entwicklung eines gesellschaftlichen Teilbereichs bereits in der Gegenwart vorwegnehmen.32 Gerade die Einführung moderner Technik bietet vielfaltige Mög31

32

Die Arbeit mit Vorausphänomenen geht auf eine methodische Tradition des Wissenschaftsbereiches marxistisch-leninistische Soziologie an der Karl-Marx-Universität Leipzig aus den 60er Jahren zurück. Weitere Ausführungen zu dieser Problematik: Vgl. K. Mühler, Theoretische und methodische Betrachtungen zum Problem der sozialen Prognostizierung- in der marxistisch-leninistischen Soziologie unter besonderer Berücksichtigung von Sozialiridikatoren und sozialen Vorausphänomenen bei der Analyse und Prognose sozialer Prozesse, Dissertation A, Leipzig 1981, unveröff.

Prognostizierung

93

lichkeiten, die damit in Beziehung stehenden Veränderungen und Entwicklungen, z. B. der Einstellung zur Arbeit, den Lebensvorstellungen, allgemeinen Bewußtseinsinhalten und des sozialen Verhaltens, aufzudecken. Folgende Stufen können als Rahmen dieser Prognosestrategie betrachtet werden: 1. Identifikation und Lokalisierung tragfähiger, d. h. das gesellschaftliche Entwicklungstempo und die Entwicklungsrichtung bestimmender Innovationen (dazu gehört die theoretische Abschätzung des Reifegrades, der Perspektive und Allgemeingültigkeit einer Innovation); 2. Auswahl der im Determinationsfeld dieser Innovationen agierenden sozialen Gruppen oder Kollektive und Bestimmung von Kontrastgruppen (analog zur experimentellen Anordnung); 3. Erhebung von Daten nach einem einheitlichen Untersuchungsprogramm, das genügend Sensibilität besitzt, Veränderungen und deren Zusammenhänge, insbesondere Schwellenwerte und qualitative Umschlagspunkte der Entwicklung sowie erreichte Sättigungsgrade aufzuzeigen; 4. Gewinnung prognostisch verwertbarer Erkenntnisse aus dem Vergleich der angegebenen Gruppen und Absicherung der Daten durch eine Längsschnittanlage der Erhebung (Unterscheidung zwischen Übergangserscheinungen und 1 tatsächlich neuen Verhaltensweisen) zur Abschätzung ihrer zeitlichen Stabilität; 5. Bestimmung der Generalisierbarkeit der Ergebnisse (eigentliche Prognosephase): — Beständigkeit (z. B. Ausbreitungsgeschwindigkeit einer gefundenen Erscheinung, Wahrscheinlichkeit ihrer Modifikation unter Wachstumsbedingungen) und — Geltung (z. B. Absonderung der Lokalität oder Individualität einer Erscheinung, Bestimmung der Übertragbarkeit auf andere gesellschaftliche Bereiche). 6. Ermittlung des Grades der Ubereinstimmung mit den gesellschaftlichen Grundorientierungen, Vorschläge für gezielte Veränderungen bzw. Einfügung der Prognose in gesellschaftliche Gesamtzusammenhänge. Die marxistisch-leninistische Soziologie muß in interdisziplinärer Forschung mit anderen Gesellschaftswissenschaften, Technik- und Naturwissenschaften ihren Beitrag zur Prognostizierung leisten: Soziale Prozesse können nur in komplexer Weise (im Zusammenhang ökonomischer, technischer und ideologischer Prozesse) und der Synthese von Analyse und Prognose auf dem qualitativ geforderten Niveau prognostiziert werden.

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Forschungsprogramm

2.6. Begriffe, Operationalisierung, Indikatoren 2.6.1. Operationalisierung als erkenntnistheoretische und wissenschaftslogische Aufgabe in der soziologischen Forschung Eine der wichtigsten methodischen Aufgaben im soziologischen Forschungsprozeß besteht darin, theoretisch-konzeptionelle Vorstellungen empirisch analytisch umzusetzen und Konzeptionen, Begriffe und Konstrukte zu operationalisieren. Unter Operationalisierung ist die auf der Grundlage von erkenntnistheoretischen und wissenschaftslogischen Kriterien erfolgende Erarbeitung von Handlungsanweisungen für die empirische Ebene der Forschung zu verstehen. Die Operationalisierung realisiert zunächst den Übergang zur empirischen Erkenntnis, indem sie soziologischen Sachverhalten bzw. ihren Eigenschaften, die sich einer unmittelbaren empirischen Erfassung verschließen, durch einen Transformationsprozeß empirisch untersuchbare Merkmale zuordnet. Sie erfüllen die Rolle von Indikatoren für diese Sachverhalte bzw. ihre Eigenschaften. Unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten sind Indikatoren wichtige Vermittlungsglieder zwischen theoretischer und empirischer Erkenntnisstufe. 33 Sie sind Elemente der Widerspiegelung, denen im Unterschied zu anderen Widerspiegelungselementen (Aussagen, Begriffen, Urteilen etc.) die Aufgabe zukommt, empirische Äquivalente wesentlicher Bestimmungsmerkmale soziologischer Forschungsobjekte zu sein. Wir gehen dabei davon aus, daß wir viele Sachverhalte, Erscheinungen oder Prozesse aufgrund ihrer Komplexität nur mit hohem Aufwand oder unter anderen einschränkenden Bedingungen in ihrer Gesamtheit empirisch erfassen können, daß wir aber, wenn wir die Zusammenhänge zwischen ihren empirisch erfaßbaren Merkmalen kennen, auf der Grundlage der Messung dieser Merkmale, die uns interessierenden Sachverhalte, Erscheinungen oder Prozesse in ihren wesentlichen Seiten exakt erfassen können. Bei der Operationalisierung handelt es sich also um einen spezifischen Erkenntnisprozeß im Rahmen der empirisch-soziologischen Forschung. Ihr Ziel besteht zunächst in der Ableitung und Begründung von Erkenntniselementen, die den Übergang von der theoretischen konzeptionellen zur empirischen Phase der Forschung gewährleisten. Sie beschränkt sich aber nicht allein auf die Bestimmung von Indikatoren, die als empirisch erfaßbare Merkmale entscheidende Grundlage der empirischen Analyse sind. Nicht nur die Analyse, auch die Synthese ist ein immanenter

33

Vgl. H. Berger, Begriff des Indikators, in: H. Berger/E. Priller (Hrsg.), Indikatoren in der soziologischen Forschung, Berlin 1982, S. 27.

95

Operationalisierung

Bestandteil des Operationalisierungsprozesses; sie schließt deshalb auch die Frage ein, wie die einzelnen empirischen Merkmale eines Sachverhaltes kombiniert werden sollen. In diesem Sinne liefert der Operationalisierungsprozeß Grundlagen für die Bildung von Klassifikationen, Typologien und Indizes. Unter dem Gesichtspunkt der Synthese gilt es im Operationalisierungsprozeß also auch zu bestimmen, wie diese einzelnen empirischen Merkmale eines sozialen Sachverhalts miteinander verbunden sind, in welcher Beziehung sie zueinander stehen und wie die punktuellen Messungen ein Abbild der wesentlichen Seiten des gesamten Sachverhalts bieten können. Inhaltlich-theoretische Überlegungen, die dem Operationalisierungsprozeß zugrunde liegen, werden damit auf die ersten Stufen der Auswertung des Datenmaterials übertragen. Dabei werden Voraussetzungen für eine tiefere theoretische Erkenntnis geschaffen. Für beide Seiten des Operationalisierungsprozesses gilt, daß sie wesentlich theoretisch bestimmt sind. Um entsprechende Ableitungen und Begründungen für den Übergang zur empirischen Ebene der Forschung vorzunehmen und als Ergebnis die wesentlichen empirischen Merkmale zu erhalten, muß auf bereits gesichertes theoretisches Wissen zurückgegriffen werden. Das ist erforderlich, um sich nicht im Unwesentlichen und Zufalligen zu verlieren. Aus der Vielfalt der empirischen Realität, den vielfaltigen empirischen Merkmalen, die einem Sachverhalt eigen sind, müssen wir Merkmale auswählen, die das Wesen des Objekts aussagekräftig reflektieren. Zu ihrer Bestimmung tragen modell- und systemhafte Vorstellungen von den Objekten in besonders hohem Maße bei (vgl. Abschnitte 2.3. und 2.4.). Nur durch theoretische Ableitungen und Begründungen kann der Operationalisierungsprozeß, in dem wir bestimmte Merkmale von sozialen Sachverhalten absondern, um sie zunächst isoliert zu betrachten, unter erkenntnistheoretischen Ge-

Theoretischer Begriff — (Charakteristik des Objekts, Modell, System)

• Indikatoren, •— Klassifikationen, Typologien, Indizes (operationaler Begriff )

Operationalisierung (empirische Interpretation) Abb. 8 Operationalisierung von Begriffen

Quantitative Bedeutung (z. B. Instrumente in Form einer Skala)

Prozedur des Messens und der Skalierung

96

Forschungsprogramm

sichtspunkten sinnvoll gestaltet werden. Mit seinen Ergebnissen, der Bestimmung der wesentlich empirisch wahrnehmbaren bzw. registrierbaren Merkmale von soziologischen Sachverhalten und der Ermittlung der Beziehung dieser Merkmale untereinander, liefert der Operationalisierungsprozeß die Grundlagen für Messung und Quantifizierung (vgl. Abschnitte 2.7. und 2.8.). Der Operationalisierungsprozeß wird vor allem über die empirische Interpretation von Begriffen vollzogen (vgl. Abb. 8 auf S. 95).

2.6.2. Empirische Interpretation von Begriffen Das theoretische System der Soziologie schließt, wie das jeder Wissenschaft, ein äquivalentes Begriffssystem in sich ein. 34 Begriffe sind in ihrer Widerspiegelungsund Erkenntnisfunktion jedoch nicht nur wichtige Elemente der soziologischen Theorie, sondern zugleich Instrumente der Forschung. Als theoretische Werkzeuge zur Vorbereitung, Durchführung und Auswertung empirischer Untersuchungen stellen die Begriffe ein wesentliches Bindeglied zwischen Theorie und Empirie dar. Zugleich führt die Auswertung empirischer Forschungsergebnisse zur weiteren Präzisierung, Bereicherung oder Neubildung von Begriffen und zur Entfaltung des Begriffssystems als Komponente theoretischen Wissens. Die marxistisch-leninistische Soziologie räumt den Begriffen nicht nur instrumenteile Funktionen zur Ordnung oder Organisation empirischen Materials ein. Sie versteht sie auch nicht nur als ein Raster, das der empirischen Forschung zur Bestimmung von zu untersuchenden Sachverhalten vorgeschaltet ist. Der bedeutende Stellenwert, der den soziologischen Begriffen in der soziologischen Forschung allgemein und speziell im Operationalisierungsprozeß zukommt, resultiert vor allem aus ihrer erkenntnistheoretischen Funktion, wichtiges Abbildungselement zu sein. Im Unterschied zum Operationalismus der nichtmarxistischen Soziologie geht die marxistisch-leninistische Soziologie davon aus, daß Begriffe als Widerspiegelungsform der sozialen Wirklichkeit eine von operationalen Bestimmungen unabhängige, eigenständige Qualität besitzen und daß sie Eigenschaften, Zusammenhänge, Beziehungen der objektiven sozialen Realität in allgemeiner Form widerspiegeln. Sie bieten der menschlichen Erkenntnis die Möglichkeit, ganze Klassen von Sachverhalten mit bestimmten gleichartigen Merkmalen abzubilden und so Gleichartiges zusammenzufassen. Indem die Begriffe allgemeine Merkmale widerspiegeln und von weiteren individuellen und spezifischen Merkmalen der einzelnen Objekte absehen, reproduzieren sie die sozialen Erscheinungen und Prozesse nicht nur als geistig Konkretes, sondern sie erfassen auch deren Wesen. Als gedankliche Widerspiegelung einer 34

Vgl. G. M. Andreewa, Präzisierung der Begriffe, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Jugendforschung — Methodologische Grundlagen, Methoden und Techniken, Berlin 1976, S. 61.

Empirische Interpretation

97

Klasse von Erscheinungen auf der Grundlage ihrer invarianten Merkmale hat jeder Begriff nicht nur eine eigenständige Qualität 35 , sondern die Begriffe sind auch untereinander zu einem Begriffssystem verbunden und ordnen sich in eine komplizierte Begriffshierarchie ein. Begriffe erhalten so in bezug aufeinander, sowohl zu Begriffen der gleichen Abstraktionsebene wie auch zu Begriffen größerer oder geringerer Allgemeinheit, weitere Bestimmungsmomente. Die Soziologie hat, wie jede andere gesellschaftswissenschaftliche Disziplin, zentrale und weniger zentrale Begriffe; nicht wenige dieser Begriffe werden auch in anderen Disziplinen, in der Philosophie, der politischen Ökonomie, der Sozialpsychologie, der Pädagogik etc. verwendet, haben aber dort, in einem anderen Begriffssystem, ihre spezifische Funktion und orientieren oft, in Abhängigkeit von der Gegenstandsbestimmung, auf spezifische Inhalte. Die Soziologie kann deshalb Begriffsinhalte nicht einfach übernehmen, sondern muß die soziologischen Begriffe unter ihrer eigenen Problemsicht bestimmen. Die marxistisch-leninistische Soziologie hat sich viele Jahrzehnte im historischen Materialismus als allgemeinsoziologischer Theorie entwickelt und hat ein ausgebautes und theoretisch fundiertes Kategoriensystem an sozial-philosophischen Begriffen. Mit der Entwicklung zur eigenständigen Disziplin und der Entfaltung der empirisch-soziologischen Forschung sowie mit dem Entstehen von Zweigsoziologien entstand ein dringendes Bedürfnis, das Kategoriensystem der marxistisch-leninistischen Soziologie auszubauen und für alle Abstraktionsstufen sowie für die rasch differenzierenden Bedürfnisse der zweigsoziologischen Forschung und für alle Formen empirisch-soziologischer Forschungen Begriffe zu bilden. Generell gilt: Sachverhalte, die begrifflich nicht erschlossen sind, werden dementsprechend lückenhaft oder überhaupt nicht in der Forschung erfaßt; und umgekehrt: Sachverhalte, die differenziert begrifflich strukturiert sind, werden auch dementsprechend differenziert in der Forschung abgebildet. Begriffe haben in diesem Sinne auch eine heuristische Funktion; eine Analyse des Entwicklungsstandes des Begriffssystems einer Disziplin zeigt uns auch, welche Problemgebiete ausgebaut und welche vernachlässigt sind. Begriffe können entsprechend ihrer Nähe bzw. Entfernung zur empirischen Erkenntnis in theoretische und empirische Begriffe (mit vielen Zwischenstufen) eingeteilt werden. Die theoretischen Begriffe, auch als Begriffe „höherer Ordnung" bezeichnet, stellen die Grundbegriffe des soziologischen Begriffsinstrumentariums dar und sind durch den historischen Materialismus bestimmt. Zu ihnen gehören solche Begriffe wie Gesellschaftsformation, Basis und Überbau, Produktionsweise und Lebensweise, Klasse und Schicht, gesellschaftliches Bewußtsein, Ideologie etc. Sie haben insgesamt nur eine theoretisch vermittelte empirische Bindung, oder an-

35

Vgl. G. Klaus, Moderne Logik, Berlin 1972, S. 178.

98

Forschungsprogramm

ders ausgedrückt, sie können nicht unmittelbar als begriffliche Instrumente der empirischen Erfassung der sozialen Wirklichkeit dienen. Begriffe, die der empirischen Ebene der Erkenntnis sehr nahe sind, ihr entsprechen oder eine unmittelbare Verbindung zu ihr haben, bezeichnet man als empirische Begriffe. Sie haben einen relativ niedrigen Abstraktionsgrad und lassen sich direkt auf empirisch beobachtbare Merkmale zurückzuführen. Solche Begriffe sind z. B. „Alter", „Haushalteinkommen", „Qualifizierung", „Fluktuation" oder auch „Einstellung zur beruflichen Arbeit", „Arbeitszufriedenheit", „Wohnleitbild" und andere. Zwischen beiden Polen existieren hinsichtlich der Nähe bzw. Entfernung zu empirisch beobachtbaren Merkmalen weitere Ebenen, die eine Vermittlung zwischen ihnen ermöglichen. Die empirische Interpretation der Begriffe, die sich das Ziel setzt, den Inhalt der Begriffe mit den realen Fakten der sozialen Wirklichkeit zu vergleichen, nutzt diese ganze Hierarchie von Begriffen. Dabei sind entsprechende Verfahrensregeln notwendig, mit deren Hilfe die zum Inhalt des Begriffs gehörenden konkreten Fakten empirisch fixiert werden. Dieser Prozeß beinhaltet sowohl die Schaffung von Voraussetzungen zur empirischen Erfaßbarkeit von Merkmalen wie auch Überlegungen zur Verdichtung der erfaßten Daten und zur Rückführung auf allgemeinere Begriffe, um den Vergleich zwischen Faktenmaterial und Begriffsinhalt auf möglichst hoher Ebene zu realisieren. Operationen dabei sind: — die Gewährleistung der empirischen Erfaßbarkeit, — die Schaffung von Voraussetzungen für die Ordnung des Datenmaterials nach bestimmten Kriterien und — die Klassifizierung dieses Materials bis hin zur Entwicklung von Indizes und Typologien. Diese sind bereits Ergebnisse und Grundlage der weiteren Verallgemeinerung. In diesem Prozeß spielen auch Konstrukte eine entsprechende Rolle. In der nichtmarxistischen Statistikliteratur wird das Konstrukt als Instrumentarium dargestellt, das losgelöst von der theoretischen Ebene der Erkenntnis den Daten des Objekts latent innewohnende Strukturen widerspiegelt. Unseres Erachtens sind Konstrukte nicht theoretisch voraussetzungslos zu verstehen; sie können als theoretisch konstruierte Indikatorensysteme angesehen werden, die auch Meßordnungen enthalten, die geeignet sind, das Indikatum widerzuspiegeln. Immer nutzen sie das bereits gesicherte Begriffsinstrumentarium. Konstrukte sind also theoretisch (und begrifflich) bestimmte und empirisch vermittelte Widerspiegelungsformen wie z. B. empirische Modelle, empirische Hypothesen, empirische Begriffe, die in Indikatorensysteme umgesetzt sind, die also einem Operationalisierungsprozeß unterzogen wurden. Dieser erkenntnistheoretischen Problematik bewußt, werden in neueren psychologischen Publikationen der DDR die Begriffe „Konzept" (Henning) bzw. „Rekonstrukt" (Schmidt) verwendet. Die empirische Interpretation der Begriffe ist zwangsläufig mit einer gewissen

99

Empirische Interpretation

Vereinfachung und Idealisierung der Wirklichkeit verbunden. Dabei darf es sich natürlich nicht um eine verzerrte Widerspiegelung handeln. Davor bewahrt uns die Orientierung am theoretischen Begriffsrahmen; bei der empirischen Interpretation geht es nicht um eine einfache Zerlegung in empirisch wahrnehmbare Bestandteile, sondern um den Entwurf eines Modells des zu untersuchenden Sachverhalts, das in die gesicherte Erkenntnis eingebettet ist. Das schließt auch die Betrachtung des Sachverhalts in seinen sozialen Wechselbeziehungen und die Bestimmung der unterschiedlichen Bedeutsamkeit (Gewichtigkeit) seiner einzelnen Merkmale ein. Werden z. B. solche soziologischen Begriffe wie Produktionsarbeiter, Angestellte, Angehörige der Intelligenz zur Kennzeichnung der Schichtzugehörigkeit der Untersuchungsperson nach einem soziologisch relevanten Kriterium, z. B. ihrer Stellung in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit, zum Zwecke ihrer empirischen Erfassung und Auswertung eindeutig gemacht, so widerspiegeln sie die Wirklichkeit einseitig und nicht in ihrer ganzen Fülle. Die sozialen Gruppen und Personen, die zu ihnen gehören, unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Stellung in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit, sondern auch durch viele weitere Merkmale. Es kommt folglich darauf an, diejenigen Kriterien auszuwählen, die eine entsprechende spezifische Differenzierung hinsichtlich der Charakterisierung des Sachverhalts gestatten und die es erlauben, unter Berücksichtigung des Grades der Vereinfachung die soziologisch relevanten Unterschiede und Zusammenhänge zu analysieren. Die Besonderheit des Begriffs als verallgemeinernde und abstrahierende Widerspiegelungsform der Wirklichkeit schließt die Möglichkeit aus, den Inhalt eines Begriffs vollständig in eine endliche Zahl von Indikatoren zu übersetzen; nicht jedes Element des theoretischen Wissens ist unmittelbar mit den empirischen Merkmalen verbunden. Die empirische Interpretation der theoretischen Begriffe ist deshalb notwendigerweise eine partielle bzw. teilweise unvollständige Interpretation. Sie ist zu ergänzen durch vermittelte Interpretationen, durch logische Verbindungen der Begriffe mit den empirisch interpretierten Termini (vgl. Abb. 9). A 7. Stufe

3

Z.Z.

Z.l

¿ 3

Indikaforen Variable )

Abb. 9

Soziolog. Forschung

Konkretisierung

Dimensionen (Komponenten, liche Indikatoren) 1. Stufe

Empirische Interpretation von Begriffen 8

der

(empirische

begriff-

Indikatoren,

100

Forschungsprogramm

Die empirische Interpretation vollzieht sich etappenweise. In einer ersten „theoretischen Phase" bewegt sie sich auf der Begriffsebene und beinhaltet die Desaggregierung des Ausgangsbegriffs. Sie führt zur Zerlegung in seine Teilbestandteile (Dimensionen, Komponenten etc.) und zur Bestimmung der gegenseitigen Beziehungen und Bindungen zwischen diesen Bestandteilen. Je nach Abstraktionsgrad des Ausgangsbegriffs können in dieser Phase mehrere Stufen erforderlich sein. Die zweite Etappe der empirischen Interpretation umfaßt das Suchen der empirischen Elemente. Von den Ausgangsbegriffen gelangen wir auf diese Weise über die Bestimmung ihrer Bestandteile und deren Relationen untereinander zur Gesamtheit der Indikatoren, die den jeweiligen Sachverhalt auf der empirischen Ebene erfaßbar gestalten (vgl. Abb. 9). In Abhängigkeit vom Grad der Kenntnisse über den Sachverhalt lassen sich zwei Vorgehensweisen bei der empirischen Interpretation bestimmen. Sie sind zweckmäßigerweise zu kombinieren, da sie sich zum Teil gegenseitig bedingen und ergänzen: Zum einen handelt es sich um das taxonomische bzw. klassifikatorische Vorgehen. Das entwickelte Begriffsmodell stellt hier die einzelnen Komponenten und Bestandteile des Sachverhalts als Summe horizontal und vertikal angeordneter Elemente dar. Das andere Verfahren läßt sich als dynamisches bezeichnen. Ausgehend von der Kenntnis der ursächlichen und funktionalen Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen des Sachverhalts und zu äußeren Faktoren, wird ein entsprechendes System modelliert, in dem die Indikatoren als Parameter des Systems auftreten. 36 Zur theoretischen Begriffsanalyse und der damit verbundenen empirischen Interpretation erweist sich ein Vorgehen nach folgenden Stufen zweckmäßig 37 : 1. Einordnung des Begriffs in die soziologische Theorie, 2. historische Analyse des Begriffs, 3. strukturell-dimensionale Analyse des Begriffs, 4. inhaltliche Analyse des Begriffs. Zu 1. Die Begriffsbestimmung im Rahmen der theoretischen Analyse führt zu einer umfassenden und konkreten Einordnung des Begriffs, zur Darstellung von Verbindungen zu grundlegenden Aussagen der soziologischen Theorie. Als Resultat erhält man eine theoretische Bestimmung der Begriffe in Form ihrer Einbindung in das soziologisch-theoretische Gefüge. Es besteht eine enge Beziehung zum Programm der Untersuchung, welches gesicherte Aussagen, Hypothesen und die Entwicklung eines hierarchisch gegliederten Begriffssystems einschließt. Zu 2.: Die historische Analyse der Begriffe entspricht den Prinzipien des dialektischen und historischen Materialismus, stets historisch-konkret an die Analyse der 36 31

Vgl. M. Illner/N. Foret, Sociälni ukazatele. Methodologie, sdroje, vyziti, Praha 1980, S. 62. Vgl. H. Berger, Die theoretische Bestimmung von Indikatoren, in: H. Berger/E. Priller (Hrsg.), Indikatoren in der soziologischen Forschung, a. a. O., S. 100.

Empirische Interpretation

101

sozialen Wirklichkeit heranzugehen. Gesellschaftliche Wandlungen müssen sich in den entsprechenden Begriffen manifestieren. Die Veränderung des Inhalts eines Begriffs durch die Veränderung und Entwicklung der sozialen Sachverhalte selbst sowie durch das tiefere wissenschaftliche Eindringen in diese Sachverhalte und die damit verbundene Anreicherung des Begriffsinhalts sind als zwei wesentliche Seiten der Veränderung des Begriffssystems zu beachten. Besondere Bedeutung hat ebenfalls die Verwendung von Begriffen in der gesellschaftlichen Praxis. Vielfach finden soziologische Begriffe bereits bei der unmittelbaren Leitung und Planung sozialer Prozesse Verwendung bzw. sind in Gesetzen, Verordnungen und betrieblichen, territorialen u. a. Regelungen enthalten (z. B. Arbeitsbedingungen, Fluktuation, Qualifikation etc.). In der soziologischen Forschung haben wir diese fest geregelten Begriffsinhalte zur Kenntnis zu nehmen und auf ihre Verwendbarkeit für unsere Zielstellungen zu prüfen. Ihre Nutzung erweist sich häufig für die soziologische Forschung als sehr effektiv, da meistens verwendbare empirische Instrumentarien und Daten vorhanden sind. Die Verwendung solcher Begriffe in der wissenschaftlichen Grundlagenforschung kann allerdings unter dem Aspekt des historisch-konkreten Herangehens über die in bisheriger Leitungs- und Planungspraxis benutzte Begriffsverwendung hinausführen. Zu 3.: Die strukturell-dimensionale Analyse der Begriffe richtet sich auf die Bestimmung ihrer inneren strukturellen Bestandteile. Zugleich hat die Ermittlung von Relationen und Wechselbeziehungen zwischen diesen einzelnen Bestandteilen zu erfolgen. Man bezeichnet diese allgemein als Dimensionen bzw. Merkmalsdimensionen. Mitunter findet zur Kennzeichnung der Dimensionen eines Begriffs auch der Terminus „begriffliche Indikatoren" Verwendung. 38 Dabei handelt es sich noch nicht unmittelbar um empirisch erfaßbare Merkmale, sondern um ihre nach inhaltlich-theoretischen Gesichtspunkten vorgenommene Bündelung. Durch die strukturell-dimensionale Analyse wird die innere Determiniertheit der Begriffe analysiert und damit ein Schritt von höheren zu niederen Abstraktionen getan, der Übergang zur empirischen Ebene vorbereitet. Zu 4.: Die inhaltliche Analyse des Begriffs führt zur Bestimmung der einzelnen Faktoren, Elemente bzw. Merkmale, die der empirischen Erfassung zugänglich sind und diese auch nach entsprechenden inhaltlich-theoretischen Gesichtspunkten repräsentieren. Diese Phase ist wohl die wichtigste und schwierigste bei der empirischen Interpretation der Begriffe, weil sie uns unmittelbar zu den Indikatoren führt, mit denen wir den Prozeß der soziologischen Datengewinnung zu realisieren haben oder die den Rahmen für die Verwertung bereits vorhandener Daten absteckt. Dabei gilt es, den unmittelbaren Bezug zur Vielfalt der sozialen Erschei-

38

Vgl. S. Michailov, Empiriceskoe soziologiceskoe issledovanie, Moskva 1975, S. 122.

102

Forschungsprogramm

nungen des Untersuchungsobjektes, zu seinen Determinationsebenen und Wirkungsbedingungen herzustellen. Die zur empirischen Analyse eines Sachverhalts vorgesehenen Merkmale finden häufig in operationalen Definitionen ihren Niederschlag. Sie geben an, durch welche Forschungsoperationen ein Sachverhalt geprüft werden soll. Dabei gilt es zu beachten, daß sie im Sinne der formalen Logik keine vollwertigen Definitionen sind und lediglich eine Festlegung der zu verwendenden empirischen Merkmale enthalten. Die theoretische Begründung der Indikatoren, wie sie die empirische Interpretation gibt, läßt sich dabei nicht erkennen.

2.6.3. Indikatoren39 Unter Indikatoren in der soziologischen Forschung sind theoretisch begründete und empirisch geprüfte bzw. zu prüfende Merkmale sozialer Erscheinungen, Strukturen und Prozesse zu verstehen, die für die empirische Analyse wesentliche Seiten soziologischer Forschungsobjekte repräsentieren. Die Verwendung des Begriffs „Indikator" folgt damit einer in der Wissenschaft allgemein vertretenen Auffassung, daß Indikatoren Anzeiger von Eigenschaften des Forschungsobjekts sind. Den indizierten Sachverhalt, der durch Indikatoren empirisch erfaßt wird, bezeichnet man unter wissenschaftslogischen Gesichtspunkten als Indikatum. Die Indikatoren sind ihm eindeutig oder probabilistisch zugeordnet. Die Beziehung zwischen Indikatum und Indikatoren läßt sich folglich statistisch ausweisen. Indikatoren widerspiegeln Merkmalsdimensionen, Merkmalsbeziehungen, Merkmalsstrukturen und Wirkungsbedingungen soziologischer Objekte mit einem bestimmten Grad statistischer Wahrscheinlichkeit. Er ist um so höher, je besser diese Indikatoren theoretisch begründet sind, je genauer sie empirisch geprüft wurden und je ausgereifter das methodische Instrumentarium bei ihrer Anwendung ist. In diesem Zusammenhang ist auf den Terminus soziale Indikatoren bzw. „Sozialindikatoren" hinzuweisen. Hierbei handelt es sich nicht allein um Elemente des soziologischen Forschungsprozesses, sondern allgemein um eine spezifische Form der sozialen Information, die als Instrument zur Analyse sozialer Erscheinungen und Prozesse dient. Im Unterschied zum bisher dargestellten Begriff des Indikators zielen sie auf die Widerspiegelung komplexer sozialer Sachverhalte bzw. Prozesse durch eine begrenzte Anzahl von Daten in Form von Meßwerten, Kennziffern und Indizes. Sozialindikatoren können ihre Funktion zur Widerspiegelung komplexer sozialer Sachverhalte (z. B. der sozialistischen Lebensweise) zumeist nur in einem System erfüllen.

39

Vgl. H. Berger, Die theoretische Bestimmung von Indikatoren, a. a. O.

Indikatoren

103

Von einem System sozialer Indikatoren wird dann gesprochen, wenn die Gesellschaft bzw. Sphären und Bereiche der Gesellschaft in ihrer Vielfalt, Mannigfaltigkeit, Strukturiertheit und Dynamik, Funktionsweise und Entwicklung widergespiegelt werden. Sozialindikatoren sind sowohl zur Widerspiegelung objektiver Lebensbedingungen, Tätigkeiten und Beziehungen („objektive Sozialindikatoren") wie auch zur Widerspiegelung von Bewußtseinsinhalten in Form von Meinungen, Motiven, Einstellungen etc. („subjektive Sozialindikatoren") geeignet. Sie fungieren vor allem bei der Leitung und Planung sozialer Prozesse in Form „aggregierter" Informationen bzw. Kennziffern, die sich aus umfangreicheren analytischen Informationen bzw. Kennziffern ableiten. Leitungs- und Planungsmechanismen determinieren durch ihre Zielstellungen (z. B. Inhalt, Aufgaben und Maßnahmen der Sozialpolitik) Umfang und Charakter solcher Indikatorensysteme wesentlich. Der Einsatz von Indikatoren erfolgt in der Soziologie aus folgenden Gründen : 1. Eine Reihe von Merkmalen, die in soziologischen Untersuchungen von Interesse sind, verschließen sich direkter empirischer Erfassung. Bewußtseinsinhalte und Persönlichkeitseigenschaften, wie z. B. Einstellungen, Motive, Werte, Kenntnisse, Fähigkeiten und andere psychische Eigenschaften, lassen sich nur indirekt empirisch erfassen. Das wird zum einen realisiert, indem Verhaltensakte als beobachtbare situationsgebundene Elemente des Verhaltens für den Einsatz als Indikatoren gewählt werden. So läßt sich der Grad der Arbeitsinitiative als ein Indikator für das Interesse des Arbeiters an der gesellschaftlichen Produktion verwenden. Zum anderen wird vor allem verbales Verhalten in Form von mündlichen oder schriftlichen Äußerungen im Rahmen von Befragungen als Indikator für Verhaltensdispositionen genutzt (vgl. Abschnitt 3.3.5.). 2. Die soziologische Forschung beschäftigt sich in großem Maße mit der Untersuchung komplexer Sachverhalte. Diese sind der unmittelbaren Beobachtung in ihrer Gesamtheit nicht zugänglich, da die sie besetzenden Begriffe Abstraktionen der theoretischen Wissensebene sind. Solche soziologischen Sachverhalte liegen vor, wenn es z. B. um die Untersuchung der Lebensweise der Gesellschaft oder des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens geht. Um sie einer empirischen Analyse zu unterziehen, muß man zu den „einfachsten Bestimmungen" der mit diesen Begriffen reflektierten sozialen Wirklichkeit vordringen. Dabei wird von manchen Merkmalen abgesehen, und andere werden als wesentlich hervorgehoben. Bei der Indikatorengewinnung ist deshalb zu beachten, daß sie zwar die „einfachsten Bestimmungen" komplexer soziologischer Forschungsobjekte sind, sie diese aber stets nur unvollständig reflektieren können. Als „Repräsentanten" soziologischer Forschungsobjekte verkörpern sie jeweils nur einzelne Punkte, die theoretisch begründet verknüpft werden müssen, um zur Darstellung des Wesens des Forschungsobjekts vorzudringen.

104

Forschungsprogramm

3. Schließlich führen methodisch-instrumentelle Aspekte, vor allem die Spezifik der in der Soziologie zur Anwendung kommenden Erhebungsmethodik, zum Einsatz von Indikatoren. Folgende Momente sind besonders hervorzuheben: Erstens können empirisch zu erhebende Merkmale, z. B. bei einer Befragung, eine Überforderung des Befragten verursachen und zu Antwortverweigerung oder zu falschen und ungenauen Aussagen führen. Überforderungen können beispielsweise vorliegen, wenn bei einer Befragung gewisse Kenntnisse und Erfahrungen (z. B. technischer oder technologischer Art) vorausgesetzt werden, die nicht oder in unterschiedlichem Maße vorhanden sind. So läßt sich oft der Grad der technischen Bindung an den Arbeitsplatz durch einen Werktätigen schwer einschätzen. Statt dessen ist die Verwendung von Indikatoren angebracht, die eine Beurteilung der Möglichkeiten zur selbständigen Pausengestaltung, zur Entfernung vom Arbeitsplatz, zur Unterhaltung während der Tätigkeit etc. beinhalten. Zweitens geben bei der Untersuchung bestimmter Persönlichkeitsbereiche Befragte nur ungern Auskunft, oder sie verhalten sich bei der Beobachtung nicht natürlich. Das geschieht aus unterschiedlichen Gründen, z. B., um weltanschauliche oder aktuelle politisch-ideologische Einstellungen nicht offenbaren zu müssen oder u n ihren Intimbereich zu wahren. Drittens kann der Einsatz von Indikatoren aus Gründen methodischer Effektivität und Rationalität erforderlich sein. An Stelle schwer oder nur mit großem Aufwand empirisch zu erfassender Merkmale treten einfachere, mit geringem Aufwand zu erfassende Merkmale. So kann der Ausstattungsgrad eines Haushalts mit langlebigen Konsumgütern durch den Besitz oder Nichtbesitz eines Farbfernsehgerätes und einiger anderer teurer Gegenstände charakterisiert werden, die mit hinreichender statistischer Sicherheit Rückschlüsse auf den gesamten Ausstattungsgrad des Haushalts zulassen. Der Einsatz von Indikatoren in der soziologischen Forschung setzt stets die Betrachtung von drei Elementen voraus: 1. Indikatum (indizierter Sachverhalt), 2. Indikator (indizierendes Merkmal) und 3. Indikationsbeziehung zwischen Indikator und Indikatum. Von entscheidender Bedeutung für die sinnvolle Verwendung der Indikatoren ist die exakte Kenntnis der Beziehung zwischen Indikator und Indikatum. N u r die Exi-

stenz dieser Beziehung und unsere Kenntnis darüber gestattet es, vom Vorhandensein des als Indikator auftretenden Merkmals auf das Indikatum zu schließen. Klarheit über die Indikator-Indikatumbeziehung ist nicht nur Voraussetzung für den Einsatz eines Merkmals als Indikator, sondern auch für die Möglichkeit seiner Interpretation. Damit wird deutlich, daß ein bestimmtes Merkmal nicht schlechthin ein Indikator an und für sich ist, sondern stets in Relation zu anderen Eigenschaften gesehen werden muß.

Indikatoren

105

Ein wesentlicher Schritt zur Bestimmung der Beziehung zwischen Indikator und Indikatum besteht in der Aufdeckung der logischen Struktur des Zusammenhangs. Allgemein geht man davon aus, daß die Beziehung zwischen Indikator und Indikatum die Form von Aussagen hat, wobei diese Aussagen selbstverständlich auf Daten basieren können. Entsprechend der Klassifizierung von Aussagen in der Logik nach Sachaussagen und definitorischen Aussagen unterscheidet man bei den Indikatoren: 1. Sachindikatoren und 2. definitorische Indikatoren.40 Wir folgen nun der Abbildung 10 (vgl. Abb. 10). Zu 1.: Sachindikatoren basieren auf empirisch nachweisbaren Relationen zum Indikatum. Diese wurden bereits vor dem Einsatz der Indikatoren bestimmt und können deshalb für die weitere Forschung zugrunde gelegt werden. Diese Art der Indikatoren werden deshalb auch Beobachtungs- oder korrelative Indikatoren (vgl. Abschnitt 1.1.) genannt. Indikata von Sachindikatoren sind einerseits Merkmale, die einer direkten Beobachtung zugänglich sind und für die sich aus den bereits erwähnten instrumenteilen Überlegungen der Einsatz von Indikatoren als zweckmäßig erweist. Andererseits handelt es sich um Indikata, die direkter Beobachtung nicht zugänglich sind und die als Bewußtseinsinhalte und Persönlichkeitsmerkmale charakterisiert werden. Man bezeichnet sie als Inferenz- oder schlußfolgernde Indikatoren (vgl. Abschnitt 1.2.). Bei Beobachtungsindikatoren ist die Relation zwischen Indikator und Indikatum unmittelbar empirisch zu bestimmen, da beide Merkmale direkter Beobachtung zugänglich sind. Dennoch haben dementsprechende theoretische Überlegungen und Ableitungen vorauszugehen, um nicht in unwesentliche und zufallige Zusammenhänge abzugleiten. Sachindikatoren lassen sich in Abhängigkeit davon, ob sie Merkmale verkörpern, die unmittelbarer Bestandteil des Indikatums sind, in interne (vgl. Abschnitt 1.1.) und in externe korrelative Indikatoren (vgl. Abschnitt 1.1.) unterteilen. Bei letzteren sind die indizierenden Merkmale nicht Bestandteil des Indikatums, sondern treten als dessen Resultat (Wirkung), seine Bedingung (Ursache) oder in einem rein statistisch gesicherten Zusammenhang auf, der noch erst der weiteren theoretischen Analyse bedarf. Inferenz- oder schlußfolgernde Indikatoren (vgl. Abschnitt 1.2.) liegen vor, wenn das Indikatum nur durch indirekte Beobachtung zu erschließen ist, wie es bei Be40

Vgl. T. Pawlowski, Methodologische Probleme in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Warszawa 1975, S. 90; S. Novak, Methodology of Sociological Research, Warszawa 1977, S. 132/ 133.

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Skalierungsverfahren, mehrdimensionale

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Der Überblick macht deutlich, daß alle Verfahren der EDS (direkte und indirekte) auch mehrdimensional für Ähnlichkeitsdatenerfassung verallgemeinert werden können. Während bei den direkten Verfahren noch quantitative Urteile von den Untersuchungspersonen bzw. Experten über die Ähnlichkeit von Objekten (z. B. Indikatoren) verlangt werden, fordern die indirekten Verfahren lediglich Vergleichsurteile, die im allgemeinen zuverlässiger sind. Damit ergibt sich, daß sich MDS auch anwenden läßt, wenn nur Urteile auf ordinalem Niveau als Ausgangsdaten vorliegen. Die resultierenden Informationen sind dennoch metrisch. Die Verfahren der nichtmetrischen MDS wurden vor allem von Shepard94 und Kruskal95 entwickelt. Die einschränkende Linearitätsforderung der Distanzfunktion wurde von Shepard fallengelassen und durch die viel weniger restriktive Monotoniebedingung ersetzt. Darüber hinaus wurde eine simultane Anpassungsprozedur hinsichtlich des Distanz- und Raummodells entwickelt. Holtmann96 macht ferner darauf aufmerksam, daß nichtmetrische Verfahren bei fehlerbehafteten Daten robuster sein können als metrische Verfahren, daß sie allerdings auch stereotype Darstellungen liefern und weniger anpassungsfähig sind. Die Verfahren der nichtmetrischen MDS eröffnen zweifellos größere Möglichkeiten, da sie auf eine Vielfalt von Ausgangsdaten anwendbar sind, z. B. Häufigkeiten, Wahrscheinlichkeiten, zusammengesetzte Indizes, Korrelationskoeffizienten, Assoziationsmaße etc. Eine Weiterentwicklung ist auch die nonmetrische MDS individueller Differenzen. 97 Ahrens98 weist besonders auf diese Entwicklung hin und arbeitet die Bedeutung dieser Methoden für die Entwicklung von Theorien über das Urteilsverhalten der Untersuchungspersonen heraus, d. h., die Skalen aus der MDS beschreiben nicht nur die Struktur der Reize, sondern sind auch Konstrukte der Urteilsbildung. 99 Heute gibt es moderne Programmpakete, die Verfahren der MDS enthalten. Um aber den Anwendungsbereich der MDS-Verfahren über die Datenreduktion hinaus sinnvoll erweitern zu können, müssen noch eine Reihe meßtheoretischer Probleme gelöst (vgl. Abschnitt 2.7.) und die modellbildende Funktion der MDS für soziologische Problemstellungen präzisiert werden. 100 94

95

96

97 98 99 100

Vgl. R. N. Shepard, The analysis of proximities. Multidimensional scaling with an unknown distance function, in : Psychometrika, 17/1962. Vgl. J. B. Kruskal, Nonmetric multidimensional scaling. A numerical method., in: Psychometrika, 29/1964. Vgl. D. Holtmann, MDS-Methode und ihre Anwendung in den Sozialwissenschaften, Dissertationsschrift, o. O. 1974, S. 15. Vgl. C. H. Coombs, A theory of data, New York 1964. Vgl. H. J. Ahrens, Multidimensionale Skalierung, Weinheim—Basel 1974. Vgl. W. Kühn, Einführung in die multidimensionale Skalierung, München—Basel 1976. Vgl. K. Steffens, Multidimensionale Skalierung, a. a. O., S. 557; vgl. H. Sydow/P. Petzold, Mathematische Psychologie, a. a. O., S. 125—141.

15^

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2.9. Gütekriterien in soziologischen Untersuchungen Die wissenschaftliche Qualifikation einer Methode oder eines Verfahrens stellt ein vielschichtiges Problem dar. Folgende Beziehungen muß der empirisch forschende Soziologe zumindest beachten: — die Angemessenheit der Methode für die theoretischen Ziele, — die Adäquatheit der Methode hinsichtlich des Forschungsgegenstandes, — die Realisierung der zu einer Methode gehörenden Regeln, die deren Struktur, Möglichkeiten und Grenzen festlegen und — die Prüfung der Voraussetzungen und der Bedingungen, die bei der Durchführung von mathematisch-statistischen Tests eingehalten werden müssen. Gegenwärtig wird mitunter die Meinung vertreten, daß mit Hilfe einer einmaligen Probeerhebung und deren Auswertung auf dem Niveau der einfachen Häufigkeitsanalyse ausreichende Informationen über die Güte der Erhebungsinstrumente gewonnen werden können. Das ist nicht zutreffend. Auch die Nutzung bereits (mehrfach) eingesetzter Fragen gewährleistet allein noch nicht die Güte der Methodik. -iIn Publikationen, die sich dieser Problematik widmen, kann zweierlei unterschieden werden. Einmal erfolgt die Übernahme testtheoretischer Erkenntnisse, insbesondere der Psychologie, in die Soziologie. Die aus der psychologischen Testdiagnostik bekannten Gütekriterien werden übernommen. Zum anderen versuchen Autoren jedoch noch in recht wenigen Arbeiten, eine soziologische Denkweise in die Problematik der Güteprüfung einzubringen. Gerade letzteres erscheint notwendig, um solche Fragen stärker ins „Alltagsbewußtsein" der Soziologen zu rücken. Mit der Entwicklung psychologischer Tests bildet sich die sogenannte klassische Testtheorie. Sie stellt als Hauptkriterien die Objektivität, Zuverlässigkeit (Reliabilität) und Gültigkeit (Validität) heraus. Die Spezifik aller Gütekriterien folgt letztlich aus der Spezifik der Verfahren, auf die sie gerichtet sind, und deren Spezifik wiederum gründet sich auf die Besonderheiten der von ihnen zu erforschenden Objekte. Die Frage nach der Spezifik einer soziologischen Güteprüfung resultiert somit ebenfalls aus der soziologischen Methodik und diese wiederum aus den soziologischen Untersuchungsobjekten bzw. aus dem Gegenstand der Soziologie (vgl. Abschnitte 1.2. und 1.3.). Entsprechende Diskussionen belegen die Notwendigkeit der Ausrichtung der soziologischen Methodik auf die Dialektik von sozialem Verhalten und gesellschaftlichen Verhältnissen bzw. auf die Vermittlungsmechanismen zwischen sozialem Verhalten und gesellschaftlichen Verhältnissen. Damit muß die Gütebestimmung in der Soziologie folgenden spezifischen Momenten gerecht werden. Soziologische Untersuchungen

Gütekriterien

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— erfordern Untersuchungsobjekte mit größerer Komplexität, — erfassen zumeist eine größere Anzahl von Untersuchungsobjekten und — befassen sich mit umfassenderen und zusammenhängenden Sachverhalten. Ähnlichkeiten bei soziologischen und anderen sozialwissenschaftlichen Untersuchungsobjekten bedingen auch Ähnlichkeiten in der Erhebungsmethodik und damit in der Güteprüfung in Soziologie und anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Hierzu zählen insbesondere: — das gemeinsame Interesse an Bewußtseinsinhalten als den geistigen Regulativen des Verhaltens der Menschen, — es werden überwiegend solche Objekte untersucht, die selbst nicht direkt beobachtbar bzw. nicht unmittelbar empirisch erfaßbar sind und — die Inanspruchnahme von Personen als Träger bzw. Repräsentanten der Untersuchungsobjekte. Die durch die Gütebestimmung ausgedrückte Qualität einer bestimmten Erhebungsmethode widerspiegelt vielfaltige Relationen. So verwundert es nicht, wenn bei einer Durchsicht der Literatur eine Fülle von zumeist recht speziellen Güteaspekten gefunden wird. Als Beispiele können genannt werden: Gültigkeit, Zuverlässigkeit, Objektivität, Repräsentanz, Trennschärfe, Stabilität, Schwierigkeitsgrad, Interkorrelation, Meßgenauigkeit, Richtigkeit, Echtheit, Stetigkeit, Treffsicherheit und sprachliche Verständlichkeit. Die einzelnen Güteaspekte differenzieren sich zum Teil in mehrere weitere, z. B. wird unterschieden zwischen pragmatischer, inhaltlicher, logischer, empirischer, diagnostischer, relevanter, formaler und faktorieller Gültigkeit. Wir konzentrieren uns vor allem auf die oben angeführten drei Hauptgütekriterien. Bei Saganenko, Osipov und Andreev finden sich Versuche, die Güteproblematik unter spezifisch soziologischem Aspekt zu betrachten. So beschreibt Saganenko die Zuverlässigkeit als Sicherheit darüber, daß mit authentischen und nicht mit illusorischen Fakten gearbeitet wird, daß diese Fakten nach bestimmten Regeln festgestellt und gruppiert werden. Sie sind nicht zufallig und unsystematisch gesammelt worden, ihr System besitzt eine klare Logik. Die Autorin nennt schließlich drei Aspekte, unter denen Zuverlässigkeit betrachtet werden kann: den inhaltlichen, den formalen und den prozeßhaften Aspekt. 101 Osipov und Andreev schreiben, daß die Gültigkeit soziologischer Skalen vom Verhältnis von Empirischem und Theoretischem in der sozialen Forschung abhängt, davon, inwiefern die empirischen Schlußfolgerungen rechtmäßig sind und auf welches theoretische Konzept sie sich stützen. 102 Im folgenden werden wir Gütekriterien für soziologische Erhebungsverfahren behandeln.

101

Vgl. G. I. Saganenko, Sociologiceskaja informacija, Leningrad 1979, S. 5/6.

102

Vgl. G. V. Osipov/E. P. Andreev, Metody izmerenija v sociologii, a. a. O., S. 118.

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Der Wert empirischer soziologischer Untersuchungsergebnisse für den theoretischen Erkenntnisgewinn und damit für die wissenschaftliche Fundierung der Lösung praktischer Aufgaben in unserer Gesellschaft hängt, wie schon hervorgehoben, von der Qualifikation, von der Güte der eingesetzten Verfahren ab. Um einen konkreten Bezugspunkt für die Darlegungen zu gewinnen, beziehen wir uns im folgenden auf Verfahren, die im Zusammenhang mit soziologischen Untersuchungen zur Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten stehen. 103 Damit wird der generelle Geltungsbereich der Gütekriterien keineswegs auf solche Verfahren begrenzt. Der Begriff „Verfahren" schließt hier sowohl Einzelindikatoren als auch Indikatorenbatterien und -skalen ein. Ihre methodische Qualifikation läßt sich mit Hilfe der Gütekriterien bestimmen. Dieser Abschnitt kann lediglich einen Überblick über die wichtigsten Gütekriterien geben. Um die methodische Qualifikation eines Verfahrens einschätzen zu können, sind gesonderte methodenkritische Voruntersuchungen notwendig. Sie zielen vor allem darauf ab, folgende Fragen zu klären: — Sind die Ergebnisse, die das Verfahren liefert, von der Person des Untersuchungsleiters unabhängig? — Analysiert das Verfahren exakt und zuverlässig, ist es instrumenteil funktionstüchtig? — Analysiert das Verfahren genau das, was es analysieren soll, ist es inhaltlich funk tio ns tüch tig ? Die Fragen verweisen auf die drei methodischen Hauptgütekriterien und zwar auf die Objektivität („Unabhängigkeit der Ergebnisse von der Person des Untersu103

Vgl. W. Hennig, Gütekriterien als Präzisionsbedingungen sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, a. a. O., S. 253—276; G. A. Lienert, Testaufbau und Testanalyse, 2. Aufl., Weinheim-Berlin(West) 1967; L. Sprung/H. Sprung, Grundlagen der Methodologie und Methodik der Psychologie, Berlin 1984, S. 164—209, 317/318; K. Heidenreich, Grundbegriffe der Meß- und Testtheorie, in: E. Roth (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Methoden, a. a. O., S. 3 6 4 - 3 6 8 .

104

Zur Bezeichnung des Gütekriteriums liegen verschiedene Vorschläge vor: Vgl. G. A. Lienert, Testaufbau und Testanalyse, a. a. O., verwendete in bezug auf die psychologische Testtheorie den Terminus „Objektivität". Dieser Terminus kann auch erkenntnistheoretisch und nicht — wie angezielt — methoden-theoretisch verstanden werden. Um Mißverständnissen vorzubeugen, werden von verschiedenen Seiten andere Bezeichnungen vorgeschlagen. In jüngster Zeit wählten L. Sprung/H. Sprung, Grundlagen der Methodologie und Methodik der Psychologie, a. a. O., S. 174 die Bezeichnung „Konkordanz". Diese u. a. terminologischen Festlegungen betonen unseres Erachtens zu sehr operationales Vorgehen zur Prüfung des Gütekriteriums. Die von uns genutzte Bezeichnung „Unabhängig von der Person des Untersuchungsleiters" ist sprachlich umständlich, informiert aber klarer über den Charakter des Kriteriums.

Gütekriterien

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chungsleiters") 104 , auf die Zuverlässigkeit (oder Reliabilität) und auf die Gültigkeit (oder Validität). 105 Vorab ist zu betonen: Diese Kriterien gelten für alle Verfahren; entsprechende Kennwerte lassen sich für freie und standardisierte Befragungen, für unstrukturierte Interviews und standardisierte Befragungen, für Aufsatzanalysen und Einstellungsskalen erarbeiten. Gütekriterien beziehen sich keineswegs nur auf bestimmte Verfahrensgruppen wie etwa Einstellungsskalen. Des weiteren ist zu beachten, daß die Überprüfung der Gütekriterien für jeweils eingesetzte Verfahren keine Ermessensfrage ist. Je nachdem, inwieweit ein Verfahren den Kriterien genügt, ergibt sich unter methodischem Aspekt ein unterschiedlicher Grad an Sicherheit für die Interpretation der Befunde. Der jeweilige Sicherheitsgrad bestimmt die resultierenden Aussagen mit, er muß also bekannt sein. Kriterienprüfung ist demnach sachnotwendig. Nicht selten sind kriterienprüfende methodische Voruntersuchungen arbeitsaufwendig. Dieser Umstand berechtigt jedoch nicht dazu, eine wichtige Etappe im Forschungsprozeß zu überspringen und entsprechende methodenkritische Analysen auszulassen; das gilt generell. Unter bestimmten Bedingungen ist freilich eine Relativierung der Forderung nach kriterienprüfenden Bemühungen anzuerkennen. Das trifft beispielsweise zu für die Vorbereitungsphase eines Forschungsprozesses, in der die wissenschaftlichen Probleme klar bestimmt und Hypothesen exakt ausgearbeitet werden sollen. Dazu können freie Beobachtungen, Tiefeninterviews u. a. Verfahren, auch wenn ihre Güte ungeprüft bleibt, wertvoll sein. Wenden wir uns den einzelnen Gütekriterien zu. Dabei beziehen wir uns auf verschiedene Verfahrensgruppen, um für sie typische Güte-Kennwerte darzustellen. Das kann freilich nicht für jede einzelne Verfahrensgruppe erfolgen. Wir unterscheiden global nichtstandardisierte und standardisierte Verfahren. Bei letzteren ist die Instruktion wörtlich fixiert, es werden nur geschlossene Indikatoren in bestimmter Abfolge genutzt, diagnostisch relevante Merkmale der Untersuchungssituation sind konstant zu halten, die Auswertung erfolgt im Sinne einer festliegenden eindeutigen Technik und die Interpretation ist ebenfalls eindeutig, insofern die Befunde in vorgegebene, klar differenzierende Interpretationsklassen eingeordnet werden können. In diese Gruppe sind vollstrukturierte Fragebögen mit ausschließlich geschlossenen Fragen, Einstellungsskalen, Interessen- und Motivtests einzuordnen. Bei nicht- oder nur teilweise standardisierten Verfahren fehlen die angeführten Merkmale insgesamt oder zum Teil. Beispiele für entsprechende Verfahren sind freie Beobachtungen, unstrukturierte Interviews, offene Fragen. 105

Zur Literatur: vgl. G. A. Lienert, Testaufbau und Testanalyse, a. a. O. (besonders Kapitel 10); G. Clauß, Zur Standardisierung psychodiagnostischer Verfahren, in: Probleme und Ergebnisse der Psychologie, 9/1964; W. Hennig, Gütekriterien als Präzisionsbedingungen sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden, a . a . O . ; L. Sprung/H. Sprung, Grundlagen der Methodologie und Methodik der Psychologie, a. a. O. (besonders Kapitel 4, 1.7.).

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1. Kriterium: Unabhängigkeit der Ergebnisse von der Person des Untersuchungsleiters (Objektivität) Beim Einsatz eines Verfahrens werden empirische Daten gesammelt, ausgewertet und interpretiert. Dabei sollen die notwendigen Aktivitäten des Untersuchungsleiters in seinen Funktionen als Untersuchungsdurchführender, Auswerter und Interpret der Ergebnisse zu realen Befunden beitragen. Das schließt ein, daß die Ergebnisse von der Person des jeweiligen Untersuchungsleiters unabhängig sind. Inwieweit dieses Kriterium zutrifft, kann durch entsprechende Kennwerte ausgewiesen werden. Solche Kennwerte beinhalten zumeist den Grad der Übereinstimmung der Ergebnisse von zwei oder mehreren Untersuchungsleitern, die dieselben Personen (Stichprobe) beobachteten oder befragten (interpersonale Übereinstimmung). Überschaut man die verschiedenen Verfahrensgruppen, so sind hohe Übereinstimmungsgrade keineswegs durchgängig festzustellen. Verschiedene Fehlerquellen, oft recht subtile, können sich auswirken. Hinsichtlich der Durchführungs-Übereinstimmung zeigen methodenkritische Untersuchungen, daß Alter, Geschlecht, Beruf u. a. Personenmerkmale des Untersuchungsleiters in unerwünschter Weise die Ergebnisse, z. B. einer Befragung mit offenen Fragen, beeinflussen können. Die Befragten leiten aus solchen Merkmalen ab, was von ihnen vermutlich als angemessene Antwort erwartet wird. Oder, nur geringfügige Änderungen der Instruktion, selbst eine nur unterschiedliche Betonung einzelner Teile der mündlich gegebenen Instruktion kann zur Störgröße werden. In pauschaler Einschätzung zeichnet sich ab, daß standardisierte Verfahren die Durchführungs-Übereinstimmung besser als nicht- oder teilstandardisierte Verfahren erfüllen. Ein unstrukturiertes Interview mit nachfolgender Protokollierung kann im beachtlichen Maße von der Person des Interviewers abhängig sein; eine Einstellungsskala erweist sich in der Regel als vollkommen unabhängig. Die Standardisierung des Verfahrens und der Untersuchungssituation, die strenge Reglementierung des Verhaltens des Untersuchungsleiters, aber auch Beobachter- und Interviewer-Schulungen stellen effektive Maßnahmen dar, um das Kriterium der Unabhängigkeit unter dem Aspekt der Durchführung in einem höheren, teilweise vollkommenen Grade zu realisieren. Analoges gilt für die Auswertungs- und Interpretations-Übereinstimmung. Sie sind bei nichtstandardisierten Verfahren deutlich eingeschränkt. Wenn beispielsweise als Daten die Antworten einer größeren Personengruppe auf die offene Frage nach den liebsten Freizeitbeschäftigungen vorliegen, so können verschiedene Auswerter unterschiedliche Betätigungsgruppen bilden, die zwangsläufig auch unterschiedliche Häufigkeiten aufweisen. Interpretierende Folgerungen etwa nach der Beliebtheit einer bestimmten Betätigung können bei verschiedenen Interpreten variieren. Anders liegen die Dinge bei standardisierten Verfahren wie beispiels-

Gütekriterien

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weise geschlossenen Einstellungsfragen. Die festliegende Auswertungstechnik sichert, daß auch verschiedene Auswerter zu gleichen Daten und Punktbewertungen kommen. Diese gewährleisten in bezug auf eine Punkteskala eindeutige Aussagen zur Ausprägung der Einstellung durch verschiedene Interpreten. 2. Kriterium: Zuverlässigkeit Die Zuverlässigkeit eines Verfahrens gibt an, wie genau es analysiert, wie funktionstüchtig es in formal-technischer Hinsicht ist. Die Frage, ob das Verfahren auch das Indikatum analysiert, was beabsichtigt ist, bleibt noch ausgeklammert, sie wird bei der Gültigkeitsprüfung gesondert untersucht. Ein absolut zuverlässiges Verfahren läßt sich auch bei sorgfaltiger Konstruktion nicht erarbeiten. In den empirischen Daten, die mit einem Verfahren gewonnen werden (Antworten auf Fragen, Stellungnahmen zu vorgegebenen Aussagen, Lösung von Denkaufgaben, beobachtetes Verhalten) spiegelt sich nicht nur das Indikatum wider, sondern immer auch ein unerwünschter Fehleranteil. Dieser geht auf Störfaktoren zurück: — zufallige Bedingungen der Untersuchungssituation, die wirken können oder nicht (aktuelle körperliche oder stimmungsmäßige Verfassung der Untersuchten, bevorstehende Ereignisse, erlebte Erfolge oder Mißerfolge im Beruf, die Einstellung zur Untersuchung; Lärm u. a . ) ; — Mängel des Verfahrens (mehrdeutige Fragen, unklare Antwortmöglichkeiten, ungünstige Abfolge von Fragen, lückenhafte Instruktionen u. a.). Die Verfahrensentwicklung ist nun auch darauf gerichtet, den Fehleranteil so gering wie möglich zu halten. Inwieweit dies geglückt ist, läßt sich durch entsprechende methodenkritische Prüfungen empirisch kontrollieren. Dabei ist zu beachten, daß es die Zuverlässigkeit schlechthin nicht gibt. Die instrumentelle Exaktheit eines Verfahrens kann unter verschiedenen Aspekten gesehen werden und je nach Indikatum und Zielstellung einer Untersuchung erweist sich ein Aspekt wichtiger als andere und ist bevorzugt abzusichern. Für soziologische Verfahren sind in vielen Fällen zwei Aspekte relevant: die Meßstabilität und die Meßgenauigkeit. Meßstabilität ist zu prüfen, wenn es sich um zeitlich konstante Indikata handelt wie sie beispielsweise verfestigte Persönlichkeitsmerkmale darstellen. Diesem Aspekt der Zuverlässigkeit liegt folgende schlichte Überlegung zugrunde. Wird das zu überprüfende Verfahren in derselben Personengruppe nach einer angemessenen Intervallzeit wiederholt eingesetzt, dann sind im positiven Falle für den Erst- und Zweitversuch weitgehend übereinstimmende Ergebnisse zu erwarten. Ergeben sich sehr unterschiedliche Werte, dann bleibt es unklar, welches der beiden Ergebnisse das richtige ist. Offensichtlich stellt also das Verfahren noch kein ausreichend exakt analysierendes Instrument dar, es ist ungenügend meßstabil und muß verbessert werden. Meßstabilität und die mit ihr verbundene Technik des Wiederholungsversuches (Retest) prüft allerdings die beiden angeführten Gruppen von Störfaktoren pauschal, ohne sie differenzieren zu können. Hohe Übereinstimmung (hohe Retest-

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Forschungsprogramm

werte) zeigen also zugleich an, daß im Verfahren keine bedeutsamen Fehlerquellen liegen und sich auch zufallige Untersuchungsbedingungen nicht ungünstig auswirken. Bei ungenügenden Retestwerten bleibt dagegen offen, ob nur eine oder beide Fehlergruppen ergebnisverzerrend wirken. Die notwendige Überarbeitung des Verfahrens muß also beide Gruppen berücksichtigen. Ein noch offenes Problem ist die Festlegung der Intervallzeit zwischen Erstund Wiederholungsuntersuchung. Verbindliche Regeln liegen dafür nicht vor. Es gilt, einen Ausgleich zwischen zwei sich widersprechenden Forderungen zu finden. Der zeitliche Abstand zwischen beiden Untersuchungen darf einerseits nicht so groß sein, daß sich das Indikatum ändert (die interessierende Einstellung beispielsweise kann sich verstärken oder abschwächen); resultierende niedrige Retestwerte gehen in diesem Fall unter Umständen nicht auf methodische Mängel zurück. Andererseits soll der Zeitabstand so groß wie möglich sein, damit sich die untersuchten Personen im Reversuch vor allem nicht mehr an ihre Angaben im Erstversuch erinnern ; ist dies nicht gesichert, dann können künstlich erhöhte Retestwerte resultieren. Bei einem Fragebogen werden unter Beachtung der Art und Anzahl der Fragen oft Intervallzeiten von zwei bis acht Wochen als angemessen angesehen. Ein Indikatum, wie z. B. die Arbeitszufriedenheit, läßt sich pauschal mit einem Einzelindikator erfassen. Es kann aber auch mit einer mehr oder weniger großen Anzahl von Indikatoren ermittelt werden, wobei zwar jeder einzelne Indikator dasselbe Indikatum anzielt, aber jeweils unter einem anderen Gesichtspunkt (Zufriedenheit mit den häufigsten Tätigkeiten, den Kollegen, dem unmittelbaren Leiter u. a.). Für solche Indikatorbatterien kann über die Bewertung der einzelnen Indikatoren eine Punktsumme berechnet werden, welche auf die Ausprägung des Indikatums insgesamt hinweist. Die Meßstabilität läßt sich mit Hilfe von Retestwerten für pauschale Einzelindikatoren, für Punktsummen und auch für die einzelnen Indikatoren einer Skala bestimmen. Meßgenauigkeit ist nur für die Indikatoren einer Skala prüfbar. Sie beinhaltet die „innere" Einheitlichkeit der Indikatoren, die diese durch den Bezug auf das gleiche Indikatum haben. Der spezielle Zuverlässigkeitsaspekt wird mit Hilfe der Konsistenzanalyse, die aus bestimmten statistischen Berechnungen besteht, geprüft. Zur Sammlung der erforderlichen Daten genügt eine Versuchsdurchführung. Positive Konsistenzwerte weisen darauf hin, daß alle zum Verfahren gehörenden Indikatoren in praktisch bedeutsamer Weise zur Ermittlung des Indikatums beitragen. Mängel des Verfahrens sind weitgehend auszuschließen. Eventuelle Störgrößen durch zufallig wirkende Untersuchungsbedingungen bleiben allerdings unkontrolliert. Um auch diese Gruppe von Fehlerquellen ausschließen zu können, wäre ein zusätzlicher Retest notwendig. Die beiden vorgestellten Zuverlässigkeitsaspekte werden für ein Verfahren durch numerische Kennwerte charakterisiert. Sie liegen für Retests je nach Art der Daten als Kontingenzkoeffizient, als Rang- oder Meßkorrelationskoeffizient (r(I) vor.

Gütekriterien

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Die Konsistenzanalyse führt zu einem varianz-analytisch bestimmten Kennwert (rI(). Zur Berechnung der statistischen Kennwerte wird auf die Literatur verwiesen. Praktisch bedeutsam sind r,t-Werte zwischen 0,00 und +1,00. Wie sind die für Verfahren gewonnenen r -Werte einzuschätzen? Welcher Zuverlässigkeitsgrad ist zu fordern? Eine generelle Antwort auf diese Fragen ist nicht möglich. Sie fallt je nach Zielstellung einer Untersuchung verschieden aus. Interessiert das mittlere Niveau der Ausprägung eines Indikatums in größeren Personengruppen, dann sollten r I( -Werte von mindestens 0,50 erreicht werden. Eine solche Zuverlässigkeit kann bereits ein Einzelindikator mit einer mehrstufigen Intensitäts-Schätzskala als Antwortmodell erreichen. Geht es darum, die untersuchten Personen je nach Indikatumsausprägung in fünf bis zehn Gruppen einzuordnen, dann erhöht sich der zu fordernde Wert auf 0,80. Am höchsten sind die Anforderungen an ein Verfahren, wenn die untersuchten Personen in eine genaue individuelle Rangordnung einzuordnen sind; der r (( -Wert sollte für diesen Fall nicht unter 0,95 liegen. Entsprechende Retestwerte erreichen in der Regel nur Punktsummen, die aus Einstellungsskalen hervorgehen. In der soziologischen Forschung sind Verfahren mit hoher Zuverlässigkeit vor allem für Längsschnittstudien (vgl. Abschnitt 3.3.3.) wünschenswert. Die Frage nach typischen Zuverlässigkeitswerten von Verfahrensgruppen läßt sich nur mit Hinweisen auf recht allgemeine Tendenzen beantworten. Zunächst ist festzuhalten, daß standardisierte Verfahren zuverlässiger als nichtstandardisierte sind. Unstrukturierte mündliche Befragungen erreichen oft kein r von 0,50. Einstellungsskalen können Werte um 0,90 erreichen, pauschale (geschlossene) schriftliche Einzelfragen Werte um 0,50. Diese wenig aussagekräftigen Angaben relativieren sich noch durch den Bezug auf Indikatorinhalte. So werden tendenziell Faktenfragen zuverlässiger beantwortet als Einstellungsfragen. Analoges gilt für Fragen, die sich auf Gegenwärtiges beziehen im Vergleich zu vergangenheits- oder zukunftsbezogenen Ereignissen oder die sich auf positive Ereignisse im Vergleich zu weniger positiven beziehen. Als verbindliche Orientierung ist festzuhalten: Die Konstruktion eines standardisierten Verfahrens erfordert die Zuverlässigkeitsprüfung als notwendigen Arbeitsschritt. Werden vorliegende standardisierte Verfahren eingesetzt, so ist deren angegebener Zuverlässigkeitsgrad zu beachten. Bei nichtstandardisierten Verfahren ohne Zuverlässigkeitskennwerte ist ein sehr großer Unsicherheitsgrad für Aussagen zu berücksichtigen. Als Techniken der Zuverlässigkeitstestimg werden Retest, Paralleltest, Halbierungstest und Konsistenzanalyse eingesetzt. Beispielsweise verlangen die Halbierungstechnik und die Konsistenzanalyse völlige Homogenität des Verfahrens. Bei der Halbierungstechnik wird das zu prüfende Verfahren (z. B. eine Indikatorenbatterie) von einer Respondentenstichprobe nur einmal bearbeitet. Anschließend wird es in äquivalente Hälften geteilt. Dies kann nach dem Zufallsprinzip erfolgen, aber auch durch ein systematisches Vorgehen

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z. B. durch Zusammenfassung der sich bei laufender Numerierung ergebenden gerad- und ungeradzahligen Indikatoren zu je einer Hälfte oder Zusammenfassung der laufend numerierten Indikatoren nach der Vorschrift: ABBAABBA etc. Letztgenannte Technik soll reihungsabhängige Einflüsse ausschalten (Michel). Eine weitere Möglichkeit ist die Zusammenfassung nach Ähnlichkeit des Inhalts und der Trennschärfe der Indikatoren. Dabei werden jeweils zwei nach Inhalt oder Trennschärfe ähnliche Indikatoren zusammengefaßt, so daß die Gesamtindikatoren paarweise gruppiert sind. Danach wird nach dem Zufallsprinzip je ein Indikator jeden Paares der einen oder der anderen Hälfte des Verfahrens zugeordnet. Die auf eine der vorstehenden Arten erzeugten Hälften des Verfahrens werden miteinander korreliert und der Korrelationskoeffizient als Zuverlässigkeitsmaß für eine Hälfte des Verfahrens interpretiert. Die Konsistenzanalyse gilt als Verallgemeinerung der Halbierungstechnik. Sie erfordert die Untergliederung des Verfahrens in so viele Bestandteile, wie es Items besitzt. Wegen der Spezifik empirisch-soziologischer Forschungen werden jedoch die Voraussetzungen beider Techniken (Homogenität, Unabhängigkeit der Indikatoren) nur in den seltensten Fällen erfüllt sein. 3. Kriterium: Gültigkeit Ein Verfahren ist gültig, wenn es das angezielte Indikatum analysiert. Auch sehr zuverlässige Verfahren können das Indikatum verfehlen. Andererseits erreicht ein Verfahren mit geringer Zuverlässigkeit keine befriedigende Gültigkeit. Letztere kann im statistischen Sinne nicht höher als die Zuverlässigkeit sein. Diese stellt demnach eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für Gültigkeit dar. Gültigkeit ist das wichtigste Gütekriterium. Ihr Nachweis ist das unmittelbare Ziel methodenkritischer Untersuchungen, sie weist auf die wissenschaftliche Qualifikation eines Verfahrens in direkter Weise hin. Gültigkeitsprüfungen sollen klären, wie sicher aus den Verfahrensergebnissen auf das Indikatum geschlossen werden kann. Das kann in verschiedener Weise geschehen, je nachdem, welcher Aspekt der Gültigkeit geklärt werden soll. Wir erörtern zwei Hauptarten der Gültigkeit: — Kriterienbezogene Gültigkeit, — Konstrukt-Gültigkeit (auch als Begriffs- oder nomologische Gültigkeit bezeichnet). Kriterienbezogene Gültigkeit ist prüfbar, wenn für jedes Mitglied einer Personengruppe (Stichprobe) zum interessierenden Merkmal — beispielsweise der Arbeitseinstellung — zwei unabhängig voneinander gewonnene Aussagen vorliegen. Die eine ergibt sich aus dem Ergebnis des zu prüfenden Verfahrens, die andere aus dem Gültigkeitskriterium. Es trägt „subjektiven" Charakter, wenn kompetente Fremdbeurteiler (Brigadier, Meister) das Merkmai einschätzen; es stellt ein „objektives" Kriterium dar,

Gütekriterien

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wenn es Verhaltensweisen und Handlungsergebnisse der Personen umfaßt, die nicht von Fremdbeurteilern eingeschätzt werden, sondern direkt auf das Merkmal verweisen (Mitarbeit in Jugendforscherkollektiven, Quantität der Leistung). Die Gültigkeit läßt sich danach einschätzen, inwieweit das Verfahrensergebnis mit den Kriteriumsbefunden übereinstimmt. Der Übereinstimmungsgrad wird in einem Korrelationskoeffizienten (rtc) ausgewiesen, so daß ein numerischer Gültigkeits-Kennwert vorliegt. Als verbreitete, erfahrungsgetragene Orientierung gilt: r -Werte über 0,60 entsprechen hoher Gültigkeit, r (c -Werte zwischen 0,40 und 0,60 mittlerer und Werte unter 0,40 geringer Gültigkeit. Ein Problem bei praktischen Bemühungen zur Prüfung der Gültigkeit besteht darin, überhaupt brauchbare Kriterien zu bestimmen. Stellen wir uns beispielsweise eine Indikatorbatterie vor, mit der unterschiedliche Arbeitsmotive ermittelt werden sollen. Welche Kriterien entsprechen den vielgestaltigen Motiven? Eine Antwort fallt schwer. Kriterien stellen den Verfahrenskonstrukteur aber noch in anderer Hinsicht vor Probleme. Ein Kriterium muß seinerseits zuverlässig und gültig sein. Um entsprechende Informationen zu erhalten, wäre ein Kriterium für das Kriterium zu bestimmen und für dieses ein weiteres. Eine solche Vorgehensweise ist verständlicherweise nicht praktizierbar. Wertvolle Hinweise /ur Eignung eines Kriteriums ergeben sich in der Regel, wenn „Experten" seine Gültigkeit beurteilen und positiv einschätzen. Kriterienbezogene Gültigkeitsprüfungen werfen Probleme auf, sie enthalten aber auch viele Möglichkeiten, um die Güte eines Verfahrens deutlich werden zu lassen. Diese Möglichkeiten sind zu nutzen. Konstruktgültigkeit basiert auf der dialektischen Einheit von Theorie und (methodischer) Praxis. Sie schließt bestimmte Arbeitsschritte ein, die einen Zyklus bilden. Dieser wird auf einem jeweils höheren Erkenntnisniveau mehrfach realisiert. Die Arbeitsschritte — wir beziehen uns zur Veranschaulichung auf Verfahren zur Analyse von Persönlichkeitsmerkmalen — betreffen folgende Aktivitäten : — Das Indikatum des Verfahrens wird vom gegebenen persönlichkeitstheoretischen Erkenntnisstand abgeleitet; z. B. werden die auf soziale Sollwerte bezogenen Wertorientierungen von Personen festgelegt. Die erste Fassung des Verfahrens wird erarbeitet. — In bezug auf die theoretischen Beziehungen des Indikatums werden Hypothesen formuliert, die zu erwartende oder nicht zu erwartende Zusammenhänge des Indikatums mit anderen Persönlichkeitsmerkmalen, zu erwartende oder nicht zu erwartende Verhaltensauswirkungen des Indikatums betreffen. Es sind also, um im Beispiel zu bleiben, verhaltensmäßige Auswirkungen einer politischen oder ästhetischen Wertorientierung u. a. hypothetisch festzulegen. — Die empirische Prüfung der Hypothesen (sie setzt den Einsatz der ersten Fassung des zu prüfenden Verfahrens und weiterer Verfahren, unterschiedlicher

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Versuchspläne und statistischer Verfahren voraus) präzisiert das Indikatum des Verfahrens, regt damit zu methodischen Verbesserungen an, bereichert aber zugleich den theoretischen Erkenntnisstand im fraglichen Teilbereich, stimuliert weiterführende Hypothesen. Der Zyklus der Arbeitsschritte kann neu beginnen. Konstruktgültigkeit ist theoretisch begründet. Je vielfältiger und differenzierter die geklärten theoretischen Bezüge des Indikatums und der indikatumsadäquaten Indikatoren eines Verfahrens sind, um so sicherer werden die mit ihm gewonnenen Ergebnisse. Für die mathematisch-statistische Bearbeitung einer Konstruktvalidierung kann eine Reihe von Verfahren zur Anwendung kommen. 1. Konsistenzanalyse und Interkorrelationen der Indikatoren des Verfahrens: Hohe Konsistenz und hohe Korrelation zwischen den Indikatoren stützen die Annahme der Gültigkeit des Verfahrens. 2. Faktoranalyse: Beinhaltet das Konstrukt nur eine latente Dimension, so dürfen die in die Faktoranalyse eingehenden Indikatoren nur in einem Faktor laden. Es müßte sich also eine Faktorladungsmatrix ergeben, die nur einen signifikanten Faktor enthält, den alle Variablen hoch laden. Ist dies nicht der Fall, so mißt die entsprechende Variable nicht den Sachverhalt des Konstrukts und ist deshalb auszusondern. 3. Clusteranalyse: Messen die Variablen entsprechend dem Sachverhalt des Konstrukts, so wird sich nur ein Cluster ergeben, im anderen Fall mehrere. Die Clusteranalyse ist als Ergänzungs- bzw. Ersatzverfahren für die Faktoranalyse einzusetzen. 4. Partielle Korrelationsanalyse: Fällt ein Indikator im Ergebnis von 2. oder 3. aus dem Konstrukt heraus, so kann das durch eventuelle Störgrößen verursacht sein. Die Überprüfung erfolgt mittels partieller Korrelation. Im Ergebnis der Verfahren läßt sich somit feststellen, welche Indikatoren aus dem Konstrukt herausfallen und damit nicht die beabsichtigte theoretische Problemstellung repräsentieren. Zur Kontrolle der Methodik können auch solche Indikatoren in das Konstrukt aufgenommen werden, die nicht den theoretischen Voraussetzungen entsprechen, also z. B. mit Sicherheit nichts mit dem Konstrukt „Arbeitszufriedenheit" zu tun haben. Diese Indikatoren müssen sich dann im Ergebnis der mathematischen Verfahren deutlich von den übrigen, „echten", des Konstrukts abheben. Wichtig ist es, nochmals festzustellen, daß das gebildete Konstrukt auf eindeutig gesichertem Wissen basieren sollte, so daß festgestellte Abweichungen vom erwarteten Konstrukt mit Sicherheit auf einen Mangel in der Indikatorenableitung zurückzufuhren sind.

Typologien sozialer Sachverhalte

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2.10. Typologisierung und Klassifizierung 2.10.1. Soziale Wirklichkeit und Typologien sozialer Sachverhalte Obwohl ein einzelnes soziales Ereignis einmalig und nicht wiederholbar ist, liegt die Stabilität des Zusammenhangs sozialer Ereignisse darin, daß Ereignisse eines bestimmten Typs immer wieder mit Ereignissen eines gewissen anderen Typs verbunden sind. Die soziale Gesetzmäßigkeit wirkt im Sinne einer statistischen Gesetzmäßigkeit als Typenzusammenhang. Wodurch ist nun ein solcher Typ sozialer Ereignisse gekennzeichnet? Im Verständnis der sozialen Wirklichkeit als Mannigfaltigkeit sozialer Verhältnisse ist ein soziales Ereignis durch das Eintreten bzw. Zustandekommen eines bestimmten Zustandes dieser Verhältnisse charakterisiert. Damit sind soziale Ereignisse immer an das Verhalten der Menschen gebunden, sie sind immanenter Bestandteil menschlichen Verhaltens und durch Funktion und gewisse Merkmale des Verhaltens gekennzeichnet. Die Gesamtheit sozialer Ereignisse in einem gewissen Zeitraum, die im menschlichen Verhalten gleicher sozialer Funktion begründet sind, bilden als horizontale und vertikale Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit die sozialen Sachverhalte, die Objekte soziologischer Forschung sind. Eine solche Gesamtheit sozialer Ereignisse weist gewisse gemeinsame Merkmale auf, an Hand derer der Sachverhalt empirisch erfaßbar ist. Wir haben auf diese Weise zwei dialektische Pole gekennzeichnet, das soziale Ereignis als das Einzelne und den sozialen Sachverhalt als das Allgemeine im Verhalten der Menschen in bezug auf eine gewisse soziale Funktion. Der Typ sozialer Ereignisse steht als das Besondere zwischen diesen beiden Polen. Er konstituiert sich aus einer Vielzahl einzelner Ereignisse, die derselben sozialen Funktion genügen, aber über eine höhere Merkmalsgemeinsamkeit verfügen als die Gesamtheit aller den Sachverhalt konstituierenden sozialen Ereignisse. Das heißt, die Ereignisse eines Typs weisen neben den den Sachverhalt bestimmenden Merkmalen noch weitere gemeinsame Merkmale auf, in denen sie sich von Ereignissen anderen Typs unterscheiden. Solche Unterschiede sind Typenrelationen und damit in ihrer Gesamtheit als Struktur eine wesentliche Eigenschaft des Sachverhalts. Wodurch kommt es aber zu unterschiedlichen Typen von Ereignissen eines sozialen Sachverhalts? Soziale Ereignisse sind an das Verhalten von Menschen gebunden, die „lauter mit Bewußtsein begabte, mit Überlegung oder Leidenschaft handelnde, auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen" 1 0 6 sind. Die Vielfalt individuellen Verhaltens ist dabei aber durch Notwendigkeiten und Bedingungen beschränkt, die sich für den einzelnen aus den gesellschaftlichen Verhältnissen 106

F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: M E W , Bd. 21, Berlin 1972, S. 296.

12

Soziolog. Forschung

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ergeben. Im menschlichen Verhalten erfolgt die Konfrontation und Synthese individueller Bedingungen und Voraussetzungen einerseits und der Anforderungen und Bedingungen aus den gesellschaftlichen Verhältnissen andererseits. Während der erste Aspekt vorwiegend die Variation individuellen Verhaltens im einzelnen erklärt, geben die gesellschaftlichen Anforderungen und Bedingungen dem sozialen Verhalten ganzer Funktionsgruppen der Gesellschaft bzw. anderer sozialer Gruppierungen ihre Orientierung. Durch sie werden die Wirkungsbedingungen der sozialen Gesetzmäßigkeiten gesetzt. Sie bestimmen die soziale Qualität der sich aus der oben genannten Konfrontation und Synthese ergebenden Ereignisse in ihrer sozialen Differenziertheit, sie wirken typbildend auf die sozialen Ereignisse. Im Auftreten derartiger Typen, ihren wechselseitigen Beziehungen und ihren Beziehungen zu Typen anderer Sachverhalte zeigt sich das Wirken objektiver sozialer Gesetzmäßigkeiten unter Beachtung der durch die gesellschaftlichen Verhältnisse gesetzten allgemeinen und besonderen Wirkungsbedingungen. Mithin ist es wohl berechtigt, eine durch derartige Typen und ihre Struktur in der sozialen Wirklichkeit gegebene Typologie als eine objektive Eigenschaft eines sozialen Sachverhalts in bezug auf das Wirken gewisser sozialer Gesetzmäßigkeiten zu verstehen.

2.10.2. Typologie und Typologisierung Nachdem wir den Begriff der Typologie bereits verwendet haben, ist es nun notwendig, daß wir ihn etwas genauer betrachten und von ihm den Prozeß der Typologisierung abgrenzen. Da die Positionen hierzu in der Literatur 107 uneinheitlich sind, scheint es angebracht, im folgenden unseren Standpunkt zu dieser Problematik darzulegen und zu begründen. Einheitlich wird der Terminus „Typologie" allerdings insofern gebraucht, als er zur Beschreibung der Struktur einer Mannigfaltigkeit im Sinne ihrer Aufteilung in relativ homogene Gruppen verwendet wird. Die meisten Autoren bezeichnen dabei das Resultat einer solchen Aufteilung als Typologie. Bezogen auf Objekte der sozialen Wirklichkeit bedeutet das, daß Typologie in diesem Sinne auf der Ebene der Widerspiegelung der sozialen Wirklichkeit im Bewußtsein verwendet wird, denn nur die Widerspiegelungen der Objekte der sozialen Wirklichkeit können einer solchen Operation unterzogen werden. Typologie im Sinne dieser Autoren 108 bezeichnet daher das Resultat einer geistigen Ordnungsoperation 107

Vgl. V. A. Jadov, Sociologiceskoe issledovanie : Metodologija, programme, metody, a. a. O.; V. G. Andreenkov/Ju. N. Tolstova (Hrsg.), Tipologija i klassifikacija v sociologiceskich issledovanijach, Moskva 1982; W. Sodeur, Empirische Verfahren zur Klassifikation, Stuttgart 1974. los Ygi y g Andreenkov/Ju. N. Tolstova (Hrsg.), Tipologija i klassifikacija v sociologiceskich issledovanijach, a. a. O., S. 8.

Typologie und Typologisierung

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über Widerspiegelungen von Objekten der sozialen Wirklichkeit im Bewußtsein. Das Korrelat dieses Resultats in der sozialen Wirklichkeit wird dabei kaum oder nicht reflektiert, obwohl gerade dies, wie wir im vorigen Abschnitt festgestellt haben, Erscheinungsform des Wirkens sozialer Gesetzmäßigkeiten ist. Da aber die soziologische Forschung auf die Erkenntnis des Wirkens sozialer Gesetzmäßigkeiten gerichtet ist, sollte eben dieses Korrelat in der sozialen Wirklichkeit mit dem Terminus Typologie begrifflich belegt werden. Das führt zur methodologischen Konsequenz, Typologien nicht als Ergebnis oder Zwischenergebnis, sondern als Ausgangspunkt soziologischer Erkenntnis im Sinne objektiver Eigenschaften von Objekten der sozialen Wirklichkeit zu begreifen, sie als Objekt real anzuerkennen. In diesem Verständnis bezieht sich der Begriff der Typologie immer auf konkrete Objekte der sozialen Wirklichkeit, im vorigen Abschnitt hatten wir sie als soziale Ereignisse und damit verbundene soziale Sachverhalte gekennzeichnet, die in einer objektiv realen Gesamtheit in einem gewissen Zeitraum dadurch charakterisiert sind, daß — Objekte eines Typs immer über mehr gemeinsame wesentliche Merkmale verfügen als Objekte unterschiedlichen Typs und — die Typenunterschiede sozial relevanten Verhältnissen zwischen ihren Objekten entsprechen. Als Typologie bezeichnen wir daher die in einem gewissen Zeitraum real existierende Struktur einer Objektgesamtheit mit den eben gekennzeichneten Eigenschaften. Ihre Existenz ist untrennbar mit dem Wirken sozialer Gesetzmäßigkeiten verbunden. Ihrer Analyse kommt daher im soziologischen Forschungsprozeß eine besondere methodologische Bedeutung zu, ist es dadurch doch möglich, das Wirken objektiver sozialer Gesetzmäßigkeiten unter Beachtung komplexer Wirkungsbedingungen soziologisch zu untersuchen. Von dieser Begriffsbestimmung ausgehend, wollen wir mit Typologisierung die soziologische Erkenntnisprozedur bezeichnen, die zum Erkennen einer objektiv realen Typologie führt. Sie gründet sich notwendigerweise auf die Erkenntnis der wesentlichen Objekteigenschaften, auf die geistige Reproduktion der konkreten Objekte an Hand dieser Merkmale und ihre Verallgemeinerungen infolge Merkmalsgemeinsamkeiten. Verbunden ist damit gleichzeitig das Erkennen und semantische Bewerten der wesentlichen Typenunterschiede in den Merkmalen der Objekte. Typologisierung in diesem Sinne ist eine soziologische Erkenntnismethode, die immer theoretische und empirische Aspekte als Einheit aufweist. Die theoretischen Aspekte liegen dabei vorwiegend in der Bestimmung der für einen zu untersuchenden Sachverhalt wesentlichen Objekteigenschaften auf der Grundlage theoretischen Wissens zum Sachverhalt und einer sich daraus ableitenden theoretischen Erklärung von Merkmalsverbindungen und -unterschieden als Typen. Dieser Aspekt steht in enger Beziehung zur Begriffsbildung und Operatio12*

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nalisierung von Begriffen, 109 geht es hier doch darum, das Allgemeine und Besondere von Objekten der sozialen Wirklichkeit an Hand ihrer auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen invarianten Eigenschaften zu widerspiegeln. Im Ergebnis entsteht ein idealisiertes theoretisches Modell eines gewissen Ausschnitts der sozialen Wirklichkeit als theoretisch begründete Erwartung einer Typologie von Objekten der sozialen Wirklichkeit. Der empirische Aspekt liegt in der Erfassung konkreter Ausprägungen der theoretisch bestimmten Merkmale an Objekten der sozialen Wirklichkeit, der Suche nach Gemeinsamkeiten in diesem empirischen Material, dem Vergleich der darin vorfindlichen Merkmalsverbindungen mit den theoretischen Erwartungen und der inhaltlichen Deutung dessen als Widerspiegelung einer objektiv realen Typologie. Letzteres trägt auch theoretische Züge, sofern diese Deutung in Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen Praxis steht und zu ihrer tieferen Durchdringung, zur besseren Erklärung und zu ihrer Veränderung beiträgt oder beitragen kann. Im konkreten Forschungsprozeß können die Anteile und das gegenseitige Verhältnis beider Aspekte ganz unterschiedlich sein. Im Sinne von Endpunkten dieses Verhältniskontinuums können wir in Übereinstimmung mit Jadov110 theoretische und empirische Typologisierung danach unterscheiden, ob der theoretische oder der empirische Aspekt der Typologisierung im Vordergrund steht. Hinsichtlich der forschungsstrategischen Bedeutung müssen bei aller Gemeinsamkeit der beiden Typologisierungsarten ihre heuristischen Funktionen wohl unterschieden werden. So dient die empirische Typologisierung letztlich dem Erkennen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden gewisser Aspekte des sozialen Verhaltens der Menschen im Sinne sozialer Differenziertheit. Zu ihrer Erklärung als Wirkungen sozialer Gesetzmäßigkeiten führt aber erst die theoretische Typologisierung. Das hebt nicht auf, sondern erfordert gerade die Einheit beider Typologisierungsarten im soziologischen Forschungsprozeß.

2.10.3. Klassifikation und Klassifizierung Als wesentlichen Bestandteil enthält die Methode der Typologisierung eine Ordnungsoperation ideeller Abbilder der empirisch gegebenen Objekte an Hand ihrer Merkmale mit dem Ziel der Ordnung dieser Abbilder nach Merkmalsgemeinsamkeiten. In bezug auf die Bezeichnung dieser Ordnungsoperation finden wir in

109 110

Vgl. Abschnitt 2.5. Vgl. V. A. Jadov, Sociologiceskoe issledovanie. Metodologija, programma, metody, a. a. O., S. 184-193.

Klassifikation und Klassifizierung

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der Literatur eine weitgehende Einheitlichkeit. 111 Sie wird als Klassifizierung bezeichnet und ist nicht nur auf soziologische Probleme beschränkt. Gegenstand dieser Methode sind Abbilder der objektiven Realität. Somit ist sie mit einem Modell der objektiven Realität verbunden, das unter Beachtung eines Klassifizierungszieles die wesentlichen Objekteigenschaften widerspiegelt und die Gültigkeit ihrer Ergebnisse für die objektive Realität maßgeblich bestimmt. Unter diesem Aspekt müssen die weiteren Darlegungen zur Methode der Klassifizierung gesehen werden. Welche Ziele erfüllt Klassifizierung? Hier können wir zwei Ziele unterscheiden, die sich aus der Einbindung der Klassifizierung in den Erkenntnisprozeß der Typologisierung ergeben. Im Zusammenhang mit der empirischen Typologisierung steht das Ziel der Klassifizierung, eine Menge ideeller Objekte derartig in Klassen aufzuteilen, daß in bezug auf die Ausprägungen der die Objekte beschreibenden Merkmale — innerhalb der Klassen weitgehende Ähnlichkeit und — zwischen den Klassen hinreichende Unähnlichkeit besteht. Dieser Zielstellung entsprechen mathematisch-statistische Verfahren, die unter den Bezeichnungen Clusteranalyse, automatische Klassifikation 112 oder numerische bzw. mathematische Taxonomie 1 1 3 zusammengefaßt werden. Sie sind bei aller Unterschiedlichkeit einzelner Verfahren gemeinsam dadurch gekennzeichnet, daß sie auf eine Modellierung der Ähnlichkeits- bzw. Unähnlichkeitsbeziehungen zwischen Objekten und zwischen Klassen fußen. In den meisten Fällen handelt es sich hierbei um analytisch-geometrische Modelle in Form von Abstandsfunktionen, so daß die Klassifizierungsräume geometrische sind, in die die zu klassifizierenden (ideellen) Objekte als Punkte abgebildet werden. Da für eine derartige Klassifizierung nur die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Objekten und nicht die einzelnen Merkmalsausprägungen eine Rolle spielen, diese als Punktabstände im Klassifizierungsraum abgebildet werden, ist die Dimensionalität dieses Raumes nur von untergeordneter Bedeutung. Die Verfahren konstruieren — in den meisten Fällen unter Zugrundelegung weiterer Modellparameter — aus der Punktmenge im Klassifizierungsraum eine Zerlegung in Teilmengen, die mindestens den oben gekennzeichneten Eigenschaften als Klassen entsprechen. Je nach Vorhandensein weiterer Merkmale des Klassifizierungsergebnisses als Punktmengensystem, das wir als Klassifikation bezeichnen wollen, können die

111

Vgl. V. G. Andreenkov/Ju. N. Tolstova (Hrsg.), Tipologija i klassifikacija v sociologiceskich issledovanijach, a. a. O.; W. Sodeur, Empirische Verfahren zur Klassifikation, a. a. O.; vgl. H. H. Bock, Automatische Klassifikation, Göttingen 1974.

112

Vgl. H. H. Bock, Automatische Klassifikation, a. a. O.

113

Vgl. N. Jardine/R. Sibson, Mathematical taxonomy, New York 1971.

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Verfahren und ihr Ergebnis selbst klassifiziert werden. Wir wollen hier zunächst nur exemplarisch drei Klassen von derartigen Klassifikationen kurz beschreiben. 1. Eine Vielzahl von Klassifizierungsverfahren ist dadurch gekennzeichnet, daß ihre Klassifikationen neben den beiden genannten allgemeinen Merkmalen noch die Eigenschaft aufweisen, daß erst die Vereinigung aller Klassen die gesamte Punktmenge im Klassifizierungsraum reproduziert. Derartige Klassifikationen werden Partitionen genannt. Je nachdem, ob alle Klassen zueinander elementfremd sind oder nicht, wird hier noch in disjunkte und überlappende Partitionen unterschieden. 2. Eine andere Klasse von Verfahren ergibt Klassifikationen, bei denen zwei beliebige Klassen entweder zueinander elementfremd sind oder eine Klasse vollständig in der anderen enthalten ist. Die Klassifikation besteht aus einer Folge von Teilklassifikationen, von denen jede eine vollständige, disjunkte Partition der Gesamtpunktmenge im Klassifizierungsraum ist. Derartige Klassifikationen werden als hierarchische bezeichnet. 3. Eine dritte Klasse zeichnet sich dadurch aus, daß alle empirischen Daten nach vorgegebenen Klassifizierungsmerkmalen einfach sortiert werden. Man spricht dann von empirischer Klassifikation. In jeder soziologischen Untersuchung wird in der Auswertungsphase die empirische Klassifizierung angewendet, indem alle Daten nach demographischen, statistischen oder inhaltlichen Kriterien (Merkmalen) wie Geschlecht, Altersgruppen, Qualifikationsniveaus, Informiertheitsgraden, Einkommensklassen etc. sortiert werden, um inhaltliche Zusammenhänge, Unterschiede, Übereinstimmungen etc. überhaupt feststellen zu können (vgl. Abschnitt 4.6.). Der heuristischen Funktion empirischer Typologisierung entsprechend, haben diese Klassifizierungsverfahren vorwiegend beschreibenden Charakter. Sie lassen in den meisten Fällen keine mathematisch-statistischen Gültigkeitsprüfungen ihrer Ergebnisse zu. Mithin kann hier die Frage noch nicht beantwortet werden, ob die empirisch ermittelte Klassifikation als Abbild einer real existierenden Typologie anerkannt werden kann. Dazu bedarf es weiterer Typologisierungsschritte, bei denen der theoretische Aspekt im Vordergrund steht. Das unterstreicht nachdrücklich die Notwendigkeit der Einheit beider Aspekte der Typologisierung. Mit der theoretischen Typologisierung korrespondiert eine zweite Zielstellung der Klassifizierung, ideelle Objekte in ein System theoretisch begründeter Klassen einzuordnen. Hier geht es nicht darum, Klassifikationen als Ergebnis der Klassifizierung empirisch zu erzeugen, sondern um die Konfrontation einer theoretischen Klassifikation als Ergebnis theoretischer Abstraktions- und Ordnungsleistungen mit der objektiven Realität auf der Ebene ihrer ideellen Widerspiegelung. Dies dient der Überprüfung eines idealisierten theoretischen Modells an der Praxis, welches sich in der theoretischen Klassifikation niederschlägt.

Typologische Datenanalyse; methodologischer Ansatz

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Dieser damit skizzierten zweiten Zielstellung der Klassifizierung entsprechen varianz- und diskriminanzanalytische Verfahren. 114 Während varianzanalytische Verfahren in erster Linie auf den empirischen Nachweis von Unterschieden zwischen theoretischen Klassen gerichtet sind, analysieren diskriminanzanalytische Verfahren zum einen diese Unterschiede in bezug auf die Merkmale, die der Klassifizierung zugrunde liegen, und leisten andererseits die oben angegebene Zuordnung nicht klassifizierter Objekte zu einer oder mehreren Klassen. In Übereinstimmung mit der heuristischen Funktion theoretischer Typologisierung gestatten die hier genannten Klassifizierungsverfahren eine mathematisch-statistische Überprüfung ihrer Ergebnisse, allerdings unter Zugrundelegung bestimmter Annahmen über den Charakter des Klassifizierungsraumes. Die Mehrzahl der Verfahren setzt für den Klassifizierungsraum eine mehrdimensionale Normalverteilung mit einer für den gesamten Raum einheitlichen Kovarianzmatrix voraus. Auf Grund der mathematisch-statistischen Überprüfbarkeit des Klassifizierungsergebnisses besteht hier die Möglichkeit einer Einschätzung darüber, inwieweit das theoretische Modell für den empirisch untersuchten Bereich Gültigkeit hat. Damit ist es nun auch möglich, im Rahmen theoretischer Typologisierung eine empirisch ermittelte Klassifikation daraufhin zu überprüfen, ob sie als Abbild einer real existierenden Typologie eines sozialen Sachverhalts akzeptiert werden kann.

2.10.4. Methodologischer Ansatz einer typologischen Datenanalyse Wenn wir akzeptieren, daß eine Typologie sozialer Ereignisse eine objektive Eigenschaft des sie bestimmenden sozialen Sachverhalts als Folge des Wirkens sozialer Gesetzmäßigkeiten ist, so bietet sich damit ein methodologischer Ansatz zur Analyse des Wirkens sozialer Gesetzmäßigkeiten unter Berücksichtigung der Komplexität ihrer Wirkungsbedingungen. 115 Die Einheit von empirischer und theoretischer Typologisierung unter Einschluß der im vorigen und nachfolgenden Abschnitt gekennzeichneten Klassifizierungsverfahren bildet dann das Mittel zu dieser Analyse. Eine empirisch ermittelte und theoretisch geprüfte Klassifikation wird in diesem Kontext als Widerspiegelung des Wirkens sozialer Gesetzmäßigkeiten in bezug auf einen sozialen Sachverhalt aufgefaßt. In diesem Zusammenhang ist das Ergebnis empirischer und theoretischer Typologisierung nicht vordergründiges Erkenntnisziel, sondern Mittel zum Erkennen des Wirkens sozialer Gesetzmäßigkeiten. Damit wird deutlich, daß Typologisierung allein dieses Erkenntnisziel nicht erreichen kann.

114 115

Vgl. H. Ahrens/J. Läuter, Mehrdimensionale Varianzanalyse, Berlin 1981. Vgl. B. Gensei, Typologische Datenanalyse — ein methodologisch-methodischer Ansatz zur Analyse sozialer Sachverhalte, Dissertationsschrift B, Leipzig 1985.

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Mittels relativ allgemeiner theoretischer Analyse, die in der Regel als Systemanalyse anzulegen ist (vgl. Abschnitt 2.4.), ist zunächst zu klären, welche soziale Gesetzmäßigkeit theoretisch erwartet wird und wie sich ihr Wirken in einer Typologie des Sachverhalts niederschlägt. Damit verbunden ist eine nähere theoretische und begriffliche Bestimmung des Sachverhalts und seiner sozialen Funktion bis hin zur Bestimmung der ihn konstituierenden sozialen Ereignisse. Ihren Niederschlag müssen diese theoretischen Vorleistungen in einem System von Hypothesen mit einer hierarchischen Struktur finden. Sie enthalten, von relativ allgemeinen Erwartungen hinsichtlich der dort wirkenden sozialen Gesetzmäßigkeiten ausgehend, immer konkretere Aussagen bis hin zu empirisch prüfbaren Folgerungen zur Typologie der sozialen Ereignisse und ihres Verhältnisses zu wesentlichen, den Sachverhalt und die Wirkungsbedingungen bestimmenden Erscheinungen. Aus dem Vergleich mit dem empirischen Datenmaterial sind zunächst diese Folgerungen zu überprüfen. Darauf fußend, müssen in theoretischer Verallgemeinerung die übergeordneten Hypothesen geprüft werden. Erst in dieser Einheit von theoretischen Vor- und Nachleistungen mit der Methode der Typologisierung kann das Wirken sozialer Gesetzmäßigkeiten erkannt und mit Hilfe weiterer theoretischer und empirischer Forschungsmethoden analysiert werden.

2.10.5. Verfahren zur typologischen Datenanalyse Auf Grund der oben gekennzeichneten Bedeutung der Klassifizierung für die Analyse des Wirkens sozialer Gesetzmäßigkeiten sollen im folgenden die wichtigsten Klassifizierungsverfahren in ihrer Arbeitsweise grob skizziert werden. Wir können uns dabei auf die Verfahren der Clusteranalyse116 beschränken, da die Verfahren der Varianz- und Diskriminanzanalyse im 4. Kapitel beschrieben werden. Ausgangspunkt jeder Clusteranalyse ist eine Menge von Merkmalsprofilen als Abbildungen realer Objekte in einen numerischen Bildraum, vermittelt durch die vom Forscher ausgewählten Merkmale. Wie wir oben festgestellt haben, drückt sich eine Typologie des Objektbereiches in Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Objekten aus. Wollen wir durch Klassifizierung der Merkmalsprofile eine Typologie des Objektbereichs empirisch nachweisen, so ist es offenbar erforderlich, die Objektbeziehungen auf Ähnlichkeitsbeziehungen der Profile zu übertragen. Das leisten Ähnlichkeitsmodelle in F o r m von Abstandsfunktionen, die allen Clusteranalyseverfahren zugrunde liegen und entscheidende Bedeutung für die Klassifizierung haben. Deshalb ist der erste und entscheidende Schritt jeder 116

Vgl. H. Lohse/R. Ludwig/M. Röhr, Statistische Verfahren für Psychologen, Pädagogen und Soziologen, a . a . O . , Abschnitt 12.3.; B. Krause/P. Metzler, Angewandte Statistik, Berlin 1983, (9. Kapitel); H. Sydow/P. Petzold, Mathematische Psychologie, a. a. O., Abschnitt 2.6.

Typologische Datenanalyse, Verfahren

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Clusteranalyse die Wahl einer Abstandsfunktion für die Merkmalsprofile. In Abhängigkeit vom Charakter der Objektbeziehungen und vom Skalenniveau des numerischen Bildraums wird die Abstandsfunktion vom Forscher festgelegt. Um die Abbildung des Objektbereichs in einen metrischen Bildraum zu gewährleisten, wird für eine Abstandsfunktion gefordert: 1. Sie ordnet je zwei Profilen einen nichtnegativen Wert zu. 2. für zwei nicht unterscheidbare Profile liefert sie den Wert Null, 3. die Reihenfolge des Einsetzens zweier Profile in die Abstandsfunktion hat keinen Einfluß auf ihren Wert (Symmetrie). Damit ist es gerechtfertigt, die Merkmalsprofile als Punkte eines metrischen Raumes aufzufassen, in dem mit der Clusteranalyse eine Punkteklassifikation erzeugt wird. Gilt für die Abstandsfunktion dazu noch die Dreiecksungleichung, so ist dieser Raum sogar ein euklidischer Raum. Wegen der großen Vielfalt möglicher Abstandsfunktionen als Ähnlichkeitsmodelle müssen wir hier auf ihre konkrete Darstellung verzichten und den Leser auf die bereits zitierte Literatur verweisen. Eine weitere sehr wichtige Modellannahme für die Clusteranalyse liegt in der Wahl eines Strukturierungsmodells. Entsprechend einer Annahme über die Art der nachzuweisenden Typologie des Objektbereichs werden wir entweder ein partitionierendes oder ein hierarchisches Modell wählen. Die oben bereits grob skizzierten ersten beiden Verfahrensklassen entsprechen genau diesen beiden Strukturierungsmodellen. Eng hiermit verbunden ist die dritte Modellkomponente der Clusteranalyse, die eine Abbildung von Typenbeziehungen auf Abstände zwischen den Klassen der zu konstruierenden Klassifikation vermittelt. Auch dabei ist die Vielfalt groß. Deshalb sollen hier nur beispielhaft drei häufig verwendete Modelle kurz charakterisiert werden: Single-Linkage-Modell Als Abstand eines beliebigen Punktes P zu einer Klasse wird der kleinste Abstand von P zu einem Punkt der Klasse gewählt. Complete-Linkage-Modell Der größte Abstand von P zu einem Punkt einer Klasse bestimmt den Abstand von P zur Klasse. WARD-Modell Der Abstand von P zum Schwerpunkt einer Klasse wird als Abstand von P zur Klasse gewählt. Es wird offenbar, daß bereits aus der Vielfalt der Modellmöglichkeiten der Clusteranalyse eine große Zahl von Klassifizierungsverfahren entspringt. Diese Zahl wird noch durch verschiedenartige Prinzipien für die Konstruktion der Klassifikation exponiert, so daß eine fast unübersehbare Vielfalt konkreter Verfahren der Clusteranalyse entstanden ist und weiter entsteht. Wir werden deshalb im folgenden keine konkreten Verfahren, sondern eine Auswahl ihrer wichtigsten Konstruktionsprinzipien beschreiben.

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Forschungsprogramm

Aufbau von Klassen um Kerne Dieses Konstruktionsprinzip basiert auf dem partitionierenuen Strukturierungsmodell, die erzeugte Klassifikation ist eine Partition der Punktmenge. Ihre Konstruktion kann durch folgende Schritte grob gekennzeichnet werden: 1. F ü r jeden Punkt P der Punktmenge wird ermittelt, wieviel Punkte es gibt, deren Abstand zu P nicht größer als eine vorgegebene Schranke r ist. 2. Der Punkt in dessen /--Umgebung die meisten Punkte liegen, wird als erster Kern gewählt. 3. U m diesen Kern wird eine Klasse aufgebaut, indem ihr solange Punkte aus der /--Umgebung zugeordnet werden, solange dabei ein vorgegebenes M a ß der Klassenheterogenität nicht überschritten wird. Ist ein solches Kriterium nicht gegeben, so werden alle Punkte der /--Umgebung der Klasse zugeordnet. 4. Die auf diese Weise einer Klasse zugeordneten Punkte werden aus der Punktmenge entfernt. Ist die verbleibende Restmenge nicht leer, so wird mit dieser wieder gemäß der Schritte 1. bis 4. verfahren. Eine auf diese Weise erzeugte Klassifikation ist disjunkt und natürlich in starkem Maße von der Schranke r und vom Heterogenitätskriterium abhängig. Andererseits haben Verfahren dieses Prinzips den Vorteil, daß die Anzahl der Klassen nicht vorgegeben werden muß. Modifiziert man den 3. Schritt in der Weise, daß in den A u f b a u der Klasse um F n i c h t nur die Punkte aus seiner /--Umgebung, sondern alle einbezogen werden und entfernt im 4. Schritt aus der Punktmenge aber nur zugeordnete Punkte aus der /--Umgebung von so kann im Ergebnis des Verfahrens eine überlappende Partition entstehen. Bei der praktischen Realisierung solcher Verfahren, insbesondere bei ihrer Umsetzung in Computerprogramme, m u ß gegebenenfalls berücksichtigt werden, daß die gesamte Punktmenge nicht simultan zur Verfügung steht, sondern nur als Datenfolge von einem sequentiellen Speichermedium verarbeitet werden kann. In diesem Fall kann eine Klassifikation in folgender Weise aufgebaut werden: 1. Der erste P u n k t bildet den ersten Kern und gleichzeitig die erste Klasse. 2. F ü r jeden weiteren Punkt P werden die Abstände zu den bereits gebildeten Klassen bestimmt. 3. Sind alle diese Abstände größer als eine vorgegebene Schranke r, so bildet P den Kern einer weiteren Klasse, anderenfalls wird P der Klasse zugeordnet, zu der er den geringsten Abstand hat. 4. Das Verfahren endet mit der Zuordnung des letzten Punktes der Datenfolge. Die erzeugte Klassifikation ist wieder disjunkt und ist aber in starkem Maße außer von r auch von der Reihenfolge der Punkte in der Datenfolge abhängig. Derartige Verfahren werden deshalb meist nur zur Vorklassifizierung großer Punktmengen oder zur Konstruktion einer Anfangsklassifikation für iterative Verfahren verwendet.

Typologische Datenanalyse, Verfahren

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Iterative Verbesserung einer Anfangsklassifikation Auch dieses Konstruktionsprinzip basiert auf dem partitionierenden Strukturierungsmodell. Verfahren dieses Prinzips verbessern eine disjunkte Anfangsklassifikation entsprechend einem bestimmten Optimalitätskriterium. Im Ergebnis entsteht wieder eine disjunkte Partition, die durch Veränderung der Klassenzuordnung irgendeines Punktes der Punktmenge im Sinne des Optimalitätskriteriums nicht mehr verbessert werden kann. Somit nimmt das Optimalitätskriterium fiir derartige Verfahren eine zentrale Stellung ein. Es steht in enger Verbindung zum Modell der Typenbeziehungen, zu den Abständen von Punkten zu Punktklassen bzw. zwischen Klassen. Für derartige Kriterien gibt es vielfaltige mathematische Ansätze. Vereinfacht dargestellt fordern sie, daß jeder Punkt der Klasse zugeordnet wird, zu der er den geringsten Abstand hat. Damit kann das Konstruktionsprinzip in folgender Weise skizziert werden: 1. Aufbau einer Anfangsklassifikation; dies kann u. a. geschehen durch: — ein Kernaufbauverfahren, — empirische Klassifizierung nach einem inhaltlich bedeutsamen Merkmal oder — völlig zufallige Zusammenfassung von Punkten zu Klassen. 2. Für jeden Punkt werden die Abstände zu allen Klassen der aktuellen Partition ermittelt. Daraus werden die Differenzen dieser Abstände vom Abstand zur eigenen (aktuellen) Klasse bestimmt. 3. P 0 ist der Punkt, für den diese Differenz am größten wird. Ist sie positiv, so wird aus seiner aktuellen Klasse herausgelöst und der Klasse zugeordnet, der diese Maximaldifferenz entspricht, und es wird mit Schritt 2. fortgesetzt. 4. Anderenfalls bricht das Verfahren ab, da keine lokale Verbesserung der aktuellen Partition mehr möglich ist. Da hierbei nur ein lokales Optimum in bezug auf das gewählte Kriterium erreicht wird, ist das Ergebnis in gewisser Weise auch von der Anfangsklassifikation abhängig. Zumindest wird durch sie die Anzahl der Klassen festgelegt. Trotz dieser Nachteile gehören die Verfahren dieses Konstruktionsprinzips zu den am weitesten verbreiteten Verfahren der Clusteranalyse. Agglomerative Verfahren Sie basieren auf dem hierarchischen Strukturierungsmodell. Im Ergebnis entsteht eine Folge von disjunkten Partitionen, die in ihrer Gesamtheit als Klassifikation der Punktmenge aufgefaßt wird. Zwei aufeinanderfolgende Partitionen sind hier dadurch gekennzeichnet, daß die beiden Klassen der Vorläuferpartition. die den kleinsten Abstand zueinander haben, in der Nachfolgepartition zu einer Klasse verschmelzen, während die anderen Klassen unverändert bleiben. Demzufolge nimmt von Partition zu Partition die Anzahl der Klassen jeweils um eins ab. Von zentraler Bedeutung für diese Verfahren ist das Modell der Typenbeziehungen,

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Forschungsprogramm

das die Abstände der Klassen in jeder Partition bestimmt. So können bei unterschiedlicher Modellwahl auch ganz verschiedene Klassifikationen entstehen. Ausgangspunkt der agglomerativen Verfahren ist eine Anfangspartition, die aber im Unterschied zu den iterativen partitionierenden Verfahren bereits über gewisse Optimalitätseigenschaften hinsichtlich der Homogenität der Klassen verfügen sollte, da von Partition zu Partition die Homogenität der Klassen nur abnimmt. Demzufolge kann als Ausgangspartition das Ergebnis eines Verfahrens der iterativen Verbesserung gewählt werden. Meist wird allerdings als Ausgang die Partition gewählt, in der jeder Punkt der Punktmenge eine Klasse bildet. In diesem Fall besteht die Ergebnisklassifikation aus genau n-1 Partitionen, wenn n die Anzahl der Punkte ist. In der letzten Partition der Folge sind alle Punkte in einer Klasse vereinigt. A O

t

i 6

B o—t 9 j C oD O£ o p

0

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J

9

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Abb,

J7

Beispiel für ein Dendrogramm

Das Ergebnis eines solchen Verfahrens läßt sich sehr anschaulich in einem Dendrogramm darstellen. Das ist ein baumartiger Graph, dessen Knoten den Klassen entsprechen und dessen Kanten die Klassenverschmelzungen widerspiegeln, wobei ihren Längen der jeweilige Homogenitätsverlust entspricht. Ausgehend von sechs Punkten A, B, C, D, E und F wird dies in Abbildung 17 dargestellt. Vielfach werden agglomerative Verfahren aber auch bereits vor dem Erreichen der Endpartition abgebrochen, um nur die dabei entstandene letzte Partition als Ergebnisklassifikation zu verwenden oder sie als Anfangsklassifikation für ein iteratives Verfahren zu nutzen. Natürlich muß ein solches Vorgehen ebenso wie die gesamte Modellwahl durch begründete Annahmen über die nachzuweisende Typologie des Objektbereichs gestützt sein, ansonsten verlieren sich derartige Clusteranalysen im rein Spekulativen.

2.11. Auswahlproblematik (Objektauswahl, Stichproben) 2.11.1. Einordnung der Auswahlproblematik in den Forschungsprozeß Bereits bei der Konzipierung eines Forschungsvorhabens, spätestens jedoch bei der Konkretisierung eines Forschungsproblems steht das Forscherkollektiv vor

Auswahlproblematik, Bestandteile

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der Aufgabe, Entscheidungen über das Forschungsobjekt bzw. die Forschungsobjekte zu treffen. Forschungsobjekte der Soziologie können Personen (Mengen von Individuen), soziale Aggregationen (Haushalte, Arbeitskollektive, Stimmbezirke, Betriebe, Dörfer etc.) und Verhaltensakte bzw. Objektivationen des Verhaltens (Verkehrsunfälle, Zeitungsartikel, Straftaten, Kunstwerke etc.) sein. Erkenntnisse werden in der Regel nicht aus der Gesamtheit der Forschungsobjekte, sondern aus einer Stichprobe gewonnen. Weiter sind Erhebungseinheiten bzw. Merkmalsträger zu bestimmen. Die damit zusammenhängenden Fragen werden im folgenden als Auswahlproblematik bezeichnet. Die Art und Weise, wie die bei der Auswahlproblematik anstehenden Fragen zu lösen sind, hängt natürlich in erster Linie vom konkreten Forschungsproblem und der Zielstellung der Untersuchung ab, sie wird zum anderen aber auch durch praktische wie personelle, materielle (finanzielle), zeitliche und organisatorische Gegebenheiten beeinflußt (vgl. Abschnitte 2.3. und 3.1.). Die Auswahlproblematik betrifft Kernfragen bei der Anlage einer empirischen soziologischen Untersuchung. Ihre Bewältigung hat nicht nur Rückwirkungen auf die ganze weitere Vorgehensweise, sondern — Wissenschaftlichkeit und Exaktheit in den anderen Phasen der empirischen Forschung vorausgesetzt — maßgeblichen Einfluß auf den Erfolg des Forschungsvorhabens. Das bezieht sich nicht nur auf den wissenschaftlichen Ertrag der Forschung, die Reichweite und Exaktheit der Ergebnisse, sondern ebenso auch auf die Effektivität der Vorgehensweise und die Aktualität der Resultate. Mängel, die in dieser Phase der Forschung auftreten, lassen sich in späteren Forschungsstufen auch durch ausgeklügelte Auswertungsverfahren nicht mehr beheben.

2.11.2. Bestandteile der Auswahlproblematik Die Auswahlproblematik darf nicht zur Routineangelegenheit von Spezialisten degradiert werden, sondern kann nur dann erfolgreich gemeistert werden, wenn sie als integraler Bestandteil des gesamten Forschungsvorhabens verstanden wird und ihre Bewältigung wissenschaftlich fundiert erfolgt. Ihre sachgemäße Lösung ist eine notwendige (aber keine hinreichende) Bedingung für den Erfolg der Forschung und m u ß — anknüpfend an eine tiefgründige theoretische Analyse des Forschungsproblems — in enger Zusammenarbeit von Fachwissenschaftlern (Soziologen) und Statistikern (Spezialisten auf dem Gebiet der mathematischen Statistik) erfolgen. Obwohl die für ein konkretes Forschungsvorhaben erarbeitete Lösung der Auswahlproblematik nicht schematisch auf ein anderes Forschungsvorhaben übertragen werden darf, lassen sich trotzdem bestimmte Algorithmen (Stufenfolgen zu beantwortender Frageketten) für die Vorgehensweise nennen. Der exakten definitorischen Bestimmung des benutzten Begriffsapparates kommt dabei vor allem deshalb eine entscheidende Bedeutung zu, weil einige im Kontext

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Forschungsprogramm

der Auswahlproblematik wichtige Begriffe umgangssprachlich gebunden bzw. mit jeweils verschiedenartigen Inhalten belegt sind. Die im Rahmen der Auswahlproblematik zu klärenden Fragen sollen wie folgt zusammengefaßt werden (wobei jede Frage von der Beantwortung anderer Fragen abhängt und eine Frage im allgemeinen mehrere zu beantwortende Fragen nach sich zieht): Erstens: Die Gesamtheit der Forschungsobjekte muß klar definiert werden. Zweitens: Es ist zu klären, ob die Forschungsobjekte einer empirischen Untersuchung als solche direkt Merkmalsträger sind, oder ob als „Stellvertreter" der Forschungsobjekte bestimmte Untersuchungsobjekte als unmittelbare empirisch erfaßbare Merkmalsträger oder Analyseelemente festgelegt werden müssen. Drittens: Es muß der für das Forschungsvorhaben relevante Bereich, der Untersuchungsbereich, als der Bereich ausgesondert und abgegrenzt werden, aus dem die Untersuchungsobjekte (entweder total oder teilweise) einbezogen werden und für den die Ergebnisse unmittelbare Gültigkeit haben sollen. Viertens: Es ist festzulegen, ob alle Beobachtungseinheiten des Untersuchungsbereiches einbezogen werden, also eine Totalerhebung durchgeführt wird, oder ob nur ein Teil der Untersuchungsobjekte in die Untersuchung einbezogen wird, und somit eine Teilerhebung durchgeführt wird. Fünftens: Wenn man sich für eine Teilerhebung entschieden hat — und das ist in der überwiegenden Mehrheit empirischer soziologischer Untersuchungen der Fall — ist ein konkreter Auswahlplan zu erarbeiten, der auf alle sich damit ergebenden Fragen Antwort gibt und der die für die Zielstellung der Untersuchung erforderlichen und unter Berücksichtigung der konkreten Bedingungen geeigneten Schritte zur konkreten Vorgehensweise enthalten muß.

2.11.3. Bemerkungen zur Objektauswahl Auf die soeben aufgeworfenen Fragen nach der Bestimmung der (bzw. des) Forschungsobjekteis), der Identität von Forschungsobjekt und Untersuchungsobjekt und der Festlegung des Untersuchungsbereiches kann hier nur andeutungsweise eingegangen werden. Diese drei genannten Fragenkomplexe hängen miteinander eng zusammen und sind letztlich in Abhängigkeit von der Problemstellung einer Untersuchung, dem Forschungsgegenstand, der Zielstellung und dem Untersuchungstyp zu beantworten, bzw. ihre Beantwortung ist zu begründen. Je größer die Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Forschungsobjekte sind, desto deutlicher zeigen sich Unzulänglichkeiten in der bisherigen theoretischen Durchdringung des Forschungsvorhabens, bzw. desto größer ist die Notwendigkeit, das Forschungsproblem weiter zu konkretisieren. Gehen wir davon aus, daß die Forschungsobjekte bestimmte Eigenschaften oder Merkmale aufweisen, die (bzw. deren Ausprägungen oder Verteilungen) untersucht oder gemessen werden sollen, so sind, wie eingangs bereits erläutert, zumindest drei verschiedene Objekttypen konstatierbar, nämlich:

Objektauswahl

177

— eine Menge von Einzelindividuen, — kollektive Objekte (soziale Gruppen, Organisationen, statistische Gruppen, Klassen und ganze Gesellschaften) und — Erscheinungen und Objektivationen sozialen Verhaltens. Obwohl es der Soziologe also durchaus mit unterschiedlichen Objekttypen zu tun haben kann, sind innerhalb einer empirischen Untersuchung (genauer: einer Teilerhebung) jedoch im allgemeinen nur bezüglich eines Objekttyps gleichermaßen zuverlässige Aussagen erreichbar.117 Schwierigkeiten ergeben sich insbesondere bei sehr komplexen Forschungsobjekten. Hier müssen häufig Untersuchungsobjekte als „Stellvertreter" der ursprünglich intendierten Forschungsobjekte bestimmt werden und zwar so, daß ihre „Stellvertreterrolle" wissenschaftlich begründet ist und eine eindeutige Zuordnung von Individuen bzw. Erhebungseinheiten zu diesen Untersuchungsobjekten gestattet. 118 Die mit einer solchen Vorgehensweise verbundenen Konsequenzen darf man jedoch auch bei der Interpretation der Ergebnisse nicht aus dem Auge verlieren. Nur wenn Klarheit darüber herrscht, was unter Forschungsobjekten und Untersuchungsobjekten zu verstehen ist, kann die empirische Interpretation nicht nur von mathematisch-statistischen Gesichtspunkten aus begründet vorgenommen werden, sondern auch die inhaltlich-theoretische Relevanz gesichert werden. Im Falle der Nichtidentität von Forschungs- und Untersuchungsobjekt bedarf es deshalb sorgfaltiger theoretischer Überlegungen. 119 In jedem

117

118

119

So können beispielsweise die Ergebnisse einer Teilerhebung nicht für Individualpersonen und Familien zugleich repräsentativ sein. Statt des Forschungsobjektes „Intelligenzangehörige" könnte man beispielsweise als Untersuchungsobjekt „Hoch- und Fachschulkader" betrachten, oder man könnte anstelle des globale« Objektes „Arbeiterklasse" bestimmte genau definierte Gruppen, deren Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse außer Zweifel steht, in die Untersuchung einbeziehen. — Lenin schenkte der Aufgabe des Definierens der Untersuchungsobjekte große Beachtung. In seiner Arbeit „Die Entwicklung der maschinellen Großindustrie" (vgl. W. I. Lenin, Werke, Bd. 3, Berlin 1974, S.-466, 469) stellt er fest: „ D a es keinerlei genaue Definition des Begriffs ,Fabrik und Werk gibt, wenden die Behörden . . . diesen Terminus auf die allerverschiedenste Weise an ... Man kann sich vorstellen, welchen Begriff von der Wirklichkeit eine solche Statistik gibt." Dafür gibt es einen weiteren Grund. Das direkte Messen globaler Eigenschaften oder Merkmale als solche, die sich nur aus der Wahrnehmung des globalen Objektes insgesamt feststellen lassen (wie etwa die Eigenschaften unserer Arbeiterklasse, die herrschende, machtausübende, führende Klasse zu sein) ist zumindest bisher methodisch gesehen nur schwer zu befolgen (vgl. A. Schräder, Einführung in die empirische Sozialforschung, Stuttgart—Berlin(West)—KölnMainz 1971, S. 41). Ferner muß beachtet werden, daß man in Abhängigkeit vom Forschungsthema ein und dasselbe Objekt sowohl als kollektives Objekt als auch als Gesamtheit von Einzelpersonen betrachten kann.

178

Forschungsprogramm

Falle muß eindeutig entscheidbar sein, ob ein einzelner Merkmalsträger zur Gesamtheit der definierten Untersuchungsobjekte gezählt werden kann oder nicht. In einem weiteren Arbeitsschritt ist es im allgemeinen erforderlich, die Untersuchungsobjekte betreffs ihrer Zugehörigkeit zu einem nach sozialen, territorialen, administrativen, wirtschaftsstrukturellen oder anderen Gesichtspunkten gebildeten oder zu bildenden Bereich abzugrenzen bzw. festzulegen. Das Auswählen dieses Untersuchungsbereiches als jenen Bereich, in dem das Typische des interessierenden sozialen Sachverhaltes am besten untersucht und interpretiert werden kann und der für die Realisierung der Zielstellung der Untersuchung am geeignetsten ist, ist eine theoretisch bedeutsame Aufgabe. Hier gaben die Klassiker des Marxismus-Leninismus lebendigen Anschauungsunterricht. Sie wählten ihre Untersuchungsbereiche so aus, daß die auf exakten empirischen Analysen aufgebauten wissenschaftlichen Verallgemeinerungen und Theorien eine große Reichweite hatten und haben. Hätte beispielsweise Marx die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse zur damaligen Zeit nicht in England erforscht — und Marx hat begründet, warum er es gerade dort tat — 120 , hätte in seinem Hauptwerk „Das Kapital" die Illustration der theoretischen Entwicklung gefehlt. Mit der inhaltlich-theoretischen Begründung, warum gerade dieser ausgewählte Untersuchungsbereich für die sich aus dem Forschungsproblem ergebenden, uns interessierenden Sachverhalte und zu überprüfenden Hypothesen der entscheidende ist, ist zugleich zu klären, inwieweit der Untersuchungsbereich geeignet ist, um die für ihn ermittelten gültigen Aussagen auch für andere Bereiche verallgemeinern zu können. Einen hohen Grad der Gültigkeit der Ergebnisse für den Untersuchungsbereich vorausgesetzt, beeinflußt die fundiert erfolgte Festlegung des Untersuchungsbereiches maßgeblich die Reichweite der Ergebnisse einer Untersuchung. Natürlich wird die Wahl des Untersuchungsbereiches auch durch methodische Erfordernisse (z. B. die Bindung einer Befragung an Betriebe wegen durchzuführender Arbeitsplatzanalysen) und durch forschungsorganisatorischpraktische Gegebenheiten (Diese reichen von der Nutzung vorhandener statistischer Unterlagen bis hin zur Interessiertheit der Leiter an den Forschungsergebnissen und der damit verbundenen leitungsmäßigen Unterstützung seitens der Betriebe.) beeinflußt. Die Gesamtheit aller Merkmalsträger (Individuen, Elemente, Beobachtungseinheiten) des Untersuchungsbereiches bildet die sogenannte Grundgesamtheit. Wenn bei soziologischen Untersuchungen unklar bleibt, auf welche Grundgesamtheit(en) sich die vorgefundenen bzw. ermittelten Ergebnisse beziehen, sind zumeist waghalsige und unter Umständen ungerechtfertigte Schlußfolgerungen nicht zu vermeiden. Speziell die gewonnenen quantitativen Angaben einer Unter120

Vgl. K. Marx, Das Kapital, Erster Band, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 12 (Vorwort).

Total- oder Teilerhebung

179

suchung können in ihren konkreten Ausprägungsgraden zwar für die zugrundeliegende Grundgesamtheit (und auch dafür nur unter bestimmten Voraussetzungen), nicht aber darüber hinaus (mathematisch beweisbare) Gültigkeit haben. Über den definierten Untersuchungsbereich hinausgehende Interpretationen (verbaler Art) und Schlußfolgerungen sind vom Forscherkollektiv zu begründen und zu verantworten.

2.11.4. Total- oder Teilerhebung Wie bereits erwähnt wurde, gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten, die interessierenden Sachverhalte in einer Grundgesamtheit zu untersuchen, nämlich entweder durch eine Totalerhebung oder durch eine Teilerhebung. Totalerhebung bedeutet, alle Elemente (Merkmalsträger) der Grundgesamtheit in die Erhebung einzubeziehen; Teilerhebung bedeutet, einen Teil der Merkmalsträger für die Informationssammlung auszuwählen. Bei einer Reihe von Untersuchungen, insbesondere „im ökonomischen Bereich ist die sachliche und regionale Gliederung des Untersuchungsprogramms infolge des Informationsbedürfnisses der verschiedenen Ebenen so tief (zum Beispiel Ergebnis für die Bezirke, Kreise und Gemeinden), daß eine totale Untersuchung aller Einheiten der Gesamtheit unumgänglich ist" 1 2 1 . Auch bei kleineren Grundgesamtheiten ist es oft zweckmäßiger, eine Totalerhebung durchzuführen als ein kompliziertes Auswahlverfahren anzuwenden. Eine solche Totalerhebung ist jedoch nicht immer möglich (theoretisch und praktisch) und nicht immer zweckmäßig. Insbesondere bei großen Grundgesamtheiten erfordern Totalerhebungen umfangreiche materielle Mittel (personell und finanziell), einen hohen Zeitaufwand und gefährden somit unter Umständen die Aktualität der Ergebnisse, verbieten ein Erfassen sehr vieler Eigenschaften bzw. Merkmale und beeinträchtigen damit die Tiefgründigkeit der Analyse und begünstigen schließlich das Entstehen vieler oft nur schwer abschätzbarer systematischer Fehlermöglichkeiten. Demgegenüber sind Teilerhebungen oft nicht nur die einzige Möglichkeit, überhaupt empirische Erhebungen durchzuführen, sondern ihre Vorteile ergeben sich unmittelbar aus den Nachteilen von Totalerhebungen. Somit können Teilerhebungen zu hohem Niveau und großer Effektivität der Forschung beitragen. Nachteile bzw. Erschwernisse bei der Teilerhebung resultieren daraus, daß die Aussagen (eben weil nur ein Teil der Elemente der Grundgesamtheit einbezogen wird) mit einer gewissen (allerdings oft berechenbaren) Ungenauigkeit behaftet sind, daß bei der Tiefengliederung (bzw. der Untergliederung) des Materials eine bestimmte Grenze besteht und daß die Erarbeitung eines Planes, nach dem die

121

H. Schwarz, Stichprobenverfahren, Berlin 1975, S. 15.

13

Soziolog. Kürschling

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Forschungsprogramm

Auswahl der Elemente aus der Grundgesamtheit erfolgen soll, oft mit einem relativ hohen Organisationsaufwand verbunden ist. Obwohl bei bestimmten Forschungsproblemen die Totalerhebung durchaus ihre Berechtigung hat, liegt die Bedeutung von Teilerhebungen für die empirische soziologische Forschung generell auf der Hand. „Alles in allem sind Teilerhebungen schneller, billiger, unter Umständen informativer, dem Forschungsziel angemessener zu realisieren." 1 2 2 Während mit der Entscheidung für eine Totalerhebung die Auswahlproblematik theoretisch bewältigt ist, hängt bei einer Teilerhebung die Qualität der statistischen Information, ihre Objektivität, Genauigkeit und Verallgemeinerungsfahigkeit natürlich weitgehend von der konkreten Vorgehensweise, von der Art und Weise der Auswahl der zu betrachtenden Elemente und auch vom Umfang der aus der G r u n d gesamtheit einbezogenen Elemente ab.

2.11.5. Grundtypen von Teilerhebungen N a c h der Art des Auswählens der n Untersuchungselemente aus den N Elementen der Grundgesamtheit lassen sich die verschiedenartigen Verfahren bzw. Vorgehensweisen zwei großen Gruppen zurechnen, nämlich erstens: bewußte Auswahlverfahren (oder gezielte, willkürliche Auswahl, Auswahl nach Gutdünken u. a.) und zweitens: wahrscheinlichkeitstheoretische Auswahlverfahren. Obwohl es innerhalb dieser beiden Gruppen ein Spektrum verschiedener Abstufungen bzw. Modifikationen gibt, lassen sich die Bildungsvorschriften für die zu erhebenden Elemente für jedes Verfahren dieser beiden G r u p p e n auf jeweils ein gemeinsames Grundprinzip zurückführen. Bewußte Auswahlverfahren Für die als bewußte Auswahlverfahren bezeichneten Verfahren der ersten G r u p p e besteht dieses Grundprinzip darin, daß mit Sachkenntnis gezielt solche Elemente in die Teilmenge einbezogen werden, „— die für das Untersuchungsziel von gravierender Bedeutung sind _ " 1 2 3 ; die die charakteristischen Merkmalsausprägungen der Elemente ihrer Grundgesamtheit haben, die für einen gegebenen Zweck als typisch angesehen werden (die beispielsweise den „ K e r n " einer sozialen G r u p p e bilden). Da jedoch bei diesen Verfahren die Auswahl der Merkmalsträger aus der Grundgesamtheit unter statistischem Aspekt letztlich nach subjektivem Ermessen 122

123

K.Starke/R.Ludwig, Auswahlverfahren, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, a. a. O., S. 231. H. Schwarz, Stichprobenverfahren, a. a. O., S. 16.

Teilerhebungen

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des Forschers (Kollektivs) erfolgt, werden diese Verfahren in der Statistik auch als willkürliche Verfahren bezeichnet. Obwohl das mit der Benennung verbundene Werturteil unter statistischem Gesichtspunkt gerechtfertigt ist, darf der Wert dieser Verfahren für die soziologische Forschung jedoch nicht ausschließlich mit der „statistischen Elle" gemessen werden. Vor allem dann, wenn die Zielstellung der Untersuchung nicht notwendigerweise erfordert, bei der Auswertung die schließende Statistik anzuwenden, d. h. auch quantitativ gesicherte zuverlässige Schlüsse von der Teilmasse auf die Grundgesamtheit (Repräsentationsschlüsse) zu ziehen, wie das beispielsweise bei einer sogenannten Erkundungsforschung der Fall ist, haben die bewußten Auswahlverfahren ihre Berechtigung. Je besser es durch die Auswahl gelingt, mit der Teilmenge ein verkleinertes, aber möglichst wirklichkeitsgetreues Abbild der Grundgesamtheit zu erzeugen, desto zuverlässiger werden die Ergebnisse der Teilerhebung für die Grundgesamtheit sein. Mit diesen Verfahren können wesentliche und interessante Erkenntnisse gewonnen werden. Es können für diese Teilmenge statistische Kennziffern berechnet und interpretiert werden, es können Aussagen über die Wirkung bestimmter Faktoren getroffen werden und dergleichen mehr. Aus den so gewonnenen Ergebnissen sind aber keine sicheren Schlüsse auf quantitative Verteilungen betreffs der untersuchten Merkmale in der Grundgesamtheit zulässig. „Die Ergebnisse der Untersuchung gezielt ausgewählter Einheiten charakterisieren die (Teil)Menge dieser ausgewählten Einheiten und beschränken sich in ihrer Aussage auf eben diese Menge,"124 Der Erkenntniswert dieser Verfahren ist von Verfahren zu Verfahren (Einzelfallstudie bis Quotenauswahlverfahren) durchaus unterschiedlich und „liefert oft gut angenäherte erste Lagebeurteilungen und brauchbare Durchschnittswerte, es [das Quotenauswahlverfahren] schließt auch genaue Ergebnisse nicht völlig aus" 1 2 5 . Nicht zuletzt wegen der oft hinreichenden Genauigkeit von Ergebnissen hat das soeben genannte Quotenverfahren in der Soziologie eine relativ große Verbreitung gefunden. Bei diesem Verfahren wird durch die Vorgabe von Pröportionen für wichtige Merkmale, die mit dem Forschungsgegenstand möglichst eng korrelieren, die Ermessensentscheidung betreffs der Auswahl der Elemente eingeschränkt. Die Quoten werden dabei so vorgegeben, daß die berücksichtigten Quotenmerkmale in die Teilmenge maßstabsgerecht gegenüber der Grundgesamtheit gelangen. Zwar haben die (Feld-)Forscher dann in der Tat nur innerhalb der vorgeschriebenen Quoten die Auswahlmöglichkeit (wenn etwa vorgeschrieben ist, sechs Frauen und vier Männer einzubeziehen), trotzdem stellt die Auswahl letztlich eine subjektive Ermessensentscheidung dar. Obwohl mit Anwendung dieses Verfahrens bisweilen recht brauchbare Ergebnisse erzielt wurden, sind dabei weder der Auswahlfehler berechenbar und muß folglich der Genauigkeitsgrad der Ergebnisse unbekannt 124 125

13*

Ebenda. K. Starke/R. Ludwig, Auswahlverfahren, a. a. O., S. 241.

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Forschungsprogramm

bleiben, noch darf strenggenommen die schließende Statistik angewandt werden. Der entscheidende Einwand besteht darin, daß dieses Verfahren aktuelle Kenntnisse über die Verteilung von Quotenmerkmalen voraussetzt, diese Kenntnisse aber zumeist nicht vorhanden sind 126 . Da die wichtigsten der hier als Gruppe der bewußten Auswahlverfahren bezeichneten Vorgehensweisen unter den Namen monographische Auswahl, Auswahl aufs Geratewohl, Auswahl nach Gutdünken, bewußte Auswahl, konzentrierte Auswahl, gezielte Auswahl und Quotenverfahren in der Literatur 127 ausführlich beschrieben sind, sowie ihre Erkenntnismöglichkeiten und Daseinsberechtigung erörtert werden, erübrigen sich hier dazu weitere Ausführungen. Zum Wesen wahrscheinlichkeitstheoretischer Auswahlverfahren Der entscheidende Unterschied der wahrscheinlichkeitstheoretischen Auswahlverfahren gegenüber den bewußten Auswahlverfahren besteht darin, daß hier der Forscher letztlich keinen Einfluß darauf hat, w elche der Elemente aus der Grundgesamtheit konkret in die Teilmasse gelangen. Diese Auswahl erfolgt hier zufällig und ist somit frei von subjektiven Ermessensentscheidungen. Zufällig im statistischen Sinne bedeutet, daß jedes Element der Grundgesamtheit eine bestimmte berechenbare von Null verschiedene Chance oder Wahrscheinlichkeit hat, in die Auswahl zu gelangen. Dieses zufällige Herausgreifen, was vom Zufall im umgangssprachlichen Sinne strikt zu unterscheiden ist (wo Zufall so viel wie blindlings, willkürlich aufs Geratewohl oder was gerade greifbar ist, bedeutet), ist eine notwendige Voraussetzung für die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die entscheidende bei der Zufallsauswahl wirkende wahrscheinlichkeitstheoretische Gesetzmäßigkeit kommt im Gesetz der großen Zahlen zum Ausdruck. Dieser Grenzwert lautet: „Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die relative Häufigkeit eines Ereignisses A um mehr als eine beliebig vorgegebene Größe E (E < 0) von der Wahrscheinlichkeit P (A) dieses Ereignisses abweicht, wird verschwindend klein,

126

Zusätzliche Schwierigkeiten ergeben sich daraus, daß die Quotenmerkmale, die ja mit dem Forschungsgegenstand möglichst eng korrelieren sollen, gerade für sogenannte „Mehrzweckuntersuchungen" oft nur schwer zu finden bzw. gerade ihre Einbeziehung zu begründen sind, daß die Elemente den Quotenmerkmalen leicht und eindeutig zuordenbar sein müssen, daß aktuelle Unterlagen über die Verteilung der Quotenmerkmale vorhanden sein müssen und daß mit der gleichzeitigen Einbeziehung mehrerer Quotenmerkmale die praktische Realisierung der Auswahl komplizierter wird.

127

Vgl. z. B. Lehrmaterial für das Fernstudium, Allgemeine Statistik, Karl-Marx-Universität Leipzig, 3/1968/69, S. 7— 11; E. K. Schenck, Die Anwendung von Repräsentativbefragungen, Köln 1956, S. 76—87; R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 3a, 2. Teil, 3., umgearb. u. erweit. Aufl., Stuttgart 1974, S. 1—22 u. a.

Wahrscheinlichkeitstheoretische Auswahlverfahren

183

wenn die Anzahl der Versuche unendlich groß wird." 1 2 8 Aus dem Wirken dieses Gesetzes folgt somit, daß bei genügend großer Anzahl von Versuchen (Erhebungseinheiten) von den Besonderheiten der konkreten zufalligen Erscheinung abstrahiert wird und das allen solchen Erscheinungen Typische zum Ausdruck kommt. Das Grundprinzip der so erfolgenden Auswahl läßt sich (für den einfachsten Fall) anschaulich am sogenannten Urnenmodell verdeutlichen. 129 Danach stellt man sich stellvertretend für die Elemente der Grundgesamtheit Zettel oder Kugeln, in einer Urne deponiert, gut durchgemischt, vor. Durch das zufallige Herausgreifen einer genügend großen Anzahl von Kugeln hat jedes Element der Grundgesamtheit die gleiche Chance, in die Auswahl zu gelangen, und es lassen sich somit Rückschlüsse auf die Proportionen in der Gesamtheit (etwa den Anteil der schwarzen Kugeln) ziehen. Dieser Schluß vom Teil aufs Ganze wird auch als Repräsentationsschluß bezeichnet. Für das Anwenden dieser Modellvorstellung auf Personen bzw. Kollektive als Untersuchungsobjekte muß diese Zufallsauswahl durch die Erarbeitung eines Auswahlplanes und die Anwendung einer geeigneten Auswahltechnik realisiert werden. Dabei darf der statistische Zufall, nach dem die Auswahl der Elemente bei diesen Auswahlverfahren letztlich vorgenommen wird, nicht als Alternative zu einer bewußten Auswahl so interpretiert werden, daß die Zufallsauswahl quasi einem Verzicht auf das Anwenden theoretischer Vorkenntnisse gleichkäme. Vielmehr kommen hier die theoretischen Vorkenntnisse in einer fundierten Objektwahl bis hin zur wissenschaftlich begründeten Fixierung des Untersuchungsbereiches zum Tragen, und zugleich wird aus der Berechtigung der Anwendung wahrscheinlichkeitstheoretischer Ableitungen gegenüber den bewußten Auswahlverfahren eine eine Reihe wichtiger Vorzüge zusätzlich wirksam. Der entscheidende Vorzug, den die wahrscheinlichkeitstheoretischen Auswahlverfahren gegenüber den bewußten Auswahlverfahren aufweisen, ist es, daß sie gestatten, repräsentative Teilmassen, die auch als Zufallsstichproben bezeichnet werden, zu erzeugen. Als repräsentative Teilmasse wird dabei eine solche Teilmasse bezeichnet, die ein zwar verkleinertes, aber wirklichkeitsgetreues Abbild der Grundgesamtheit darstellt und für die der Auswahlfehler angebbar ist. Daraus lassen sich unmittelbar folgende Vorzüge von repräsentativen Teilmassen gegenüber bewußt ausgewählten Teilmassen ableiten. Erstens: Zufallsstichprobenergebnisse gestatten zuverlässige Schlüsse vom Teil aufs Ganze, sogenannte Repräsentationsschlüsse. „Zuverlässig" ist dabei so zu 128

129

R. Storm, Wahrscheinlichkeitsrechnung, mathematische Statistik und statistische Qualitätskontrolle, Leipzig 1965, S. 21. Ausführliche Darstellungen dazu: vgl. H. Schwarz, Stichprobenverfahren, a. a. O.; K. Starke/ R. Ludwig, Auswahlverfahren, a. a. O., S. 226—251; G. Clauß/H. Ebner, Grundlagen der Statistik, a. a. O.

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Forschungsprogramm

verstehen, d a ß die G r ö ß e des Intervalls angebbar ist, in dem ein bestimmter aus der Zufallsstichprobe ermittelter Wert in der Grundgesamtheit mit einer bestimmten Sicherheit liegen wird. Zweitens: Zufallsstichprobenergebnisse sind genauer, objektiver, indem sie durch subjektive Ermessensentscheidungen hervorgerufene G e f a h r systematischer Verzerrungen bei der Auswahl der P r o b a n d e n verhindern. Drittens: D e r Einsatz wahrscheinlichkeitstheoretischer Auswahlverfahren ist die Voraussetzung f ü r die Anwendung mathematisch-statistischer Testverfahren, die eine tiefergehende Analyse der Zufallsstichprobe gestatten. Der Genauigkeitsgrad der Ergebnisse ist d a n n bekannt. Viertens: Zufallsstichprobenergebnisse gestatten, weil sie die Bedingungen für die A n w e n d u n g der schließenden Statistik erfüllen, eine tiefgreifendere Analyse und fundiertere Erkenntnisse. Zugleich ist der Genauigkeitsgrad dieser Ergebnisse bekannt. Fünftens: D a s Vorliegen von Zufallsstichprobenergebnissen ist eine notwendige Bedingung f ü r die Vergleichbarkeit von Ergebnissen und stellt eine wertvolle sekundärstatistische Materialquelle dar. Sechstens: Z u r Erstellung des Auswahl planes sind nur bei einigen F o r m e n dieser Auswahlverfahren gewisse Kenntnisse über die Zusammensetzung der Grundgesamtheit erforderlich, und dadurch wird der Kreis der Anwendungsmöglichkeiten der Wahrscheinlichkeitsauswahlen beträchtlich erweitert. Wenn m a n zu diesen genannten Vorteilen die Vorzüge, die Teilerhebungen gegenüber Totalerhebungen insgesamt haben, dazurechnet (mit weniger A u f w a n d größere Aktualität der Ergebnisse), werden die mit den Zufallsstichprobenverfahren vorhandenen Möglichkeiten offensichtlich. Trotz der genannten Möglichkeiten, die sich aus repräsentativ angelegten Untersuchungen ergeben, dürfen einige Probleme nicht übersehen werden. Das Anwenden wahrscheinlichkeitstheoretischer Auswahlverfahren darf nicht z u m entscheidenden Kriterium für die methodologische Beurteilung einer Forschung gemacht werden, d e n n der Erfolg der F o r s c h u n g wird maßgeblich von der theoretischen Durchdringung des ganzen Forschungsprozesses bestimmt. Mit der durch Stichprobenverfahren erreichten Populationsrepräsentanz und wesentlichen Aspekten der Merkmalsrepräsentanz sind nicht alle Probleme der Datenrepräsentanz gelöst. Zufallsstichprobenverfahren lassen sich nicht auf alle soziologischen Forschungsprobleme anwenden und erweisen sich f ü r manche Sachverhalte als unzweckmäßig. Sie sind organisatorisch manchmal sehr aufwendig. Es besteht die Gefahr, d a ß durch d a s nicht konsequente Befolgen der Auswahlerfordernisse u n d durch Ausfalle bei der Erhebung Verzerrungen auftreten. Deshalb und weil eine Untersuchung nicht für verschiedene Objekttypen (etwa Arbeiter und Haushalte) zugleich repräsentativ sein k a n n , sollte auch mit dem bloßen Nennen des Begriffs „Repräsentativität" nicht automatisch der Anschein wissen-

Wahrscheinlichkeitstheoretische Auswahlverfahren

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schaftlicher Exaktheit verbunden werden. Letztlich muß davor gewarnt werden, die Repräsentativität einer Untersuchung mit ihrer Reichweite zu identifizieren. Während die Repräsentativität primär das Problem Stichprobe-Grundgesamtheit berührt, betrifft die Frage der Reichweite einer Untersuchung primär das Problem der Berechtigung der theoretischen Verallgemeinerung der Ergebnisse. Die genannten Einschränkungen können und sollen jedoch keinesfalls die Nützlichkeit wahrscheinlichkeitstheoretischer Auswahlverfahren für die Erhöhung des theoretischen Niveaus der soziologischen Forschung in Frage stellen. Die Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen ein Auswahlverfahren der einen Klasse einem solchen der anderen Klasse vorzuziehen ist, hängt vom Zusammenwirken vieler Faktoren, letztlich jedoch vom Forschungsgegenstand, den Forschungsobjekten, dem Typ der Forschung, den Forschungszielen und von den praktischen Gegebenheiten ab. Im richtigen Verständnis des Repräsentativitätsbegriffes und seiner Relevanz für ein konkretes Forschungsvorhaben kulminieren alle Fragen nach den Vor- und Nachteilen der beiden Klassen von Teilerhebungen.

2.11.6. Arten wahrscheinlichkeitstheoretischer Auswahlverfahren Die Stichprobentheorie unterscheidet zwischen einfachen und komplexen wahrscheinlichkeitstheoretischen Auswahlverfahren (AV), wobei die komplexen in die geschichteten und mehrstufigen AV unterteilt werden. In der Fachliteratur erfolgt die sachlogische Herleitung des erforderlichen Formelapparates häufig der Einfachheit halber am Modell der einfachen Zufallsauswahl. Die einfache oder uneingeschränkte Zufallsauswahl Wie bereits herausgearbeitet wurde, sind der Zufallscharakter der betrachteten Ereignisse ebenso wie der Bezug auf Massenerscheinungen (d. h. das Betrachten einer hinreichend großen Anzahl von Fällen bzw. Einbeziehen von Untersuchungselementen) notwendige Bedingungen für das Wirken des Gesetzes der großen Zahl und der Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Mit dem Urnenmodell, bei dem man sich die N Elemente der Grundgesamtheit als Kugeln oder Zettel in einer Urne deponiert vorstellt, die gut durchgemischt sind, und bei dem dieser Urne im hinreichenden Umfang die n Kugeln zufallig (d. h. wahllos) entnommen werden, sind diese notwendigen Bedingungen erfüllt. Es hat somit bei dieser Modellvorstellung, und das ist ein Charakteristikum der reinen, einfachen bzw. uneingeschränkten Zufallsauswahl, jedes Element die gleiche von Null verschiedene Chance (oder Wahrscheinlichkeit), in die Auswahl zu gelangen. Die relative Häufigkeit p der uns interessierenden Eigenschaften (z. B. der Anteil der roten Kugeln in der Urne) wird unter diesen Versuchsbedingungen in der

186

Forschungsprogramm

Stichprobe nur wesentlich vom wahren Wert in der Grundgesamtheit (er sei hier mit P bezeichnet) abweichen. Anders betrachtet: Der Auswahlfehler e = P — p kann durch die Vergrößerung des Umfanges n der Stichprobe innerhalb bestimmter Grenzen reduziert werden. Auf diese Überlegung werden wir später zurückkommen. Zunächst wollen wir der Frage nachgehen, wie, mittels welcher Technik, diese Modellvorstellung in der Praxis anwendbar wird. Auswahltechniken Die einfache (reine oder uneingeschränkte) Zufallsauswahl wird mittels verschiedener Auswahltechniken durchgeführt. Die Auswahltechniken stellen praktikable Vorgehensweisen zur Realisierung des Urnenmodells, zur Gewährleistung des Zufallsprinzips bei der Stichprobenauswahl dar. Sie müssen die Erfordernisse des Urnenmodells mit den praktischen Gegebenheiten in Übereinstimmung bringen. Das Vorhandensein dieser Übereinstimmung stellt sich nicht automatisch ein, sondern muß von Fall zu Fall geprüft werden und zur Wahl der entsprechend geeigneten Auswahltechnik führen. Die praktische Auswahl des Untersuchungselements aus der Grundgesamtheit muß dem Ziehen der Kugeln im Urnenmodell entsprechen, um die „Chancengleichheit" der Elemente für die Auswahl in die Stichprobe zu sichern. Das kann sowohl mit Hilfe direkter Zufallstechniken als auch durch systematische Auswahltechniken erreicht werden. Von den direkten Zufallstechniken sind Losen, Würfeln und die Anwendung von Zufallszahlentabellen (Urnen auf Vorrat) am gebräuchlichsten. Die systematischen Auswahltechniken setzen das Vorhandensein von Unterlagen voraus, in denen die Elemente der Grundgesamtheit erfaßt (Listen oder Karteikarten) und so angeordnet sind, daß das Anordnungsprinzip nicht mit den Untersuchungsmerkmalen oder dem Auswahlmechanismus korreliert. Wenn das nicht beachtet wird, werden im Sinne der Zielsetzung Stichproben erzeugt, welche die Grundgesamtheit nicht ihrer tatsächlichen Zusammensetzung entsprechend abbilden. Die bekanntesten dieser systematischen Auswahltechniken sind: Erstens: Die eigentliche systematische Auswahltechnik (nach ausgelostem Start gelangen die notwendigen n Elemente in jeweils gleichen Abständen in die StichTV probe, indem jedes m-te, 2 w-te, 3 m-te etc. Element — mit m = — ausgelost — wird). Zweitens: Das Geburtstagsverfahren (die Stichprobe wird aus all den Personen gebildet, die an einem vorgegebenen Tag oder an einem von einigen vorgegebenen Tagen ohne Berücksichtigung des Jahres Geburtstag haben). Drittens: Die Auswahltechnik nach Anfangsbuchstaben (alle Personen, deren Name mit einem vorgegebenen Buchstaben oder mit einem von mehreren vorgegebenen Buchstaben beginnt, bilden die Stichprobe).

Wahrscheinlichkeitstheoretische Auswahlverfahren

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Viertens: Die Endzifferntechnik (aus einer durchnumerierten Kartei werden all jene mit einer (oder zwei) bestimmten Endziffer(n) ausgewählt). In der Fachliteratur werden diese und weitere Auswahltechniken behandelt. 130 Sie sind als genau einzuhaltende Vorgehensvorschriften bei der Erstellung der Stichprobe zu verstehen. Nicht jede Auswahltechnik ist für jeden zu erforschenden Sachverhalt brauchbar. Dafür gibt es sowohl inhaltliche als auch organisatorische Gründe. Fehler in der Anwendung der Auswahltechniken führen letztlich dazu, daß aus der esoteren Zufallsdefinition des Statistikers, die für die Wirksamkeit der zugrunde liegenden Modellvorstellung entscheidend ist, die umgangssprachlich gebundene Zufallsinterpretation zum Tragen kommt und somit aus dem ursprünglichen konzipierten wahrscheinlichkeitstheoretischen Zufallsauswahlverfahren ein Vorgehen entsteht, bei dem die Auswahl nach rein subjektiven Gesichtspunkten vorgenommen wird; das ist auf Grund der damit verbundenen Fehlerquellen für die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen undiskutabel. Eine solche Situation ergibt sich beispielsweise dann, wenn die Untersuchungselemente so „ausgewählt" werden, wie sie zum Zeitpunkt der Untersuchung gerade greifbar sind. Um zu verhindern, daß wegen Nichteinhalten der Modellvorstellungen — wenn auch unbewußt — ungerechtfertigte Schlußfolgerungen gezogen werden, müssen bei methodenkritischen Analysen auch die Auswahlverfahren und -techniken auf ihre Eignung untersucht werden. Bei soziologischen Erhebungen hat die reine Zufallsauswahl weniger praktische Bedeutung, weil sie meist nicht zu realisieren ist. Die ihr zugrunde liegende Modellvorstellung ist jedoch für das Verständnis der Wirksamkeit der wahrscheinlichkeitstheoretischen Auswahlverfahren und zur Begründung der Aussagefahigkeit von zufallsgesteuerten Auswahlverfahren überhaupt unentbehrlich. 131

Komplexe Zufallsauswahlen Eine Reihe von Gründen erschwert bzw. verhindert bei vielen soziologischen Erhebungen, bei denen Repräsentativität gefordert wird, die Anwendung von einfachen Zufallsauswahlen. Einige dieser Gründe sind folgende: 130

131

Vgl. H. Schwarz, Stichprobenverfahren, a. a. O., S. 20; W. Steglich, Der Plan für ein DDRrepräsentatives komplex-territoriales Auswahlverfahren..., Dissertation, Leipzig 1967, unveröff.; J. Jauch, Techniken des Stichprobenverfahrens, in: V. Stoljarow (Hrsg.), Zur Technik und Methodologie einiger quantifizierender Methoden der soziologischen Forschung, a. a. O., S. 82/83. Eine ausführliche Begründung der Aussagefahigkeit von zufallsgesteuerten Auswahlverfahren ist zu finden bei J. Jauch, Über Zweifel an der Aussagekraft von Stichproben, in: V. Stoljarow (Hrsg.), Zur Technik und Methodologie einiger quantifizierender Methoden der soziologischen Forschung, a. a. O., S. 62—64.

188

Forschungsprogramm

1. Die für den Auswahlvorgang erforderliche Voraussetzung des Vorhandenseins einer Auswahlgrundlage, in der jedes Element der Grundgesamtheit in irgendeiner Form erfaßt bzw. registriert ist, ist häufig nicht erfüllbar. 2. Selbst wenn es immer eine solche Auswahlgrundlage gäbe, wäre das Einbeziehen der nach einer reinen Zufallsauswahl ermittelten Beobachtungseinheiten oft mit unvertretbar hohen Reisekosten bzw. sonstigem Organisationsaufwand verbunden. 3. Unzweckmäßig ist eine einfache Zufallsauswahl immer dann, wenn (insbesondere bei strukturierten Gesamtheiten) außer für die Grundgesamtheit insgesamt auch für — nach einem (oder einigen) bestimmten Merkmal(en) gebildete — Gruppen der Gesamtheit Aussagen über bestimmte Kennziffern angestrebt werden, diese Gruppen aber unterschiedlich stark besetzt sind. Für solche Fälle, in denen die Anwendung der reinen Zufallsauswahl unmöglich oder unzweckmäßig ist, stellt die Stichprobentheorie komplexe Zufallsauswahlen bereit. Die Anwendung solcher komplexer wahrscheinlichkeitstheoretischer Auswahlverfahren erfordert und erzeugt eine wesentlich intensivere Zusammenarbeit zwischen Soziologen und Statistikern. Während bei der einfachen Zufallsauswahl jedes Element der Grundgesamtheit die gleiche Auswahlchance hat, haben hier die Elemente unterschiedliche, aber berechenbare Chancen, in die Auswahl zu gelangen. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal der einfachen gegenüber den komplexen Zufallsauswahlen besteht darin, daß im zweiten Falle die Beobachtungseinheiten erst nach einer Gliederung der Gesamtheit gezogen werden. Je nachdem, ob diese Gliederung dem Verhältnis einer Über- und Unterordnung entspricht oder aber nach nebengeordneten Teilgesamtheiten erfolgt, teilen wir die komplexen Zufallsauswahlen in geschichtete Zufallsauswahlen (Nebenordnung) und mehrstufige Zufallsauswahl verfahren (Über- und Unterordnung) ein. 132 Dabei können die komplexen Stichprobenverfahren in vielfaltiger Weise modifiziert werden. Geschichtete Stichproben verfahren Die Vorgehensweise bei geschichteten Auswahlen ist t o l ^ . i d e : Die Elemente der Grundgesamtheit werden zunächst nach einem oder einigen „geeigneten" Merkmalen, den Schichtungsmerkmalen, in sich gegenseitig ausschließende Teilgesamtheiten (Gruppen, Teilkollektive, Schichten) gegliedert. Bei der Schichtung ist zu beachten, daß jedes Element genau einer (also auch höchstens einer) Schicht ange-

132

Vgl. R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 3a, a. a. O., S. 31.

Wahrscheinlichkeitstheoretische Auswahlverfahren

189

hört. Sodann wird wie bei der einfachen Zufallsauswahl aus jeder Schicht die erforderliche Anzahl von Beobachtungseinheiten gezogen. 133 Die geschichteten Auswahlverfahren werden mit dem Ziel angewandt, die Schwierigkeiten, die beim Einsatz der einfachen Zufallsauswahl auf strukturierte Gesamtheiten auftreten, zu überwinden bzw. die Anwendung wahrscheinlichkeitstheoretischer Auswahlverfahren auf solche Gesamtheiten überhaupt zu ermöglichen. Der Einsatz von geschichteten Auswahlverfahren resultiert somit aus theoretischen Erwägungen und führt gegenüber der einfachen Zufallsauswahl zu einer im allgemeinen größeren Effektivität. Wir unterscheiden drei Hauptformen der geschichteten Auswahl: — die anteilig geschichteten Auswahlen, — die disproportional geschichteten Auswahlen und - r Auswahlen mit optimaler Schichtung. Anteilig geschichtete Auswahlen sind solche, bei denen jeder Schicht eine Anzahl von Beobachtungseinheiten entnommen wird, die dem Anteil dieser Schicht an der Grundgesamtheit entspricht. Voraussetzung ist natürlich, daß die Verteilungen der Schichtungsmerkmale in der Grundgesamtheit bekannt sind. Bei disproportionaler Schichtung hingegen verzerrt man bewußt die Schichtanteile gegenüber denen der Grundgesamtheit (indem man z. B. mit gleich großen Gruppen operiert). Das hat zwar einerseits zur Folge, daß bei der Charakterisierung der Grundgesamtheit bestimmte Umrechnungen erforderlich werden und damit bestimmte Risiken verbunden sind, andererseits jedoch auch für anteilmäßig kleine Gruppen detaillierte Auswertungsmöglichkeiten geschaffen werden und Vergleiche zwischen den Gruppen möglich sind. Die Auswahl mit optimaler Schichtung als dritte Hauptform geschichteter Auswahlverfahren ist zwar statistisch gesehen die interessanteste der drei genannten Formen, hat aber für soziologische Forschungen bisher kaum praktische Bedeutung erlangen können. Anliegen dieses Verfahrens ist es, die Schichtanteile so zu optimieren, daß der Standardfehler für die ganze Stichprobe ein Minimum ergibt. Auf dieses Verfahren soll hier nicht weiter eingegangen werden. 134 Um das Wesen der geschichteten Auswahlverfahren verständlich zu machen, muß man auf die diesen Verfahren zugrunde liegenden Urnenmodelle zurückkom133

Die geschichteten Auswahlverfahren dürfen nicht mit dem „Quoten-Sample" verwechselt werden. Zwar erfolgt bei beiden Verfahren eine Schichtung, während jedoch beim geschichteten Auswahlverfahren die Auswahl der Elemente letztlich nach wahrscheinlichkeitstheoretischen Erwägungen erfolgt und somit eine Form der Zufallsauswahlverfahren vorliegt, haben wir es beim Quotenauswahlverfahren, in dem die Auswahl letzten Endes willkürlich erfolgt, mit keinem wahrscheinlichkeitstheoretischen Auswahlverfahren zu tun.

134

Ausführliche Darstellung über dieses Verfahren ist z. B. zu finden bei: St. H. Wilsdorf, Auswahlverfahren in der Industriesoziologie, Diplomarbeit, Leipzig 1966, unveröff.

190

Forschungsprogramm

men. Bei der einfachen Zufallsauswahl ging man von einer Urne aus, in der die Kugeln gut durchgemischt waren, bevor gezogen wurde. Das Modell der geschichteten Auswahl kann man sich so vorstellen, daß die den Probanden (bzw. Elementen der Grundgesamtheit) entsprechenden Kugeln nach einem oder mehreren Merkmalen geschichtet auf zwei oder mehrere Urnen verteilt sind. Fungierte z. B. das Geschlecht als Schichtungsmerkmal, so hätte man in einer Urne alle Kugeln, die die weiblichen Beobachtungseinheiten vertreten und in einer anderen Urne alle die männlichen Beobachtungseinheiten vertretenden Kugeln. Je nach der Form der geschichteten Auswahl wären dann aus jeder der beiden Urnen proportionale (entsprechend der Grundgesamtheit) oder disproportionale (entweder gleiche oder ungleiche) Anteile „zufällig" zu entnehmen. Nun liegt auf der Hand, daß je homogener die Elemente je Schicht sind, desto weniger Elemente zur Charakteristik dieser Schicht benötigt werden. Im Extremfall (wenn die Zielstellung der Untersuchung nur auf ein Merkmal gerichtet ist und dieses Merkmal das Schichtungsmerkmal selbst ist bzw. wenn die zu untersuchenden Elemente betreffs des Untersuchungsmerkmals völlig homogen sind und die diese Elemente vertretenden Kugeln demzufolge in je einer Urne vereint sind) genügt es theoretisch, aus jeder Urne nur je eine Kugel zu entnehmen, um Schlüsse auf die anderen zu dieser Urne gehörigen Kugeln (bzw. Elemente) zu ziehen. Wenn auch dieser Extremfall für soziologische Forschungen irrelevant ist, so zeigt sich doch, daß der Homogenität der Schichten und somit der Wahl des Schichtungsmerkmals große Bedeutung zukommt. Bei vorgegebenem Auswahlumfang ist die „Effektivität" geschichteter Stichproben fast immer höher als bei der einfachen Wahrscheinlichkeitsauswahl, sie kann zumindest nicht darunter liegen. Dieser Effekt wird als „Schichtungseffekt" bezeichnet. Der Schichtungseffekt (d. h. die Erhöhung der Genauigkeit der Stichprobe durch Schichtung) ist um so größer, je homogener die Schichten in sich und je heterogener die Schichten untereinander sind (d. h. je kleiner die Streuung innerhalb einer jeden Schicht und je größer die Streuung zwischen den einzelnen Schichten bezüglich der Verteilung relevanter Eigenschaften ist). Daraus erwächst das Erfordernis, als Schichtungsmerkmale solche Merkmale auszuwählen, die mit den eigentlichen Erhebungsmerkmalen möglichst eng korrelieren. Mehrstufige Zufallsauswahlverfahren Für solche Fälle, in denen der Untersuchungsbereich sehr groß ist und die Beobachtungseinheiten über ein großes Territorium (beispielsweise die ganze DDR) verteilt sind, stellt die Stichprobentheorie die mehrstufigen Wahrscheinlichkeitsauswahlen bereit. Diesem Verfahren liegt folgendes Prinzip zugrunde: Wurden bei einer einfachen Wahrscheinlichkeitsauswahl die Auswahleinheiten, die dort zu-

Wahrscheinlichkeitstheoretische Auswahlverfahren

191

gleich die Beobachtungseinheiten darstellen, direkt aus der Grundgesamtheit „ausgelost", so sind bei den mehrstufigen Auswahlverfahren Auswahleinheiten und Untersuchungselement (Proband) nicht mehr identisch und die Beobachtungseinheiten werden nicht mehr unmittelbar aus der Gesamtheit „gezogen". In Zwischenschritten (Stufen) werden aus der Gesamtheit Teilmassen ausgewählt, aus diesen Teilmassen werden eventuell weitere Teilmassen gezogen usw., bis auf einer letzten Stufe dann die Beobachtungseinheiten aus diesen zuletzt gezogenen Teilmassen entweder total erfaßt oder zufallig ausgewählt werden. Somit stellen die auf einer bestimmten Stufe gezogenen Auswahleinheiten (Teilmassen) das Reservoir für die Auswahleinheiten der jeweils folgenden Stufe dar. In der Fachliteratur werden die Gruppierungen der Grundgesamtheit (bzw. die der für jede weitere Auswahlstufe vorliegenden Auswahlgrundlagen) gelegentlich als „Klumpen" bezeichnet. 135 Analog den geschichteten Auswahlverfahren ist auch hier erforderlich, daß jede Beobachtungseinheit einem und nur einem Klumpen (bzw. auf jeder Auswahlstufe einer und nur einer Auswahleinheit) angehört und die Zuordnung von Beobachtungseinheit und Klumpen und umgekehrt relativ einfach zu ermitteln ist. Das den mehrstufigen Auswahlverfahren zugrunde liegende Urnenmodell kann man sich wie folgt vorstellen (für ein zweistufiges Auswahlverfahren): Die den Beobachtungseinheiten entsprechenden Kugeln sind auf einzelne Urnen (entsprechend den Klumpen) verteilt in der Gesamturne enthalten. Auf einer ersten Auswahlstufe werden von diesen Urnen (Klumpen) einige ausgewählt. Auf einer weiteren Stufe werden nur aus den bereits ausgewählten Urnen die Beobachtungseinheiten (oder weitere Klumpen) ausgewählt. Somit ist „die Chance einer Einheit, auf einer beliebigen Stufe ausgewählt zu werden, stochastisch abhängig . . . von der Tatsache, welche Einheit in der vorgelagerten Auswahlstufe herausgegriffen wurde" 1 3 6 . Der Auswahlfehler einer mehrstufigen Auswahl wächst somit (gegenüber der einfachen Zufallsauswahl) mit der Anzahl der Auswahlstufen. Zwei weitere Faktoren beeinflussen den Standardfehler der mehrstufigen Auswahl: Erstens: Die Anzahl der ausgewählten Klumpen auf der (den) ersten Stufe(n) müßte möglichst groß sein, um hier Verzerrungen, die ja durch die Beschränkung der folgenden Stufe(n) auf die jeweils vorher gezogenen Auswahleinheiten (und somit durch das Nichtberücksichtigen der vollen Variabilität) entstehen, weitgehend zu vermeiden. Einmal entstandene Verzerrungen (bei den Primäreinheiten) 135

Vgl. W. Steglich, Der Plan für ein DDR-repräsentatives komplex-territoriales Auswahlverfahren ..., a. a. O., S. 18; A. G. Zdravomyslov, Metodologija i procedura sociologiceskich issledovanij, Moskva 1969, S. 91, 93; R. König (Hrsg.), Handbuch der empirisch n Sozialforschung, Bd. 3a, a. a. O., S. 37/38.

136

E. K. Scheuch, Aus wähl verfahren in der Sozialforschung, in: R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 3a, Teil 2, 3., a. a. O., S. 37/38

192

Forschungsprogramm

sind in weiteren Stufen (den Sekundäreinheiten und weiteren) nicht mehr ausgleichbar. Zweitens: Eine möglichst große Heterogenität innerhalb der Klumpen beschränkt das Fortschreiten der Fehler von einer Stufe zur anderen. Je besser die ganze Mannigfaltigkeit der Grundgesamtheit in jedem Klumpen verkörpert ist, je besser die Zusammensetzung der Klumpen mit der Zusammensetzung der Grundgesamtheit übereinstimmt, desto geringer wirkt der „Klumpeneffekt". Als Klumpeneffekt bezeichnet man den Effekt, der entsteht, wenn die Homogenität innerhalb der Klumpen größer ist als zwischen den Klumpen und der somit den Grad, um den eine mehrstufige Auswahl gegenüber einer einfachen Auswahl schlechter ist, kennzeichnet. Während die geschichteten Auswahlverfahren Homogenität innerhalb der Schichten und eine nicht zu große Anzahl von Schichten fordern, verlangen die mehrstufigen Auswahlverfahren Heterogenität innerhalb der Klumpen und eine möglichst umfangreiche Auswahl auf der ersten Stufe (bzw. den ersten Stufen). Man unterscheidet bei der Klumpenbildung zwischen natürlichen und sogenannten künstlichen Klumpen. Natürliche Klumpen gehen auf bereits vorhandene Gliederungen zurück (z. B. Bezirke, Kreise oder Betriebe). „Künstliche" Klumpen entstehen nach Gruppierungen, die vom Forscher eigens zu Analysezwecken gebildet wurden (z. B. Flächenauswahl). Im Gegensatz zur Schichtung, über deren Anwendung theoretische Erfordernisse entscheiden, sind es bei den mehrstufigen Auswahlverfahren in erster Linie praktische Erfordernisse, die deren Einsatz bedingen. „Etwas überspitzt kann man sagen, daß mehrstufige Auswahlverfahren Anpassungen der Theorie des Wahrscheinlichkeitssamples an die Struktur der Kollektive in den Sozialwissenschaften sind (ähnlich Frank Yates (1949, S. 34)." 137 Der Ausdruck „Sample" ist ein Synonym für Stichprobe. Als Schichtungsmerkmale sind solche geeignet, die eng mit den Untersuchungsmerkmalen korrelieren. Nach den Klumpenbildungsmerkmalen hingegen auszuwerten ist unmöglich, weil bei diesem Verfahren die Variabilität dieses Merkmals und die der mit diesem Merkmal korrelierenden Merkmale eingeschränkt ist. Auf Zwischenformen und spezielle Entwicklungen von Auswahlverfahren kann hier nicht eingegangen werden.

2.11.7. Einflußfaktoren auf den Mindestumfang der Stichprobe Neben dem richtigen Vorgehen bei der Auswahl ist für die Aussagefahigkeit der Ergebnisse auch ein bestimmter Mindestumfang der Stichprobe notwendig. Wenn 137

Ebenda, S. 39; vgl. F. Yates, Sampling Methods for Censuses and Surveys, London 1949, S. 34.

Mindestumfang der Stichprobe

193

nun der der Stichprobentheorie Unkundige die Frage stellt, „wie groß die Auswahl sein muß, um repräsentativ für die Grundgesamtheit zu sein, so stellt er strenggenommen eine sinnlose Frage" 1 3 8 , denn eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage kann es nicht geben. Wenn der Statistiker mit der Tatsache aufwartet, daß eine Stichprobe von ca. 400 Elementen ausreichend ist, um genügend genaue Aussagen betreffs eines Sachverhaltes für eine sehr große Grundgesamtheit (wie beispielsweise die Bevölkerung der D D R ) treffen zu können, so hat diese Tatsache einen rein theoretisch illustrierenden Charakter. Praktisch hängt die jeweils notwendige Größe des Stichprobenumfanges von verschiedenen Faktoren ab. Ihre mathematisch-statistische Bestimmung setzt eine detaillierte theoretische Analyse der gesamten Forschungsproblematik, des Untersuchungsbereiches und die Einhaltung praktischer Erfordernisse voraus. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren sollte der Stichprobenumfang stets so groß wie erforderlich und so klein wie möglich gewählt werden. Der Einfluß der mathematisch-statistischen Güteparameter auf den theoretisch notwendigen Stichprobenumfang 139 Eine auf Stichprobenergebnissen basierende statistische Aussage kann nie mit absoluter Sicherheit getroffen werden. Die Aussagen sind stets mit einem gewissen Unsicherheitsfaktor behaftet, sie haben Wahrscheinlichkeitscharakter. Allerdings kann das Forscherkollektiv die geforderte Sicherheit der Aussage (S = 1 — a) und die gewünschte Genauigkeit, den höchstens zulässigen Fehler (e = | P . . . p), die tragbare Schwankungsbreite der Resultate, die Spannweite des Konfidenzintervalls (das ist der Bereich, in dem die Ergebnisse mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit liegen werden) vorgeben. Zwischen notwendigem Stichprobenumfang n, gefordertem Sicherheitsgrad{S = 1 — a) und höchstens zulässigem Fehler e besteht nun aber ein funktionaler Zusammenhang derart, daß bei konstantem Stichprobenumfang n mit Erhöhung des Sicherheitsgrades 1 — a das Konfidenzintervall 1 4 0 138 139

140

K. Starke/R. Ludwig, Auswahlverfahren, a. a. 0 . , S. 236. Da es hier bestenfalls möglich ist, die den theoretisch notwendigen Stichprobenumfang beeinflussenden Faktoren zu nennen, muß, um die Zusammenhänge der die Stichprobengröße beeinflussenden Faktoren zu verdeutlichen, auf die Fachliteratur verwiesen werden. Bei der Berechnung der Konfidenzgrenzen wird für den Sicherheitsgrad S ein Multiplikator t benutzt. Dieser Multiplikator t ist ein als Abszisseneinheit unter der Normalverteilung dienendes normiertes Maß, das gestattet anzugeben, wieviel Prozent der Fälle in bestimmten Abschnitten der Normalverteilung liegen. Folgenden Werten / entsprechen folgende Sicherheitsgrade S: t s = (1—a) = 100% 2 95,5 0 000 2,58 99,0 1 68,3 3 99,7 1,96 95,0 3,3 99,9

194

Forschungsprogramm

größer wird, die Schärfe der Aussage abnimmt. Umgekehrt steigt die Irrtumswahrscheinlichkeit a bei konstantem Stichprobenumfang n mit der Verringerung des zulässigen Fehlers e. Hoher Sicherheitsgrad und hohe Schärfe der Aussage erfordern einen hohen Stichprobenumfang. Beim Bestimmen des notwendigen Stichprobenumfanges n m u ß man also stets mehrere Gesichtspunkte im Auge behalten. „ D a s Ziel m u ß sein, die Stichprobe mit vertretbarem Aufwand an Kosten und Zeit so zu planen, daß das Risiko eines falschen Schlusses möglichst klein wird. 1 4 1 Ein weiterer F a k t o r beeinflußt den theoretisch notwendigen Stichprobenumfang, und zwar die Variabilität der Einheiten. Es ist auch logisch ohne weiteres einsichtig, daß, je größer die Standardabweichung eines interessierenden Merkmals ist, desto mehr Merkmalsträger zur zuverlässigen Vorhersage des Ausprägungsgrades dieses Merkmals in der Stichprobe erforderlich sind. Im sogenannten homograden Fall (also dem Fall, in dem Anteilziffern interessieren) kann, wenn die Aufgabe darin besteht, aus einer Stichprobe den wahren Wert P der Grundgesamtheit zu schätzen, dazu ein durch die Stichprobenerhebung gewonnener Wert p benutzt werden. Die geschätzte Standardabweichung wird dann nach der Formel

berechnet. Der Korrekturfaktor K: In Formel (1) wird der Ausdruck =

*

®

als Korrekturfaktor bezeichnet. Dieser Korrekturfaktor hat nur bei endlichen Grundgesamtheiten einen Sinn und erlangt nur Bedeutung, wenn aus einer relativ kleinen Grundgesamtheit relativ viele Stichprobenelemente gezogen werden. Da JV — 1 ~ N, läßt sich Formel (2) auch schreiben als:

n Somit bestimmt das Verhältnis —, das auch als Auswahlsatz A bezeichnet wird, die N G r ö ß e des Korrekturfaktors. Wenn n = N folgt A = 1 und K = 0; wenn N gegen unendlich strebt, wird A gleich 0 und K gleich 1. Wenn der Auswahlsatz A kleiner oder gleich 0,05 (bzw. 5 Prozent) ist — und das ist in der Praxis sehr oft der Fall — 141

Vgl. H. Kellerer, Statistik im modernen Wirtschafts- und Sozialleben, 8. Aufl., Reinbek b. Hamburg 1967, S. 115.

195

Mindestumfang der Stichprobe

wird K ^ 0,9747, und man vernachlässigt dann zumeist den Korrekturfaktor K.142 In diesem Falle geht Formel (1) über in:

Es läßt sich somit aussagen, daß der wahre Wert P mit einer bestimmten Sicherheit (ausgedrückt durch den Multiplikator () innerhalb des Intervalls P -

tsp ^ P g p + tsp

(4)

liegen wird. Der wahre Wert P bleibt dabei zwar unbekannt, es läßt sich aber das Intervall angeben, welches ihn einschließt bzw. überdeckt Zur Herleitung der Berechnungsvorschrift im einfachsten Falle Erinnern wir uns, daß der Stichprobenfehler e, der dadurch entsteht, daß nur ein Teil der Elemente aus der Grundgesamtheit in die Stichprobe gelangt, die Differenz zwischen dem Stichprobenkennwert p und dem entsprechenden (unbekannten) Parameter P der Grundgesamtheit ausdrückt, so können wir die formelmäßige Herleitung des mindest notwendigen Stichprobenumfangs n vornehmen. Es gilt: Aus (4) folgt zugleich und somit gilt:

| P - p \ = e. \P — p\ ^ tsp e ^ tsp,

nach (3) folgt:

eg fJ

quadriert ergibt sich:

er

P( 1

v

7

-P)

n

g r

(5) (6) (7) ,

1 P ' (1 n

(8) P)

.

(9)

Die Multiplikation beider Seiten der Ungleichung mit dem Faktor-^ ergibt (dabei kehrt sich das Ungleichheitszeichen um): e

.

(10)

Die Formel (10) gestattet nur im homograden Fall, den bei einfacher Zufallsauswahl für vorgegebene Werte t und e sowie geschätzter Standardabweichung der Grundgesamtheit (s = ]/p{ 1 — p) theoretisch mindestens notwendigen Stich142

Anmerkung: Die Abhängigkeit der Größe des Korrekturfaktors K vom Auswahlsatz A ist tabellarisch dargestellt in: R. Göttner/P. Fischer/R. Krieg, Was ist, was kann Statistik? Leipzig-Jena-Berlin 1975.

14 Soziolog. forschung

196

Forschungsprogramm

probenumfang n zu berechnen (hier ohne Berücksichtigung des Korrekturfaktors). Obwohl die Berechnungsvorschrift (10), die für die uneingeschränkte Zufallsauswahl gilt, in der Soziologie nur geringe praktische Bedeutung hat, ist sie geeignet, einige Zusammenhänge zu illustrieren. 1. Der notwendige Stichprobenumfang ist (vom Sonderfall extrem kleiner Grundgesamtheiten abgesehen) unabhängig von der Größe des Umfanges N der Grundgesamtheit. Somit erfordert theoretisch eine Untersuchung eines kleinen Untersuchungsbereiches, etwa eines Großbetriebes, den gleichen Stichprobenumfang wie die Untersuchung eines recht großen Untersuchungsbereiches, etwa eines Wirtschaftszweiges. Ebenso ist folglich die Genauigkeit von Stichprobenergebnissen nicht, von dem aus der Grundgesamtheit einbezogenen Prozentsatz von Probanden, sondern von der absoluten Anzahl der einbezogenen Probanden abhängig. 2. Der notwendige Stichprobenumfang ist dem Produkt p( 1 — p) direkt proportional, wächst aber bei Erhöhung des Sicherheitsgrades und der Verringerung des absoluten Fehlers in potenzierter Form, oder anders ausgedrückt: Eine progressiv steigende Erhöhung des Stichprobenumfanges geht mit einer degressiv steigenden Verbesserung der Genauigkeit der Ergebnisse einher. 3. Bei sonst konstanten Güteparametern t und e wird das notwendigem dann am größten, wenn das Produkt />(1 — p) genau dann den Maximalwert annimmt, wenn/» = 1 — p — 0,5 ist. Diesen Sachverhalt macht man sich beider Bestimmung des notwendigen Stichprobenumfanges n zunutze, und zwar wie folgt: Da der Parameter P bzw. der Anteilwert p (und somit auch 1 — p) vor der Untersuchung meist nicht bekannt ist und da im allgemeinen verschiedene Merkmale (und somit auch jeweils verschiedene Anteilwerte p) interessieren, man den Stichprobenumfang n jedoch nicht nur für jedes dieser interessierenden Merkmale berechnet, sondern nur einmal für das Merkmal, das auf Grund seines unbekannten Anteilwertes p den größten Stichprobenumfang erfordern würde, geht man nach dem Prinzip des geringsten Risikos vor. Wenn man in die in Frage kommende Formel zur Berechnung des mindestens erforderlichen Stichprobenumfanges n für p gleich 1 — p gleich 0,5 einsetzt, wird n höchstens größer, bestimmt aber nicht zu klein, um Aussagen mit der geforderten Sicherheit zu ermöglichen. Um mit bestimmten Güteparametern versehene Aussagen zu gewährleisten, nimmt man hier also in Kauf, eventuell einige Probanden mehr als unbedingt erforderlich einzubeziehen. Bezüglich des Sicherheitsgrades hat es sich als zweckmäßig erwiesen, ein a von etwa 0,05 anzusetzen, so daß die Aussagen mit einer Sicherheit von 95 Prozent zutreffend sind. Vor der Wahl eines zu kleinen a muß gewarnt werden, einmal, da der dafür erforderliche Stichprobenumfang und der damit mögliche systematische Fehler rasch ansteigt und da sich zum anderen damit die Gefahr erhöht, einen anderen Fehler, den sogenannten ^-Fehler (der darin besteht, einen in der Realität bestehenden wesentlichen Unterschied nicht aufzudecken) zu begehen.

Mindestumfang der Stichprobe

197

Setzt irian in Formel (10) folgende hier diskutierte Werte ein: für t = 1,96, für p = 1 — p = 0,5 und für e = 0,05, so zeigt sich in der Tat, daß bei einer uneingeschränkten Zufallsauswahl rund 385 Elemente zur zuverlässigen Schätzung eines unbekannten Parameters der Grundgesamtheit ausreichend sind. Die Berechnungsvorschriften bei komplexen Wahrscheinlichkeitsauswahlen Die am Beispiel der einfachen Zufallsauswahl hergeleiteten Zusammenhänge zwischen Stichprobenfehler, Sicherheitsgrad und Stichprobenumfang gelten prinzipiell auch für die komplexen Wahrscheinlichkeitsauswahlverfahren. Allerdings werden hier die Modifikationen der formelmäßigen Darstellung wirksam. Auf die Herleitung von Berechnungsvorschriften sei jedoch im Rahmen dieses Buches verzichtet. 143 Für geschichtete Auswahlverfahren gilt es festzuhalten, daß — sie bei gleichem Stichprobenumfang n gegenüber der einfachen Zufallsauswahl eine Erhöhung der Genauigkeit mit sich bringen (eine Verminderung der Standardabweichung des Schätzwertes), — die Erhöhung der Genauigkeit um so größer ist, „je homogener bezüglich des untersuchten Merkmals die Einheiten in den Schichten sind" 1 4 4 , — innerhalb der geschichteten Auswahlverfahren für eine geforderte Genauigkeit der Aufwand (das notwendige n) in der Reihenfolge optimale — gleichmäßige — proportionale Aufteilung zunimmt. Für mehrstufige Auswahlen gibt es teilweise recht komplizierte Berechnungsvorschriften betreffs der Standardfehler, „und für viele Formen sind entsprechende Ausdrücke bisher überhaupt noch nicht entwickelt worden" 1 4 5 . Wie bereits dargelegt, ist hier der Auswahlfehler im allgemeinen größer als bei einer einfachen Wahrscheinlichkeitsauswahl. Er wird neben der Zahl der erforderlichen Auswahlstufen (viele Stufen erhöhen den Fehler, sind deshalb ungünstig) von der Zahl der Einheiten je Stufe (viele kleine „Klumpen" sind günstiger als wenige große) und von der Heterogenität innerhalb der „Klumpen" (geringe Heterogenität innerhalb der „Klumpen" führt zu einer größeren Verzerrung) beeinflußt. In der Praxis hat sich bewährt, im Falle der mehrstufigen Auswahl den Standardfehler wie bei der einfachen Wahrscheinlichkeitsauswahl zu berechnen und diesen Wert durch Multiplikation mit dem Faktor + J/2 zu korrigieren. 146

143 144 145 146

14*

Vgl. H. Schwarz, Stichprobenverfahren, a. a. O., S. 129. Ebenda, S. 150. E. K. Scheuch, Auswahlverfahren in der Sozialforschung, a. a. O., S. 38. Vgl. R. Mayntz/K. Holm/P. Hübner, Einführung in die Methoden der empirischen Soziologie, a. a. O., S. 82; R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 3a, a. a. O., S. 39.

198

Forschungsprogramm

Die weiteren Einflußfaktoren auf den Stichprobenumfang Die bisher zur Berechnung des theoretisch erforderlichen Stichprobenumfanges angestellten Überlegungen sind zwar notwendig, reichen zum Festlegen des tatsächlichen benötigten Stichprobenumfanges jedoch keinesfalls aus. Der real in Betracht kommende Stichprobenumfang wird in gravierender Weise von weiteren Bedingungen beeinflußt. Ein weiterer wesentlicher Faktor, der zuerst berücksichtigt werden muß, ist der geforderte Detaillierungsgrad der Ergebnisse. Wollen wir nicht nur Aussagen betreffs der Anteilwerte einiger Merkmale für die Gesamtheit treffen, sondern streben wir auch Aussagen der gleichen Güte für einige aus der Grundgesamtheit gebildete Untergruppen an — und das ist ja im allgemeinen das Ziel —, so muß erstens jede dieser Untergruppen mit dem jeweils erforderlichen Umfang in der Stichprobe vertreten sein. Zweitens darf der Stichprobenumfang der einzelnen Untergruppen nicht einfach zu einem neuen Gesamtstichprobenumfang addiert werden, um daraus die Gesamtheit charakterisieren zu können. Je unterschiedlicher nämlich die Verteilung des die Untergruppen bildenden Merkmals ist, desto größer ist die Disproportionalität der UntergruppenAnteile in der so gebildeten Gesamtstichprobe und desto verzerrter wären folglich die Ergebnisse aus einer solchen nach dem Gruppierungsmerkmal disproportional zusammengesetzten Gesamtstichprobe. Auf einen weiteren damit zusammenhängenden Faktor weist Zdravomyslov hin, „wenn man alle notwendigen analytischen Manipulationen vornehmen und Bilanzkennziffern von ausreichender Stabilität und Zuverlässigkeit erhalten will" 147 . Da durch zu gering besetzte Felder in einer Kreuztabelle die Auswertungsmöglichkeiten im allgemeinen erheblich eingeschränkt werden, schlägt er vor, pro Kreuzungsfeld einer solchen Zusammenstellung zehn Beobachtungseinheiten zu veranschlagen. Da die seiner Meinung nach am häufigsten verwendeten Tabellen sich zwischen den Dimensionen 3 x 4 bzw. 5 x 6 (Zeilen und Spalten) bewegen, führt das zu Auswahlumfängen, die zwischen 120 und 300 Fällen liegen. „Da die Analyse in der Regel die Gegenüberstellung von drei bis zehn analogen Tabellen verlangt, bewegen sich die Grenzen der Auswahlgesamtheit, die gewöhnlich in der soziologischen Untersuchung Verwendung findet, von 360 bis zu 3000 Beobachtungseinheiten." 148 Umgekehrt sollte „bei der Aufbereitung ein sachlich und regional tief gegliedertes Tabellenprogramm nur dann zugrunde gelegt werden, wenn hierbei wirklich noch Gruppenphänomene zur Geltung kommen können, d. h. die meisten Tabellenfelder nicht zu schwach besetzt sind" 149 .

147

148 149

A. G. Zdravomyslov, Metodologija i procedura sociologiceskich issledovanij, a. a. O., S. 88, nichtautorisierte Übersetzung. Ebenda, S. 89. H. Kellerer, Statistik im modernen Wirtschafts- und Sozialleben, a. a. O., S. 34.

199

Mindestumfang der Stichprobe

Folgende Rechnung verdeutlicht diesen Sachverhalt: Betrachten wir m — 6 Merkmale je Element, von denen jedes mit jedem in Beziehung gesetzt werden soll, so ergeben sich: 6 Tabellen einfacher Häufigkeiten (m), bereits 15 zweifacher Häufigkeiten, nämlich m(m — 1)

=

6-5 ~1"=

1 5

(11)

'

und 20 Tabellen dreifacher Häufigkeiten, nämlich m{m — 1) (m — 2) — ^3 - 2 =

6-5-4 3 - 2 = 20 .

(12)

Man muß sich folglich bereits bei der Planung einer Untersuchung Gedanken machen über die vorzunehmende mathematisch-statistische Verarbeitung des Zahlenmaterials und speziell über den erforderlichen Detaillierungsgrad zur Kennzeichnung von Untergruppen, denn je tiefer gegliedert ein Tabellenprogramm gefordert wird, desto größer muß der Stichprobenumfang für die ganze Befragtengruppe sein. Bei den Überlegungen zum Stichprobenumfang darf ferner das Problem der Ausfalle nicht unberücksichtigt bleiben. Die Unmöglichkeit, einen Teil der vorher ausgewählten Beobachtungseinheuen auch wirklich untersuchen zu können, hat zufallig und systematisch bedingte Ursachen und muß somit als Abweichung vom Modell der Wahrscheinlichkeitsauswahl angesehen werden. Erwiesenermaßen treten bei einigen Personengruppen häufiger Verweigerungen auf (z. B. ältere Beschäftigte) — generell oder betreffs bestimmter Fragen —, oder sind bestimmte Personengruppen schwieriger anzutreffen (verheiratete Frauen mit Kleinkindern, Monteure). Unter diesem Gesichtspunkt ist auf zwei wesentliche Aspekte hinzuweisen: 1. Man muß sich der durch die Ausfalle bedingten Verzerrung der Ergebnisse bewußt sein und sie zu eliminieren versuchen. 2. Der Gefahr, mit durch Ausfälle bedingten zu kleinen realen Stichprobenumfängen zu arbeiten, muß durch geeignete Maßnahmen entgegengewirkt werden. Neben den bisher genannten Faktoren, die doch weitgehend für einen großen Stichprobenumfang n sprechen, gibt es jedoch auch Fakten, die gegen einen zu großen Stichprobenumfang sprechen. Dazu gehört neben den bereits genannten ökonomischen Möglichkeiten — dem Wahren der Aufwand-Nutzen-Relation — vor allem folgende Tatsache: Für jedes Forscherkollektiv gibt es bestimmte Grenzen — gewissermaßen einen Erfahrungswert — für die maximal zu bewältigende Zahl von Untersuchungspersonen. Die optimale Grenze wird offenbar dort überschritten, wo der mit steigendem Auswahlumfang n schneller wachsende sach-

200

Forschungsprogramm

liehe Fehler150 den durch diesen hohen Stichprobenumfang erreichten geringeren Auswahlfehler überkompensiert. Was nützt ein statistischer Sicherheitsgrad von 95 Prozent für die Hypothesenprüfung, wenn die Methoden, mit denen die Ergebnisse ermittelt werden, unzureichend sind, was nützt ein dogmatisch realisierter Auswahlperfektionismus, wenn die folgenden Analyseschritte mit Mängeln behaftet sind; wie irrig ist es, mit durch Ausfälle verzerrten Ergebnissen durch die Berechnung von Dezimalen eine tatsächlich nicht vorhandene Genauigkeit vorzutäuschen! „Während ... die berechenbare statistische Fehlerspanne bei RandomStichproben gepriesen wird, verschiebt sich das Meinungsbild ... von 20 Prozent auf 70 Prozent... allein durch Veränderung des Fragetextes." 151 Alle diese Aspekte sollten bei der Festlegung des Stichprobenumfanges in Erwägung gezogen werden.

150

Vgl. St. H. Wilsdorf, Probleme der Vergleichbarkeit soziologischer Studien aus statistischer Sicht, Dissertation, Leipzig 1971, S. 85.

151

E. Noelle, Über den methodischen Fortschritt in der Umfrageforschung, Allensbach-Bonn 1962, S. 15.

3. KAPITEL

Methoden und Techniken der Datenerhebung

3.1. Generelle Probleme und Prinzipien soziologischer Erhebungen Die soziologische Erhebung, der Prozeß der Gewinnung von Daten, ist ein außerordentlich wichtiger Abschnitt im soziologischen Forschungsprozeß.1 Soziologische Forschung darf allerdings nicht mit Datenerhebung gleichgesetzt werden (vgl. Abschnitt 1.3.). Die Auffassung, soziologische Forschung sei lediglich „empirische Forschung", ignoriert die Tatsache, daß jeder empirischen Erhebung eine umfangreiche theoretische Arbeit vorausgehen muß und daß die Erhebung und Aufbereitung von Daten in eine theoretische Auswertung mündet; sie übersieht auch die theoretischen und methodischen Implikationen, die im Erhebungsinstrumentarium und in der Arbeit des Soziologen in der Erhebungs- und Aufbereitungsphase eingeschlossen sind.2 Das große wissenschaftliche Interesse an soziologischen Erhebungen resultiert aus dem Erfordernis, die empirische Basis der Gesellschaftswissenschaften zu verbreitern, ihre Lebensverbundenheit zu erhöhen und ein einseitig deduktives Vorgehen, ein Forschen ohne exakte Analyse der realen Prozesse zu überwinden und insgesamt für die Planung und Leitung sozialer Prozesse ein breiteres Daten1

Der Begriff „soziologischer Forschungsprozeß" kann sowohl den Erkenntnisprozeß der gesamten Disziplin wie auch die Bearbeitung einer bestimmten Forschungsthematik bezeichnen, die mehrere Erhebungen einschließen kann. Er kann schließlich den einfachen Prozeß von der Problemformulierung und der Hypothesenbildung über Methodenwahl und Erhebung, Aufbereitung und Auswertung bis zur Problemlösung kennzeichnen, wie er formalisiert im Abschnitt 3.1., Abbildung 1 dargestellt ist. Im folgenden nehmen wir auf diesen einmaligen Durchlauf der verschiedenen Stationen eines singulären Forschungsprozesses Bezug. Es muß beachtet werden, daß Prinzipien, die für den Forschungsprozeß insgesamt gelten, nicht in dieser Absolutheit auf den singulären Forschungsprozeß angewendet werden können.

2

Der Begriff „empirische soziologische Forschung" wird oft verwendet, um auf das Vorhandensein einer eigenständigen Erhebungsphase im Forschungsprozeß zu verweisen. Auch wir verwenden ihn in diesem Sinne, um die Unterscheidung von einer ausschließlich mit theoretischlogischen Mitteln arbeitenden Forschung zu betonen. Der Ausdruck „empirische Sozialforschung" wird in den marxistischen Gesellschaftswissenschaften dagegen nicht V C I W O I H I L I . denn er kann zu der irrigen Auffassung der Verselbständigung der Erhebungs- und Aulbcrcitungsphase zu einer eigenständigen Disziplin führen.

202

Datenerhebung

material, das methodisch und theoretisch gesichert ist, zur Verfügung zu stellen. Die Forderung anderer Gesellschaftswissenschaften, Soziologen in ihre Forschung einzubeziehen, entspricht der Tendenz, soziale Ursachen und Konsequenzen bestimmter Prozesse breiter zu erfassen; nicht selten ist jedoch damit die irrige Vorstellung verbunden, die Soziologen seien die „Datenbeschaffer" für andere Gesellschaftswissenschaften. Nun ist zwar die Erhebungs- und Aufbereitungsmethodik in der Soziologie besonders gut ausgebaut, aber die Erhebung von Daten ist kein Monopol der Soziologie — im Gegenteil: Jede Einzelwissenschaft unter den gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen muß ihre eigene empirische Basis sichern und dafür auch ihre spezielle Methodik entwickeln. Die Erhebungsphase ist zwar ein wichtiger, aber nicht immer obligatorischer Abschnitt im soziologischen Forschungsprozeß. Im 1. Kapitel, Abbildung 1, wurde dargestellt, daß auch — eine rein theoretische Bearbeitung von Problemen stattfinden und dies durchaus eine Quelle von neuen Erkenntnissen sein kann und auch — eine Übernahme von Daten, sei es als Rückgriff auf bereits früher erhobene soziologische Daten in Form einer Sekundäranalyse 3 , oder als Nutzung von Daten anderer Disziplinen, oder von Statistiken erfolgen kann (vgl. Abschnitt 1.3., Abb. 2); so daß eine besondere Erhebungsphase im einzelnen Forschungsprozeß nicht immer vorhanden sein muß. Allerdings ist auch die Übernahme von Daten aus anderen Quellen nicht nur Aufbereitung, sondern zugleich auch Erhebung, wenn auch eine indirekte. Wir stellen deshalb die Dokumentenanalyse und die Nutzung von statistischen und anderen Quellen als Erhebungsmethoden dar, denn der Prozeß des Suchens, der Prüfung und Auswahl, der Ordnung und Neuerfassung fordert Erhebungsleistungen, auch wenn hier zwischen Erhebung und Auswertung fließende Grenzen bestehen. In der soziologischen Forschung gilt das Prinzip, daß zunächst alle Quellen an Datenmaterial, sowohl aus früheren soziologischen Untersuchungen wie aus anderen Disziplinen und Statistiken auszuschöpfen sind, ehe man eigene direkte Erhebungen durchfuhrt. Das ist ökonomisch, es entspricht weiter der Forderung, die Menschen durch Befragungen und Beobachtungen nicht unnötig zu belästigen, und es ist schließ3

Der Begriff „Sekundäranalyse" ist bei der Umfrageforschung entstanden. „Es ist vor allem der Rückgriff des Forschers auf bereits vorliegende Daten, die Abtrennung des Prozesses der Datenerhebung von den Prozessen der Datenverarbeitung und der Dateninterpretation, der mit dem Begriff Sekundäranalyse gemeint ist" (H. D. Klingmann/E. Mochmann, Sekundäranalyse, in: J. v. Koolwijk/M. Wieken-Mayser (Hrsg.), Techniken der empirischen Sozialforschung, Bd. 2, München 1975, S. 178). — Wir beziehen „Sekundäranalyse" im folgenden speziell auf die erneute Analyse soziologischer Daten und fassen die Nutzung von Daten und die Auswertung von Dokumenten und Quellen insgesamt unter dem Begriff „indirekte Erhebungen".

Probleme und Prinzipien

203

lieh gar nicht möglich, daß Soziologen ihre Daten sämtlich selbst direkt erheben können. Die Erhebungsmethodik ist in der Geschichte der Soziologie relativ jung und es war bis in die 20er Jahre unseres Jahrhunderts eigentlich der Ausnahmefall, daß Soziologen mit „selbstproduzierten" Daten arbeiteten. Es wurden vielmehr genutzt: — historische Quellen (Daten und Materialien der Historiographie), — Ergebnisse amtlicher Zählungen (Volkszählungen, Wirtschafts- und Finanzstatistik, Daten kommunaler Einrichtungen u. a.), — Daten verschiedener nichtamtlicher Quellen (Briefe, Biographien, Reisebeschreibungen u. a.) und Ergebnisse von Zählungen, die nicht für wissenschaftliche Zwecke vorgenommen wurden, 4 — ethnographische Quellen und andere (vgl. Abschnitte 3.2.3. und 3.2.4.). Auch die Klassiker des Marxismus-Leninismus stützten sich bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit auf diese Quellen und verstanden es meisterhaft, aus Materialien, die fast durchweg von Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft und von bürgerlichen Wissenschaftlern gesammelt worden waren, wissenschaftliche Schlußfolgerungen zu ziehen, welche die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus und den historischen Anspruch der Arbeiterklasse belegten. Verwiesen sei hier lediglich auf Engels' „Lage der arbeitenden Klasse in England" (er verband hier historische und aktuelle statistische Daten meisterhaft mit eignen Beobachtungen), auf Marx' Hauptwerk „Das Kapital" und seine zahlreichen zeitgeschichtlichen Arbeiten und Korrespondenzen und auf Lenins Imperialismusanalyse. Lenin betonte, daß man Fragen der gesamtstaatlichen Entwicklung, speziell ihrer ökonomischen Strukturen, nicht ernsthaft bearbeiten kann, „wenn man sich nicht auf eine Vielzahl von Angaben stützt, die nach einem bestimmten einheitlichen Programm ... gesammelt und von Fachleuten der Statistik zusammengefaßt wurden" 5 . Zugleich kritisierte Lenin z. B. an den landwirtschaftlichen Zählungen 6 in Deutschland, 4

5

6

Daten, die nicht für wissenschaftliche Zwecke gesammelt werden, werden auch als „prozeßproduzierte Daten" bezeichnet (vgl. E. Scheuch, Die wechselnde Datenbasis der Soziologie, in: P. J. Müller (Hrsg.), Die Analyse prozeß-produzierter Daten, Stuttgart 1977, S. ¡2—38). W. I. Lenin, Das kapitalistische System der modernen Landwirtschaft, in: Werke, Bd. 16, Berlin 1962, S. 435. Lenin verfolgte seit seiner ersten wissenschaftlichen Arbeit von 1883 besonders aufmerksam die Agrarstatistik in Rußland und verglich sie mit der anderer europäischer Länder. Er benutzte diese Statistiken immer wieder als eine Quelle, um die Frage nach der Entwicklung des Kapitalismus in Rußland und nach der Rolle der Bauernschaft in den kommenden revolutionären Prozessen zu beantworten. Lenins Arbeit „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland" ist in methodischer Hinsicht ein Musterbeispiel für die soziologische Nutzung offizieller statistischer Quellen (vgl. W. I. Lenin, Neue wirtschaftliche Vorgänge im bäuerlichen Leben, in: Werke, Bd. 1, Berlin 1963, S. 3—63; W. I. Lenin, Zur sogenannten Frage der Märkte, in: Werke, Bd. 1,

204

Datenerhebung

„daß die ausgezeichneten, sehr aetäillierten Angaben" durch die offizielle Statistik so zusammengefaßt wurden, daß ihre Aussägekraft für den Gesamtprozeß der Entwicklung des kapitalistischen Systems in defr Landwirtschaft verloren gegangen sei und fuhr fort: „Hieraus wird die große, die außerordentliche Bedeutung verständlich, die der Methodik der Zusammenstellung bzw. Gruppierung der Angaben der modernen Zählungen zukommt." 7 „Eine Statistik soll nicht willkürlich zusammengestellte Zahlenkolonnen liefern, sondern mit Hilfe von Zahlen die verschiedenen Typen der zu untersuchenden Erscheinung beleuchten." 8 Lenin verweist hier prinzipiell auf den Zusammenhang von Empirie und Theorie sowie von quantifizierender und qualitativ bewertender Aussage. Ganz entschieden wandte sich Lenin gegen das willkürliche „Herausgreifen einzelner Tatsachen und das Jonglieren mit Beispielen'.', und betonte die Bedeutung exakter Tatsachen und der Vollständigkeit und Systematik von Daten, um zum Wesen sozialer Tatbestände vorzudringen. 9 Wir wenden uns im folgenden der Methodik von solchen Erhebungen zu, die von den Soziologen selbst durchgeführt werden. Hier ist in den letzten fünfzig Jahren durch die rasche Entwicklung der angewandten soziologischen Forschungen in den verschiedenen Zweigsoziologien10, durch die Institutionalisierung soziologischer Forschungseinrichtungen mit speziellen Erhebungsaufgaben, z. B. Institutionen der Umfrageforschung, durch Nutzung der Erfahrungen der psychologischen Testtheorie sowie durch die modernen Möglichkeiten der Datenverarbeitung in Verbindung mit der raschen Entwicklung der mathematischen Statistik ein stürmischer Fortschritt zu verzeichnen. Die soziologische Erhebungsmethodik spielt natürlich auch bei der Nutzung des gewaltig gewachsenen Materials der nationalen und internationalen Statistik — man denke nur an die internationalen Statistiken der UNO und ihrer Zweigorganisationen oder die Statistiken des RGW — eine große Rolle; das belegt unter anderem auch die Sozialindikatoren„bewegung". ; Ziel der Erhebung sind Daten. Soziale Daten sind als Träger von Informationen eine unentbehrliche Grundlage für die Leitung sozialer Prozesse. Für ihre Ge-

7

8

9 10

a. a. O., S. 65—116; W. I. Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, in: Werke, Bd. 3, Berlin 1956, S. 7 - 6 2 9 ) . W. I. Lenin, Das kapitalistische System der modernen Landwirtschaft, in: Werke, Bd. 16, a. a. O., S. 438. W. I. Lenin, Arbeitstag und Arbeitsjahr im Gouvernement Moskau, in: Werke, Bd. 18, Berlin 1962, S. 253. Vgl. W. I. Lenin, Statistik und Soziologie, in: Werke, Bd. 23, Berlin 1957, S. 285. Im Programm der ISA für den 12. Weltkongreß für Soziologie 1986 werden 35 „researchcommittees" ausgewiesen. Man kann dies eher als eine zu kleine Angabe für die Anzahl der praktisch wirksamen Zweigsoziologien annehmen.

Was sind Daten?

205

winnung, Aufbereitung, Auswertung und Speicherung werden große Mittel ausgegeben.

3.1.1. Was sind Daten? Der Begriff Daten wird nicht einheitlich benutzt. In der Sprache der Informatiker werden Daten definiert als „kleinste isolierbare Repräsentation von Sachverhalten, die in einem gegebenen kommunikativen Zusammenhang für sich interpretiert und dauerhaft in Form diskreter Zeichen fixiert werden können" 11 . Daten bedingen also eine „gewisse zeitliche Dauerhaftigkeit der Repräsentation des Sachverhalts" 12 . Es werden stetige (d. h. durch beliebig klein wählbare Zwischenintervalle darstellbare) und diskrete (singulare Sachverhalte charakterisierende, durch einen Zählvorgang zu gewinnende) Daten, numerische und nicht numerische, quantitative und qualitative Daten unterschieden. Daten sind also nicht schlechthin identisch mit Zahlen und Statistiken, sondern sie schließen auch andere Zeichen, Begriffe und Aussagen ein. Zahlen und andere Zeichen erhalten ihren Sinn ohnehin erst durch die ihnen zugeordnete Bedeutung bei der Registrierung und durch begriffliche Bestimmung des Sachverhalts, den sie repräsentieren; sie führen also letztlich immer zu Aussagen. Es ist nicht richtig, Daten und Informationen schlechthin gleichzusetzen.13 Soziale Daten vermitteln singuläre Informationen über soziale Sachverhalte. Der Informationsbegriff setzt vor allem die Nutzung (die Erschließung der Bedeutung in einem kommunikativen Zusammenhang) voraus. Daten sind Träger von Informationen und werden in eine solche Form überführt, die am besten geeignet ist, aus ihnen wissenschaftliche Informationen zu entnehmen. 14 Mayntz/Holm¡Hühner gehen auf den Ursprung der Daten im soziologischen Forschungsprozeß ein: „Nicht die Antwort eines Befragten auf die im Interview gestellte Frage ... [ist] das Datum. Datum ist das Kreuz, das jener in eine ihm vorgegebene Antwortalternative des Fragebogens einträgt, wo es nichts anderes darstellt, als die symbolische Repräsentation des manifesten Gehalts der Beobach11

12 13

14

G. Beling/G. Wersig, Zur Typologie von Daten und Informationssystemen, Pullach b. München 1973, S. 21. Ebenda, S. 20. Vgl. W. Fuchs/R. Klima/R. Lautmann/H. Wienold (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Bd. 1, Opladen 1973, S. 123. Vgl. L. I. Lopatnikow, Schlag nach — Mathematisch ökonomische Methoden, Berlin 1973, S. 146. Lopatnikow weist darauf hin, „daß das Wort, Daten' nicht ganz dem Wort Information' entspricht, obwohl diese Wörter oft als Synonyme verwendet werden. Daten sind Größen, Zahlen oder Relationen, welche in einen Prozeß eingehen oder aus diesem hervorgehen. Informationen jedoch definiert man als Wissen, welches man aufgrund dieser Daten erhält" (ebenda, S. 146).

206

Datenerhebung

tung." 15 Sie weisen zurecht daraufhin, daß schon vor der Datengewinnung theoretische Annahmen gemacht werden, die durch die Beobachtung selbst nicht mehr geprüft werden. „Zu Daten werden Beobachtungen von manifesten Eigenschaften oder Verhaltensweisen gesellschaftlicher Phänomene also erst, wenn sie begrifflich so strukturiert sind, daß sie als registrierte Beobachtungen eine Identifizierung und Klassifizierung der Untersuchungsobjekte nach ihren für die Beantwortung der Forschungsfrage relevanten Eigenschaftsdimensionen ermöglichen." 16 Mayntz/Holm/Hübner bezeichnen Daten (Urdaten) als „beobachtete Merkmalsausprägungen auf Merkmalsdimensionen von Untersuchungseinheiten"11. Wir berühren hier nicht nur die Meßtheorie, sondern auch die Indikatorproblematik (vgl. Abschnitte 2.6. und 2.7.). Die Indikatoren kennzeichnen lediglich bestimmte Merkmalsdimensionen, die, ausgehend von einem theoretisch begründeten Modell des Untersuchungsgegenstandes, ausgewählt wurden; die Daten zeigen also nur den Ausprägungsgrad dieser ausgewählten Merkmale an und nicht den Zustand des Untersuchungsobjekts in seiner Gesamtheit. Diese Tatsache muß bei allen folgenden Schritten der Datenanalyse und -interpretation beachtet werden. Daten hängen von der Theorie über die gesellschaftliche Wirklichkeit ab und kommen „selbst nur durch theoretisch begründete Schlußfolgerungen zustande" 18 . Die folgende Metamorphose der Daten nach Erhebung der Urdaten und die Möglichkeiten der bewußten oder unbewußten Verfälschung in diesem Prozeß stellen wir schematisch in den Abbildungen 1 und 2 dar (vgl. Abb. 1 und 2). Der Gedanke, daß es bei jedem Untersuchungsobjekt theoretisch eine unendliche Zahl von Merkmalsdimensionen gibt, und wir bei der Indikatorbestimmung lediglich die für die Lösung des Untersuchungsproblems wichtigen aussuchen, und zwar solche, welche die größte Repräsentanz haben, ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der Datengewinnung und -interpretation. Durch 15

16

17

18

R. Mayntz/K. Holm/P. Hübner, Einführung in die Methoden der empirischen Soziologie, 2. erweit. Aufl., Opladen 1971, S. 33. Ebenda. Die Verfasser schränken in einem 2. Schritt weiter ein: „Die auf der Grundlage dieser begrifflichen Strukturierungen gemachten Beobachtungen von manifesten Eigenschaften werden zu Daten über ein Untersuchungsobjekt dadurch, daß sie in standardisierter Form registriert werden" (ebenda, S. 34). Ebenda, S. 35. Sie schreiben: „1. Die Daten jeder empirischen Untersuchung beziehen sich auf Untersuchungseinheiten . . . 2. Die Daten beziehen sich in der Regel nicht auf die Untersuchungseinheiten in ihrer ganzen Komplexität oder Vieldimensionalität, sondern auf einige wenige Merkmalsdimensionen (Eigenschaftsdimensionen)... Diese Dimensionen werden als Variablen dargestellt. Variablen sind nicht anderes als die symbolische Repräsentation von Merkmalsdimensionen. 3. Beobachtet werden Merkmalsausprägungen der Untersuchungseinheiten auf den untersuchten Merkmalsdimensionen" (ebenda, S. 34/35). Ebenda, S. 34.

Was sind Daten?

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208

Datenerhebung Operationen

Datenarten

Theoretisch begründete Auswahl der Untersuchungseinheiten und relevanten Merkmalsdimensionen Begrifflich strukturierte BEOBACHTUNG: Sammlung und Kontrolle der Vollständigkeit der Daten; Auszählung der Häufigkeiten:

Errechnung der Mittelwerte und der Streuungswerte :

URDATEN (registrierte Beobachtungsdaten)

ROHDATEN (bereinigte und geordnete Urdaten; Häufigkeitsangabe für die identischen Werte) abgeleitete statistische Daten (sie beschreiben statistische Merkmale der Variablenbreite der Datenkategorie)

Zusammenstellung der Häufigkeitsverteilungen in Tabellen :

aggregierte statistische Daten

Errechnung von Korrelationen, Signifikanzen, Mittelwertdifferenzen u. a. statistischen Werten:

synthetische statistische Daten

Komprimierung der Datenmasse durch Bildung von Indizes; Zusammenfassung von Daten aus mehreren Merkmalsdimensionen in einer neuen, theoretisch begründeten komplexen Merkmalsdimension durch Aggregierung (additiv, multiplikativ), Gewichtung (normativ, analytisch), durch Standardisierung, Bestimmung der Ausprägungsgrade u. a. Operationen der Indexkonstruktion:

AGGREGATDATEN (Indizes, Kennziffern)

Abb. 2 Datengewinnung und Datenarten der statistischen Bearbeitung Quellen : G. Beling/G. Wersig, Zur Typologie von Daten und Informationssystemen, München 1973, S. 50; R. Werner, Soziale Indikatoren und politische Planung, Reinbek 1975, S. 151-220.

Was sind Daten?

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die Verknüpfung von Daten und Theorie werden die registrierten Eigenschaften bzw. Merkmale sozialer Sachverhalte zu wissenschaftlichen Tatsachen und können die Qualität dieser Sachverhalte widerspiegeln. Mayntz/Holm/Hübner nennen drei wichtige Prinzipien der Datensammlung'. „ 1. das Prinzip der Vergleichbarkeit, 2. das Prinzip der Klassifizierbarkeit und 3. das Prinzip der Vollständigkeit." 19 Das Prinzip der Vergleichbarkeit besagt, daß jedes Objekt der Untersuchungseinheit diese Merkmalsdimension haben muß, sonst ist eine Vergleichbarkeit der Objekte nicht gegeben. Das Prinzip der Klassifizierbarkeit besagt, daß die Merkmalsausprägungen eine vollständige und konsistente Reihe bilden müssen und bei jedem Objekt eine Zuordnungsmöglichkeit nach dieser Klassifizierung gegeben sein muß. Das Prinzip der Vollständigkeit besagt, daß die Merkmalsausprägungen bei allen Merkmalsdimensionen, die für das Forschungsproblem als relevant erkannt wurden, zu finden sein müssen. Die Anforderungen an Daten lassen sich wie folgt gliedern: 1. Methodische Anforderungen an Daten und an die Arbeit mit Daten: — Daten sollen eine adäquate, nicht verzerrte Information vermitteln, — die Information soll stabil und fundiert sein, — Daten sollen eine quantitative Bearbeitung ermöglichen und — möglichst EDV-gerecht erhoben werden, — alle Operationen der Gruppierung, Systematisierung und Verallgemeinerung müssen wissenschaftlich begrüncfet sein. 2. Theoretische Anforderungen an Daten und an die Arbeit mit Daten: — Daten müssen in theoretisch begründete Begriffe umgesetzt werden können, d. h., Beobachtungsdaten müssen mit operationalen Begriffen und diese mit Konstruktion bzw. theoretischen Begriffen verbunden sein, theoretische Vorleistungen gehen also der Erhebung voraus; — Daten müssen über Begriffe zu bestehenden Theorien in Beziehung gesetzt werden und können so in den Rang von wissenschaftlichen Tatsachen erhoben werden; — Daten müssen als Einzeldaten im Systemzusammenhang des Objekts betrachtet werden und dürfen nicht isoliert zu Aussagen über das Objekt als Ganzes, zu unstatthaften Verallgemeinerungen benutzt werden; sie dürfen nicht als „self-evidente Entitäten" betrachtet werden. 20 19

Ebenda, S. 35.

20

Vgl. W. Friedrich, Einführung in den sozial wissenschaftlichen Forschungsprozeß, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, Berlin 1975, S. 25— 35; W. A. Jadow, Über die Rolle der Methodologie bei der Ausarbeitung der Methoden und

210

Datenerhebung

3. Philosophisch-weltanschauliche Implikationen von Daten: — Daten werden mit der unausgesprochenen Voraussetzung erhoben, daß gesellschaftliche Sachverhalte erkennbar sind, — daß im sozialen Bereich Gesetzmäßigkeiten existieren, daß durch die Verknüpfung von Daten regelhafte Zusammenhänge, statistische Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt werden können und — daß Daten — im theoretischen Gesamtzusammenhang betrachtet — ein adäquates Abbild der Wirklichkeit geben können. Wir haben bei unseren Ausführungen über Daten ihre Bedeutung als Grundlage sozialer Information betont. Unsere Überlegungen würden ein wichtiges Problem übergehen, wenn wir nicht auf die Möglichkeit fehlerhafter Daten bzw. auf die bewußte Verfälschung von Daten hinweisen würden. Daten können auf jeder Stufe unbewußt oder bewußt verfälscht werden, angefangen bei ihrer Erhebung bis zur Rezeption durch den Nutzer. Die Möglichkeit der Fehlinterpretation und Fälschung von Daten wird in Abbildung 1 schematisch dargestellt; sie darf aber nicht so ausgelegt werden, als ständen einer richtigen Statistik drei falsche gegenüber (vgl. Abb. 2). In diesem Zusammenhang sei (auch unter Bezug auf Abb. 2) auf ein kompliziertes methodisches Problem verwiesen, das im Prozeß der Aggregierung von Rohdaten und der Ableitung statistischer Maßzahlen, das bei der Analyse der Daten und bei der Umsetzung in Aussagen entsteht. Am Ende dieser Prozeduren sollen aus den Daten Aussagen über die qualitative Beschaffenheit des Untersuchungsobjekts entstehen. Dabei wird bisweilen übersehen, daß in diesem Prozeß auch ein Wandel im Charakter der Untersuchungseinheit und oft eine Verlagerung der Aussagen auf eine andere Ebene stattfindet. 21 Ein Beispiel soll die Veränderung der Untersuchungseinheit verdeutlichen: Bei einer Untersuchung über Bewältigung und Wirkung von Maßnahmen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in einem Industriezweig werden Arbeiter und Leiter in modernen Produktionsbereichen befragt. Untersuchungseiilheit der Erhebung ist als Merkmalsträger der einzelne Befragte, das Individuum. Untersuchungseinheit der Analyse ist die Menge der durch die Auswahl repräsentierten Personen, also eine Klasse von Merkmalsträgern, eine statistische Gruppe. UnterTechniken der konkreten soziologischen Forschung, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, a. a. O., S. 59—72; K. D. Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, Reinbek b. Hamburg 1973, S. 50—67. 21

Vgl. O. Hohmann/J. v. Koolwijk, Deskriptive Methoden der quantitativen Sozialforschung, in: J. v. Koolwijk/M. Wieken-Mayser (Hrsg.), Techniken der empirischen Sozialforschung, Bd. 7, München 1977, S. 9—44; K. Kortmann/H. J. Krupp, Verknüpfung und Generierung von Mikrodaten, in: P. J. Müller (Hrsg.), Die Analyse prozeß-produzierter Daten, a. a. O., S. 1 0 9 - 1 4 0 .

Methodenwahl

211

suchungseinheit der Aussagen sind soziale Prozesse in automatisierten Produktionsbereichen; hier werden Formen der Durchsetzung des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts, Meinungen, Einstellungen, soziale Widersprüche und Triebkräfte als Merkmale kollektiven Bewußtseins und sozialer Prozesse in modernisierten Produktionsbereichen dargestellt. Es ist eine Eigenart der Soziologie, die ja in der Regel keine Individualdiagnostik anstrebt, daß Daten, die auf der Ebene des Individuums bzw. der Kleingruppe erhoben wurden, nicht nur zu verallgemeinerten Aussagen über Persönlichkeitsund Kollektiventwicklung verwendet werden, sondern auch zu Aussagen über soziale Organisationen, Klassen und Schichten und Prozesse der gesamtgesellschaftlichen Ebene. Bei diesem Übergang von Mikro- zu Makroprozessen wechselt nicht nur die Ebene im Bezug der Daten, es findet auch ein Wechsel des Untersuchungsobjektes statt. Individualdaten der Erhebungsphase werden auf diesem Weg (theoretisch begründet) zur Grundlage von Aussagen über komplexe soziale Sachverhalte. Auch die Kategorien wechseln die Bezugsebene. In vielen Aggregatdaten der staatlichen Statistik sind Daten der individuellen Ebene die Grundlage, um zu Aussagen über gesamtgesellschaftliche Prozesse zu kommen. In diesem Zusammenhang sei betont, daß die Auffassung irrig ist, die Widerspiegelung der Mikroprozesse (Ebene des individuellen Handelns und der Kleingruppen) sei identisch mit Empirie, die Erfassung der Makroprozesse (Ebene der Klassen und der gesamtgesellschaftlichen Prozesse) sei mit Theorie gleichzusetzen. Die Theorie der marxistisch-leninistischen Soziologie umfaßt alle Ebenen sozialer Prozesse (Theorie der Persönlichkeit, der kleinen Gruppen, der Organisationen und der gesamtgesellschaftlichen Bewegung), und sie benötigt ebenso zu jeder Ebene empirische Daten. In Systemen von Sozialindikatoren drückt sich der Versuch aus, gesamtgesellschaftliche Strukturen und Prozesse quantifizierend, in statistischen Daten, zu erfassen.

3.1.2. Methodenwahl Bei der Planung und Vorbereitung einer Untersuchung ist eine Reihe von Entscheidungen zu treffen, die schließlich zur Methoden wähl führt. Einen Fragenkatalog zur Planung, Durchführung und Auswertung empirischer Untersuchungen bieten unter besonderer Berücksichtigung der statistischen Verfahren Lohse, Ludwig und Röhr.22 Sie erläutern speziell auch Elemente, Grundbegriffe und Prinzipien der Versuchsplanung in Verbindung mit multivariaten statistischen Analyseverfahren. Wir orientieren uns im folgenden auf einige methodische Überlegungen zu den sieben Fragen, die in Abbildung 3 stichwortartig beantwortet sind (vgl. Abb. 3). 22

15

Vgl. H. Lohse/R. Ludwig/M. Röhr, Statistische Verfahren für Psychologen, Pädagogen und Soziologen, Berlin 1982, S. 24—42. Soziolog. Forschung

212 Abb. 3: Fragen bei der

Datenerhebung

Methodenwahl

1. Direkte oder indirekte Erhebungsmethode? Indirekte Erhebungsmethoden sind ökonomischer und vorzuziehen, wenn Dokumente, Statistiken, soziologische Daten u. a. Quellen — in hinreichendem Umfang, — unter hinreichender Berücksichtigung der relevanten Probleme und — in hinreichender Qualität vorliegen. 2. Quantitative oder qualitative Analyse? Die quantifizierende Analyse, speziell ein Meßvorgang, ist vorzuziehen, wenn — die zu untersuchenden Sachverhalte quantifizierbar sind bzw. für eine quantifizierende Analyse erschließbar sind, — der Aufwand einer quantifizierenden Analyse durch die Bedeutung des Forschungsergebnisses gerechtfertigt ist und wenn — hinreichend Zeit und Mittel (auch fur die Datenaufbereitung) vorhanden sind, — quantifizierende, statistisch repräsentative Erhebungen erfordern Standardisierung. 3. Einzel- oder Vergleichserhebung, Zustands- oder Längsschnittanalyse? Vergleiche sind als Grundlage für eine Bewertung immer anzustreben. Längsschnittstudien (Intervallerhebungen) sind anzustreben, wenn — der Prozeßcharakter erfaßt werden soll, — Zeit- und Mittel für Wiederholungserhebungen vorhanden sind und — die Bedingungen des Forschungsobjekts Wiederholungen zulassen. 4. Vollerhebung oder Stichprobe? Die Erhebung bei einer Stichprobe ist wegen des geringeren Aufwandes immer vorzuziehen, wenn ein statistisch gesichertes Auswahl verfahren angewendet werden kann. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Auswahl von Objekten (z. B. Betrieben), Personen und Merkmalsdimensionen (ausgewählte Indikatoren für komplexe Sachverhalte). 5. Nichtexperimenteller oder experimenteller Forschungsansatz? Der experimentelle Ansatz ist vorzuziehen, wenn — eine Bedingungskontrolle möglich ist (Konstanthalten der Bedingungen bei Versuchs- und Kontrollpopulation) und wenn — ohne nachteilige soziale Wirkungen eine planmäßige Veränderung der unabhängigen Variablen stattfinden kann, oder wenn — durch den historischen Verlauf eine quasi-experimentelle Situation bereits vorgegeben ist. 6. Einzelerhebungsmethode oder Methodenkombination? Bestimmend für die Methodenwahl sind — der Charakter des Untersuchungsobjekts (Untersuchungsfeldes), — die personellen, materiellen und zeitlichen Forschungsbedingungen, — der Entwicklungsstand der Theorie über den Forschungsgegenstand und — die Verwertungsbedingungen der Forschungsergebnisse (welcher Aufwand ist durch das Forschungsziel gerechtfertigt?). Das „schwächste Kettenglied" dieser Faktoren beeinflußt wesentlich die Methodenwahl (z. B. Zeitfaktor, gerechtfertigter Aufwand). Eine Methodenkombination ist gegenüber einem Metho-

Methodenwahl

213

denmonismus vorzuziehen, da jede Methode nur eine bestimmte Leistungsfähigkeit hat und mehrere unterschiedliche Methoden in ihrer Kombination die Komplexität sozialer Sachverhalte besser erfassen. 7. Standardisierte oder nichtstandardisierte Erhebung? Standardisierte Erhebungsmethoden — ermöglichen eine quantifizierende Erfassung und — erhöhen die Objektivität (Untersucherunabhängigkeit) und Zuverlässigkeit der Erhebung, — sowie die Vergleichbarkeit und Aggregierbarkeit der Ergebnisse. Sie bedeuten jedoch gleichzeitig auch — einen Eingriff in den natürlichen Ablauf eines Prozesses (z. B. eines Gesprächs/Verwandlung in standardisiertes Interview) und - schaffen eine „künstliche" Atmosphäre. Standardisierung und Formalisierung durch explizite Anwendungsregeln bringen durch die Wiederanwendbarkeit des methodischen Instrumentariums eine Rationalisierung, die Möglichkeit der Wiederholung, des Vergleichs und der interpersonalen Kontrolle. Die Empfehlungen in diesem Schema sind keine apodiktischen Forderungen, sondern Hilfsmittel für eine selbständige Entscheidung unter Berücksichtigung aller gegebenen Umstände.

1. Frage: Im Prozeß der Datengewinnung lassen sich direkte und indirekte Erhebungsmethoden unterscheiden (vgl. Abb. 4). Bei der direkten Erhebung „produziert" der Soziologe selbst die Daten, er organisiert die Beobachtung oder Befragung und registriert die Daten zielgerichtet unter dem Gesichtspunkt der von ihm untersuchten Forschungsprobleme. Bei der indirekten Erhebung stützt sich der Soziologe auf vorgefundene Daten, Dokumente und andere Quellen, unterzieht sie einer eigenständigen Analyse und gewinnt aus dem vorliegenden Material neue Daten und Erkenntnisse. Die Erhebung ist hier zugleich auch ein Auswertungsprozeß. 23 Der Soziologe hat es nicht unmittelbar mit dem untersuchten Sachverhalt zu tun, sondern mit einer Vermittlung, mit einem bewußt oder unbewußt angefertigten „Protokoll", aus dem er Informationen gewinnt. Indirekte Erhebungen umfassen also auch die Sekundäranalyse der bereits früher unter anderen Gesichtspunkten erhobenen soziologischen Daten und die Analyse von Statistiken, wie wir sie eingangs dieses Abschnitts am Beispiel Leninscher Arbeiten erläuterten; sie schließen auch die Analyse von Datensammlungen, die nicht für wissenschaftliche Zwecke erhoben wurden und von anderen Dokumenten und Quellen ein (vgl. Abschnitte 3.2.3. und 3.2.4.). Indirekte Erhebungen haben eine ganze Reihe von erschwerenden Besonderheiten : 23

Vgl. J. Bortz, Lehrbuch der empirischen Forschung, Berlin (West)-Heidelberg-New Yorki Toronto 1984, S. 74.

15*

214

Datenerhebung Befragung dritter Personen

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s historische Quellen (z.B. Bauten, Funde u. a.)

3 s Sachdokumente, Fotos i Filme, Karten u.a.) verbale Doku\ mente

qualitativ quantitativ (Inhaltsanalyse)

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Abb. 4 M e t h o d e n soziologischer Erhebungen (direkte und indirekte M e t h o d e n )

— Der Prozeß der primären Datengewinnung liegt in der Vergangenheit; — der Soziologe hat mit dem zu untersuchenden Sachverhalt in der Regel keinen unmittelbaren Kontakt; — er muß sich in Umfang und Qualität mit den Daten begnügen, welche ihm die vorliegenden Quellen (Dokumente, Statistiken) anbieten;

Methoden wähl

215

— die Daten sind möglicherweise unvollständig, sie sind vielfach aus einer anderen Problemsicht erfaßt oder überhaupt nicht unter wissenschaftlichen Aspekten gesammelt; der Soziologe muß mit Auslassungen, Fehlern und auch bewußten Verfälschungen rechnen; — der Soziologe kann meist keine Überprüfung durch eine direkte Erhebung anstellen und eine Ergänzung oder Korrektur der Daten herbeiführen. Wenn diese Punkte auch gegen indirekte Erhebungen sprechen, so müssen doch auch ihre großen Vorzüge hervorgehoben werden: — indirekte Erhebungen sind in der Regel ökonomischer, sie sparen Arbeitsaufwand, Zeit und Geld; — sie erfordern im allgemeinen nicht, daß man andere Menschen beanspruchen muß, indem man sie befragt oder beobachtet und damit auch in ihre persönliche Sphäre eingreift und — sie sind meßtheoretisch nicht-reaktive Verfahren. Als reaktiv wird eine Messung bezeichnet, wenn sie das zu untersuchende Phänomen modifiziert, wenn durch die Erhebung die „Versuchsperson" (der Beobachtete, der Befragte) bewußt oder unbewußt beeinflußt wird. Der Meßvorgang „wirkt auf die unabhängige Variable, deren Wirkung gerade untersucht werden sollte, indem sie den Charakter der unabhängigen Variablen verändert" 24 . In diesem strengen Sinn führen die meisten direkten Erhebungsmethoden zu reaktiven Messungen. Die Ergebnisse sind im extremen Fall Artefakte, Kunstprodukte der Forschung. Wir werden uns weiter unten mit Fehlern bei der Erhebung befassen. Wenn man Fehlerquellen kennt, kann man Fehler minimieren; ganz vermeiden kann man reaktive Messungen bei bestimmten Erhebungsformen nicht, verhindern läßt sich jedoch ein absolutes „Fürwahrhalten" solcher Ergebnisse, eine unkritische Interpretation. Der Ausweg besteht auch nicht in einer einseitigen Bevorzugung indirekter Methoden, denn erstens sind auch beim Zustandekommen der Quellen die meisten Erhebungsfehler nicht ausgeschlossen und zweitens kann man nur dort indirekte Methoden einsetzen, wo entsprechendes Quellenmaterial vorliegt. Spezielle indirekte Indikatoren, die bisweilen empfohlen werden, z. B. Abnutzungen oder Ablagerungen zu untersuchen, gehören jedoch eher in das Repertoire der Kriminalistik oder der Archäologie.25 Der Einsatz von indirekten Methoden wird dann notwendig, — wenn zu untersuchende soziale Sachverhalte in der Vergangenheit liegen und deshalb nur noch anhand von Dokumenten und anderen Quellen untersucht werden können und 24

25

W. Bungard/H. E. Lück, Forschungsartefakte und nicht-reaktive Meßverfahren, Stuttgart 1974, S. 88. Vgl. ebenda, S. 100-104.

216

Datenerhebung

— w e n n P r o z e s s e u n t e r s u c h t w e r d e n , d i e s o komplex, lich gestreut

s o langdauernd

oder

räum-

sind, d a ß der S o z i o l o g e sie gar nicht direkt u n t e r s u c h e n k a n n ,

s o n d e r n die M a t e r i a l i e n der s t a a t l i c h e n Statistik u n d a n d e r e benutzen m u ß

(Beispiel:

demographische

Daten,

ökonomische

Dokumente volkswirt-

schaftliche Daten, D a t e n über Kulturleben, internationale Beziehungen und globale Prozesse). 2. Frage:

Quantitative

oder qualitative

Analyse?

D i e s e F r a g e ist m i t ihrer a l t e r n a t i v e n G e g e n ü b e r s t e l l u n g irreführend, sie w i r d a b e r , b e s o n d e r s in d e n letzten Jahren, w i e d e r k o n t r o v e r s in der S o z i o l o g i e d i s k u tiert. 2 6 D i e D i s k u s s i o n w i r d d a d u r c h k o m p l i z i e r t , d a ß u n t e r s c h w e l l i g e i n e g a n z e R e i h e falscher

A n a l o g i e s c h l ü s s e m i t s p i e l t , s o : D i e q u a n t i t a t i v e A n a l y s e sei a u f

die Erscheinung, die qualitative auf das W e s e n eines Sachverhalts gerichtet; oder: D i e q u a n t i t a t i v e A n a l y s e sei e m p i r i s c h , d i e q u a l i t a t i v e t h e o r e t i s c h ; o d e r — u m d i e g e g e n t e i l i g e A r g u m e n t a t i o n a n z u f ü h r e n : D i e q u a n t i t a t i v e A n a l y s e sei e x a k t ,

26

Die Diskussion in der B R D entzündete sich Anfang der 70er Jahre an kritischen Einwänden gegen die Meßmethoden in der Soziologie. Von Bedeutung für die verstärkte Befürwortung qualitativer Methoden durch einige Soziologen waren dabei auch Theoreme der Ethnomethodologie und des Symbolischen Interaktionismus, die auf die Erfassung des subjektiven Sinngehalts von Handlungen und der im Alltagshandeln verborgenen Symbole orientieren. Das „interpretative Paradigma" empfiehlt den Einsatz qualitativer, flexibler, beschreibender und prozeßorientierter Methoden. Sie seien den Methoden der „normativen Sozialforschung", die von der Objektivität der sozialen Realität ausgehe, vorzuziehen, wenn es um Sinnverständnis, Situationsbezogenheit und Prozeßhaftigkeit sozialer Lebensvorgänge gehe. Dabei werden auch Gedanken der Lebensphilosophie und Phänomenologie in methodische Empfehlungen umgesetzt. — Kritik an traditionellen standardisierten, quantifizierenden Vorgehensweisen üben jedoch auch Soziologen aus sozialkritischen Motiven. So gehe z. B. die auf die Erzeugung von Herrschaftswissen orientierte Umfrageforschung am wirklichen Denken der Massen vorbei. Erst in der realen Teilnahme an der sozialen Umgestaltung, in der Aktion, könne man die Vorgänge wirklich verstehen. Die herkömmlichen standardisierten quantifizierenden Methoden mit ihrem Hypothesenfetischismus seien unelastisch und vorurteilsbehaftet. — Wir nennen im folgenden (geordnet nach dem Erscheinungsjahr) einige Titel, in denen in unterschiedlicher Form diese Kritik an quantifizierenden und standardisierten Methoden vertreten wird: Vgl. A. V. Cicourel, Methode und Messung in der Soziologie, Frankfurt a. M. 1970; K. Keppner, Zur Problematik des Messens in den Sozialwissenschaften, Stuttgart 1975; H. Moser, Aktionsforschung als kritische Theorie der Sozialwissenschaft, München 1975; W. Mertens, Aspekte einer sozialwissenschaftlichen Psychologie, München 1977; G. Hopf/ E. Weingarten (Hrsg.), Qualitative Sozialforschung, 1. Aufl., Stuttgart 1979; H. Berger, Untersuchungsmethode und soziale Wirklichkeit, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1980; J. Kriz, Methodenkritik empirischer Sozialforschung, Stuttgart 1981; B. Volmerg/Th. Leithäuser/U. Volmerg, Politisches Bewußtsein als Untersuchungsfeld interpretativer Sozialforschung, Bremen 1982; A. Witzel, Verfahren der qualitativen Sozialforschung, Frankfurt a. M.-New York 1982; P. Zedler/H. Moser (Hrsg.), Aspekte qualitativer Sozialforschung, Opladen 1983.

Methoden wähl

217

die qualitative spekulativ. Verwiesen wird auch auf die richtige Tatsache, daß sich in der Geschichte der Wissenschaft das Feststellen rein qualitativer Unterschiede als eine sehr einfache Form der Erkenntnis erweist.27 In den Naturwissenschaften gelten qualitative Bestimmungen „meist als die ärmeren, als provisorisch, inhaltsleer und vage" 28 . Welche Positionen müssen wir in der marxistisch-leninistischen Soziologie geltend machen? — Zunächst muß die bekannte Tatsache ins Bewußtsein gerufen werden, daß jeder Sachverhalt eine dialektische Einheit von qualitativen und quantitativen Bestimmungen ist und daß die wissenschaftliche Erkenntnis demzufolge sowohl qualitative wie auch quantitative Bestimmungen umfassen muß. Beide ergänzen sich. — Sowohl der Übergang von quantitativen zu qualitativen Bestimmungen kann ein Fortschreiten zum genaueren Erfassen sozialer Sachverhalte sein als auch die Erhärtung qualitativer Analysen durch quantifizierende Angaben. Beide Wege können eine Annäherung an die Erkenntnis des Wesens bedeuten. — Meßwerte können eine Indikatorfunktion für komplexe Sachverhalte nur dann haben, wenn die Merkmalsdimensionen, ausgehend von einem theoretisch begründeten Modell, richtig bestimmt wurden. 29 Jedoch auch für die qualitative Analyse besteht gleichermaßen die Forderung, von einem theoretisch begründeten konzeptionellen Ansatz auszugehen. Eine theoretisch voraussetzungslose Analyse ist in jeder Form falsch. — Merkmale, die meßbar sind, bzw. Sachverhalte, die in meßbare Merkmalsdimensionen zerlegt werden können, müssen auch gemessen, müssen im Hinblick auf den Ausprägungsgrad quantitativ bestimmt werden. Eine nicht quantifizierende Betrachtung, die häufig unter dem Begriff der qualitativen Analyse firmiert, kann den Sachverhalt zwar richtig beschreiben und einordnen (es werden übrigens dabei auch nominale und ordinale Urteile gefallt), sie bleibt jedoch, ebenso wie Schätz2

\ V g l . R. Thiel, Quantität oder Begriff?, Berlin 1967, S. 219. Der Autor geht in einem Abschnitt seines Buches auf Hegels Entwicklung der Kategorien Quantität und Qualität ein (ebenda, S. 217-232). 28 Ebenda, S. 221. „Die auf das Feststellen qualitativer Unterschiede beschränkte Bestimmung ist wie ein Lippenspitzen ohne zu pfeifen, wie ein Ausholen ohne zu schlagen. Man schickt sich an, eine Bestimmung anzugeben, aber es kommt keine konkrete Bestimmung; es wird nur festgestellt, daß etwas Bestimmtes da ist" (ebenda, S. 220). 29 A. V. Cicourel wies darauf hin, daß die Bemühungen der Soziologie um das Etikett „Wissenschaft" dazu geführt haben, daß Messungen willkürlich durchgeführt werden. „Statt soviel Zeit und Geld auf Studien zu verwenden, die nur willkürliche Messung erreichen, sollten wir lieber mehr Zeit darauf verwenden, unsere Theorien zu klären und nach Korrelaten in einer Welt von Beobachtbarem zu suchen" (A. V. Cicourel, Methode und Messung in der Soziologie, a. a. O., S. 16).

218

Datenerhebung

urteile, oft hinter den Möglichkeiten einer genauen Bestimmung zurück. 30 Exakte Meßwerte ermöglichen Vergleichbarkeit und Aggregierbarkeit der Daten. — In der neueren Geschichte der Gesellschaftswissenschaft und speziell auch in der marxistisch-leninistischen Soziologie zeigt sich die Tendenz, komplexe soziale Sachverhalte in quantitativ bestimmbare Merkmale zu zerlegen und so theoretische Voraussetzungen für eine quantifizierende Erfassung zu schaffen. So werden in der Sozialstrukturforschung Klassen und Schichten der sozialistischen Gesellschaft durch eine immer größere Zahl von quantitativ ermittelten Bestimmungsmomenten charakterisiert. Sozialpolitik und Lebensweise werden quantifizierend durchdrungen etc. Die Planung und Leitung sozialer Prozesse benötigt exakt erfaßte, vergleichbare und aggregierbare Daten. Die langfristige Entwicklungstendenz in den Gesellschaftswissenschaften zielt eindeutig auf eine Ausdehnung der quantifizierenden Erfassung sozialer Sachverhalte. Die Geschichtswissenschaft nutzt zunehmend quantitatives Material und computergestützte Datenanalysen. Die Forschungen über die Modellierung globaler Prozesse benötigen bei der Computersimulierung Zeitreihen, umfangreiche Depots an Meßdaten; die Planung und Abrechnung ökonomischer Prozesse fußt auf der Quantifizierung; Sozialindikatorenforschungen haben objektive und subjektive Seiten sozialer Prozesse in der Gesamtgesellschaft quantifiziert erfaßbar und international vergleichbar gemacht. Die Tendenz zur Quantifizierung zeigt sich in den Sprachwissenschaften, in der Journalistikwissenschaft und selbstverständlich auch in der Sozialpsychologie und Psychologie. — Eine Anhäufung rein quantitativer Bestimmungen macht allein noch keine wissenschaftliche Erkenntnis aus. Abzulehnen ist ein Empirismus, der mit immer verfeinerten Meß- und statistischen Aufbereitungsmethoden Daten produziert, ohne sagen zu können, was sie eigentlich bedeuten und in welchem Zusammenhang sie in größeren sozialen Prozessen stehen. 31 In der Diskussion um quantitative und qualitative Analyse geht es aber meist gar nicht um das Abbilden quantitativer und qualitativer Merkmale, sondern um ein anderes Problem: statistisch repräsentative Massenerhebung oder Fallstudien'! Es geht darum, wie weit standardisierte und formalisierte Massenerhebungen die Besonderheit und Einmaligkeit sozialer Phänomene, ihre geschichtliche Lagerung abbilden können, ob sie tief genug das Wesen und die Ganzheitlichkeit komplexer sozialer Phänomene erfassen können. 30

31

L. Sprung/H. Sprung stellen folgende „Härtekriterien" auf: „1. Gemessene Daten sind härter als geschätzte Daten. 2. Quantitative Daten sind härter als qualitative Daten. 3. Registrierte Daten sind härter als protokollierte Daten" (L. Sprung/H. Sprung, Grundlagen der Methodologie und Methodik der Psychologie, Berlin 1984, S. 237). Vgl. H. Hartmann, Empirische Sozialforschung, München 1970, S. 104—107.

Methoden wähl

219

— Die alternative Gegenüberstellung von Massenerhebung und Fallstudien ist zunächst irreführend, denn sie können sich gegenseitig sinnvoll ergänzen: Fallstudien können der Problemerkundung und Hypothesenfindung sowie der Vertiefung der Erkenntnisse bei Massenerhebungen dienen, und umgekehrt bedürfen Fallstudien der typologischen Einordnung, wofür Massenerhebungen die Grundlage bieten können. Beide Ansätze können als Haupterhebungsmethode dienen (vgl. Abschnitt 3.3.1.). — Qualitative Analysen beanspruchen die Fähigkeiten des Forschers stärker als quantifizierende Massenerhebungen; sein Entscheidungsspielraum ist nicht durch Standards eingeengt, er kann seiner Intuition folgen, auf die Individualität des Falles (der Biographie, des Dokuments) eingehen und seine Darstellungskraft entfalten. Fallstudien eignen sich für die Analyse von Vorausphänomenen und für andere neue oder einmalige Sachverhalte, die durch eine Massenanalyse gar nicht erfaßt werden können. — Qualitative Analysen können das Alltagserkennen, die Zufallsbeobachtung, die individuelle Erfahrung, auch das Einfühlen und andere subjektive Momente nutzen. Damit soll jenen Richtungen der nichtmarxistischen Soziologie, die ein „Verstehen" als Ersatz für das Erklären, ein rein phänomenologisches Erfassen der sozialen Wirklichkeit unter Verweis auf Lebenserfahrung postulieren oder die Hermeneutik propagieren, nicht das Wort geredet werden. Es geht uns bei Fallstudien, biographischen Analysen, qualitativer Analyse von Dokumenten und anderen Einsatzformen um die Nutzung der schöpferischen Möglichkeiten des Forschers ohne die Fessel der Standardisierung. Die spezifischen Erkenntnisprobleme dieser qualitativen Analysen verdienen Beachtung. Zu Recht wurde auf die zu einseitige Verwendung standardisierter Befragungen aufmerksam gemacht und auf die Notwendigkeit, die gesamte Vielfalt der Möglichkeiten unseres Methodenarsenals zu nutzen. 32 3. Frage: Einzel- oder Vergleichserhebung (Querschnittstudie), Zustands- oder Längsschnittstudiel Diese Fragen betreffen die Forschungsstrategie und eigentlich nur indirekt die Methodenwahl. Die Ergebnisse einer einzelnen Erhebung können nur mit den hypothetischen Erwartungswerten verglichen werden. Zu empfehlen ist daher immer, zumindest in bestimmten Merkmalsdimensionen, die Vergleichbarkeit mit bereits vorliegenden Untersuchungen anzustreben, oder günstiger, eine parallele Vergleichserhebung durchzuführen. Jedoch auch solche Querschnittsanalysen ergeben immer 32

Vgl. R. Weidig, Aufgaben und Probleme der Entwicklung der marxistisch-leninistischen Soziologie als Wissenschaftsdisziplin in der DDR, in: Informationen zur soziologischen Forschung in der DDR, 4/1981, S. 4—16; weitere Autoren auf der Tagung des Wissenschaftlichen Rates für Soziologische Forschung, in: Informationen zur soziologischen Forschung in der DDR, 6/1983.

220

Datenerhebung

nur eine „Momentaufnahme", die Abbildung eines Zustandes. Das Bestreben soziologischer Erkenntnis sollte viel häufiger darauf orientiert sein, soziale Prozesse, Entwicklungsvorgänge und damit nicht nur schlechthin Veränderungen, sondern Wechselbeziehungen zwischen bestimmten Bedingungen und ihren Wirkungen zu erfassen. Dazu dienen Längsschnittstudien, die unterschiedliche Ansätze haben können: zeitverschobene Wiederholungserhebungen bei einer ähnlichen Population, mehrmalige Erhebungen bei der gleichen Population (Panelstudie), Erhebungen in zeitlichen Abständen bei anderen Personen, die jedoch jeweils in der gleichen Situation erfaßt werden (z. B. Studenten zu Beginn ihres Studiums) und schließlich Mischformen und Kombinationen dieser Möglichkeiten. Längsschnittstudien erfordern mehr Zeit, höheren Aufwand für Vergleiche und wiederholte Aufbereitungen und bringen auch andere methodische Schwierigkeiten mit sich (z. B. die „Probandenmortalität", die Verkleinerung der Untersuchungspopulation bei Panelstudien), aber sie ermöglichen die Erfassung des Verlaufscharakters bestimmter Vorgänge. Diese Probleme werden in Abschnitt 3.3.3. dargestellt.33 4. Frage: Vollerhebung oder Erhebung bei einer Stichprobe (vgl. Abschnitt 2.11.)? Die Entscheidung dürfte überall dort, wo es möglich ist, eine statistisch repräsentative Auswahl zu treffen, zugunsten der Stichprobenerhebung ausfallen. Die Bemerkungen zu den folgenden drei Fragen fassen wir zusammen und verweisen auf die Aussagen in der Abbildung 3. 5. Frage: Nichtexperimenteller oder experimenteller Forschungsansatz? 6. Frage: Entscheidung über Haupterhebungsmethode, Nebenerhebungsmethoden, d. h. Methodenwahl und Methodenkombinationen und 7. Frage: Entscheidung über den Grad der Standardisierung. Dies ist eine Voraussetzung für statistisch repräsentative Massenerhebungen, für Vergleichbarkeit und Aggregierbarkeit der Daten. In bezug auf experimentelle Ansätze verweisen wir auf Abschnitt 3.3.4. Hier sei lediglich vermerkt, daß dem klassischen Experiment eine ganze Reihe von „Versuchsanordnungen", Organisationsformen der Erhebung, vorgelagert sind, die experimentellen Ansätzen nahe kommen, „quasiexperimentelle-Erhebungsformen", die aber den Möglichkeiten und der sozialen Realität eher entsprechen als z. B. Laborexperimente. Dieses Kontinuum zwischen nicht-experimentellen und experimentellen Ansätzen sollte bewußt genutzt werden. Für die Methodenwahl bietet die Abbildung 5 in Stichworten Vergleichsmöglichkeiten. Die schematische Darstellung kann natürlich nicht alle Varianten der einzelnen Erhebungsformen berücksichtigen, darauf gehen die Abschnitte dieses Kapitels im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten ein (vgl. Abb. 5). Wir werden bei den einzelnen Erhebungsmethoden immer wieder in gedrängter Form Vorzüge und Nachteile gegenüberstellen, und zwar aus folgenden Gründen: 33

Vgl. A. Ullmann/St. H. Wilsdorf, Bewertung und Vergleich, Berlin 1977.

M e t h o d e n

221

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Vgl. A. Pinther, Beobachtung, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, Berlin 1975, S. 512—516.

238

Datenerhebung

obachter in beliebigen Untersuchungsfeldern teilnehmende Beobachtungen durchführen kann. Er muß selbst entsprechende berufliche und qualifikationsmäßige, ja sogar motivationale Eignung besitzen. Wenn z. B. im Rahmen von Untersuchungen zur Automatisierung, zur Herstellung mikroelektronischer Bauelemente oder zum Schaltkreisentwurf teilnehmende Beobachtungen durchgeführt werden sollen, dann wird ein Soziologe in der Regel nicht über die notwendige Qualifikation verfügen, um so eine Beobachtung verdeckt durchführen zu können. Es zeichnet sich daher die Tendenz ab, die teilnehmende Beobachtung offen durchzuführen. Wenn die teilnehmende Beobachtung über einen längeren Zeitraum durchgeführt wird, unterliegt der Beobachter der Gefahr einer zunehmend selektiven Wahrnehmung und Identifikation mit Haltungen, Anschauungen und Handlungsweisen der Beobachteten. Dem kann nur durch gezieltes Anwenden von Methoden der Selbstkontrolle entgegengewirkt werden. Der Beobachter befindet sich in einer zwiespältigen Situation, indem er einerseits seine Beobachtungsaufgabe nach allen methodologischen Regeln durchführen will und andererseits sich mit den Beobachtungseinheiten immer enger verbinden muß, um immer tiefer in den Beobachtungsgegenstand eindringen zu können. Der unvermeidlichen, aber in kontrollierten Grenzen zu haltenden Selektivität der Beobachtung kann durch stärkere Standardisierung der Beobachtungsinhalte begegnet werden. In der Praxis zeigt sich aber, daß gerade solche sozialen Erscheinungen und Prozesse teilnehmend beobachtet werden müssen, die sich sowohl auf Grund ihrer relativen Neuartigkeit als auch auf Grund der konkreten Beobachtungssituationen nur sehr schwer standardisieren lassen. Damit entstehen zugleich Probleme der Kontrollierbarkeit, die nur gemeistert werden können, wenn der Beobachter mit hohem Berufsethos, einem ausgezeichneten Fundus an Kenntnissen und verantwortungsbewußter Ausnutzung der Beobachtungstechnik an seine Aufgabe herangeht. Ausführliche Hinweise zu dieser Problematik gibt Friedrichs.44 Abschließend sei bemerkt, daß eine Störung des Kollektivlebens kleiner Gruppen mit hoher Stabilität dann gering gehalten werden kann, wenn vom teilnehmenden Beobachter folgende Regeln eingehalten werden: — Annehmen der Rolle eines gewöhnlichen Kollektivmitglieds, — unauffälliges Benehmen und kein vordergründiges Interesse an besonderen Situationen im Alltagsleben zeigen, — mehr hören und beobachten und wenig Fragen stellen, — so viel wie möglich notieren und so bald als möglich das Notierte zu Aussagen ordnen, — Aussagen neutral abfassen und Wertungen gesondert vornehmen, — ständig kontrollieren, ob die Objektivität der Datenerfassung gewahrt ist, 44

Vgl. J. Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, 10. Aufl., Opladen 1982, S. 291 — 308.

Beobachtung

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— Beobachtetes ständig auf Beobachtungsziel und Arbeitshypothesen zurückführen. 4 5 Zu 5.: Standardisierte undnichtstandardisierte Beobachtung Es wird auch von strukturierter und nichtstrukturierter Beobachtung gesprochen. Die strukturierte Beobachtung setzt eine gute Kenntnis des Beobachtungsobjekts voraus. Es sind ausgearbeitete Hypothesen vorhanden. D a s Beobachtungsobjekt wird in F o r m von Beobachtungsindikatoren bzw. Beobachtungsmerkmalen in Beobachtungsschemata abgebildet, so d a ß vom Beobachter nur codierte Zeichen einzusetzen sind. Auf diese Weise k ö n n e n auch mehrere geschulte Beobachter eingesetzt werden. Es ist dann möglich, größere Stichproben zu bilden. Der H a u p t v o r teil dieses Verfahrens besteht in der Möglichkeit, die Beobachtungsergebnisse unmittelbar f ü r eine rechnergestützte Auswertung aufbereiten zu können. Sehr gute Erfahrungen liegen bei ihrer A n w e n d u n g im Bereich der sozialpsychologischen Kleingruppenforschung 4 6 , der Selbstbeobachtung bei Zeitbudgetanalysen 4 7 , der Beobachtung von Lehr- und Lernprozessen in der Volksbildung, Berufsbildung u n d im Hoch- u n d Fachschulwesen, der Beobachtung von Produktions- und Arbeitsprozessen in Industrie und Landwirtschaft 4 8 u n d in experimentellen Studien vor. Ein möglichst hoher Strukturiertheitsgrad ist bei jeder soziologischen Beobachtung anzustreben, die Vergleichbarkeit und repräsentative Aussagen erzielen will. Allerdings ist damit ein hoher theoretischer A u f w a n d verbunden. Bei der nichtstandardisierten Beobachtung findet ein iterativer Prozeß der Präzisierung der Beobachtungsziele, der Beobachtungseinheiten u n d des Beobachtungsgegenstandes statt. In diesem Prozeß werden zunächst Arbeitshypothesen generiert und zu Hypothesen präzisiert. Damit einher geht der Prozeß der theoretischen Strukturierung des Beobachtungsobjekts, die sich in Beobachtungsindikatoren niederschlägt. W e n n wirklich Neues in der gesellschaftlichen Entwicklung aufgespürt werden soll, ist die nichtstandardisierte teilnehmende Beobachtung eine unerläßliche Methode, zumal sie stets mit anderen Methoden gekoppelt angewendet werden kann.

45 46

47 48

Vgl. Rabocaja kniga sociologa, otv. red. G. V. Osipov, a. a. O., S. 363. Vgl. R. F. Bales, Die Interaktionsanalyse. Ein Beobachtungsverfahren zur Untersuchung kleiner Gruppen, in : R. König, (Hrsg.), Beobachtung und Experiment in der Sozialforschung, Praktische Sozialforschung 2, 6. Aufl., Köln—Berlin(West) 1968, S. 148—167. (Hier ist auf S. 154 auch ein vielzitiertes Beobachtungsschema, von Bales Kategorienschema genannt, angegeben.) Vgl. Abschnitt 3.3.5. in diesem Buch. Vgl. z. B. Rabocaja kniga sociologa, otv. red. G. V. Osipov, a. a. O., S. 355; vgl. auch: I. Steiner, Methodisches Herangehen in der bildungssoziologischen Forschung, in: Informationen zur soziologischen Forschung in der D D R , 6/1983, S. 22—25.

240

Datenerhebung

Zu 6.: Feld- und Laborbeobachtung Feldforschung wird unter natürlichen Bedingungen betrieben. Die Probanden agieren in ihrem alltäglichen, gewohnten sozialen Zusammenhang. Da die marxistisch-leninistische Soziologie soziale Gesetzmäßigkeiten aufspüren will, bedient sie sich nahezu ausschließlich der Feldbeobachtung. Die Laborbeobachtung bleibt der Psychologie und Sozialpsychologie vorbehalten. Sie spielt in der nichtmarxistischen Soziologie, z. B. bei der Interaktionsanalyse in kleinen Gruppen, eine beachtliche Rolle und hat dort einen enormen technischen Ausrüstungsgrad erreicht.49 Die Laborbeobachtung zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß der Beobachter die Umgebungsbedingungen und die Beobachtungssituation in vollem Umfang bestimmen kann. Es können experimentelle Bedingungen geschaffen werden. Der Beobachtungsprozeß kann in idealer Weise arbeitsteilig organisiert werden. Es lassen sich Bedingungen schaffen, die gewährleisten, daß das Beobachtungsobjekt gar nicht bemerkt, daß es beobachtet wird. Es können mit großer Perfektion technische Hilfsmittel wie Fernsehkameras, Filmkameras, Tonbandgeräte, Registriergeräte und Eingabegeräte für elektronische Rechner eingesetzt werden. Auf diese Weise wird der Beobachtungsvorgang weitgehend objektiviert. Trotz dieser vielen Vorteile wird die Laborbeobachtung in der marxistisch-leninistischen Soziologie kaum angewendet, weil soziale Prozesse unter künstlichen Bedingungen nur im Ausnahmefall erforscht werden. Zur Technik des Beobachtens Voraussetzung für die eigentliche Beobachtung vor Ort ist das Vorhandensein von Programmfragen und Hypothesen, von Leitkriterien und Beobachtungsindikatoren. Hinzu kommt eine Beobachtungsinstruktion, die jedem Beobachter vorliegen muß, um ein einheitliches Vorgehen aller Beobachter zu gewählleisten. Je nach Beobachtungsziel und Forschungsproblem können verschiedene technische Hilfsmittel, wie Beobachtungskarten, Fotoapparate, Filmkameras, Tonbandgeräte, spezielle Beobachtungsräume etc., eingesetzt werden. Bei der technischen Bewältigung der Beobachtung ist es unwichtig, ob sie als Hauptmethode oder als Methode der Vor- oder Nachuntersuchung eingesetzt wird. In jedem Falle ist eine Voruntersuchung (Pretest) zur Testung der Beobachtungsunterlagen zu empfehlen. Zu den Aufgaben des Pretests bei einer Beobachtung einige Stichworte und Kontrollfragen: — Umfang: Eine kleine Stichprobe aus der geplanten Stichprobe von Personen, Gruppen, Situationen, Ereignissen etc. — Untersuchungsfeld: Einholen der Genehmigung, Absprache mit staatlicher Leitung, Parteileitung und den verantwortlichen Kadern in den geplanten Beobachtungseinheiten. 49

Vgl. R. F. Bales, Die Interaktionsanalyse, a. a. O., S. 151 — 153.

Beobachtung

241

— Erhebungssituation: Beobachterstandort günstig? Können Verzerrungen eintreten, die durch den Beobachter hervorgerufen werden? Ist die Situation für die Hypothesengenerierung oder -Überprüfung angemessen? — Stellung des Beobachters: Ist eine Funktion, Position, Rolle des Beobachters im Untersuchungsfeld gegeben? Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Beobachtung für Beobachtungseinheiten? — Instrument: Zuordnung zu Indikatoren möglich? Indikatoren oder Leitkriterien ausreichend? Vollständigkeit der beabsichtigten Beobachtung möglich? Läuft Geschehen zu rasch oder zu langsam ab? Ist Beobachtungsschema praktikabel? Sind Film- oder Tonbandaufnahmen sinnvoll bzw. möglich? — Stichprobe: Ist Zeitpunkt richtig gewählt.? Sind Zahl und Länge der Beobachtungsintervalle richtig bestimmt? Wie ist die Ausfallquote einzuschätzen? Können Störfaktoren auftreten (z. B. Wetter, andere Personen)? — Kontrollen: Beobachtungen durch andere Beobachter wiederholen lassen. Wenn möglich, Abläufe filmen und auf Tonband festhalten. Vergleiche verschiedener Beobachtungsergebnisse zum gleichen Sachverhalt.50 Zur speziellen Beobachtungstechnik muß vor allem ein eigener Erfahrungsschatz gewonnen werden. Dabei sollen die folgenden Hinweise hilfreich sein 51 : 1. Festlegung von Beobachtungseinheiten. Hierbei handelt es sich um die Frage: Was soll beobachtet werden? Es sind zunächst drei Aspekte zu unterscheiden. Der inhaltliche Aspekt: In der nichtmarxistischen Soziologie werden in Anlehnung an Bales52 als Beobachtungseinheit die kleinsten erkennbaren Einheiten des Verhaltens gewählt.53 Das mag in psychologischen Untersuchungen berechtigt sein, reicht aber in soziologischen Untersuchungen nicht aus, weil man von Redeinhalten, Mimik, Gestik etc. nur schwerlich auf soziales Handeln schließen kann. Deshalb sind unter dem inhaltlichen Gesichtspunkt individuelles, interaktives, kooperatives, kollektives Handeln in den verschiedensten Situationen (Arbeit, Beratung, Entscheidung, Lernen, künstlerische Betätigung, Freizeit etc.) schon eher als Beobachtungseinheit geeignet. Ein zweiter Aspekt betrifft die Träger sozialer Erscheinungen und Prozesse. Das sind einzelne Personen oder Gruppen. Diese können natürlich nicht unabhängig von sozialen Situationen, also vom inhaltlichen Aspekt, untersucht werden. Aber 50 51 52

53

Vgl. J. Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, a. a. O., S. 286/287. Vgl. A. Pinther, Beobachtung, a. a. O., S. 510. Bales schreibt: „Instrumenteil definieren wir also die Beobachtungseinheit als die kleinste erkennbare Einheit des Verhaltens, die der Definition von irgendeiner der Kategorien (Indikatoren — A. U.) genügt, oder anders ausgedrückt, als die kleinste Einheit des Verhaltens, die ihrem Sinn nach so vollständig ist, daß sie vom Beobachter gelenkt werden kann oder im Gesprächspartner eine Reaktion hervorruft (R. F. Bales, Di© Jnteraktionsanalyse, a . a . O . , S. 158). Vgl. z. B. H. Kromrey, Empirische Sozialforschung, a. a. O., S. 188.

242

Datenerhebung

sie eignen sich als Erhebungseinheit gut, weil sie sowohl der Planung als auch der Durchführung der Beobachtung sowie der Anwendung weiterer Erhebungsmethoden am besten zugänglich sind. So werden üblicherweise Schulklassen, Forscherkollektive, Arbeitsgruppen, Leitungsgruppen, Freizeitgruppen, Versammlungsoder Konzertbesucher, Käufer in einer Abteilung eines Warenhauses etc. als Erhebungseinheiten bestimmt. Schließlich muß der raum-zeitliche Aspekt beachtet werden. Dieser wird gelegentlich als Bezugsrahmen der Beobachtung bezeichnet. Zugleich handelt es sich hier um die Auswahleinheiten, die der Beobachtungsstichprobe zugrunde liegen. In der Regel wird eine Stichprobe für die Durchführung der Beobachtung in doppelter Weise konstruiert. Es müssen die räumlichen Bezugspunkte ausgewählt werden, wie bestimmte Produktionsabschnitte oder Arbeitsräume, Klassenzimmer, öffentliche Straßen und Plätze, Kommunikationszentren in Wohngebieten. Gleichzeitig sind auch die Zeitpunkte und Zeitspannen für die einzelnen Beobachtungsakte auszuwählen und zu planen. Wenn auch praktisch so vorgegangen wird, daß Personen und Gruppen das Hauptkriterium für die Festlegung der Beobachtungseinheiten bilden, 54 so sind doch alle drei Aspekte in ihrer Einheit bei der Festlegung der Beobachtungseinheiten zu beachten. 2. Bestimmung des Umfanges und Zeitraumes der Beobachtung sowie Festlegung der Kräfte und Mittel für die Erhebung: Die Beobachtung kann als Erhebungsmethode in der Vor-, Haupt- und Nachuntersuchung, als selbständige Methode oder als Teil von sozialen Experimenten, Vergleichsuntersuchungen oder Längsschnittstudien eingesetzt werden. Das hängt ganz von den Forschungszielen ab. In industrie- und arbeitssoziologischen Untersuchungen soll der Zeitraum möglichst kurz sein, um Veränderungen des Beobachtungsobjekts zu minimieren und wirksame Leitungsempfehlungen ausarbeiten zu können. Deshalb ist der Einsatz von mehreren Beobachtern, die nicht alle ausgebildete Soziologen sein müssen, notwendig, was wiederum spezielle Maßnahmen zur Beobachterschulung notwendig macht. 3. Gewährleistung der adäquaten Abbildung des Beobachtungsobjekts bzw. der sozialen Wirklichkeit: Eine adäquate Abbildung des Forschungsgegenstandes kann im wesentlichen durch eine möglichst umfassende theoretische Strukturierung des Beobachtungsinhalts, ein daraus abgeleitetes Beobachtungsprogramm und ein einheitliches Vorgehen der einzelnen Beobachter organisiert und abgesichert werden. Das Beobachtungsinstrument ist sowohl die Basis für eine systematische und gezielte Beobachtungstätigkeit als auch für eine solche Codierung und Aufzeichnung der Beob54

Vgl. H. Berger, Der soziologische Forschungsprozeß, a. a. O., S. 103.

Beobachtung

243

achtungsdaten, daß gültige Beobachtungsergebnisse erzielt werden können. Es ist unmöglich, in einer komplexen Beobachtungssituation alle Verhaltenssequenzen gleichzeitig und umfassend zu erfassen, zu codieren, aufzuzeichnen und in Beziehung zum Forschungsziel zu bewerten. Eine Beobachtungssituation ist eine soziale Situation und hat folgende Elemente: — die als Beobachtungsobjekte fungierenden Personen und Gruppen, deren soziale Lage und deren soziales Verhalten beobachtet werden sollen, woraus Beobachtungseinheiten abgeleitet werden, — die Folgen individuellen, interaktiven, kooperativen und kollektiven Handelns auf den Verlauf des beobachteten Prozesses, — die Mittel, die im jeweiligen Handlungsvollzug und bei der zielgerichteten Einwirkung der Beobachtungseinheiten untereinander, aufeinander und auf äußere materielle oder soziale Objekte verwendet werden, — das auslösende Ereignis oder der Stimulus für die dem Forschungsziel entsprechenden Abläufe, — die Triebkräfte und andere Faktoren für das Aufrechterhalten der beobachteten Prozesse, — gesellschaftliche und kollektive Normen und objektive Bedingungen, die das Verhalten der zu Beobachtenden determinieren, — den inneren Zusammenhang der sozialen Situation, — Gleichförmigkeiten, Regelmäßigkeiten und Wiederholungen innerhalb der sozialen Situation, — Zeitdauer und Verlaufstruktur der sozialen Situation, — Abweichungen von erwarteten oder üblichen Verhaltensweisen in ähnlichen Situationen, — Widersprüchlichkeiten innerhalb der sozialen Situation selbst oder in bezug zu den Forschungshypothesen. 55 Das Beobachtungsprogramm zielt auf Beobachtungsindikatoren. An die Beobachtungsindikatoren sind die gleichen Anforderungen zu stellen wie bei anderen Erhebungsmethoden. Das sind unter anderem: — Sie sollen explizit die relevanten beobachtbaren Lebensäußerungen hinsichtlich Inhalt, gradueller Abstufung, Bezogenheit auf Dinge oder Personen, zeitlicher Ausdehnung etc. zum Ausdruck bringen. Praktisch wird das durch viele Adjektive und Verben in eindeutigen Formulierungen realisiert. — Die Anzahl der Indikatoren muß so gewählt werden, daß der Beobachter nicht überfordert wird. Darüber hinaus dürfen die Merkmale nicht zu weit aufgefächert werden, weil sonst eine Einordnung der Ereignisgrenzen sehr schwer fiele. „Je eindeutiger und ausschließlicher die Kategorien formuliert sind und

55

Vgl. M. Jahoda/M. Deutsch/St. W. Cook, Beobachtungsverfahren, a. a. O., S. 84/85.

17 Soziolog. Forschung

244





— —

Datenerhebung

je länger das zu codierende Ereignis beobachtbar ist, desto umfangreicher kann der Code sein." 56 Die Beobachtungsindikatoren sollen disjunkt sein, um eindeutige Fixierungen zu gewährleisten. Sie müssen auch vollständig sein, um alle beobachtbaren Erereignisse einordnen (codieren) zu können. Alle Indikatoren müssen das gleiche Niveau der Allgemeinheit bzw. Konkretheit haben. Sie müssen einen ganz bestimmten Teilaspekt des Forschungszieles beinhalten. Die Indikatoren müssen so beschaffen sein, daß auch die Aufzeichnung unvorhergesehener Ereignisse möglich ist. Die benutzten Indikatoren sollten möglichst standardisiert sein oder im Laufe der Beobachtung standardisiert werden.

Neben den Hauptmerkmalen müssen gemeinsame Merkmale bestimmt werden, die der Strukturierung der Beobachtungsergebnisse dienen und theoretische Schlußfolgerungen überhaupt erst ermöglichen. Gemeinsame Merkmale können Geschlecht, Alter, Qualifikation, Stellung im Reproduktionsprozeß etc., Kollektivzugehörigkeit, soziale Herkunft, Arbeits- und Lebensbedingungen, ein gesellschaftlicher Teilbereich etc. sein. Mit den gemeinsamen Merkmalen des Beobachtungsobjekts aufs engste verbunden ist das Bezugssystem der Beobachtung. Dieses betrifft einerseits die Bestimmung der Grundgesamtheit und andererseits die Abgrenzung des Forschungsgegenstandes. Daraus ergibt sich, daß das Bezugssystem einer Beobachtung in der Regel vieldimensional ist. Man kann auch mehrere Bezugssysteme einer Beobachtung zugrunde legen. Entscheidend ist dabei immer, daß unter Beobachtung aller methodologischen Prinzipien der marxistisch-leninistischen Soziologie die Forschungshypothesen verifiziert oder falsifiziert werden können und eine Erweiterung des vorhandenen theoretischen Wissens ermöglicht wird. Spezielle Fragen zum Bezugssystem hat Berger diskutiert. 57 Schließlich sind Voraussetzungen zu schaffen, um die Beobachtung wirklich durchführen zu können. Zu den notwendigen Voraussetzungen gehört auch die gründliche Schulung der Beobachter. Da bei mehreren Beobachtern eine Funktionsteilung zweckmäßig sein kann, hat sich in der Sowjetunion die Verwendung von schriftlichen Instruktionen für die Beobachter bewährt. 58 4. Auswahl der Beobachtungseinheiten und Sicherung der Verarbeitung der Beobachtungsergebnisse zu soziologischen Aussagen:

56 57 58

J. Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, a. a. O., S. 276. Vgl. H. Berger, Der soziologische Forschungsprozeß, a. a. O., S. 108/109. Vgl. Rabocaja kniga sociologa, otv. red. G. V. Osipov, a. a. O., S. 374.

Beobachtung

245

Vor jeder Beobachtung muß durch ein geeignetes Auswahlverfahren eine Stichprobe konstruiert werden. Dabei können folgende Elemente einem Auswahlverfahren unterliegen: — das Beobachtungsobjekt aus der Klasse gleicher Objekte, — der Zeitpunkt der Beobachtung, — die Dauer der Beobachtung, — die Zahl der Beobachtungsintervalle, — die Dauer der Beobachtungsintervalle, die möglichst konstant zu halten ist, — die Beobachtungseinheiten, — die Art und Weise des Verhaltens oder Handelns der zu untersuchenden Personen oder Gruppen, — die konkret zu beobachtenden Personen. 59 Wie immer auch die Auswahl konkret angelegt sein mag, stets muß ein Bezugssystem so gewählt werden, daß eine solche Einordnung der Beobachtungsdaten erfolgen kann, die die Einheit von Theorie und Empirie zu verwirklichen gestattet. Die Dialektik von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem muß richtig beherrscht werden. Sozialtypische und verallgemeinerungswürdige Ereignisse müssen ausgewählt werden, was sich im allgemeinen erst im Verlaufe der Untersuchung selbst als gegeben herausstellt. Ein spezifisches Problem für die Entwicklung eines Auswahlplanes für die Beobachtung liegt darin, daß die Auswahl auf Ereignisse abzielen muß, die zum Zeitpunkt der Stichprobenkonstruktion noch gar nicht existieren. 60 In jedem Falle ist die Konstruktion der Stichprobe ein mindestens zweistufiges Verfahren, da sowohl Zeitpunkte und Zeitintervalle als auch räumliche Bezugspunkte ausgewählt werden müssen. Dabei ist auch zu beachten, daß so viele Ereignisse vorkommen müssen, wie zu einer statistischen Auswertung nötig sind. Erforderlich sind weiter tragfahige gemeinsame Beobachtungsmerkmale, die eine Gruppierung der Ergebnisse ermöglichen. Die Notierung der laufend beobachteten Ereignisse hängt vor allem von den speziellen Beobachtungsverfahren ab, aber selbstverständlich ist auch die Befähigung des Beobachters und die Qualität der Beobachtungsdokumente nicht zu unterschätzen. Ganz grob kann etwa folgender Algorithmus angegeben werden: — kurzzeitige Aufzeichnung der Ergebnisse vor Ort, so wie es Zeit, Ort und Situation erlauben; — Eintragung in das vorbereitete Beobachtungsschema; — Protokoll des Verlaufs der Beobachtung, das eine Erweiterung des Beobachtungsschemas darstellt; 59

Vgl. J. Friedrichs, M e t h o d e n empirischer Sozialforschung, a. a. O., S. 284/285.

60

Vgl. H. K r o m r e y , Empirische Sozialforschung, a. a. O., S. 185.

17*

246

Datenerhebung

— Tagebuch der Beobachtungen, in dem systematisch Tag für Tag alle notwendigen Angaben, Äußerungen und Handlungen der Beobachtungseinheiten, eigene Gedanken und Interpretationsversuche sowie aufgetretene Schwierigkeiten festgehalten werden; — Foto-, Kino-, Ton-Aufzeichnungen, die die Reproduzierbarkeit der beobachteten Ereignisse gewährleisten sollen.61 Nach Abschluß der unmittelbaren Erhebungsphase hat sich auch ein Sofortbericht über die Beobachtung bewährt, der nach Abschluß der Datenverarbeitung in der Interpretationsphase sehr nützlich sein kann. In diesem Bericht sollte enthalten sein: — eine sorgfaltige Dokumentation über Zeit, Ort und Umstände der durchgeführten Beobachtung; — eine Information über die Rolle des Beobachters im Kollektiv bzw. im Untersuchungsfeld, seine Einführung, in dieses, sein Herangehen an die Erhebung; — eine Charakteristik der beobachteten Personen (Charakteristik der Untersuchungspopulation) ; — eine ausführliche und zusammenfassende Beschreibung der beobachteten Fakten; — eigene Bemerkungen mit Interpretationen des Beobachters.62 Für den unmittelbaren Registriervorgang haben sich drei Formen als besonders effektiv erwiesen: — umgangssprachlich gefaßte Verlaufsprotokolle, — Zeichensysteme bzw. Indikatorenschemata mit minutiös detaillierten Merkmalsausprägungen, — Schätzskalen.63 Das Beobachtungsprotokoll ist eine erste Erfassung, Registrierung des Sachverhalts in Form von Urdaten (Aussagen, Zahlen, Zeichen). Das verbale Verlaufsprotokoll wird im Sinne des Untersuchungszieles eine möglichst genaue Beschreibung bieten und die Handlungsbedingungen, die Verlaufsqualität, die Besonderheit der sozialen Situation und andere Begleitumstände berücksichtigen. Es hat meist einen geringen Standardisierungsgrad. Dagegen sind Beobachtungsschemata meist stark formalisiert und so gestaltet, daß der Beobachter nur Kreuze, Striche oder Codenummern an der Stelle anzubringen hat, die dem beobachteten Ereignis entspricht. Eine Schätzskala besteht aus einer genau umschriebenen unipolaren oder bipolaren Dimension, auf der eine bestimmte Anzahl von Stufen, denen 61 62 63

Vgl. Rabocaja kniga sociologa, otv. red. G. V. Osipov, a. a. O., S. 347. Vgl. ebenda, S. 347/348. Vgl. N. Ischi, Methodologische Probleme systematischer Verhaltensbeobachtung im Feld, in: Feldforschung. Methoden und Probleme sozialwissenschaftlicher Forschung unter natürlichen Bedingungen, I. L. Patry (Hrsg.), Bern—Stuttgart—Wien 1982, S. 282.

Beobachtung

247

besondere Merkmale mit entsprechenden typischen Ausprägungen zugeordnet werden, festgesetzt sind. Dabei kommt es auf schnelles und möglichst fehlerloses Registrieren bzw. Einordnen an. Je nach Beobachtungsverfahren stehen dafür verschiedene technische Hilfsmittel zur Verfügung. Im Normalfall wird man mit Beobachtungsschemata auskommen. Der Registriervorgang selbst wird wesentlich durch die jeweilige Beobachtungssituation und die zur Verfugung stehenden Hilfsmittel geprägt. Kompliziert wird das Verfahren dann, wenn das Beobachtungsschema Codenummern vorsieht, die vom Beobachter aus der Situation heraus erst ermittelt werden müssen. Schließlich sei darauf hingewiesen, daß theoretische Schlußfolgerungen aus den Hypothesen abgeleitet werden müssen. Bei deren Verifizierung oder Falsifizierung mittels Beobachtungsdaten muß berücksichtigt werden, daß im Verlaufe der empirischen Erhebung Fehler auftreten können. Diese können durch den Beobachter selbst verursacht sein, sie können aber auch im Beobachtungsinstrument angelegt sein oder aus der Beobachtungssituation (Beobachtete verhalten sich anders als üblich) resultieren. Auf Beobachtungsfehler wird an anderer Stelle ausführlich eingegangen64 (vgl. Abschnitt 3.1., Abb. 7). 5. Gewährleistung einer hinreichenden Güte der Beobachtungsergebnisse: Für die Prüfung der Gütekriterien bei Beobachtungsergebnissen gelten die gleichen Regeln und Vorschriften wie bei anderen Erhebungsmethoden der soziologischen Forschung (vgl. Abschnitt 2.9.). Im Zentrum der Aufmerksamkeit muß dabei die Überprüfung der Reliabilität der Beobachtungsmethode selbst stehen. Zur Kontrolle der Reliabilität des Beobachtungsinstruments müssen mehrere Messungen vorgenommen werden, deren Ergebnisse miteinander zu vergleichen sind. Bei der Validierung der Beobachtungsergebnisse ist allen inhaltlich-theoretisch orientierten Verfahren der Vorzug zu geben. Das Hauptproblem besteht in der Gewährleistung der Objektivität der Beobachtungsergebnisse. Die Objektivität der Ergebnisse kann zunächst durch Feststellung der Übereinstimmung der Ergebnisse von verschiedenen Beobachtern (intersubjektive Übereinstimmungskontrolle) ermittelt werden und ergibt sich im Nachhinein aus der Praxisbewährung der aus ihnen gezogenen Schlußfolgerungen. Zur Kontrolle der Beobachtungsergebnisse gehören auch — die Prüfung und Bewertung der Adäquatheit des Beobachtungssystems (Beobachter, Beobachtungssituation, Beobachtungseinheiten), — die Prüfung und Bewertung der Kompetenz des Beobachters und — die Prüfung der Konsistenz der Ergebnisse verschiedener Beobachter zum gleichen Beobachtungsobjekt in der gleichen Beobachtungssituation. 65 64

Vgl. A. Pinther, Beobachtung, a. a. O., S. 5 0 3 - 5 0 8 .

65

Vgl. N. Ischi, Methodologische Probleme systematischer Verhaltensbeobachtung im Feld, a. a. O., S. 286.

248 Zusammenfassend sei folgender Algorithmus zur Beobachtungstechnik

Datenerhebung

angegeben:

1. — — — — — —

Erarbeitung des konkreten, detaillierten Beobachtungsprogramms Bestimmung der Hauptmerkmale, Bestimmung der gemeinsamen Merkmale, Untersetzung in Indikatoren, Kategorien und Tabellen, Codierung, Anfertigen der Beobachtungsschemata und Beobachtungskarten, Fixierung von Vorschriften für das Festhalten und Einordnen der Beobachtungsergebnisse unter Berücksichtigung der konkreten Beobachtungssituation.

2. — — — — — —

Festlegung der Beobachtungseinheiten Auswahl von Personen, Gruppen, Situationen, Ereignissen, Räumlichkeiten, Abgrenzung des Untersuchungsfeldes, Bestimmung der Anzahl und Dauer der erforderlichen Einzelbeobachtungen, Erarbeitung eines Durchlaufplanes für jeden Beobachter, Beschaffung der einzusetzenden technischen Hilfsmittel, Festlegung des Bezugssystems und seine Charakterisierung durch Markierungspunkte.

3. Schulung der Beobachter — Vermitteln des Beobachtungszieles und der grundlegenden Hypothesen bzw. theoretischen Vorstellungen, — Vermitteln der Beobachtungsmethode, — Vergleiche und Kontrolle der Ergebnisse von Beobachtungsübungen, — Übung des Protokollierens, Registrierens und Codierens von Beobachtungsergebnissen, — Studium und Analyse von Beobachtungsfehlern, — Erarbeitung von Indikatoren und Kategorien, — Durchführung von Voruntersuchungen, — Präzisierung der Beobachtungsunterlagen (z. B. der verwendeten Schätzskalen). 4. Möglichkeiten für die Prüfung der Ergebnisse und ihre Interpretation — Anwendung der Gütekriterien und ihre Testung, — Vergleiche der Ergebnisse mit solchen, die mittels anderer Erhebungsmethoden gewonnen wurden, — Prüfen der Ergebnisse auf Regelmäßigkeiten, Gleichförmigkeiten und statistische Zusammenhänge, — Gegenüberstellung der aufbereiteten Beobachtungsergebnisse und der Hypothesen, — Synthese der Einzelergebnisse zu einer Gesamtaussage, — Schlußfolgerungen für die bessere Gestaltung der beobachteten Prozesse und Erscheinungen sowie für die Verbesserung der Methode selbst.

Beobachtung

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Der Beobachter Mehr als bei anderen Erhebungsmethoden hängt die Qualität der Untersuchungsergebnisse direkt vom Beobachter ab. Deshalb sind Beherrschung der Theorie und Methode der Beobachtung, Einsatzbereitschaft, Gewissenhaftigkeit, selbstkritische Haltung und Exaktheit unverzichtbare Eigenschaften eines Beobachters. Die Authentizität der Beobachtungsergebnisse muß vom Beobachter gewahrt und bewahrt werden. Andererseits besteht gerade im unmittelbaren Kontakt mit der sozialen Wirklichkeit ein durch nichts zu ersetzender Stellenwert des Beobachters im soziologischen Forschungsprozeß, der für Praxisnähe und Praxiswirksamkeit der Ergebnisse von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Der unmittelbare soziale Kontakt des Beobachters zum Beobachtungsobjekt sichert dessen lebendige und vielfaltige Widerspiegelung und macht zugleich deren Begrenztheit aus. Deshalb muß der Qualifizierung der Beobachter und dem Beobachtungstraining große Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Aufgaben des Beobachters lassen sich in vier Stichworten zusammenfassen: entdecken, beurteilen, codieren und registrieren. Der Engpaß bei der Beobachtung ist die Leistungsfähigkeit des Beobachters. Alles hängt während der Beobachtung von der Wahrnehmungsfähigkeit des Beobachters ab. Diese ist zunächst aber an zwei physiologische Voraussetzungen gebunden: — Das Blickfeld des Beobachters ist begrenzt; er kann gleichzeitig immer nur sehr wenige Personen im Auge behalten, die überdies räumlich eng beieinander sein müssen. — Das menschliche Wahrnehmungsvermögen ist außerdem so beschaffen, daß der Mensch zwar viele Wahrnehmungen gleichzeitig kombinieren kann (der Mensch hat z. B. im Vergleich mit Computern ein komplexeres Wiedererkennungsvermögen), daß er aber den einzelnen Sachverhalt nur ungenau erfaßt. Dies steht im Widerspruch besonders zu einer naturwissenschaftlichen Denkweise, nach der nur ein Sachverhalt zu einer Zeit, dieser aber mit großer Genauigkeit gemessen werden soll. Im Hinblick auf das Alltagserkennen und auch für die nichtstandardisierte Beobachtung, ist die folgende Wertung akzeptabel: „Wenn ein Kompromiß erforderlich ist, scheint es wesentlich klüger zu sein, grobe Feststellungen über alles zu treffen, als sehr genaue Unterscheidungen hinsichtlich weniger Aspekte zu machen und die anderen enthaltenen Informationen zu übergehen. Wir besitzen tatsächlich die Fähigkeit, Breite für Genauigkeit einzuhandeln." 66 Bei standardisierten Beobachtungen muß versucht werden, durch exakte Begrenzung des Beobachtungsfeldes und der Beobachtungseinheiten sowie durch 66

G. A. Miller, Psychology, New York 1962, S. 156.

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vorhergehende theoretische Strukturierung der Beobachtung höchstmögliche Genauigkeit im Detail zu erreichen, ohne dabei auf das komplexe Erkennungsvermögen des Beobachters zu verzichten. Die wichtigsten Forderungen an den Beobachter sind: — Er muß gewissenhaft alle mit dem Untersuchungsziel verbundenen Aufgaben erfüllen. Dazu muß er umfassend über theoretische Begründungen, methodologische und methodische Fragen der Realisierung und psychologische Besonderheiten seiner eigenen Tätigkeit informiert sein. Zum Beispiel muß der Beobachter wissen, daß sowohl Wahrnehmung, Aufzeichnung als auch Erinnerung an Ereignisse immer selektiv verlaufen, wobei die Faktenmengen jeweils nicht völlig übereinzustimmen brauchen. — Er muß sich selbst ständig kontrollieren und zu kritischer Distanz bezüglich des eigenen Herangehens an die Aufgabenlösung fähig sein. — Er muß sich um ein höchstmögliches Maß an Objektivität bemühen und wissen, daß Subjektivität beim Beobachtungsvorgang nicht völlig auszuschließen ist. — Er muß sich Fertigkeiten im gleichzeitigen Erfassen und Registrieren mehrerer Ereignisse aneignen und über längere Zeitspannen zuverlässig anwenden. — Er muß befähigt und gewillt sein, mit den Beobachteten, entsprechend seinem Auftrag zu kommunizieren und harmonische soziale Beziehungen herzustellen (gilt nur bei offener Beobachtung). Diesen Anforderungen entspricht der Beobachter am besten, wenn er sie von Anfang an in die Erarbeitung der Hypothesen und der methodischen Materialien der Untersuchung einbezieht. Ziel und Inhalt der Beobachterqualifizierung ergeben sich daraus. Als Ziele des Beobachtertrainings könnten angestrebt werden: — Ausprägung der Einsicht in Bedeutung und Funktion der Beobachtung für die Erreichung übergreifender Ziele (z. B. im Zusammenhang mit der Verwirklichung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts), — Kennenlernen aller Untersuchungsunterlagen und ihrer theoretisch begründeten Entstehungsgeschichte, — Erlernen und Üben des Anwendens von Beobachtungsschemata und -kategorien, — Erwerb von Erfahrungen über Art und Häufigkeit eigener Beobachtungsfehler und Ausprägung von Fähigkeiten, diese zu überwinden, — Kennenlernen und Probe der eigenen Belastbarkeit als Beobachter, — Erlernen des selektiven Wahrnehmens, Erfassens und Erinnerns über eine längere Zeitspanne und der Selbstkontrolle. 67

67

Vgl. M. v. Kranach/H.-G. Frenz, Systematische Beobachtung, in: Handbuch der Psychologie, Bd. 7: Sozialpsychologie, 1. Halbband, Göttingen 1969, S. 269.

Beobachtung

251

Aus diesen Zielen ergibt sich zwangsläufig der Trainingsablauf, der je nach Umfang der geplanten Untersuchung mehr oder weniger Zeit beanspruchen kann. Schließlich muß der Themenleiter entscheiden, ob die Beobachter die Anforderungen erfüllen. Von nicht zu unterschätzender praktischer Bedeutung dürften die folgenden Techniken der Beobachterschulung sein: — Schilderungen des Bildinhaltes von Fotos über zu beobachtende Ereignisse und Situationen, — Protokollierung von Filmen und Fernsehaufzeichnungen, die ohne Ton wiedergegeben werden, — Nacherzählung einer kurzen, an Personen und Adjektiven reichen Geschichte, — Rollenspiele, — audiovisuelle Aufnahmen von der Beobachtergruppe, — Selbstbeobachtung, — Interpretation und Analyse von Filminhalten, — Protokollierungen mit nichtverbalen Aufzeichnungsschemata, — themenspezifische Anfertigung von Fotos komplexer Situationen, aus denen sozialtypische Verhaltensweisen herauslesbar sein sollen. Leistungsfähigkeit und Grenzen der Beobachtung in der marxistisch-leninistischen Soziologie Am effektivsten wird die Beobachtung als Bestandteil komplexer Erhebungsinstrumente eingesetzt. Sie findet vielfältige Anwendung im Rahmen von Einzelfallstudien, Zeitbudgetanalysen, sozialen Experimenten, Intervall- und Wiederholungsuntersuchungen, als Ergänzung zur Befragung oder Dokumentenanalyse und in der Erkundungsforschung. Dadurch kann ihre Leistungsfähigkeit in Abhängigkeit vom Forschungsziel maximal ausgenutzt werden. Die Beobachtungsmethode ist unentbehrlich, um soziales Verhalten individueller und kollektiver Subjekte im Kontext gesellschaftlicher Beziehungen zu analysieren und adäquat abzubilden. Dabei werden stets die konkreten sozialen Situationen und sozialen Bedingungen und Umstände in ihrer räumlichen und zeitlichen Dimension mit erfaßt. Mit der Beobachtung können zugleich Leistungs- und Sozialverhalten, Leistungs- und Sozialbedingungen in ihrer konkreten Einbindung in technisch-technologische, ökonomisch-organisatorische oder andere materielle Prozesse erfaßt werden, wobei gleichzeitig zeitliche Verläufe und Strukturen (Zeitdauer) mit dargestellt werden können. Die Beobachtung ist sehr gut geeignet, sowohl soziale Erscheinungen als auch soziale Entwicklungen und Prozesse differenziert zu analysieren und darzustellen. Dabei treten einige Schwierigkeiten und Probleme sowohl objektiver als auch subjektiver Natur auf.

252

Datenerhebung

Im allgemeinen ist die Beobachtungszeit begrenzt. Der Beobachter kann nicht aus seiner sozialen Position und seinen Wertvorstellungen ausbrechen. Er kann sich von seinen Erfahrungen so stark leiten lassen, daß die Objektivität der Ergebnisse gefährdet ist. Die Wechselwirkung mit den Beobachteten kann dazu führen, daß sich ihr Verhalten ändert. Auf diese Weise können Schwierigkeiten bei der Einschätzung von beobachteten Veränderungen entstehen. Diese können entweder prozeßbedingt oder meßbedingt sein. Dabei ist es äußerst kompliziert, das Ausmaß des Einflusses der Beobachtungssituation zu bestimmen. Darüber hinaus kann der Beobachter nie sicher sein, ob er alle wichtigen und relevanten Ereignisse überhaupt bemerkt hat. Nach einer längeren Beobachtungsperiode ist es zudem schwierig, alle Einzelergebnisse zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen. Die Beobachtungsmethode hat also sowohl Vorzüge als auch Nachteile gegenüber anderen Erhebungsmethoden 6 8 (vgl. Abschnitt 3.1., Abb. 5). Vorzüge:

— Kommunikations-, Interaktions- und Kooperationsvorgänge können unmittelbar in ihrem sozialen Zusammenhang erfaßt werden; es wird Realverhalten erfaßt. — Diese Vorgänge können sowohl in ihrer zeitlichen Veränderlichkeit als auch in mehreren inhaltlichen Dimensionen erfaßt werden; sie werden chronologisch erfaßt. — Das Beobachtungsfeld ist zwar begrenzt, aber erweiterbar und nicht so starr wie bei anderen Erhebungsmethoden. — Beobachtungen lassen sich als Ergänzungsmethode bei fast allen soziologischen Aufgabenstellungen in verschiedenen Formen anwenden. Nichtstandardisierte Beobachtungen geben einen guten Überblick über ein Forschungsfeld. Nachteile:

— Die Subjektivität des Beobachters läßt sich nicht völlig ausschließen; es können auch andere Beobachtungsfehler auftreten (vgl. Abschnitt 3.1., Abb. 7), z. B. Konzentrationsprobleme. — Es kann wesentliche Veränderungen im Beobachtungsfeld geben, die entweder nicht richtig erfaßt werden oder die angenommenen Voraussetzungen außer Kraft setzen können (falsche Sinngebung). — Einmal verpaßte Beobachtungen können nicht wiederholt werden. — Die Beobachtungsfelder wie die Anzahl der Beobachtungseinheiten sind in Abhängigkeit von Kräften, Zeit und Mitteln relativ begrenzt.

68

Vgl. A. Pinther, Beobachtung, a. a. O., S. 501—503; vgl. H. Berger. Der soziologische Forschungsprozeß, a. a. O., S. 109.

Beobachtung

253

— Die Beobachtung ist sehr zeitaufwendig. Deshalb kann zwischen Beginn der Beobachtung und Übergabe der Forschungsergebnisse eine zu lange Zeit verstreichen. — Die Beobachtung ist sehr komplex und kann leicht zur Überforderung der Beobachter führen. — Die Beobachtung erfaßt den äußeren Handlungsablauf. Soweit nicht befragt wird, kann meist nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage im Hinblick auf Motive und innere Triebkräfte getroffen werden. Die Beobachtung eignet sich also nicht für die Erforschung aller sozialen Sachverhalte. So kann z. B. nicht eindeutig von Verhalten auf Verhaltensdispositionen und Wertorientierungen geschlossen werden. Interessen, Bedürfnisse, Wünsche, Strebungen, Motive und andere innere Persönlichkeitsstrukturelemente lassen sich nicht direkt beobachten. In bestimmten Situationen verbieten auch ethische Gründe eine Beobachtung (z. B. im Intimbereich sozialer Beziehungen). Beispiele für den Einsatz der Beobachtungsmethode 1. Nicht teilnehmende Beobachtung zum Einsatz von Industrierobotertechnik und ihren sozialen Konsequenzen Im Rahmen einer Untersuchung 6 9 in einem großen Kombinat für Landmaschinenbau sollte ermittelt werden, wie die Einsatzkonzeption für Industrieroboter der Kombinatsleitung in den einzelnen Betrieben verwirklicht wird, welche technischen, organisatorischen, ökonomischen und sozialen Probleme dabei auftreten, und wie die Effektivität des Industrierobotereinsatzes insgesamt im Kombinat erhöht werden kann. Dazu wurden siebzehn Einsatzfalle ausgewählt, die in elf Betrieben zu untersuchen waren. Es sollten Informationen beschafft werden über die veränderten Technologien, Organisationsformen, technischen Einrichtungen, die Führung der Innovationsprozesse, die Beteiligung verschiedener Gruppen von Werktätigen an diesen Prozessen und konkrete Veränderungen der Arbeitsaufgabe, der Anforderungen, der Verhaltensweisen und Haltungen im Verlauf und in der Folge dieser Prozesse. Methodisch wurde diese Aufgabe durch Dokumentenanalyse (Pflichtenhefte, betriebliche Einsatzkonzeptionen, Protokolle von Kadergesprächen etc.), Interviews mit vier Gruppen von Beteiligten (Leiter, Konstrukteure und Technologen, Werktätige, die im Umfeld oder an dem Industrieroboter arbeiten und Umgesetzte, die einen neuen Arbeitsplatz erhalten haben), eine teilstandardisierte Beobachtung des Roboters und seiner Umgebung über einen Arbeitstag und eine abschließende Gruppendiskussion mit allen unmittelbar am Einsatzfall Beteiligten realisiert. 69

Die Erhebungen, auf denen diese Beispiele fußen, wurden vom Wissenschaftsbereich Soziologie der Technischen Universität Dresden unter Teilnahme des Verfassers durchgeführt.

254

Datenerhebung

Bei der Beobachtung des Roboters und seiner Umgebung war nach folgenden Leitkriterien bzw. Beobachtungsindikatoren vorzugehen: 1. Handelt es sich um eine technologische Insellösung oder ist der Roboter Bestandteil einer automatisierten technologischen Einheit? 2. Arbeitet die Anlage kontinuierlich? 3. Kann die Anlage mehrschichtig ausgelastet werden? 4. Die Anlage arbeitet mit oder ohne Bediener (Veränderung gegenüber dem alten Zustand). 5. Bediener ist/sind voll/teilweise/nicht ausgelastet. 6. Bediener haben Kommunikationsmöglichkeiten wie früher/eingeengt/keine. 7. Charakteristik der Tätigkeit im Umfeld des Roboters: — der Werktätige übernimmt Tätigkeiten des Programmierens/Programmwechsels, 8. Werden von der Industrierobotertechnik übernommene Arbeiten parallel dazu noch in der alten Arbeitsweise ausgeführt? 9. Treten Schwierigkeiten im Materialfluß vom vorgelagerten zum nachfolgenden Fertigungsgang ein? 10. Welchen Stand hat das Produktionsniveau in der beobachteten Abteilung erreicht? — vorwiegend Handarbeit, — vorwiegend mechanisiert, — vorwiegend automatisiert. 11. Wie ist das Niveau der Arbeitsorganisation, Ordnung, Sauberkeit, Übersichtlichkeit und Arbeitsschutz im gesamten Betrieb einzuschätzen? 12. Wie kann das Arbeitsklima beurteilt werden? 13. Weitere Beobachtungsergebnisse Diese Indikatoren erwiesen sich als differenziert genug, um zu aussagefahigen Schlußfolgerungen für die Leitungstätigkeit zu gelangen. Auch waren sie der Beobachtungsdauer angemessen. Eingeordnet in die Untersuchungsmethodik erwies sich dieses Beobachtungsinstrument als zuverlässig. Bezogen auf das verfolgte Forschungsziel waren die Ergebnisse der Beobachtung gültig. 2. Teilnehmende Beobachtung im Prozeß der Herstellung mikroelektronischer Bauelemente Die teilnehmende Beobachtung und die besondere Art ihrer Durchführung werden bestimmt von den Eigenheiten des Forschungsgegenstandes, der theoretischen Konzeption und dem Ziel der Untersuchung. Das Ziel der Untersuchung richtete sich auf — praktische Lösungen begrenzbarer Aufgabenstellungen im Herstellungsprozeß mikroelektronischer Bauelemente,

Beobachtung

255

— empirische Belege für theoretische Verallgemeinerungen und weiterführende Problemformulierungen. Über hinreichende Analysebefunde sollten veränderbare Variablen ermittelt und ihre Wirkungen für eine intendierte Prozeßgestaltung erkannt werden. Die soziologische Feldarbeit muß von der Bewertung unabhängiger Variablen (sachliche Gegebenheiten wie Arbeitsmittel, Arbeitsorganisation, Arbeitsbedingungen, aber auch territoriale Lage und Populationsspezifik) ausgehen, abhängige Variablen (soziales Verhalten, Arbeitsweisen ebenso wie Beanspruchungen, Arbeitsklima, Fluktuation) erfassen und ihre Ausprägung in bezug auf die unabhängigen Variablen erklären. In einem weiteren, synthetisierenden Arbeitsschritt zur gestaltenden Einflußnahme sind die gesetzten unabhängigen Variablen auf ihre Veränderbarkeit zu prüfen und ilire Wirkungen in einem Gesamtsystem technologischer, ökonomischer und sozialer Bedingungen auszumachen. Veränderbare Variablen sind z. B. Qualifikation, Disponibilität, arbeitsplatzbezogene Qualifizierung, Leistungsanerkennung, räumliche Veränderungen und Anlagenbesetzung. Als sich ergänzende Methoden für die soziologische Feldarbeit bieten sich an: die teilnehmende Beobachtung, die Befragung sowie die Dokumentenanalyse. Beobachtung und Befragung werden angewandt, da beispielsweise (interne) Handlungspläne, antizipierte Zielzustände oder mentale Entscheidungskriterien nicht beobachtbar sind. Eine hinreichend lange Anwesenheit im Arbeitsprozeß, im hier skizzierten Beispiel betrug diese vier Monate, sowie eine Selbstausübung der Tätigkeiten auf einem jeweils möglichen Niveau ist erforderlich. Eine generelle Bewährung und Bewertung der erzielten Ergebnisse war der Vergleich mit betrieblichen Daten. Es wurden schrittweise hypothetische Aussagen vorangegangener Analyseschritte durch nachfolgende Untersuchungen überprüft. Erst eine integrative Gesamtaussage als Resultante unabhängig ermittelter, gleichsinniger Einzelbefunde kann zu gültigen Aussagen verhelfen, auch wenn die jeweils angewandte Methode nicht standardisiert ist und noch keine entsprechenden Gütekriterien aufweist. Das Erkenntnisinteresse richtete sich besonders auf — technologisch-organisatorische Erfordernisse vorhandener Fertigungsprozesse, — die personale Repräsentanz beschäftigter Werktätiger mit ihrer demographischen Ausprägung und den gruppenspezifischen Besonderheiten sowie auf — soziale Verhaltensweisen und Handlungsstrategien im kollektiven Umgang und bei der Ausführung der Arbeitstätigkeiten. Nach einer grundsätzlichen Orientierung im Untersuchungsfeld wurden für die einzelnen Beobachtungseinheiten konkrete Beobachtungsschemata entwickelt, in denen die jeweiligen Beobachtungsmerkmale übersichtlich vermerkt wurden. Im praktischen Vorgehen lassen sich diese Schemata häufig weiter verfeinern; wichtige

256

Datenerhebung

Zeitpunkte

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8

Qualifikation und technologisch-organisatorische Bedingungen

Details oder integrierende Faktoren erfordern jedoch eine gesonderte, über die formalisierte Erfassung hinausgehende Aufzeichnung (vgl. Abb. 8 bis 10). Die marxistisch-leninistische Soziologie hat in interdisziplinärer Arbeit ihren Leisturigsanteil bei der realen Gestaltung wissenschaftlich-technischer Fortschrittsprozesse zu erbringen. Gestaltungsmaßnahmen bedürfen nach hinreichender Zeit ihrer Umsetzung einer Wirksamkeitskontrolle, um darüber zu befinden, ob die erwarteten Wirkungen in Umfang, Intensität und Dauerhaftigkeit auch tatsächlich eingetreten sind. Die Wirksamkeitskontrolle ist somit ein weiterer, notwendiger Schritt zur Sicherung der Konsistenz bei der projektbezogenen teilnehmenden Beobachtung. Beispielhaft sollen einige Gestaltungsmaßnahmen genannt weiden: — Qualifikation und Tätigkeitsanforderungen werden für eine Klasse technologischer Ausrüstungen und nicht für eine bestimmte Anlage festgelegt. — Eine differenzierende Arbeitsklassifizierung und Entlohnung hat exakter die Anforderungen nach technologischen Kriterien zu berücksichtigen.

Beobachtung

Arbeitsplatz

257 Zeitpunkte

Kooperationsstruktur

Kommunikation

Arbeitsfähigkeit

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Abb. 9 Kooperation und kollektive Arbeitsweisen

— Das klassische Beistellverfahren zur Einarbeitung neuer Mitarbeiter ist durch höherorganisierte Qualifizierungsmaßnahmen auf ein Minimum zu reduzieren. — Wünschenswerte Verhaltensweisen im Arbeitsprozeß gilt es durch erfahrbare und beeinflußbare Handlungsbedingungen zu unterstützen. Ebenso konnten Annahmen zur sozialen Wirksamkeit der räumlichen Ausdehnung technologischer Anlagen weiter bestätigt werden, auch wenn zwischenzeitlich Veränderungen noch nicht durchgesetzt werden konnten. Die soziologische Mitarbeit in umfassenden Neuerungsprozessen bedingt gleichsam, daß aus den jeweiligen Funktionen, die den Erkenntnissen zukommen, diese selbst prozeßhaften Charakter annehmen. Zusammen mit den Gestaltungsmaßnahmen bekräftigten und bestätigten die Untersuchungsbefunde im Untersuchungsfeld die Hypothesen, wonach — Technologisches, Ökonomisches und Soziales in ihrer Bedeutung für das Produktionsresultat nicht aufzulösen sind, — Tätigkeitsanforderungen an automatisierten technologischen Ausrüstungen zunehmend integrierte soziale Merkmale, wie persönliche Identifikation oder gewissenhafte Verpflichtungshaltung, einschließen oder — eine Lockerung der technologischen Arbeitsplatzbindung mit erhöhter räumlicher Mobilität und ausgeglichener Belastungsstruktur einhergeht. Die teilnehmende Beobachtung nach nichtstandardisierten Erhebungsunterlagen verlangt, Präzisierungen und Festlegungen zu treffen und weiterführende Hypothesen aus der genauen Kenntnis des Untersuchungsfeldes zu generieren. Hier wären hervorzuheben:

Datenerhebung

258

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Beobachtung

259

— Die erreichte Vergesellschaftung der Arbeit verlangt und ermöglicht komplexe, systematische und abgestimmte Lösungen. — Aus neuartigen Problemsituationen erwächst ein breiter werdendes Spektrum an Teilleistungen, dem wirkungsvoll nur mit interdisziplinären projektorganisierten Arbeitsweisen begegnet werden kann. — Wissenschaft und Technik vergrößern das Gestaltungspotential und damit einhergehend die Anforderungen zu ihrer wirksamen Nutzung. — Verbesserungen am unmittelbaren Arbeitsplatz lassen differenzierende Bedingungen weiterer Zusammenhänge wirksamer hervortreten. Die Bindung erster Untersuchungsergebnisse an das konkrete Untersuchungsfeld darf nicht übersehen werden. Verallgemeinerungen, die zunächst hypothetischen Charakter tragen, müssen durch eine abschließende Verifikation im jeweiligen Untersuchungsfeld bestätigt werden. Diese Aufgabe ist relativ einfach lösbar, solange die Ergebnisse innerhalb einer Klasse gegenständlich-organisatorischer und populationsspezifischer Sachverhalte übertragen werden sollen, die mit den für die theoretische Konzeption und intendierte Zielstellung gültigen empirischen Merkmalen des ursprünglichen Untersuchungsfeldes übereinstimmen.

3.2.2. Befragungen Standort und Besonderheiten von Befragungen als soziologische Erhebungsmethode Die umfangreiche Verwendung von Befragungsformen bei empirischen soziologischen Forschungen hat vor allem vier Ursachen: Erstens sind Befragungen die wichtigste Methode, um Daten über subjektive Sachverhalte, über Meinungen, Einstellungen, Erwartungen, Ideale u. a. Bewußtseinsmomente zu gewinnen, die repräsentativ für große Bevölkerungsgruppen sind. Die staatliche Zentralverwaltung für Statistik und viele andere Institutionen stellen ein umfangreiches Datenmaterial über „objektive" Sachverhalte zur Verfügung, aber es läßt sich daraus meist nur mittelbar auf die „subjektive" Seite schließen. Hinsichtlich subjektiver Sozialindikatoren besteht ein Nachholebedarf. 7 0 Zweitens bietet die Befragungsmethode auch vielfaltige Möglichkeiten, Informationen über die objektiven Bedingungen, über Lebensumstände und Ereignisse 70

Vgl. W. Klimek, Die Rolle der Sozialindikatoren bei der Analyse, Leitung u n d P l a n u n g sozialer Prozesse, in: H. Berger/E. Priller (Hrsg.), Indikatoren in der soziologischen Forschung, Berlin 1982, S. 50—52; H. F. Wolf, Theoretische Überlegungen und methodische E r f a h r u n g e n bei der A u s a r b e i t u n g eines Systems subjektiver Sozialindikatoren, in: I n f o r m a t i o n e n zur soziologischen Forschung i n d e r D D R , 1/1984,S. 13—18; H. F. Wolf, Subjektive Sozialindikatoren u n d sozialistische Lebensweise, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 3/1983, S. 250—263.

18

Soziolog. Forschung

260

Datenerhebung

zu erhalten. Marx zeigte in dem „Fragebogen für Arbeiter", den er 1880 für eine französische sozialistische Zeitschrift verfaßte, wie differenziert durch eine Befragung die Arbeitsbedingungen und Lebensverhältnisse untersucht und Erkenntnisse über die Lage der Arbeiter gewonnen werden können. 71 Allerdings ist es in der sozialistischen Gesellschaft meist nicht notwendig, den Umweg über die Befragung von Arbeitern zu wählen, da z. B. Arbeitsbedingungen im Betrieb unmittelbar erfaßt bzw. entsprechende Daten der Statistik entnommen werden können. Drittens ermöglichen Befragungen, Informationen über die Vergangenheit einzuholen. Während beispielsweise die Beobachtung auf den Beobachtungszeitraum beschränkt ist, kann die Befragung auf den gesamten Zeitraum eingehen, den der Befragte bewußt erlebt hat. Man kann seine Erinnerungen und Erfahrungen erfragen, aber auch seine Erwartungen, Pläne und andere Vorstellungen, die auf die Zukunft weisen, ermitteln. Die Befragung kann sich gewissermaßen im Zeitrafferverfahren im Raum der Erinnerung und der Zukunftsbilder bewegen und ist nicht auf den Erhebungszeitraum begrenzt. Viertens ist schließlich die Vielfalt der Formen der Befragung bzw. der eingesetzten Indikatoren hervorzuheben. Der „Erfolg" der Befragungsmethoden beruht auch darauf, daß die moderne Computertechnik rationelle Aufbereitungsverfahren für die großen Datenmassen anbietet. Darin verbergen sich allerdings auch Gefahren; auch eine dilettantische Befragung kann in umfangreichen Tabellen Exaktheit und Wissenschaftlichkeit vortäuschen. Es bestehen unter anderem auch gesetzliche Bestimmungen für die Genehmigung von öffentlichen Befragungen. Befragungen sind keine Erfindung der Soziologie. Im alten Griechenland bezeichnete „Dialektik" ein Gespräch, in dem man durch Aufdecken der Widersprüche zur Wahrheit gelangen konnte. Die Befragungstechnik von Sokrates oder Plato war allerdings ein Werkzeug der Beweisführung. Befragungen kennen wir aus dem Lehrer-Schüler-Gespräch und aus Prüfungen, aus der Zeugenvernehmung, der ärztlichen Anamnese, dem diagnostischen Gespräch des Psychotherapeuten, dem journalistischen Interview, dem „hearing" von Experten und aus psychologischen Tests. Als entscheidene Quellen methodischer Erfahrungen gelten die in den USA u. a. kapitalistischen Ländern entwickelte Umfrageforschung (Demoskopie) 72 , die Psychodiagnostik und speziell auch die Methodik der psychologischen Testkonstruktion. Sie haben wertvolle wissenschaftliche Erkenntnisse eingebracht, führten jedoch auch zu manchen Einseitigkeiten in der soziologischen Methodenliteratur. Es sind dies vor allem die Identifizierung von Befragung mit Einstellungsmessung, die Beschränkung auf Bewußtseinsforschung und die vorrangige Orientierung der soziologischen Forschung auf Sachverhalte 71

Vgl. K. M a r x , Fragebogen für Arbeiter, in: M E W , Bd. 19, Berlin 1982, S. 2 3 0 - 2 3 7 .

72

Vgl. K. R ü c k m a n n , D e m o s k o p i e oder D e m a g o g i e ? Berlin 1972; L. Bisky/B. P. Löwe, Z u r Kritik der bürgerlichen M a s s e n k o m m u n i k a t i o n s f o r s c h u n g , Berlin 1976.

Befragungen

261

der individuellen Ebene, während komplexe soziale Sachverhalte nicht in ihrer eigenen Qualität abgebildet werden. Die wissenschaftlichen Leistungen, die zur Befragung in einer umfangreichen Methodenliteratur vorliegen, sollen damit nicht geschmälert werden. Die sozialistische Gesellschaft bietet für Befragungen durch das unmittelbare Interesse der Werktätigen an gesellschaftlichen Angelegenheiten besonders günstige Möglichkeiten. Methodische Empfehlungen der bürgerlichen Soziologie können deshalb nicht schematisch übernommen werden. Die soziologische Forschung im Sozialismus hat viele wertvolle eigene Erfahrungen mit dem Einsatz der Befragungsmethode gesammelt. Wenn bisweilen an die Leistungsfähigkeit der Befragung überzogene Anforderungen gestellt werden oder ihr auch Mißtrauen entgegengebracht wird, so geht das nicht zu Lasten dieser Methode, sondern ist meist auf eine fehlerhafte theoretisch-methodische Konzeption zurückzuführen. Welche Merkmale und welche Besonderheiten bestimmen den Stellenwert von Befragungen als soziologische Erhebungsmethode? 1. Befragungen können zunächst als gelenkter Kommunikationsvorgang betrachtet werden, bei dem die eine Seite (der Interviewer, der Fragebogen) Anreize gibt (Fragen, Aufforderungen, Vorlagen etc.), die andere, nur scheinbar passive Seite, in verbaler Form reagiert und damit die vom Forscher erstrebten Informationen produziert. Beide Seiten, Befrager und auch Befragter, sind jedoch aktiv. Die richtige Stimulierung und Lenkung dieses Kommunikationsvorgangs, ohne inhaltliche Beeinflussung der Ergebnisse, ist das Hauptproblem der Befragung. Außerdem spielt die Befragungssituation eine Rolle. Beim mündlichen Interview muß man speziell zwischen den Einflüssen, die vom Frageprogramm und solchen, die von der Person des Interviewers ausgehen, unterscheiden. 73 2. Befragungen beruhen also auf der aktiven Mitarbeit des Befragten. Es ist bei Befragungen im Sozialismus ein Grundsatz, den Befragten als Verbündeten des Forschers zu gewinnen, ihn zu überzeugen, daß ihm die Befragung im Endergebnis nützt, weil z. B. fundiertere Leitung folgen kann, Wünsche oder Hemmnisse deutlich werden etc. Man darf den Befragten auf keinen Fall als jemanden betrachten, der zu „überlisten" ist. Das schließt Kontrollfragen nicht aus, die 73

W. Friedrich/W. Hennig fassen die Befragung konsequent als K o m m u n i k a t i o n s v o r g a n g und nennen vier H a u p t v a r i a b l e n : „1. die Person o d e r G r u p p e , die steuert — der K o m m u n i k a t o r ; 2. die Person o d e r G r u p p e , die gesteuert wird — der K o m m u n i k a n t ; 3. die I n f o r m a t i o n , mittels der gesteuert wird — das K o m m u n i q u e ; 4. die Situation, in der sich K o m m u n i k a t o r und K o m m u n i k a n t befinden — d a s K o m m u n i kationsfeld. N u r wenn diese H a u p t v a r i a b l e n in ihren dialektischen Wechselbeziehungen differenziert erfaßt werden, kann der K o m m u n i k a t i o n s e f f e k t real beurteilt w e r d e n " (W. Friedlich/ W. Hennig, G r u n d p r o b l e m e der Befragung, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, a. a. O., S. 372).

18*

262

Datenerhebung

beispielsweise dazu dienen könnten, die Stabilität einer Einstellung oder den Einfluß einer unterschiedlichen Frage- bzw. Antwortformulierung zu prüfen. Die Methodik der Befragung wird nicht nur durch ethische und politische Prinzipien bestimmt, sondern auch durch den Umfang der Belastung, die man den Befragten zumuten kann. Das betrifft den intellektuellen Schwierigkeitsgrad der Fragen, die zeitliche Ausdehnung des Interviews (Umfang des Fragebogens) und den Grad der psychischen Belastung des Befragten, wenn z. B. Fragen seine Intimsphäre betreffen. Die Bereitschaft der Befragten zur aktiven Mitarbeit entscheidet vor allem über Umfang und Grenzen einer Befragung. 3. Die Reaktionen eines Befragten, gleich ob er die Antworten selbst artikuliert oder eine der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten ankreuzt, liegen auf der Ebene des verbalen Handelns. Verbales und nichtverbales Verhalten haben sowohl gleiche wie auch unterschiedliche Merkmale und Funktionen. Friedrich!Hennig verweisen zu Recht mit Nachdruck darauf, daß man mit gleicher Wahrscheinlichkeit aus verbalem wie aus nichtverbalem Verhalten auf die Persönlichkeit schließen kann, daß beide gleichermaßen „echt" oder vorgetäuscht sein können. 74 Dies ist besonders mit Blick auf das hartnäckig immer wieder auftretende Vorurteil gegenüber der Befragung zu betonen, die Befragten würden nicht die Wahrheit sagen. Auch die Meinung, man könne aus dem beobachteten Realverhalten mit größerer Sicherheit auf Verhaltensdispositionen schließen, als aus verbalen Äußerungen, erweist sich als unberechtigt, wenn man die diagnostischen Möglichkeiten von Einstellungsfragebogen berücksichtigt. Verbales und nichtverbales Verhalten dürfen jedoch nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Persönlichkeitsdiagnostik gesehen werden. Mit Hilfe der Sprache kann man komplizierte Denkinhalte vermitteln, abstrakte Begriffe, Gesetzesaussagen, Theorien; in Beschreibungen und Berichten können langwierige Vorgänge und vielfaltige Zusammenhänge dargestellt werden. Die Sprache erschließt uns bei Befragungen also die Möglichkeit, die verschiedenen Bewußtseinsinhalte der Befragten zu nutzen, ihre Erinnerungen und Erkenntnisse, ihre Erfahrungen, Hoffnungen und Befürchtungen, Wünsche und Pläne und vieles andere. In dieser Hinsicht bietet die Befragung im Vergleich mit der Beobachtung weitaus mehr Möglichkeiten. 4. Die sprachliche Darstellung eines Sachverhaltes ist mit diesem selbst nicht identisch. Diese triviale Feststellung müssen wir zunächst treffen, um deutlich zu machen, daß beispielsweise eine verbale Aussage eines Befragten über eine Einstellung, mit dieser selbst nicht identisch ist. Die Aussage muß vielmehr als ein Indikator verstanden werden, der mit bestimmter Wahrscheinlichkeit einen Schluß auf das Indikatum, auf die betreffende Einstellung zuläßt. Die sprachliche Darstellung eines Sachverhalts ist eine subjektive Abbildung, die durch das Be74

Vgl. ebenda, S. 3 6 9 - 3 7 1 .

263

Befragungen

wußtsein des Befragten „produziert" wird. Der Sachverhalt wird dabei unwissentlich und auch bisweilen wissentlich ungenau oder verzerrt abgebildet. Der Bericht über ein bestimmtes Ereignis kann z. B. niemals alle Details enthalten, er ist immer selektiv. Durch ungenaue Beobachtung, durch lückenhafte Erinnerung, durch verdrängende Emotionen oder subjektive Reflexionen, die den Vorgang „ausschmücken", durch ein begrenztes sprachliches Ausdrucksvermögen und durch andere Faktoren kann der Bericht immer lediglich ein subjektives Abbild des Vorgangs bieten und vielleicht wird auch, bedingt durch taktische Überlegungen, das eine oder andere Moment des Vorgangs verschwiegen oder anders dargestellt. Wir erhalten in diesem Fall ein subjektiv entstelltes Abbild. Schließlich muß man auch berücksichtigen, daß nicht jeder Befragte eine bewußt ausgeprägte Haltung zu einem bestimmten Sachverhalt haben muß und daß er, nach seiner Meinung dazu befragt, dann einfach eine ihm logisch erscheinende oder eine sein Prestige erhöhende Antwort aus den Vorgaben auswählt. Die Einstellung wird in diesem Fall erst durch die Befragung „erzeugt". Die Antworten in einer Befragung müssen also als ein subjektives Abbild der betreffenden Sachverhalte angesehen werden. 75 Sie sind Indikatoren, die Wahrscheinlichkeitsschlüsse auf das Indikatum zulassen. Die Kunst des Soziologen besteht darin, durch Art und Anzahl der Indikatoren und durch sein ganzes methodisches Vorgehen zu gewährleisten, daß mit möglichst großer Sicherheit auf die wesentlichen Seiten des Forschungsgegenstandes geschlossen werden kann. Die Befragung wird sich dann in ihren verschiedenen Formen als eine vielfältig einsetzbare und fruchtbare Methode erweisen. 5. Jede Befragung erfordert die Mitwirkung von Befragten und bedeutet deshalb für sie zugleich auch eine Beanspruchung. Bei Befragungen in Betrieben während oder nach der Arbeitszeit bzw. in Pausen, bei Befragungen in der Wohnung oder an anderen Orten, immer wird der normale Tagesablauf beeinflußt und der Befragte vielleicht gestört. Es ist deshalb generell notwendig, stets zu prüfen, ob die Informationen auch auf einem anderen methodischen Weg zu gewinnen sind-, ob die Daten z. B. in Dokumenten erfaßt sind, denen sie entnommen werden können. Abgesehen von den rechtlichen Regelungen für Befragungen, erfordert die Vorbereitung von Befragungen immer die Überlegung, ob der Gegenstand den Eingriff in die persönliche Sphäre der Befragten rechtfertigt, ob es nicht weniger belastende Wege zur Gewinnung der Informationen gibt. Damit soll das Interview nicht generell als unangenehme Prozedur für den Befragten bezeichnet werden. Im Gegenteil: Fragebogen (für mündliche Interviews und schriftliche Befragungen) sollen so aufgebaut sein, daß die Befragten interessiert werden, und daß es ihnen auch Freude bereitet, sich zu Problemen zu 75

Vgl. D. Wittich/K. G ö ß l e r / K . W a g n e r , 1978, S. 104/105, 2 6 8 - 2 8 0 , 477.

Marxistisch-leninistische

Erkenntnistheorie,

Berlin

264

Datenerhebung

äußern, die ihnen selbst auch bedeutsam erscheinen. Das Ideal ist gewissermaßen gegeben, wenn sich die Befragten nach einem Interview für das interessante Gespräch bedanken und den Interviewer zum Wiederkommen einladen. Der Standort von Befragungen unter den soziologischen Erhebungsmethoden wird durch einen Vergleich der Leistungsfähigkeit von Dokumentenanalysen, Beobachtungen und Befragungen veranschaulicht, den wir im Abschnitt 3.1., Abbildung 5 gegeben haben. Arten von Befragungen; schriftliche und mündliche Befragungen Befragungen kann man unter verschiedenen Gesichtspunkten unterscheiden: 1. nach der Stellung im Forschungsprozeß, 2. nach der Befragungssituation (individuelle bzw. Gruppensituation), 3. nach dem Grad der Standardisierung und 4. nach der Kommunikationsform (mündlich, schriftlich). Zu 1.: Befragungen können in allen Abschnitten der Erhebungsphase eingesetzt v erden. Sie können der Erkundung dienen, z. B. in der Form von Sondierungsoder Expertengesprächen. Sie werden zwar vor allem als Haupterhebungsmethode eingesetzt, können aber auch als ergänzende Erhebung, z. B. bei einer Beobachtung oder zur Kontrolle und Vertiefung der Erkenntnisse, in einer Nachuntersuchung dienen. Wenig standardisierte Formen, wie Expertengespräche oder nicht standardisierte Gruppendiskussionen können der raschen Informationsgewinnung dienen (vgl. Abschnitte 3.3.1. und 3.3.2.). Wir beziehen uns im folgenden vor allem auf die Befragung als Haupterhebungsmethode. Zu 2.: Hinsichtlich der Befragungssituation unterscheiden wir die Befragung in der individuellen Situation und in Gruppensituation (simultane Befragung). Befragung in individueller Form heißt, daß ein mündliches Interview mit jedem Probanden einzeln durchgeführt wird. Es kann unter vier Augen, ohne Anwesenheit dritter Personen stattfinden aber auch bei Anwesenheit anderer Personen (z. B. auf der Straße, in Ausstellungen, in der Wohnung). Bei der schriftlichen Befragung ist es zunächst unerheblich, ob der Befragte individuell oder in einer Gruppensituation gebeten wird, den Fragebogen auszufüllen, dagegen ist es sehr wichtig, ob er ihn dann in einer kontrollierten Situation oder unkontrolliert ausfüllt. In einer unkontrollierten Situation besteht die Gefahr, daß der Fragebogen nicht von der Zielperson, sondern von einem „Stellvertreter" beantwortet wird, oder daß die Antworten „kollektiv" beraten werden. In beiden Fällen entstehen Fehler. Bei schriftlichen Befragungen in Gruppensituationen (z. B. in einer Schulklasse, in einem Hörsaal oder in einem Versammlungsraum) erhält jeder Anwesende einen Fragebogen und wird nach einer Instruktion gebeten, ihn sofort auszufüllen.

Befragungen

265

Das bedeutet, daß die Fragen in einer kontrollierten Situation durch die Zielpersonen allein beantwortet werden, daß der Forscher an Ort und Stelle Mißverständnisse und zusätzliche Fragen klären kann und daß vor allem der Rücklauf meist vollständig erfolgt. Mit dieser Form der schriftlichen Befragung in Gruppensituation gelangen am Zentralinstitut für Jugendforschung (Leipzig) Erhebungen mit Populationen von beachtlicher Größe und auch Längsschnittstudien bei Schülern und Studenten. 76 Bei der mündlichen simultanen Befragung (Befragung in Gruppensituation) erhält jeder Befragte einen Signierbogen mit 80 bzw. 100 Feldern für die Eintragung seiner codierten Antwort (vgl. Abb. 11). Der Interviewer stellt nun zunächst die Frage, gibt dann das Antwortmodell mit Codierungszahlen mündlich oder schriftlich (Polylux, Projektor, Tafelbild) vor, und bittet dann die Befragten, den Code der von ihnen gewählten Antwort in das betreffende Feld (Nummer der Frage) einzutragen. Die Vorteile liegen in geringem Zeit- und Papieraufwand. Es besteht ein unmittelbarer Kontakt mit den Befragten; während der Erhebung können Mißverständnisse geklärt werden, und häufig schließt sich nach Abgabe der Signierbogen eine fruchtbare Diskussion an, in der die Forscher noch inhaltliche und methodische Hinweise erhalten. In dieser Form der Befragung, die eine sehr konzentrierte Mitarbeit der Teilnehmer erfordert, kann jedoch nur eine begrenzte Zahl von Indikatoren eingesetzt werden (etwa 80 bis 100); die reine Erhebungsdauer sollte 30 Minuten möglichst nicht übersteigen, so daß mit Vorbereitung, Instruktion und Einsammeln insgesamt 45 Minuten nicht überschritten werden. Es ist zweckmäßig, vor allem Indikatorenbatterien mit gleichem Antwortmodell zu benutzen, dagegen Ordinalfragen sowie Nominalfragen mit umfangreichen Antwortvorgaben nicht mehr als unbedingt erforderlich einzusetzen. In dieser Erhebungsform ist die Anonymität gewahrt. 77 Zu 3.: Befragungen können nach dem Grad der Standardisierung unterschieden werden. Es geht dabei im allgemeineren Sinn um den Stil der Befragung. Die Standardisierung drückt den Grad der Vereinheitlichung in den Interviews, den Umfang der Festlegungen für den Interviewer, der Normierung der Frage- und Antwortmöglichkeiten aus.

76

Vgl. W. Friedrich/H. Müller, Zur Psychologie der 12—22jährigen. Resultate einer Intervallstudie, Berlin 1980, S. 38; K. Starke, Jugend im Studium, 2. Aufl., Berlin 1980, S. 62.

77

Erfahrungen mit dieser Form der simultanen mündlichen Befragung wurden am Wissenschaftsbereich (im folgenden WB) Soziologie der Karl-Marx-Universität (im folgenden K M U ) Leipzig bei der Befragung von insgesamt 3 9 0 0 Leitungskadern in 8 unterschiedlichen Erhebungen gesammelt.

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Abb. 11 Signierbogen

Die Variationsbreite der Befragung ist hinsichtlich der Standardisierung groß. Wir erwähnen zunächst das nichtstandardisierte Gespräch. Hier könnte der Auftrag an den Interviewer z. B. lauten: „Ermitteln Sie, welche Personen und Ereignisse von nachhaltigem Einfluß auf die Berufswahl des Befragten waren und wie er aus heutiger Sicht diese Einflüsse und seine Berufswahl beurteilt!" In diesem

Befragungen

267

Fall wird dem Interviewer freigestellt, wie er mit dem Befragten in Kontakt kommt und welche konkreten Fragen er stellt. Bei nichtstandardisierten Befragungen sind die Resultate sehr unterschiedlich, so daß nur wenig quantifizierbare und vergleichbare Ergebnisse gewonnen werden; das Augenmerk wird stärker auf die Spezifik der einzelnen Fälle gelenkt, der Einblick in den einzelnen Fall wird jedoch tiefer. Bei einem geringen Grad von Standardisierung erhält der Interviewer einen Leitfaden mit bestimmten Schlüsselfragen, und er ergänzt dann selbständig durch Zusatzfragen. Die Festlegungen können auch die Abfolge der Fragen betreffen und bei „Eckfragen" auch schon Antwortvarianten vorgeben, nach denen der Interviewer die Aussagen des Befragten einstuft; diese „halboffenen Fragen" stellen bereits einen Übergang zum standardisierten Interview dar. Bei der gering standardisierten schriftlichen Befragung besteht der Fragebogen meist aus offenen Fragen. Zu diesem Typ gehört der oben erwähnte Fragebogen für Arbeiter von Marx.1* Die schriftliche Beantwortung bei ausschließlich offenen Fragen setzt einen beträchtlichen Grad von Interesse und Engagiertheit beim Befragten voraus. Beim voll standardisierten Interview sind dagegen Einleitungstext, Frageformulierung und -abfolge wie auch Antwortmöglichkeiten wörtlich vorgegeben. Es handelt sich hier also um „geschlossene" Fragen. Mischformen aus geschlossenen, halboffenen und offenen Fragen sind jedoch je nach Forschungsziel und Population und anderen Bedingungen in Varianten allgemein üblich. Hier sollte zunächst auf die Variationsbreite der verschiedenen Arten von Befragungen hingewiesen werden. Die Spezifik von offenen und geschlossenen Fragen wird weiter unten behandelt. Zu 4.: Bei der Wahl zwischen schriftlicher und mündlicher Befragung handelt es sich um eine wichtige Frage der Forschungsstrategie, durch die auch Umfang und Charakter der Ergebnisse beeinflußt werden: 1. Die Faktoren, die allgemein die Entscheidungen bei der Methodenwahl betreffen, wurden in dem Abschnitt 3.1. bzw. bei der Darstellung des Forschungsprozesses am Ende von Abschnitt 1.3. bereits dargestellt: — Stellung der Erhebung im Forschungsprogramm (Erkundung, Haupterhebung, Ergänzungsmethode etc.), — Umfang und methodische Begründung der zu diesem Sachverhalt bereits vorhandenen Daten und Forschungsverfahren und — Verwertungsbedingungen (Welche Genauigkeit ist erforderlich? Welcher Aufwand ist gerechtfertigt? Welcher Erkenntniszuwachs soll erreicht werden?)

78

Vgl. K. Marx, Fragebogen für Arbeiter, a. a. O., S. 230—237.

268

Datenerhebung

2. Verfügbare Mittel der Forschungsgruppe und Zeitfonds,

speziell:

— Verfügbare Kräfte und Mittel (Stehen Interviewer/und genügend Geldmittel für Reiseaufwand, Unterbringung etc. zur Verfügung, genügend Papier für Fragebogen etc.?), — Erfahrungen und Traditionen der Forschungsgruppe (Welche Techniken werden am besten beherrscht? Sind Erfahrungen und Vergleichsmöglichkeiten bei dieser Thematik vorhanden?) und — Termine (Bis wann müssen die Ergebnisse vorliegen? Welche Methode bringt in der festgesetzten Zeit bessere Ergebnisse?). 3. Population und Forschungsfeld,

speziell:

— Charakter der Population (Sind Bildungsgrad und Interesse für eine schriftliche Befragung hinreichend? Sind Befragungen in Gruppensituation möglich? Welcher Umfang ist zeitlich zumutbar?) und — Eigenarten des Feldes (Können Interviews ungestört durchgeführt werden oder sind die Befragten nur durch einen Fragebogen erreichbar? Kann ein ausreichender Rücklauf gesichert werden?). Diese und andere Überlegungen müssen bei der Entscheidung zwischen schriftlicher und mündlicher Befragung angestellt werden. Oft ist es eine einzelne Bedingung (das schwächste Kettenglied), die den Ausschlag gibt: Wenn keine Interviewer zur Verfügung stehen oder die Mittel für sie fehlen, muß schriftlich befragt werden. Wenn eine Kombinatsleitung in wenigen Tagen Ergebnisse haben will, müssen „schnelle" Verfahren, z. B. Gruppendiskussionen und nichtstandardisierte Einzelgespräche durchgeführt werden. Wenn dagegen ein langfristiges Forschungsprogramm absolviert werden soll und genügend Mittel zur Verfügung stehen, geben vor allem Erhebungsziel und Population den Ausschlag. Unsere Grundposition zur schriftlichen und mündlichen Befragung soll zunächst in drei Punkten umrissen werden: 1. Jede Befragungsform hat ihre spezifischen Vor- und Nachteile, so daß jeweils mit Blick auf die Bedingungen gründlich abgewogen werden muß. 2. Die mündliche Befragung ist nicht der „Königsweg". Sie bietet zwar eine ganze Reihe von Vorteilen, aber ihr kann nicht generell der Vorrang gegeben werden. Eine ganze Reihe von Nachteilen der schriftlichen Befragung kann bei der Durchführung in Gruppensituation ausgeschaltet werden. 3. Methodenkombination gilt auch hier als wünschenswert. Viele Abwägungen in der Methodenliteratur der B R D beziehen sich auf die Bedingungen in kapitalistischen Ländern und unterstellen oft unausgesprochen den Einsatz kommerzieller Institutionen mit Interviewernetzen und Bedingungen der Umfrageforschung (Demoskopie). Die Methodenkombination wird dabei übersehen.

269

Befragungen

Unser Vergleich von schriftlicher und mündlicher Befragung in der Abbildung 12 geht davon aus, daß es sich um eine standardisierte schriftliche Befragung und um standardisierte mündliche Interviews, jeweils in individueller Situation handelt.

Abb. 12: Vor- und Nachteile von mündlicher und schriftlicher Befragung

1. Aufwand 2. U m f a n g

3. Population

4. Indikatoren

5. Anonymität

6. Antworten 7. Einsatzbedingungen

Rücklauf Befragungssituation

10. Standardisierung

Schriftliche Befragung

Mündliche Befragung

VORTEILE relativ gering viele Indikatoren, wenn Interesse bzw. geeignete Stimulierung der Befragten vorliegt große Zahl von Befragten ist relativ leicht zu erreichen

NACHTEILE relativ hoch begrenzte Zahl von Indikatoren (Ermüdung des Befragten; Konzentrationsfähigkeit des Interviewers) Der Intervieweraufwand bedingt Beschränkung der Zahl der Befragten größere Batterien mit Aussageindikatoren wirken m o n o t o n ; schriftliche Tests können einbezogen werden

größere Indikatorenbatterien mit gleichem Antwortmodell sind günstig einsetzbar

INDIFFERENTE MERKMALE eher zu gewährleisten; teils meist nicht zu gewährleisten; flüchtige oder unernste Beanthöhere Verantwortlichkeit bei der wortung Beantwortung überlegte Antworten (sind nicht immer ein Vorteil) günstig bei höherem Bildungsgrad und größerem Interesse der Befragten NACHTEILE Ausfallquote oft hoch wenn unkontrolliert: Ausfüllen durch Stellvertreter möglich; Beratung der Antworten; Wissensfragen dann nicht einsetzbar hohe St. möglich; die Beantwortung der Fragen in der vorgegebenen Reihenfolge ist nicht zu sichern; Kontrollfragen werden e r k a n n t ; T e m p o der Befragung ist nicht zu steuern

Tempo der Beantwortung kann beeinflußt werden für alle Bildungsgrade geeignet; höhere Stimulierung der Befragten VORTEILE Ausfallquote gering kontrolliert (Beantwortung durch Stellvertreter ausgeschlossen) Wissensfragen können mit Erfolg eingesetzt werden beliebig hoch; die Reihenfolge der Beantwortung der I ragen kann gesichert werden; Kontrollfragen können schwerer erkannt werden; T e m p o der Befragung wird durch Interviewer bestimmt

270 11. Korrekturen ; Ergänzungen

12. Hauptproblem

Datenerhebung Keine Klärung von Mißverständnissen während der Befragung möglich; Befragte legen bisweilen unaufgefordert schriftliche Ergänzungen bei ; keine kontrollierte Wiederholungserhebung möglich Stimulierung und Rücklauf (Repräsentativität) ; Kontrolle der Identität des Befragten (Réhabilitât)

Mißverständnisse können während des Interviews geklärt werden; Verbindung mit ergänzenden Erhebungen und Gesprächen ist leicht möglich; der Interviewer kann Einschätzungen abgeben und befragt werden der Interviewer, der stimuliert, aber die Ergebnisse einseitig beeinflussen kann (Objektivität); hoher Aufwand

Anmerkungen zu Abbildung 12: Zu 1. und 3.: Der Aufwand ist bei mündlichen Befragungen wesentlich höher, denn selbst bei einem günstigen Forschungsfeld, z. B. bei Interviews während der Arbeitszeit in einem Betrieb, kann der Interviewer mit Wegezeiten, Vor- und Nachbereitung des Interviews im günstigen Fall etwa zehn Interviews an einem Tag bewältigen. Dagegen können an einem Tag durch einen Forscher wesentlich mehr Fragebogen persönlich übergeben und am Folgetag (oder später) wieder eingesammelt werden, falls nicht betriebliche Institutionen diese Aufgabe übernehmen. In diesem Falle sollten jedoch Urnen beim Einsammeln der Fragebogen benutzt und ihre Verwendung auch vorher angekündigt werden, um dem Befragten die Gewährleistung der Anonymität bereits vor dem Ausfüllen deutlich zu machen. Der Postweg wird bei schriftlichen Befragungen unter unseren Bedingungen seltener genutzt, es sei denn, es bestehen bereits feste Kontakte zwischen Forschungsinstitution und Befragten. 79 Schriftliche Befragungen vermögen also meist mit wesentlich weniger Aufwand eine große Zahl von Befragten zu erfassen als mündliche. Zu 2.: In der Literatur, die auf Erfahrungen der Umfrageforschung beruht, wird oft empfohlen, die Zahl der Indikatoren bei schriftlichen Befragungen möglichst klein zu halten, da sich bei längeren Fragebogen die Rücklaufquote bzw. die Zahl der vollständig ausgefüllten Fragebogen verringert. Das ist unter sozialistischen Bedingungen jedoch meist nur dann zutreffend, wenn der Befragte nicht persönlich angesprochen wird, wie etwa bei dem Fragebogen eines Verlages, der in ein Buch eingelegt ist und sich an den anonymen Käufer wendet. Hier ist tat-

79

Das Zentralinstitut für Jugendforschung (im folgenden ZIJ) hat z. B. im Kontakt mit Zwillingen bzw. ihren Eltern postalische Erhebungen durchgeführt bzw. brieflich Kontakt gehalten (vgl. W. Friedrich, Zwillinge. Wissenswertes über Zwillinge, Berlin 1983).

Befragungen

271

sächlich Beschränkung auf wenige Fragen angebracht. In schriftlichen Befragungen, die auf einem persönlichen Kontakt der Forscher mit den Befragten basieren und wichtige Probleme der Befragten betreffen, können nach unserer Erfahrung die Fragebogen sogar mehr Indikatoren umfassen als bei der mündlichen Befragung, ohne daß der Rücklauf oder die Sorgfalt der Beantwortung leiden. 80 Zu 4.: Die schriftliche Befragung kann wesentlich rationalisiert werden, wenn ganze Batterien von Frage- und Aussageindikatoren verwendet werden, die nach dem gleichen Antwortmodell zu beantworten sind. Der Befragte handhabt nach einer Trainingsfrage das Antwortmodell dann mit wachsender Sicherheit. Bei entsprechender Lesegeschwindigkeit und Entscheidungsfreude kann bei der schriftlichen Befragung in der gleichen Zeit eine größere Zahl von Indikatoren „abgearbeitet" werden als bei einer mündlichen Befragung. Dagegen wirken Fragebatterien mit einheitlichem Antwortmodell in der mündlichen Befragung monoton, und der Befragte fühlt sich gewissermaßen in die Rolle eines Papageis gedrängt, wenn er ständig wiederholen muß: „vollständig meine Meinung", „überhaupt nicht meine Meinung", „teilweise meine Meinung" etc. Man kann die Antwort dann auch auf einer Skala anzeigen lassen oder die Codierungszahl nennen lassen, aber der lebendige sprachliche Kontakt stirbt bei dieser „Formalisierung" ab. Es ist in diesem Fall günstiger, dem Befragten ein Vorlageblatt zu überreichen, auf dem er seine Antworten ankreuzt, also gewissermaßen in die mündliche Befragung eine schriftliche einzuschieben, was dem Interviewer überdies Zeit für zusätzliche Aufzeichnungen gibt. Die mündliche Befragung kann in dieser Mischform auch Vorteile der schriftlichen Befragung nutzen. In die mündliche Befragung können außerdem mit geringem Materialeinsatz Vorlagen (z. B. Fotos, Reproduktionen, Gegenstände) einbezogen werden, die bei der schriftlichen Befragung (in individueller Form) nicht jedem Befragten ausgehändigt werden können. Zu 5.: Der Ausdruck ,,Anonymität" wird im Zusammenhang mit Befragungen häufig falsch benutzt. Bei einer mündlichen Befragung, bei der die Befragten nach einem Auswahlverfahren, z. B. aus der Belegschaftskartei, ermittelt wurden und vom Interviewer namentlich um Mitwirkung gebeten werden, kann keine Anonymität, sondern lediglich Vertraulichkeit zugesichert werden. In der Regel erhält dann der Fragebogen eine Nummer und die gleiche Nummer wird dann hinter dem Namen des Befragten im Verzeichnis der Stichprobe vermerkt. Dem Befragten kann dann zu Recht zugesichert werden, daß sein Name auf dem Fragebogen nicht auftauchen wird. Die Nummer in der Namensliste ermöglicht das spätere Auffinden des Befragten für eine Wiederholungsbefragung. Der Befragte ist also nicht anonym, seine Aussagen werden aber vertraulich behandelt. Für den Sozio80

Vom Z U Leipzig wurden bei der schriftlichen Befragung von Studenten sogar 400 Indikatoren in einem Fragebogen eingesetzt. K. Starke gibt als durchschnittliche D a u e r des Ausfüllens 55 Minuten an (vgl. K. Starke, Jugend im Studium, a. a. O., S. 65).

272

Datenerhebung

logen ist eine absolute Anonymität nicht von Vorteil, weil der Rücklauf nicht kontrolliert, ausstehende Fragebogen nicht angemahnt und Wiederholungsbefragungen nicht mit individuellem Vergleich durchgeführt werden können. Ob und wann Befragte Anonymität wünschen, hängt wesentlich vom Inhalt, von den Gegenständen der Befragung ab. Nicht selten bitten beim mündlichen Interview die Befragten darum, daß man ihren Namen auf dem Fragebogen vermerken möge, da sie beispielsweise nicht anonym Kritik üben möchten. Dem Begriff „anonym" haftet ein negativer Beigeschmack aus der Wortverbindung „anonymer Brief' a n ; möglicherweise schwingt der Gedanke an Verleumdung oder Verantwortungslosigkeit mit. Es zeigt sich allerdings auch, daß Befragte bisweilen großen Wert auf Anonymität legen. 81 Vergleiche haben ergeben, daß betriebliche Sachverhalte in der anonymen schriftlichen Befragung im Durchschnitt „strenger" als in der mündlichen Befragung beurteilt wurden. 82 Es bleibt jedoch ungewiß, ob man bei fehlender Anonymität das Verhalten des Befragten generell als „verantwortungsvoller" oder als „vorsichtiger" bezeichnen kann. Hier bietet sich noch ein interessantes Feld für methodische Forschungen. Zu 6.: Es ist ein müßiger Streit, eine generelle Antwort auf die Frage zu suchen, ob man „spontane" oder „überlegte" Antworten anstreben solle. Wesentlich ist, daß das Tempo der Beantwortung bei der mündlichen Befragung steuerbar ist, und daß man hier mit der Intervieweranweisung festlegen kann, ob der Befragte viel Zeit zur Überlegung erhält, ob er zum Nachdenken aufgefordert werden soll oder ob auf das „Tempo gedrückt" werden soll, so daß in der Antwort die erste Reaktion erfaßt wird. Die überlegte Antwort ist nicht immer besser. Wie das Tempo zu gestalten ist, hängt hier also von den Absichten des Forschers ab. Diese Variabilität ist in der schriftlichen Befragung nicht möglich. Zu 7.: Die mündliche Befragung wird bei einem gut gestalteten Fragebogen und bei Einsatz guter Interviewer ein Gefühl der Befriedigung bei den Befragten hinterlassen, wie man es etwa nach einer angenehmen, angeregten Unterhaltung empfindet. Bei Bevölkerungsgruppen, die weniger geübt im Umgang mit Formularen sind und weniger Schriftverkehr pflegen, sind mündliche Befragungen ertragreicher als schriftliche. Hoch- und Fachschulkader sehen dagegen eine schrift81

D u r c h ein Versehen wurden bei einer schriftlichen Befragung von Leitern auf die Umschläge, die für die R ü c k g a b e des F r a g e b o g e n s bestimmt waren, die N a m e n der Befragten mit Kugelschreiber geschrieben. Auf den verschlossenen Umschlägen mit den ausgefüllten Fragebogen, die im Betrieb zu deponieren w a r e n , konnte m a n die vielfältigen M e t h o d e n studieren, mit denen die A b s e n d e r ihren N a m e n unkenntlich gemacht hatten. Alle Befragten hatten auf diese Weise ihre A n o n y m i t ä t wahren wollen (vgl. H. F. Wolf, G r u n d b e z i e h u n g e n des sozialistischen Betriebsklimas für den unteren u n d mittleren Leiter, K M U Leipzig 1966, (Forschungsbericht, hektographiert).

82

Untersuchungen L P 83 und L P 81 a m W B Soziologie der K M U Leipzig.

Befragungen

273

liehe Befragung eher als zweckmäßig an; sie können hier das Tempo der Beantwortung des Fragebogens selbst festlegen. Zweifellos muß der Forscher dies unter Beachtung der Eigenarten der Population und der Erhebungsbedingungen abwägen. Zu 8.: Über den mangelhaften Rücklauf klagen vor allem Umfrageforscher, die sich auf schriftliche Befragungen spezialisiert haben. Es wurden Mahnungen und verschiedene andere Methoden getestet, die zur Erhöhung der Rücklaufquote beitragen sollen. 83 Bei schriftlichen Befragungen, die in der D D R in Volkseigenen Betrieben durchgeführt und bei denen die Fragebogen von einem Vertreter der Forschungsgruppe persönlich übergeben und auch persönlich wieder abgeholt wurden, ergaben sich nur geringfügig größere Ausfallquoten als bei der mündlichen Befragung; allerdings bleiben einzelne Fragen häufiger unbeantwortet. Bei schriftlichen Befragungen ohne unmittelbaren Kontakt des Forschers mit den Befragten, ist die Rücklaufquote oft so gering, daß die Stichprobe die Grundgesamtheit nicht mehr repräsentiert. Zu 9. und 10.: Die kontrollierte Befragungssituation in der mündlichen Befragung sichert zunächst, daß tatsächlich die ausgewählte Person als Respondent auftritt; das ist bei der schriftlichen Befragung nicht gewährleistet, wenn der Fragebogen nicht in einer kontrollierten Situation ausgefüllt wird. Weiter können bei der mündlichen Befragung Wissensfragen mit Erfolg eingesetzt werden, während sich bei einer unkontrollierten schriftlichen Befragung der Befragte die fehlenden Informationen meist beschaffen kann, wenn er daran interessiert ist. Auch Wiederholungs- und Kontrollfragen können bei der mündlichen Befragung mit größerem Erfolg eingesetzt werden. Der Interviewer ist das größte Positivum der mündlichen Befragung, aber auch das größte kritische Problem. Wir verweisen hier auf den Abschnitt über den Interviewer weiter unten. Hervorgehoben sei hier lediglich, daß der Forscher mit Hilfe des Interviewers nicht nur „hört", sondern auch „sieht". Durch Intervieweinschätzungen und ergänzende Erhebungen, die mit dem mündlichen Interview verbunden werden können, z. B. Beobachtungen, erhält der Forscher vielfaltige Informationen und Möglichkeiten, das Umfeld am Befragungsort zu sondieren; dagegen ist der Forscher, der bei schriftlichen Befragungen seine Standards durch Mittelsmänner verteilen und einsammeln läßt, gewissermaßen „blind" und „taub"; sein Wissen beschränkt sich dann lediglich auf die Antwortverteilungen und die Korrelationen zwischen den verschiedenen Antworten. Was bei Umfrageforschungen im allgemeinen unvermeidlich ist, wird bei lokalisierten schriftlichen Befragungen, z. B. in Betrieben, Wohngebieten, Organisationen und anderen überblickbaren Feldern von gewissenhaften Forschern in

83

Vgl. O. Hafermalz, Schriftliche Befragung — Möglichkeiten und Grenzen, Wiesbaden 1976, S. 39—178; H. J. Richter, Die Strategie schriftlicher Massenbefragungen, Bad Harzburg 1970; F.-R. Stroschein, Die Befragungstaktik in der Marktforschung, Wiesbaden 1965.

274

Datenerhebung

der Regel vermieden, sich im „Blindflug" allein auf die ausgefüllten Fragebogen zu orientieren. Es sei hier nochmals betont, daß die schriftliche Befragung in Gruppensituation eine ganze Reihe von Nachteilen der individuellen schriftlichen Befragung kompensiert und sogar mit Panelstudien verbunden werden kann. Allerdings bestehen für Befragungen in Gruppensituation in den meisten Fällen keine Voraussetzungen, so daß die Befragung in dieser oder jener Form individuell durchgeführt werden muß. Eben dann sollten bei der Wahl zwischen schriftlicher und mündlicher Befragung Vor- und Nachteile jeder Form gründlich gegeneinander abgewogen werden.

Das Indikatorproblem bei der Befragung Die Indikatorproblematik wurde in ihren Grundlagen im Abschnitt 2.6. behandelt. F ü r die Befragung haben die Indikatoren zweifellos besondere Bedeutung, denn mit ihrer Hilfe wird bei Einstellungs- und Meinungsfragen auf innere Sachverhalte, auf Bewußtseinstatbestände geschlossen. Die Abbildung des Indikatums durch den Indikator ist dem Wahrheitskriterium unterworfen. Es geht aber dabei vorrangig nicht um den Unterschied von wahr oder falsch, sondern vor allem um den Grad der Genauigkeit. Die Daten der Befragung können nicht mehr enthalten, als in den Fragen gefordert und in den Antwortmodellen erfaßt wurde, und sie können nicht genauer sein, als die Abbildung des Indikatums in den Antworten (vgl. Abb. 13). In den meisten Fällen wird erst-ein ganzes System von Indikatoren das Indikatum hinlänglich genau erfassen können, und die Bestimmung der einzelnen Merkmalsdimensionen sowie die Wege der Aggregierung der Einzelaussagen entscheiden dann erst über die Qualität der Widerspiegelung. 8 4 Einige methodische Aussagen sollen der Behandlung der Indikatorproblematik bei der Befragung vorausgeschickt werden: — Den idealen Einzelindikator gibt es nicht. Jeder Indikator hat nur eine begrenzte Widerspiegelungsfahigkeit; nicht der Indikator hat versagt, sondern der Forscher, wenn die Grenzen der Aussagefähigkeit eines Einzelindikators überschritten und seine Ergebnisse unzulässig verabsolutiert werden. — Ein komplexes Indikatum sollte deshalb möglichst durch ein System von Indikatoren erfaßt werden; dabei können die Schwächen einzelner Indikatoren durch andere Indikatoren kompensiert werden.

84

Eine interessante Darstellung der Beziehung zwischen Indikator und Indikatum gibt St. Nowak, Methodology of Sociological Research, Warszawa-Dordrecht-Boston 1977, S. 132—151.

275

Befragungen

Oer Begriff,, Indikator'

bezeichnet

Abb. 13 U m f a n g des I n d i k a t o r b e g r i f f s bei der B e f r a g u n g und Z u s a m m e n h a n g der einzelnen

Elemente

— Indikatoren sind den Gütekriterien unterworfen. Unzuverlässige Einzelindikatoren mit Ergebnissen v o n zweifelhafter Gültigkeit können auch in Indizes und allgemeinen A u s s a g e n nur unzuverlässige Ergebnisse bringen. Indizes und k o m p l e x e A u s s a g e n müssen a u f den z w a r begrenzten, aber zuverlässigen Aussagen v o n Einzelindikatoren basieren. — F ü r die richtige K o n s t r u k t i o n von Indikatoren, v o r allem für die Systeme v o n Indikatoren, die ein komplexes Indikatum in wesentlichen Seiten erfassen, ist das theoretische Wissen über das Indikatum die entscheidende Grundlage. Ohne N u t z u n g des bereits vorhandenen theoretischen Wissens über das Indikatum und ohne wissenschaftlich begründete A n n a h m e n über das Erkenntnisobjekt, ist das Einsetzen einzelner Indikatoren und das K o m b i n i e r e n von Indikatoren nichts anderes, als ein Herumprobieren. — Die empirische Eichung der einzelnen Indikatoren ist ein notwendiger Schritt zur Bestimmung ihrer Gütemerkmale. Die Gültigkeitsprüfung stellt den Bezug zur Theorie her. — D i e Indikatoren müssen der Würde der sozialistischen Persönlichkeit, ihrem A n s p r u c h a u f eigene M e i n u n g und A c h t u n g ihrer persönlichen Sphäre R e c h n u n g tragen. Es genügt nicht der Verweis darauf, d a ß die Teilnahme an der Befragung grundsätzlich freiwillig ist und d a ß der Befragte das R e c h t hat, a u f jede F r a g e seine 19 Soziolog. Forschung

276

Datenerhebung

Antwort zu verweigern. Der Forscher hat auch die Pflicht, die Fragen verständlich zu formulieren und dem Befragten durch entsprechendes Heranfuhren die genaue Beantwortung zu ermöglichen; er hat nicht das Recht, den Befragten in eine Prüfungssituation zu versetzen, und durch „harte" Fragen in Widersprüche zu verwickeln und in Verlegenheit zu bringen. Er darf den Befragten nicht im direkten Wortsinn als „Versuchsperson" betrachten und unreife Indikatoren „ausprobieren". — Die Indikatoren müssen den Bedingungen der sozialistischen Gesellschaft entsprechen. Friedriehl Hennig warnen zu Recht vor der unkritischen Übernahme von Tests und Indikatoren aus kapitalistischen Ländern. 85 Das bezieht sich auch auf die Wahl der Worte und die verwendeten Begriffe in den Indikator-Formulierungen. In der sozialistischen Gesellschaft darf es für die wissenschaftliche Forschung jedoch auch keine Tabus bei der Gewinnung von Erkenntnissen für die Planung und Leitung sozialer Prozesse geben. Im folgenden behandeln wir Indikatortypen und verbinden damit einige methodische Überlegungen. 1. Nach der Stellung im Forschungsprogramm unterscheiden wir: — Programmfragen (Problemfragen) und — Testfragen (Frageindikatoren, Erhebungsindikatoren etc.). Programmfragen bestimmen den Inhalt eines ganzen Untersuchungskomplexes und müssen in Testfragen, in Indikatoren des Fragebogens und in Antwortmodelle umgesetzt werden. Betrachten wir ein Beispiel. Die Programmfrage lautet: Worin bestehen die Ursachen der hohen Fluktuation im Betrieb? Natürlich kann man diese Frage Betriebsangehörigen als offene Frage stellen und sie somit als Testfrage nutzen. Das kann für die Erkundung nützlich sein, aber es werden dann von den Befragten recht unterschiedliche Antworten kommen; teilweise wird auch lediglich die öffentliche Meinung wiedergegeben. Die Aufgabe einer Befragung, die zu neuen und exakten Erkenntnissen führen soll, wird darin bestehen, ausgehend von einem theoretischen Modell der möglichen Fluktuationsursachen, zielgerichtet Testfragen vorzugeben, die auf die bereits in der Voruntersuchung festgestellten Hauptursachen gerichtet sind und deren Beantwortung uns zeigt, welche Stör- bzw. Bindungsfaktoren für die verschiedenen Gruppen von Werktätigen ihre Neigung zur Fluktuation bestimmen. Programmfragen müssen also in einem theoretischen Bezugsrahmen in mehrere Testfragen transformiert werden. Das erfordert in der Praxis meist Beschränkung

85

Vgl. W. Friedrich/W. Hennig, Grundprobleme der Befragung, a. a. O., S. 394. Als weiterführende Literatur verweisen wir in diesem Buch insbesondere auf den Abschnitt „Methodische Anforderungen an Indikatoren".

Befragungen

277

auf eine begrenzte Zahl von Indikatoren. In jeder Befragung kann allein schon im Hinblick auf die Belastbarkeit des Befragten nur eine begrenzte Zahl von Indikatoren eingesetzt werden, so daß Schwerpunktfaktoren ausführlicher, Nebenbedingungen lediglich exemplarisch durch Indikatoren abgesichert werden können. Der Forscher muß also eine optimale Lösung des Widerspruchs zwischen zwei Anforderungen finden, zwischen dem Wunsch einerseits, die Sachverhalte möglichst genau durch eine große Zahl von Indikatoren zu untersuchen und der Notwendigkeit andererseits, sich auf eine begrenzte Zahl von Indikatoren beschränken zu müssen. Quälend lange Fragebogen zeugen ebenso wie Fragebogen mit vielen allgemeinen, pauschalen Fragen von unzureichender theoretischer Beherrschung der Problematik, vom Fehlen der Voruntersuchungen, die eine sinnvolle Einschränkung auf relevante Problemkreise möglich gemacht hätten bzw. von Rücksichtslosigkeit und Oberflächlichkeit. 2. Nach dem Freiheitsgrad der Antwort unterscheiden wir: — offene Fragen (keine Antwortvorgabe; die Antwort wird vom Interviewer möglichst wörtlich notiert bzw. vom Befragten selbst schriftlich gegeben). — halboffene Fragen (keine Antwortvorgabe für den Befragten; der Interviewer ordnet die Antwort in ein vorgegebenes Schema im Fragebogen ein) und — geschlossene Fragen (der Befragte erhält mündlich oder schriftlich die Antwortmöglichkeiten vorgegeben). Bereits im vorigen Abschnitt wurde die Problematik von offenen und geschlosseren Fragen im Zusammenhang mit den Unterschieden zwischen schriftlicher und mündlicher Befragung berührt. Generell gilt: Offene Fragen fordern vom Befragten eine größere geistige Leistung und Sachkundigkeit; er sollte von sich aus alle Antwortmöglichkeiten überblicken. Sie geben dem Befragten das Gefühl, sich frei aussprechen zu können und beleben das Interview. Sie sind aber im mündlichen Interview ohne technische Hilfsmittel (z. B. Rekorder) schwer vollständig zu erfassen (meist kann der Interviewer lediglich Stichworte festhalten). Bei der Auswertung sind sie aufwendig und die Ergebnisse sind schwer zu quantifizieren. Wenn z. B. ein Befragter nur einen einzigen Faktor, ein anderer ein halbes Dutzend Merkmale auf die Frage nach den Hauptursachen einer Erscheinung nennt, ist dann der erste Befragte besonders entscheidungsfreudig oder lediglich einfallslos? Hat der zweite Befragte eine umfangreiche Sachkenntnis, oder möchte er nichts Falsches sagen und zählt deshalb unterschiedslos alles auf, was ihm beim gegebenen Stichwort einfallt? Zählt man dann alle Nennungen einfach zusammen, ist der erste Befragte nur einmal, der zweite Befragte mit mehreren Äußerungen im Ergebnis repräsentiert. Offene Fragen dienen aber der Auflockerung des Interviews. Halboffene Fragen unterscheiden sich aus der Sicht des Befragten nicht von offenen, dagegen muß der Interviewer klare Instruktionen haben, wie er die frei gegebenen Antworten registrieren soll und ob er Zusatzfragen stellen darf, um 19*

278

Datenerhebung

zu einer Einordnung zu kommen. Der Befragte hat auch bei halboffenen Fragen das Gefühl, sich aussprechen zu können. Halboffene Fragen stellen höhere Anforderungen an den Interviewer und schließen auch die Gefahr von Beeinflussung und Fehlbewertung ein. Geschlossene Fragen bieten mit ihren Vorgaben einen Uberblick über die Antwortmöglichkeiten und erleichtern dem Befragten die Beantwortung. Sie geben allerdings auch jenen Befragten Aussagemöglichkeit, die für die Beantwortung dieser Frage nicht kompetent sind und deshalb „keine Antwort" geben dürften, weil sie darüber noch nicht nachgedacht haben oder nicht genügend Sachkenntnis haben. Dem Kreuz im Fragebogen ist nicht anzusehen, ob der Befragte auch bei einer offen gestellten Frage so geantwortet hätte oder ob die Meinung erst durch die Antwortvorgaben im Augenblick der Befragung erzeugt wurde. Bisweilen wird von Befragten auch eine Antwort gewählt, die sie selbst im positiven Licht erscheinen läßt. Das wird noch stimuliert, wenn einseitig positive Antworten vorgegeben werden. So geschieht es noch häufig, daß z. B. auf die Frage: „Warum haben Sie sich qualifiziert?" nur „edle" Motive vorgegeben werden: „... um besser arbeiten zu können", „um einen größeren Beitrag zur Stärkung des Sozialismus zu leisten", „um weiter im Kollektiv hohes Ansehen zu genießen", „um meinen Kindern Vorbild zu sein", „um mehr leisten und verdienen zu können" etc. Der Befragte wird schnell geneigt sein, zu jeder Vorgabe zu sagen „trifft zu", „stimmt auch" etc. Tatsächlich hat jeder Faktor bei den Überlegungen mitgewirkt, aber durch eine so pauschale Frage und eine so einseitige Antwortvorgabe wird das Ergebnis durch den Forscher „erzeugt". Das Ergebnis ist wissenschaftlich wertlos. Geschlossene Befragungsindikatoren erfordern also nicht nur bei der Formulierung der Frage, sondern erst recht auch bei den Antwortvorgaben wissenschaftliche Überlegungen. Das Wissen um den reaktiven Charakter von Befragungen verpflichtet den Soziologen bei der Indikatorkonstruktion zu fragen: Ist die Formulierung der Frage und der Antwortmöglichkeiten so beschaffen, daß der Befragte möglichst wenig beeinflußt und der zu erfassende Sachverhalt möglichst unverzerrt widergespiegelt wird? 3. Nach der Art der Aufforderung

unterscheiden wir:

— Frageindikatoren und — Aussageindikatoren. Wir haben bisher Frageindikatoren als den Normalfall unterstellt. Unter syntaktischem Gesichtspunkt kann die Vorgabe auch so erfolgen, daß nach einer Aufforderung bzw. Frage eine Aussage vorgegeben wird, sowie bei geschlossenen Indikatoren ein Antwortmodell. Beispiel für einen Frageindikator: Haben Sie Angst vor dem Alter? Antwortmodell: 1 ja, häufig, 2 bisweilen, 3 nein.

Befragungen

279

Beispiel für einen Aussageindikator: Wie stehen Sie zu der folgenden Aussage? Ich habe Angst vor dem Alter. Antwortmodell: 1 vollständig meine Meinung, 2 teilweise meine Meinung, 3 nicht meine Meinung. Das Problem von Aussageindikatoren wird sofort deutlich, wenn wir bedenken, daß auch die gegensätzliche Aussage vorgegeben werden könnte: Ich habe keine Angst vor dem Alter. Der Aussageindikator nimmt also einen Sachverhalt als gegeben an und überläßt es dem Befragten zuzustimmen oder zu leugnen. Der Forscher hat damit die Möglichkeit, die Unsicherheit, die der Befragte möglicherweise bei der Konfrontation mit einem Sachverhalt empfindet, zu vermindern und beispielsweise einen gesellschaftlich negativ sanktionierten Tatbestand als gegeben anzunehmen. Dabei können in einer Indikatorenbatterie positive und negative Aussagen gemischt werden. Die Vorteile von Aussageindikatoren sind augenscheinlich. 86 Sie — können leicht zu Indikatorenbatterien zusammengestellt werden, — sind bei schriftlichen Befragungen sehr zeitsparend, — erleichtern dem Befragten auch negative Sachverhalte zuzugeben, — sind einfach mit Antwortskalen zu verknüpfen, — sind in der verbalen Auswertung einfacher zu handhaben und — können auch umfangreicher sein und ein Problem beschreiben. Aussageindikatoren haben aber auch problematische Seiten: Sie — wirken bei mündlichen Befragungen monoton und können hier kaum in größeren Antwortbatterien eingesetzt werden, will man den Befragten nicht in eine passive Rolle drängen; — sie sind selten neutral zu formulieren und wirken mit der vorgegebenen Urteilsposition suggestiv auf manche Befragte und — sie sind mit der Antwortfestlegung auf Zustimmung oder Ablehnung relativ formal. Wir stimmen Friedriehl Hennig zu, daß jeder der Befragung zugängliche Sachverhalt prinzipiell mit beiden Indikatortypen analysiert werden kann, daß die Vorzüge von Aussageindikatoren die breite Verwendung in schriftlichen Befragungen voll rechtfertigen, daß die Häufigkeitsverteilung der Antworten bei beiden Formen selten übereinstimmt und daß hier ein interessantes Feld für methodische Untersuchungen gegeben ist. 87 4. Nach dem Bezug zur Person des Befragten unterscheiden wir — direkte und — indirekte Indikatoren.

86 87

Vgl. ebenda. Vgl. ebenda.

280

Datenerhebung

Direkte Indikatoren beziehen sich unmittelbar auf die Person des Befragten (z. B.: Fühlen Sie sich in Ihrem Arbeitskollektiv wohl?), indirekte Fragen vermeiden diesen Bezug (z. B.: Kann man sich in Ihrem Arbeitskollektiv wohl fühlen?). Die direkte Frage verlangt zweifellos mehr Bekennermut, sie fordert die Preisgabe des eigenen Standpunktes und die Identifizierung mit dem Urteil. Die indirekte Frage zielt dagegen in unserem Beispiel auf die vermutete Meinung der Mehrzahl der Kollektivmitglieder. Sie umfaßt nicht die Haltung des Befragten, sondern die Selbsteinschätzung des Kollektivs, die sich in einem längeren Zeitabschnitt gebildet hat. Es werden mit den beiden Frageformen also nicht genau die gleichen Sachverhalte erfragt. In der nichtmarxistischen Methodenliteratur wird verschiedentlich behauptet, daß die indirekte Frage die Hemmung abbaue, die eigene Meinung zu sagen. Wir konnten beobachten, daß das Verbergen der eigenen Meinung hinter der unpersönlichen Formulierung „man sagt, ..." in der sozialistischen Gesellschaft meist nicht geschätzt wird und Befragte Wert darauflegen, ihre eigene Meinung zu artikulieren. Die indirekte Frage kann allerdings an einen komplizierten Fragenkomplex heranführen und eine gewisse Abwechslung in den Rhythmus des Interviews bringen. Der Soziologe sollte jedoch immer beachten, daß er mit der indirekten Frage den vermuteten Meinungsdurchschnitt oder die Gruppennorm erfaßt, während er mit der direkten Frage auf die individuelle Meinung zielt. Insofern können die Ergebnisse von direkten und indirekten Fragen nicht identisch sein. 5. Nach dem Bezug zum Inhalt der Frage unterscheiden wir: — — — —

Faktenfragen (Sachfragen, z. B. Fragen zur Person), Wissensfragen (allgemeiner: Fähigkeitsindikatoren), Meinungsfragen (Indikatoren zur Bewertung eines Sachverhalts), Einstellungsfragen (Indikatoren zur Ermittlung von Normhaltungen, Wertorientierungen, Erwartungen u. a.) und — Motivfragen (Indikatoren zur Ermittlung von inneren Beweggründen des Handelns). Es geht hier nicht allein um den Inhalt, um den unterschiedlichen-Objektbezug der Frage, sondern vor allem um die unterschiedlichen psychischen Mechanismen, die beim Befragten ausgelöst werden. Bei der Faktenfrage handelt es sich, formal gesehen, um eine Wissensfrage. Wenn wir trotzdem beispielsweise die Fragen nach Alter, Familienstand, Beruf, Wohnort u. a. gesondert als Faktenfragen zusammenfassen, so deshalb, weil es hier in der Regel nicht um das Wissen des Befragten geht, sondern um die Ermittlung einfacher Tatsachen. Allerdings erfordern auch sie die Informationsbereitschaft des Befragten. Obwohl Prestigedenken im Sozialismus nicht die Rolle spielt wie in kapitalistischen Ländern, erfordern manche Faktenfragen Freimütigkeit und Vertrauen, wenn sie den Intimbereich des Befragten betreffen. Wir konnten allerdings beobachten, daß z. B. das individuelle Einkommen eher zu niedrig als zu hoch

Befragungen

281

angegeben wurde und erst nach Zuschlägen und zusätzlichen Einnahmen gefragt werden mußte. Die bisweilen als indiskret charakterisierte Frage nach dem Alter bei Frauen läßt sich umgehen, wenn man nach dem Geburtsdatum fragt (das übrigens schneller genannt wird, als das Alter, weil hier manche Befragte tatsächlich erst rechnen müssen). Komplizierter sind Faktenfragen, die beispielsweise das sexuelle Verhalten betreffen. Im ^wsej-Report berichten die Verfasser, wie sie in Individualbefragungen von durchschnittlich eineinhalb bis zwei Stunden Dauer großes Augenmerk darauf verwandten, das volle Vertrauen jedes Befragten zu gewinnen und wie sie, um Bedenken hinsichtlich der Vertraulichkeit zu zerstreuen, das Protokoll nicht in Normalschrift, sondern in einer Geheimschrift verfaßten. 88 Nur so waren zuverlässige Aussagen über den sexuellen Lebenslauf, über alle Arten sexueller Betätigung, auch solche Formen, die von der öffentlichen Meinung mißbilligt wurden bzw. gesetzlich unter Strafe gestellt waren, zu erreichen. Eine variable Fragestellung, die sich nach Bildungsgrad und Wortschatz des Befragten richtete, erleichterte die Herstellung eines vertrauensvollen Verhältnisses. Das stellte ganz besondere Anforderungen an die Interviewer. Eine allgemeingültige Aussage darüber, wann Indikatoren den Intimbereich betreffen, läßt sich nicht machen. Das können Fragen nach persönlichen Beziehungen und Fakten des Lebenslaufes sein, das sind vielfach auch Einstellungsoder Meinungsindikatoren, die politische, religiöse, moralische u. a. Sachverhalte betreffen. Es ist deshalb bei allen Indikatorformen eher einmal mehr diese Möglichkeit einzukalkulieren und darauf zu achten, daß der Befragte zur vertrauensvollen Mitarbeit gewonnen wird und vom wissenschaftlichen Zweck und der Diskretion der Erhebung überzeugt ist. Wissensindikatoren sind nur bei Befragungen in kontrollierter Situation sinnvoll zu stellen. Man muß auch die „unechten" Wissensfragen ausgrenzen (z. B.: Wissen Sie, wie Ihr Werkdirektor heißt? Ja/nein) und das Wissen wirklich kontrollieren: Wie heißt Ihr Werkdirektor? 1 sagt den richtigen Namen/2 kann den richtigen Namen nicht nennen. Hier besteht eine eindeutige Kontrolle. Wissensfragen gehören, wie oben erwähnt, zur Gruppe der Fähigkeitsindikatoren. Wir verweisen auf die Möglichkeit, psychologische Tests in die Befragung einzuschließen (vgl. Abschnitt 3.3.5.). 89 Methodisch ist beachtenswert, daß Wissensfragen und viele andere Fähigkeitsindikatoren sehr leicht ein Prüfungsklima in der Befragung schaffen. Werden 88

Vgl. A. C. Kinsey/W. B. Pomeroy/C. E. Martin/P. H. Gebhard, D a s sexuelle Verhalten der

89

Vgl. W. Hennig, Einstellungstests, a. a. O., S. 421—452; K. U . Ettrich, Intelligenz-, Kreativi-

Frau, Frankfurt/M.-Hamburg 1970, S. 81—86. täts- und Schulleistungstests, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, a. a. O., S. 453—496.

282

Datenerhebung

zu viele Wissensfragen gestellt, wird die Interviewsituation belastet, wenn der Befragte mehrere Wissensfragen nicht beantworten kann. Für diesen Fall sollte die Intervieweranweisung vorsehen, daß der Interviewer die peinliche Situation überspielen kann, indem er z. B. die unbeantworteten Wissensfragen bagatellisiert oder als „Blindfragen" bezeichnet (Fragen, deren Ergebnis nicht registriert wird), und dann so einfache Fragen stellt, daß der Befragte sachkundig antworten und sein Selbstvertrauen wiedergewinnen kann. Meinungsfragen sind wohl die am häufigsten verwendeten Indikatoren. Ihrer logischen Form nach sind die Antworten auf Meinungsfragen Urteile. Sie resultieren immer aus zwei Faktoren: — aus der Beschaffenheit des zu beurteilenden Sachverhalts und — aus dem subjektiven Bewertungsmaßstab, den der Befragte anlegt. Zum Beispiel: „Wie beurteilen Sie die Arbeitsorganisation in Ihrer Abteilung?" Die Antwort ist eine Resultante daraus, wie die Arbeitsorganisation wirklich ist und mit welchen Maßstäben (Anspruchsniveau, Erwartungen) sie der Befragte bewertet. Dabei spielt auch seine Kompetenz eine Rolle, nämlich sein Überblick über die reale Arbeitsorganisation und der Umfang seiner Kenntnisse. Von Einfluß auf die Meinung des Befragten ist meist auch die Gruppenmeinung. Um Meinungsfragen richtig zu interpretieren, ist es erforderlich, sowohl den Grad der Sachkundigkeit und Informiertheit des Befragten wie auch seine Einstellung in bezug auf den erfragten Sachverhalt festzustellen. Die Meinungsfragen bedürfen daher immer der Ergänzung, unter anderem durch reine Einstellungsfragen, die uns zeigen, welche subjektive Brechung der beurteilte Sachverhalt im Bewußtsein des Befragten erfahrt. Zu den Meinungsindikatoren gehören speziell auch alle Fragen nach der Zufriedenheit mit einem bestimmten Sachverhalt. Besonders über Arbeitszufriedenheit („Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer beruflichen Tätigkeit?") existiert eine umfangreiche Literatur. In der DDR hat sich besonders Stollberg um diese Thematik verdient gemacht.90 Am Beispiel der Arbeitszufriedenheit können exemplarisch alle „Satisfaktionsindikatoren" methodisch durchdacht werden. 91 Einstellungs- und Motivindikatoren sollen psychische Faktoren, innere Dispositionen des Befragten nachweisen. Das ist eine methodische Aufgabe von höchstem Schwierigkeitsgrad. Die Auskunft, die der Befragte über seine Einstellungen geben kann, beruht jedoch nicht auf einer wissenschaftlichen Analyse, sondern er sagt uns, wenn wir direkt nach seiner Einstellung fragen, streng genommen auch nur 90

91

Vgl. R. Stollberg, Arbeitszufriedenheit — theoretische und praktische Probleme (Schriftenreihe Soziologie), Berlin 1968; R. Stollberg, Arbeitssoziologie, Berlin 1978, S. 151 —178. Vgl. O. Neuberger, Messung der Arbeitszufriedenheit, Stuttgart-Berlin(West)-Köln-Mainz 1974; O. Neuberger, Theorien der Arbeitszufriedenheit, Stuttgart-Berlin(West)-Köln-Mainz 1974.

Befragungen

283

seine M e i n u n g ü b e r seine Einstellung. W i r erhalten also eine A u s k u n f t ü b e r die vermeintliche Einstellung o d e r ü b e r die v e r m u t e t e n bzw. lediglich die subjektiv bewußten Motive. Es sind deshalb b e s o n d e r s in der Psychologie u m f a n g r e i c h e Studien betrieben w o r d e n , die sich mit Einstellungsmessung u n d speziell auch mit der D i a g n o s e v o n Einstellungsänderungen befassen. 9 2 Es geht dabei nicht n u r d a r u m festzustellen, welche Einstellungen v o r h a n d e n , s o n d e r n auch, in welcher S t ä r k e sie ausgeprägt sind. Einstellungen sind sehr vielgestaltig u n d der Einstellungsbegriff ist eigentlich ein Sammelbegriff f ü r unterschiedliche subjektive Sachverhalte, Einstellungen äußern sich: — in Wertorientierungen als stabile K o m p o n e n t e n der individuellen Gerichtetheit, — in Interessen u n d Neigungen, — in individuellen Verhaltensnormen u n d G e w o h n h e i t e n , — in Erwartungen, Leitbildern, Idealen u n d a n d e r e n antizipierenden Bewußtseinselementen (z. B. Lebensplänen), — in der subjektiven Befindlichkeit, allgemeiner Zufriedenheit o d e r U n z u f r i e d e n heit, in S t i m m u n g e n , in V o r f r e u d e o d e r Angst u n d — in Motiven als energetische K o m p o n e n t e von Verhaltensdispositionen. D i e A u f f a s s u n g e n ü b e r den Einstellungsbegriff sind a u c h in der marxistischen L i t e r a t u r nicht einheitlich. Allgemein geteilt werden folgende A u f f a s s u n g e n ü b e r die Einstellungen: — der Komponentencharakter von Einstellungen (kognitive, e m o t i o n a l e u n d volitive K o m p o n e n t e n ) ; — die individuelle Bedeutsamkeit v o n Einstellungen (die persönliche Identifikation mit der Einstellung); — der Systemcharakter v o n Einstellungen, die E i n b e t t u n g der einzelnen Einstellungen in eine H i e r a r c h i e von Einstellungen; — die B e d e u t u n g v o n Wertorientierungen als g r u n d l e g e n d e Einstellungen; — die selektierende Funktion v o n Einstellungen bei der weiteren A n e i g n u n g u n d A u s p r ä g u n g v o n a n d e r e n Einstellungen; — die aktive Rolle d e r Persönlichkeit, ihre bewußte A n t e i l n a h m e a n der Selbstf o r m u n g u n d die B e d e u t u n g ihrer praktischen T ä t i g k e i t ; — der relativ stabile C h a r a k t e r v o n Einstellungen u n d die Allmählichkeit von Einstellungsänderungen; — der W a h r s c h e i n l i c h k e i t s c h a r a k t e r der Beziehung zwischen Einstellungen u n d aktuellem Verhalten u n d 92

Vgl. W. Gutjahr, Die Messung psychischer Eigenschaften, Berlin 1971; H. R. Böttcher/ A. Seeber/G. Witzlack (Hrsg.), Psychodiagnostik — Probleme, Methoden, Ergebnisse, Berlin 1974; G. Witzlack, Grundlagen der Psychodiagnostik, Berlin 1977; G. A. Lienert, Testaufbau und Testanalyse, 1. Aufl., Weinheim 1961.

284

Datenerhebung

— die Beschränkung des Einstellungsbegriffs auf die Ebene der Persönlichkeit als Bezeichnung eines Sachverhalts, der nur Individuen zukommt und nicht Gruppen und anderen größeren sozialen Einheiten. 93 Die Konstruktion von Einstellungsindikatoren ist kompliziert und schließt verschiedene Möglichkeiten ein. Wir wollen weiter unten zugleich mit der Diskussion unterschiedlicher Formen der Antwortvorgabe auch Beispiele für Einstellungsindikatoren vorstellen. Zweifellos bewegt sich der Soziologe dabei auf einem Territorium, das wissenschaftlich von der Psychologie erschlossen wurde, und er tut gut daran, sich das erforderliche psychologische Wissen anzueignen. Motivindikatoren werden oft auf „Warum-Fragen" beschränkt. Im Fragebogen folgt die Frage „ W a r u m ? " auf die Antwort eines Befragten dann oft wie eine Strafe (z. B.: „Warum haben Sie sich qualifiziert?"). (Wenn dann auch noch die Antwortvorgaben einseitig sind, ist eigentlich schon die Grundlage dafür gelegt, ein verzerrtes Bild zu erhalten). Wichtige persönliche Entscheidungen werden in der Regel nach einer Abwägung der dafür und dagegen sprechenden Argumente getroffen; Aufwand und Ergebnis werden vorher geschätzt und verglichen. So bildet sich das Motiv aus einer Summe von Faktoren, die für die Entscheidung sprechen. Deshalb ist es zweckmäßig, auch nach objektiven Determinanten zu fragen, nach fordernden und hemmenden Faktoren, um so die Bedingungen der Motivbildung einzukreisen. Bei der pauschalen Warum-Frage unterliegt der Befragte leicht der Versuchung, nur „edle" Beweggründe als vermeintliche Motive anzugeben. 6. Indikatoren können bei Befragungen auch nach dem Meßniveau, das mit Frageund Antwortindikator realisiert werden soll, unterschieden werden. Probleme des Messens und der Skalierung wurden im Abschnitt 2.7. und 2.8. behandelt. Wir verweisen hier lediglich auf praktisch-methodische Probleme, die sich damit bei der Befragung verbinden. Bei Nominalskalen in einem Antwortmodell — müssen sich die einzelnen Möglichkeiten gegenseitig ausschließen, — es müssen alle relevanten Möglichkeiten berücksichtigt werden bzw. für die nichtgenannten muß die Antwort „sonstige" vorgegeben werden, — und es muß die Erfassung der Antwortverweigerer („keine Antwort = k. A.) sowie eventuell die Möglichkeit „weiß nicht" oder „trifft nicht z u " vorgesehen werden. 93

Vgl. Ch. Radig, Wertorientierungen und Lebenseinstellungen von Leitern im Prozeß des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, Abschnitt 1.2.2., Dissertation A, Leipzig 1986. Aus der Literatur zu Einstellung und Einstellungsmessung sei weiter hervorgehoben: H.-D. Rösler/H.-D. Schmidt/H. Szewszyk (Hrsg.), Persönlichkeitsdiagnostik, 2. Aufl., Berlin 1973; W. Hennig, Einstellungstests, a . a . O . , S. 421 —452; W. Hennig (Hrsg.), Zur Erforschung der Persönlichkeit, Berlin 1977; J. Erpenbeck, Motivation, Berlin 1984; T. Hahn, Motivation, Motivforschung, Motivtheorien, Berlin 1985.

Befragungen

285

In diesem Zusammenhang einige Bemerkungen zur Registrierung der Antwortverweigerungen, die für alle Skalen gelten: Jeder Befragte hat das Recht, bei jeder Frage seine Antwort zu verweigern. Darauf muß er in der Instruktion besonders hingewiesen werden. Der Befragte wird von diesem Recht nicht nur Gebrauch machen, wenn er seine Meinung nicht sagen will, sondern viel häufiger auch dann, wenn er eine Antwort nicht geben kann, weil er inkompetent für die Beantwortung der Frage ist. Es hängt nun vom Charakter der Untersuchung, von der erforderlichen Genauigkeit, von der Bedeutung der Frage und anderen Umständen ab, ob man „keine Antwort" (k. A.) und „weiß nicht" bzw. „keine feste Meinung" gesondert oder ob man die „Inkompetenten" und „Unentschlossenen" gemeinsam mit den Antwortverweigerern erfaßt. Die Beantwortung von Rangordnungsfragen erfordert meist relativ viel Zeit, denn der Befragte muß mit dem Vergleichen und Bewertungen der Vorgaben relativ komplizierte geistige Operationen ausführen. In mündlichen Befragungen kann man das Verfahren beschleunigen, indem man Vorlagekarten benutzt und den Befragten auffordert, zunächst das wichtigste Merkmal herauszusuchen; dieses Kärtchen wird entfernt und jetzt wieder das nunmehr wichtigste Merkmal abgefordert etc., bis die Rangordnung vollständig gebildet ist. Von zweifelhafter Aussagekraft ist das Verfahren, jedem Befragten freizustellen, wieviel Merkmale er als besonders wichtig angeben will. Abgesehen davon, daß dann keine Rangordnung gebildet wird, sondern lediglich zwischen wichtigen und weniger wichtigen Merkmalen entschieden wird, treten bei diesen Mehrfachnennungen vor allem Verzerrungen der Auswahl auf, da weniger Entscheidungsfreudige oft viele Merkmale nennen und überrepräsentiert sind, während differenzierungsfahige Befragte, die das Wesentliche herauszufinden bemüht waren, oft nur mit einer Aussage vertreten sind. Um eine Häufung von zeitlich aufwendigen Rangordnungsfragen in einem Fragebogen zu vermeiden, wird insbesondere bei schriftlichen Befragungen für jedes einzelne Merkmal eine Schätzskala94 vorgegeben. Es wird dann nicht gefragt: „Welches Merkmal ist Ihnen am wichtigsten, welches am zweitwichtigsten etc.", sondern: „Wie wichtig ist Ihnen das Merkmal AT\ „Wie wichtig ist Ihnen das Merkmal BT' etc. Vorgegeben wird dann eine mehrstufige Skala, wobei an einem Pol „sehr wichtig" und am anderen Pol „unwichtig" steht. Während bei der Rangordnungsskala die Merkmale in „Konkurrenz" zueinander stehen (jeder Platz kann jeweils nur einmal vergeben werden), fallt bei der Einzeleinschätzung dieser Zwang weg. Natürlich hängt es auch hier von der Differenzierungsfahigkeit des Befragten ab, ob er alles als sehr wichtig und wichtig betrachtet oder ob er 94

Vgl. W. Hennig, Schätzskalen, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, a. a. O., S. 345—367.

286

Datenerhebung

die gesamte Breite der Skala nutzt. Vergleiche bei der Auswertung zeigen, daß die Rangordnung der Merkmale nach dem arithmetischen Mittel aus der Häufigkeit der Verteilung der Antworten auf die Stufen einer Intervallskala bei der gesamten Population kaum abweicht von einer nachträglich gebildeten Rangordnung nach der Häufigkeit der Nennung auf den Plätzen eins bis drei bei der ordinalen Fragestellung. Bei der Einzelvorgabe der Merkmale können außerdem wesentlich mehr Merkmale vorgegeben werden als bei einer ordinalen Frage. Bei Intervallskalen kann es sich um Merkmals Skalierungen handeln (hier werden geeichte Aussagen angeboten, die auf einer Merkmalsdimension liegen) oder um Antwortskalierungen. Hier wird entweder dem Befragten unmittelbar die Entscheidung überlassen, den Skalenwert festzulegen, oder der Interviewer übernimmt nach einer offenen Frage die Bewertung der Antwort. In diesem Zusammenhang sind einige Bemerkungen zur Zahl der Skalenwerte angebracht. Die Antwortdichotomie „Ja-Nein" gibt kein Intervall an, sondern ist ihrem Wesen nach eine Nominalskala. Die alternative Antwortvorgabe erscheint besonders konsequent und ist auch bisweilen angebracht (z. B. bei der Filterfrage: Haben Sie in den letzten drei Jahren einen Urlaub im Land B verbracht? Ja/Nein), sie ist jedoch in den meisten Fällen unzulässig vereinfachend und entspricht nicht dem Bedürfnis der Befragten nach einer differenzierten Darstellung. Die Dreier-Skala läßt sich einfach handhaben, wird sehr schnell verstanden, vergröbert aber meist auch die Abbildung. Bei kleinen Populationen ist sie günstig und sollte hier besonders bei „Eckfragen", nach denen eine Sortierung geplant ist, verwendet werden. Die verbale Fassung kann verschieden sein, z. B.: „stark — mittel — schwach"; oder: „sehr zufrieden — teilweise zufrieden — unzufrieden"; oder: „große Bedeutung — mittlere Bedeutung — geringe Bedeutung" etc. Bei der Dreier-Skala flüchten nicht selten hohe Prozentsätze der Befragten auf die mittlere Position. Dagegen besteht bei einer vierstufigen Skala diese Möglichkeit nicht. Allerdings erfolgt dann bei der Auswertung oft durch Addition der Antworten von 1 und 2 und von 3 und 4 eine Transformation in eine einfache Dichotomie. Folgendes kann zusammenfassend und ergänzend über die unterschiedlichen Möglichkeiten von Intervallskalen gesagt werden: — Skalen mit einer geraden Anzahl von Werten (Zweier-, Vierer- und SechserSkalen) haben keine Ausweichmöglichkeit auf einen mittleren neutralen Wert und lassen sich dichotomisch zusammenziehen. — Skalen mit einer ungeraden Anzahl von Werten (Dreier-, Fünfer-, SiebenerSkalen) haben einen mittleren Wert, auf den sich teilweise auch jene festlegen, die eigentlich die Antwort verweigern möchten oder wegen Inkompetenz mit „ich weiß nicht" antworten müßten.

Befragungen

287

— fünfstufige Skalen haben die Eigenart, daß sie von Befragten mit Zensuren verglichen werden, wenn 1 sehr gut und 5 sehr schlecht bedeutet, so tritt oft eine Scheu vor der Wahl der Stufen 4 und 5 auf. Allerdings kann die Fünfer-Skala eben mit der Analogie zu Zensurenstufen (obwohl diese ihrem Wesen nach j a eigentlich ein ordinales Meßniveau verkörpern) bei Befragten, die weniger vertraut mit abstraktem Denken sind, die Scheu vor formalen Skalen mindern. — Siebenstufige Skalen und Skalen mit einer noch höheren Stufenzahl erfordern bereits ein beträchtliches Differenzierungsvermögen. Der Erklärungsaufwand lohnt sich jedoch, wenn sie in größeren Batterien eingesetzt werden. — Bei Skalen mit mehr als drei Werten ist eine vollständige Yerbalisierung nicht unbedingt notwendig. Es genügt, wenn die Eckpunkte verbal markiert werden und bei Skalen mit einer ungeraden Stufenzahl auf den mittleren Wert hingewiesen wird. Die Vorlage einer Skizze, eines „Lineals" oder einer „Leiter" bei einer Siebener-Skala ruft den Tatbestand der gleichen Abstände stärker ins Bewußtsein als die verbalen Antwortmodelle, die eher zu einer ordinalen Sicht verleiten (1 ist wichtiger als 2, 2 wichtiger als 3 etc.). — Intervallskalierte Antwortmodelle lassen sich meist nicht oder jedenfalls nicht sicher in eine andersstufige Skala übertragen. Ettrich/Schreiber lassen eine Transformierung in eine niederstufige Skala gelten und geben d a f ü r konkrete Hinweise. 95 Der Vergleich von Antworten nach verschiedenen Skalen in ein und demselben Fragebogen bei gleicher Fragestellung zeigt, daß im pauschalen Vergleich zwar Ähnlichkeiten in der Verteilung bestehen, daß die Befragten individuell jedoch nicht streng „logisch" reagieren 9 6 (vgl. Abb. 14). Die individuelle Mobilität in Meinungsäußerungen hängt natürlich vor allem vom Inhalt der Frage ab und in diesem Zusammenhang vom Ausprägungsgrad und der Stabilität der 95

Vgl. K. U. Ettrich/D. Schreiber, Zum Einfluß verbaler Antwortmodelle auf das Befragungsergebnis bei Meinungsindikatoren, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Jugendforschung: methodologische Grundlagen, Methoden und Techniken, Berlin 1976, S. 102—108.

96

Bei einem mündlichen Interview in einem großen Chemischen Kombinatsbetrieb wurde an 432 Produktionsarbeiter die gleiche Frage gerichtet, einmal gleich zu Beginn des Interviews (Frage 6) mit einer 3er Skala als Antwortmöglichkeit und gegen Ende des Interviews (Frage 77) mit einer 7er Skala. Transformiert man die 7er Skala in eine 3er Skala, so ergibt sich mit dem Verhältnis von 60: 36: 3 eine ähnliche Verteilung wie bei der 3er Skala: 66 : 30: 4. Geht man nach Frage 6 (3er Skala), so antworteten bei den voll Zufriedenen 73 % stabil, bei den teilweise Zufriedenen 59%, während die 17 Unzufriedenen sich bei der 7er Skala sehr instabil zeigten; 3 entschieden sich für Position 1 bzw. 2, 8 Befragte für einen der drei mittleren Werte und nur 6 Befragte für die Positionen 6 bzw. 7. Die Interviews wurden insgesamt mit 432 Personen durchgeführt, wobei 19 Personen nicht in diesen Vergleich einbezogen werden kon iten, weil sie entweder die eine oder die andere Frage oder beide Fragen nicht beantworteten. Forschungsmaterial der Forschungsgruppe „Subjektive Sozialindikatoren" am WB Soziologie der K M U Leipzig 1984 (Manuskript) (Vgl. Abb. 14).

288

Datenerhebung

Frage: Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer beruflichen Tätigkeit ?• Erhebung PAP 83 473 (alte Angaben in Prozent) sehr rFrage 77) Mit der den frieden Gesamtheit beruflichen l \ 2 \ 3 \ t \ 5 \ e \ 7 Tätigkeit /Frage 6) I I I I I < voll zufrieden fn =274-) teilweise zufrieden (n -122)

1

2

27

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1

1

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3

Abb. 14 Verteilung der Antworten der Befragten auf die gleiche Frage bei Vorgabe zweier unterschiedlicher Skalen

betreffenden Einstellungen bzw. Urteile; nicht immer aber heben sich die Positionsänderungen in der Gesamtpopulation auf. 7. Indikatoren können schließlich nach der Funktion im Fragebogen unterschieden werden. Diese Problematik verweist bereits auf den nächsten Abschnitt, der Probleme des Aufbaus von Fragebogen behandelt. Wir unterscheiden: — Eingangsfragen (Kontaktfragen, Aufmunterungsfragen, „Eisbrecherfragen"), — Übergangsfragen (Orientierungsfragen, Einführungstexte), — Filterfragen, — Eckfragen („Chefindikatoren", Leitindikatoren), — Einzelindikatoren und Indikatorenbatterien, — Kontrollfragen und Ergänzungsfragen,

Befragungen

289

— Blindfragen (Fragen, die z. B. aus Kontaktgründen gestellt werden oder um dem Interviewer Zeit für bestimmte Notizen zu verschaffen, deren Antwort aber nicht registriert wird), — Fragen zur Kräftigung des Selbstvertrauens oder zur Anregung der Phantasie und andere. Zweifellos müssen Indikatoren bei der Befragung nicht allein unter dem inhaltlichen Gesichtspunkt (Was soll erfaßt werden?), sondern auch unter psychologischem Gesichtspunkt gesehen werden (Welche Wirkung hat die Frage beim Befragten, wie reagiert der Befragte darauf, wie beeinflußt sie den weiteren Fortgang des Interviews?). So werden Eingangsfragen zunächst einfache, unproblematische Sachverhalte ermitteln (z. B.: Wie lange arbeiten Sie schon in diesem Betrieb?). Übergangsfragen sollen einen neuen Fragenkomplex vorbereiten und einstimmen. Auch Filterfragen können eine Überleitungsfunktion haben. Sie leiten jedoch meist eine „Gabelung" im Fragebogen ein, indem unterschiedliche Fragen an Teilgruppen, die in der Filterfrage ermittelt wurden, gestellt werden. (Zum Beispiel : Welchen Familienstand haben Sie (ledig, verheiratet, geschieden, verwitwet)? An Verheiratete können nun gesonderte Fragen gerichtet werden, die für die anderen Gruppen entfallen.) Die Kennzeichnung als Eckfrage betrifft die Bedeutung des Indikators in einem inhaltlichen Komplex von Indikatoren und die Rolle im Auswertungsprogramm. Bereits bei der Konstruktion von Indikatoren muß man überlegen, welche von ihnen die Grundlage für eine Voll- oder Teilsortierung bei der Auswertung des Fragebogens abgeben. In einem langfristigen Forschungsprogramm werden bestimmte Indikatorbatterien immer wieder verwendet werden (es kann dann eine Maximal- und eine Minimalvariante geben), und bestimmte Indikatoren werden eine Leitfunktion haben; sie werden im Forschungsbericht bei ausgewählten Tabellen den „ K o p f bilden und Vergleichbarkeit gewährleisten. Kontrollfragen sind nur sinnvoll, wenn sie vom Befragten nicht als solche erkannt werden. In schriftlichen Befragungen wird man eine andere Formulierung verwenden, wobei dabei eine vollständige Kontrolle nicht zu erreichen ist, denn schon eine Umstellung im Satzbau kann die Ergebnisse beeinflussen. In mündlichen Befragungen kann die gleiche Formulierung verwendet werden; die Fragen sollen im Fragebogen dann möglichst entfernt voneinander untergebracht werden, und der Interviewer muß die Situation überspielen, wenn ein Befragter darauf aufmerksam macht, daß er eine solche Frage schon einmal beantwortet habe (z. B.: Wir benötigen Ihre Meinung noch einmal auf dieser Lochkarte). Trickfragen, die bisweilen empfohlen werden, müssen immer wieder unter dem Gesichtspunkt geprüft werden, ob die Persönlichkeit des Befragten dabei geachtet wird und ob sie für die Gewinnung eines wissenschaftlich fundierten Urteils überhaupt erforderlich sind. Es kann beispielsweise der Kontrolle dienen, wenn nach der Frage, welche Bücher der Befragte gelesen habe, in die Liste der Titel auch ein

290

Datenerhebung

oder zwei fingierte Titel eingeschoben werden. Sogenannte „Lügenindikatoren" können Auskunft über fehlende Sorgfalt bzw. Täuschungsversuche geben und sind gerade unter methodischen Gesichtspunkten von Bedeutung. Zusammenfassend soll in bezug auf Indikatoren bei der Befragung hervorgehoben werden: — Das Ausarbeiten von Indikatoren ist nicht nur ein technisches und ein inhaltliches Problem, sondern es verlangt auch Einfühlungsvermögen in die Mentalität der Befragten-Population, Ideenreichtum und sprachliche Wendigkeit. Gute Indikatoren zu entwerfen, ist in gewissem Sinne eine Kunst. — Bei der Formulierung von Indikatoren darf man nicht die Wissen schaftssprache verwenden, sondern die Umgangssprache. Die Fragen sollen kurz, leicht verständlich und beim Interview gut sprechbar sein (eine „Rede", keine „Schreibe"). Hier darf man Sätze auch mit „ u n d " und „wenn" beginnen (z. B.: Und wenn Sie an . . . denken . . .). Die Verbindung von Indikator und wissenschaftlichem Begriff m u ß in der Konzeption gegeben sein und nicht in den Worten von Frage- und Antwortmodell. — Indikatoren müssen nicht immer neu ausgearbeitet werden. Zu vielen Sachverhalten sind schon Erhebungen durchgeführt worden. Aus ihnen kann man besser als aus Probeerhebungen entnehmen, welche Indikatoren sich bewährt haben. Außerdem bestehen bei einer Wiederverwendung Vergleichsmöglichkeiten. — Ideologisch relevante Indikatoren sind im doppelten Sinn ein Politikum: Sie geben ja einen Anstoß zu Überlegungen beim Befragen; außerdem wird durch die Art des Indikators auch die Interpretation bestimmt. Manche Indikatoren wirken ungewollt demagogisch. Es müssen vor allem suggestive Fragen vermieden werden, die ein bestimmtes Ergebnis erst erzeugen. Zur Gestaltung von Fragebogen Der Fragebogen hat bei der Erhebung im doppelten Sinne eine lenkende Funktion : — Er lenkt das Gespräch und damit die Denkrichtung des Befragten — Er steuert die Beziehung zwischen Befragtem und Interviewer bzw. das Verhältnis des Befragten zur befragenden Institution bei der schriftlichen Befragung. Die Möglichkeiten, die der Fragebogen mit seinem Aufbau dem Interviewer gibt, um Kontakt und Vertrauen herzustellen, die äußere Gestaltung des Fragebogens bei schriftlichen Befragungen, die auch das Tempo des Ausfüllens beeinflußt, die aber auch für die Seriosität der befragenden Institution steht, das alles ist für das Gelingen des Interviews wichtig. Der Fragebogen ist Vehikel der Informationsgewinnung und erster Informationsträger. Mit den Entscheidungen über den Inhalt des Fragebogens legt sich der Forscher, hinsichtlich der Proportionen zwischen einzelnen Problembereichen und der Art

Befragungen

291

der Kommunikation mit dem Befragten, fest. Wir unterstellen, daß vor der Ausarbeitung des Fragebogens bereits entschieden ist, welche Population befragt wird, welche Befragungsform (schriftlich — mündlich; standardisiert — nicht standardisiert) und welche Befragungssituation bei einer mündlichen Befragung gewählt wird. Folgende Schritte sind nun bei der Ausarbeitung des Fragebogens zu absolvieren : 1. Entscheidung über die aufzunehmenden Probleme, die inhaltlichen Komplexe und über Umfang und Proportionen des Fragebogens sowie über Vergleiche mit älteren Erhebungen. 2. Entwurf bzw. Sammlung von Indikatoren zu den einzelnen inhaltlichen Komplexen, Testung von Indikatoren, „Fragebogenkonferenz" (Expertendiskussion über die Indikatoren), Auslese und Entscheidung über die aufzunehmenden Indikatoren bzw. Indikatorenbatterien. 3. Entscheidung über Grundfragen des Auswertungsprogramms, über Eckindikatoren,, über Skalen, Vergleiche und Ergänzungserhebungen. 4. Entwurf des Fragebogens und Entscheidungen über den Aufbau; Probeinterviews mit dem Fragebogen. (Wo gibt es Mißverständnisse, wo stockt das Interview, wo kommt der Interviewer in Zeitnot, wo wird durch Ausstrahlungseffekte die Haltung des Befragten beeinflußt?) 5. Überarbeitung des Fragebogens und Abstimmung mit den Praxispartnern nach den Erfahrungen des Probeinterviews. 6. EDV-Vorbereitung des Fragebogens und Ausarbeitung des Auswertungsprogramms 7. Entwurf der Gliederung des Forschungsberichtes; schriftliche Fixierung der methodischen Positionen, Begründungen für die Umsetzung der Hypothesen in die Indikatoren und für das Aufbereitungsprogramm. 8. Vergleich des Zusammenhangs von theoretischen Hypothesen und Schwerpunkten des Forschungsberichtes; Überprüfung des Verhältnisses von ursprünglich angestrebtem und methodisch zu sicherndem Erkenntniszuwachs. 9. Antrag auf Genehmigung des Fragebogens. 10. Entscheidung über drucktechnische Gestaltung des Fragebogens und Anfertigung der Hilfsmittel. Zunächst sei vermerkt, daß diese zehn Punkte keine strenge Abfolge darstellen und einzelne Aufgaben zeitlich übergreifen. Einige Erläuterungen zu den einzelnen Punkten sollen auf Schwierigkeiten hinweisen und einige Erfahrungen vermitteln. Zu 1.: Die Entscheidung über den Umfang des Fragebogens hängt nicht allein von der Zahl der Indikatoren ab, sondern auch vom Schwierigkeitsgrad der Fragen und von der intellektuellen Leistungsfähigkeit der Population. Die Verteilung der Indikatoren auf die einzelnen inhaltlichen Komplexe muß überprüft werden. Es ist günstiger, die Zahl der zu untersuchenden Probleme radikal einzuschränken statt „Gefälligkeitsindikatoren" in größerer Zahl aufzunehmen, den Fragebogen zu 20

Soziolog. Forschung

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Datenerhebung

zersplittern und dabei die einzelnen inhaltlichen Komplexe durch eine ungenügende Zahl von Indikatoren abzusichern oder den Fragebogen ungebührlich auszudehnen. Zu 2.: D a ß das Entwerfen von Indikatoren viel Phantasie und Einfühlungsvermögen verlangt, daß die Umgangs- und nicht die Wissenschaftssprache dabei Verwendung finden soll, wurde bereits oben gesagt. Die Eichung von Indikatoren sowie die Auslese sollten nicht nur von erfahrenen Soziologen, sondern auch von Praktikern, z. B. von Leitern aus dem Untersuchungsbetrieb, vorgenommen werden. Oft kann ein einziges Wort dem Frageindikator einen veränderten Sinn geben. Indikatoren darf man bei dieser Prüfung nicht nur lesen, man muß sie auch hören. Zu 3.: Die Entscheidung über die Aufbereitung der Daten muß sehr früh getroffen werden. Wer das Auswertungsprogramm erst nach der Erhebung entwirft, wird spätestens bei der Anfertigung des Forschungsberichtes merken, was alles versäumt wurde. Die modernen Möglichkeiten der Datenverarbeitung erfordern, daß bereits bei der Fragebogenkonstruktion die Vorbereitungen für die Anwendung statistischer Methoden getroffen werden. Bei der Entscheidung über die Antwortmodelle, über die Stufenzahl von Skalen, geht es nicht allein darum, einen „Skalensalat" zu vermeiden, sondern auch darum, in Abhängigkeit von den abgebildeten Inhalten, das richtige Maß an Differenziertheit und Übersichtlichkeit zu finden. Zu 4.: Mit dem Aufbau des Fragebogens wird eine Schlüsselaufgabe in Angriff genommen. Wir unterstreichen den Grundsatz, „daß ein Fragebogen mehr als eine bloße Summe von Einzelfragen ist,. . . daß ein Fragebogen nach psychologischen und nicht nach sachlogischen Erwägungen zu gestalten ist" 97 . Man wird deshalb mit einfachen Fragen beginnen, die das Interview quasi als Unterhaltung erscheinen lassen und erst dann zu schwierigeren Fragen übergehen. Dabei werden natürlich thematische Gruppen aus den Indikatoren gebildet. Es gibt eine Vorgehensweise, die als „Trichtern" bekannt ist, d. h., der Befragte wird durch allgemeine Fragen an eine Thematik herangeführt, um dann den Fragegegenstand immer weiter einzuengen, immer konkretere Fragen zu stellen. Auch die umgekehrte Vorgehensweise ist bisweilen angebracht, indem man z. B. den Befragten einzelne Elemente der Arbeitsbedingungen einschätzen läßt, um dann zu der allgemeineren Frage überzugehen, wie er die Arbeitsbedingungen insgesamt beurteilt. Dabei muß man aber berücksichtigen, daß das Gesamturteil durch die Auswahl der Faktoren beeinflußt wird, die zuerst einzeln eingeschätzt wurden; wenn man das Augenmerk dabei vorwiegend auf vermutlich kritikwürdige Umstände gelenkt hat, wird das zusammenfassende Urteil kritischer ausfallen, als wenn man im anderen Fall die Aufmerksamkeit auf vorwiegend positive Umstände gelenkt hätte. Die Ausstrahlungseffekte lassen sich vielfach schon beim Entwurf 97

W. Friedrich/W. Hennig, Grundprobleme der Befragung, a. a. O., S. 411.

Befragungen

293

des Fragebogens abschätzen, auf sie muß aber vor allem bei den Probeinterviews geachtet werden: Wo wurde der Befragte emotional berührt, bei welchen Fragen drängte es ihn, zusätzliche Begründungen, Kommentare, Kritiken, Lobsprüche etc. abzugeben, nach welchen Fragen wurde er unkonzentriert etc. ? Im allgemeinen werden die schwierigsten Fragen im mittleren Drittel gestellt, nämlich dann, wenn ein Vertrauensverhältnis zwischen Interviewer und Befragtem entstanden ist. Das ist jedoch kein Dogma. Auch die Fragen zur Person, die man zumeist am Schluß zu stellen empfiehlt, können in begründeten Fällen schon vorher als Komplex eingebaut werden, wobei dem Befragten deutlich gemacht wird, daß es um die Verteilung der Aussagen bei der gesamten Population und nicht um die Analyse seiner Person geht. Wenn das gelingt, kann man durchaus im letzten Teil des Fragebogens noch Fragen stellen, deren Beantwortung viel Vertrauen erfordert. Der Fragebogen muß dem Befragten Gelegenheit geben, sich zu den ihn bewegenden Fragen auszusprechen. Er muß zumindest am Schluß dem Befragten auch das Recht einräumen, zu Inhalten der Befragung und zum Vorgehen im Fragebogen selbst seine Meinung zu sagen. In der Regel wird der Interviewer mit den Fragen schließen: „Wie denken Sie über diese Befragung? Möchten Sie uns auf Dinge hinweisen, die wir vielleicht übersehen haben, die Sie aber für wichtig halten?" Der Befragte soll die Überzeugung gewinnen, daß er an einer wissenschaftlich fundierten und praktisch nützlichen Aufgabe mitgewirkt hat. Zugleich sollte ihm die Befragung auch Freude machen, deshalb muß der Fragebogen abwechslungsreich und ideenreich sein. Erfahrene Interviewer wissen, wie schwer mit „hölzernen" Fragebogen zu arbeiten ist, wie sich ein Interview zäh und langweilig dahinschleppen kann, wenn Forscher, fern der Praxis, lediglich die systematischen Aspekte ihres Forschungszieles sehen. Zu 5. und 6.: Siehe Kap. 4. Zu 7. und 8.: Es mag verwundern, daß empfohlen wird, bereits vor der Erhebung nicht nur eine vorläufige Gliederung für den Forschungsbericht zu entwerfen, sondern bei größeren Forschungsvorhaben auch einen Zwischenbericht zu verfassen. Es geht dabei um die Fixierung der theoretischen und methodischen Absichten, um die Auswertung der Fragebogentestung, der Probeerhebung und der methodischen Überlegungen beim Fragebogenaufbau. Unter dem Eindruck der konkreten Ergebnisse werden diese Erfahrungen später oft gar nicht mehr berücksichtigt. Es ist vor allem unredlich, Annahmen, die sich nicht bestätigt haben, zu verschweigen. Dabei ist gerade die Untersuchung der Ursachen, warum bestimmte Annahmen falsch waren und bestimmte Ansätze sich nicht bewährt haben, ein wichtiger Zugang zur Qualifizierung der methodischen und theoretischen Arbeit. Es gilt immer wieder, das Bild von dem untersuchten Sachverhalt vor der Erhebung mit dem Bild, das wir nach der Erhebung haben, zu vergleichen, um den Prozeß der Wissensgewinnung zu kontrollieren und zu reflektieren. Das gilt auch für 20*

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Datenerhebung

den empirischen Forschungsbericht. Man sollte nicht grundlos Teile der Erhebung, die scheinbar nichts gebracht haben, unterschlagen. Hier liegen oft methodische Herausforderungen. Zu 10.: Die drucktechnische Gestaltung des Fragebogens ist keine nebensächliche Angelegenheit. Bei der schriftlichen Befragung repräsentiert der Fragebogen mit seiner Aufmachung die Forschungsinstitution, die sich auf der Titelseite ausweist. Rechts oben muß der Genehmigungsvermerk mit dem Zusatz stehen: „Die Teilnahme an der Befragung ist freiwillig." Von großer Bedeutung ist die Einleitung, die Aufforderung zum Ausfüllen des Fragebogens. Es ist zweckmäßig, daß sich der Forschungsleiter mit persönlich gehaltenen Worten an den Befragten wendet, den Sinn der Erhebung kurz erläutert, die Wahrung der Vertraulichkeit zusichert und den Befragten um Mitwirkung bittet. Bei der Erläuterung des Forschungszieles sind jedoch Details nicht angebracht. Die Zusicherung, daß man die Befragten über die Ergebnisse informieren werde, sollte nicht leichtfertig gegeben werden. Eine Befragung weckt Interessen und Informationserwartungen. Beispielsweise kann man nach einer soziologischen Untersuchung in einem Betrieb über einige Ergebnisse in der Betriebszeitung berichten, zweckmäßiger ist es, wenn die Forscher selbst vor den Arbeitskollektiven einige allgemein interessierende Erkenntnisse vorstellen. Übrigens sind Diskussionen mit den Befragten über die Ergebnisse meist sehr fruchtbar; sie sollten als Bestandteil der Nachuntersuchung geplant werden. Bei voll standardisierten mündlichen Befragungen wird der Einleitungstext, mit dem sich der Interviewer vorstellt und um Teilnahme bittet, ebenfalls persönlich gehalten. Der Interviewer muß außerdem eine genaue Instruktion haben, wie weit er Auskünfte über Zweck und Ziel der Untersuchung geben darf. Der Fragebogen muß weiter für folgende Eintragungen vorbereitet sein: — Nummer des Interviews, — Nummer des Interviewers (kann gekoppelt werden), — Dauer des Interviews (Anfangs- und Endzeit), — Vermerke über Ort, Anwesenheit anderer Personen, Unterbrechungen und andere Vorkommnisse, — Vermerke über Gespräche, die sich an das Interview anschlössen. Interviewervorbereitung und -einsatz Über die Rolle des Interviewers, seinen Einfluß auf die Ergebnisse der Befragung findet man in der Literatur zahlreiche und oft auch widersprüchliche Ausführungen. Bei der Literatur aus kapitalistischen Ländern muß man berücksichtigen, daß sich die Hinweise oft auf professionelle Interviewer beziehen (z. B. Hausfrauen, die durch Interviews einen Nebenerwerb erzielen). In den sozialistischen Ländern fungieren meist Mitarbeiter aus soziologischen Einrichtungen bzw. Betrieben sowie Studenten als Interviewer. Da diese Inter-

Befragungen

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viewer in der Regel auch an der Vorbereitung und Auswertung der Erhebungen beteiligt und am Gelingen der Befragung interessiert sind, ist die Situation doch anders als dort, wo die Interviewertätigkeit vor allem Einkommensquelle ist. Manche Erfahrungen und Praktiken demoskopischer Institute sind auch im Hinblick auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zu übernehmen. So ist zu. B. die Anwendung von „weichem" und „hartem" Interviewen, bei denen der Interviewer Vertrauensseligkeit beim Befragten zu wecken sucht bzw. ihn durch aggressives oder geringschätziges Verhalten provoziert, nicht akzeptabel. 98 Es ist auch einseitig, den Interviewer vor allem als Fehlerquelle anzusehen. Wir möchten vielmehr die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß das große Potential an Erkenntnismöglichkeiten, das mit dem doch immerhin sehr aufwendigen Einsatz von oft hochqualifizierten und interessierten Interviewern gegeben ist, bei den meisten Erhebungen noch nicht voll ausgeschöpft wird. Vielleicht spielt dabei auch der Einfluß von Methodenliteratur aus kapitalistischen Ländern eine Rolle, wo der unbefangene Nichtfachmann als Interviewer dem interviewenden Forscher vorgezogen wird. Ausgangspunkt ist unsere weiter oben bereits getroffene Charakteristik des Interviews als Kommunikationsprozeß, wobei wir hervorheben, daß es eine künstliche Form der Kommunikation ist, die es erst zu erlernen gilt. Die Anforderungen sind kompliziert: — Der Interviewer muß sich beim standardisierten Interview exakt an den Fragebogen halten und darf nicht eigenen Intentionen der Gesprächsführung folgen, er muß trotzdem in wenigen Minuten mit einer fremden Person so guten Kontakt finden, daß sie auch auf heikle Fragen wahrheitsgemäß antwortet. — Er darf im Unterschied zum normalen Gespräch, zur alltäglichen Kommunikation, seine Meinung nicht aussprechen und seine Einstellung zu den Antworten des Befragten nicht in Mimik oder Körpersprache zum Ausdruck bringen. — Er muß Antworten und Erklärungen, die er vielleicht schon in einem Dutzend anderer Interviews gehört hat, mit der gleichen Aufmerksamkeit wie beim ersten Interview verfolgen. — Er darf nicht zeigen, wenn ihm der Befragte unsympathisch ist oder wenn er erschreckende Unkenntnis offenbart. Es gilt immer zu bedenken: Der Befragte gibt seine Antworten nicht der Forschungseinrichtung, sondern dem Interviewer. Der Interviewer ist im direkten Wortsinn Moderator der Informationsgewinnung. Wie soll der Interviewer sein ? Welche Eigenschaften muß man von ihm erwarten bzw. welche Verhaltensweisen muß er erlernen? 1. kontaktfreudig, anpassungsfähig, höflich, beherrscht: Kontaktarme, stark gehemmte, unbewegliche oder leicht reizbare Menschen sollten keine Interviews 98

Vgl. E. K. Scheuch, Das Interview in der Sozialforschung, in: R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 2, 3., erweit. Aufl., Stuttgart 1973, S. 98.

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durchführen. Wer bei der Interviewerschulung monoton die Fragen herunterleiert, mit den Augen am Fragebogen klebt und unbeteiligt seine Zeichen in den Fragebogen setzt, und wer bei unerwarteten Situationen aus der Fassung gerät oder gereizt antwortet, sollte nicht als Interviewer eingesetzt werden. Natürlich ist auch ein geschwätziger Typ, der niemanden aussprechen läßt oder der zu Überreaktionen neigt, kaum geeignet. 2. intelligent, interessiert, qualifiziert, kultiviert'. Die Sentenz: Der Fragebogen muß schlau sein, nicht der Interviewer, ist nicht akzeptabel. Zwar kann auch der beste Interviewer mit einem ideenlosen Fragebogen kein interessantes Interview machen, aber ein kluger Interviewer hat nur dann geschadet, wenn er eigene Projektionen protokollierte. Der Einwand, daß ein Intelligenz- oder Qualifikationsgefälle zwischen Interviewer und Befragtem dem Interview leicht den Charakter eines Prüfungsgesprächs geben könne, ist nicht zwingend. Der Interviewer soll aber seine Qualifikation und sein Wissen nicht zur Schau stellen. Das Interesse eines Interviewers, der zugleich Mitglied des Forscherkollektivs ist, gilt ja gerade beim verantwortungsbewußten Forscher dem Gelingen der Untersuchung, objektiven Ergebnissen und nicht der Verfälschung der Ergebnisse. 3. sorgfältig, gewissenhaft, ehrlich, konzentrationsfähig: Der Interviewer muß beim 30. Interview noch ebenso aufmerksam die Antworten registrieren wie beim ersten. Studenten haben in den Praktika bisweilen mehr als 50 Interviews durchgeführt. Natürlich berichten sie auch über einen Monotonieeffekt, der die Gefahr des selektiven Hörens bzw. des vorschnellen Bewertens einschließt. Wiederholte Belehrungen über mögliche Interviewfehler, der Appell an die Verantwortung und ständige Kontrollen, haben einen Niveauabfall verhindert. „Ein Löffel Teer kann ein ganzes Faß Honig verderben", dieses russische Sprichwort illustriert dem Interviewer sinnfällig die Folgen unverantwortlichen Handelns (z. B. Fälschung von Interviews, Auslassen von Teilen des Fragebogens bzw. Ausfüllen nach Gutdünken, Interviews mit „Ersatzpersonen"). Der „kontaktfahige Pedant" 9 9 ist sicher eine überspitzte Charakteristik, aber die Sorgfalt des Interviewers ist zugleich auch ein Ausdruck der Achtung vor dem Befragten, der sich Mühe gibt, die Arbeit der Forschungsgruppe zu unterstützen. 4. vorurteilsfrei, objektiv, der Interviewer muß zuhören können: Interviewerfehler können auch daraus erwachsen, daß eigene Persönlichkeitsmodelle in die Person des Befragten projiziert werden, so daß man unbewußt das hört, was man von dem Typus des Befragten zu hören erwartet. Dabei können auch simple Vorurteile mitspielen, indem man dem Befragten bestimmte Leistungen oder Kenntnisse nicht zutraut oder indem man ein Mißtrauen, das aus irgendwelchen Informationen resultiert, nicht ausschalten kann. Die Bereitschaft zum unvoreingenommenen Regi99

Vgl. E. Noelle, Umfragen in der Massengesellschaft. Einführung in die Methoden der Demosko, pie, 2. Aufl., Hamburg 1965, S. 165.

Befragungen

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strieren der tatsächlich gegebenen Antworten muß immer wieder auch durch Selbstkontrolle hergestellt werden. Einen Überblick über „Beobachtungsfehler", d. h. auch Interviewerfehler, gibt im Abschnitt 3.1. die Abbildung 7. Der Interviewer muß vor allem zuhören können. Die meisten Menschen sind eher bereit, etwas zu erzählen als zuzuhören. Eine Unterhaltung zwischen zwei Menschen kommt aber nur zustande, wenn wenigstens einer zuhören kann. Die Entscheidung, wann der Interviewer den Redefluß eines Befragten stoppen muß und wie er durch Zwischenfragen auf das Thema zurücklenkt, kann geübt werden. 5. politisch bewußt, mit stabilen politischen Grundüberzeugungen: Die politische Haltung des Interviews drückt sich nicht darin aus, daß er nur seiner Meinung nach politisch „richtige" Antworten registriert oder daß er das Interview zum Agitationseinsatz macht, sondern darin, daß er politisch standfest ist, daß er auch widersprüchliche Erscheinungen und Meinungen richtig einordnen kann, ohne bei der Konfrontation mit politisch und weltanschaulich anderen Positionen oder mit Mißständen in seinen Grundüberzeugungen erschüttert zu werden. Bisweilen sehen Befragte im Interviewer eine Art Blitzableiter und möchten die Kritik an einem (manchmal nur vermuteten) Mißstand loswerden. Meist tut der Interviewer gut daran, ausweichend zu antworten (z. B. „Das müssen Sie mir nachher nochmal genauer erklären; jetzt bleiben wir aber erstmal bei unseren Fragen."). Es zeigt sich dann nicht selten nach dem Interview, daß der Befragte abwinkt und meint, es wäre wohl nicht so wichtig gewesen. Wenn bestimmte Kritiken in Interviews öfter auftreten, wird der Interviewer in Abstimmung mit dem Forschungs- bzw. Einsatzleiter das Problem der zuständigen Leitung vortragen und eine Aussprache in dem betreffenden Bereich vorschlagen. Der Interviewer ist jedoch nicht Schiedsgericht oder Kontrollinstanz, nicht Sammler von Eingaben oder Agitator zur Klärung ideologisch-politischer Fragen. Die politische Organisation ist in den untersuchten Bereichen in der Regel hinreichend entwickelt, um diese Fragen selbst zu klären. Soziologische Untersuchungen sollen ihnen jedoch helfen, Probleme und Schwerpunkte genauer zu erkennen. Zweifellos lassen sich noch mehr Eigenschaften erwähnen, die für den Interviewer wichtig sind, nur wird man in der Praxis den idealen Interviewer, der alle wünschenswerten Eigenschaften mustergültig vereint, nicht finden.100 Eine Gruppe von Eigenschaften soll noch erwähnt werden, die scheinbar etwas im Widerspruch zu den bisherigen Anforderungen steht: 6. selbständig, reaktionsschnell, initiativreich: Man muß davon ausgehen, daß das durchgängig standardisierte Interview, das im Idealfall Labor-Bedingungen erfordert, praktisch die Ausnahme ist. Meist sind nicht nur offene und halboffene Fragen eingebaut (und zwar sehr zum Vorteil für das Gelingen des Interviews); es 100

Vgl. H. Roede, Befrager und Befragte, Probleme der Durchführung des soziologischen Interviews, Berlin 1968, S. 3 1 - 9 0 .

298

Datenerhebung

ist auch bei Interviews in Betrieben oder in der Wohnung, bei der Begrüßung des zu Befragenden praktisch gar nicht möglich, sich auf einen standardisierten Einleitungstext zu beschränken bzw. auf unvorhergesehene Ereignisse nicht zu reagieren, wenn man Kontakt finden will. Erst recht muß der Interviewer bei nicht standardisierten Interviews, bei Tiefeninterviews oder Expertengesprächen, bei allen Formen der freien Exploration die Fähigkeit besitzen, selbständig Fragen zu formulieren und auf Zwischenfragen zu reagieren, und er muß genügend Ausstrahlung besitzen, um die Gesprächsführung nicht aus der Hand zu geben und trotzdem elastisch dem Befragten genügend Spielraum lassen, seine Gedanken zu äußern und sich nicht wie in einer Zwangsjacke zu fühlen. Dabei soll der Interviewer den Befragten natürlich nicht in seinen Wertungen beeinflussen. Das erfordert Überblick und Selbständigkeit. Im folgenden sollen einige Hinweise für die Interviewerschulung gegeben werden. Es wurde eben deutlich, daß große Unterschiede je nach dem Charakter des Interviews, nach der Population und nach der Interviewersituation bestehen. Weiter muß man dabei die Persönlichkeit des Interviewers berücksichtigen; es ist bei der Interviewerschulung nicht gleichgültig, ob man Mitarbeiter aus Betrieben oder Studenten auf die Interviews vorbereitet. Auf einige Punkte soll im folgenden verwiesen werden. Wir unterstellen dabei Interviews in einem Industriebetrieb: — Einführung in Aufgaben und Probleme des Betriebes; Arbeitsschutzbelehrung, Führung durch den Betrieb, Gespräch mit dem Beauftragten der Werkleitung über die Erhebung, mit Vertretern der Partei- und Gewerkschaftsleitung und Einweisung in die jeweiligen Untersuchungsbereiche, Räumlichkeiten etc.; — Inhaltliche Diskussion des Fragebogens, Erläuterung der Zielstellung der Gesamterhebung und der einzelnen Indikatorenbatterien, Erläuterung der Intervieweranweisung ; — Training mit den standardisierten Teilen des Fragebogens und Übungen zu den nichtstandardisierten Teilen, fingierte Interviews mit Tonbandkontrolle. (Das bedeutet: Ein Interviewer befragt ein Mitglied der Forschungsgruppe, alle Interviewer notieren die Antworten im Übungsfragebogen, anschließend werden die Ergebnisse verglichen und strittige Ergebnisse sowie Interviewerfehler an Hand des Tonbandes analysiert; das wird so lange geübt, bis die Wertungen aller Interviewer gleich ausfallen und die Objektivität gesichert ist). Bei diesen Probeinterviews ist auch auf Mimik und Körpersprache zu achten, aber vor allem auf die Sprache. Es ist ungünstig, wenn Interviewer ausgeprägt einen ortsfremden Dialekt sprechen; — Erläuterung des Auswahlverfahrens, der vereinbarten Regelungen für das Gewinnen der ausgewählten Personen für die Befragung, Festlegungen für das Verhalten bei Interviewverweigerung und für das Auftreten der Interviewer. Dazu gehört auch eine Absprache über die Kleidung. Weiter müssen Instruktionen über Verhalten bei Störungen des Interviews gegeben werden, z. B. bei Einmischung von Drittpersonen, bei hartnäckigen Forderungen des Befragten, die Fragebogen

Befragungen

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selbst auszufüllen bzw. zu kontrollieren, was der Interviewer aufschreibt, bei Unterbrechungen oder Abbruch des Interviews. Von ganz entscheidender Bedeutung für eine hohe Qualität der Erhebung ist eine gründliche Aussprache über Interviewerfehler. Das Bewußtmachen von möglichen Fehlerquellen und die Überzeugung des Interviewers, daß geringe Fehler einzelner weitreichende Folgen haben, ist das wichtigste Mittel zur Einschränkung von Fehlern. N u r durch eine ständige bewußte Selbstkontrolle des Interviewers kann man Interviewerfehlern vorbeugen, die nicht nur zu geringen Abweichungen, sondern auch zur groben Verfälschung der Ergebnisse führen können. Natürlich müssen auch Kontrollen während der Interviews durchgeführt werden; die schärfste Kontrolle erfolgt jedoch erst bei der Auswertung, wo nur noch annulliert, aber meist •nicht mehr korrigiert werden kann. Sanktionen, die man dann gegen die schuldigen Interviewer verhängt, können das Ergebnis nicht mehr korrigieren. Angesichts des Schadens, der meist nicht nur finanzieller Art ist, muß man die Interviewer zur ständigen bewußten Selbstkontrolle und zum verantwortungsbewußten Einhalten der Intervieweranweisungen verpflichten (vgl. Abschnitt 3.1., Abb. 7). Die Möglichkeiten des mündlichen Interviews werden wohl erst dann voll ausgenutzt, wenn der Interviewer Zusatzaufgaben erhält, indem er Beobachtungen während des Interviews festhält, selbst Bewertungen von Sachverhalten vornimmt und über seine Reflexion während des Interviews selbst befragt wird. Bei allen Aufgaben, die der Interviewer zusätzlich erhält, muß von Anfang an klar sein, wie das in die Auswertung einbezogen wird. Wenn der Interviewer angehalten ist, nach dem Interview eine verbale Charakteristik des Verhaltens des Befragten im Interview niederzuschreiben, so wird das meist in der rechentechnischen Auswertung nicht Berücksichtigung finden. Da aber die Einzelperson in der Auswertung „verschwindet" und zunächst lediglich Verteilungen ausgewiesen werden, gehen viele Informationen verloren. Es erscheint in der Statistik dann eine „Durchschnittsperson". Bestenfalls können in mehrstufigen Auswertungen oder durch bestimmte statistische Verfahren bei der Aufbereitung einige Kombinationen von Merkmalen verfolgt werden. Günstig ist es daher, dem Interviewer standardisierte Fragen für die Charakteristik des Befragten vorzugeben. Diese Interviewereinschätzungen können in die rechentechnische Auswertung einbezogen werden. Dem Interviewer kann auch aufgetragen werden, eine zusammenfassende Einschätzung zu Einstellungen des Befragten zu bestimmten Sachverhalten zu geben, die Inhalt der Befragung waren. Es ist dann weiter möglich, durch Wichtung und Addition Indizes zu bilden und die Gruppen von Befragten mit ähnlicher Orientierung zusammenzufassen. Der Anhang zum Fragebogen muß dem Interviewer auch Gelegenheit geben, seine Informationen zu fixieren. Einerseits erfahrt der Interviewer sehr viel aus zusätzlichen „Kommentaren" des Befragten, ohne daß er sofort Gelegenheit hat, die Informationen einzutragen. Andererseits ist er aber auch angehalten, nicht nur

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Datenerhebung

darauf zu achten, was der Befragte sagt, sondern auch darauf, was der Befragte nicht sagen will oder nicht ohne Hilfe sagen kann.101 Diese Informationen gehen verloren, wenn sie der Interviewer nicht in einer „Nachlese" aufzeichnet. Beispiel: Viele Befragte machen Einschränkungen bei der Beantwortung der Frage, wie sie das Essen in der Betriebskantine beurteilen. Der Interviewer erfahrt aber bei einigen, daß ihnen das Essen gut schmecke, ihnen aber die Schlangen zu lang seien oder das schmutzige Geschirr nicht abgeräumt werde u. a. Der Interviewer kann nun allein den Fragetext nicht ändern. Es ist offensichtlich, viele Befragte beurteilen nicht die Speisen, sondern die Umstände der Einnahme des Essens, wenn sie gefragt werden, wie sie das Essen in der Betriebskantine beurteilen. Der Interviewer muß diese Beobachtung im Anhang an die Forscher weitergeben, um Fehlinterpretationen zu vermeiden. Schließlich können auch direkt Fragen an den Interviewer gerichtet werden, die sich auf die methodische Bewältigung des Interviews beziehen, z. B., an welchen Stellen hatte der Befragte besondere Schwierigkeiten, wo fiel es dem Interviewer schwer, das Interview „lebendig" zu gestalten, wo hatte er Monotonieempfindungen etc. Weiter können sich aus Zeitangaben vom ersten bis zum letzten Interview interessante Vergleiche ergeben. Schließlich können die Interviewer auch in einem einzigen Fragebogen nach ihren eigenen Einstellungen zu Gegenständen der Erhebung befragt werden. Vergleiche der Ergebnisse der einzelnen Interviewer untereinander können Aufschluß über mögliche Interviewereinflüsse geben. Wir hatten eingangs die Befragung als eine sehr erfolgreiche Erhebungsmethode bezeichnet und in unserer Darstellung (bei weitem nicht vollständig) die vielfaltigen Einsatzformen der Befragung darzustellen versucht. Wenn gegen die Befragung Einwände erhoben werden, dann immer dann, wenn auf ihren unqualifizierten oder ihren unzweckmäßigen Einsatz Bezug genommen wird. Viele Informationen kann man auf anderen Wegen einfacher und zuverlässiger gewinnen als durch eine Befragung. Wenn eingewendet wird, die Befragungsmethode führe zu einer verzerrten Abbildung des individuellen Bewußtseins und berücksichtige den gesellschaftlichen Charakter sozialen Bewußtseins zu wenig, so werden oft scharfsinnig Mängel in den Techniken und Methoden der Befragung aufgedeckt, aber es wird dabei übersehen, daß auch andere Erhebungsmethoden, die nicht den Weg über das Gespräch, über das Mittel der Sprache wählen, Einschränkungen mit sich bringen. Die Sprache ist das differenzierteste Mittel der Kommunikation zwischen Menschen. Es ist eine Frage der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Beziehung zwischen Befrager und Befragtem, die „Künstlichkeit" des Interviews, den formalen Charakter des Fragebogens gegenüber dem lebendigen Interesse an der Klärung und Lösung von Problemen zurücktreten zu lassen. Zweifellos bedürfen viele Methoden und 101

Vgl. K. Schulz, Soziale Entspannung und Leistungssteigerung, Dissertation, Hamburg 1951, S. 39.

Dokumentenanalyse

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Techniken noch der Weiterentwicklung, speziell die Methoden der Einstellungsmessung. Die Forderung nach der qualifizierten und bewußten Anwendung und Erweiterung des methodischen Erkenntnisschatzes über Befragungen bleibt bestehen.

3.2.3. Dokumentenanalyse Zum Begriff des Dokuments Zum Begriff des Dokuments gibt es eine ganze Reihe von Definitionen, die je nach Wissenschaftsdisziplin unterschiedlich sind. Wir plädieren für einen engen Begriff in der soziologischen Forschung. Bevor jedoch bestimmt wird, was ein Dokument ist, muß auf den Begriff der Quelle verwiesen werden. Als Quelle sollen sämtliche Gegenstände gelten, die zur Erschließung menschlichen Verhaltens dienen können. „Quelle" bezeichnet demnach, ohne an eine bestimmte Methode oder Verfahrensweise gebunden zu sein, die Möglichkeit der Informationsgewinnung (über Lebensgewohnheiten, soziales Verhalten, gesellschaftliche Verhältnisse etc. einer konkrethistorischen Situation) aus der Gesamtheit von Gegenständen und Produkten der menschlichen K,ultur. Bei Atteslander z. B. sind der Dokumenten- und der Quellenbegriff identisch. 102 Ganz bewußt wendet sich die folgende Bestimmung gegen eine solche Identifikation in der soziologischen Forschung: Dokumente sind durch den Menschen geschaffene Gegenstände zur Aufbewahrung und Übergabe von Informationen. 1 0 3 Das Autorenkollektiv des herangezogenen sowjetischen Soziologiehandbuches fuhrt zu Recht den Einwand ins Feld, daß z. B. der Einschluß von Gegenständen der materiellen Kultur und des Seins in den Dokumentenbegriff zu einer unberechtigten Ausdehnung führt. Gemeint sind z. B. Häuser, Brücken, Möbel etc. Nicht, daß diese Gegenstände ohne Erkenntniswert seien, in erster Linie entscheide jedoch die Machbarkeit aus der Sicht einer Methode darüber, wie weit ihr Objektbereich gesteckt wird. Darunter ist insbesondere die Ausarbeitung eines eindeutigen, handhabbaren Regelsystems zu verstehen, das anwendungsfreundlich ist und zu überprüfbaren Ergebnissen führt. Für eine Eingrenzung spielt deshalb das Niveau der systematischen Interpretierbarkeit der Objektangaben eine wichtige Rolle. Aus diesem Grunde sollten Dokumente in der soziologischen Forschung als systematische Fixierung von Informationen gelten und gegenüber der Quelle ein spezifisches Objekt bezeichnen.

102

103

Vgl. P. Atteslander, Methoden der empirischen Sozialforschung, 4, erweit. Aufl., Berlin (West)—New York 1975, S. 62. Vgl. RaboCaja kniga sociologa, otv. red. G. V. Osipov, a. a. O., S. 299/300.

302

Datenerhebung

Zugleich muß eine Bestimmung so flexibel sein, daß sie sich neuen, sich erst entwickelnden Aspekten nicht verschließt (z. B. Bilddokumente). Zweifellos gibt es hier ein neues Feld soziologischer Analyse, wenn in Fotos enthaltene Informationen systematisch aufbereitet und der wissenschaftlichen Interpretation zugänglich gemacht werden. Dokumente werden hier wie fojgt bestimmt: Dokumente sind als von Institutionen, Organisationen, sozialen Gruppen oder einzelnen Menschen geschaffene systematische Fixierungen von Informationen sprachlicher oder bildhafter Art auf entsprechenden Informationsträgern (Papier, Tonband, Film) und unabhängig davon, ob sie zur Weitergabe als Dokument bestimmt waren oder nicht, zu verstehen. Einige Klassifikationsmöglichkeiten von Dokumenten Die gebräuchlichste Klassifikation von Dokumenten beinhaltet die Kriterien — der Darstellungsform (statistische — verbale Dokumente), — der Gültigkeit (offizielle — nichtoffizielle Dokumente) sowie — des Geltungsbereichs (gesellschaftliche — persönliche Dokumente). 1 0 4 Diese Kriterien lassen sich natürlich nicht im rigorosen Sinne als Unterscheidungen benutzen. Übergänge innerhalb eines Kriteriums und zwischen ihnen sind in zahlreichen Varianten gegeben. Das Kriterium der Darstellungsform läßt sich relativ eindeutig handhaben. Dokumente enthalten Aufzeichnungen über soziale Sachverhalte und Prozesse in komprimierter quantitatiyer oder Textform. Dazwischen existiert eine Reihe von Mischformen, denn kaum ein Text kommt ohne quantitative Nennungen und keine Statistik ohne verbale Definitionen aus. Entscheidend ist demnach, in welcher Form die Grundaussagen eines Dokuments getroffen werden. Statistische Dokumente haben zumeist einen hohen Abstraktionsgrad. Sie widerspiegeln Sachverhalte und Prozesse in einer — durch Festlegungen bestimmten — spezifischen quantifizierenden Form. Ihre Analyse erfordert deshalb spezielle Grundsätze. Besondere Bedeutung gewinnen dabei die theoretische Rekonstruktion des gesellschaftlichen Kontextes von Zeitreihen und die Analyse der Absichten des Absenders. Die von Lenin aufgestellten Grundsätze der Interpretation von Daten sind von besonderer Bedeutung bei der Analyse statistischer Dokumente. Dabei darf man nicht nach einem starren Schema verfahren, sondern muß vom Wesen der Prozesse unter Berücksichtigung der konkreten Umstände ausgehen; man muß unterschiedliche Erscheinungen in homogene Gruppen zusammenfassen und das Allgemeine 104

Vgl. W. Gerth, Dokumentenanalyse, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, a. a. O., S. 521.

Dokumentenanalyse

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in den Erscheinungen suchen, um Daten wirklichkeitsbezogen gruppieren zu können, sowie den Klassencharakter der sozialen Erscheinungen bestimmen. Die Analyse statistischer Dokumente wird im folgenden Abschnitt 3.2.4. gesondert dargestellt. Das Niveau der Gültigkeit differenziert Dokumente im Hinblick auf ihren Charakter, ihre Bedeutung, ihren Ursprung, ihre Brauchbarkeit und Kompetenz. Es ist durchaus schlüssig, wenn der Grad der sozialen Kontrolle bei der Anfertigung und Endfassung eines Dokuments als entscheidend für die Gültigkeit angesehen wird. Zu beachten ist jedoch stets, daß — Dokumente immer auf einem konkret-historischen Niveau der Erkenntnis entstehen, — immer von bestimmten Interessen, Zwecken begleitet sind und — nicht Totalität, sondern einen speziellen Ausschnitt der Realität beschreiben. Problematisch hingegen ist es, aus dem Niveau der Gültigkeit der Informationen direkt Aussagen über die Brauchbarkeit abzuleiten. Das kann nur durch Vergleich von Verfasser (Absender), Objektbereich (über den Aussagen getroffen werden) und Forschungsanliegen geklärt werden. So sinkt z. B. die Brauchbarkeit eines Dokuments, wenn die Beschreibung eines Objektbereichs die Aussagefähigkeit des Absenders übersteigt. Die Brauchbarkeit derselben Beschreibung wiederum steigt, wenn das Forschungsobjekt nicht das im Dokument beschriebene Objekt, sondern der Absender selbst ist. Eine Person oder eine Gruppe von Personen fertigt z. B. eine Beschreibung eines speziellen sozialen Sachverhalts oder Ereignisses an und generalisiert diese Beschreibung als Erklärung gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse. Liegt nun nach einer eingehenden Prüfung eine Unzulässigkeit der Verallgemeinerung und Beschreibung vor, so ist eine Überschreitung der Aussagefahigkeit, der Kompetenz zu konstatieren. Jetzt kann das Dokument jedoch immer noch Verwendung finden, wenn es um die Analyse des Absenders geht, soweit er als Repräsentant einer sozialen Gruppierung — für deren Wertsystem und Anschauungsweise er steht — oder eines Persönlichkeitstyps gelten kann. Dadurch erlangt das Dokument ohne eine ausreichende Gültigkeit im Hinblick auf einen beschriebenen sozialen Sachverhalt dennoch Brauchbarkeit für die soziologische Forschung. Die Beziehung zwischen Gültigkeit und Brauchbarkeit ist also nicht eindimensional, da grundsätzlich der Absender als auch die Aussage des Absenders über ein Objekt von wissenschaftlichem Interesse sein können. Wir nennen einige Beispiele für offizielle und inoffizielle Dokumente: — offizielle Dokumente: staatliche Dokumente, Unterlagen von Kombinaten, gesellschaftlichen Organisationen, Parteitagsprotokolle; — Mischformen: Zeitungsartikel, Kommentare in Massenkommunikationsmitteln Forschungsberichte, Korrespondenzen;

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Datenerhebung

— inoffizielle Dokumente: Brigadetagebücher, Tagebücher, Briefe, persönliche Schilderungen. Gerth verweist darauf, daß inoffizielle Dokumente in Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Interessen, der Entwicklung von Leitbildern (Arbeitsmethoden, Umsetzung gesellschaftlicher Normen) jederzeit eine Offizialisierung erfahren können. 105 Diese Tendenz zeigt die gesellschaftsgestaltende Funktion sozialer Gruppen. 106 Auf die Problematik des Geltungsbereichs wird im Zusammenhang mit persönlichen Dokumenten später eingegangen. Die folgenden Beispiele verdeutlichen die genannten Kriterien in ihren Kombinationen : — statistisch — offiziell — gesellschaftlich: statistische Jahrbücher; — statistisch — inoffiziell — persönlich: Haushaltsbücher; — verbal — offiziell — persönlich: popularisierte Wettbewerbsverpflichtungen; — verbal — offiziell — gesellschaftlich: Materialien von Partei und Regierung. Neben diesen sehr verbreiteten Kriterien ist in der Literatur eine Reihe weiterer Unterscheidungen von Dokumenten aufgeführt, auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen werden soll. 107 Erwähnt sei lediglich noch Davidjuks Kategorie der zweckbestimmten Dokumente. Das sind Dokumente, die im Auftrag einer Organisation oder wissenschaftlichen Institution erarbeitet wurden. 1 0 8 Dazu gehören z. B. in Auftrag gegebene Biographien oder Erlebnisberichte, Aufsätze etc. Das soll als Überblick genügen, um von den Dokumentenarten her das Instrument — die Analyse von Dokumenten — in seiner Bestimmung zu unterstützen. Die soziologische Analyse von Dokumenten Der Vergleich mit anderen Methoden, die in der Soziologie Anwendung finden, kennzeichnet die Dokumentenanalyse zunächst als eine indirekte Erhebungsform,109 105 106

107

108 109

Vgl. ebenda, S. 526. Vgl. H. Michaelis, Die besondere Bedeutung der sozialen Gruppen und Kollektive, in: G. Aßmann/R. Stollberg (Hrsg.), Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, a. a. O., S. 239. Vgl. Rabocaja kniga sociologa, otv. red. G. V. Osipov, a. a. O., S. 300—305; E.-Hahn, Historischer Materialismus und marxistische Soziologie, Berlin 1968, S. 169; G. P. Davidjuk, Prikladnaja sociologija, Minsk 1979, S. 177—180; P. Atteslander, Methoden der empirischen Sozialforschung, a. a. O., S. 65—70. Vgl. G. P. Davidjuk, Prikladnaja sociologija, a. a. O., S. 176. Vgl. W. Gerth, Dokumentenanalyse, a . a . O . , S. 521; J.Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, Reinbek b. Hamburg 1973, S. 353/354; vgl. H. v. Alemann, Der Forschungsprozeß, Stuttgart 1977, S. 196/197.

Dokumentenanalyse

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Kernstück dieser Bestimmung ist, daß die in Dokumenten enthaltenen Aussagen in der Vergangenheit und vielfach zu einem anderen Zweck als dem der gegenwärtigen Analyse zusammengestellt wurden. Diese Informationen bedürfen deshalb der Identifikation (Herausfinden der forschungsrelevanten Aussagen mittels eines Auswertungsschemas) und der Interpretation in dem neuen, forschungsadäquaten Zusammenhang. Die Annahme, mit der Dokumentenanalyse würden ausschließlich Materialien analysiert, die ursprünglich nicht für Forschungszwecke entstanden, ist unzutreffend. Man kann drei Gruppen von Dokumenten unterscheiden: 1. Dokumente, deren Zweck bei der Entstehung mit dem Auswertungsziel übereinstimmt ; 2. Dokumente, deren Schaffung einem anderen Zweck dient und 3. Materialien, die nicht bewußt als Dokumente geschaffen wurden. Wir unterscheiden drei Richtungen der Analyse von Dokumenten: — indirekte Erhebung als Umformung (Auswahl und Neugruppierung) von Primärdaten, die nicht zu soziologischen Zwecken zusammengestellt wurden in Sekundärdaten; — Sekundäranalyse, als die erneute Analyse bereits erhobenen soziologischen Materials unter einer neuen Problemstellung (Mehrfachverwendung empirischer Datensätze). Diese Form der Analyse wird wohl künftig aus forschungstechnischen und ökonomischen Gründen an Bedeutung gewinnen, zumal die empirische Forschung in der Soziologie allmählich einen historischen Aspekt aufweist; so bieten ältere empirische Erhebungen wichtiges, „vom Forscher selbst geschaffenes Quellenmaterial" (Drobishewa) zur Aufdeckung von Entwicklungsgesetzen. Diese Tendenz beschreibt Drobishewa anschaulich an Hand des Zusammenhangs von historischer und soziologischer Forschung; 1 1 0 — Primärerhebung (direkte Analyse), im Zusammenhang mit zweckbestimmten Dokumenten (biographische Methode, Aufsatzanalyse, Bedeutungsanalyse). Ungeachtet dieser Breite bezeichnet diese Methode in erster Linie die Analyse von Dokumenten, deren Zweck bei der Schaffung nicht mit dem konkreten Forschungsproblem übereinstimmt. Eine Besonderheit der Dokumentenanalyse besteht darin, daß ein abgelaufener sozialer Sachverhalt nachträglich analysiert wird. Man könnte meinen, daß es sich hierbei um einen Nachteil handele. Gerade diese Besonderheit erlaubt aber die Aufdeckung von Entwicklungstrends gesellschaftlicher Prozesse. Gegen einen Schluß auf geringe Güte bei retrospektiven Daten wendet sich auch Volovics.111

110 111

Vgl. L. M. Drobishewa, Soziologie und Geschichte, Berlin 1974. Vgl. V. I. Volovics, Opredelenie nadeznosti dokumental'noj informacii, in: Voprosy techniki sociologizeskich issledovanii, Moskva 1975, S. 134.

306

Datenerhebung

Die Dokumentenanalyse ist eine nichtreaktive Methode. Im Vergleich zu den direkten Erhebungsmethoden werden die Daten hier nicht aus einer bewußten Reaktion von Probanden auf ein System forschungsorientierter Stimuli gewonnen. Dadurch entfallen Gültigkeitseinschränkungen wie z. B. der „response set", eine bestimmte Beantwortungsstrategie des Befragten bei der Befragung, Beobachtungseffekte bei der Beobachtung etc. Aus der Spezifik von Dokumenten ergeben sich jedoch andersartige Einschränkungen, erstens aus der selektiven Anlage und zweitens aus dem selektiven Überleben von Dokumenten. 1 1 2 Steffen schreibt dazu, daß die „Aktenanalyse" den Vorteil habe, daß zwischen dem Forschungssubjekt und dem Forschungsobjekt keine interaktive Beziehung erforderlich sei, aus der Veränderungen des Feldes resultieren und die Ergebnisse in nicht abschätzbarer Weise verzerren könne. 113 Volovics trifft den Kern dieser Besonderheit, wenn er schreibt, daß die Spezifik der Dokumenteninformationen darin besteht, daß sie sowohl das Objekt, die reale Wirklichkeit als auch das Verhältnis des Subjekts zu ihr ausdrücke. 1 1 4 Zusammengefaßt kann die Dokumentenanalyse wie folgt bestimmt werden: Dokumentenanalyse bezeichnet Techniken, mit deren Hilfe in Dokumenten enthaltene Informationen, deren Art, Struktur und Umfang mit den in bezug auf ein soziologisches Forschungsproblem benötigten Informationen nicht kongruent sein muß, erschlossen und in soziologisch relevante Sinnzusammenhänge gebracht werden, so daß sie der soziologischen Problemlösung dienen. Die Leistungsfähigkeit der Dokumentenanalyse Prinzipiell kann die Dokumentenanalyse in Voruntersuchungen sowie als Hauptoder Nebenmethode in Hauptuntersuchungen eingesetzt werden. Vor allem in der Problemerkundung und als Ergänzung anderer Methoden, indem sie objektive Hintergründe aufdeckt, erfährt sie breite Anwendung. So wichtig der erkundende, illustrative und ergänzende Beitrag dieser Methode auch ist, so darf ihre eigenständige Leistungsfähigkeit nicht unterschätzt werden. Häder weist z. B. auf typische Objekte der Dokumentenanalyse hin: — demographische Prozesse, — Erscheinungen von großer Komplexität, 112

113

114

Vgl. G. Albrecht, Nicht-reaktive Messung und Anwendung historischer Methoden, in: J. v. Koolwijk/M. Wieken-Mayser (Hrsg.), Techniken der empirischen Sozialforschung, Bd. 2, München 1975, S. 28. Vgl. W. Steffen, Grenzen und Möglichkeiten der Verwendung von Strafakten als Grundlage kriminologischer Forschung, in: P. J. Müller (Hrsg.), Die Analyse prozeßproduzierter Daten, Bd. 2, a. a. O., S. 105. Vgl. V. I. Volovics, Opredelenie nadeznosti dokumental'noj informacii, a. a. O., S. 135.

Dokumentenanalyse

307

— — — —

bestimmte Aspekte der Kommunikation, quantitative Analysen sozialstruktureller Merkmale, infrastrukturelle Aspekte der Lebensbedingungen und weitere Verhaltensweisen, die von öffentlichem Interesse sind (Neuererbewegung, kulturelle Aktivität). 115 Insgesamt reicht die Leistungsfähigkeit dieser Methode von der Erhebung von Anhaltspunkten über neu entstandene soziale Erscheinungen, der Präzisierung von Forschungsproblemen sowie der Hypothesen, der Unterstützung der Auswahlverfahren, der Illustration von Hypothesen und Ergebnissen bis hin zur Analyse historischer Entwicklungslinien sowie der Aufdeckung von Entwicklungsgesetzen, der Beobachtung sozialer Prozesse (Gewinnung von Sozialindikatoren) und schließlich der Analyse von sozialen Komponenten der Sprache. Auch wenn die Dokumentenanalyse in erster Linie komplexe gesellschaftliche Prozesse der Analyse zugänglich macht, dient sie prinzipiell der Erhebung von Daten sowohl objektiver wie auch subjektiver Aspekte sozialer Prozesse sowie der Erforschung mikro- und makrogesellschaftlicher Entwicklung. Dem Ziel nach lassen sich zwei Gruppen von Erkenntnissen abheben : Erstens dient die Dokumentenanalyse der Erhebung von Rahmeninformationen zur Unterstützung der im empirischen Erhebungsprozeß angewandten Hauptmethode und zweitens der Messung sozialer Sachverhalte (z. B. Einstellungen, soziale Stereotype, die sich sprachlich in Texten niederschlagen) und der Beobachtung gesellschaftlicher Prozesse. Folgende Beispiele sollen die Einsatzmöglichkeiten der Dokumentenanalyse veranschaulichen: Zunächst eignet sich die Dokumentenanalyse zur Erhebung von Daten, die für eine empirische Erhebung erforderliche Rahmeninformationen darstellen. Sie sind notwendig, um die Ergebnisse z. B. von Befragungen oder Beobachtungen insgesamt zu bewerten, Rückschlüsse z. B. auf das Anspruchsniveau zu erhalten und in komplexer Weise Verallgemeinerungen treffen zu können. Das kann die Beschreibung einer Stadt, eines Territoriums, eines Betriebes etc. betreffen. Die entsprechende Vorgehensweise kann man auch als die Erarbeitung eines sozialen Porträts bezeichnen. Ausgehend vom Forschungsproblem und dem Hypothesensystem gilt es, den Typ bzw. die Arten der zu erhebenden Information zu bestimmen. Im Falle eines Territoriums oder einer Stadt gehören dazu : — geographische, demographische Daten, — Angaben zur Geschichte einer Stadt/eines Territoriums, — Daten zur politischen Struktur (Gliederung eines Kreises, Struktur der Leitungsorgane), 115

Vgl. M. Häder, Erkenntnistheoretische Überlegungen zum Einsatz soziologischer Erhebungsmethoden, a. a. O., S. 159.

21

Soziolog. Forschung

308

Datenerhebung

— zur ökonomischen Struktur (Industrie, Landwirtschaft, Wohnbevölkerung, gesellschaftliches Arbeitsvermögen), — zur sozialen Struktur (Wohnungsbau, Wohnungspolitik, Versorgung der Bevölkerung, gesundheitliche und soziale Betreuung, Volksbildung, Kultur und Sport). Damit geht die Erarbeitung des Erhebungsschemas einher (Bestimmung der Erhebungseinheiten, des Zeitraums der zu sammelnden Information, Kennzeichnung der wesentlichen Informationen, des Gültigkeitsniveaus der Informationen). Weiter muß eine Auswahl der erforderlichen Dokumente erfolgen. In diesem Zusammenhang werden die Institutionen ausgewählt, die im Rahmen ihrer Tätigkeit jene Dokumente erarbeiten. Dazu können z. B. gehören: der Rat der Stadt bzw. der Gemeinde, strukturbildende Kombinate, die Bezirks- oder Kreisleitung der SED, territoriale Leitungsorgane der gesellschaftlichen Massenorganisationen, die Nationale Front, territoriale Forschungseinrichtungen etc. Entsprechend den Vorgaben werden nun die Informationen aus den Dokumenten entnommen und in einen neuen, dem Forschungsanliegen entsprechenden, Zusammenhang integriert. In der Erhebungsphase geht es also um die Datensuche, die rationelle Zusammenstellung und stichhaltige Auswahl der Daten, das Erkennen wesentlicher und unwesentlicher Angaben für die Problemlösung und in der Auswertungsphase um die Bewertung der erhaltenen Daten. Da in Dokumenten meist verschiedene Objektebenen beschrieben werden und unterschiedliche Institutionen diese Dokumente erarbeiten, ist es nicht leicht, einen homogenen Datensatz zu erhalten, zumal das Forschungsanliegen stets breiter ist als die in den Dokumenten aufgezeichneten Informationen. Techniken der Dokumentenanalyse Wir stellen vier Techniken der Dokumentenanalyse vor: Erstens: Die qualitative Analyse Die qualitative Analyse von Dokumenten, auch klassische Analyse genannt, ist wohl bisher die in der marxistisch-leninistischen Soziologie am häufigsten anzutreffende Technik. Mit ihrer Hilfe werden in erster Linie komplexe, vielgestaltige Inhalte erschlossen und für die Forschung nutzbar gemacht. In ihrem Kern besteht die qualitative Analyse in der schöpferischen Aufnahme und Interpretation von Informationen aus Dokumenten im Hinblick auf ein Forschungsproblem. Vom Forscher werden in komplexer Weise Dokumente gesichtet, um wesentliche Seiten eines Sachverhaltes zu finden, Grundideen und Gedanken, Grundaussagen zu erfassen und in einen entsprechenden Zusammenhang zu bringen. Hierbei handelt es sich um einen schöpferischen Prozeß, der

Dokumentenanalyse

309

vom Forscher große Übersicht, große Forschungserfahrung und ein hohes Maß an Vertrautheit mit dem Forschungsproblem erfordert. Gerade dieser Umstand, ihre Subjektivität, wird der qualitativen Analyse aber auch als Nachteil angerechnet. Es hängt zu einem großen Teil vom Geschick und der Erfahrung des Forschers ab, wie es ihm gelingt, aus dem Bündel von Informationen die erforderlichen herauszufinden und entsprechend zu bewerten. Die Klassiker des Marxismus/Leninismus zeigten, von welch hoher Beweiskraft das Instrument der qualitativen Analyse ist. Nicht nur aus diesem Grund spricht z. B. Rabe von einer genuin marxistischen Methode. 116 Die auf der Grundlage der Dokumentenanalyse entstandenen wissenschaftlichen Arbeiten dienten im umfassenden Sinne der Aufhellung grundlegender sozialer Erscheinungen und Prozesse und der Auseinandersetzung mit reformistischen und opportunistischen Auffassungen. Als erstes Werk muß dabei Engels „Lage der arbeitenden Klasse in England" genannt werden. Die Nutzung der öffentlichen Statistik, vielfaltiger Quellen, wie Parlamentsberichte, Beschwerden, Zeitungen, Protokolle etc., ergänzt durch die Befragungen und Beobachtungen in dem sozialen Milieu, das Objekt der Untersuchung war, zeugen von der Möglichkeit der Integration sehr verschiedenartiger Informationen und Daten. Zugleich zeigt sich, daß nur klare theoretische Prämissen ein wissenschaftliches Instrument der Erklärung sozialer Prozesse und Verhältnisse erbringen können. Sie erlauben das Wesentliche sozialer Erscheinungen für die Beschreibung und Erklärung herauszuarbeiten und in einen wissenschaftlichen Kontext zu stellen. Besonders anschaulich widerspiegeln „Die Kritik des Gothaer Programms" und „Staat und Revolution" die Herangehensweise und den Vorzug dieser Technik. Um Gütemängeln bei der Erhebung der Informationen zu begegnen, kann die qualitative Analyse durch formalisierte Fragen strukturiert werden. Diese sollen eine Objektivierung sowie ein gewisses Maß an Vergleichbarkeit zwischen den Erhebungen verschiedener Forscher bewirken. Beispiele für solche Fragen sind: — Was stellt das Dokument dar? Wer ist der Autor? — Mit welchem Ziel wurde das Dokument geschaffen? — Welche Zuverlässigkeit hat das Dokument? Welche Kompetenz hat der Autor? Worauf stützt er sich? Was will er sagen, was nicht? — Welchen bewertenden Inhalt hat das Dokument? — Welche Schlußfolgerungen können aus den Fakten und Wertungen gezogen werden? etc. 117

116

Vgl. H. Rabe, Einführung in die marxistisch-leninistische Soziologie, Teil II, Lehrmaterial

117

Vgl. Rabocaja kniga sociologa, otv. red. G. V. Osipov, a. a. O., S. 319.

für das Fernstudium marxistisch-leninistische Philosophie, Berlin 1981, S. 33.

21

310

Datenerhebung

Mit solchen und weiterführenden Fragen wird eine Möglichkeit geschaffen, die Reflexionen bei der Datenerhebung zusätzlich zu lenken. Im Zusammenhang mit der qualitativen Analyse wird häufig betont, daß sie aus einer inneren und einer äußeren Analyse bestehe. Das trifft natürlich auf eine Vielzahl von Methoden zu. Mit der inneren Analyse ist die des vorliegenden Textes gemeint. Die äußere Analyse bezeichnet die Analyse des konkret-historischen Kontextes der Entstehung eines Dokuments; welche Prozesse wirkten bei der Entstehung, welches Ziel wurde verfolgt, für welche Zielgruppe wurde es geschaffen, wie war seine gesellschaftliche Resonanz? Das sind Fragen, die es im Zusammenhang mit der äußeren Analyse zu beantworten gilt. Erst durch die Rekonstruktion des sozialen Umfeldes der Entstehung eines Dokuments wird die Güte hinreichend abschätzbar und eine objektive Bewertung der Informationen im Wechselverhältnis von sprachlicher Aussage und gesellschaftlichem Kontext möglich. Insgesamt ist diese Technik unentbehrlich für die soziologische Forschung, sei es in der Vorbereitung oder als Haupt- bzw. Nebenmethode in der Erhebungsphase. Mittels der qualitativen Analyse ist es möglich, die ganze Reichhaltigkeit der vorliegenden Dokumente für die Lösung eines Forschungsproblems nutzbar zu machen, zahlreiche Detailinformationen aufzunehmen und das Hypothesensystem zu untermauern. Zugleich hängt das Ergebnis wesentlich von der Tiefgründigkeit der theoretischen Prämissen ab. Zweitens: Die Bedeutungsanalyse Die Bedeutungsanalyse ist geeignet, als Überleitung von der qualitativen zur Inhaltsanalyse zu dienen. Sie folgt in ihrer Konstruktion Aspekten der Inhaltsanalyse, wird jedoch in erster Linie zur Bestimmung qualitativer Merkmale von sozialen Informationsprozessen verwendet. 118 Informationsprozesse gewinnen für die Effektivität und das Funktionieren von sozialen Systemen und für die Meisterung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts überhaupt eine immer größere Bedeutung. Zwei grundlegende Tendenzen deuten vor allem darauf hin: 1. Qualitativer Aspekt: Soziale Systeme sind im Rahmen des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts durch ein Anwachsen ihrer Kompliziertheit und Komplexität gekennzeichnet. 119 Die Differenzierung sozialer Systeme — als zunehmende Spezialisierung und Arbeitsteilung der Leitungs-, Kontroll- und Aus-

118

119

Vgl. W. Klimek, Die Anwendung der Bedeutungsanalyse in der soziologischen Forschung, in: Informationen zur soziologischen Forschung in der D D R , 4/1974, S. 12. Vgl. G. M. Dobrow, Wissenschaft: Ihre Analyse und Prognose, Stuttgart 1974, S. 52/53.

Dokumentenanalyse

311

fiïhrungsprozesse — erfordert genauere und spezifische Informationen zur Entscheidungsfindung. 2. Quantitativer Aspekt: Dieser Differenzierungsprozeß ist von einem Anwachsen des Informationsvolumens begleitet. 120 Menge und Differenziertheit von Informationen nehmen mit dem Wachstum und der Differenzierung sozialer Systeme rapide zu. Das Funktionieren sozialer Systeme ist deshalb unter den Bedingungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in hohem Maße von der Beherrschung ihrer Informationsprozesse abhängig. Folgende Voraussetzungen sind für die Beurteilung der soziologischen Relevanz der Bedeutungsanalyse einzubeziehen : Eine Nachricht wird durch die Zuordnung von Bedeutung zur sozialen Information. 121 Die Bedeutungszuordnung ist eine semantische Widerspiegelung innerhalb einer bestimmten sozialen Situation mit spezifischer Bewertung durch das tätige Subjekt bzw. die entsprechende Institution in dieser sozialen Situation. 122 Objekt der Bedeutungsanalyse ist die Abhängigkeit der Transformation sozialer Informationen von sozialen Merkmalen. Unter Transformation wird die Selektion, Strukturierung und Ergänzung von Informationen verstanden. 123 Transformation geschieht als zielgerichtete Umformung einer Information von einer höheren Systemebene auf einer jeweils niederen Ebene durch den Empfanger. Unter analytischem Aspekt können die dabei auftretenden drei Teilprozesse wie folgt beschrieben werden : — Selektion (Hervorhebung einiger Fakten, Vernachlässigung anderer), — Strukturierung (Neustrukturierung unter Berücksichtigung der Erfahrung des Empfangers) und — Ergänzung (der empfangenen Nachricht werden bestimmte Bedeutungen hinzugefügt, die vom Sender nicht intendiert waren, aber vom Standpunkt des Empfangers aus „da sein müßten", damit die Informationen verhaltensauslösend wirken können). 124 Informationen werden also entsprechend dem objektiven Informationsbedarf und den Informationsbedürfnissen der jeweiligen Systemebene oder eines Bereiches transformiert, d. h. den spezifischen Aufgaben und Bedingungen angepaßt.

120 121

122 123

124

Vgl. M. Buhr/G. Kröber (Hrsg.), Mensch - Wissenschaft - Technik, Berlin 1977, S. 181. Vgl. W. Klimek, Zum Wesen der sozialen Information, in: H. Berger/E. Priller (Hrsg.), Indikatoren in der soziologischen Forschung, a. a. O., S. 14. Vgl. ebenda, S. 15. Vgl. W. Klimek, Die Anwendung der Bedeutungsanalyse in der soziologischen Forschung, a. a. O., S. 10. Vgl. W. Klimek, Zum Wesen der sozialen Information, a. a. O., S. 19.

312

Datenerhebung

Klimek definiert die Bedeutungsanalyse als „Forschungsverfahren zur Analyse des latenten Bedeutungsgehaltes manifester sozialer Erscheinungen sowie von Wirkungsbedingungen, die bei der.Bedeutungszuordnung eine Rolle spielen" 125 . Informationen dienen der Koordination und zielgerichteten Auslösung von Handlungen. Bevor sie wirksam werden, bedürfen sie der Anpassung an die jeweils spezifischen Bedingungen. Bei dieser Umformung spielen auch soziale Merkmale des Informationsempfangers (Alter, soziale Herkunft, Berufsalter, Qualifikation und Bildung, Geschlecht etc.) eine Rolle. Aber auch Interessen und Bedürfnisse beeinflussen den Prozeß der Transformation. Welche Merkmale besonderen Einfluß auf die Bedeutungszuordnung nehmen, hängt natürlich vom Inhalt ab (z. B. Informationen zur Frauenförderung, Neuererbewegung oder aktuellpolitischen Ereignissen). Informationen müssen effektiv und rationell aufgebaut sein. Um ihre Überblickbarkeit zu gewährleisten, setzen sie deshalb Gemeinsamkeiten von Normen, Werten, Kenntnissen etc. zwischen Sender und Empfänger voraus. Auch deshalb — und darum geht es unter anderem bei der Inhaltsanalyse — sind nur sehr einfache Informationen manifest, d. h. nicht verschieden interpretierbar. Mit der Bedeutungsanalyse wird also ein wichtiger Aspekt der Informationsübermittlung im Zusammenhang von Sprache und Handlung untersucht: der Empfänger gibt durch Interpretationen (als Konkretisierung) den Informationen eine bestimmte Richtung und verbindet sie mit einem bestimmten Umfang an Assoziationen. Die Regelmäßigkeiten in diesem Prozeß sind für die Beherrschung von Informationsströmen eine wesentliche Quelle von Erkenntnissen. Wir erläutern dieses Verfahren an einem Beispiel. Der Begriff „Neuererbewegung" soll in einer schriftlichen Befragung als zu interpretierender Begriff vorgegeben werden. Dabei ist von Interesse, womit z. B. Meister der chemischen Industrie diesen Begriff in Beziehung setzen. Es wird also eine entsprechende Population aufgefordert, diejenigen Begriffe zu nennen, die als Assoziationen zum Begriff „Neuererbewegung" hervorgerufen werden. So kann sich z. B. ergeben, daß eine Teilgruppe der Population eine enge Fassung des Begriffs bevorzugt (Prämienregelung, Neuererrecht, Bilanzierung etc.), während eine andere Gruppe eine bestimmte Richtung angibt (Anteil Jugendlicher und Frauen, Beteiligung von Angestellten etc.) und eine dritte Gruppe diesem Begriff eine sehr umfassende Beziehung verleiht (bis hin zur politischen, sozialen Motivierung). Die Typenbildung in Abhängigkeit von sozialen Merkmalen gibt nun Aufschlüsse, wie eine entsprechende Information transformiert und mit welcher Breite sie für konkrete Handlungen mit Bedeutung versehen wird.

125

W. Klimek, Die Anwendung der Bedeutungsanalyse in der soziologischen Forschung, a. a. O., S. 12.

Dokumentenanalyse

313

Drittens: Die Inhaltsanalyse Mit der Ausbreitung der modernen Massenkommunikationsmittel in den 20er und 30er Jahren wurden in den bürgerlichen Sozialwissenschaften erste Techniken entwickelt, die der Analyse von Kommunikationsinhalten dienten und im weitesten Sinne Kommunikationsverhalten im Blickfeld hatten. Natürlich gab es auch hier eine Reihe von Vorläufern (in der Journalistik, in den Sprachwissenschaften) auf die jedoch nicht weiter eingegangen werden soll. Pietrzynski definiert die Inhaltsanalyse wie folgt: „Ihrer Vorgehensweise nach ist sie eine formalisierte Methode der Textinterpretation und dient zur Erschließung des Inhalts einer großen Zahl von Dokumenten, die zu einem gleichen Sachverhalt vorliegen." 126 Eine zweite Definition von Mayntz/Holm/Hübner sei hier noch wiedergegeben, die Aufschluß über Erkenntniserwartungen gibt: „Man kann die Inhaltsanalyse daher als eine Forschungstechnik definieren, die sprachliche Eigenschaften eines Textes objektiv und systematisch identifiziert und beschreibt, um daraus Schlußfolgerungen auf nicht-sprachliche Eigenschaften (Hervorhebung d. A.) von Personen und gesellschaftlichen Aggregaten zu ziehen." 127 Unter dem Begriff der Inhaltsanalyse ist eine ganze Gruppe von speziellen Techniken entwickelt worden. Einige von ihnen sollen am Ende dieses Abschnittes erwähnt werden. Zunächst geht es um die gemeinsamen Merkmale ihrer Konstruktion. Die Inhaltsanalyse kann als quantitative Form der Dokumentenanalyse gelten. Mit ihr verbindet sich das Anliegen, mittels eines standardisierten Kategorienschemas vom Erheber unabhängige Ergebnisse zu erhalten, die vergleichbar sind und den Text bzw. Teile desselben selbst zum Objekt haben; d. h., es geht nicht nur um die manifesten Informationen in einem Text (wie bei der Erhebung von Rahmeninformationen), sondern um seinen sozialen, bewertenden Charakter, um Rückschlüsse auf den Absender, dessen Wertorientierungen, Leitbilder etc. Mit diesen Techniken kann man die ideologischen Hauptmerkmale eines Textes eindeutig herausfinden. Zur Anlage von Techniken der Inhaltsanalyse: Auffallig ist die Analogie, die sich bei der Konstruktion des Instruments zur Beobachtung ergibt. Ausgehend von der Problemformulierung und dem Hypothesensystem ist die inhaltsanalytische Einheit (analog zur Beobachtungseinheit) und das Kategorienschema (analog zum Beobachtungsschema) festzulegen. Diese Um-

126

127

I. Pietrzynski, Anwendungsmöglichkeiten der Inhaltsanalyse, in: Informationen zur soziologischen Forschung in der D D R , 4/1974, S. 5. R. Mayntz/K. Holm/P. Hübner, Einführung in die Methoden der empirischen Soziologie, a. a. O., S. 151.

314

Datenerhebung

setzung des Forschungsanliegens ist für die anschließende Erhebung von außerordentlicher, entscheidender Bedeutung.128 Die inhaltsanalytische Einheit (auch in Kodierungseinheit und Kontexteinheit differenzierbar) fixiert die Textelemente, welche zum Gegenstand der Analyse werden. Das können z. B. Worte, Sätze, Abschnitte, Themen etc. sein. Das ist zunächst die Stufe der formalen Bestimmung, die Erscheinungsform der Indikatoren des Kategorienschemas. Die Kontexteinheit umfaßt den Kontext der Erhebungseinheit, mit dessen Hilfe die Bedeutung erschlossen werden soll.129 Das betrifft insbesondere die Erschließung des ideologischen Hintergrundes, der Absichten und Interessen, die aus einzelnen Worten, Sätzen, Themen nicht hervorgehen und in inhaltlich konträren Texten Verwendung finden können. Das Kategorienschema umfaßt die inhaltliche Seite der Erhebungsanweisung. Ausgehend von Hauptkategorien, die unmittelbar aus dem Hypothesensystem abgeleitet sind, werden Unterkategorien bestimmt, die in ihrer Konkretheit den festgelegten Kodierungseinheiten entsprechen. Bei der Bildung von Unterkategorien zeigt sich mitunter erst bei der Textanalyse wie umfassend, entsprechend dem Hypothesensystem, die relevanten sprachlichen Äußerungen tatsächlich sind. Deshalb empfiehlt es sich, in Pilotstudien die Vielfalt sprachlicher Äußerungen zu einem Problem in den entsprechenden Texten festzustellen. Eine perspektivische Aufgabe besteht darin, für spezielle Forschungsthemen bzw. -richtungen Standards auszuarbeiten. Das ist ein generelles Problem der Indikatorenbildung in der empirischen Forschung. Angenommen, eine Analyse soll Aufschlüsse darüber geben, in welcher Qualität in Massenkommunikationsmitteln (z. B. Zeitungen) oder in persönlichen Stellungnahmen, Wettbewerbsverpflichtungen etc. „gesellschaftliches Engagement" als soziale Orientierung, als Leitbild zum Ausdruck kommt und welche Ausdrucksformen und Gewichtungen es erfahrt. Aus den Hypothesen müssen nun die tragenden Feststellungen, theoretischen Grundlagen und Annahmen in sprachliche Äußerungen, Kategorien überführt werden; äußert sich das Streben nach gesellschaftlichem Engagement sprachlich, welche Normative gelten dafür, z. B. Anerkennung, Aktivität, Verantwortungsbewußtsein, Uneigennützigkeit, Kameradschaftlichkeit, Hilfsbereitschaft etc. ? Dabei müssen die in das Kategorienschema aufgenommenen Begriffe den Anforderungen — der Anschaulichkeit (die Begriffe sollen sich nicht überschneiden), — der Vollständigkeit (die jeweilige Bedeutungsdimension soll erschöpfend vertreten sein, ohne daß wesentliche Begriffe fehlen) und 128 129

Vgl. I. Pietrzynski, Anwendungsmöglichkeiten der Inhaltsanalyse, a. a. O., S. 5. Vgl. W. D. Crano/M. B. Brewer, Einführung in die sozialpsychologische Forschung, Köln 1975, S. 198—200.

Dokumentenanalyse

315

— der Eindeutigkeit (sie sollen nur eine Bedeutung besitzen, unter der sie eingeordnet werden können) genügen. 130 Ein weiterer Schritt besteht in der Bildung der Stichprobe. Dafür ist zunächst die Grundgesamtheit zu bestimmen: die Festlegung der Informationsquellen (Zeitungen, Radio- oder Fernsehsendungen, Protokolle etc.) und des Zeitraums ihrer Entstehung. Die Auswahl kann in die der Informationsquellen und die der Dokumente gegliedert werden. Insgesamt empfiehlt sich eine gezielte Auswahl, wegen der Verschiedenartigkeit bzw. Bedeutungsungleichheit von Dokumenten sowie ihrer Vielzahl. (Jeder einzelne Artikel müßte sonst in die Auswahl aufgenommen werden.) Diese Auswahl kann z. B. über Expertengespräche oder durch systematische Ableitungen erfolgen. Einige Techniken der Inhaltsanalyse seien noch genannt. Am bekanntesten ist wohl die Häufigkeitsauszählung von Kodierungseinheiten. Dabei werden als Voraussetzung aus der Häufigkeit des Auftretens von Worten, Themen etc. in den entsprechenden Dokumenten Relevanz- oder Einstellungsschlüsse gezogen. Diese Ausgangshypothese wirft natürlich zugleich die Frage nach der Zulässigkeit eines solchen Vorgehens auf. Weitere Techniken sind die Symbolanalyse und die Wertanalyse, die unterschiedliche Stufen der Einstellungsäußerung in Texten messen sollen. Dabei werden im Falle der ersten Technik positive, negative und neutrale Äußerungen zu einem Einstellungsobjekt identifiziert. Diese Skala ist bei der Wertanalyse differenzierter (Skalenwerte werden zur Einschätzung herangezogen). Schließlich kann noch auf die Bewertungsanalyse verwiesen werden, mit deren Hilfe die Intensität von Bewertungen in Texten gemessen werden soll. Die Anwendung der Inhaltsanalyse empfiehlt sich besonders, — wenn ein hoher Grad an Objektivität und Genauigkeit gefordert ist, — wenn umfangreiches und nichtsystematisiertes Material vorliegt, dessen unmittelbare Nutzung schwierig ist, — wenn Kategorien, die für die Ziele der Forschung wichtig sind, mit einer bestimmten Häufigkeit in den Dokumenten auftreten und — wenn die Sprache selbst der Untersuchungsgegenstand ist. 131 Mit der Entwicklung der Inhaltsanalyse verband sich ursprünglich die Absicht, ein der qualitativen Analyse überlegenes Instrument zu schaffen, das deren Platz einnimmt. Der Meinungsstreit darum war in der bürgerlichen Soziologie und Psychologie nicht unerheblich. Die Inhaltsanalyse kann jedoch nur im Sinne des Methodenpluralismus eingesetzt werden, d. h., sie kann ergänzend wirken oder am Forschungsproblem entscheiden helfen, welcher Technik der Vorzug zu geben 130

131

Vgl. R. Mayntz/K. Holm/P. Hübner, Einführung in die Methoden der empirischen Soziologie, a. a. O., S. 157. Vgl. Rabocaja kniga sociologa, otv. red. G. V. Osipov, a. a. O., S. 322.

316

Datenerhebung

ist. Beide — die qualitative und die Inhaltsanalyse — besitzen Vorzüge, die dazu berechtigen, von einer sich gegenseitig ergänzenden Wirkung zu sprechen. Viertens: Die biographische

Methode

Die biographische Methode ist eine Sonderform der Dokumentenanalyse. Sie wird in ihrem Charakter nicht durch eine bestimmte Technik der Analyse bestimmt, sondern durch die Art der Dokumente und die verfolgten Erkenntnisziele. Die biographische Methode richtet sich mittels der qualitativen oder Inhaltsanalyse auf die Untersuchung von Individualdaten in persönlichen Dokumenten. Als solche gelten Tagebücher, Briefe, Beschreibungen einzelner Lebensabschnitte und persönlich bedeutsamer Ereignisse, Memoiren etc. Die Entwicklung der biographischen Methode geht wesentlich zurück auf die Soziologen Thomas und Znaniecki, die in ihrer Arbeit über die polnischen Bauern in Europa und Amerika diese Methode anwandten. Sie entwickelten die biographische Methode als die Methode in der soziologischen Forschung. Znaniecki verband später diesen Anspruch mit dem methodologischen Grundsatz: „Die soziale Wirklichkeit ist eigentlich nichts anderes als die teilweise geordnete Synthese vieler persönlicher Leben und jede individuelle Haltung und Strebung ist eine reale Sozialkraft." 132 Auch wenn der theoretisch-methodologische Anspruch an diese Methode nicht geteilt werden kann, weil er auf eine wissenschaftlich nicht haltbare Überbetonung des Individuellen und Subjektiven hinausläuft, so hat die biographische Methode, in ein wissenschaftliches Forschungssystem eingeordnet, einen unbestreitbaren Erkenntniswert. (Eine Analogie dazu bietet der Partnerwahlversuch Morenos.) Die Biographie oder ein Ausschnitt derselben kann nur als Wechselwirkung zwischen Objekt und Subjekt unter Hervorhebung der materiellen Determination des Subjekts durch die grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden werden. Die Analyse persönlicher Dokumente ist nicht geeignet, die Veränderung und Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erklären oder induktiv zu Gesetzmäßigkeiten über sie zu gelangen. Umgekehrt, auf der Grundlage von Erkenntnissen konkret-historischer gesellschaftlicher Prozesse ist es erst möglich, die erhaltenen Daten einzuordnen und ihre Gültigkeit zu bestimmen. Natürlich kann aus persönlichen Dokumenten ein beschreibender und konkretisierender Wert für die Erkenntnis gesellschaftlicher Prozesse folgen, weil in ihnen an Hand persönlicher Erlebnisse historische Etappen nachgezeichnet, der Alltag beschrieben und verdeutlicht wird. Folgende biographische Dokumente können im engeren Sinne unterschieden werden: 132

Zit. in: I. Szczepanski, Die biographische Methode, in: R.König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 4, Stuttgart 1974, S. 240.

Dokumentenanalyse

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— Kontinuierlich geschriebene Tagebücher, die einen sehr großen Teil oder das gesamte Leben wiedergeben. Im allgemeinen sind solche persönlichen Dokumente, außer als veröffentlichte Biographien, nur sehr schwer für sozialwissenschaftliche Zwecke erhältlich. — In Auftrag gegebene Lebensabrisse oder Beschreibungen von größeren Lebensabschnitten. Diese klassische Form nutzten Thomas und Znaniecki, indem sie einen Wettbewerb in einer Zeitschrift initiierten. Hier entstehen zum Teil systematische Fehler bei der Rekonstruktion des Lebenslaufs, die psychischen Gesetzen der Bewertung des Vergangenen oder der Auswahl von Ereignissen sowie mangelnden Gedächtnisleistungen geschuldet sind. — In Auftrag gegebene Aufsätze zu aktuellen Lebensereignissen, als Begleitforschung zu einer thematisierten Hauptuntersuchung. Als solche Lebensereignisse können Berufseintritt, Berufsjubiläum, Heirat, Erhalt einer Wohnung etc. ausgewählt werden, wozu man Probanden bittet, in ausführlicher Weise diese Ereignisse zu beschreiben. Abschließend einige Bemerkungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der Analyse persönlicher Dokumente. Durch die Analyse persönlicher Dokumente kann man Aufschlüsse über die persönlichen Bewertungen von Ereignissen, über Motive des Verhaltens, Wertorientierungen etc. erhalten. Diese Erkenntnisse — unterstützen die Aufdeckung sozialer Mechanismen der Einstellungsbildung und -Veränderung, — liefern Informationen für die Erforschung des Zusammenhangs von Verhältnissen und Verhalten und — Material für die Aufstellung von Persönlichkeitstypen und die Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse. Von besonderer Bedeutung ist die Möglichkeit, langandauernde Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung in ihrer Verflechtung und Determination durch die historische Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verfolgen. Eine Besonderheit der Verwendung persönlicher Dokumente besteht darin, daß sie sich kaum für repräsentative Untersuchungen (im statistischen Sinne) eignen. Das sollte nicht voreilig als ein Nachteil gewertet werden, sondern als Kennzeichen einer beschreibenden qualitativen Verwendung der biographischen Methode. Die Grenzen der biographischen Methode ergeben sich insbesondere daraus, daß persönliche Dokumente nur sehr schwer erhältlich sind, daß diese Aufzeichnungen von situationsbedingten Stimmungen oder Verzerrungen infolge mangelhafter Gedächtnisleistungen sowie durch die Auswahl von Ereignissen durch den Probanden beeinträchtigt sein können. Die bisweilen heterogene Motivstruktur bei der Anfertigung von Biographien kann sich in Abhängigkeit vom Untersuchungsziel ebenfalls nachteilig auswirken.

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Datenerhebung

3.2.4. Analyse statistischer Dokumente Begriff und Bedeutung der Analyse statistischer Dokumente Die Analyse statistischer Dokumente wird als eine spezifische Variante der indirekten Erhebung und der Nutzung soziologisch relevanter statistischer Informationen (Zahlenberichte, Analysen) verstanden. Die Spezifik dieser Erhebungsmethode besteht in der Erschließung der vorhandenen Statistik durch manuelle bzw. maschinelle Recherchen, in der Übernahme, Zusammenstellung, Analyse und Interpretation der in ihnen enthaltenen verbalen und zahlenmäßigen Informationen zum Zweck ihrer weitergehenden Auswertung entsprechend dem eigenen Untersuchungsprogramm. Prozeduren der Aufbereitung und Auswertung überlappen sich dabei mit Prozeduren der Erhebung. Aufwand und Ergebnis der Analyse, Möglichkeiten und Grenzen ihres Einsatzes werden objektiv vor allem durch die Art und Weise des Zustandekommens sowie des Zustandes (Anzahl, Art, Struktur, Verarbeitungsstand) der in den statistischen Dokumenten/Datenbanken gespeicherten Informationen bestimmt. Zu den Vorzügen der Erhebungsmethode gehört, daß sie sich auf bereits erfaßte Daten stützen kann, welche syntaktisch normiert gebildet und in den Einrichtungen standardisiert erfaßt, geprüft und zusätzlich beurkundet wurden. Die Möglichkeit, Daten aus den Stufen ihrer statistischen Bearbeitung abheben zu können, erlaubt in vielen Fällen zum gleichen sozialen Sachverhalt sowohl die Aggregatais auch die Einzeldatenanalyse. Das ist bedeutungsvoll für eine fachspezifische und fachübergreifende vergleichende Analyse sozialer Problemfelder. In Abhängigkeit von dem sachlichen und methodischen Gehalt sowie dem Zeitpunkt, der Periodizität und Retrospektivität der statistischen Erhebung ermöglicht die Analyse statistischer Dokumente die verschiedensten Arten von Vergleichen, darunter historische Vergleiche, Längsschnittvergleiche (einschließlich der Sonderfalle Paneluntersuchung und Kohortenanalyse). Rückgriffe auf fortgeschriebenes Zahlenmaterial (Zeitreihen) ermöglichen es, durch Vergleiche Strukturveränderungen zu erkennen und Entwicklungen zu verfolgen. Der rationelle Einsatz der Analyse statistischer Dokumente in der Soziologie setzt die Beantwortung insbesondere folgender Fragen voraus: — Welche statistischen Dokumente gibt es zu dem sozialen Sachverhalt? — Wo gibt es sie? — Wie beschaffe ich und wie wende ich diese Daten in der soziologischen Forschung an? Im folgenden wird auf einige damit zusammenhängende Erfahrungen und Probleme eingegangen.

Statistische Dokumente

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Der analytisch verwertbare statistische Datenfonds und einige Hilfsmittel seiner Erschließung Statistische Dokumente sind Träger zahlenmäßiger und verbaler Informationen über abgeschlossene, gegenwärtige, geplante (und prognostizierte) gesellschaftliche Prozesse und Erscheinungen. Die in der D D R geschaffenen, soziologisch verwertbaren Statistiken lassen sich inhaltlich vor allem vier Gruppen zuordnen: Erstens: Statistische Sammelbände (Ergebnisse aus vielen Gebieten der Statistik) — Statistiken mit allgemeinen Querschnittsangaben, z. B.: Statistisches Jahrbuch der D D R , Statistisches Taschenbuch der D D R , Jahrbuch der D D R , Statistisches Jahrbuch des Bezirks (bis 1982), Statistiken in der Zeitschrift „Statistische Praxis" (bis 1978), Sozialstatistische Kennziffernsammlung; — Statistiken mit thematischen Querschnittsangaben, z . B . : Statistiken zu bestimmten Personengruppen (Frauen, Jugend etc.), Bevölkerungsstatistisches Jahrbuch der D D R , Ergebnisse der Neuererbewegung. Zweitens: Spezifische Statistiken zu ausgewählten sozialen und ökonomischen Erscheinungen, Prozessen sowie über verschiedene Seiten der sozialökonomischen Bedingungen und der Lebensweise der Bevölkerung, z. B.: Volkszählergebnisse (zu Familien, Wohnungen etc.), Bildungsstatistiken (Fachschulstatistik etc.), Sozialfürsorgestatistik (Jahresbericht der Sozialversicherung etc.), Kulturstatistik (Theater-, Kulturhaus-, Bibliotheksstatistik etc.), Gesundheitsstatistiken, Statistik des Haushaltsbudgets, Zeitbudget- und Einkommenserhebung. Drittens: Pressemitteilungen und Veröffentlichungen staatlicher Organe, gesellschaftlicher Organisationen sowie wissenschaftliche Publikationen (Bücher, Zeitschriften, Broschüren etc.) mit statistischen Ergebnissen zur gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung, z. B.: Halbjährliche Mitteilungen der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik über die Durchführung des Volkswirtschaftsplanes und von Monatszahlen zur Entwicklung der Volkswirtschaft; Zahlen und Fakten zur Entwicklung der D D R im Jahre 1971—75 (IX. Parteitag); Erfolgreicher Weg der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der D D R . Zahlen und Fakten (X. Parteitag der SED); Die Frau in der D D R ; Die D D R stellt sich vor. Viertens: Statistiken des Auslands, z. B.: Angaben zu den Ländern des RGW und internationale Übersichten im Anhang des Statistischen Jahrbuchs der D D R ; Kleine Reihe (Länder der Erde etc.). Ihrem syntaktischen Informationsaspekt nach handelt es sich bei diesen statistischen Materialien überwiegend um Zahlenberichte des zentralisierten und fachlichen Berichtswesens (einschließlich der dabei durchgeführten Befragungen), um statistische Analysen in Form von Zahlen, erläuternden Text und graphischen Darstellungen. Partei- und organisationsinterne und andere Berichte und Analysen ergänzen den Fonds an sekundäranalytisch verwertbaren statistischen Er-

320

Datenerhebung

fassungsbelegen und Aufbereitungsnachweisen, an Archivdaten und Daten unterschiedlichen Aggregationsgrades (vgl. Abb. 15). Die in der D D R erstellten Statistiken über andere Länder basieren sowohl auf der Entnahme von statistischen Daten und Zusammenstellungen aus statistischen Quellen der betreffenden Länder als auch aus Statistiken internationaler Organisationen. Welche Hilfsmittel stehen zur Verfügung, um die jeweils problemrelevanten Statistiken und Kennziffern ausfindig zu machen? Erfassungsbelege

Dokumen

Aufbereitungsnachivcise

tationen

I

- Berichterstattungen-Innerbetriebliche (einschließlich Befragungen') I I

zentralisierte 7|iUi

fachliche

Fonds

Dokumente

Datenfonds

sonstige

I

statistischer

stat.

fn fbrmationen (einschließlich Analysen)

Auswahl Eingabe

für der

Datenfonds

Dokumente

Datenbank Date^

der

Datenbank

• Synthetische K e n n z i f f e r n Grundkennziffern—

Je

I

Person

Je ~

Archivdaten

Betrieb

I

I

Gemeinde

Aggregation qre^o

aggregierte

analytisch statistischer Abb. 15 Statistischer Datenfonds

Je

Daten

verwertbarer Datenfbnds

Archivdaten

321

Statistische Dokumente

Einen Einblick in die Vielfalt der in einem Planjahrfünft zu erfassenden bzw. erfaßten Kennziffern der D D R vermitteln die Direktiven der Parteitage der SED zum jeweiligen Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der D D R und die planmethodischen Dokumente „Ordnung der Planung der Volkswirtschaft der DDR" 1 3 3 sowie die „Rahmenrichtlinie für die Planung in den Kombinaten und Betrieben der Industrie und des Bauwesens" 134 . Diesen Unterlagen ist zu entnehmen, in welchen Bereichen der Volkswirtschaft welche Aufgabenkomplexe zu lösen, welche Kennziffern(-gruppen) nachzuweisen sind und damit — wenn erforderlich — vor Ort analysiert werden können. So werden z. B. folgende Kennziffern(gruppen) in den Planteilen erhoben: Planteil Materielles und kulturelles Lebensniveau der Bevölkerung: Materielle Arbeitsbedingungen (z. B. altersadäquate Arbeitsplätze), Arbeiterversorgung; Plan teil Sozialistische Rationalisierung, Wissenschaft und Technik: Schichtkoeffizient des Produktionspersonals, Beschäftigte für Forschung und Entwicklung, darunter Hoch- und Fachschulkader. Die Beschlüsse und Dokumente der SED und der Regierung der DDR 1 3 5 machen deutlich, welche der in den Berichterstattungen enthaltenen Kennziffern Paten je Person

Stammdaten

Lohndaten

SV-Daten

Leistungsdaten

•Abb. ¡6

Wohndaten

Personenbezogene Datengruppen Vgl. Anordnung über die Ordnung der Planung der Volkswirtschaft der D D R 1986 bis 1990 v. 1. Febr. 1985, in: Gesetzblatt der DDR (im folgenden GBl.), Teil 1, Sonderdruck Nr. 1190 a—r/1985. Vgl. Anordnung über die Rahmenrichtlinie für die Planung in den Kombinaten und Betrieben der Industrie und des Bauwesens v. 7. Dez. 1984, in: GBl., Teil 1, Sonderdruck Nr. 1191/1985. Vgl. Anordnung über Rechnungsführung und Statistik in den Betrieben und Kombinaten, in: GBl. Teil 1, Sonderdruck Nr. 800/1985; Anordnung über die Ordnungsmäßigkeit in Rechnungsführung und Statistik, in: GBl. Teil 1, Nr. 2/1976, S. 21—27.

322

Datenerhebung

nicht nur je Betrieb und Gemeinde, sondern auch personenbezogen erhoben werden (vgl. Abb. 16). Derzeit handelt es sich um die in Abbildung 16 dargestellten Gruppen personenbezogen erhobener Daten. In der Arbeitskräfterechnung — einem der zehn Sachgebiete von Rechnungsführung und Statistik — werden z. B. je Person unter anderem folgende Daten nachgewiesen: Stammdaten (darunter Familienstand, Geburtsdaten der Kinder, Allgemeinbildung, erworbener Beruf, Tätigkeit); Lohndaten (darunter Bruttound Nettolohn); Leistungsdaten (darunter Art, Menge und Qualität der geleisteten Arbeit, Erfüllung von Leistungskennzahlen). Die Kenntnis der dargestellten Hilfsmittel ermöglicht es, aus dem Angebot statistischer Dokumente jene auszuwählen, die dem Forschungsgegenstand entsprechen oder ihn tangieren, wobei konsequent die gesetzlichen Regelungen des Datenschutzes einzuhalten sind. Sicherheit darüber, ob der Inhalt des statistischen Dokuments den Aufwand seiner Beschaffung rechtfertigt oder nicht, kann erst die Einsichtnahme in die Statistik bzw. in die der Berichterstattung zugrunde liegenden Erhebungsunterlagen verschaffen. Bereits das unausgefullte Formblatt der Erhebung vermittelt, welche Kennziffern in welcher Struktur und über welchen Zeitraum vom Berichtspflichtigen erhoben werden. Die „Organisationsrichtlinie" bzw. die „Definitionen für Planung, Rechnungsführung und Statistik" 1 3 6 helfen, den Begriffsinhalt der Statistiken zu erschließen. Ein beachtlicher Teil der aggregierbaren Grundkennziffern aus den Belegen, Aufbereitungsnachweisen und Berichterstattungen der D D R wird in Informationsspeicher/Datenbanken eingegeben. Damit besteht die Möglichkeit, unter strikter Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen, vor allem folgende Informationsquellen zu nutzen: — Datenbanken des Informationssystems Wissenschaft und Technik; — Datenbanken auf dem Gebiet der Leitungs-, Informations- und Planungstätigkeit der zentralen Staatsorgane und der Räte der Bezirke. 137 Die Einsicht in die ihnen zugrunde liegenden Dateiverzeichnisse sowie die Nutzeroder Angebotskataloge etc. vermitteln einen Überblick zu den laufend aktualisiert eingespeicherten Daten und zu den Archivdaten der Datenbank. Einen Überblick über die Statistiken des Auslands bietet z. B. das vom Statistischen Amt der Vereinten Nationen herausgegebene „ Yearbook of Construction Statistics" und „World Statistics in brief". Die Beachtung von Sachregister, Inhaltsübersicht, Tabellenverzeichnis, Kapitelanmerkungen und Fußnoten führen den interessierten Nutzer — ähnlich wie bei der Nutzung nationaler statistischer 136

137

Vgl. Definitionen für Planung, Rechnungsführung und Statistik, Ausgabe 1983, Ministerrat der D D R . Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, (Hrsg.) Vgl. Anordnung zum koordinierten Aufbau von Datenbanken, in: GBl. Teil 1, Sonderdruck Nr. 1120/1983.

Statistische Dokumente

323

Jahrbücher — rasch an die erforderlichen Kennziffern heran und signalisieren ihm erste Anwendungsmöglichkeiten und Aussagegrenzen der betreffenden Statistiken. Arbeitsschritte bei der Analyse statistischer Dokumente für die soziologische Forschung Soziologische Forschung, welche die in statistischen Dokumenten enthaltenen Informationen verwerten will, hat vor allem die in der Abbildung 17 dargestellten Arbeitsschritte vor sich (vgl. Abb. 17). Ein Beispiel soll einige der dabei zu lösenden Probleme und nutzbare Potenzen dieser Methode aufzeigen.138 1. Um das Problem zu untersuchen, worin und warum sich der Leistungsstand von Erfindern verschiedener Struktureinheiten unterscheidet, sind drei Typen von aggregierbaren Daten notwendig: Leistungsdaten je Person, weitere subjektivpersönliche Leistungsvoraussetzungsdaten und objektive (äußere) Leistungsbedingungsdaten. Die theoretische Bestimmung des Gegenstandes der Analyse statistischer Dokumente führte unter anderem zur Ableitung der für die Bestimmung des Leistungsstandes der Erfinder erforderlichen Ausgangsgrößen: Umfang erfinderischer Leistungen je Person (zum Patent angemeldete Erfindungen ohne/ mit/vorläufig bzw. endgültig erteiltem Patent; Beteiligung am Zustandekommen der Erfindungen in Prozent), Niveau/gesellschaftliche Bedeutsamkeit erfinderischer Leistungen der Person (wissenschaftlich-technische Wertigkeit der Erfindungen: Variantenlösung, Weiterentwicklung, Wirkprinzip; ökonomische Wertigkeit der Erfindungen: Nutzen der Erfindungen in Mark etc.). In die Untersuchung dieser Personen wurden unter anderem die in der Abbildung 18 genannten Kennzifferngruppen einbezogen und verknüpft (vgl. Abb. 18). 2. Es folgt die Suche nach entsprechenden Datenträgern. Bezüglich der Leistungskennziffern waren unter anderem folgende Erhebungsunterlagen zu suchen: Jahresberichte Erfindertätigkeit, Antrag auf Erteilung eines Patentes, Prüfbescheid für die Erfindungsanmeldung, Patentregister, Versicherung der Wahrheit über die Urheberschaft an der Erfindung, Angabe des Ursprungsbetriebes zur technisch-ökonomischen Bewertung der Erfindung. Verallgemeinernd — auch für die Suche der Träger der beiden anderen Datenarten — können zwei Grundsätze zielstrebiger Suche festgehalten werden:

138

Bezüglich eines Beispiels aus der sozialstrukturellen Forschung wird verwiesen auf: D. Lindig, Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung von zentralen und betrieblichen Statistiken für die empirisch-soziologische Forschung, in: Informationen zur soziologischen Forschung in der DDR, 19/1983, S. 22—34.

22

Soziolog. Forschung

324

Datenerhebung

Soziologische

I

Aufgabenstellung

Untersuchungskonzept (,einschließlich Analyseprogramm)

2) Suche nach publizierten Daten \

Suchenach Berichterstattungen (Befragt ngert)

1 Suche nach 7ta^b Datenbanken

3)

Yoranalyse des sachlichen, methodischen Gehalts I Entscheidung gegen weitere Analyse

1 Entscheidung für weitere Analyse

I Beschaffung statistischer Dokumente

Erwirken des Datenbankzugriflfc *)

manuelle, mechanische Stkundärerfbssung des Dateqfbnds

mechanische Sekundärerfassung des Patent fbnds S)

Analyse des sachlichen, methodischen ßehalts der Daten

I S)

manuelle, mechanische Aufbereitung der Sekundärdatenj deren ßereitsteUung für die Auswertung Abb. 17 Arbeitsschritte bei der Analyse statistischer Dokumente — D i e Suche statistischer Daten ist rationell, wenn sie sich strikt am Untersuchungskonzept ausrichtet. — D e r Suchplan m u ß sich möglichst auf die Gesamtheit verfugbarer aktueller und archivierter D a t e n f o n d s erstrecken.

325

Statistische Dokumente

Auswahl Won Merkmalen / Merkmalskomplexen cfer Erfinder

Anzahl von Erfindungen im Bens/sieben

Alter Geschlecht Soziale Herkunft Familienstand Anzahl der Kinder im Haushalt Schulbildung Erworbene Berufe Erforderliche/Erreichte Qualifikation Bisherige/Gegenwärtige Tätigkeiten

Abb. 18 Kennziffernauswahl zur Untersuchung des Leistungsstandes von Erfindern

3. Die Auswahl statistischer Dokumente/Datenbanken bestimmt wesentlich das Verhältnis von Aufwand und Nutzen der Analyse ihrer Daten. Vergleiche und Gegenüberstellung der sachlichen, örtlichen und zeitlichen Merkmale (einschließlich Meßprozeduren) des statistischen Untersuchungsobjektes mit dem soziologischen Untersuchungsobjekt, Untersuchungsbereich etc. decken den Grad der Äquivalenz der vorgefundenen Kennziffern und definierten Kennzifferninhalte auf und machen auf Kombinationsmöglichkeiten sowie Informationslücken der Datenfonds aufmerksam. 4. Die Beschaffung der Patentstatistiken und der Zugriff zum Arbeitskräftedatenspeicher sowie die Erfassung (Entnahme etc.) der in ihnen enthaltenen Datenarten lassen für die Gestaltung dieses Arbeitsschrittes folgende Verallgemeinerungen zu: Gute organisatorisch-technische Planung, welche die Nutzung der institutionellen Gegebenheiten zur maschinellen Bereitstellung der Daten ebenso einschließt wie deren eigene manuelle Inbesitznahme, ist eine entscheidende Voraussetzung erfolgreichen und effektiven Beschaffens der notwendigen statistischen Materialien und Datenbasen. Das „Einsammeln" zusammengehöriger Einzelfeststellungen (Daten je Person etc.) aus verschiedenen Urbelegen und Datenbankbeständen verlangt die Miterfassung von Identifikationsmerkmalen personeller, betrieblicher, territorialer Art. Die Sicherung dieser Voraussetzungen sowie der zugehörigen bibliographischen Angaben bestimmen in hohem Maße die Qualität der weiteren sekundäranalytischen Arbeitsschritte. 5. Ob es sich um das Erfassen der in den statistischen Belegen enthaltenen Einzelfeststellungen oder um das Einsammeln von in statistischen Aufbereitungsnachweisen bereits aggregierten Daten handelt, stets ist die Analyse statistischen Materials in mehrfacher Hinsicht geprägt durch dessen Beschaffenheit, d. h. 22*

326

Datenerhebung

insbesondere durch die verwendeten Erhebungseinheiten, Erhebungsmerkmale und -verfahren. Hilfsmittel der Analyse sind Fragen wie z. B.: Handelt es sich um gleiche Einheiten (Erfinder oder/und Fälle ihrer Erfindungen), gleiche Merkmale der Einheiten? Inwieweit decken die vorhandenen statistischen Ergebnisse die Gesamtheit der soziologisch relevanten Einheiten und deren Merkmale ab? Welchen Grad begrifflicher Übereinstimmung der Einheiten, Merkmale gibt es? Welcher Art sind die Gemeinsamkeiten/Unterschiede zwischen geplanten Verfahren der Sekundäranalyse und der Art und Weise wie bei der statistischen Erhebung der Organe verfahren wurde? Die Beantwortung dieser und anderer Fragen nach dem Wert nutzbarer statistischer Quellen, d. h. nach ihrer Bedeutung fiir die Befriedigung aufgabenspezifischer soziologischer Informationsbedürfnisse, hat mitunter erhebliche Auswirkung auf die weitere Qualifizierung des Untersuchungskonzepts. 6. Die manuelle bzw. maschinelle Aufbereitung und weitere Auswertung der Daten erfolgt im wesentlichen nach den gleichen Verfahren und Grundsätzen wie bei der Aufbereitung direkt erhobener Daten. Das betrifft auch die Bearbeitung von Aggregatdaten aus den verschiedenen Darstellungsformen. Prinzipiell können Daten nur einwandfrei aggregiert werden, wenn sie ihrer Herkunft nach begrifflich und methodisch gleichartig sind. Analyse internationaler statistischer Dokumente im Dienst vergleichender soziologischer Forschung Die statistischen Unterlagen in den Mitgliedsländern des RGW, welche unter anderem zur zweiseitigen und mehrseitigen Analyse des Entwicklungsstandes und der Veränderung der Lebensbedingungen und Lebensweise der Bevölkerungsgruppen verfügbar sind, sind sehr vielfaltig. Dabei handelt es sich einerseits um soziologisch relevante Kennziffern aus der laufenden Statistik, aus einmaligen Erhebungen, Stichproben und Volkszählungen der betreffenden Länder; andererseits sind es schon vergleichbare Angaben in Statistischen Sammelbänden. Hierzu zählen außer dem Statistischen Jahrbuch des RGW auch die Ergebnisse der internationalen Vergleiche der wichtigsten Kennziffern zur Entwicklung der Volkswirtschaften der Mitgliedsländer des RGW nach Angaben von 1959, 1966, 1973, 1978 und 1983. Vereinheitlichte methodologische Erhebungsgrundlagen, wie das System der Hauptkennziffern der Sozialstatistik und die Methodologie ihrer Berechnung, werden auch in Zukunft den Kreis auswertbarer vergleichender Sozialkennziffern weiter erhöhen. Auf der Grundlage derartiger Standards durchgeführte bilaterale (z. B . t S S R und VR Ungarn 1981/82) und folgende multilaterale Vergleichserhebungen werden es erlauben, auch unter soziologischen Gesichtspunkten den Fragen nachzugehen, wie noch effektiver die nationalen Potentiale zur Durchsetzung jener Beschlüsse eingesetzt werden können, die auf den Wirtschaftsberatungen der Mitgliedsländer des RGW angenommen wurden.

Statistische Dokumente

327

Diesem Anliegen sind auch international vergleichende soziologische Forschungen sozialistischer Länder verpflichtet, so z. B. die Ende der 70er Jahre durchgeführte internationale Vergleichsforschung von Soziologen der VR Bulgarien, CSSR, D D R , VR Polen, UdSSR, VR Ungarn zum Thema „Die Annäherung der Arbeiterklasse und der Intelligenz im Entwicklungsprozeß der sozialen Struktur der sozialistischen Gesellschaft". Sie stützte sich unter anderem auf die vergleichende Analyse sekundär erschlossener Daten dieser Länder. Die Erfahrungen der Datengewinnung und -aufbereitung für den internationalen Vergleich verweisen insbesondere auf folgende Etappen der Vergleichsforschung: — Festlegen des Vergleichszieles; — Auswahl der zu vergleichenden Kennziffern. Die ausgewählten Merkmale sollten möglichst quantitativ meßbar und darstellbar sein und in den Statistiken der Länder enthalten sein; — Definition des Inhaltes der Kennziffern und Festlegen der Methoden des Vergleichs, der Umrechnungen, der Tabellenformblätter für die Aufnahme der Ausgangsdaten; — Datengewinnung aus den statistischen Quellen der Vergleichsländer; — Bestimmung des Vergleichbarkeitsgrades der aus den Statistiken entnommenen Daten (identische, analoge, unvergleichbare Kennziffern) und erforderlichenfalls Umrechnungen, Umgruppierungen etc. der Ausgangsdaten und — Analyse der Vergleichsergebnisse. Im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in der Organisation der Vereinten Nationen löst die D D R auf dem Gebiet von Rechnungsführung und Statistik ihre Verpflichtungen zur Weitergabe ausgewählter nationaler Daten ein. Die Kenntnis jener internationalen Statistiken, in die die DDR-Daten eingehen, erlaubt es, die im Querschnitt der D D R gewonnenen sozial-ökonomischen Daten im Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, Nationalem und Internationalem zu analysieren und zu werten. Der größte Teil der empirischen Basis zur offensiven, gründlichen und differenzierten ideologischen Auseinandersetzung beruht auf der Analyse — der amtlichen Statistiken des betreffenden Landes. In der BRD z. B. sind es die Zusammenfassenden Übersichten (Statistisches Jahrbuch für die BRD, Zahlenkompaß etc.) und 19 Fachserien; — der internationalen Vergleichsstatistiken. So z. B. ,Demographie indicators of countries" (UN, 1983), „Yearbook of Labour" (ILO, 1984), „Development of education in the least developed countries since 1970" (UNESCO, 1983), „World Health Statistics Annual" (WHO, 1984), „Social indicators for the European Community" (EG, 1984). Die solide Analyse dieser Statistiken ist „eine der mächtigsten Waffen der sozialen Erkenntnis" 1 3 9 . Zu berücksichtigen ist: Die nichtmarxistische Statistik befindet 139

W. I. Lenin, Das kapitalistische System der modernen Landwirtschaft, a. a. O., S. 444.

328

Datenerhebung

sich in einem Spannungsverhältnis von Politik, politischer Administration einerseits und wissenschaftlicher, objektiver Erhebung und Berichterstattung andererseits. Die Klassenfunktion dieser Statistik, d. h. ihr interner Beitrag zur Analysierbarkeit der Kapitalverwertung und Ableitung systemerhaltender politischer und ökonomischer Planungs- und Entscheidungshilfen sowie ihr externer Beitrag zur Verschleierung des Generalangriffs des Kapitals und Staates auf die soziale Lage der Arbeiterklasse, stellt an den Nutzer dieser Statistiken eine Reihe von Anforderungen. Dazu zählen: — Das Herausfinden jenes Kennziffernsystems, welches in der betreffenden Statistik den zu vergleichenden sozialen Sachverhalt charakterisieren soll. Prüfen, inwiefern durch die Auswahl dieser Kennziffern dessen We'sensbestimmung gewährleistet ist; — Das Herausarbeiten der Gewißheit über den Grad der Vergleichbarkeit der in der Statistik enthaltenen Begriffe und Daten. Dazu ist der Definition, Abgrenzung und Berechnungsmethodik der Kennziffern sowie der Art ihrer Erhebung nachzugehen. In nicht wenigen Fällen wird bei derartiger Vorgehensweise vor allem die Theorielosigkeit eines großen Teils nichtmarxistischer Statistiken deutlich. So führte z. B. das Fehlen eines einheitlichen theoretischen Erklärungsmodells „sozialen Wandels" zu einer Reihe nebeneinander stehender Systeme sozialer Indikatoren (der OECD, EG etc.), die sich sowohl hinsichtlich der Zielbereiche als auch hinsichtlich der ausgewählten Indikatoren zum Teil erheblich voneinander unterscheiden. Wesentliche Differenzen zwischen sozialistischen und kapitalistischen Ländern in der theoretischen Begriffsbestimmung wichtiger sozialer und ökonomischer Erscheinungen, andersartige Berechnungsmethodiken und Gruppierungen von Kennziffern etc. erschweren in vielen Fällen die internationale Vergleichsanalyse der Kennziffern von Ländern unterschiedlicher Gesellschaftssysteme. Ist ein Vergleich von Kennziffern aus der Bevölkerungsstatistik (z.B. zur durchschnittlichen Lebenserwartung von Männer/Frauen) noch am ehesten möglich, weil z. B. der Sterbetafel ein allgemein akzeptierter, verbindlich definierter Aufbau zugrunde liegt, so bereitet ein Vergleich von Kennziffern aus der Arbeitskräftestatistik (z. B. Vergleich bestimmter Kategorien von Fachschul- und Hochschulabsolventen in der D D R und BRD) erhebliche Schwierigkeiten. Die Vielfalt und Kompliziertheit der theoretischen und methodischen Probleme der internationalen Vergleichsanalyse und die Unterschiedlichkeit der sozialen Inhalte führen auch dazu, daß nichtmarxistische Statistiken analysiert werden, ohne ihnen Vergleichsdaten aus der D D R gegenüberzustellen. Wie diese Anwendungsform für die ideologische Auseinandersetzung genutzt werden kann, sei an einem Beispiel verdeutlicht. Welche Möglichkeiten bietet z. B. die Analyse statistischer Dokumente der BRD/Westberlins, um die zur Begründung der Notwendigkeit des Sozialabbaus unterstellte konservative These zu prüfen, es gäbe in der BRD

329

Statistische Dokumente

einen zunehmend gleichen Wohlstand der Menschen, der zum Verfall ihres Leistungswillens führe? 140 Aus marxistischer Sicht ist die Krise der Existenz- und Verwertungsbedingungen des Kapitals eine der wesentlichen objektiven Hintergründe für die Rechtfertigung des konservativen sozialpolitischen Konzepts des radikalen Abbaus des Sozialsystems der BRD. Die Sekundäranalyse amtlicher Statistiken der BRD des Zeitraumes 1977 bis 1984 bestätigt das Vorliegen vielfaltiger Krisenprozesse in diesem Land (unter anderem Instabilität des Preisniveaus, zunehmende Arbeitslosigkeit).141 Bereits die Konzentration der weitgehenden Analyse dieser Statistiken auf einen Aspekt — das Einkommen privater Haushalte sozialer Gruppen — läßt erkennen, daß im untersuchten Zeitraum von einer zunehmenden sozialen Gleichheit keine Rede sein kann 142 (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Einkommen je Haushalt sozialer Gruppen relative Veränderung des Einkommens je privaten Haushalt von 1982 bis 1983

um Prozent

prozentuale Größe des Einkommens je privaten Haushalt sozialer Gruppen im Vergleich mit dem Einkommen je Haushalt der Selbständigen (Einkommen je HH. der Selbständigen = 100%) 1972

1982

1983

Prozent Selbständige Beamte Landwirte Angestellte Arbeiter Rentner u. Pensionäre Arbeitslose 140

+ + + + +

7,0 2,5 7,1 2,9 2,4 1,4

-0,8









46,1 46,6 44,1 33,9 25,1

46,1 42,5 42,4 33,8 25,3

44,2 36,9 40,7 32,3 24,0

22,5

19,3

17,9

Vgl. Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände: Fortschritt aus Idee und Leistung. Gesellschaftspolitische Grundsatzerklärung der Deutschen Arbeitgeberverbände 1975, , o. O. 1975, S. 1 1 - 9 3 . 141 Die Wertung gründet sich auf die Sekundäranalyse folgender amtlicher Statistiken der BRD: Preise, Fachserie 17, Reihe 7. Preise und Preisindizes für die Lebenshaltung. Eilbericht, Statistisches Bundesamt Wiesbaden (Hrsg.), Stuttgart-Mainz 1984, S. 3; Die wirtschaftliche Lage in der BRD. Monatsberichte August der Jahre 1977—1984, Bundesminister für Wirtschaft (Hrsg.), Statistische Beihefte zu den Monatsberichten der Bundesbank, Reihe 4 Saisonbereinigte Wirtschaftszahlen, 1/1985, S. 2/3. 142 Berechnet nach K. Schüler, Einkommensverteilung nach Haushaltsgruppen, in: Wirtschaft und Statistik, 7/1984, S. 574/575.

330

Datenerhebung

Vielmehr werden die Selbständigen immer reicher und die Arbeiter — bedenkt man, daß ihr Lohn infolge des Preisanstieges und der Belastung mit Steuern und Abgaben zusätzlich schrumpft — immer ärmer. War 1972 das Jahreseinkommen der Haushalte der Selbständigen bereits 2,9mal so hoch wie das der Haushalte der Arbeiter, so waren es 1983 bereits 3,1 mal so viel. Diese Daten widerlegen die These von einer zunehmenden Gleichheit des Wohlstandes und machen auch die Vertiefung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit deutlich.

3.3. Spezielle Untersuchungsformen 3.3.1. Fallstudien Fallstudien sind in den letzten Jahren zu Unrecht relativ selten als methodischer Ansatz zur Gewinnung von Erkenntnissen in der Soziologie der DDR eingesetzt worden. Erhebungsformen, die sich auf hinlänglich große, repräsentative Auswahlen stützten und sichere Schlüsse auf große Grundgesamteinheiten zuließen, boten imponierende Datenmassen und deckten statistische Gesetzmäßigkeiten auf. Fallstudien erschienen dann manchen vielleicht sogar als verschämtes Eingeständnis des Unvermögens, Erhebungen bei einer großen Auswahl durchzuführen. Sicher ist, daß Fallstudien in ihren Erkenntnismöglichkeiten nicht als Alternative zu soziologischen Massenerhebungen verstanden werden dürfen und diese ersetzen können. Fallstudien müssen mit ihrer spezifischen Leistungsfähigkeit aber auch mit ihren Grenzen als einer der Wege zur soziologischen Erkenntnisgewinnung betrachtet und mit methodischem Verständnis richtig und zweckmäßig eingesetzt werden. Als Analyseeinheit werden bei Fallstudien oft nur Einzelpersonen angesehen, Sachverhalte auf der Ebene der Persönlichkeit. In Wirklichkeit ist das Spektrum größer. Analyseeinheiten können sein: — Verhaltenssegmente einer Persönlichkeit bzw. Verhaltensweisen der Persönlichkeit in bestimmten Situationen; — Entwicklungsabschnitte bzw. die Gesamtentwicklung einer Persönlichkeit, ihre Biographie; — soziale Beziehungen in der Familie, in Kleingruppen und die Entwicklung von Kleingruppen; — Struktur und Arbeitsweise sowie Entwicklung von Organisationen sowie von Institutionen; — Struktur und Entwicklung von sozialen Beziehungen in territorialen Einheiten, so in einer Gemeinde, einem Stadtteil, in einer Großstadt und in Landesteilen; — soziale Prozesse auf der Ebene der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, z. B. bestimmte geschichtliche Prozesse oder politische Ereignisse in einem begrenzten Zeitabschnitt in ihren sozialen Zusammenhängen und Auswirkungen.

Fallstudien

331

Es sei hier bemerkt, daß es problematisch ist, den Begriff der Fallstudie im soziologischen Sinn auf geschichtliche Darstellungen zu beziehen, da die Betonung der Einmaligkeit jedes geschichtlichen Ereignisses in die Nähe einer idiographischen Betrachtungsweise fuhren könnte, die individualisierend das Besondere in den Mittelpunkt rückt. Wie zeitgeschichtliche Analysen das Besondere des Vorgangs mit weitreichenden theoretischen Verallgemeinerungen verbinden können, zeigen neben vielen anderen Schriften von Marx seine Arbeiten: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" und „Der Bürgerkrieg in Frankreich" 143 . Es sind glänzende Beispiele leidenschaftlicher revolutionärer Parteinahme und präziser historischer und soziologischer Analysen der Klassenkräfte und der handelnden Personen. Am häufigsten ist wohl die Anwendung von Fallanalysen auf der Ebene der Persönlichkeit und der Kleingruppen. Beispielsweise können veränderte Bedingungen und Verhaltensweisen an einzelnen modernisierten Arbeitsplätzen oder im Bereich einer Brigade zunächst durch teilnehmende Beobachtung (vgl. Abschnitt 3.2.1.) in einer geringen Zahl von Fällen erkundet werden, ehe man zu größeren standardisierten Erhebungen übergeht. Eine sehr große Rolle spielen Fallstudien auch bei biographischen Erhebungen. Diese werden oft eigenständig unter dem Namen „biographische Methode" geführt (vgl. Abschnitt 3.2.3.). Die Fallstudie (im Englischen: case study) soll hier vor allem einen genauen Einblick in das Zusammenwirken vieler Faktoren geben, die den Lebensweg oder einen bestimmten Entwicklungsabschnitt einer Persönlichkeit bestimmen. Begünstigender Umstand für biographisch orientierte Fallstudien ist die Tatsache, daß von anderen Disziplinen und von vielen Praxisinstitutionen eine Fülle von Material produziert wird, das wissenschaftlich nutzbar ist. Wir nennen hier, ohne hinsichtlich des internen Charakters des Materials zu differenzieren: Krankengeschichten in der Medizin und speziell auch in der Psychiatrie, Kaderakten und pädagogische Tagebücher und anderes Material in verschiedenen Bildungseinrichtungen, Gerichtsakten sowie persönliche Dokumente (z. B. Briefe), Biographien und Autobiographien. Biographisches Material wird vielfach auch in der schöngeistigen Literatur oder in Dokumentarfilmen — verwiesen sei lediglich auf den DEFA-Film „Lebensläufe" — verarbeitet. Historische, literarische und soziologische biographische Arbeiten haben viele Berührungspunkte. 144 Bisweilen werden 143

144

Vgl. K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, Berlin 1960, S. 1 1 1 - 2 0 7 ; K. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW, Bd. 17, Berlin 1962, S. 313— 365. Interessant in dieser Hinsicht beispielsweise ein Vergleich dreier Biographien: E. W. Tarle, Napoleon, Leipzig 1961; J. Massin, Robespierre, Berlin 1963; St. Zweig, Joseph Fouche. Bildnis eines politischen Menschen, Wien 1938, Nachdruck Berlin 1982. Zwei Historiker und ein Schriftsteller geben hier jeweils eine Darstellung von großer Authentizität und hohem wissenschaftlichem Rang.

332

Datenerhebung

von Schriftstellern autobiographische Aussagen protokolliert. 145 Für die Darstellung des Alltags in früheren Perioden mußte oft in Ermangelung systematischer Quellen auf Tagebücher, Reiseberichte und biographische Darstellungen zurückgegriffen werden, um beispielsweise Ernährungs- und Kleidungsgewohnheiten, die Ausstattung von Haushalten und andere alltägliche Sachverhalte darstellen zu können, die der offiziellen Wissenschaft jener Zeit zu trivial erschienen, um erfaßt zu werden. 146 Insgesamt haben Fallstudien ein so breites Spektrum von Anwendungsmöglichkeiten, daß es schwierig ist, für alle Arten von Fallstudien gültige Regeln zu formulieren.147 Fest steht folgendes: Während bei Repräsentativerhebungen die Untersuchungseinheiten durch statistisch gesicherte Auswahlverfahren bestimmt sind und das einzelne Objekt in Meßdimensionen zerlegt wird, um vor allem quantifizierbare Angaben zu erhalten, erfordern Fallstudien allgemeiner formulierte Zielstellungen. Die Erhebungen sind meist wenig oder gar nicht standardisiert, die Auswahl der „Fälle" sollte jedoch theoretisch fundiert sein und auf die Analyse bestimmter typischer Fälle orientieren.148 Für die Problemsicht bei soziologischen Fallstudien müssen folgende Gesichtspunkte geltend gemacht werden: — Die Analyseeinheit wird als Ganzes betrachtet, in ihren Strukturen und ihrer Entwicklung. Damit wird die künstliche Zerlegung in Meßdimensionen und das isolierte Erfassen einzelner Merkmalsausprägungen vermieden.149 — Die Analyseeinheit wird im Zusammenhang mit ihrer Umwelt, mit den sie determinierenden Faktoren betrachtet; der Variationsbreite unterschiedlicher Bedingungen im natürlichen Umfeld kann Rechnung getragen werden. 145

146

147

148

149

Zwei Beispiele sollen genannt werden: W. Noa, Leben in Preußen. 7 Portraits, Berlin—Weimar 1983; E. Runge, Frauen. Versuche zur Emanzipation, Frankfurt a. M. 1969. Beide Autoren protokollieren wörtlich autobiographische Berichte der Porträtierten. Als Beispiel sei genannt: J. Kuczynski, Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Studie 2 1650—1810, Berlin 1981. Auf den Seiten 265—308 werden Ernährungssituation, Kleidung und Wohnsituation dargestellt. Vgl. H. Berger, Fallstudie, in: Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, 2., Überarb. Aufl., Berlin 1977, S. 176/177. > Ein Beispiel bietet Gerda Jun, die fachärztlichen Erläuterungen über Arten frühkindlicher Hirnschädigung einen Abschnitt „Elternreport" mit elf Berichten von Eltern (oder eines Elternteils) über ihr geschädigtes Kind und eine kurze Diagnose voranstellt. Die populärwissenschaftliche Sachinformation wird so mit emotional ansprechenden persönlichen Berichten „zum Fall" verbunden (G. Jun, Kinder, die anders sind, Berlin 1983). Ein anderes Beispiel bietet R. Werner. Er behandelt in dem Abschnitt „Verhaltensmuster auffälliger Familien" fünf Familientypen und flicht Fallbeispiele in die Darstellung ein (R. Werner, Problemfamilien-Familienprobleme. Gefährdete im Prisma sozialer Konflikte, Berlin 1978, S. 79—191). Vgl. M. Häder, Erkenntnismöglichkeiten einiger komplexer Erhebungsmethoden, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1983, Berlin 1983, S. 184—197.

Fallstudien

333

— Um diese Möglichkeiten zu nutzen, muß bereits im Ansatz auf solche Fragen verzichtet werden, die den Blick auf ganz bestimmte Seiten des Sachverhalts einengen, „vielmehr sind komplexere Problemstellungen aufzuwerfen, die es ermöglichen, das ausgewählte Untersuchungsobjekt als Ganzes zu behandeln" 1 5 0 . — Der Grad der Standardisierung und Formalisierung der Erhebungsinstrumente wird im allgemeinen niedrig sein, da bei der geringen Zahl der Fälle, die durch Standardisierung verbesserten Vergleichsmöglichkeiten, wegen der fehlenden Möglichkeit, von den untersuchten Fällen zuverlässig auf größere Gesamtheiten zu schließen, keinen Nutzen bringen. — Dem Ideenreichtum des Forschers ist, wie bei allen qualitativen Erhebungsformen, größerer Raum gegeben. Das betrifft sowohl die Wahl und Kombination der Erhebungsmethoden wie auch die Form der Darstellung. Damit müssen allerdings auch die Ansprüche an die Objektivität (im Sinn des Gütekriteriums) wie auch an Zuverlässigkeit und Validität vermindert werden. — Die größere Variabilität des Forschers ermöglicht auch größere Detailtreue und ein wesentlich besseres Eingehen auf die Spezifik des Falles. Dies ist wohl der größte Gewinn bei Fallstudien. Bei Fallstudien tauscht der Forscher gewissermaßen Genauigkeit und Komplexität gegen Repräsentativität ein. Wer soziologische Erhebungsmethoden nur danach bewertet, inwiefern dadurch statistische Gesetzmäßigkeiten erkannt werden können und mit welcher Sicherheit man von einer Auswahl auf eine große Grundgesamtheit schließen kann, wird Fallstudien keine große Bedeutung beimessen; wer jedoch den soziologischen Erkenntnisprozeß im größeren Zusammenhang sieht und darauf bedacht ist, die unvermeidbaren Mängel einzelner Erhebungsformen durch eine geschickte Methodenkombination auszugleichen, wird Fallstudien sehr vielseitig einsetzen und ihre Vorzüge als komplexe Erhebungsmethodik zur Geltung bringen (vgl. Abb. 19). Welche Funktion können Fallstudien im soziologischen Erkenntnisprozeß haben? Wann und wie werden sie zweckmäßig eingesetzt? 1. Fallstudien können der Erkundung und Hypothesenbildung dienen. Durch vorbereitende Fallstudien können Bedingungen, Mechanismen und Zusammenhänge des Untersuchungsgegenstandes deutlich gemacht werden. Das kann die Hypothesenbildung, die Wahl von Erhebungsmethoden und die Konstruktion von Erhebungsinstrumenten für Erhebungen bei repräsentativen Auswahlen unterstützen. 2. Fallstudien können als Haupterhebungsmethode dienen, wenn durch eine hinlänglich entwickelte Theorie über den Untersuchungsgegenstand und durch vorausgegangene Massenerhebungen eine genaue Typologie entwickelt wurde, die es ermöglicht, zur gründlichen Analyse von typischen Fällen überzugehen und so eine 150

Ebenda, S. 191.

334 Vorzüge — Ganzheitliche Betrachtung des Sachverhalts — Keine Isolierung des Sachverhalts von den Bedingungen — Tiefe, Gründlichkeit (Komplexität) der Analyse — Große Anschaulichkeit der Darstellung (besonders zur Illustration quantitativer Analysen) — Große Möglichkeit in der qualitativen Analyse, die Vorzüge des Forschers zur Geltung zu bringen — Möglichkeit, eine Typologie in den Fällen darzustellen — Relativ viel Material für Fallstudien in anderen Disziplinen (z. B. Medizin, Pädagogik usw.) und in persönlichen Dokumenten vorhanden — Fallstudien sind oft der einzige Zugang zu vergangenen Perioden mit lückenhafter Dokumentation (z. B. zum Alltag in früheren Perioden) — Fallstudien sind oft die einzige Möglichkeit, um neue soziale Erscheinungen („Vorausphänomene"), die noch nicht massenhaft auftreten, zu untersuchen und Prognosen abzuleiten — Alle Erhebungstechniken sind einsetzbar und kombinierbar — Fallstudien eignen sich als Ergänzungsmethode (z. B. zur Vertiefung und Veranschaulichung quantitativer Ergebnisse) in komplexen Erhebungen.

Datenerhebung Nachteile (Grenzen, erschwerende Bedingungen) — Keine statistisch begründete Auswahl der „Fälle", kein statistisch zu sichernder Schluß auf eine große Grundgesamtheit — Relativ geringe Objektivität — Geringer Grad der Standardisierung und Formalisierung — Geringe Vergleichbarkeit der Fälle in quantitativer Hinsicht — Relativ hoher Forschungsaufwand bei der Beschaffung von Dokumenten, bei teilnehmenden Beobachtungen und wiederholten Befragungen — Notwendigkeit umfangreicher theoretischer Vorarbeiten bei der Bestimmung einer Typologie ; hohe Sachkenntnis des Forschers nötig — Möglichkeit des Mißbrauchs von Fallstudien als Beweismittel, indem von zufalligen untypischen Erscheinungen auf ganze Klassen von Sachverhalten geschlossen wird; durch die „Farbigkeit" und „Lebendigkeit" der Darstellung kann der Gesamteindruck bei Methodenkombinationen zu Ungunsten statistisch repräsentativer Ergebnisse verzerrt werden.

Abb. 19 Vorzüge und Nachteile von Fallstudien

Vertiefung des theoretischen Wissens zu erreichen.151 Das Wissen um die am häufigsten vorkommenden Konfigurationen ermöglicht es, typische Fälle zu bestimmen und tiefergehend zu analysieren. Fallstudien setzen jedoch auch qualifizierte, selbständig arbeitende Forscher oder Erhebungsfachleute voraus. Unerfahrene, ständig auf Anleitung und Wei151

Vgl. Ebenda, S. 188.

Fallstudien

335

sung bedachte, oder an einem konstruktiven Ergebnis nicht interessierte „Erheber", werden in Fallstudien wenig neues Material entdecken oder sogar falsche Ergebnisse liefern. Fallstudien sind z. B. bei fehlenden Mitteln für die Rechnerkosten keine Verlegenheitslösung, kein „kurzer Weg" zu neuen Erkenntnissen, sie sind im Gegenteil sehr arbeits- und qualifikationsintensiv, sie erfordern gründliche Vorbereitung, und die Ergebnisse entschädigen nur dann für die bei quantitativen Methoden imponierenden Datenmassen, wenn die Fallstudien auch qualifiziert ausgewertet und die Ergebnisse in den vorhandenen theoretischen Bezugsrahmen eingebaut werden können. 3. Fallstudien können als Hauptmethode speziell auch als Grundlage für prognostische Aussagen dienen, wenn „Vorausgruppen" bzw. „Vorausbedingungen" analysiert wurden. Aber hier ist zunächst der Nachweis erforderlich, daß bestimmte Personen oder Personengruppen, bestimmte Bedingungen, die heute nur selten anzutreffen sind, morgen für größere Personengruppen oder Bereiche Gültigkeit haben werden. Fallstudien können dann an diesen „Vorausgruppen" wie an einem Modell heute schon die Bedingungen analysieren, die erst morgen in Massenerhebungen untersucht werden können. 4. Fallstudien sind außerordentlich fruchtbar bei Ergänzungsuntersuchungen nach Massenerhebungen. Eine große Befragung in einem Kombinat kann z. B. ergeben, daß ein Bereich extrem positive, ein anderer extrem negative Ergebnisse aufweist. Fallstudien in diesen beiden konstrastierenden Bereichen können nicht nur die spezifischen Ursachen erhellen, sondern auch verallgemeinerungswürdige Ergebnisse über bestimmte fordernde oder hemmende Faktoren erbringen. 5. Fallstudien dienen in größeren Untersuchungen vielfach der Illustration bestimmter Ergebnisse. So wird z. B. an der „kriminellen Karriere" eines mehrfachen Gesetzesverletzers wie in einem Brennglas das Zusammenwirken bestimmter Bedingungen und Persönlichkeitseigenschaften deutlich. Es muß aber eben gesichert werden, „daß der in die Untersuchung eingehende F a l l . . . ein typischer Repräsentant einer ganzen Klasse von sozialen Erscheinungen ist" 152 . In methodischen Arbeiten und soziologischen Wörterbüchern werden Fallstudien bisweilen unter der Überschrift „Einzelfallstudien" behandelt. 153 Einen einzigen Fall zu untersuchen ist weder Bedingung, noch typisch für Fallstudien. Meist wird versucht, in mehreren Fällen bestimmte Typen zu erfassen und damit die Einsichten in unterschiedliche Mechanismen sozialer Vorgänge anhand dieser „Modelle" zu vertiefen. Hader betont, daß man bei der Definition der als Fall zu betrachtenden Einheit vom Forschungskonzept ausgehen und aus methodischer Sicht zumindest zwei Aspekte beachten muß: 152 153

Ebenda. Vgl. H. v. Alemann/P. Ortlieb, Die Einzelfallstudie, in: J. v. Koolwijk/M. Wieken-Mayser (Hrsg.), Techniken der empirischen Sozialforschung, Bd. 2, a. a. O., S. 157—177.

336

Datenerhebung

„1. Die als Fall untersuchten Einheiten müssen so weit gefaßt werden, daß alle wesentlichen Bestimmungsgrößen in die Analyse eingehen. 2. Die Fälle müssen überschaubar bleiben, damit eine komplexe Erhebung, d. h. der Einsatz verschiedener Methoden, möglich ist." 154 Bei Fallstudien können alle Methoden und Techniken der Datengewinnung angewendet werden: Befragungen, speziell auch Tiefeninterviews, Dokumentenanalyse, darunter auch Analyse biographischer Daten und Beobachtungen, vielfach ist es die Form der teilnehmenden Beobachtung. Die Wahl der Erhebungsmethode hängt natürlich von der Art der Objekte ab, vom Charakter des zu untersuchenden Problems, von den materiellen, zeitlichen und personellen Möglichkeiten der Forschungsgruppe und insgesamt von der Forschungsstrategie. In diesem Zusammenhang sollen noch einige Bemerkungen zu Methoden gemacht werden, die sowohl bei Fallstudien, aber auch bei anderen Erhebungsformen eingesetzt werden und eine übergreifende Betrachtung erfordern. Zunächst einige Überlegungen zur biographischen Methode. Die biographische Methode war in ihren Anfangen vor allem eine Form der Dokumentenanalyse. Wir haben sie deshalb auch im Abschnitt 3.2.3. behandelt. In jüngster Zeit werden häufiger Lebensberichte und biographische Darstellungen veröffentlicht, die auf nichtstandardisierten Interviews, auf biographischem Erzählen und damit auf der Erinnerung und der subjektiven Reflexion beruhen. Wir verwiesen eingangs dieses Abschnitts auf Beispiele. Durch diese Formen der biographischen Methode wurde ein Zugang zum Leben von werktätigen Menschen, von Angehörigen solcher sozialer Schichten gefunden, die in der Regel nicht zur Feder greifen, um ihre Autobiographie zu schreiben. Nicht nur objektive, sondern auch subjektive Seiten gilt es zu erfassen, d. h. die subjektive Sicht der Menschen auf ihr Leben und ihre Lebensperspektive. Schließlich muß die historische Dimension über die Darstellung des individuellen Schicksals sichtbar werden. Die biographische Methode sollte in der Soziologie der 20er Jahre nach der Absicht von Thomas und Znaniecki ein höheres Maß an Authentizität und Lebensnähe haben als die standardisierten Formen der Massenerhebungen. Tatsächlich hatte die biographische Methode auf der Basis der Dokumentenanalyse nie die Spur einer Chance, mit dem Siegeszug der Befragung zu konkurrieren, die sich auf die Entwicklung der Stichprobentheorie und speziell in der Umfrageforschung auf die Möglichkeiten der modernen (später elektronischen) Datenverarbeitung und der mathematischen Statistik stützen konnte. Mit der Diskussion um die Grenzen und Schwächen standardisierter quantifizierender Erhebungen, besonders um die Künstlichkeit und Reaktivität des standardisierten Interviews, kam mit der Empfehlung qualitativer Methoden, unter anderem auch von Fallstudien, der biographische Ansatz wieder stärker ins Gespräch. Dabei spielten 154

M. Häder, Erkenntnismöglichkeiten einiger komplexer Erhebungsmethoden, a. a. O., S. 189.

Fallstudien

337

auch die modernen Möglichkeiten der Gesprächsaufzeichnung (Tonband, Kassettenrekorder) eine Rolle. In der Regel bleiben biographische Erhebungen lediglich Fallstudien mit dem Ziel, das Wechselverhältnis von Individuum und Gesellschaft im Ausschnitt des individuellen Schicksals einzufangen und exemplarisch darzustellen. Eine stärker auf quantifizierende Darstellung und damit auch auf statistische Repräsentanz abzielende Form ist die Lebenslaufforschung. Die theoretisch konzipierte empirische Analyse von Lebensläufen, einzelnen Lebensabschnitten, Lebenslaufstrukturen und typischen Sequenzen dient der Erkenntnis von Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten der konkreten Verflechtung von gesamtgesellschaftlicher und individualtypischer Entwicklung, von historischen und biographischen Ereignissen. Unterschiedliche Methoden der Datengewinnung kommen dabei zum Einsatz, so die erzählte Lebensgeschichte. Das narrative Interview zielt darauf, den Interviewten zu einer erzählenden Darstellung seines Lebens bzw. bestimmter Lebensabschnitte zu bringen und dabei besonders auf die subjektive Brechung gesellschaftlicher Ereignisse und Bedingungen im Bewußtsein des Befragten zu achten und seine gegenwärtigen Werte und Orientierungen als komplexes Entwicklungsprodukt zu verstehen. Die geschriebene Lebensgeschichte — ähnlich wie die erzählte — beruht auf einem Rückblick, kann jedoch auch erlebnisbegleitend geschriebene Darstellungen erfassen. Da es sich bei dem Material zunächst nur um Fallstudien handelt, wird in einem längerfristigen Ansatz versucht, bei einer ganzen Gruppe von Personen solche Niederschriften in Auftrag zu geben. Der Rücklauf des Materials erfordert natürlich Zeit, außerdem können systematische Verzerrungen nicht ausgeschlossen werden. Die Kohortenanalyse, speziell die Entwicklung von Kohortenporträts, zielt auf das Erfassen des Lebensweges oder einzelner Lebensabschnitte von einigen Jahrgängen, die unter gleichen bzw. ähnlichen geschichtlichen Bedingungen aufwuchsen bzw. bestimmte Lebenssituationen bewältigen; und sie wird in der Regel auch eine Homogenität bei weiteren Merkmalen anstreben. Das Ergebnis des Vergleichs ist eine kohortenspezifische Terminisierung des Lebenslaufs. Dabei können auch graphische Darstellungsformen gewählt werden, in denen in Form von Kurvenscharen die Parallelität bestimmter Ereignisse und Sequenzen sichtbar wird. Die Entwicklung umfassender Kohortenporträts beruht dann bereits auf statistisch begründeten Stichproben. Die Daten sind in Form von Zeitreihen modernen mathematisch-statistischen Auswertungsverfahren zugänglich. Ein spezielles Problem ist dabei die statistische Trennung von Alters-, Kohorten- und Periodeneffekten. Dieser Übergang von einzelnen biographischen Fallstudien zur statistisch begründeten Analyse des Lebensverlaufs von bestimmten Kohorten zeigt zugleich

338

Datenerhebung

spezifische Möglichkeiten von qualitativen und quantitativen Erhebungs- und Auswertungsformen sowie die Übergänge und Verbindungen zwischen beiden. Die stärkere Nutzung biographischen Materials, der Einsatz von biographischen Methoden und Methoden der Lebenslaufforschung in verschiedenen Formen, von der Fallstudie bis zu computergezeichneten Diagrammen bestimmter Alterskohorten, hatte eine Reihe von theoretischen Vorleistungen zur Voraussetzung. Wir nennen: 1. Die Erkenntnis, daß die Persönlichkeit zwar durch die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend bestimmt wird, daß sie aber zugleich auch eine eigene Struktur besitzt, die kein direktes Äquivalent in den gesellschaftlichen Verhältnissen hat. Sie muß als eigene Qualität erfaßt und darf nicht lediglich auf ein Klassenwesen reduziert werden, und zugleich müssen die objektiv gegebenen gesellschaftlichen Tätigkeitsmuster in der Ebene des Individualverhaltens aufgesucht werden. 2. Wichtig war weiter die Überwindung des veralteten entwicklungspsychologischen Paradigmas, daß die menschliche Entwicklung mit dem Erreichen des Erwachsenenalters abgeschlossen sei und daß der Erwachsene lediglich das anwende, was er in der primären Sozialisation erlernt habe. Der Mensch entwickelt und verändert sich in allen Lebensphasen, und zugleich bestehen gesellschaftliche Muster für die verschiedenen Lebensphasen, für Übergänge und typische Situationen. Diese gilt es durch biographische Methoden aufzusuchen. 3. Schließlich hat die soziologische Forschung dem Alltäglichen mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Konkrete Lebensprobleme wurden aufgegriffen und dabei speziell nicht nur die objektive Situation, sondern auch die subjektive Reflexion der Lebensbedingungen stärker beachtet. Wie sich diese Bedingungen im Bewußtsein des einzelnen Menschen niederschlagen, wie sie im realen Lebensvollzug zur Triebkraft des Handelns werden, ist gerade durch biographische Methoden und speziell auch durch Fallstudien häufiger zum Gegenstand soziologischer Analysen geworden. 155 155

Für die Überlegungen zur biographischen Methode und zur Lebenslaufforschung wurden Vorarbeiten von K. Mühler benutzt: K. Mühler, Subjektive Sozialindikatoren und Lebenslaufforschung — Methodologische und methodische Probleme, in: Beiträge zu einem System subjektiver Sozialindikatoren, Leipzig 1982 (Forschungsbericht der KMU Leipzig, WB Soziologie, Manuskriptdruck); K. Mühler, Lebenslaufforschung — ein methodologisch-methodisches Konzept, a. a. O. Weiter soll auf folgende Literatur verwiesen werden: P. Alheit/B. Dausien, Arbeitsleben. Eine qualitative Untersuchung von Arbeiterlebensgeschichten, Frankfurt a. M. —New York 1985; H. P. Bahrdt, Erzählte Lebensgeschichten von Arbeitern, in: Arbeitssituation, Lebenslage und Konfliktpotential. Festschrift für M. E. Graf zu Solms-Roedelheim zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M.—Köln 1975, S. 9—37; M. Kohli (Hrsg.), Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt—Neuwied 1978; M. Kohli, Wie es zur biographischen Methode kam und was daraus geworden ist, in: Zeitschrift für Soziologie, 3/1981, S. 273—293; A. Kretzschmar, Soziale Unterschiede — unterschiedliche Persönlichkeiten?, Berlin 1985; W.Müller,

Gruppendiskussion

339

3.3.2. Gruppendiskussion Die Gruppendiskussion ist eine Form der nichtstandardisierten Befragung von mehreren Teilnehmern in Verbindung mit ihrer Beobachtung durch den Gesprächsleiter. „Auf der Grundlage eines Leitfadens wird mit einer kleinen Gruppe ein gezieltes Gespräch über einen soziologisch interessierenden sozialen Sachverhalt geführt." 156 Die Gruppendiskussion ist in der Regel jedoch keine gruppenanalytische Methode, sondern ein sehr rationeller Weg, um in kurzer Zeit einen Überblick über die Variationsbreite und Verteilung von Meinungen sowie die Mechanismen der Meinungsbildung zu erhalten. Sie ist nicht nur für den forschenden Soziologen, sondern auch für Leiter, Funktionäre, Lehrer und andere für soziale Prozesse Verantwortliche eine rationelle Methode der Informationsgewinnung. Die Gruppendiskussion kann in allen Phasen des soziologischen Forschungsprozesses eingesetzt werden. In der Vorbereitungsphase für eine größere repräsentative Erhebung zeigen Gruppendiskussionen Problemfelder und sind für die Indikatorformulierung sowie für das Verständnis von Hintergründen der Meinungsbildung wichtig. Bei Nachuntersuchungen werden Gruppendiskussionen zur Erklärung für eine bestimmte Verteilung von Meinungen beitragen, Ursachen und Zusammenhänge zeigen und insgesamt das inhaltliche Wissen, das bei quantifizierenden standardisierten Erhebungen bisweilen recht formalisiert ist, wesentlich bereichern. Der Vorteil von Gruppendiskussionen als Haupterhebungsmethode liegt im Vergleich mit repräsentativen Befragungen vor allem in der Schnelligkeit und dem sparsamen Einsatz von personellen und sachlichen Aufwendungen sowie in der Anschaulichkeit und Lebensnähe der gewonnenen Erkenntnisse. Die Gruppendiskussion bringt allerdings keine statistisch repräsentativen Ergebnisse, sondern eher einen groben Überblick. Der Soziologe tauscht bei der Gruppendiskussion gewissermaßen Schnelligkeit und geringen Mitteleinsatz gegen Genauigkeit und Repräsentativität ein. Die Technik der Durchführung von Gruppendiskussionen soll in den folgenden vier Punkten erläutert werden: 1. Zur Auswahl der Teilnehmer Die Diskussionsteilnehmer können bestimmt werden durch — eine Zufallsauswahl, — eine systematische Auswahl von Einzelteilnehmern oder durch

156

23

Zur Analyse von Lebensverläufen, SPES-Arbeitspapier Nr. 69, Frankfurt a. M.—Mannheim 1977; L. Rosenmayr (Hrsg.), Die menschlichen Lebensalter, München—Zürich 1978; L. Seve, Für eine Wissenschaft von der Biographie, in: A. Lance/M. Regnaut (Hrsg.), Französische Essays, Berlin 1985; W. Voges (Hrsg.), Soziologie der Lebensalter — Alter und Lebenslauf, München 1983; A. Witzel, Verfahren der qualitativen Sozialforschung. Überblick und Alternativen, Frankfurt a. M. 1982. H. Berger, Gruppendiskussion, in: Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, 2., überarb. Aufl., Berlin 1977, S. 227. Soziolog. Forschung

340

Datenerhebung

— eine Klumpenauswahl, bei der sich der Forscher auf einzelne bestehende echte Gruppen, z. B. Arbeitskollektive, stützt. Jede Auswahlform hat ihre Vorteile und ihre Probleme. Eine reine Zufallsauswahl riskiert, daß die Teilnehmer recht heterogen zusammengesetzt sind und auch Inkompetente und „Schweiger" den Ertragmindern. Da ohnehin kein sicherer Schluß auf die Gesamtheit gezogen werden kann und da in der Regel mehrere Gruppendiskussionen zum gleichen Thema parallel durchgeführt werden, kann eine systematische Auswahl auch organisatorische Vereinfachungen bringen. Angenommen, in einem großen Betrieb soll kurzfristig eine Analyse zu den bestehenden Meinungen über eine bereits durchgeführte Rationalisierungsmaßnahme ausgearbeitet werden, so würde sich empfehlen, für jeden Produktionsbereich eine eigene Gesprächsrunde zu bilden und aus jeder Brigade einen Vertreter einzuladen. Auch besondere Gesprächsgruppen von Leitern oder Mitarbeitern der Verwaltung können das Bild ergänzen. Die Teilnehmer können durch die Brigade selbst bestimmt werden,es könnte auch direkt jeweils der Gewerkschaftsvertrauensmann oder sein Vertreter eingeladen werden. Denkbar ist auch, daß in besonderen Fällen, z. B. in automatisierten Bereichen mit kleiner Belegschaftszahl, eine Vollerhebung durchgeführt wird, d. h., daß in jeder einzelnen Brigade eine Gruppendiskussion stattfindet. Das hat neben der organisatorischen Vereinfachung auch den Vorteil, daß sich die Teilnehmer kennen und ohne Umschweife ihre Meinung sagen. Es kann aber auch das Ergebnis dadurch beeinträchtigen, daß Gruppeneffekte auftreten und Brigademitglieder mit einer hohen Autorität die Gruppe majorisieren bzw. daß Gruppennormen zu möglichst einheitlichem Auftreten verpflichten und das Kollektiv dem Diskussionsleiter eine Diskussion in der Absicht „vorspielt", die innere Einheit der Gruppe nach außen demonstrieren zu müssen. Generell gelten folgende methodische Regeln: — die Zahl der Teilnehmer sollte 20 nicht übersteigen; als günstig werden 6 bis 10 Teilnehmer angesehen; 157 — die Teilnehmer sollen kompetent (auskunftsfahig, sachkundig) in bezug auf die Diskussionsthematik sein; — die Diskussionsgruppe soll relativ homogen sein, ein großes Bildungs- oder Qualifikationsgefälle kann bei manchen Teilnehmern den Rückzug auf eine Schweigerposition bewirken. Insgesamt haben sich im Hinblick auf die Gewinnung und das Auftreten der Teilnehmer an Gruppendiskussionen unter unseren sozialistischen Bedingungen kaum Schwierigkeiten ergeben, da die Werktätigen durch Produktionsberatungen, Gewerkschaftsversammlungen und andere demokratische Aktivitäten gewohnt sind, ihrfe Meinung ohne Furcht vor Repressionen durch einen Unternehmer zu sagen. 157

Vgl. W. Mangold, Gruppendiskussionen, in: R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 2, Teil 1, a. a. O., S. 229.

Gruppendiskussion

341

Manche Vorschläge, die für kapitalistische Länder gelten, z. B., daß die Anonymität der Teilnehmer untereinander zu wahren ist und sie Decknamen erhalten sollten,158 sind für Gruppendiskussionen unter unseren Bedingungen — sofern nicht Themen aus dem Intimbereich diskutiert werden — irrelevant. Allerdings sollte — wie auch bei Individualbefragungen — die vertrauliche Behandlung aller Meinungsäußerungen zugesichert und strikt eingehalten werden. 2. Zur Leitung Der Leiter der Gruppendiskussion — muß eine klare Zielvorstellung haben, eine theoretisch begründete Konzeption, die in einem Leitfaden, z. B. einigen Leitfragen, Niederschlag gefunden hat; — er muß Autorität und Durchsetzungsfahigkeit haben und es verstehen, eine lockere, kameradschaftliche Atmosphäre zu schaffen; — schließlich muß er vorher festlegen, in welcher Form der Verlauf protokolliert wird und worauf bei der Beobachtung der Teilnehmer zu achten ist. Die schwierigste Aufgabe ist zunächst, die Diskussion in Gang zu bringen. Dazu kann ein Problemumriß gegeben werden, es kann auch eine fiktive Geschichte oder ein Ausschnitt aus einem Film geboten werden; jedenfalls gilt es, das Interesse der Teilnehmer zu wecken und ihnen einen Anreiz zur Meinungsäußerung zu geben. Dabei sollte auch zum Widerspruch aufgefordert werden, damit eine Konfrontation unterschiedlicher Standpunkte zustande kommt. Der Diskussionsleiter soll sich jedoch eigener Wertungen enthalten. Dauerredner muß er taktvoll abbremsen, die Schweiger zur Meinungsäußerung ermutigen. Der Leitfaden wird außer dem „Einstieg", der meist standardisiert ist, einige nichtstandardisierte Fragen beinhalten. Die Abfolge ergibt sich dann aus dem Verlauf der Diskussion. Es kann vorkommen, daß es bisweilen nicht möglich ist, alle Fragen zu diskutieren, weil entweder ein Problem auf besonderes Interesse stößt und zugunsten einer tiefen Diskussion dieser Frage andere nur verkürzt oder gar nicht behandelt werden können, oder weil sich zu dieser Frage niemand äußern will oder kann. Der Diskussionsleiter sollte nicht nur darauf achten, was gesagt wird, sondern auch was nicht gesagt wird, sei es, weil es als Selbstverständlichkeit angesehen oder weil es als ungehörig empfunden wird. Wichtig für den Erfolg sind auch die zeitlichen und räumlichen Bedingungen. Manche Werktätige werden nach der Arbeitszeit nur ungern häusliche Verpflichtungen aufschieben. In diesem Fall erfordern Gruppendiskussionen die Unterstützung des Trägers und auch entsprechende Aufwendungen. Im Raum sollten die Diskussionsteilnehmer einander sehen können (Halbkreis oder runder Tisch) und der Diskussionsleiter sollte selbstverständlich allen ins Gesicht blicken können.

158

23'

Vgl. J. Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, a. a. O., S. 248.

342 3. Zum

Datenerhebung

Protokoll

Vielfach wird empfohlen, die Diskussion auf Tonband aufzunehmen. Das ermöglicht zwar eine genauere Auswertung, von Nachteil kann aber sein, daß einige Teilnehmer ihre Meinung zurückhalten, weil sie fürchten, sich durch das Tonband vorschnell festzulegen. Bei einer schriftlichen Protokollierung ist zunächst zu entscheiden, ob der Gesprächsleiter selbst Notizen anfertigt (ohne die Gesprächsleitung zu vernachlässigen) oder ob ein „Gehilfe" Protokoll führt. Zweifellos ist die Teilnahme eines zweiten Soziologen auch unter dem Aspekt der Auswertung nützlich. Weiter ist zu prüfen, ob Protokollformulare als Standard vorbereitet werden können, die den Vergleich und die Zusammenfassung von mehreren Gruppendiskussionen erleichtern. Bei jeder Leitfrage sollte im Protokoll festgehalten werden: — wesentlicher Inhalt von Antworten; — Vertreter der einen oder anderen Position; — der Verlauf der Diskussion bei unterschiedlichen Positionen (Annäherung oder Polarisierung); — die Meinungsverteilung am Ende eines Diskussionspunktes (Bei einer Aiternati vfrage bietet sich als Codierung eine Fünfer-Skala an: 1 = alle für Meinung A; 2 = Mehrheit für A; 3 = Gleichverteilung; 4 = Mehrheit für Meinung B; 5 = alle für B); — die Intensität der Meinungsäußerung (emotionales Engagement einzelner Teilnehmer bzw. erregte Kontroversen etc.); — Erscheinungen der Beeinflussung durch Gruppennormen, Berufstraditionen und andere ideologische Faktoren. Trotz einiger quantifizierender Angaben ist das Protokoll vor allem eine Grundlage für eine qualitative Auswertung. Die soziologische Erfahrung des Diskussionsleiters und sein Erinnerungsvermögen sind dabei von großer Bedeutung. Der Einsatz eines sachkundig urteilenden Protokollanten verringert die Gefahr subjektiver Fehlbewertungen. 4. Zur

Auswertung

In der Regel werden mehrere Gruppendiskussionen zum gleichen Thema durchgeführt, und obwohl jedes Gespräch anders verläuft, werden sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen lassen. Bei den einzelnen thematischen Sachverhalten werden sich bestimmte Schwerpunkte ergeben, spezifische „Vorstellungen, Urteile und Emotionen, die die Stellungnahme der ganzen Gruppe bezeichnen", bei Meinungsverschiedenheiten: „worin sie sich ausdrücken, ob und welche Ansichten sich durchsetzen, ob es zur Ausbildung von Untergruppenmeinungen kommt und wie diese mit sozialistischen und anderen Kriterien zusammenhän-

Gruppendiskussion

343

gen". 159 Weiter werden Diskussionsabläufe und schließlich bestimmte kontrastierende Diskussionsgruppen miteinander verglichen. Vergleiche werden erleichtert, wenn die Diskussionsgruppen unter bestimmten konzeptionellen Gesichtspunkten zusammengestellt wurden. Für die Art der Auswertung ist entscheidend in welcher Phase des Forschungsprozesses die Gruppendiskussion eingesetzt wurde und welche inhaltlichen Aufgaben sie lösen sollte. 160 In den Berichten ist die Vertraulichkeit zu wahren; die Namen der Diskussionsteilnehmer werden nicht genannt, wohl ist aber eine Statistik mit den demographischen Daten der Teilnehmer und eine Charakteristik der Diskussionsrunden (der Typ der Diskussionsgruppe) aufschlußreich. Die Gruppendiskussion kann natürlich auch für Längsschnittstudien eingesetzt werden; sie kann zu einem späteren Zeitpunkt mit anderen Teilnehmern wiederholt werden, es lassen sich aber auch strengere Panelerhebungen organisieren, bei denen immer wieder dieselben Teilnehmer eingeladen und befragt werden. Auch dabei lassen sich keine strengen quantifizierbaren Ergebnisse erreichen, wohl aber Tendenzen und inhaltliche Wandlungen erkennen. Abschließend sei ein Beispiel für das Verfahren der Gruppendiskussion genannt: In einer Schule einer gesellschaftlichen Organisation sollten Effektivität und Praxisverbundenheit der Ausbildung in einem Lehrgang mit 60 Teilnehmern untersucht werden. Für den Einsatz der sechs Personen umfassenden Brigade, der Funktionäre und Soziologen angehörten, waren zwei Tage vorgesehen. Die Konzeption wurde nach einem einleitenden ausführlichen Gespräch mit der Schulleitung präzisiert. Es wurden dann drei Diskussionsgruppen gebildet: die Schulleitung hatte für eine Gruppe die fünf leistungsstärksten Teilnehmer, für eine andere die fünf leistungsschwächsten Teilnehmer zu nennen; eine dritte Gruppe wurde von der Kommission nach einem Zufallsverfahren ausgewählt, wobei allerdings diese Siebener-Gruppe aus vier männlichen und drei weiblichen Teilnehmern analog der 159

160

W. Mangold, Gruppendiskussionen, in: R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 2, Teil 1, a. a. O., S. 251.

W. Mangold nennt mehrere Gründe für die Verwendung des Gruppendiskussionsverfahrens in der Meinungs-, Einstellungs- und Motivforschung. In der Diskussion werde ein größerer Bereich verschiedener Reaktionsweisen erfaßt als in Einzelinterviews. Eine Diskussion liefert daher mit weniger sachlichem und personellem Aufwand soviel Material wie mehrere Einzelbefragungen. Weiter trage die Gruppendiskussion eher als Einzelinterview zur Aktualisierung und Explikation „tieferliegender" Bewußtseinsinhalte bei. Und schließlich sei durch die ' Wechselbeziehung mehrerer miteinander kommunizierender Individuen eine Situation gegeben, die eher realen Bedingungen der Einstellungsbildung nahekomme als das Einzelinterview. Mangold empfiehlt das Gruppendiskussionsverfahren zur Vorbereitung von Umfragen und als qualitative Methode zur Untersuchung „tieferliegender" Bewußtseinsphänomene, verweist aber auf die begrenzten Gütemerkmale des Verfahrens (vgl. ebenda, S. 229—231).

344

Datenerhebung

demographischen Struktur des Lehrgangs gebildet wurde. Die drei Gruppendiskussionen fanden parallel statt und wurden jeweils von zwei Kommissionsmitgliedern geleitet. Nach einer gründlichen Auswertung in der Kommission, wobei die spezifischen Probleme und Wünsche der beiden kontrastierenden Gruppen besonders beachtet wurden, fand eine Auswertung mit der Schulleitung und dann eine Diskussion in einer Vollversammlung der Teilnehmer statt. Dieses Beispiel, das absichtlich nicht der Forschungs-, sondern der Leitungspraxis entnommen wurde (und ergänzende Aktivitäten der Kommission nicht berücksichtigt), zeigt die Effektivität und praktische Handhabbarkeit der Gruppendiskussion.

3.3.3. Vergleichs-, Quer- und Längsschnittuntersuchungen Bei Quer- und Längsschnittuntersuchungen handelt es sich nicht um spezielle Erhebungsmethoden, sondern um Untersuchungsanlagen mit speziellen Versuchsplänen bzw. um Forschungsstrategien. Ob Quer- oder Längsschnittuntersuchungen durchgeführt werden sollen, hängt vom Forschungsziel, vom Untersuchungsobjekt und gegebenenfalls von den Untersuchungsbedingungen ab. Ursprünglich sind Quer- und Längsschnittuntersuchungen Vorgehensweisen der Entwicklungspsychologie, wobei der Zusammenhang und Einfluß von drei grundlegenden Variablen, nämlich Alter, Generation bzw. Kohorte und Untersuchungszeitraum bzw. Maßzeitpunkt (auch Testzeitpunkt oder sogar „Epoche" genannt), auf das Untersuchungsobjekt ermittelt werden soll.161 Dementsprechend wird definiert: Bei einer Querschnittuntersuchung werden zu einem bestimmten Zeitpunkt T0 mehrere Stichproben von Individuen (S,, ..., S„) aus verschiedenen Altersgruppen (At,..., A„) mit demselben oder einem vergleichbaren Meßinstrument X jeweils einmal untersucht. 162 Bei einer Längsschnittuntersuchung wird die gleiche Stichprobe von Individuen (Sj) mehrmals zu verschiedenen Zeitpunkten (7",, ..., Tn) mit demselben oder einem vergleichbaren Meßinstrument X untersucht. Bei dieser Forschungsanlage wird das Lebensalter als unabhängige Variable gewertet und die mit dem Meßinstrument erhobenen Daten sind Ausprägungen der abhängigen Variablen. Der sich aus der Variablenkombination ergebenden Logik folgend, ergibt sich als dritte Art des Vorgehens die sogenannte Zeitwandelmethode: Stichproben von 161

162

Vgl. K. Daumenlang, Querschnitt- und Längsschnittmethoden, in: E. Roth (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Methoden, München—Wien 1984, S. 319. Vgl. P. B. Battes, Längsschnitt- und Querschnittsequenzen zur Erfassung von Alters- und Generationseffekten, Saarbrücken 1967, S. 11.

345

Vergleichs-, Quer-, Längsschnittuntersuchungen

Individuen (S,,... Sn) jeweils der gleichen Altersgruppe (A0) werden zu verschiedenen Zeitpunkten ( T i t . . . T„) mit demselben oder einem vergleichbaren Meßinstrument X jeweils einmal untersucht, z. B. werden 20jährige, die 1950 geboren worden sind, 1970 untersucht und die Ergebnisse mit denen derjenigen verglichen, die 1960 geboren wurden und 1980 untersucht werden. Diese drei Untersuchungsanlagen werden z. B. im dreifaktoriellen Entwicklungsmodell von Schate für die Geburtsjahrgänge von 1880 bis 1980 verdeutlicht 163 (vgl. Tab. 2). Tabelle 2: Zusammenhang und Unterschied zwischen Querschnitt- (Q), Längsschnitt- (L) und Zeitwandelmethode (ZW) Generation

äItter 120

1880 1900 1920 19W 1960 1980

j.

80

L i 1 100\ 80

Q -

100 80 .60

-

100 80 ^ ¡ o f

Meßzeitpunkt

1900

1320

19W

1960

1980

2000

2020

Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß zwischen den dargestellten Variablen verschiedene Vergleiche angestellt werden können. Das Ergebnis dieser Vergleiche sind Altersdifferenzen ( A d ) , Generationsdifferenzen (Gd), Testzeitdifferenzen (r d ), Zeitwandeldifferenzen (Z Wd), Querschnittdifferenzen (Q d ) und Längsschnittdifferenzen (L d ). Damit ergeben sich z. B. folgende Beziehungen: _ ß

d

+

zwd

-

>

2 ßd

+ z w

d

2 L

d

+ Z W

a

" ß -

2

163

Vgl. K. W. Schaie, A general model for the study of developmental problems, in: Psychological Bulletin (Washington), 64/1965, S. 93.

346

Datenerhebung

Die Zeitwandelmethode könnte auch Generationswandelmethode heißen 164 und ist ebenfalls eine Längsschnittstrategie. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal ist also, ob die Untersuchungen zu einem bestimmten Zeitpunkt (Vergleichuntersuchungen) oder zu verschiedenen, aber voneinander abhängigen oder in Beziehung stehenden Zeitpunkten (Wiederholungsuntersuchungen, Panelstudien, Kohortenanalysen, Intervallstudien, Zeitreihenanalysen, Sozialindikatorensysteme, Leitungsvergleiche etc.) durchgeführt werden sollen. In jedem Falle müssen Vergleiche angestellt und daher Voraussetzungen für die Vergleichbarkeit der Untersuchungsergebnisse geschaffen werden. 165 In der soziologischen Forschung werden Querschnitt- und Längsschnittuntersuchungen mittels vielfaltiger Methoden realisiert und auf unterschiedliche Forschungsobjekte (z. B. neben individuellen Respondenten auch auf soziale Einheiten wie Arbeitskollektive, Einwohner eines Wohngebietes, Betriebskollektive) und Sachverhalte (z. B. Einstellungen, Verhaltensweisen, soziale Aktivitäten, Besitz an bestimmten Konsumgütern, Kontextmerkmale) bezogen und sind daher auch nicht an so strenge verfahrenstechnische Voraussetzungen gebunden wie in der Psychologie. Voraussetzungen für den Erfolg dieser Forschungsstrategien sind hier wie dort tragfähige theoretische Konzeptionen, Forschungshypothesen und Zielstellungen. Gegenwärtig gewinnen Längsschnittuntersuchungen immer mehr an Bedeutung, weil unter anderem folgende Ziele verfolgt werden können: Erforschung — des Verlaufes sozialer Prozesse unter verschiedenen materiellen, insbesondere technologischen Bedingungen (z. B. Mechanisierungs- und Automatisierungsgrad); — der Kollektiv- und Persönlichkeitsentwicklung in verschiedenen gesellschaftlichen, territorialen, geographischen, ethnischen u. a. Bereichen; — der sozialökonomischen Entwicklung in verschiedenen Teilbereichen der Gesellschaft mittels periodischer Sozialberichterstattung (z. B. Sozialindikatorensysteme, statistische Angaben, Zeitreihen); — von Prozeßverläufen einschließlich ihrer Determinanten, der Veränderung ihrer inneren Strukturen in Abhängigkeit von äußeren Einflüssen, der aus ihnen sichtbar werdenden Trends und Tendenzen für die Ableitung sozialer Prognosen, insbesondere für die Vorhersage des weiteren Prozeßverlaufes; — von Entwicklungsprozessen konkreter sozialer Gruppen (Schüler, Lehrlinge, Studenten, Schwangere, Mütter, Frauen, Berufsgruppen usw.) hinsichtlich der Herausbildung, Festigung oder Veränderung von Haltungen, Überzeugungen, Zufriedenheit, Bereitschaft, Strebungen, Handlungsweisen etc. 164 165

Vgl. J. Bortz, Lehrbuch der empirischen Forschung, a. a. O., S. 444. Vgl. A. Ullmann/St. H. Wilsdorf, Bewertung und Vergleich, a. a. O., S. 122.

Vergleichs-, Quer-, Längsschnittuntersuchungen

347

Aus diesen aktuellen Zielstellungen soziologischer Forschung wird deutlich, daß das methodische Konzept der Prozeßanalyse (vgl. Abschnitt 1.3.) zu seiner methodischen Umsetzung noch weiterer methodischer Forschung bedarf. Insbesondere müssen Trendmodelle und Phasenmodelle ökonomischer Zyklen, soziale Modelle von Innovationsprozessen und standardisierte Verfahren zur soziologischen Dauerbeobachtung wesentlicher sozialer Prozesse entwickelt werden. 166 Möglichkeiten methodischer Umsetzung Querschnitt- und Längsschnittuntersuchungen werden auf vielfaltige Weise methodisch realisiert. Bei Querschnittuntersuchungen können alle Erhebungsmethoden zum Einsatz kommen. Das Hauptproblem bei Vergleichuntersuchungen besteht darin, daß wirklich die Vergleichbarkeit der Untersuchungsergebnisse gesichert wird. Vergleichbarkeit betrifft dabei sowohl qualitative als auch quantitative Aspekte, Repräsentativerhebungen und Fallstudien, Vergleiche zwischen Teilpopulationen innerhalb einer Grundgesamtheit (innere Vergleiche) als auch zwischen Ergebnissen aus verschiedenen Untersuchungspopulationen (äußere Vergleiche). Im letzten Falle muß gefordert werden, daß Standardindikatoren aus einem zentralen Indikatorenspeicher zum Einsatz kommen, um die Vergleichbarkeit von verschiedenen Untersuchungsergebnissen zu gewährleisten. Selbst bei Querschnittvergleichen sind Entwicklungsaspekte zu berücksichtigen, weil sich soziale Sachverhalte in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen auch in unterschiedlichem Entwicklungstempo verändern und deshalb zum gleichen Zeitpunkt Repräsentanten unterschiedlicher Prozeßentwicklungsstufen sein können. Es ist unmöglich, in zwei verschiedenen Untersuchungen dieselben Erscheinungsbedingungen und die gleiche Untersuchungspopulation im Sinne völliger Gleichheit zu realisieren. Auf Grund des Einwirkens einer Vielzahl von Faktoren auf die Untersuchungsbedingungen und die Population, von denen die meisten in der Querschnittuntersuchung außer Betracht bleiben, und der ständigen Wechselwirkung und Überlagerung der verschiedenen Widersprüche in ganz unterschiedlichen Reifegraden wird die Untersuchungssituation ständig verändert. Aufgabe des Vergleiches ist es, diese Veränderungen in einer dem Forschungsziel angemessenen Weise festzustellen und zu berücksichtigen. In der Praxis kann Vergleichbarkeit allerdings meist nur bei einigen Merkmalen gesichert werden. Für das Vergleichen verschiedener Fakten, Zahlen, Sachverhalte, Aussagen etc. innerhalb einer Population oder zwischen verschiedenen Untersuchungsgesamtheiten sind vier Voraussetzungen notwendig, die bei jedem Vergleich berücksichtigt werden müssen: 166

Vgl. H. Berger, Aufgaben der Methodik zur Erhöhung der Effektivität der soziologischen Forschung, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1985, a. a. O., S. 200.

348

Datenerhebung

— die Gleichartigkeit des Begriffsinstrumentariums, — die Gleichartigkeit des Methodeninstrumentariums, — Gleichheit im Geltungsbereich der Aussagen (Repräsentativität) und — die Gleichartigkeit der Datenaufbereitung. 167 Bei diesen Vergleichen ist im allgemeinen darauf zu achten, daß auch die statistischen Voraussetzungen für die Datenauswertung — insbesondere genügend große Besetzungszahlen für die einzelnen Merkmalsausprägungen in den Teilgruppen — erfüllt sind. Bei Längsschnittuntersuchungen dominiert die Anwendung der Befragungsmethode. Das betrifft insbesondere die Durchführung von Intervallstudien, um die sich das Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig große Verdienste erworben hat. 168 Auch die häufig angewendeten Wiederholungsuntersuchungen mit dem Ziel festzustellen, welche Veränderungen sich zwischenzeitlich im Untersuchungsfeld vollzogen haben oder gar von der ursprünglichen Untersuchung ausgelöst worden sind (Wirkungsforschung), basieren im wesentlichen auf Befragungen. Prinzipiell sind für Längsschnittuntersuchungen alle Erhebungsmethoden einsetzbar. Als Beispiel soll eine Variante aus dem breiten Spektrum methodischen Vorgehens dienen, die von Soziologen der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar angewandt worden ist. Für soziologische Empfehlungen zur Umgestaltung alter Arbeiterviertel (z. B. Berlin-Prenzlauer Berg) erweist sich die historische Analyse proletarischen Wohnmilieus als wichtige Voraussetzung. Diese erfolgt auf der Basis von Dokumentenanalysen qualitativ und quantitativ (Statistiken, Fotos, Zeitungsausschnitte) und wird in Beziehung gesetzt zur Untersuchung der heutigen Lebensweise in solchen Wohnvierteln, die mit einer Methodenkombination aus Befragung, Beobachtung und Dokumentenanalyse erfolgt. Somit liegt eine Längsschnittuntersuchung vor, bei der — zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Methoden bei veränderter Wohnbevölkerung in gleicher Wohnumwelt angewendet wurden, — qualitative und quantitative Methoden in ihrer Einheit eingesetzt wurden. Eine Längsschnittuntersuchung kann auch in Form einer teilnehmenden Beobachtung in einem Untersuchungsfeld über einen längeren Zeitraum realisiert werden. Dabei kann es sich sowohl um Erkundungs- als auch um Begleitforschung handeln. 167 168

Vgl. A. Ullmann/St. H. Wilsdorf, Bewertung und Vergleich, a. a. O., S. 126. Vgl. W. Friedrich, Intervallstudien, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, a. a. O., S. 604; H. Müller/W. Hennig/R. Ludwig, Ober Anlage und Organisation einer Intervallstudie, in: W. Friedrich/H. Müller (Hrsg.), Zur Psychologie der 12-bis 22-jährigen, a. a. 0 . , S . 55—63;K. Starke, Jugend im Studium, a. a. O..S. 160: H. Müller, Zur Untersuchung von Verlaufsformen und Faktoren der Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter, Dissertation B, Teil 1, Leipzig 1986, S. 73.

Vergleichs-, Quer-, Längsschnittuntersuchungen

349

In diesem Falle überwiegen Elemente des qualitativen, nichtrepräsentativen Vorgehens ebenso wie bei Dokumentenanalysen im Rahmen historisch angelegter, längere Perioden betreffender soziologischer Analysen. Auch die in regelmäßigen Abständen durchgeführten Leistungsvergleiche in und zwischen Betrieben und Einrichtungen sind Längsschnittuntersuchungen, wenn sie systematisch ausgewertet und in Form von Zeitreihen verglichen werden. Die Zeitreihenanalyse ist eine in der marxistisch-leninistischen Soziologie noch zu wenig genutzte Form der Längsschnittstudie. Sie fußt auf statistischen Erhebungen unterschiedlicher Art und Reichweite. Bei Zeitreihenanalysen können drei verschiedene Hypothesenarten unterschieden werden: — Die in einer Zeitreihe entdeckten Regelmäßigkeiten (Trend, periodische Anteile) setzen sich auch künftig fort (Prognosemodelle, funktionale Zusammenhänge), — ein bestimmtes Ereignis verändert zu einem bestimmten Zeitpunkt den Verlauf einer Zeitreihe in einer bestimmten, feststellbaren Weise (Interventionsmodelle), — Änderungen in der Verlaufsform einer Zeitreihe sind auf eine oder mehrere andere Zeitreihen zurückzuführen (Transferfunktionsmodelle). 169 Bekanntlich nennt man eine zeitlich geordnete Folge von Beobachtungsergebnissen eine Zeitreihe, wenn diese Beobachtungsergebnisse zahlenmäßig fixiert sind. Diese Zahlen werden als Realisierungen einer Zufallsgröße aufgefaßt, so daß die Zeitreihe im ganzen als Realisierung eines stochastischen Prozesses verstanden werden muß. Dieser stochastische Prozeß muß irgendwie in Form von Funktionen (Verlaufskurven, Polygonzügen etc.) als Zeitreihenmodell dargestellt werden, was Aufgabe spezieller statistischer Verfahren ist (Dekompositionsmodell, sogenannte ARIMA-Modelle, Trendschätzungen, Ableitungen etc.). 170 Probleme im Zusammenhang mit Befragungen Im folgenden konzentrieren wir uns auf die etwas ausführlichere Darstellung von Problemen und Beispielen aus standardisierten, repräsentativen Befragungen. Aus der Bestimmung von Querschnittuntersuchungen als soziologische Vergleichs- oder Paralleluntersuchungen, die in verschiedenen Populationen mit gleichen Methoden und Standards zur gleichen Thematik in einem bestimmten relativ eng begrenzten Zeitraum parallel ablaufen, wird deutlich, daß es bei diesen Analysen — neben den unmittelbaren Aussagen für die Population — in erster Linie darum geht, durch die Vielzahl einzelner Studien die Reichweite ihrer Aus169 170

Vgl. J. Bortz, Lehrbuch der empirischen Forschung, a. a. O., S. 447. Vgl. ebenda, S. 448—461; B. Krause/P. Metzler, Angewandte Statistik, Berlin 1983, S. 337— 383.

350

Datenerhebung

sage zu vergrößern, um über die eigentlichen Untersuchungsfelder hinaus generalisierende Aussagen für größere, gesellschaftlich relevante Bereiche treffen zu können bzw., wenn das nicht möglich ist, entsprechend begründete Hypothesen zu formulieren. Ein Beispiel aus der wohnsoziologischen Forschung soll das veranschaulichen: In Neubaugebieten von fünf Groß- und Mittelstädten der Republik wurden in einem Jahr empirische Analysen zu Wohnerwartungen und Wohnzufriedenheit durchgeführt. Die Anlage und das eingesetzte methodische Instrumentarium der fünf Untersuchungen stimmten überein, waren also vergleichbar. Obwohl jede Studie für ihre Grundgesamtheit repräsentativ war und für diesen Bereich gültige Einsichten erbrachte, ließ die Auswahl der fünf Neubaugebiete noch keine gesamtgesellschaftliche Aussage zu, wohl aber generalisierende Erkenntnisse, die über die einzelnen Forschungsbereiche hinausgingen und damit eine Basis für weitere wohnsoziologische Forschungen in Neubaugebieten der Republik bildeten. Damit werden fünf Sachverhalte erkennbar: 1. Trotz einer Vielzahl von Analysen kommen Querschnittuntersuchungen nicht über Bestandsaufnahmen hinaus. 171 2. Je mehr Vergleichsstudien in Querschnittsanalysen einbezogen werden, desto größer wird der Geltungsbereich der ermittelten Aussagen, um so genauere Aussagen über ihre Gültigkeit lassen sich machen. 3. Bei gesamtgesellschaftlichen, also z. B. DDR-repräsentativen Studien, gibt es keine Querschnittanalyse mehr; die „Querschnittsvergleiche" sind jetzt mit den „inneren Vergleichen" einer Untersuchung identisch. 4. Die Organisation und Durchführung von Querschnittuntersuchungen weist im Vergleich zu einmaligen Stichprobenerhebungen nur einen Unterschied auf: Zwei oder mehr Vergleichsstudien können nur begrenzt zeitverschoben durchgeführt werden. Inhaltlich ergeben sich daraus keine neuen Anforderungen, wohl aber personelle und finanzielle, um den erhöhten Forschungsaufwand bei der Realisierung der Vorhaben bewältigen zu können. 5. Sinngemäß gelten diese Aussagen nicht nur für repräsentative Stichproben, sondern auch für qualitative Erhebungen wie z. B. teilnehmende Beobachtungen. Während bei Querschnittuntersuchungen nur Ist-Analysen möglich sind, können bei Längsschnittuntersuchungen Entwicklungslinien und -Verläufe sichtbar gemacht werden. Unter der allgemeinen Zielstellung wird bei wiederholten Repräsentativerhebungen (auch als Folgestudien oder follow-up-studies bezeich171

Dennoch ist es erstaunlich, wie viele soziologische Erhebungen heute noch so konzipiert werden, ohne daß damit ihre Bedeutung in bestimmten Fällen in Abrede gestellt werden kann und soll (vgl. M. Hader, Erkenntnismöglichkeiten einiger komplexer Erhebungsmethoden, S. 191 -193).

Vergleichs-, Quer-, Längsschnittuntersuchungen

351

net)172 immer die gleiche Population in die Untersuchung einbezogen, aber diese wird durch eine jeweils zum Untersuchungszeitpunkt ti neu gezogene Stichprobe repräsentiert. Bei einer solchen Vorgehensweise werden also nur populationsspezifische Entwicklungen durch aggregierte Zahlen vergleiche sichtbar. Diese ganzheitlichen (pauschalen) Vergleiche und die daraus abgeleiteten Aussagen werden als Trend bezeichnet.173 Eine solche Trendaussage ist z. B. in einer wohnsoziologischen repräsentativen Wiederholungsstudie die Feststellung, daß mit zunehmender Wohndauer in Neubaugebieten die Zufriedenheit mit dem Wohngebiet anwächst; waren es zum Zeitpunkt tl 66 Prozent die diese Aussage trafen, so waren es bei t2 bereits 71 Prozent. 174 Bei Panelstudien wird im Vergleich zu wiederholten Repräsentativbefragungen noch ein Schritt weitergegangen, da die Anlage einer solchen Untersuchung es ermöglicht, nicht nur populationsspezifische Vergleiche bezüglich der Entwicklung sozialer Sachverhalte durchzuführen, sondern auch personenbezogene (individuelle) Veränderungen aufzuzeigen. Das bedeutet, eine stabile Stichprobe, die sich in Zusammensetzung und Umfang nicht verändern soll, bildet jeweils zu den Untersuchungszeitpunkten t{ die Analysegrundlage. Bei Panelstudien werden also nicht nur pauschale Verteilungen in den Grundgesamtheiten oder in den Teilgruppen miteinander verglichen, sondern es werden individuelle Vergleiche durchgeführt. Damit ist es sogar möglich, die Änderung von Ansichten und Meinungen jeder einzelnen Untersuchungsperson aufzudecken und damit nicht nur die Veränderung von Mittelwerten, sondern auch individuelle Entwicklungen festzustellen. Dabei muß der Soziologe beachten, daß nicht allein die „Zeit" wirkt, sondern daß bei den Untersuchungspersonen auch altersbedingte Veränderungen eintreten (z. B. Änderung des Anspruchsniveaus, der Lebensorientierungen, Gewinn an sozialer Erfahrung). Das folgende Beispiel verdeutlicht die Möglichkeiten der Panelstudie115: In einer industriesoziologischen Studie wurden zu zwei Zeitpunkten ti und t2 die „Erwartungserfüllung" in drei Merkmalsvariationen erfaßt. Werden die Ergeb172 173

174

175

Vgl. J. Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, a. a. O., S. 157. Vgl. J. Nehnevajsa, Analyse von Panelbefragungen, in: R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 1, Stuttgart 1962, S. 197. Vgl. Zur Entwicklung des Neubaugebietes Leipzig—Grünau 1981, Leipzig 1982, S. 21 (Forschungsbericht der K M U Leipzig, Sektion Wissenschaftlicher Kommunismus, WB Soziologie). Vgl. A. Ullmann/St. H. Wilsdorf, Bewertung und Vergleich, a. a. O., S. 132. Die Zahlen entstammen industriesoziologischen Untersuchungen, die unter Leitung vonH. F. Wolf durchgeführt worden sind (vgl. H. F. Wolf, Zusammenfassungsdaten und Typenbildung. Methodologische Grundlagen, Methoden und Techniken, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Jugendforschung — Methodologische Grundlagen, Methoden und Techniken, a. a. O., S. 82—88).

352

Datenerhebung

Tabelle 3: Ergebnisse aus einer Wiederholungsuntersuchung (Angaben in Prozent) Frage: Haben sich Ihre Erwartungen, die Sie zur Arbeit und zum Betrieb hatten, als Sie Ihre Arbeit aufgenommen haben, voll erfüllt, oder nur teilweise erfüllt, oder nicht erfüllt? zu /, (1) Erwartungen erfüllt (2) Erwartungen teilweise erfüllt (3) Erwartungen nicht erfüllt

zu t2

48,0 % 38,5%

46,4 % 40,1%

13,5%

13,5%

100%

100%

N = 910

Tabelle 4: Gleiches Ergebnis aus einer Panelstudie (Angaben in Prozent) Erwartungserfüllung zum Zeitpunkt t2 (1)

(2)

(3)

gesamt

30,0 14,6 1,8

16,7 16,7 6,7

1,3 7,2 5,0

48,0 38,5 13,5

46,4

40,1

13,5

Erwartungserfüllung zum Zeitpunkt i, (1) (2) (3) Gesamt

100

Legende: Direkt vergleichbar waren zum Zeitpunkt t2 nur 91 % der Befragten. Die Nichtauswertbaren (nur zu t2 in der Stichprobe befindlichen Respondenten) wurden eliminiert.

nisse als die Aussagen zweier wiederholter Repräsentativbefragungen betrachtet, so ergeben sich in der Gesamtaussage nur unwesentliche Unterschiede (vgl. Tab. 3 und 4). In Tabelle 4 ist deutlich zu erkennen, welcher Teil der Probanden stabil in seiner Einstellung geblieben ist (diese Werte sind aus der Hauptdiagonalen ablesbar), welche Personen in ihrer Einstellung einen positiven (Summe der Werte unterhalb der Hauptdiagonalen) und welche einen negativen Wandel in ihrer Bewertung der „Erwartungserfüllung" (Summe der Werte oberhalb der Hauptdiagonalen) vollzogen haben, während in Tabelle 3 nur der Trend festgestellt werden kann.

Vergleichs-, Quer-, Längsschnittuntersuchungen

353

Um den Grad der Veränderungen deutlich zu machen oder um Wahrscheinlichkeiten für den Übergang der Probanden von einem Merkmalswert zum anderen berechnen zu können, sind in der Vergangenheit bestimmte Formeln und Kennziffern (z. B. für den sogenannten Wechselindex) entwickelt worden, auf die weiter unten nur kurz eingegangen werden soll, da die Kompliziertheit der Materie eine sehr differenzierte Darstellung verlangt, die den vorgegebenen Rahmen sprengen würde. 176 Dieses Beispiel belegt, daß Panelstudien in erster Linie persönlichkeitsbezogene Entwicklungsstudien darstellen. Einen weiteren Sonderfall der Längsschnittuntersuchungen stellt die Kohortenanalyse dar. Als Grundgesamtheit werden hier alle Personen mit ähnlicher Geburtszeit t (meist wird ein Intervall, z. B. der gleiche Geburtsmonat oder das gleiche Geburtsjahr, zugelassen) betrachtet. 177 Anläßlich bestimmter einschneidender Ereignisse in der Lebenszeit dieser Grundgesamtheit (Schulbeginn, Jugendweihe, Eintritt in die Lehrausbildung etc.) oder anderen, sich aus der Forschungsproblematik ergebenden Zeitpunkten, 178 werden Wiederholungsuntersuchungen durchgeführt und Vergleiche zwischen den Personen oder bestimmten Teilgruppen dieser Kohorte angestellt. In diesem Zusammenhang betont Müller, daß solche Kohortenanalysen einen besonders hohen wissenschaftlichen Wert dann erhalten, „wenn mehrere Kohorten miteinander verglichen werden, die aus differenzierten Geburtsjahrgängen entstammen, für deren Unterschiedlichkeiten im Verhaltensprofil historisch bedingte Verschiebungen angenommen werden können" 179 . Bei diesen Analysen hat man es sozusagen mit gedoppelten Längsschnittuntersuchungen zu tun. Bei Längsschnittuntersuchungen, insbesondere bei Intervallstudien, ist der Mehraufwand an geistigen, materiellen und finanziellen Mitteln erheblich, aber ohne Längsschnittuntersuchungen wird die marxistisch-leninistische Soziologie dem Anspruch, einen prognostischen Beitrag für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft zu leisten, nicht gerecht. Intervallstudien sind nur dann sinnvoll, wenn Entwicklung, Veränderung von Einstellungen, Verhaltensweisen und Merkmalsstrukturen von bestimmten Personen bzw. Personengruppen ermittelt oder analysiert werden sollen. Hierbei sind folgende Voraussetzungen durch den Sozio176

177

178

179

Vgl. R. Mayntz/K. Holm/P. Hübner, Einführung in die Methoden der empirischen Soziologie, a. a. O., S. 1 3 4 - 1 5 0 . Vgl. H. Müller, Zur Untersuchung von Verlaufsformen und Faktoren der Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter, a. a. O., S. 44. Selbstverständlich können auch andere Kriterien der Kohortenbildung herangezogen werden, z. B. ein bestimmtes Studienjahr oder Neuzugänge in einem Betrieb in einem bestimmten Kalendeijahr. Diese Bestimmung und das Festlegen der weiteren Untersuchungszeitpunkte ergeben sich aus den inhaltlichen Zielsetzungen solcher Untersuchungen. H. Müller, Zur Untersuchung von Verlaufsformen und Faktoren der Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter, a. a. O., S. 33.

354

Datenerhebung

logen zu erfüllen, um den Erfordernissen einer adäquaten Auswertung gerecht werden zu können: — umfangreiche theoretische Vorarbeiten, — adäquate Methodenbestimmung, — exakte Populationsbestimmung und Stichprobenauswahl, — spezielle Forschungsorganisation, — moderne Rechentechnik zur Datenaufbereitung, — besonders hohe Verantwortung bei der Ergebnisinterpretation. Diese Anforderungen sind sicherlich für alle soziologischen Erhebungen von Bedeutung, erlangen aber bei Längsschnittanalysen ein besonderes Gewicht. 180 Zu den theoretischen Vorarbeiten gehört unbedingt, ein Forschungsproblem über ein solches Zeitintervall so zu bestimmen, daß es durch Wiederholungsuntersuchungen und damit im Längsschnitt sinnvoll empirisch bearbeitet werden kann, und für diesen Forschungsgegenstand allgemeine Hypothesen als Hypothesenhierarchie so aufzustellen, daß sie zu bestimmten Zeitpunkten im Ablauf der Längsschnittstudie falsifiziert bzw. verifiziert werden können. Starke macht zu Recht darauf aufmerksam, daß es nicht darauf ankommen könne, bis ins letzte für jede Fragestellung Hypothesen zu formulieren, weil sich in jeder Forschungsetappe zusätzliche, nicht in jedem Falle vorhersehbare neue Probleme auftäten, die dann neue Hypothesen herausforderten. 181 Ausgesprochen hohe Anforderungen werden an das methodische Instrumentarium bei der Erhebung gestellt, müssen doch sowohl die Indikatoren als auch die eingesetzten Instrumente so aufgebaut sein, daß sie zu den jeweiligen Untersuchungsterminen ti gleiche Sachverhalte entsprechend abbilden, so daß sich abgebildete Veränderungen aus tatsächlichen Veränderungen in der Population ableiten lassen und sich nicht aus der Inkonsistenz des Forschungsinstrumentariums ergeben. Deshalb muß der Güteprüfung der Indikatoren eine sehr große Aufmerksamkeit gewidmet werden, insbesondere den Fragen der Reliabilität. Der Retestwert sollte nicht unter r = 0,8 liegen, wobei unter bestimmten Bedingungen auch Indikatoren mit niedrigeren r-Werten durchaus noch eine Berechtigung haben. 182 Wie verantwortungsbewußt diese Arbeit durchgeführt werden muß, kann auch daraus abgeleitet werden, daß ein hoher Anteil der Indikatoren bei jeder Wiederholungsstudie Verwendung findet, obwohl diese immer unter veränderten zeitlichen Bedingungen und in der Regel mit veränderten Populationen stattfinden. Diese Tatsachen haben für das methodische Instrumentarium neben der formalen

180 181 182

Vgl. W. Friedrich, Intervallstudien, a. a. O., S. 608. Vgl. K. Starke, Jugend im Studium, a. a. O., S. 55/56. Vgl. ebenda, S. 60/61.

Vergleichs-, Quer-, Längsschnittuntersuchungen

355

verfahrenstechnischen Absicherung der Gütekriterien — insbesondere der Reliabilität — große Bedeutung. Auf folgende drei Aspekte, die für die Auswertung der Erhebungsdaten eine besondere Rolle spielen, soll hingewiesen werden: 1. Die Indikatoren müssen notwendigerweise so vorausschauend gestaltet werden, daß sie zu jedem Untersuchungszeitpunkt die in die Untersuchung einbezogenen Respondenten immer wieder „ansprechen" und von den Probanden nicht als langweilig oder gar als Zumutung empfunden werden und somit im Sinne des Forschungszieles nicht zu brauchbaren Ergebnissen führen würden. Dabei sind populationsspezifische Gesichtspunkte zu beachten. Diese Forderung ist um so leichter zu erfüllen, wenn es sich um Erwachsenenpopulationen mit relativ geringer sozialstruktureller Differenzierung handelt, und wird immer schwieriger bei Grundgesamtheiten, die in sozialstruktureller Hinsicht ein breites Spektrum aufweisen, oder bei Populationen, die selber noch starken Lern- und Differenzierungsprozessen unterworfen sind wie z. B. Jugendliche oder gar Schüler. 2. Die Antwortmodelle sollten übersichtlich und einfach zu handhaben sein sowie den Einsatz moderner Rechentechnik erlauben. Aus diesem Grunde werden „offene Fragen" bei Wiederholungsuntersuchungen kaum angewendet. 183 3. Durch einen geschickten Fragebogenaufbau und durch den Einbau neuer Fragen kann — einem die Aussagen verzerrenden Erinnerungseffekt bei der Beantwortung der in Längsschnittuntersuchungen eingesetzten Fragen entgegengewirkt werden und — das Beantworten der Fragen auch in den Wiederholungsuntersuchungen für die Probanden interessant gestaltet werden. Der letztgenannte Aspekt hat nur bei Panelstudien Bedeutung. Bei Intervallstudien wird ein wesentlich erhöhter Qualitätsanspruch an die Methodik gestellt, was in dieser Form bei einmaligen Erhebungen nicht der Fall ist. Stellt sich nämlich an einem Punkt in dem über mehrere Zeitintervalle laufenden Forschungsprogramm ein Fehler heraus, dann ist die Analysekette unterbrochen, und bisherige Forschungsergebnisse können wertlos werden, da eine Wiederholung ausgeschlossen ist. Eine entscheidende Frage ist die richtige Wahl der Untersuchungszeitpunkte tr Wie groß muß der zeitliche Abstand zwischen zwei Untersuchungen gewählt werden? Auf diese Frage kann es keine pauschale Antwort geben. Sie ist von dem Untersuchungsgegenstand, der Population und dem Forschungsziel abhängig und in jedem Falle theoretisch zu begründen. 183

Welche Skalenart, welche Differenzierungen etc. gewählt werden, hängt sowohl vom Forschungsgegenstand als auch von der Untersuchungspopulation ab. Zur Skalierung vgl. auch Abschnitt 2.8. in diesem Buch.

24 Soziolog. Forschung

356

Datenerhebung

Während sich z. B. jugendsoziologische Forschungen oft auf Jahresintervalle (entsprechend dem Ausbildungszyklus: Schul-, Lehr- bzw. Studienjahr) stützen, haben sich bei wohnsoziologischen Längsschnittuntersuchungen zweijährige Abstände bewährt, weil sich bei der entsprechenden Population Änderungen in den Einstellungen, Ansichten und Meinungen langsamer vollziehen. Andererseits können solche Zeitpunkte ausgesprochen kurzfristig — im Abstand von wenigen Wochen und Monaten — aufeinander folgen, z. B. bei der Untersuchung von Automatisierungsvorhaben oder bei Marktanalysen. Die kürzeste Intervallfolge dürfte bei Zeitbudgetuntersuchungen anfallen, bei denen geschlossen die Tätigkeiten und deren zeitlicher Umfang innerhalb von 24 Stunden als Wochenprotokoll an sieben aufeinanderfolgenden Tagen erfaßt werden. Die Wahl der Zeitpunkte ti und r, + 1 hängt auch davon ab, welchen Einfluß Erinnerungseffekte der Untersuchungspersonen bei der Beantwortung der Fragen auf die Ergebnisse haben können. Soll eine Veränderung bzw. die Konstanz von Einstellungen nachgewiesen werden, muß ein so großer zeitlicher Abstand zwischen den Wiederholungsuntersuchungen gewählt werden, daß das Erinnerungsvermögen an die Beantwortung der Fragen ausgeschaltet wird. 184 Sollen dagegen — wie bei Zeitbudgetuntersuchungen — nur Tatbestände, Verhaltensakte registriert werden, können solche Überlegungen vernachlässigt werden. Selbstverständlich trifft dieser Einflußfaktor nur bei Panelstudien, nicht aber bei wiederholten Repräsentativbefragungen zu, da hier durch die wechselnden Stichprobenzusammensetzungen a priori Erinnerungseffekte ausgeschlossen sind. Zwischen Intervall- und Panelstudie ergeben sich Unterschiede bei der Sicherung der statistischen Repräsentanz. Bei wiederholten Repräsentativbefragungen stellen sich kaum Schwierigkeiten ein, bei entsprechender Vorbereitung und Organisation mit gewollt wechselnden Stichproben aus der gleichen Grundgesamtheit die Repräsentanz zu sichern, da nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit im allgemeinen nur selten Probanden — bei genügend großer Population — mehrmals in entsprechende Studien einbezogen werden. Die Ausfallquote wird also gering sein und entspricht derjenigen einer einmaligen soziologischen Erhebung. Anders bei Panelbefragungen: Hier spielen Fragen der Repräsentanz eine große Rolle, und man muß bereits bei der Anlage einer solchen Studie mit Ausfällen rechnen. Zwei wesentliche Gründe sind dafür verantwortlich: 1. Nicht alle zu Beginn in eine Untersuchung einbezogenen Personen sind zum Zeitpunkt der Wiederholungsbefragung noch in der Grundgesamtheit anzutreffen bzw. erreichbar, z. B. durch Verzug in einen anderen Wohnort oder durch Urlaub, Krankheit etc. 2. Einige anfangs willige Respondenten sind nicht mehr bereit, an dieser Langzeitstudie mitzuwirken. Das kann sein, weil 184

Vgl. W. Friedrich, Methoden der marxistisch-leninistischen Sozialforschung, a. a. O., S. 344.

Vergleichs-, Quer-, Längsschnittuntersuchungen

357

— die Motivation für die Teilnahme an der Forschung nicht mehr vorhanden ist, — die Veränderungen im Gefolge der Forschung nicht sichtbar werden, — Mißtrauen gegenüber der Forschungseinrichtung entstand. (Selten wirken diese Aspekte einzeln, meist komplex, aber mit unterschiedlicher Gewichtung.) Während es im ersten Fall eine Zeit- und Mittelfrage ist, „verzogene" Probanden zu verfolgen bzw. nachzubefragen, ist es im zweiten Fall kaum möglich, Personen mit verlorengegangenen Motivationen wieder für die Forschung zu begeistern. Und wenn doch, so ist der Wert der so gewonnenen Aussagen recht zweifelhaft. Aus diesem Grunde kommt es bei Panelstudien unbedingt darauf an, eine positive Einstellung zu wecken und ein langfristiges Interesse an dieser Forschung herauszubilden. Insbesondere muß den Probanden das Gefühl vermittelt werden, daß gerade ihre Aussage von entscheidendem Wert ist, daß aber erst am Ende einer solchen Untersuchung endgültige Schlußfolgerungen gezogen werden und dann Veränderungen eingeleitet werden können. Als besonders motivierend für eine weitere Bereitschaft der Untersuchungsteilnehmer hat sich das Vortragen von Zwischenergebnissen zu Problemen erwiesen, die in dieser Form nicht weiter untersucht werden. Eigene Untersuchungen belegen, daß bei allen vorbeugenden Maßnahmen mit einem Ausfall von ca. 20 Prozent pro Wiederholungsuntersuchung gerechnet werden muß. Diese Zahl wird auch von anderen Intervallstudien bestätigt 185 und hat Konsequenzen für die Auswertung der Daten. Die Prozentangabe ist nur ein Durchschnittswert. Sie streut je nach Population und Erhebungsmethode beträchtlich. Untersuchungen von Schülern im Klassenverband weisen z. B. beträchtlich niedrigere Ausfallquoten auf als wohn- und industriesoziologische Studien, in denen die Population nicht so straff organisiert und zusammengefaßt werden kann. Es gibt verschiedene Wege, um diese Ausfalle zu kompensieren. So kann man z. B. die Zahl der einzubeziehenden Personen anfangs, ausgehend von der Anzahl der geplanten Wiederholungsbefragungen, so hoch ansetzen, daß am Ende noch soviel Probanden einbezogen werden wie für fundierte Aussagen notwendig sind. Ein anderer Weg ist die Kombination von Panel- und wiederholten Repräsentativerhebungen. Hier werden die Ausfälle einer Panelstudie bei den nachfolgenden Etappen durch zusätzlich ausgewählte Respondenten aus der Grundgesamtheit „aufgefüllt". Die genaue Analyse der Ausfalle ist in jedem Falle notwendig, denn eine ernsthafte Gefahrdung der gesamten Untersuchung tritt dann ein, wenn die Ausfalle nicht zufallig streuen, sondern sich bestimmte gruppenspezifische Schwerpunkte herausbilden. Ist das der Fall, dann nützen auch noch so große verbliebene Restposten nichts, um typische Entwicklungen nachzuzeichnen. 185

24*

Vgl. K. Starke, Jugend im Studium, a. a. O., S. 62.

358

Datenerhebung

Deshalb ist das Repräsentanzproblem (und nicht nur im statistischen Sinne) ein entscheidendes Kriterium dafür, über welchen Zeitraum eine Längsschnittstudie konzipiert werden kann. So sehr die Bedeutung von Längsschnittuntersuchungen, insbesondere von Intervall- bzw. Panelstudien in der Literatur 186 auch hervorgehoben wird, in ihrer zeitlichen Ausdehnung liegen Gefahren, die den Vorteil dieser Forschungsanlage auch in sein Gegenteil verkehren können. Solche, neben der Repräsentanz zu beachtende Fäktoren können sein: — Das Forschungsthema hatte zu Untersuchungsbeginn größere Aktualität als am Ende der Forschung. — Das methodische Instrumentarium erweist sich mit Fortdauer der Untersuchung als nicht mehr dem Forschungsgegenstand adäquat und/oder es sind zwischenzeitlich Methoden und Indikatoren entwickelt worden, die diesen Forschungsgegenstand wesentlich besser abbilden. — Das Nichterkennen bzw. Nichtausschaltenkönnen von Einflußfaktoren, die sich aus konkret historischen Veränderungen im Untersuchungszeitraum ergeben haben, verzerrt die Ergebnisse. — Das Nichtkonstanthalten der Untersuchungssituation bei den Erhebungen selbst, auch wenn die Anlage solcher Langzeituntersuchungen dieses vorsieht, läßt Unwägbarkeiten auftreten, die nicht zu verhindern sind und deren Einfluß nicht bestimmt werden kann. — Die Änderung der Motivstruktur für die Beteiligung der Respondenten an der Forschung kann zu Ausfallen führen. — Eine Instabilität des Forscherkollektivs und sein eventueller Einstellungswandel zum eigenen Forschungsgegenstand kann eintreten. Unsere Erfahrung lehrt, daß die fehlende Anonymität nur einen sehr geringen Einfluß auf die Beteiligung an solchen Untersuchungen hat; entscheidend ist, daß die Probanden von der Vertraulichkeit der Untersuchung und von der Seriosität der Forschungseinrichtung überzeugt sind. Spezielle Auswertungsprobleme Die Organisation von Längsschnittuntersuchungen stellt außergewöhnliche Anforderungen an das Forscherkollektiv hinsichtlich der Auswertung der Daten und auch der damit verbundenen Sicherstellung einer repräsentativen Stichprobe. Was den entscheidenden Mehraufwand bei Panelstudien ausmacht, ist einerseits die Gewährleistung der personellen Konstanz der Population und andererseits 186

Vgl. J. Nehnevajsa, Analyse von Panelbefragungen, a. a. O., S. 207; W. Friedrich, Methoden der marxistisch-leninistischen Sozialforschung, a. a. O., S. 355; H. Müller, Zur Untersuchung von Verlaufsformen und Faktoren der Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter, a. a. O., S. 45.

Vergleichs-, Quer-, Längsschnittuntersuchungen

359

ein wesentlich erhöhter rechentechnischer Aufwand zur Auswertung der Untersuchung. Die Konstanz der Population verlangt eine vollständige Adressendatei und die Möglichkeit der Zuordnung der jeweiligen Erhebungsunterlagen für jeden Untersuchungszeitpunkt ti für jede Person. Diese Zuordnung ist nötig, um Entwicklungen auch rechentechnisch auswertbar zu machen und Veränderungen bzw. Konstanz nachweisen zu können und um inhaltlich diese Aussagen über den gesamten Untersuchungszeitraum bewerten zu können. Beim Vergleich der Antwortverteilungen bei zwei aufeinanderfolgenden Erhebungen kann der maximal mögliche Wechsel errechnet werden, indem man unterstellt, daß jeder Befragte zum Zeitpunkt t2 eine andere Antwort gab als zum Zeitpunkt tl. Wenn der tatsächliche Wechsel in den Antworten ermittelt werden kann, ist es möglich, den sogenannten Wechselindex zu berechnen. Allgemein lautet die Formel: tatsächlicher Wechsel maximal möglicher Wechsel Im Fall einer Vierfeldertafel, d. h. bei einem alternativen Antwortmodell, lautet die Formel: B '

_

A + B

C +

C +

D'

Es ist offensichtlich, daß jede Aufgliederung der Merkmalsausprägungen und jede zusätzlich durchgeführte Wiederholungsbefragung den Auswertungsaufwand beträchtlich erhöhen, weil die Anzahl der notwendigen Vergleiche nach den Gesetzen der Kombinatorik wächst. Unter diesem Aspekt ist auch die Wahl der Schätzskalen vorzunehmen. Unserem Beispiel (vgl. Tab. 4) lag eine Dreier-Skala zugrunde. Bei einer Fünfer-Skala wäre der Anteil der Wechsler mit Sicherheit höher, aber ebenso auch der Auswertungsaufwand. Hinzu kommen bei der Auswertung zu beachtende Probleme der Datenerhebung. Nicht selten meiden die Respondenten die Skalenpositionen 4 und 5, so daß in der Auswertung 4 und 5 oft zusammengezogen werden müssen, weil diese einzeln zu schwach besetzt sind. Das Hauptproblem der Auswertung einer Längsschnittstudie besteht in der Sicherung vergleichbarer Populationen. Wenn z. B. zehn Intervalle im Jahresabstand sind, muß man praktisch mit 2000 Personen beginnen, um im 10. Intervall noch 300 zu haben. Streng genommen, dürfen über alle Intervalle nur diese 300 verglichen werden. Daraus resultiert eine sehr große Zahl von notwendigen Sortierungen im Rechner, um von Intervall zu Intervall immer wieder die wirklich vergleichbaren Respondenten hinsichtlich ihrer verschiedenen Meinungsäußerungen

360

Datenerhebung

und anderen Angaben herauszufiltern. Dabei liegen auch unterschiedliche Repräsentanzverhältnisse vor. Wenn die Untersuchungsauswahl in der ersten Untersuchung hinsichtlich einer Grundgesamtheit repräsentativ war, so muß sie das nicht bei der zweiten, dritten oder vierten Untersuchung sein. Es ist daher zu entscheiden (in Abhängigkeit von den konkreten Daten), ob das Modell so aufgefüllt wird, daß die bezüglich der Grundgesamtheit wichtigsten Parameter wie bei der Erstpopulation wiederhergestellt sind oder ob die z'-te Population so aufgefüllt werden muß, daß sich zum Zeitpunkt t. Repräsentativität bezüglich der Grundgesamtheit ergibt. In jedem Fall wird der Auswertungsaufwand beträchtlich erhöht: Zunächst müssen die Aussagen der Population der z'-ten Befragung ermittelt werden, dann müssen deren Aussagen in den vorgesehenen Befragungen ermittelt und jeweils verglichen werden. Hinzu kommen dann noch Sortierungen der vergleichbaren Populationen in Teilgruppen und nach allen relevanten Merkmalen. Das geschieht zwar in der Regel im Rechner, erfordert aber eine relativ lange Rechenzeit und damit hohe Rechnerkosten und vor allem einen hohen Zeitaufwand bei der Sichtung und Interpretation der Rechnerausdrucke. Der Rechner identifiziert die Individuen, die bei Panelvergleichen identisch sein müssen, mit Hilfe von Codenummern. Als Codenummer ist z. B. das Geburtsdatum geeignet, weil es die Anonymität der Befragung zu wahren gestattet und dennoch individuelle Vergleiche ermöglicht.

3.3.4. Soziales Experiment Das Experiment ist eine durch die Naturwissenschaften seit Jahrhunderten legitimierte Forschungsmethodik. Die Anfange des Probierens — als Vorstufe wissenschaftlicher Experimente — fallen mit den Anfängen der menschlichen Geschichte zusammen. In der Antike und im Mittelalter wurden Überlegungen der Naturforscher teilweise bereits mit Experimenten verbunden. Im 16./17. Jahrhundert begründete vor allem Galilei die experimentelle Methode in den Naturwissenschaften und überwand damit philosophische und theologische Spekulationen. Mit der bewußten Beherrschung der gesellschaftlichen Prozesse im Sozialismus gewinnt das Experiment wachsende Bedeutung in den Gesellschaftswissenschaften. Aber auch in der bürgerlichen Gesellschaft werden etwa seit den 20er Jahren Experimente in partiellen sozialen Bereichen, vor allem bei Kommunikationsprozessen und in kleinen sozialen Gruppen, durchgeführt. Die Geschichte der Entstehung sozialer Experimente beschreibt KuprijaniS1 ausführlich.

187

Vgl. A. P. Kuprijan, Metodologiceskie problemy social'nogo éksperimenta, Moskva 1971, S. 30.

Soziales Experiment

361

Die Anwendung von Experimenten in den Gesellschaftswissenschaften bringt jedoch eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich, so daß die Einstellung der empirischsoziologischen Forschung gegenüber dieser Methodik mitunter ambivalent ist. 188 Vielfaltig und ebenfalls nicht unbedingt einheitlich sind die Definitionen sozialer Experimente,189 wobei die folgende Bestimmung zwar noch recht pauschal ist, aber den Zugang zur Problematik ermöglicht : 188

Auf der einen Seite wird sozialen Experimenten das Attribut verliehen, Krone der empirischen Forschung und zugleich die vornehmste aller Forschungsmethoden zu sein (vgl. R. Mayntz/ K. Holm/P. Hübner, Einführung in die Methoden der empirischen Soziologie, a. a. O.; W. Friedrich, Experimentalstudien, in : W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, a. a. O., S. 612). — Sozialen Experimenten werden besonders große Erkenntnismöglichkeiten zugeschrieben, sie sollen Aufgaben zu lösen vermögen, die für andere Methoden unzugänglich sind (vgl. z. B. R . W . Rywkina/A. W. Winokur, Die Erforschung der quantitativen Bestimmtheit sozialer Erscheinungen mit Hilfe des Experiments, in : Autorenkollektiv (Hrsg.), Quantitative Methoden in der Soziologie, Berlin 1970, S. 49). — Weiter wird die Meinung vertreten, daß soziale Experimente gerade für die Überprüfung von Kausalhypothesen am besten geeignet sind (vgl. z. B. H. v. Alemann, Der Forschungsprozeß, a. a. O., S. 178). Trotzdem werden soziale Experimente aber in der DDR-Soziologie noch nicht als eine ausgebildete Forschungsmethode (vgl. H. Berger, Erhebungsmethodik in der soziologischen Forschung, in : G. Aßmann/R. Stollberg (Hrsg.), Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, a. a. O., S. 110) anerkannt und eingesetzt; gegenüber der Soziologie in der Sowjetunion, wo diese Methodik sowohl in der Theorie als auch in der praktischen Anwendung bereits verbreitet ist (Vgl. Raboòaja kniga sociologa, otv. red. G. V. Osipov, Moskva 1976, S. 457; L. A. Ivleva/P. E. Sivokon, Social'nyj éksperiment i ego metodologiöeskie osnovy, Moskva 1970, S. 37; vgl. D. Andreev, Metodologiceskie osnovy poznanijasocial'nychjavlenij, Moskva 1977, S. 189 etc. — Auf der anderen Seite besteht offenbar Distanz gegenüber sozialen Experimenten, die vor allem von der komplizierten Methodik für deren Durchführung hervorgerufen sein dürfte. So werden Auffassungen geäußert, nach denen es auf die Gewinnung „reiner" Ergebnisse bei der Durchführung von Experimenten ankommt (vgl. R. W. Rywkina, Rolle und Bedeutung des Experiments in den Gesellschaftswissenschaften, in : Soziologische Forschung: Grundsätze und Methoden, Berlin 1966, S. 157), solche idealen Experimente letztlich jedoch gar nicht durchführbar sind (vgl. W. Friedrich, Experimentalstudien, a. a. O., S. 616). Auch an anderer Stelle wird behauptet, daß makrosoziologische Experimente im ursprünglichen Sinne nicht durchgeführt werden können (vgl. Th. Härder, Werkzeug der Sozialforschung, a. a. O., S. 225). — In folgenden Bemerkungen wird ebenfalls Distanz gegenüber sozialen Experimenten sichtbar : „Eine Sache wird immer erst dann als Experiment bezeichnet, wenn sie mißglückt ist ; niemand glaubt einer Hypothese außer der, der sie aufgestellt hat, jeder aber glaubt einem Experiment außer dem, der es durchgeführt h a t " (vgl. H. Hartmann, Empirische Sozialforschung, Probleme und Entwicklungen, München 1972, S. 141). Ähnliche weitere Ansichten ließen sich finden.

189

Einige weitere seien hier beispielhaft zitiert : „Das soziale Experiment ist die Organisierung neuer Formen der gesellschaftlichen Tätigkeit in kleinen Maßstäben mit dem besonderen Ziel, sie wissenschaftlich zu untersuchen" (R. W. Rywkina, Rolle und Bedeutung des Experiments

362

Datenerhebung

Soziale Experimente sind „ein Verfahren, bei dem durch kontrollierte Einwirkung auf Prozesse der objektiven Realität Kenntnisse überprüft sowie neue Kenntnisse g e w o n n e n werden k ö n n e n " 1 9 0 . A n dieser Stelle ist zugleich eine scharfe Abgrenzung von allen umgangssprachlichen Experiment-Begriffen beziehungsweise v o n allen vorwissenschaftlichen Form e n des Herumprobierens erforderlich. F o l g e n d e s Vorgehen gilt als die klassische Versuchsanordnung bei wissenschaftlichen Experimenten: 1. Bildung einer Experimentalund einer Vergleichsgruppe. Beide G r u p p e n sollten h o m o g e n beziehungsweise vergleichbar sein in bezug auf alle möglichen Faktoren, von denen ein Einfluß auf die interessierende Fragestellung ausgehen könnte. Mit Hilfe der N u t z u n g v o n D o k u m e n t e n sind z. B. Arbeitskollektive zu ermitteln, die hinsichtlich der Altersstruktur, der Bildungs- und Qualifikationsstruktur, der

in den Gesellschaftswissenschaften, a. a. O., S. 148). — Das soziale Experiment „beinhaltet eine im kleinen Umfang durchgeführte mehr oder weniger wesentliche Veränderung von Bedingungen, darunter der Formen der gesellschaftlichen Tätigkeit, mit dem Ziel, sie wissenschaftlich zu erforschen" (R. W. Rywkina/A. W. Winokur, Die Erforschung der quantitativen Bestimmtheit sozialer Erscheinungen mit Hilfe des Experiments, a. a. O., S. 49). Das Experiment „besteht in der Konstruktion eines einfachen oder komplexen Dispositivs, das mit der Absicht in Aktion gesetzt wird, eine Wirkung, d. h. ein von dieser Aktion abhängiges Phänomen hervorzurufen. Die Beobachtung des Phänomens (und folglich das Sammeln des Materials) erfolgt dabei erst nach der Anwendung eines genau definierten Interventionsprotokolls, welches das Dispositiv, d. h. die Summe der Bedingungen des Phänomens, charakterisiert" (R. Pagés, Das Experiment in der Soziologie, in: R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 3a, Teil 2, 3., umgearb. u. erweit. Aufl., Stuttgart 1974, S. 274). Soziale Experimente sind „wiederholte Beobachtungen unter kontrollierten Bedingungen, wobei eine (oder mehrere) unabhängige Variable(n) derartig manipuliert wird (werden), daß eine Überprüfungsmöglichkeit der zugrunde liegenden Hypothese (Behauptung eines Kausalzusammenhanges) in unterschiedlichen Situationen gegeben ist" (E. Zimmermann, Das Experiment in der Sozialwissenschaft, Stuttgart 1972, S. 37). Das Experiment in der Soziologie „ist als Beweis einer Kausalhypothese durch die Untersuchung zweier kontrollierter, gegensätzlicher Situationen definiert worden" (E. Greenwood, Das Experiment in der Soziologie, in: R. König (Hrsg.), Beobachtung und Experiment in der Sozialforschung, Köln—Berlin (West) 1962, S. 191). „Der Begriff des Experiments bezieht sich auf die systematische Untersuchung zwischenmenschlicher Beziehungen durch Beobachtung, die unter kontrollierten Bedingungen stattfinden" (F. S. Shapin, Das Experiment in der soziologischen Forschung, in: R. König (Hrsg.), Beobachtung und Experiment in der Sozialforschung, a. a. O., S. 221). „Experimentalstudien sind solche empirischen Forschungen, mit denen durch eine planmäßige Bedingungssteuerung Kausalhypothesen wissenschaftlich geprüft werden" (W. Friedrich, Experimentalstudien, a. a. O., S. 612). 190

R. Winkler, Experiment, soziales, in: Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, 3. Aufl., Berlin 1983, S. 171.

363

Soziales Experiment

Geschlechtsstruktur, der Einkommensstruktur, der Berufsstruktur, der Art der ausgeübten Tätigkeit, der Familienstruktur etc. vergleichbar sind. 2. Erhebung der interessierenden Sachverhalte in beiden Gruppen. U m bei unserem Beispiel zu bleiben, könnten die Kollektivbeziehungen, die Beziehungen zum Leiter, die Arbeitsmotivation, die Leistungsbereitschaft, die Arbeitszufriedenheit, die Bereitschaft zur Schichtarbeit etc. ermittelt werden. Gleichzeitig ermöglicht diese Erhebung nochmals, die Vergleichbarkeit beider Gruppen zu überprüfen und eventuell Korrekturen vorzunehmen. 3. Einführung der experimentellen Veränderung in einer Gruppe (Experimentalgruppe). Hierbei könnte es sich z. B. um die Einführung neuer Lohnformen oder anderer Stimulierungsmittel handeln. 4. Kontrolle möglichst aller Einflußfaktoren. Dabei geht es vor allem um die unter 1. genannten Sachverhalte. Unvermeidbare Veränderungen, z. B. durch Fluktuation, Qualifikation, veränderte Arbeitsbedingungen etc., sind zu ermitteln. D a sich niemals alle Einflußgrößen kontrollieren lassen, sollte man „die unkontrollierten Faktoren in beiden G r u p p e n so . . . verteilen, d a ß der größtmögliche Zufall waltet" 1 9 1 . 5. Wiederholung der Erhebung in beiden Gruppen (vgl. 2.). Bei der Interpretation werden die festgestellten Veränderungen in der Experimentalgruppe, die nicht gleichzeitig auch in der Kontrollgruppe stattgefunden haben, auf die experimentelle Veränderung zurückgeführt. Diese sind bei Beachtung der ermittelten Einflußfaktoren entsprechend theoretisch zu interpretieren (vgl. 4. und Abb. 20). Zeitpunkt:

t0

Experimentalgruppe

Erhebung

Vergleichsgruppe

Erhebung

f, experimentelle Veränderung — Bedingungskontrolle

Erhebung Erhebung

Abb. 20 Klassische Versuchsanordnung

Neben dieser, im allgemeinen als klassisch bezeichneten Versuchsanordnung, ist eine ganze Reihe weiterer denkbar, wobei hier nur einige genannt werden können. U m Einflüsse zu kontrollieren, die von der Erhebung in den G r u p p e n hervorgerufen worden sein könnten, werden eine bzw. zwei weitere Gruppen in das Experiment mit einbezogen. Bei einer der zusätzlichen G r u p p e n wird dann ebenfalls die 191

R. König, Einleitung, in: R. König (Hrsg.), Beobachtung und Experiment in der Sozialforschung, a. a. O., S. 22.

364

Datenerhebung

experimentelle Veränderung vorgenommen, ohne daß dort jedoch zuvor eine Erhebung stattgefunden hat. In einer zweiten zusätzlichen Gruppe findet die experimentelle Veränderung nicht statt. In allen Gruppen erfolgt dann jedoch die Erhebung (vgl. 5.). Aus Vergleichen zwischen den Experimentalgruppen und den Vergleichsgruppen, in denen jeweils der Retest stattgefunden hat, mit den Gruppen, wo diese Tests unterblieben sind, soll auf Einflüsse der ersten Erhebung geschlossen werden 192 (vgl. Abb. 21). Zeitpunkt

t0

Experimentalgruppe (1) Vergleichsgruppe (1) Experimentalgruppe (2) Vergleichsgruppe (2)

Erhebung

t. experimentelle Veränderung

Erhebung experimentelle Veränderung

Erhebung Erhebung Erhebung Erhebung

Bedingungskontrolle bei allen Gruppen Abb. 21 Versuchsanordnung mit zusätzlicher Experimental- und Vergleichsgruppe

Besonders aus der klassischen Versuchsanordnung — sie geht letztlich ebenfalls auf die Naturwissenschaften zurück — wird deutlich, daß Experimenten in den Gesellschaftswissenschaften und besonders in der Soziologie bestimmte Grenzen gesetzt sind. Als schwerwiegend erweisen sich besonders folgende: — Die Beobachtung und Fixierung möglichst aller Bedingungen in der Experimental- und Vergleichsgruppe ist sehr kompliziert. Die Vielfalt der während des Experiments wirkenden Determinations- und Störeinflüsse erschwert deren systematische Kontrolle. — Es bestehen ethische und politische Grenzen beim Experimentieren im sozialen Bereich. Die angewandten experimentellen Veränderungen wirken sich auf das Leben der Menschen aus, aus ihnen dürfen keine Nachteile für die am Experiment beteiligten Personen erwachsen. Auch positive Erfahrungen, die diese im sozialen Experiment gemacht haben, können nicht ohne weiteres wieder durch entgegengesetzte Maßnahmen „korrigiert" werden. — Damit stößt das soziale Experiment (insbesondere die Konstruktion der experimentellen Veränderung) auch auf ökonomische Grenzen. Folgende wesentliche Züge sozialer Experimente können zusammenfassend genannt werden:

192

Vgl. E. Zimmermann, Das Experiment in den Sozialwissenschaften, a. a. O., S. 111.

Soziales Experiment

365

— Soziale Experimente sind — hierin besteht ihre Spezifik gegenüber den anderen Erhebungsmethoden — selbst Praxis und zugleich eine Form der Erkenntnis. Das Experimentieren kann in Anlehnung an Hegel als Sonderfall menschlicher Arbeit oder Praxis betrachtet werden, als bedingungskontrollierte-exemplarische Praxis mit Modellcharakter. 193 — Soziale Experimente erfordern, und darin dürfte eine Ursache für den immer noch relativ seltenen Einsatz dieser Methodik liegen, ein relativ weit entwickeltes theoretisches Untersuchungskonzept. Nur mit Hilfe theoretisch sehr hoch qualifizierter Hypothesen, die eine weitgehende untersuchungsleitende Funktion auszuüben vermögen, sind die Erkenntnismöglichkeiten sozialer Experimente auszuschöpfen. — Neben diesem theoretischen Aspekt bewirken soziale Experimente eine experimentelle Veränderung, die einen gezielten Eingriff in das bestehende Bedingungsgefüge darstellt. Mit der Variation einer sozialen Bedingung ist es jedoch oftmals nicht getan. Im allgemeinen wirken Ursachen komplexe wiederum auf ganze Komplexe von Sachverhalten determinierend ein. Die Entflechtung dieser Faktoren, d. h. das Feststellen des spezifischen Anteils einzelner Faktoren an der Veränderung, bereitet meist sehr große Schwierigkeiten. Bei sozialen Experimenten hat eine möglichst umfassende Kontrolle der wesentlichen Einflußfaktoren zu erfolgen. Dabei geht es darum, festgestellte Veränderungen als vom experimentellen Eingriff verursacht zu erklären und dabei möglicherweise weiterhin wirkende Ursachen auszuschließen oder mindestens zu erkennen. Aus dieser Charakteristik sozialer Experimente ergeben sich die besonderen Erkenntnismöglichkeiten dieser Methode für die Soziologie: Die Methodik sozialer Experimente impliziert die Erhebung der interessierenden Sachverhalte in Verlaufsform; soziale Experimente tragen Prozeßcharakter. Daraus resultiert die besondere Eignung dieser Forschungsmethodik für die empirische Untersuchung soziologisch relevanter Sachverhalte. Die Dialektik von sozialem Verhalten und gesellschaftlichen Verhältnissen, die Erforschung der Vermittlungsmechanismen zwischen beiden Polen ist bekanntlich Hauptanliegen der Soziologie. Dem Prozeßcharakter dieser dialektischen Beziehung entsprechend, vermag die wiederholte Erhebung, die Wirkung der Vermittlungsmechanismen zu verschiedenen Zeitpunkten zu erfassen. Damit ermöglichen es soziale Experimente, gerade den Prozeß, die Stufen der Vermittlung zwischen sozialem Verhalten und gesellschaftlichen Verhältnissen, zu erforschen.

193

Vgl. K.-E. Bühler, Wissen und Freiheit — Über Antinomien des humanwissenschaftlichen Experiments, in: Zeitschrift für klinische Psychologie und Psychotherapie (Freiburg i. Br.), 4/1982, S. 305.

366

Datenerhebung

Soziale Experimente eignen sich des weiteren dazu, die unterschiedlichsten Inhalte, die im Vermittlungsprozeß transformiert werden, abzubilden. Es ist prinzipiell denkbar, alle möglichen Inhalte der Vermittlung zwischen Verhältnissen und Verhalten zu untersuchen. Auf Grund der erforderlichen exklusiven, anspruchsvollen Methodik beschränkt sich jedoch ihre Anwendung auf ausgewählte Problemstellungen. Schließlich liegt der größte Erkenntniswert sozialer Experimente für die Soziologie im Aufdecken der gegenseitigen Bedingtheit und Abhängigkeit verschiedener sozialer Verhaltensweisen bzw. Verhältnisse. Da sich gegenseitige Abhängigkeiten z. B. in entsprechenden (kausalen) Folgeerscheinungen ausdrücken bzw. die Veränderung eines Sachverhalts oder Sachverhaltkomplexes sich in der Variation anderer Sachverhalte oder Sachverhaltskomplexe widerspiegelt, also wiederum jeweils Prozeßcharakter aufweist, sind soziale Experimente auch hierfür eine adäquate Erhebungsmethode. Gerade zur wechselseitigen, eventuell kausalen Bedingtheit verschiedener Aspekte der sozialen Wirklichkeit besteht oftmals nur ein Zugang über experimentelle Versuchsanordnungen, d. h. durch einen Eingriff in das komplizierte Netz der Bedingtheiten und durch Beobachten der somit hervorgerufenen Veränderungen. Andere Methoden sind auf Grund ihres rein kontemplativen Charakters nur bis zu einem gewissen Grade dazu in der Lage, in die Komplexität gesellschaftlicher Erscheinungen vorzudringen. 194 Aber auch auf Erkenntnisgrenzen sozialer Experimente, die deren Einsatz mitbestimmen, ist hinzuweisen. — Die anspruchsvolle experimentelle Versuchsanordnung bzw. die Unmöglichkeit, mit allen sozialen Sachverhalten zu experimentieren, begrenzt den Einsatz sozialer Experimente. — Das Repräsentanzproblem bei Experimenten, d. h. die Frage nach der möglichen Reichweite der Verallgemeinerungen, ist noch weiter zu klären, um soziale Experimente verstärkt einsetzen zu können. — Die oftmals schwer realisierbaren Kontrollmöglichkeiten von Störbedingungen schränken den Einsatz sozialer Experimente ein. — Neben ethischen und weltanschaulichen Grenzen beim Experimentieren im sozialen Bereich kommen hohe personelle und finanzielle Anforderungen hinzu. Soziale Experimente lassen sich nach verschiedensten Kriterien klassifizieren. Es wird in der Literatur z. B. unterschieden zwischen klassischen deterministischen Experimenten und wahrscheinlichkeitstheoretischen Experimenten, zwischen Ex-post-facto-Experimenten, Feldexperimenten, Laborexperimenten, Naturexperimenten und Gedankenexperimenten, zwischen Simultanvergleich, projektiven Experimenten, kritischen Experimenten, Kontrollexperimenten etc. 194

Vgl. M. Häder, Erkenntnismöglichkeiten einiger komplexer Erhebungsmethoden, a. a. O., S. 195.

367

Soziales Experiment

Wichtig ist dabei, entsprechende Kriterien für die Einteilung der sozialen Experimente festzulegen. Solche haben z. B. Parthey/Wahl195 und Kuprijan 1 9 6 entwikkelt. Als Synthese aus beiden Klassifikationsansätzen läßt sich das folgende Schema wichtiger Typen und Klassen des Experiments entwickeln (vgl. Abb. 22). Kriterium

Arten

Zweck des Experiments

Experimente für die Forschung, die Lehre etc.

Etappe der Forschung

Erkundungsexperimente Hauptexperimente Kontrollexperimente

Charakter der experimentellen Veränderung

Feldexperimente Laborexperimente

Charakter der zu untersuchenden Objekte

ökonomische Experimente pädagogische Experimente sozialpsychologische Experimente soziologische Experimente etc.

Struktur des Experiments

reale Experimente projektive Experimente quasi-experimentelle Anordnungen

Abb. 22 Wichtige Typen und Klassen des Experiments

Laborexperimente haben für die marxistisch-leninistische Soziologie kaum praktischen Wert. Bei dieser Art von Experimenten werden wesentliche soziale Einflußfaktoren a priori eliminiert. Ein besonderer Vorzug sozialer Experimente, der gerade darin besteht, daß die Reduktion der Komplexität der sozialen Realität relativ gering gehalten wird, d. h., daß die interessierenden Sachverhalte kaum aus ihrem natürlichen Rahmen herausgelöst werden, wirkt bei dieser Versuchsdurchfiihrung nicht. Ein Wesenszug von Laborexperimenten besteht in der nahezu vollständigen Kontrolle der Versuchsbedingungen, was dieser Methodik eine besondere Attraktivität für die Psychologie verliehen hat. Gewarnt werden m u ß 195

Vgl. H. Parthey/P. Wahl, Die experimentelle Methode in Natur- und Gesellschaftswissenschaften, Berlin 1966.

196

Vgl. A. P. Kuprijan, Metodologiceskie problemy social'nogo éksperimenta, a. a. O., S. 132.

368

Datenerhebung

jedoch vor der Übertragung von Ergebnissen aus Laborexperimenten auf das soziale Verhalten der Menschen in ihrer natürlichen Umwelt, wie es z. B. Milgram191 ausdrücklich versucht hat. Besondere Bedeutung für die Soziologie erlangen die quasi-experimentellen Versuchsanordnungen, da diese oftmals unter den gegebenen Voraussetzungen in der empirisch-soziologischen Forschung eher eingesetzt werden können. Die einfachste Möglichkeit besteht darin, daß die erste Erhebung (vgl. 2.) in beiden Gruppen wegfallt und lediglich eine Erhebung nach der Einführung der experimentellen Veränderung erfolgt (vgl. Abb. 23). Zeitpunkt

t0

ti

Experimentalgruppe



(experimentelle) Veränderung

Erhebung

Vergleichsgruppe





Erhebung

Abb. 23 Quasi-experimentelle Versuchsanordnung

So können z. B. in Anlehnung an das oben beschriebene Problem zwei Arbeitsgruppen verglichen werden, die bis vor kurzem gleiche Arbeitsbedingungen hatten; in einer Arbeitsgruppe hat eine (quasi-experimentelle) Veränderung stattgefunden. Bei dieser Art der Versuchsdurchführung wird das mitunter schwierige Problem der Einführung der experimentellen Veränderung vereinfacht. Zugleich jedoch entstehen Unsicherheiten bei der Interpretation, da auf G r u n d der fehlenden Erhebung vor der experimentellen Veränderung Aussagen über die Vergleichbarkeit der G r u p p e n nur bedingt gemacht werden können. Bisky betrachtet die expost-facto Versuchsanordnung als besonderes Verfahren der Intervallstudie. 1 9 8 Neben dieser einfachsten quasi-experimentellen Versuchsanordnung ist wiederum eine Reihe Abwandlungen denkbar. Auch hier sei auf das „Arbeitsbuch" und auf Zimmermann verwiesen, der insgesamt über 20 methodische Varianten von sozialen Experimenten aufzählt und beschreibt. 1 9 9 Bei der Qualifizierung der empirisch-soziologischen Forschung in der D D R kann auf den Einsatz sozialer Experimente nicht verzichtet werden. Die reichen Erfahrungen sowjetischer Soziologen bei der Anwendung dieser Methodik gilt 197

198

199

Vgl. St. Milgram, Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamkeit gegenüber Autorität, Reinbek b. Hamburg 1974. Vgl. L. Bisky, Wirkungsforschung, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, a. a. O., S. 579/580. Vgl. Rabocaja kniga sociologa, otv. red. G. V. Osipov, a. a. O., S. 470; E. Zimmermann, Das Experiment in den Sozialwissenschaften, a. a. O.

Soziales Experiment

369

es stärker zu nutzen. Als besonders attraktiv erscheinen gerade quasi-experimentelle Versuchsanordnungen bzw. ex-post-facto Experimente. Die spezielle Methodik dieser Experimente stellt realisierbare (bescheidenere) Ansprüche an die Durchführung und erbringt zugleich immer noch wesentliche Aufschlüsse über komplizierte soziale Prozesse. In künftigen methodischen Forschungen ist das Wissen über die Leistungsfähigkeit dieser Verfahren weiter zu vertiefen und deren Anwendung vorzubereiten. Ein wichtiges Problem aller Erhebungsmethoden und insbesondere auch sozialer Experimente stellt deren Güte dar. Damit werden zugleich Störgrößen und typische methodische Fehler bei sozialen Experimenten angesprochen. Die Güte sozialer Experimente betrifft den Grad der Übereinstimmung zwischen der in der theoretischen Konzeption entwickelten Fragestellung mit den von der Methodik tatsächlich erbrachten Informationen — mit anderen Worten, die Eignung der Methodik für die Bearbeitung der entsprechenden Thematik. Hierbei soll unterschieden werden zwischen: 1. Güteproblemen, die internen Charakter tragen; gemeint sind solche, die aus der Versuchsdurchführung selbst resultieren. Sie sind vorwiegend empirischmethodisch begründet, und 2. Güteproblemen, die aus der Interpretation der Untersuchungsergebnisse erwachsen; diese tragen eher inhaltlich-theoretischen Charakter. Zur ersten Gruppe von Güteproblemen: Als neuralgische Punkte, die bestimmend sind für die instrumenteile Güte sozialer Experimente, haben sich erwiesen: — Gültigkeit und Zuverlässigkeit der Erhebungen (vgl. 2. und 5.). Die benutzten Erhebungsmethoden (z. B. Befragungen, Beobachtungen, Dokumentenanalysen) müssen adäquate Abbilder der interessierenden sozialen Sachverhalte liefern. Auf die entsprechenden, diesen Erhebungsmethoden eigenen Fehlerquellen ist zu achten; — die Vergleichbarkeit der Strukturen in der Experimental- und Vergleichsgruppe als wesentliche Voraussetzung für die Interpretation festgestellter Unterschiede ; — die Kontrolle der unbeabsichtigten Einflußfaktoren und die gleichzeitige Erhaltung möglichst konstanter bzw. vergleichbarer Bedingungen in den Gruppen. Folgende Einflußfaktoren können wirken und sind somit besonders zu kontrollieren: Ereignisse zwischen den Erhebungen, Veränderungen der Untersuchungsobjekte bzw. der Probanden, Effekte, die aus der Erhebung selbst resultieren, Veränderungen der Erhebungsinstrumente, Ausfalle von Probanden zum Beispiel durch Fluktuation, Krankheit etc.; — eine der Versuchsplanung adäquate Einführung der experimentellen Veränderung. Zur zweiten Gruppe von Güteproblemen: Hier geht es vor allem um die Möglichkeit der Verallgemeinerung der in sozialen Experimenten gewonnenen Daten.

370

Datenerhebung

Auf der Grundlage vergleichbarer Strukturen zwischen der in das Experiment einbezogenen Stichprobe und der interessierenden Grundgesamtheit wird eine entsprechende theoretisch begründete Übertragung der Untersuchungsergebnisse ermöglicht. Zusammenfassend ist festzustellen, daß soziale Experimente hervorragende erkenntnistheoretische Voraussetzungen für die empirische Erforschung soziologisch relevanter Sachverhalte haben, die vor allem aus der sozialen Experimenten eigenen Spezifik, Einheit von Praxis und zugleich Erkenntnismethode zu sein, resultieren. Der komplizierte, anspruchsvolle methodische Versuchsaufbau trägt gegenwärtig noch dazu bei, einen breiteren Einsatz dieser attraktiven Vorgehensweise zu verhindern. Soziale Experimente werden zumeist mit anderen Erhebungsmethoden gekoppelt. Prinzipiell sind alle empirischen Zugänge nutzbar, wobei insbesondere Fallstudien und Intervalluntersuchungen besondere Bedeutung für soziale Experimente haben. Fallstudien liefern gute Voraussetzungen für die Entwicklung experimenteller Versuchsanordnungen, und Intervalluntersuchungen bedienen sich einer ähnlichen Methodik, so daß mitunter sogar fließende Übergänge bestehen dürften. Theoretische und praktische Erfahrungen aus dem Einsatz dieser Methoden sind auch bei sozialen Experimenten zu nutzen. Bei der verstärkt in Angriff zu nehmenden Suche nach praktikablen Strategien für die Durchführung sozialer Experimente sollten unter Nutzung der Erfahrungen sowjetischer Soziologen insbesondere die Möglichkeiten der ex-post-facto Versuchsanordnung stärker berücksichtigt werden, zumal es der Soziologie oftmals um schwer manipulierbare experimentelle Veränderungen geht, die bei diesem Verfahren eher (z. B. kostengünstig) bewerkstelligt werden können.

3.3.5. Einstellungstests Empirische Arbeiten zur Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten, Untersuchungen zu personalen Leistungs- oder Verhaltensbedingungen u. a. persönlichkeitssoziologischen Problemen schließen auch die Analyse von Einstellungen ein. 200 Diese kann mit verschiedenen Methoden und Verfahren erfolgen, wobei allerdings ihre jeweiligen Vorzüge und Grenzen zu beachten sind. Ein zwar einfaches, jedoch für eine erste Einschätzung von Verfahren zweckmäßiges Gruppierungskriterium stellt die Bandbreite dar. Verfahren großer Bandbreite sind für die Analyse der verschiedensten Einstellungen geeignet, die mit ihnen gewonnenen Daten erlauben jedoch weniger exakte und zuverlässige Aussagen. Für Verfahren geringer Bandbreite gilt Gegenteiliges. Sie ermitteln nur eine bestimmte Einstel200

Im vorliegenden Beitrag gebrauchen wir den Begriff der Einstellung vereinfachend auch als Oberbegriff für Motive, Interessen und Wertorientierungen, ohne die oft komplizierten begrifflichen Probleme zu verkennen.

Einstellungstests

371

lung, leisten dies aber relativ zuverlässig und gültig. Große und geringe Bandbreite stellen Endpunkte eines Kontinuums dar, auf denen sich die verschiedenen Verfahren einordnen lassen. Einstellungstests sind Verfahren geringer Bandbreite. Sie erweitern die Palette soziologischer Verfahren zugunsten bestimmter Forschungsstrategien, auch wenn sie ihrer Herkunft nach der Psychologie zuzuordnen sind. Ihr Einsatz ist bei allen Strategien gefordert, zu deren Realisierung Daten notwendig sind, mit denen zunächst die Einstellungen einer einzelnen Person exakt ausgewiesen werden können. Eine entsprechende Strategie ist beispielsweise mit Intervallstudien gegeben, die auf gesetzmäßige Zusammenhänge der Einstellungsbildung zielen. Ein anderes Beispiel sind kasuistische Studien, Fallstudien (z. B. von schöpferischen Einzelpersonen, Jugendforscherkollektiven) mit Anspruch auf theoretischen Erkenntnisgewinn, der auch quantitative Aussagen zu Einstellungen einschließt. Hinsichtlich der Frage, was der Testbegriff beinhaltet, folgen wir einer weithin anerkannten Umschreibung. Danach stellt ein Test ein Analyseverfahren dar, „bei dem in standardisierten Situationen Verhaltensmerkmale (Verhaltensstichproben) von Personen erfaßt werden, die als Indikatoren für bestimmte Personeneigenschaften dienen sollen, und dessen Resultat eine Einordnung der Untersuchten in eine Klassifikation ermöglicht, die an einer Gruppe vergleichbarer Personen gewonnen wurde" 201 . Hier geht es vor allem um die Darstellung von Merkmalen des Tests und der Testkonstruktion. Beide Themenbereiche sind gut geeignet, um die Spezifik der besonderen Verfahrensgruppe zu verdeutlichen. Testarten: Gruppiert man Tests danach, welche Seite der Persönlichkeit sie erfassen, dann ergeben sich zunächst zwei Hauptgruppen: die Leistungs- und die Einstellungstests. Zu den ersteren zählen Kenntnis-, Konzentrations-, Fähigkeits-, Intelligenz-, Kreativitäts-, Schulleistungsverfahren. Einstellungstests umfassen Verfahren wie spezielle Einstellungs-, Motiv-, Interessen-, Temperamentstests. Um diese geht es hier, Leistungsverfahren bleiben ausgeklammert. Einstellungstests lassen sich von verschiedenen Ansätzen her erarbeiten. Dazu gehören der „projektive" und der „direkte" Ansatz. Bei projektiven Verfahren kann der Proband das methodische Ziel nicht erkennen. Er wird aufgefordert, wenig strukturierte, vieldeutige Vorlagen (z. B. undeutliche Bilder) unter bestimmten Fragestellungen zu interpretieren. Von den Erklärungen schließt der Versuchsleiter auf bestimmte Bedürfnisse, Haltungen, Probleme u. a. Die methodische Qualifikation solcher Verfahren ist in verschiedener Hinsicht noch begrenzt. Wir gehen auf projektive Tests nicht weiter ein. Vom direkten Ansatz her ergeben sich Verfahren, deren Zweck vom Probanden erkennbar ist. Er schätzt eigene 201

J. Guthke, Ist Intelligenz meßbar?, Berlin 1978, S. 69.

25

Soziolog. Forschung

372

Datenerhebung

Verhaltensweisen und Meinungen im Rahmen standardisierter Bedingungen ein. Die Entwicklung entsprechender Verfahren ist methodisch am weitesten ausgearbeitet. Wir wenden uns ausschließlich solchen Tests zu. Da sie von der äußeren F o r m her einem Fragebogen ähneln, werden sie auch als Persönlichkeitsfragebogen bezeichnet. Einstellungstests werden auch kritisch diskutiert. Ein Einwand betrifft den Sachverhalt, daß die Probanden den Zweck der Fragen erkennen und somit die Möglichkeit verfälschter, die eigene Person günstig darstellender Antworten besteht. Eine solche Möglichkeit ist im Einzelfall und in bestimmten psychodiagnostischen Situationen nicht auszuschließen. Im Falle wissenschaftlicher Untersuchungen liegen unserer Überzeugung nach die Dinge anders. Die Probanden werden über den wissenschaftlichen Anlaß der Untersuchung informiert, und sie können in der Regel „ a n o n y m " bleiben. Dadurch sind offene, unbefangene Antworten mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Merkmale von Tests: Einstellungstests haben eine Reihe von Eigenschaften, in denen sich insbesondere ihr methodischer Wert ausdrückt: 1. Das Testmaterial (Fragen nebst Antwortmöglichkeiten, Bearbeitungsinstruktion), der Anwendungsbereich, die Anforderungen an Durchführung, Auswertung und Interpretation der Resultate sind festgelegt. Als abhängige Variable wirkt (theoretisches Leitbild) die angezielte Einstellung, die aus dem Testverhalten eines Probanden erschließbar ist. Es besteht quasi eine experimentelle Situation. Des weiteren ist zu würdigen, daß die Standardisierung die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen vergleichbar macht. 2. Im R a h m e n der standardisierten Untersuchungssituation wird das interessierende Verhalten gezielt ausgelöst. Die Abhängigkeit von spontanen Verhaltensäußerungen (Beobachtung) entfallt. 3. Tests ermöglichen es, ihr Indikatum quantitativ zu erfassen, sie sind psychometrische Verfahren. Die Beziehung zwischen Testverhalten und Indikatum ist relativ eindeutig. Unterschiedliche Antworten und Stellungnahmen weisen auf bestimmte Indikatumsausprägungen hin. Dies sichern spezielle methodenkritische (Vor-) Untersuchungen, insbesondere Gültigkeitsprüfungen. 4. Das persönlichkeitstheoretisch abgeleitete und begrifflich präzis umschriebene Indikatum eines Tests wird durch eine Vielzahl von Fragen und Stellungnahmen angezielt. Ein G r u n d dafür ist folgende Überlegung: Eine Verhaltensdisposition (Einstellung, Fähigkeit) äußert sich in sehr unterschiedlichem Verhalten, das in- seiner Gesamtheit ein Verhaltensuniversum darstellt. Testfragen sollen eine repräsentative Stichprobe des Universums darstellen. Da dieses in der Regel sehr umfangreich ist, wird eine Stichprobe von 5 bis 40 Fragen als notwendig angesehen.

Einstellungstests

373

Zur Konstruktion von Einstellungstests: Die Konstruktion eines Einstellungstests ist an einen längeren und komplizierten Arbeitsprozeß gebunden, der verschiedene Zwischenziele einschließt und oft auch rekursive Aktivitäten erfordert. Sicher liegt in dem notwendigen Aufwand ein Grund dafür, daß bei der Vorbereitung empirischer Studien auf die Entwicklung von Tests trotz ihrer Vorzüge verzichtet wird. Betrachten wir die fünf wichtigsten Phasen der Testkonstruktion. Phase 1: Festlegen des Geltungsbereiches Der Geltungsbereich liegt fest, wenn der Personenkreis in dem das Verfahren eingesetzt werden soll, nach Alter, Geschlecht, Bildungsabschluß etc. bestimmt ist. Ein enger Geltungsbereich ist gegeben, wenn das Verfahren z. B. die StudienwahlMotivation bei EOS-Schülern der Klassenstufe 12 erfassen soll; ein weiter Geltungsbereich besteht, wenn z. B. die Probleme und „Sorgen" der Studenten aller Fachrichtungen zu ermitteln sind. In manchen Fällen ist es möglich, im Rahmen eines Verfahrens mit großem Geltungsbereich auch Verfahrensteile mit engerer Geltung für bestimmte Teilgruppen (z. B. unverheiratete Studenten) einzubeziehen. Mit dem Geltungsbereich liegt eine erste Bedingung für die Gestaltung des Verfahrens und für die folgenden Arbeitsetappen fest. Phase 2: Festlegen des Gültigkeitsbereiches Der Gültigkeitsbereich beinhaltet die Einstellungen und ihre Dimensionen, die analysiert werden sollen. Mit ihm liegt also das mehr oder weniger vielseitige Indikatum fest. In dieser Phase sind oft komplizierte theoretische Probleme zu klären. Die marxistisch-leninistische Persönlichkeitstheorie bietet dafür eine notwendige Grundlage. In bezug auf bestimmte Einstellungen ergeben sich jedoch vielfältige begrenztere Fragen. » Gehen wir als Beispiel davon aus, daß ein Verfahren zur Analyse von Wertorientierungen entwickelt werden soll. Dazu bedarf es zunächst klarer begrifflicher Festlegungen zum „Wert", was er f ist und was seinen gesellschaftlichen Charakter ausmacht. Das verlangt, philosophische, ethische u. a. Aussagen zu beachten. Von der vertretenen Position her ist der Begriff der Wertorientierung als Persönlichkeitsmerkmal zu umschreiben, was die Einordnung und Abgrenzung zu solchen Begriffen wie Bedürfnis, Interesse, Motiv ebenso wie die Charakteristik der verhaltensbedingenden Funktionen einschließt. Ein weiteres Problem wirft das Festlegen der verschiedenen einzelnen Wertorientierungen auf. Da eine allgemein anerkannte Systematik noch aussteht, sind hypothetische Festlegungen nicht zu umgehen. Solche und weitere Fragen sind vom gegebenen Erkenntnisstand und weiterführenden Hypothesen zu klären und in der Indikatumsbestimmung festzuschreiben. Das Festlegen des Gültigkeitsbereiches trägt maßgeblich dazu bei, die Einheit von Persönlichkeitstheorie und methodischer Praxis zu realisieren. Es beugt auch ungeeigneten Vorgehensweisen vor, z. B. von einer vagen, 25*

374

Datenerhebung

unreflektierten Darstellung über das Indikatum ausgehend, Indikatoren zu suchen und deren Eignung intuitiv zu unterstellen. In der zweiten Phase sollte zweckmäßigerweise ein weiteres Problem bedacht werden: Spätere Arbeitsschritte gelten der Validitätsbestimmung des Verfahrens. D a diese methodenkritischen Aktivitäten engstens auf das Indikatum bezogen sind, sollten bereits im Zusammenhang mit der Bestimmung des Gültigkeitsbereiches die Wege und Mittel ausgewählt werden, mit denen Belege für die Validität erarbeitet werden können. Phase 3: Konzipierung des Verfahrens In dieser Phase wird festgelegt, wie das Verfahren beschaffen sein soll. Dazu gehören die Wahl — eines Indikatortyps, — eines Antwortmodells, — eines Modus zur Anordnung der Indikatoren, — der Art und Weise, wie die Antworten oder Stellungnahmen der Testbearbeiter zu bewerten (bepunkten) sind, und — der Inhalte der Instruktion für Testbearbeiter. Jeder einzelne Konzeptionsteil wirft viele Fragen auf, für die eine optimale Lösung zu finden ist. Betrachten wir kursorisch das Problem der Indikatoranordnung. Von vornherein ist zu beachten, d a ß mit der Wahl einer bestimmten Anordnung der einzelnen Indikatoren zugleich die vom Probanden geforderte Beurteilungsleistung festgelegt wird. Folgende Anordnungsmodi sind für Einstellungstests typisch. Die zur Veranschaulichung angeführten Indikatoren zielen auf Wertorientierungen, was in unserem Zusammenhang jedoch ohne Bedeutung ist; die Modi können auch bei Motiv- und Interessenanalysen genutzt werden. Erstens: Anreihungsmodus mit Absolut-Urteil Beispiel: Unter Erstens bis Drittens wurde einiges zusammengestellt, was im Leben wichtig sein kann. Inwieweit ist es für Sie persönlich wichtig? Wählen Sie für jede einzelne Vorgabe unter den Antwortmöglichkeiten: Das ist für mich 1 außerordentlich wichtig 2 ziemlich wichtig 3 noch wichtig 4 nicht so wichtig 5 völlig unwichtig a. Erfindungen machen, schöpferisch sein, knobeln b. unserer Gesellschaft nach besten Kräften dienen c. hohe Anerkennung bei anderen haben, etwas darstellen d. für andere Menschen da sein, auch wenn ich auf etwas verzichten muß e. alle Möglichkeiten nutzen, um Geld zu verdienen

Einstellungstests

375

Die angereihten Indikatoren müssen einzeln, mit Hilfe eines Maßstabes (Schätzskala 1—5) beurteilt werden. Dieser fordert ein absolutes Urteil. Ein Vergleich mit anderen Indikatoren (wichtiger als) bleibt ausgeklammert. Zweitens: Paarmodus mit Relativ-Urteil Beispiel: Was ist für Ihre eigene Lebensgestaltung wichtiger? Die Vorgaben sind paarweise zusammengestellt. Entscheiden Sie für jedes der Paare, was für Sie wichtiger ist, A oder B. Für meine Lebensgestaltung ist wichtiger ... A oder B für andere Menschen da sein Erfindungen machen, knobeln

Der Paarmodus verlangt kein absolutes Urteil, sondern ein relationales durch Vergleich zweier Vorgaben. Dies ist in verschiedener Hinsicht folgenreich. Vor einer einschätzenden Betrachtung zunächst ein weiterer Modus. Drittens: Rangreihenbildung mit Relativ-Urteil Es wird eine Anzahl von (z. B.) alphabetisch geordneten Vorgaben geboten, deren Inhalte mit denen der bereits angeführten Beispiele vergleichbar sind und Wertorientierungen reflektieren. Die Anzahl kann — von uns bekannten Fällen her geurteilt — von 4 bis 18 variieren. Der Proband soll die Vorgaben in eine Rangreihe nach persönlicher Bedeutsamkeit für die eigene Lebensgestaltung bringen. Den ersten Rangplatz erhält das Allerwichtigste, den letzten das am wenigsten Wichtige. Bei der Entscheidung für einen Modus im konkreten Falle einer Testentwicklung ist zunächst zu prüfen, ob der Indikatumsbestimmung nur ein spezieller Modus adäquat ist. (Rokeach z. B. geht davon aus, daß Werte nur im direkten Vergleich miteinander reflektiert werden und nutzt dementsprechend die Rangreihenbildung.) Wenn davon ausgegangen werden kann, daß vom Indikatum her kein Sachzwang eines Modus vorliegt, dann ist die Wahl nach engeren methodischen Kriterien zu treffen. Diese sind unterschiedlicher A r t : Zunächst ist das jeweilige Meßniveau zu beachten. Paar- und Rangreihenmodus führen zu ordinalen Daten. Diese erlauben es nicht, die absolute Höhe der Ausprägung von Wertorientierungen zu bestimmen. Die ähnlichen Wertorientierungsprofile zweier Personen können auf recht unterschiedlichem Ausprägungsniveau liegen, was aber nicht bestimmbar ist. Für Ordinaldaten ist ferner nur die nichtparametrische Statistik geeignet. Beim Anreihungsmodus liegen die Dinge anders. Dienen solche Schätzskalen — wie im Beispiel angeführt — als Beurteilungsmaßstab, so ist es eine verbreitete Praxis, diese als (Quasi-)Intervallskala anzusehen. Intervalldaten aber kennzeichnen auch die absolute Höhe von Ausprägungsprofilen, sie eröffnen auch die Möglichkeit, parametrische Statistiken zu nutzen.

376

Datenerhebung

Die Wahl eines Modus wirkt sich weiterhin auf die Zahl der benötigten Indikatoren aus. Gehen wir von dem Fall aus, daß zehn Wertorientierungen beachtet werden und für diese nur je ein Indikator vorgesehen ist. Für den Anreihungsund Rangordnungs-Modus resultieren dann zehn Indikatoren, für den Paarmodus aber bereits 45 Paare, da jede Wertorientierung mit jeder anderen verglichen werden muß. Damit werden Fragen berührt, die sowohl die Zeitökonomie einer Versuchsdurchführung als auch die für Probanden zumutbare Belastung berühren. Zu beachten ist aber auch, daß die geforderte Beurteilungsleistung beim Paarmodus recht einfach bleibt, nur zwei Vorgaben sind zu vergleichen. Die anderen Modi stellen eine höhere Anforderung dar (zumal bei Personen, die im beurteilend-reflektierenden Denken ungeübt sind). Weitere Sachverhalte sind zu bedenken: Zwischen wievielen Rangplätzen kann real differenziert werden? Kann ein Rangplatz mehrfach vergeben werden etc.? Die Konzipierung des Verfahrens und die davon geleitete Erarbeitung eines Verfahren-Entwurfs (Vorform 1) erfordert vielfaltige Entscheidungen und auch Kompromisse bei sich widersprechenden Forderungen. Eine gute Vorform 1 erhöht die Erwartung auf positive Ergebnisse bei den weiteren Arbeitsschritten. Phase 4: Indikatoranalyse Vorform 1 wird in einer für den Geltungsbereich repräsentativen Personengruppe eingesetzt. Die Ergebnisse werden vor allem so ausgewertet, daß sich die einzelnen Indikatoren in ihrer methodischen Eignung einschätzen lassen. Wichtige Kennwerte sind dafür unter anderem der Entscheidungsindex ( P ) und der Trennschärfenkoeffizient (rit). Die Güte der Einzelindikatoren setzt sich verständlicherweise in die methodische Qualifikation des Gesamtverfahrens um. Geeignete Indikatoren müssen verschiedenen Kriterien genügen. So sollen sie zunächst überhaupt zwischen Probanden differenzieren, sie sollen das weiterhin (Trennschärfe) in richtiger Weise tun und einen angemessenen Beitrag zur Gesamtaussage des Verfahrens leisten, auch eine befriedigende Meßstabilität (vgl. Abschnitt 2.9.) ist günstig. Im Rahmen unserer Überblicksdarstellung verzichten wir auf nähere Ausführungen zu den Kriterien und ihren statistischen Kennwerten. Allgemein ist wichtig, daß mit Hilfe der Kriterien weniger geeignete Indikatoren ausgesondert werden können. Das kann 10 bis 50 Prozent der Indikatoren betreffen, was unproblematisch bleibt, wenn die Vorform 1 entsprechend umfangreich angelegt ist. Mit den geeigneten Indikatoren wird Vorform 2 gestaltet. Phase 5: Gesamttestanalyse Ziel der Arbeitsschritte in dieser Phase ist es, die Gütekriterien des gesamten Verfahrens (also nicht mehr der Einzelindikatoren) zu bestimmen. Vor allem interessiert, wie zuverlässig (reliabel) und gültig (valide) das Verfahren das angezielte Indikatum analysiert (zu den Gütekriterien und entsprechenden Prüftechniken vgl. Abschnitt 2.9.). Um das zu klären, sind folgende Daten zu ermitteln:

Einstellungstests

377

— die Ergebnisse der Vorform 2 aus einer Probanden-Stichprobe; — die Ergebnisse eines Wiederholungsversuches in der Vorform 2, der nach angemessener Intervallzeit in der gleichen Stichprobe ein zweites Mal eingesetzt wurde. Der Grad der Übereinstimmung der Ergebnisse aus Erst- und ReVersuch zeigt die Zuverlässigkeitsart (Meßstabilität) der Ergebnisse an, die bei verfestigten Persönlichkeitsmerkmalen zu prüfen ist; — Daten, die Belege für die Gültigkeit des Verfahrens beinhalten. Sie können unterschiedlichen Charakter tragen und aus verschiedenen Quellen stammen: die Beurteilung der interessierenden Einstellungen bei den Personen der Stichprobe, z. B. durch Lehrer oder Lehrausbilder (Für die Gültigkeit des Verfahrens spricht es, wenn Testdaten und Daten der Fremdbeurteilung übereinstimmen.) ; Ergibnisse eines Intelligenztests sollten mit denen des Einstellungstests keinen Zusammenhang zeigen; teilgruppenspezifische Ergebnisse des Einstellungstests, die von objektiven Merkmalen der zu vergleichenden Teilgruppen zu erwarten sind. Bei FDJ-Funktionären etwa darf allgemein eine noch stärkere Ausprägung der politischen Wertorientierung angenommen werden als bei FDJ-Mitgliedern ohne Funktion. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Hier zeigt sich, daß auch die methodenkritische Analyse des Gesamtverfahrens arbeitsaufwendig ist und den Einsatz verschiedener Verfahren erfordert. Erweist sich der Einstellungstest im Ergebnis der verschiedenen Überprüfungen als zuverlässig und gültig, analysiert er also exakt das Indikatum, dann ist er einsatzbereit. Wird er in Untersuchungen eingesetzt, dann eröffnen sich von den Forschungsergebnissen her zumeist weitere Möglichkeiten, um seine Validierung zu erweitern und zu vertiefen. Überblicken wir abschließend das zu den Merkmalen und zur Konstruktion von Einstellungstests Gesagte unter der Frage, wie sich diese in das Methodeninventar der Soziologie einordnen. Einstellungstests sind für die Analyse von Einzelpersonen konstruiert. Der Sachverhalt widerspricht keineswegs Intentionen der soziologischen Persönlichkeitsforschung. Für bestimmte soziologische Forschungsstrategien, die vor verallgemeinernden Schritten zunächst exakte und gültige Daten über Einzelpersonen erfordern, sind — wie bereits oben angedeutet — Einstellungstests wegen ihrer zur Einzeldiagnostik ausreichenden Gütekriterien unerläßlich. Das trifft unbedingt für Längsschnittstudien oder für kasuistische Studien zu, die zu Erkenntnissen über gesetzmäßige Zusammenhänge der Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten führen sollen. Aber auch bei anderen Forschungsstrategien ist der Einsatz von Einstellungstests zu bedenken; das gilt für Querschnittanalysen, mit denen die durchschnittliche Ausprägung bestimmter Einstellungen in repräsentativen Personengruppen ermittelt werden soll. Dabei werden gelegentlich für komplexe Indikata in restriktiver Orientierung nur Einzelindikatoren vorgesehen, die geeignet erscheinen, die in ihrer instrumentellen und inhaltlichen Funktionstüchtigkeit

378

Datenerhebung

jedoch nicht überprüft sind. Der Einsatz entsprechender Einstellungstests ist in solchen Fällen trotz der Vielzahl von Indikatoren zweckmäßig. Die Entwicklung von Einstellungstests für Indikata, die in der soziologischen Persönlichkeitsforschung unter verschiedenen Zielstellungen wiederholt analysiert werden, erweist sich auch in anderer Hinsicht bedeutungsvoll. Mit ihnen liegen Verfahren vor, die im Bedarfsfall von zahlreichen soziologischen Arbeitsgruppen eingesetzt werden können. Diese sind der Notwendigkeit enthoben, für einzelne Untersuchungen ad hoc Indikatoren zu erarbeiten. Die Vergleichbarkeit der Ergebnisse aus verschiedenen Arbeitsgruppen bzw. Untersuchungen erhöht sich. Aus dieser Sicht dürfte auch der mit der Konstruktion von Tests verbundene Aufwand vertretbar werden. Der schrittweise Aufbau einer „Testbibliothek" mit Verfahren zur Ermittlung von Wertorientierungen, Arbeitsmotiven, Freizeitinteressen u. a. bereichert die Methodik der empirischen soziologischen Forschung. Entsprechende methodische Arbeiten sollten interdisziplinär erfolgen und vor allem von Soziologen, Psychologen und Statistikern in kollektivem Bemühen geleistet werden.

3.3.6. Gruppenanalytische Verfahren Die Untersuchung von Kleingruppen konstituiert keine grundsätzlich neuen Methoden, auch wenn die „soziometrischen" Verfahren — wir stellen unten den Partnerwahlversuch und das Gruppenbewertungsverfahren vor — einen gegenteiligen Eindruck erwecken; es handelt sich dabei lediglich um eine spezielle Anwendungsform der Befragung. Für die empirische Untersuchung von Kleingruppen ist grundsätzlich die gesamte Palette soziologischer Erhebungsmethoden geeignet, allerdings in jeweils gegenstandsadäquater Fassung. Wenn wir dem Untersuchungsobjekt „Kleingruppe" einen besonderen methodischen Abschnitt widmen, dann geschieht das ausgehend von der allgemeinen soziologischen Erkenntnis, — daß kleine Gruppen ein wesentliches Strukturelement jeder Gesellschaft sind, weil Menschen in Gruppen kooperieren und leben; — daß kleine Gruppen bei der Formung und Bestimmung des Individuums eine wesentliche Rolle spielen, daß also Familie, Arbeitskollektiv, Lerngruppe, Freizeitgruppe und andere Gruppen eine erzieherische und verhaltensorientierende Funktion ausüben; — daß kleine Gruppen zwischen der Gesellschaft (sowie der Klasse und großen Organisationen) und dem Individuum vermitteln und in dieser Funktion zugleich integrativ wirken, den Menschen aktiv in die verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Lebens einbeziehen und

Gruppenanalytische Verfahren

379

— daß sie umgekehrt für das Individuum in wesentlichen Bezügen die Gesellschaft vertreten, als Repräsentant der Gesellschaft erlebt werden. „Soziale Kleingruppen vollbringen also in jeder Gesellschaft unverwechselbare und kaum ersetzbare soziale Leistungen. Das gilt besonders für die Kollektive in der sozialistischen Gesellschaft und für die Kollektivität als Merkmal der sozialistischen Lebensweise." 202 Die verschiedenen kleinen Kollektive sind in der sozialistischen Gesellschaft Träger sozialer Aktivität, Institutionen der sozialistischen Erziehung und der sozialen Kontrolle, Elemente der sozialistischen Lebensweise und eine unersetzliche Lebenssphäre für die sozialistische Persönlichkeit. Unter diesen Gesichtspunkten spielt die soziologische Untersuchung von Arbeitsbrigaden, Forschungsgruppen, Schüler- und Studentenkollektiven, Sportmannschaften und anderen Freizeitgruppen sowie von Familien und Hausgemeinschaften eine große Rolle. Formal können bei gruppenanalytischen Untersuchungen drei Ziele unterschieden werden: 1. Die Stellung des einzelnen Individuums in der Gruppe, z. B.: Wie weit ist das Individuum integriert, wie weit akzeptiert es die Ziele und Normen der Gruppe, wie beliebt/unbeliebt ist es und welchen Beliebtheitsrang nimmt es bei verschiedenen Aktivitäten ein, wie korrelieren Tüchtigkeit und Beliebtheit, Normakzeptanz, Leistung und Autorität? Welche Stellung hat der Leiter bzw. wen wählt die Gruppe als Leiter, welche Eigenschaften werden an ihm geschätzt? Wie entwickeln sich Gruppenmitglieder unter dem Einfluß des Kollektivs u. a.? 2. Die Strukturen und die Entwicklung der Gruppe, z. B.: Welche Kooperationsund Kommunikationsstrukturen bestehen, wie ist das Verhältnis von formeller und informeller Beziehungsstruktur? Wie hat sich der Kern des Kollektivs gebildet, wie setzt er sich zusammen? Welcher Integrationsgrad, welche Stärke der Kohäsion, welche Konflikte (eventuell Cliquen) und Gruppierungen sind vorhanden? Wie wirken sich die Gruppenstrukturen auf die Gruppenleistung aus? Welche Gruppenziele, Leitbilder und Gruppennormen bestehen? Welche kollektiven Triebkräfte wurden wirksam, wie hat sich die Gruppe bei der Erfüllung ihrer Aufgaben entwickelt, hat sie neue Ziele gesetzt etc. ? 3. Die Gruppe als Vermittlung gesellschaftlicher Prozesse, z. B.: gesellschaftliche Funktion, Einordnung in einen Lebensbereich bzw. in eine Organisation; Übereinstimmung bzw. Divergenz der Gruppenziele und -normen mit gesellschaftlichen Zielen und Normen, die gruppenspezifische Umsetzung gesellschaftlicher Werte und Normen in „Gruppenkultur", die Steuerungsleistung in sozialen Prozessen, die Kollektivität als Triebkraft, die Außenwirksamkeit der Gruppe u. a.

202

A. Kahl/St. H. Wilsdorf/H. F. Wolf, Kollektivbeziehungen und Lebensweise, Berlin 1984, S. 45 (Schriftenreihe Soziologie).

380

Datenerhebung

Die Untersuchung natürlicher (echter) Gruppen erfordert zunächst, von den Inhalten des Gruppenlebens und der gesellschaftlichen Stellung der betreffenden Gruppe auszugehen. Die Formalisierung bestimmter Gruppenmerkmale ist zwar ein wichtiges Hilfsmittel wissenschaftlicher Betrachtung, aber man darf nicht — wie oft in der nichtmarxistischen Soziologie und Sozialpsychologie der Fall — dabei stehenbleiben, soziale Beziehungen von den realen Inhalten und gesellschaftlichen Funktionen abzuheben und als scheinbar autarke Sphäre zu betrachten. Wir werden also bei soziologischen Untersuchungen soziale Kleingruppen, wie Arbeitskollektiv und Sportmannschaft, Familie und Freizeitgruppe, nicht nur und nicht vorwiegend unter dem Aspekt gemeinsamer Mechanismen und Regeln des Gruppenverhaltens sehen, sondern sie auch in ihrer Eigenart und unterschiedlichen realen gesellschaftlichen Funktion bestimmen und sie als Bestandteil der Sozialstruktur der sozialistischen Gesellschaft betrachten. Kollektive und Kollektivbeziehungen müssen soziologisch auch im Zusammenhang mit größeren sozialen Prozessen untersucht werden. Der Soziologe wird deshalb z. B. das Arbeitskollektiv als Bestandteil der Belegschaft eines sozialistischen Betriebes sehen, wird nach der Veränderung von Struktur und Funktion von Arbeitskollektiven im Zusammenhang mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt fragen, nach der Veränderung der Qualifikationsstruktur und der Anforderungen an den Leiter, nach der Identifizierung mit neuen Arbeitsanforderungen, auch nach der Bereitschaft zum Wechsel des Arbeitsplatzes bzw. in ein anderes Kollektiv.

Dokumentenanalyse und Nutzung anderer Quellen zur Erfassung der Lebensbedingungen, Inhalte und Strukturen der Gruppe Je nach der theoretischen und praktischen Zielstellung der Untersuchung und nach dem interessierenden Aspekt des Gruppengeschehens können Dokumentenanalyse, teilnehmende bzw. nichtteilnehmende Beobachtung, mündliche oder schriftliche Befragung bzw. Befragung außenstehender Personen, Gruppendiskussion und andere Methoden eingesetzt werden. Durch Befragung von Gruppenmitgliedern wird man allerdings nur zum 1. und 2. Punkt (Stellung des Individuums in der Gruppe und Gruppenstrukturen) Auskünfte erhalten, zum 3. Punkt (Gruppe als Träger und Mittler gesellschaftlicher Prozesse) wird man nicht allein gruppenanalytische Vorgehensweisen kombinieren, sondern Gruppenprozesse im Rahmen der Ebene der Organisationen und gesamtgesellschaftlicher Prozesse einordnen müssen. Der erste Schritt zu Gruppenanalysen dürfte wohl immer die Feststellung der Gruppenstrukturen (an Hand von Personalunterlagen, Gruppendokumenten, durch Fremdauskünfte oder Befragung von Gruppenmitgliedern) sein. Das sind z. B. beim Arbeitskollektiv:

Gruppenanalytische Verfahren

381

— demographische Strukturen (Geschlecht, Alter, Familienstand, Bildung, Wohnort, Wegezeit, Haushaltsgröße u. a.); — funktionale Strukturen (Kooperationsform, z. B. Fließband, Nestfertigung, Hierarchie, Einzelfertigung); — Qualifikations- und Berufsstrukturen (auch Lohngruppen, Art der Arbeit, z. B. Erschwernisse etc.); — Senioritätsstrukturen (Dauer der Gruppenzugehörigkeit, der Betriebszugehörigkeit, der Berufserfahrung u. a.); — Aktivitätsstrukturen (Leiter und Stellvertreter, politische Funktionen, Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Organisationen etc.). Beim Arbeitskollektiv wird speziell interessieren, ob es eine beruflich homogene oder heterogene G r u p p e ist (z. B. „Betreiber" und „Instandhalter" in einer G r u p p e vereint), wie groß die räumliche Verteilung der G r u p p e ist, ob sie alle in der gleichen Schicht arbeiten oder eine Anlage im Schichtbetrieb versorgen etc. 203 Weiter werden die Kommunikationsstrukturen, der Leitungsstil und die bisherige Entwicklung des Kollektivs, z. B. Leistungen im Kampf um den Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit", Neuererleistungen, Delegierungen etc., zu beachten sein.

Befragungsverfahren und -techniken Befragungen sind in allen Formen für die inhaltliche Analyse von Gruppenproblemen geeignet. Bei jeder Befragung können Indikatoren aufgenommen werden, die gruppenspezifische Sachverhalte zum Gegenstand haben. Dabei sollten sowohl „objektive" (z. B.: Wie lange gehören Sie Ihrem Arbeitskollektiv an?) wie auch „subjektive" Sachverhalte (z. B.: Fühlen Sie sich in Ihrem Arbeitskollektiv wohl?) berücksichtigt werden. Weiter können Befragungen — sofern sie echte (natürliche) Gruppen vollständig erfassen — gruppenspezifisch ausgewertet werden; dabei können sich in jeder Gruppe konzentriert bestimmte ähnliche Haltungen zeigen bzw. Unterschiede zwischen verschiedenen Kollektiven. Eine Sonderform der Befragung sind die soziometrischen Verfahren. 2 0 4 Der Begriff „Soziometrie" ist im wörtlichen Sinn für diese spezifischen Erhebungsformen eigentlich irreführend, denn Messen sozialer Sachverhalte ist vielen quantifizierenden Erhebungsformen gemeinsam. Bei den soziometrischen Verfahren geht es außerdem nicht um das Messen von Beziehungen schlechthin, sondern um die Ermittlung der Einstellung zum anderen Gruppenmitglied bzw. der subjektiven Bezie203

204

Vgl. ebenda, S. 55—57. Hier wird eine detaillierte Aufzählung von Differenzierungsmerkmalen von Arbeitskollektiven gegeben. Zum Begriff Soziometrie vgl.: M. Vorwerg, Sozialpsychologische Strukturanalysen des Kollektivs, Berlin 1966, S. 32—44. In dieser Schrift gibt M. Vorwerg eine instruktive Darstellung des PWV und G. Vorwerg behandelt im Anhang (S. 125—164) die Technik des PWV.

382

Datenerhebung

hung oder der sozialpsychischen Beziehungsstruktur. Die Beziehungen zwischen Mitgliedern eines sozialistischen Arbeitskollektivs sind zunächst durch das Verhältnis sozialistischer Werktätiger zueinander objektiv gegeben. Abgebildet wird in soziometrischen Verfahren die subjektive Seite, die Einstellung der Gruppenmitglieder zueinander. Der Partnerwahlversuch (PWV) Beim PWV wird jedes Gruppenmitglied (meist schriftlich) befragt, mit wem es eine bestimmte, für die Gruppe relevante Tätigkeit (Kriterium bzw. Indikator) am liebsten und mit wem am wenigsten gern ausführen möchte. Die Wahlen bzw. Ablehnungen erfolgen also in bezug auf eine (in konjunktivischer Form) vorgegebene Tätigkeit. Wir nennen vier Indikatoren für den PWV in einer Studentengruppe: 1. Wenn Sie eine Kulturveranstaltung vorbereiten sollten, mit wem aus Ihrer Gruppe würden Sie das a) am liebsten gemeinsam tun? 1.

Begründung:

2.

3. b) am wenigsten gern gemeinsam tun? 1. Begründung: 2.

3. (Nennen Sie jeweils möglichst drei Freunde Ihrer G r u p p e ; wenn Sie mehr nennen wollen, benutzen Sie die Rückseite!) 2. Wenn Sie eine politische Versammlung vorbereiten sollten, mit wem aus Ihrer Gruppe würden Sie das am liebsten/am wenigsten gern tun? 3. Mit wem aus Ihrer Gruppe möchten Sie die nächsten Prüfungen am liebsten gemeinsam/nicht gemeinsam vorbereiten? 4. Mit wem aus Ihrer Gruppe möchten Sie im Ernteeinsatz (Berufspraktikum etc.) am liebsten bzw. nicht zusammenarbeiten? Diese Wahlkriterien (Indikatoren) können erweitert oder ausgetauscht werden, je nach dem Ziel der Erhebung, der Gruppensituation etc. Die Anzahl der möglichen Wahlen läßt sich durch Festlegung beliebig regeln; man kann den Befragten die Zahl der Wahlen und Ablehnungen freistellen, dann gewinnt man Informationen über die Kontaktweite, die „soziale Expansion" der einzelnen Gruppenmitglieder; man kann auch die Realisierung einer bestimmten Anzahl fordern, erhält dann aber besonders bei den Ablehnungen häufig Verlegenheitsantworten. Günstig scheint die Festlegung einer Minimum-Grenze; dann sind sichere Urteile über die Extrempositionen zu erwarten. Maximum-Grenzen sollten festgelegt werden, wenn große Wahlzahlen (z. B. bei Kindern) zu erwarten sind.

Gruppenanalytische Verfahren

Wähler

w. s.

w.

G. A. K. I. H.

B. K. M. D. F.

H.

erhaltene Stimmen

383

Gewählte

1

2 3 4 5 6 7

abgegebene Stimmen 3

4

- 1

1

1

X

0

1

1

2

x 0 1

- 1

X

1

0

0

- 1

X

5

6

7

+



0 0 0 0

0 0 0

- 1

2

2

- 1

1

1

0

2

1

0

2

0

0 0

X

1 X

- 1

- 1

1

1

1

X

0

— 1

1

1

0

1

- 1

1

1

- 1

0

1

4

6 0 6

0

0

1

1

1

1

-l-

2



1

ges.

3

4 5

1

5

3 3 3

1 1

2

ges. 4 2 3 2 4 4 5

1

2 3

0 = keine Wahl 1 = positive Wahl — 1 = negative Wahl (Ablehnung) Legende: Die erhaltenen positiven Wahlen verweisen auf den „soziometrischen Status" der Person. So hatPerson 4 mit sechs Wahlen den höchsten „Status". Person 2 wird von vier Personen abgelehnt und lediglich von einer Person (5) gewählt. Die Person 5 und 6 werden von keinem anderen Gruppenmitglied gewählt, erhalten aber jeweils eine Ablehnung. Die offensichtlich beliebte Person 4 wählt kein anderes Gruppenmitglied, lehnt aber zwei ab. Die „Mauerblümchen" 5 und 6 geben dagegen jeweils drei positive Wahlen ab etc. Abb. 24 Einfache Soziomatrix eines PWV D i e Auswertung des P W V erfolgt zunächst in einer Soziomatrix.205 bietet A b b i l d u n g 2 4 (vgl. A b b . 24).

Ein Beispiel

D a eine Selbstwahl entfallt, bleiben die Felder einer D i a g o n a l e leer. D i e Verteilung der W a h l e n u n d A b l e h n u n g e n zeigt sich übersichtlich in d e n R a n d s u m m e n , w o b e i sich die Wahlaktivität ( a b g e g e b e n e S t i m m e n ) u n d die E i n s c h ä t z u n g durch d i e anderen G r u p p e n m i t g l i e d e r (erhaltene W a h l e n u n d A b l e h n u n g e n ) bei j e d e m Mit205

Bei zahlenmäßig schwachen Gruppen kapn die Auswertung auch in Form eines Soziogramms vorgenommen werden. Die Gruppenmitglieder werden durch Kreise mit Nummern, die Wahlen bzw. Ablehnungen durch Pfeile symbolisiert. Häufig gewählte Gruppenmitglieder fallen hier rasch ins Auge, ebenso wie häufig abgelehnte oder überhaupt nicht gewählte Mitglieder. Bestimmte Konfigurationen, z. B.: das Paar (gegenseitige Wahl), das Dreieck, die Clique u. a., werden in einem Soziogramm anschaulicher als in der Matrix dargestellt. Zur Anfertigung von Soziogrammen vgl.: ebenda, S. 134—148.

384

Datenerhebung

glied vergleichen läßt. Wenn beispielsweise vier Wahlkriterien (Indikatoren) vorgegeben wurden, hat man vier Matrizen. Dabei wird sich sehr wahrscheinlich zeigen, daß sie nicht deckungsgleich sind, sondern daß die Wahl oder Ablehnung eines Gruppenmitgliedes nicht unwesentlich vom vorgegebenen Wahlkriterium, von der Vorstellung einer bestimmten Aktivität, die gemeinsam ausgeübt werden soll, abhängt. Aus den einzelnen Matrizen lassen sich durch Summierung und Durchschnittsbildung Indizes errechnen. Sie leisten einen gewissen Beitrag zur Beschreibung des Gruppenzustandes, sind jedoch relativ formal und indifferent gegenüber den realen gesellschaftlichen Inhalten; sie bedürfen also für ihre richtige Interpretation ergänzender, inhaltlich orientierter Erhebungen. (Dabei können schon Erklärungen des Lehrers oder Leiters hilfreich sein.) Indizes sind: — Kohärenzindex (Anzahl der gegenseitigen Wahlen dividiert durch Anzahl der abgegebenen Stimmen), er beschreibt den Zusammenhang in der Gruppe; — Kohäsionsindex (Anzahl gegenseitiger Wahlen dividiert durch Anzahl der möglichen gegenseitigen Wahlen), er soll den Zusammenhalt der Mitglieder kennzeichnen ; — Integrationsindex (1 dividiert durch die Anzahl isolierter Personen, d. h. Personen, die von niemandem gewählt werden), er soll Ausdruck der Integration einer Gruppe sein. Vorwerg verweist zu Recht darauf, daß die eigentliche Struktur mit diesen Indizes noch nicht erfaßt wird und daß man nur einen „oberflächlichen Eindruck" erhalte. 206 Andere Autoren heben die willkürliche Überbetonung formaler Kriterien hervor. 207 Zur Interpretation ist vor allem die Kenntnis der objektiven Gruppenstrukturen, der Merkmale der Gruppenmitglieder und der objektiven Gruppenfunktion im sozialen Prozeß notwendig. Erst wenn man diese Existenzbedingungen und Merkmale der Gruppe kennt, ihre Geschichte, ihre Konflikte und Fortschritte, ergeben sich substantielle Begründungen für die subjektive Beziehungsstruktur, die durch den PWV aufgedeckt wird. Das Gruppenbewertungsverfahren (GBV) Esser und Förster wählten in Abwandlung des PWV eine Vorgehensweise, bei der jedes Gruppenmitglied seine Einstellung zu jedem anderen Gruppenmitglied in bezug auf eine bestimmte Tätigkeit (Wahlkriterium oder Indikator) an Hand einer (z. B. siebenstufigen) numerischen Intervallskala zum Ausdruck bringt. 208 Die Endpositionen und die Mittelposition werden verbal bezeichnet. Versuche, durch eine 206

Vgl. ebenda, S. 154.

207

Vgl. J. Nehnevajsa, Soziometrie, in: R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 2, Erster Teil, a. a. O., S. 260— 299. Vgl. U. Esser/P. Förster, Über ein neues gruppenanalytisches Verfahren, in: M. Vorwerg (Hrsg.), Die Struktur des Kollektivs in sozialpsychologischer Sicht, Berlin 1970, S. 151 — 156.

208

Gruppenanalytische Verfahren

385

Intervallskala die Unterscheidungen zu verfeinern und den Ausprägungsgrad der Einstellung zu jedem Gruppenmitglied zu erheben, hat es auch vorher schon gegeben. 209 Bei Arbeitskollektiven wurden folgende Indikatoren (Wahlkriterien) eingesetzt 210 : 1. Arbeitskollegen kommen bisweilen am Feierabend oder am Wochenende aus Gründen der Geselligkeit zusammen. Wie gern bzw. wie ungern würden Sie mit jedem Mitglied Ihrer Brigade in der Freizeit zusammentreffen? 2 3 4 5 6 7 1 sehr gleichsehr gern gültig ungern 2. Angenommen, von Ihrer Brigade soll ein neuer Arbeitsbereich besetzt werden. Wie gern, bzw. wie ungern würden Sie mit jedem(r) Ihrer Kollegen (Kolleginnen) dort zusammenarbeiten? (Antwortmodell hier und bei den folgenden Indikatoren wie bei 1.) 3. Stellen Sie sich vor, Sie müßten sich für eine fachliche Qualifizierung auf eine Prüfung vorbereiten. Wie gern bzw. wie ungern würden Sie sich mit jedem(r) Ihrer Kollegen (Kolleginnen) gemeinsam vorbereiten? 4. Angenommen, Sie wünschen zu einem politischen Problem Erläuterungen und Rat. Wie gern bzw. wie ungern würden Sie jeden Ihrer Kollegen (Kolleginnen) um Auskunft fragen? 5. Angenommen, Sie hätten persönliche Sorgen, z. B. familiäre Schwierigkeiten. Wie gern bzw. wie ungern würden Sie mit jedem Ihrer Kollegen (Kolleginnen) darüber sprechen? Beim Einsatz des GB V erhält nun jedes Gruppenmitglied eine (vertikal angeordnete) Namensliste aller Gruppenmitglieder, auf der im Kopf (horizontal angeordnet) die Indikatoren (Wahlkriterien) 1. bis 5. genannt bzw. durch Symbole verkörpert werden, wenn der Text auf einer besonderen Liste beigelegt ist. Die Befragten bearbeiten zuerst die am weitesten rechts stehende Spalte mit dem ersten Kriterium, falten dann das Blatt beim Spaltenrand und wenden sich der folgenden Spalte zu etc. Dieser Modus soll verhindern, daß sich die Einschätzungen bei den verschiedenen Kriterien gegenseitig beeinflussen. Bei der Auswertung existiert nun zunächst (im Original) von jedem Teilnehmer eine Individualmatrix, es kann dann eine Matrix zu jedem Indikator zusammenge209

Vgl. J. Nehnevajsa, Soziometrie, a. a. O., S. 267.

210

Aussagen können auf drei Ebenen erhoben werden: 1. Realebene (z. B.: Wie häufig arbeiten Sie mit jedem Ihrer Kollegen während der Arbeitszeit zusammen? Wie häufig treffen Sie sich mit jedem Ihrer Kollegen am Feierabend oder am Wochenende?), 2. Ebene der allgemeinen Sympathie (ohne Tätigkeitsvorgabe, ohne speziellen Indikatorbereich) und 3. Ebene eines speziellen Tätigkeitsbereiches (Wahlkriterium, Indikatorbereich) im GBV.

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Datenerhebung

stellt werden, welche die subjektiven Beziehungen jedes Gruppenmitgliedes zu jedem anderen darstellt, und schließlich kann im Gruppendurchschnitt die Wahl jedes Mitgliedes bei einem Indikator (Wahlkriterium) sowie auch die durchschnittliche „Absenderqualität" jedes Mitgliedes erfaßt werden. Am Ende können auch die Mittelwerte der Wahlen bei den verschiedenen Indikatoren zusammengezogen werden; die Datenmenge wird so komprimiert. Es empfiehlt sich, bei der Auswertung die EDV zu nutzen. 211 Insgesamt weist das Verfahren einen befriedigenden Entwicklungsstand auf. 2 1 2 Es liefert mehr Informationen auf höherem metrischem Niveau als der PWV, was nach Angabe der Autoren eine der Zielstellungen bei der Verfahrenskonstruktion war. Vor- und Nachteile von PWV und GBV werden in Abbildung 25 übersichtlich dargestellt (vgl. Abb. 25). In bezug auf unsere fünf Indikatoren ergeben sich interessante inhaltliche Gesichtspunkte. Die wichtigste Sphäre im Arbeitskollektiv ist die der Kooperation im Arbeitsprozeß. Bei Kollektiven mit einer gut entwickelten Arbeitseinstellung wird in der Regel der Indikator 2 (Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Kollegen aus der eigenen Brigade) im Durchschnitt der Gruppe die besten Werte aufweisen. Auch der Indikator 1 (geselliges Zusammentreffen in der Freizeit) wird gut entwickelte zwischenmenschliche Beziehungen belegen. Einzelne Mitglieder, die als Arbeitsoder Freizeitpartner wenig begehrt sind, werden sichtbar. Stärker ist die Differenzierung bei den Indikatoren 3 und 4. Hier werden fachliche Experten und begehrte bzw. abgelehnte politische Gesprächspartner deutlich. Der 5. Indikator (Gespräch über persönliche, z. B. familiäre Probleme) zeigt stärker als der 1. Indikator per-

211

212

Einen Vergleich der Datenmengen bei PWV und GBV gibt P. Förster, Gruppendiagnostik, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, a. a. O., S. 565.

Kritische Anmerkungen zur Differenzierungsfahigkeit macht P. Schulze, Die Untersuchung ' zwischenmenschlicher Beziehungen in kleinen Gruppen durch soziometrische Verfahren, Dissertationsschrift B, Jena 1982, S. 141, unveröff. P. Schulze stellt die von ihm entwickelte „soziometrische Indikatorenskala" (SIS) vor. Die Antworten der Befragten und die Statuswerte erwiesen sich bei der Testung als normal verteilt. Die sieben Skalenstufen sind numerisch und verbal gekennzeichnet, z. B.: 1. Ich könnte mir keinen besseren Arbeitspartner als X vorstellen. 2. Mit X arbeite ich gern zusammen. 3. Die Zusammenarbeit mit X bereitet mir keine Schwierigkeiten. 4. Es macht mir nichts aus, mit X zusammenzuarbeiten. 5. Es fallt mir nicht immer leicht, mit X zurechtzukommen. 6. Ich arbeite ungern mit X zusammen. 7. Ich würde es jederzeit ablehnen, mit X zusammenzuarbeiten. In dieser Form wird die Skala auch für andere Tätigkeitsbereiche verbalisiert. Das Verfahren hat sich bei Produktionsarbeitern, Angestellten, Konstrukteuren und Wissenschaftlern bewährt.

Gruppenanalytische Verfahren

387

PWV Vorteile — geringe Datenmenge; ökonomisch in der Ausweitung; — zu jedem Indikator kann ein vollständiges Soziogramm angefertigt werden; anschaulich; — der Befragte muß sich bei den Wahlen entscheiden, auswählen; — die Literatur zum PWV ist umfangreicher; wissenschaftlich erschlossen;

GBV Nachteile — große Datenmenge; hoher Auswertungsaufwand ; — Soziogramme sind lediglich zu bestimmten Skalenwerten (Extremwerten) möglich; — der Befragte wird auch Gruppenmitglieder einschätzen, zu denen er kein ausgeprägtes Verhältnis hat; Flucht zu mittleren Skalenwerten;

Nachteile — PWV gibt nur ein selektives Bild von den subjektiven Beziehungen; — „tote Figuren", d. h. Mitglieder, die von niemandem gewählt oder abgelehnt werden; — die „Absenderqualität" (das Wahlverhalten) kann nur begrenzt bestimmt werden;

Vorteile — vollständige Erfassung der subjektiven Beziehungen ; jedes Mitglied kann bewertet werden; — differenzierte Bewertung des subjektiven Verhältnisses durch Intervallskala; Ablehnung ist keine negative Selektion, sondern ergibt sich aus der Skala; — die „Absenderqualität" ist genau zu bestimmen ; — GBV ist über EDV auswertbar; — die statistische Behandlung ist relativ einfach (Mittelwerte, Streuungsmaße) und der soziometrische Status jedes Gruppenmitgliedes kann bestimmt werden; — die Gruppe wird als Ganzheit, als System abgebildet; die Abbildungsgenauigkeit und Realitätsnähe ist größer; — Hauptvorteil: die quantitative Ausprägung der subjektiven Beziehungen zwischen allen Gruppenmitgliedern wird erfaßt.

Abb. 25 Vor- und Nachteile von Partnerwahlversuch (PWV) und Gruppenbewertungsverfahren (GBV) im Vergleich

sönliches Vertrauen und enge zwischenmenschliche Beziehungen und differenziert stark. 213 Die Interpretation in bezug auf die einzelnen Mitglieder setzt die Kenntnis der „Daten zur Person" bei iedem einzelnen, die Stellung in den Strukturen (arbeits213

26

Die Aussagen fußen auf gruppenanalytischen Erhebungen im Rahmen der Forschungsthematik „Persönlichkeits- und Kollektiventwicklung im automatisierten Bereich" durch den WB Soziologie an der KMU Leipzig in den Jahren 1972 bis 1977 bei Arbeitern und Angehörigen der Intelligenz in Chemischen Großbetrieben (unveröff. Forschungsberichte). Soziolog. Forschung

388

Datenerhebung

funktionale Struktur, Seniorität, Funktionen) und auch einen Einblick in die Entwicklung des Kollektivs voraus. Von besonderem Interesse ist dabei die Stellung des Leiters und seines Stellvertreters sowie der Inhaber gesellschaftlicher Funktionen. Hinweise für die Leitungstätigkeit ergeben sich auch im Hinblick auf Mitglieder, die einen besonders niedrigen Wahlstatus bei mehreren Indikatoren haben. Die Interpretation des G B V in bezug auf den Entwicklungsstand des Gesamtkollektivs ist schwieriger. Es zeigen sich sehr deutlich die informellen Strukturen, persönliche Präferenzen und Vertrauensverhältnisse. In der soziologischen Gruppentheorie wird eine Kongruenz von formeller und informeller Struktur als vorteilhaft angesehen, wobei die persönliche Beziehung in der Regel eine Folge der engen Zusammenarbeit ist. Wichtig ist die fachliche und politische Autorität der Funktionsinhaber. Alarmierend wäre es z. B., wenn der Leiter als Gesprächspartner über ein persönliches Problem von der Mehrzahl abgelehnt würde. Es ist allerdings nicht möglich, aus dem Vergleich der Durchschnittswerte eines Indikators bei mehreren Kollektiven, den Schluß zu ziehen, daß die Gruppe mit dem besten Durchschnittswert am höchsten entwickelt sei. Das subjektive Anspruchsniveau und das Differenzierungsvermögen ist oft bei gut entwickelten Kollektiven höher als bei gering entwickelten; es wird kritischer geurteilt und besser differenziert, wenn im Kollektiv Mechanismen der Selbstreflexion entwickelt sind. Dagegen können in wenig entwickelten Kollektiven „Gefalligkeitsurteile" in der Absicht abgegeben werden, durch die Mildetendenz das soziale Defizit zu verdekken. Das G B V bietet also keine methodische Grundlage, um zwischen verschiedenen Gruppen die Durchschnittswerte der Indikatoren bewertend zu vergleichen, wohl aber können die Daten des G B V in Verbindung mit anderen Erkenntnissen (z. B. durch Einschätzungen übergeordneter Leitungen, Ergebnisse von Beobachtungen, Dokumentenanalysen, Befragungen) für die Leitungstätigkeit und Kollektiventwicklung sehr nutzbringend interpretiert werden. In diesem Zusammenhang ist ein Hinweis auf politische und moralische Fragen erforderlich, die mit den Erhebungsformen PWV und G B V verbunden sind. Die Einschätzung der Kollektivmitglieder (z. B. Arbeitskollegen) gegenüber einem fremden Untersuchungsleiter setzt Vertrauen in die Diskretion und in die wissenschaftliche Zielsetzung der Erhebung voraus. Letztere muß vor dem Kollektiv erläutert werden. Es genügt nicht, die Vertraulichkeit lediglich zuzusichern, sondern es muß auch Aufklärung über die Art der beabsichtigten Auswertung gegeben werden. Zweckmäßig ist die Festlegung, daß die Primärdaten (wer wen bei welchem Indikator gewählt hat) ausschließlich der Forschungsgruppe zugänglich sind, und daß für Zwecke der Leitungstätigkeit lediglich die Durchschnittswerte für jedes Kollektivmitglied einem namentlich begrenzten Personenkreis übermittelt werden. Das sollte durch eine verbale Umschreibung ergänzt werden, der man auch einige Daten zur Person voranstellt. Das kann beispielsweise wie folgt geschehen:

Gruppenanalytische Verfahren

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„Kollege X gehört dem Arbeitskollektiv seit X Jahren an, hat sich für die . . . Tätigkeit qualifiziert und arbeitet an der Anlage besonders eng mit den Kollegen . . . zusammen. Er ist als Arbeitspartner im Kollektiv begehrt (Indikator 2 hat Durchschnitt 2,1) und auch in der Freizeit gern gesehen (Indikator 1 hat Durchschnitt 2,3). Er hat mit den Kollegen seiner Anlage einen besonders engen Kontakt, wird von diesen auch als Gesprächspartner in persönlichen Dingen und hinsichtlich des fachlichen Rates geschätzt, seine politische Kompetenz ist geringer; er rangiert hier im letzten Drittel der Gruppe." Es ist empfehlenswert, die gruppenanalytische Erhebung mit einer Befragung zu verbinden; es kann dann auch aus diesem Material ergänzend geschöpft werden, z. B.: „Kollege X ist mit seinem Kollektiv und seiner Arbeit sehr verbunden und äußert den Wunsch, bei der Rekonstruktion der Anlage die Aufgabe . . . zu übernehmen und ist bereit, sich dafür zu qualifizieren. In seiner Abteilung stört ihn . . ., er wünscht sich öfter ein Gespräch mit seinem Abteilungsleiter . . . " etc. In dieser verbalen Form (mit einem Minimum an Zahlen) sollte eine Auswertung vor der befragten Gruppe stattfinden, wobei die Anwesenheit des vorgesetzten Leiters (der Leiter des Kollektivs ist ohnehin Mitglied der Gruppe) wünschenswert ist. Es kommt dabei zu interessanten Diskussionen über die Kollektiventwicklung und über die Probleme einzelner Kollektivmitglieder (Warum hat Kollege Z so wenig Kontakt zu den anderen Mitgliedern seiner G r u p p e ? Wie kann die politische Diskussion aktiviert werden u. a. ?) Die Praxis hat gezeigt, daß Arbeitskollektive, die zunächst Vorbehalte hatten, sich „durchleuchten" zu lassen, die befürchteten, daß man falsche Schlußfolgerungen aus einer gruppenanalytischen Erhebung ziehen würde, sich gerade bei den abschließenden Diskussionen bei den Soziologen für die zahlreichen Hinweise und Denkanstöße bedankten. Es ist selbstverständlich, daß der Leiter des Kollektivs durch die Soziologen spezielle Hinweise erhält, z. B. in bezug auf Kollegen, die noch eine Außenseiterposition einnehmen, die zwar selbst positiv wählen, aber von einer gewissen Anzahl abgelehnt werden. In der Regel kennt oder vermutet der Leiter diese Probleme, erhält aber nun die exakte Bestätigung und kann seine Maßnahmen zur Festigung des Kollektivs fundierter planen. Schätzskalen zur Beurteilung von Gruppen Schätzskalen sind in der soziologischen Forschung weit verbreitet. Sie sind oft die einzige Zugangsmöglichkeit zu bestimmten Indikata. Im Hinblick auf ihre Vorzüge und Grenzen, die Konstruktionsprobleme und Formen sei auf die Literatur verwiesen. 214 Bei ihrer Nutzung für die Beurteilung von Gruppen verweisen wir zunächst auf „Fremdurteile", auf die Urteile von Personen, die nicht zur G r u p p e gehören, die 214

Vgl. W. Hennig, Schätzskalen, in: Friedrich/Hennig, Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, a. a. O., S. 345—367; G. Clauß, Zur Methodik von Schätzskalen, in: Probleme und Ergebnisse der Psychologie, 26/1968, S. 7—53.

26*

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Datenerhebung

aber hinlänglich kompetent sind, die G r u p p e zu beurteilen, z. B. übergeordnete Leiter, Meister, Lehrer, Leiter von Nachbarkollektiven u. a. Für die Bestimmung des Kollektivniveaus von Schulklassen und Lehrlingsgruppen nutzte Kunz Fremdschätzskalen, die wir als ein Beispiel anführen. 2 1 5 Er leitete aus theoretischen Erkenntnissen vier inhaltliche Aspekte (Tätigkeit, Normen, Beziehungen, Aktivität) und vier strukturelle Aspekte ab (Untergruppen, Rangreihen, Positionen, Kohäsion).. Jedem dieser Merkmale wurden drei Indikatoren zugeordnet, so daß mit einer fünfstufigen Schätzskala (1 = Merkmal stark ausgeprägt bis 5 = Merkmal schwach ausgeprägt) insgesamt 24 Indikatoren zur Beurteilung vorgegeben wurden. Wir nennen im folgenden zu einigen Aspekten jeweils einen Indikator als Beispiel: — Tätigkeit: die Leistungsrealisierung ist sehr hoch (1) bis sehr niedrig (5), — Aktivität: gemeinsame positive Aktivitäten besonders ausgeprägt (1) bis nicht ausgeprägt (5), — Außenseiterpositionen: keine (1) bis mehrere (5). Die Urteile von Gruppenbetreuern (Lehrer, Leiter, Lehrausbilder, Internatserzieher u. a.) über die insgesamt 24 Merkmale werden gemittelt und in ein Kollektivprofil eingetragen. Dieses ist als Kreisdiagramm ausgelegt und enthält acht Radien gemäß den acht Aspekten mit einer Stufeneinteilung (fünf Stufen). Die graphische Darstellung ermöglicht einen anschaulichen Vergleich von Kollektiven (z. B. Brigaden, Schulklassen, Lehrlingsgruppen u. a.). Diese Fremdschätzskalen sind jedoch relativ formal und können, wie ähnliche quantifizierende Verfahren, als ein Hilfsmittel des Vergleichs angesehen werden, das Leitern, Lehrern u. a. Erziehern für die ergänzende qualitative Einschätzung der Kollektive eine Systematik anbietet. Selbst-Schätzskalen können ebenfalls zur Kollektivbewertung eingesetzt werden. Den Gruppenmitgliedern werden gruppenorientierte Aussagesätze und ein Antwortmodell (z. B. Vierer-Skala: 1 = trifft vollkommen zu, 2 = mit gewissen Einschränkungen, 3 = kaum, 4 = trifft überhaupt nicht zu) vorgegeben. Beispiele für Indikatoren sind: — Bei uns kann sich einer auf den anderen verlassen. — Mit Mängeln in der Arbeit einzelner Kollegen setzen wir uns auseinander. — Hilfsbereitschaft wird bei uns groß geschrieben. — Ich fühle mich in meinem Kollektiv wohl. — Meine Freizeit verbringe ich gern mit meinen Arbeitskollegen. — Meine fachliche Meinung gilt im Kollektiv etwas. Ein Vorteil solcher Indikatoren besteht darin, daß sie sich in Fragebogen zu anderen Sachverhalten leicht unterbringen und beliebig erweitern lassen. Auch hier gilt, daß die stark formalisierte N e n n u n g von gruppenspezifischen Sachverhalten in der 215

Vgl. L. Kunz, Einige experimentelle Verfahren zur Erfassung sozialer Strukturen von Schulklassen, in: Pädagogik, 1965, 3. Beiheft, S. 21 — 30.

Gruppenanalytische Verfahren

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standardisierten Befragung lediglich als ein Hilfsmittel angesehen werden kann für eine qualitative Bewertung der Kollektiventwicklung, die von Gruppenmitgliedern auch durch offene Fragen eingeholt und durch Fremdurteile (z. B. Leitereinschätzungen) gestützt werden kann. Beobachtungen Gruppenmerkmale können nicht nur durch Befragungen, sondern auch durch die Beobachtung des sozialen Verhaltens erfaßt werden. Wir verweisen hier auf den Abschnitt 3.2.1. Zunächst ist die Alltagsbeobachtung, die nicht streng wissenschaftlich orientierte Beobachtung, Grundlage für die Urteile von Leitern über ihr Arbeitskollektiv, von Lehrern über ihre Schulklasse etc. Dabei werden erfahrene Leiter und Lehrer stets auch Elemente der wissenschaftlichen Beobachtungsmethodik anwenden und die Verhaltensweise einzelner Gruppenmitglieder in bestimmten Situationen, Reaktionen der Gruppe in Entscheidungssituationen etc. zielgerichtet beobachten, auch wenn sie keine exakte Registrierung der Daten vornehmen. 216 Der Soziologe tut also gut daran, die Ergebnisse der Leiter- bzw. Lehrerbeobachtung zu nutzen. 217 Stoppe und Kessel erarbeiteten zur Analyse der Entwicklung von Schülerkollektiven 30 Verhaltensweisen, die zur Ausrichtung der Beobachtung dienen und zugleich Protokollkategorien darstellen. 218 Die ersten elf Verhaltensweisen, die bei Kollektivmitgliedern zu beobachten und dann zu bewerten sind, lauten: — fügt sich ein, — sucht die Gemeinschaft, — bei Mitschülern beliebt, — vom Kollektiv geachtet, — gehört zu den aktiven Kräften, — beeinflußt andere positiv, — hilft anderen gern, 216

Versuche haben gezeigt^ daß erfahrene Leiter in ihren Schätzwerten den realen Ergebnissen von soziometrischen Erhebungen sehr nahe kommen, d. h., sie konnten meist ziemlich genau voraussagen, wer wen beim PWV wählen oder ablehnen würde. Dies war Anlaß, um in Leiterschulungen zu empfehlen, den PWV oder GBV für das eigene Kollektiv in Form eines Gedankenexperiments durchzuführen. Der Leiter durchdenkt so systematisch die Beziehungen in seinem Kollektiv und erkennt auch „weiße Felder", Mitarbeiter bzw. Beziehungen, die er nicht einzuschätzen vermag.

217

Vgl. Leiter — Kollektiv — Persönlichkeit. Autorenkollektiv unter Ltg. von K. Ladensack, 4., Überarb. Aufl., Berlin 1972, S. 1 9 7 - 2 9 8 . Vgl. G. Stoppe/W. Kessel, Ermittlung von Erziehungsergebnissen, Berlin 1966, S. 174/175; M. Bugdahn, Methoden und Verfahren zur Materialsammlung für die Kollektivanalyse von Schulklassen, in: Pädagogik, 1976, 3. Beiheft, S. 8 - 2 1 .

218

392

Datenerhebung

— übernimmt gern Aufgaben, — erfüllt übernommene Aufgaben gewissenhaft, — ist freundlich zu seinen Kameraden, — achtet seine Kameraden. Die Beziehungen zwischen beobachteten gruppentypischen Verhaltensweisen und Befragungsdaten sind ein ungeklärtes Problem. Weiter ist bei diesen gruppenanalytischen, wie auch bei anderen Erhebungsmethoden klar, daß die reine Summierung von Daten über individuelle Verhaltensweisen noch keine gültige Aussage über die Qualität der gesamten Gruppe ergibt. Die Beurteilung der Qualität der Kollektiventwicklung erfordert die Kombination von Informationen, die auf unterschiedlichen Wegen gewonnen werden. Beim Arbeitskollektiv wird die Leistung, das Arbeitsergebnis hinsichtlich Umfang und Qualitätserfüllung wohl das erste und wichtigste Kriterium sein; dazu kommen aber auch die Aussagen über die Motive hoher Leistungen, den Grad der Hilfsbereitschaft innerhalb des Kollektivs und im Verhältnis zu anderen Kollektiven, die gesellschaftliche Aktivität, die Identifizierung mit den Aufgaben und Zielen des Betriebes und andere Kriterien, die sich auch in der Persönlichkeitsentwicklung der Kollektivmitglieder ausdrücken müssen.

3.3.7. Zeitbudgetstudien Im Methodeninstrumentarium der Soziologie und anderer Gesellschaftswissenschaften nehmen Zeitbudgeterhebungen (auch Zeitbudgetanalysen genannt) einen besonderen Stellenwert ein. Auf Grund ihrer Kompliziertheit in Vorbereitung, Durchführung und Auswertung bedingen sie die Kombination verschiedener Methoden und Techniken. Zeitbudgetstudien haben eine ganze Forschungsrichtung konstituiert. Gemeinsame Zielstellung der unterschiedlichen Ansätze ist die Analyse der Zeit, von der Bolgov sagt, daß sie „der wichtigste qualitative und quantitative Parameter jedes sozialen Prozesses und jeder sozialen Erscheinung ist. Mit dem Kriterium der Zeit als wichtigstem Kriterium sind große Möglichkeiten für die Charakteristik, die Messung und den Vergleich der Prozesse des gesellschaftlichen Lebens verbunden." 2 1 9 Unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen drückt sich das in der Devise „time is money" aus, während unter sozialistischen Bedingungen die Zeit einen größeren Wert gewinnt als das Geld, da die durch Einsparen von Arbeitszeit gewonnene Zeit als „Zeit zu menschlicher Bildung, zu geistiger Entwicklung, zur

219

I. J. Bolgov, Die Kategorie der Zeit in der sozialen Messung und Planung und das Problem der Ökonomie der Zeit, in: Soziale Untersuchungen, Moskau 1970, S. 5 (Arbeitsübersetzung des ZIJ).

Zeitbudgetstudien

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Erfüllung sozialer Funktionen, zu geselligem Verkehr, zum freien Spiel der physischen und geistigen Lebenskräfte" 220 verwendet werden kann. Somit ist der Ausgangspunkt von Zeitbudgetanalysen in unserer Gesellschaft durch die gesetzmäßige Entwicklung des Menschen zu allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten entsprechend dem ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus gesetzt. Dabei stehen zwei Aufgaben im Mittelpunkt: 1. Mit Zeitbudgeterhebungen soll ein Beitrag zur Leitung und Planung sozialer Prozesse sowohl im gesamtgesellschaftlichen Rahmen wie auch im Betrieb und Territorium geleistet werden. Dabei geht es insbesondere um solche Fragen wie die Nutzung von Arbeits- und Freizeit, die Verringerung von Hausarbeit, die Entwicklung der Einrichtungen des Bildungs- und Erholungswesens und der Kultur. 2. Mit Zeitbudgeterhebungen soll Analysematerial ermittelt werden, das Aufschlüsse über die sozialistische Lebensweise zuläßt, einen Aspekt also, der insbesondere für Soziologen von großer Wichtigkeit ist. Die Aufgabenstellungen verdeutlichen, daß Zeitbudgetanalysen nicht Domäne einer Wissenschaftsdisziplin sein können, sondern interdisziplinären Charakter tragen. Dies wird auch in der Entwicklung dieser Forschungsrichtung deutlich, deren Ursprung in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts liegt, als der amerikanische Soziologe und Statistiker Giddings Studenten an der Columbia-University anhielt, über mehrere Tage Personen zu beobachten und deren Tätigkeit einschließlich des zeitlichen Umfangs zu registrieren. Einen wesentlichen Impuls erhielt die Zeitbudgetforschung durch das Werk des Amerikaners Taylor „Shop Managment". In diesem 1903 erschienenen Buch veröffentlichte er Zeitstudien, deren Ziel es war, die Arbeitszeit durch Analyse des Arbeitsprozesses maximal auszunutzen und zu optimieren. Als die eigentliche Geburtsstunde der Zeitbudgetforschung gilt das Jahr 1921. Nach der Oktoberrevolution führte Strumilin in der Sowjetunion im Rahmen statistischer Analysen, in deren Mittelpunkt eigentlich die Geldeinnahmen- und -ausgaben der Bevölkerung standen, erstmals eine Zeitbudgeterhebung unter den eingangs formulierten Aufgabenstellungen durch. Dabei erkannte er die großen Möglichkeiten von Zeitbudgetdaten für die Volkswirtschaftsplanung, die sich insbesondere dadurch ergaben, daß sie einen äußerst komplexen Einblick in die unterschiedlichen Lebenssituationen unterschiedlicher sozialer Klassen und Schichten boten. Aus diesem Grunde und wegen der Kompliziertheit der Durchführung solcher Analysen werden seit 1922 Zeitbudgeterhebungen selbständig und losgelöst von den klassischen statistischen Budgetuntersuchungen durchgeführt. Bis zum heutigen Tage fand eine Vielzahl von Zeitbudgetforschungen in der Sowjetunion statt, die hochinteressante Ergebnisse und methodische Erfahrungen 220

K. Marx, Das Kapital, Erster Band, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1973, S. 280.

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Datenerhebung

hervorbrachten und die Sowjetunion als eines der führenden Länder auf dem Gebiet der Zeitbudgetforschung ausweisen. Während sich die sowjetische Zeitbudgetforschung von Anfang an Zielstellungen im gesamtgesellschaftlichen Rahmen verpflichtet fühlte und vor allem von Ökonomen und Statistikern entwickelt und vorangetrieben wurde, hat sich dieser Prozeß in der D D R anders vollzogen. Rückblickend kann man von zwei Entwicklungslinien in der DDR-Zeitbudgetforschung sprechen, die sich zwar im Laufe der Jahre angenähert, zum Teil gegenseitig befruchtet und durchdrungen haben, die sich aber bis heute verfolgen lassen. In den 50er und zu Beginn der 60er Jahre wurden die Zeitbudgetanalysen vorwiegend von Pädagogen und Psychologen betrieben. Ihr Interesse galt vor allen Dingen den Freizeitaktivitäten von Jugendlichen, insbesondere denen von Schülern und Lehrlingen. Diese Linie wird heute vom Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ) in Leipzig fortgesetzt. 2 2 1 Die zweite Entwicklungslinie der Zeitbudgetanalyse fallt sehr eng mit der Intensivierung der Lebensstandardforschung der D D R zu Beginn der 60er Jahre zusammen, deren Höhepunkt die Zeitbudgetanalyse Hoyerswerda 1966 im Rahmen eines internationalen Zeitbudgetprojektes der U N E S C O war. 2 2 2 Die hier entwickelten Ansätze und methodischen Erfahrungen haben sich in einer Vielzahl von Zeitbudgetanalysen niedergeschlagen, die von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und mit unterschiedlicher Reichweite in ihrer Aussagekraft durchgeführt worden sind, wobei ihnen eines gemeinsam ist: möglichst komplex im Sinne der Analyse der sozialistischen Lebensweise — wenn auch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung —, Zeitverwendung zu analysieren. U m Möglichkeiten und Grenzen der Zeitbudgeterhebungen zu bestimmen, soll der Begriff des Zeitbudgets definiert werden, der in der Literatur zum Teil recht unterschiedlich erklärt wird. Allen Begriffserklärungen ist gemeinsam, daß mit „Zeitbudget" allgemein die Tätigkeit von Menschen in einem Zeitintervall zum Ausdruck gebracht und verbunden wird. Eine solche allgemeine Definition geben Manz/Lippold, die das Zeitbudget als die Gesamtheit oder einen mindestens 24 Stunden umfassenden Abschnitt der Zeit betrachteten, „in der sich der Lebensprozeß von Einzelpersonen oder Personengruppen in Form von Tätigkeiten vollzieht" 2 2 3 .

221

222

223

Höhepunkt dieser Entwicklungslinie waren die Zeitbudgetforschungen an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK), die besonders eng mit den Namen Röblitz und Buggel verbunden sind. Vgl. G. Lippold, Eine Zeitbudgeterhebung für die Lebensstandardforschung, in: Wirtschaftswissenschaft, 12/1968, S. 2027. G. Lippold/G. Manz, Zur Anwendung der Zeitkategorien für die Darstellung der Lebensweise, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1980, Berlin 1980, S. 128.

Zeitbudgetstudien

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Diese Bestimmung läßt eine ganz wesentliche Seite des Zeitbudgets außer acht; nämlich daß es sich hierbei um den Zeitumfang handelt, der für die einzelnen Tätigkeiten in dem betrachteten Zeitraum aufgewendet wird. Die gehaltvollste Definition geben Müllerl Neumann, wenn sie formulieren: „ D a s Zeitbudget ist eine statistische Darstellung der sich in Tätigkeiten äußernden und durch die Zeit quantifizierten Verhaltensweisen von Einzelpersonen oder Personengruppen innerhalb eines geschlossenen Zeitraumes von mindestens 24 Stunden. Die Summe der Teilzeiten ist dabei gleich der Gesamtdauer des untersuchten Zeitraumes." 2 2 4 Damit unterscheiden diese Autoren Vollzeitbudgets ausdrücklich von Budgets, die z. B. nur die Freizeitverwendung (also nur einen bestimmten Teil des Tages) oder eine bestimmte Gruppe von Tätigkeiten erfassen. Diese Art der Zeiterfassung von Tätigkeiten wird als Teilzeitbudget bezeichnet und hat den Nachteil, daß in einem abgeschlossenen Zeitintervall die korrelativen Zusammenhänge nicht vollständig erfaßt werden können. 2 2 5 Kritisch ist zu der Bestimmung des Zeitbudgets durch Müller/Neumann zu vermerken, d a ß parallel durchgeführte Tätigkeiten vollkommen vernachlässigt werden. Aus der Analyse der vorliegenden Begriffsbestimmungen ergibt sich für die Soziologie folgender Definitionsvorschlag: Das Zeitbudget ist die statistische Darstellung der sich in Tätigkeiten äußernden und durch Zeitanteile quantifizierten Verhaltensweisen von Personengruppen in einem bestimmten Zeitraum, (von mindestens 24 Stunden), wobei die Angaben entsprechend einer wissenschaftlichen Zielsetzung durch geeignete Erhebungsmethoden bei Einzelpersonen gewonnen und dann nach bestimmten Gruppierungsmerkmalen (sozialökonomischen, demographischen u. a.) zu Durchschnittsgrößen zusammengefaßt werden. Aus dieser Definition lassen sich ohne Widersprüche sowohl die Begriffe Zeitbudgetdaten als Ergebnisse (einschließlich ihres Charakters), Zeitbudgetmethoden als Erhebungstechniken und Zeitbudgeterhebung als zeitlicher und personeller Gültigkeitsrahmen einer Untersuchung ableiten. Es wird aber auch deutlich, daß Zeitbudgeterhebungen nur folgende Merkmale von Tätigkeiten erfassen können: — den Beginn und das Ende und damit die Dauer, — die Reihenfolge, — die Häufigkeit und — die Parallelität.

224

R. Müller/L. Neumann, Zeitbudget und Zeitbilanzen, Dissertation, Berlin 1972, S. 58.

225

Vgl. Das Zeitbudget der Bevölkerung, Autorenkollektiv unter Ltg. von G. Lippold, Berlin 1971, S. 28.

396

Datenerhebung

Aus diesen Angaben kann aber auch die Abhängigkeit bestimmter Tätigkeiten bzw. Tätigkeitsgruppen voneinander abgeleitet werden. Dadurch liefern Zeitbudgeterhebungen mehr als nur Mittelwerte und Streuungen und sind für die soziologische Forschung und für die Leitung und Planung sozialer Prozesse so interessant; es können auch bestimmte qualitative Aussagen getroffen werden. Dennoch sind Zeitbudgetanalysen in erster Linie ein statistisches Verfahren, in dem quantitative Aussagen über Tätigkeitsstrukturen ermittelt werden. Sie müssen in jedem Falle durch andere Erhebungsformen ergänzt werden, um bestimmte Gruppierungen und Wertungen von Zeitbudgetdaten vornehmen zu können. Solche zusätzlichen Informationen beziehen sich insbesondere auf demographische Angaben, auf den Ort der Tätigkeit, auf Personen, die eventuell bei bestimmten Tätigkeiten einbezogen bzw. anwesend waren, und auf die Bewertung von Tätigkeiten. Erst die Gesamtheit der so erhaltenen Angaben und ihre Einordnung in ein theoretisches System ermöglicht dann, auch die Ergebnisse von Zeitbudgetstudien wissenschaftlich umfassend zu bewerten und zu verallgemeinern. Zeitbudgeterhebungen sind also empirische Erhebungen, deren Organisation und Durchführung zwar eine bestimmte Spezifik aufweist, die sich aber im Prinzip nicht von anderen soziologischen Methoden unterscheiden, zumal — wie noch gezeigt wird — die Ermittlung der unterschiedlichen Tätigkeiten und ihres zeitlichen Umfangs auf der Basis der „klassischen" Erhebungsformen „Beobachtung" und „Befragung" erfolgt. Der Ablauf von Zeitbudgetanalysen vollzieht sich in den für soziologische Erhebungen typischen vier Etappen: theoretische Vorbereitung, organisatorische Vorbereitung und Voruntersuchung, Hauptuntersuchung (Erhebungsphase), Auswertungsphase mit den Abschnitten Datenaufbereitung, Datenanalyse und Interpretation. 2 2 6 Zwei Aspekte komplizieren die Durchführung von Zeitbudgeterhebungen: Sie erfordern erstens: ein im Vergleich zu anderen soziologischen Studien überdurchschnittliches Maß an Bereitschaft zur Mitarbeit durch die in die Untersuchung einbezogenen Probanden und zweitens: die Sicherung einer doppelten Repräsentativität, nämlich der personellen und der zeitlichen. Beide Aspekte wirken nicht losgelöst voneinander, sondern durchdringen sich auch. Wie bei jeder anderen soziologischen Untersuchung ist es eine notwendige Bedingung, daß die personelle Repräsentanz gewährleistet sein muß. Das heißt, die Auswahl der in die Zeitbudgeterhebungen einzubeziehenden Personen muß so erfolgen, daß diese eine Stichprobe bilden, die die Grundgesamtheit in einigen rele226

Vgl. W. A. Artemow, Das Zeitbudget — Fragen der Untersuchung und Anwendung, Nowosibirsk 1977, S. 153 (Arbeitsübersetzung der Hochschule für Ökonomie Berlin).

Zeitbudgetstudien

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vanten Dimensionen (z. B. Alter, Geschlecht, Beruf, Familienstand) repräsentiert. Anders ausgedrückt, die durch die Stichprobe ermittelten Ergebnisse müssen für den vorher eindeutig definierten Personenkreis — im Rahmen der durch die wahrscheinlichkeitstheoretischen Auswahlverfahren bedingten Fehlerquote — gültig sein (vgl. Abschnitt 2.11.). Bei Zeitbudgeterhebungen m u ß aber auch die zeitliche Repräsentanz gesichert sein. Der sich wiederholende Grundrhythmus des menschlichen, gesellschaftlichen Lebens wird durch das Jahr bestimmt. Entsprechend zielen die Aussagen von Zeitbudgetanalysen auf die zeitliche Angabe für Tätigkeiten bestimmter Personengruppen über diesen Zeitraum, die durch einen „Durchschnittstag" ausgewiesen werden. Da sich aber die Tätigkeitsstrukturen von Arbeitstagen, arbeitsfreien Tagen und Urlaubstagen stark voneinander unterscheiden und auch Arbeitstage bzw. Sonnabende und Sonntage unterschiedlich genutzt werden, müssen zur Bildung eines solchen „Durchschnittstages" Tage mit unterschiedlichen Strukturen einbezogen werden. Deshalb werden als Grundlage zur Berechnung dieser Größe in den Zeitbudgetanalysen im allgemeinen sogenannte Wochenprotokolle ermittelt: Die Probanden werden angehalten, über sieben Tage jeweils nach einer bestimmten Vorschrift alle Tätigkeiten „rund um die U h r " , untergliedert nach Tagen, festzuhalten. Das setzt aber eine große Bereitschaft und die Überzeugung von Wert und Nutzen solcher wissenschaftlichen Untersuchungen bei den Probanden voraus, 2 2 7 zumal für eine exakte Erfassung bzw. Registrierung der Zeitbudgetangaben täglich durchschnittlich etwa 45 Minuten durch diese Personen aufgewendet werden müssen. Deshalb sind Versuche 2 2 8 unternommen worden, diese Belastung zu verringern. Zwei Richtungen sind zu erkennen: 1. Es werden weniger Tage in die Untersuchung einbezogen (z. B. nur ein Arbeitstag oder zwei und ein arbeitsfreier Tag). 2. Es werden Auswahlpläne konstruiert, die für jeden Tag eine neue Stichprobe aus der Grundgesamtheit vorsehen, so daß jede in die Untersuchung einbezogene Person nur einen Tag zu analysieren hat. Beide Wege führen zwar zu einer Entlastung der Probanden, schränken aber die Aussagekraft von Zeitbudgeterhebungen ein, da entweder bestimmte .Wechselwirkungen zwischen den Tätigkeitsstrukturen der einzelnen Personen an verschiedenen Tagen verloren gehen oder/und durch den Forscher bestimmte Wichtungen

227

Vgl. P. Förster, Analyse des Zeitbudgets, in: W. Friedrich/W. Hennig (Hrsg.), Der sozial-

228

Vgl. W. A. Artemow, Das Zeitbudget — Fragen der Untersuchung und Anwendung, a. a. O.,

wissenschaftliche Forschungsprozeß, a. a. O., S. 550. S. 257.

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» Datenerhebung

vorgenommen werden müssen, um die Proportionalität der registrierten Tage mit ihrem tatsächlichen Vorhandensein in Einklang zu bringen. Selbst bei bester Vorbereitung durch die Forscherkollektive und auch einer Verringerung der Belastung für die Untersuchungspersonen ist eine uneingeschränkte Bereitschaft der Probanden zur Mitarbeit bei Zeitbudgetstudien nicht immer zu erreichen, so daß bei diesen Studien im Vergleich mit anderen soziologischen Erhebungen immer mit größeren Ausfallen zu rechnen ist. 229 Spezielle Erfahrungen bei der Analyse bestimmter Populationen durch einzelne Forschungseinrichtungen 230 heben die Gültigkeit der oben getroffenen Feststellung nicht auf. In einem Wochenprotokoll sind durch Jahreszeiten bedingte Schwankungen in der Tätigkeitsstruktur noch nicht enthalten. Die Kompliziertheit und die Kosten der Aufgabe halten viele Forscher davon ab, die Aufnahme von Wochenprotokollen auf verschiedene Zeitpunkte im Jahr zu erweitern. Zur Rechtfertigung werden im allgemeinen Frühjahr und Herbst als die für Zeitbudgeterhebungen günstigsten Zeiten genannt, da sie jahreszeitliche Schwankungen weitgehend ausgleichen würden. 231 Sicherlich werden mit dieser Wahl Extremwerte vermieden, aber die wenigen, bisher über das Jahr verteilten Zeitbudgetforschungen belegen, daß es dennoch jahreszeitliche Unterschiede gibt. 232 Als Methoden der Erfassung von Zeitbudgetdaten werden modifizierte Formen der Befragung und Beobachtung verwendet. Diese Methoden sind an anderer Stelle in diesem Buch ausführlich beschrieben worden. Bei ihrer Anwendung auf Zeitbudgetuntersuchungen gelten die dort formulierten Aussagen. Deshalb werden hier nur spezielle Aspekte betrachtet. Folgende drei Verfahren haben sich bei Zeitbudgeterhebungen als am wirksamsten erwiesen 233 : 1. das Yesterday-Interview, 2. die Fremdbeobachtung, 3. die Selbstbeobachtung.

229 230 231

Vgl. ebenda. Vgl. P. Förster, Analyse des Zeitbudgets, a. a. O., S. 551. Vgl. G. Lippold, Dauer und Lage der Arbeitszeit als eine ökonomische Grundlage für die Entwicklung der sozialistischen Lebensweise, Dissertation, Berlin 1977, S. 81.

. 2 3 2 Vgl. G. Rölitz, Freisetzung und sportliche Betätigung der lernenden Jugend, Habilitationsschrift, Leipzig 1964; G. Lippold, Dauer und Lage der Arbeitszeit als eine ökonomische Grundlage für die Entwicklung der sozialistischen Lebensweise, Dissertation, a. a. O., Anlage 13, Anhang S. 61. 233 Einen guten Gesamtüberblick über eingesetzte Erhebungsmethoden mit einer entsprechenden Wertung gibt: W. Blass, Zeitbudget-Forschung, Frankfurt a. M.—New York 1980, S. 106— 139.

Zeitbudgetstudien

399

Das Yesterday-Interview In einem Yesterday-Interview werden chronologisch die Tätigkeiten des Vortages von 0 — 24 Uhr rekonstruiert und festgehalten. Dabei wird zwischen einem„frischen" und einem „aus dem Tagebuch ermittelten" Interview unterschieden. Bei einem frischen Interview werden die Tätigkeiten der Probanden vom Vortage aus der Erinnerung heraus registriert. Damit werden an das Erinnerungsvermögen der Untersuchungspersonen — je nach dem Grad der detaillierten Erfassung — große Anforderungen gestellt und die Gefahr von Ungenauigkeiten ist sehr groß. Nach Blass werden in bestimmten Berufen durchschnittlich 60 Aktivitäten in ähnlicher Reihenfolge ausgeführt. Sich an 30 davon zu erinnern, zeugt schon von einer erheblichen Gedächtnisleistung. 234 Um diese Fehlerquelle zu beseitigen, werden die Befragten gebeten, für einen Tag oder mehrere in einer Art Tagebuch oder Protokollbogen Ablauf, Art und Dauer der Tätigkeiten festzuhalten. Am darauffolgenden Tag spricht ein Interviewer mit ihnen diese Angaben durch, macht Bemerkungen, vervollständigt und korrigiert sie. Prudinski bezeichnet diese Methode als „Grundmethode" der Zeitbudgetforschung. 235 Bei dieser Form der Ermittlung von Zeitbudgetdaten ist nicht nur die quantitative Ermittlung des Zeitfonds möglich, sondern es können durch ein Interview auch inhaltliche Aussagen — sowohl zu den Tätigkeiten als auch zur Person — sehr gut ermittelt werden. Die für die Zeitermittlung verwendeten Unterlagen werden nicht Fragebogen, sondern Protokolle genannt, da sich ihr Aufbau — gleichgültig ob die Befragung oder die Beobachtung zur Datenermittlung eingesetzt wird — nur unwesentlich unterscheidet. Es werden drei Formen unterschieden: — die offene Protokollführung, — die geschlossene Protokollführung, — die halboffene Protokollführung. Bei der offenen Protokollführung werden den Probanden, außer bestimmten Rahmenbedingungen, wozu Angaben erwartet werden, keinerlei Einschränkungen über die Art und Weise der Erfassung der Tätigkeiten und ihres zeitlichen Umfangs gegeben. Die einzige Einschränkung kann darin bestehen, daß nur Tätigkeiten registriert werden sollen, die einen bestimmten Mindestumfang an Zeit (z. B. mindestens zehn Minuten) einnehmen, um somit eine zu große Aufsplitterung von Aktivitäten zu vermeiden. Unsere Erfahrungen belegen, daß mit einer solchen Vorgehensweise die qualitativ besten und differenziertesten Angaben über die Zeitverwendung ermittelt 234 235

Vgl. ebenda, S. 126. Vgl. G. V. Prudinski, Zeitbudgeterhebungen. Fragen der Struktur und der Klassifizierung, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 8/1967, S. 820.

400

Datenerhcbuog.

werden können. Gleichzeitig entsteht aber ein erheblicher Mehraufwand bei der Auswertung solcher Protokolle. Die geschlossene Protokollführung standardisiert Zeit und Tätigkeitsvorgaben, um den Auswertungsaufwand und die Anforderungen an die Untersuchungspersonen bei der Registrierung möglichst gering zu halten. Problematisch ist bei dieser Form der Datenerfassung, daß solche Protokolle bei zu großer Aufsplitterung der Zeit- und Tätigkeitsangaben für die Probanden nicht mehr überschaubar sind oder bei zu geringer Aufteilung zu ungenau werden. Deshalb geht man nur bei speziellen Zeitbudgetuntersuchungen in dieser Weise vor, nämlich dann, wenn nur bestimmte Tätigkeiten und ihre zeitliche Ausdehnung möglichst genau ermittelt werden sollen (z. B. Arbeiten im Haushalt), Angaben zu anderen Aktivitäten dagegen relativ grob sein können. Wenn mit der geschlossenen Protokollführung die Tagesabläufe in Zeitbudgeterhebungen relativ exakt in allen Bereichen des Lebens erfaßt werden sollen, dann besteht mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Möglichkeit der Antwortverzerrung. Die Selektion besonders positiv bewerteter sozialer Tätigkeiten und ihre überproportionale Nennung durch die Probanden ist eine ständige Gefahr, die zu nicht unerheblichen Verzerrungen tatsächlicher Zeitverwendung und somit zu unrichtigen Ergebnissen führen kann. 2 3 6 Die halboffene Protokollführung versucht zwischen den beiden Protokollarten „offen" und „geschlossen" zu vermitteln: Hier werden entweder die Zeit oder die Tätigkeit als feststehende Größe formuliert, während die dann jeweils freie Variable keinerlei Einschränkungen unterliegt und die Probanden ihre Angaben nach bestem Wissen und Gewissen protokollieren können. In der Regel werden die Zeitangaben standardisiert, während für die Probanden die Tätigkeiten als frei wählbare Variable erscheinen. Die Fremdbeobachtung Ausgehend von den durch die Definition festgelegten Anforderungen an ein Zeitbudget erscheint die Beobachtung als das methodisch sauberste Instrument für Zeitbudgetanalysen, kann doch damit (scheinbar!) die Abfolge der Aktivitäten lückenlos, so detailliert wie gewünscht und unabhängig vom Probanden ermittelt werden. Vernachlässigt man den hohen Aufwand, der durch den Einsatz von geschulten Beobachtern notwendig ist, bleiben dennoch große Probleme, so daß nur ein partieller Einsatz, z. B. während der Arbeitszeit, geraten erscheint.

236

Vgl. H. G. Sparenberg, Stellung, Umfang und Inhalt des Freizeitverhaltens und speziell des sportlichen Tuns in der Lebensgestaltung von Schülern der erweiterten Oberschule sowie ihrer Nutzung für die allseitige Persönlichkeitsformung unter verschiedenen Lem- und Arbeitsbedingungen, Dissertation, Leipzig 1967, S. 36.

Zeitbudgetstudien

401

Bei einer verdeckten Beobachtung verschließen sich bestimmte Bereiche von selbst der Zeitbudgetanalyse, so das gesamte Privatleben des Probanden in den eigenen vier Wänden. Bei einer offenen Beobachtung — die Einwilligung der Untersuchungsperson vorausgesetzt — ergeben sich sofort zwei andere Probleme: Die offene Beobachtung, wie sie zwar zeitlich begrenzt, aber sehr intensiv, z. B. während der Arbeitszeit, durchgeführt wird, wirkt sich auf das Verhalten der beobachteten Person aus. Außerdem setzen bestimmte Normen im zwischenmenschlichen Bereich der Beobachtung bestimmte Grenzen, denn „das Eigene, das Intime, will man für sich bewahren und nicht ohne weiteres den Blicken anderer . . . preisgeben" 237 . Wer sich dennoch darüber hinwegsetzt, hat mit Effekten zu rechnen, die nicht soziale Probleme lösen helfen, sondern erst schaffen. So beschreibt Blass die Folgen einer Dauerbeobachtung, unter deren Einfluß eine Familie auseinanderbrach. 238 Aus diesem Grunde eignet sich die Beobachtung nur für die Erfassung ganz bestimmter Tätigkeiten, durch sie werden gute Ergebnisse bei Teilzeitbudgets erzielt, vorausgesetzt, es stehen genügend und gut geschulte Beobachter zur Verfügung. Die Selbstbeobachtung Die Selbstbeobachtung hat sich als optimale Methode zur Ermittlung von Zeitbudgetdaten erwiesen. Sie bringt bei guter Vorbereitung und Schulung der Teilnehmer wissenschaftlich hinreichend genaue Ergebnisse; es können auf Grund des geringen technischen Anspruchs an das Vermögen der Probanden beim Ausfüllen der Protokolle relativ lange Zeiträume (mehrere Tage, Wochen) analysiert werden, außerdem ist die Selbstbeobachtung verhältnismäßig ökonomisch. Entscheidend für den Erfolg oder Mißerfolg einer so durchgeführten Zeitbudgetstudie ist die entsprechende Motivierung und Stimulierung (eventuell durch moralische und auch durch materielle Anreize). Die Vorgehensweise ist denkbar einfach: Die Probanden werden mit dem Forschungsvorhaben vertraut gemacht, ihnen werden Ziel und Zweck von Zeitbudgeterhebungen und die Bedeutsamkeit ihrer Mitarbeit erläutert, und es wird das Ausfüllen der entsprechenden Erhebungsunterlagen erklärt. Wie bei allen soziologischen Forschungen ist auch hier besonders auf strikte Vertraulichkeit der Forschungsergebnisse und ihre Verwendung nur für wissenschaftliche Zwecke zu achten. Bei der Selbstbeobachtung bestehen vor allem folgende Probleme:

237

238

W. Shell, Untersuchungen über Freizeit von Lehrlingen in Produktionsbetrieben, Dissertation, Dresden 1958, S. 13. Vgl. W. Blass, Zeitbudget-Forschung, a. a. O., S. 118.

402

Datenerhebung

— Die Probanden müssen so motiviert werden, daß sie bereit sind, die Mehrbelastung des Ausfüllens von Zeitbudgetprotokollen in ihre täglichen Pflichten aufzunehmen. — Das Ausfüllen der Protokolle muß ohne jede Kontrolle durch den Forscher erfolgen (Ausnahmen sind hier Jugendliche und Schüler239). — Es gibt keine gesicherten Erkenntnisse über reaktive Effekte, d. h., es kann nichts darüber ausgesagt werden, wie das Führen von Zeitprotokollen den Tagesablauf beeinflußt; — Der Rücklauf der Protokolle über den gesamten zu erfassenden Zeitraum ist bei Wahrung der Vertraulichkeit schwer zu sichern. — Stärker als bei allen anderen Methoden werden sozial unerwünschte Tätigkeiten durch die Untersuchungsteilnehmer vernachlässigt bzw. nicht protokolliert. Bei der Selbstbeobachtung zur Erfassung von Zeitbudgetdaten hat sich die oben beschriebene Technik der offenen Protokollführung als am effektivsten erwiesen, da sie für die Probanden am einfachsten zur lückenlosen Erfassung ihrer Tätigkeiten über einen bestimmten Zeitraum zu handhaben ist. Darüber hinaus hat ein von uns durchgeführter Methodenvergleich erbracht, daß ohne Nachfrage durch Interviewer beim Yesterday-Interview nur etwa 70 bis 80 Prozent der bei der Selbstbeobachtung ermittelten Aktivitäten registriert werden konnten. Erst bei sehr gründlichen „Nachinterviewen" konnte die Tätigkeitsstruktur in ähnlicher Genauigkeit abgebildet werden. Ein dabei erzielter Genauigkeitsgewinn stand aber in den seltensten Fällen in einem vertretbaren Verhältnis zu dem dafür notwendigen Aufwand. Unbedingt sollte bei allen Methoden der Zeitbudgetdatenerhebung darauf geachtet werden, nicht nur die Hauptaktivitäten (Primärtätigkeiten) zu erfassen, sondern auch die noch nebenbei verlaufenden Aktionen (Sekundärtätigkeiten) registrieren zu lassen. Da sich viele Aktivitäten „nebenbei" vollziehen, werden sie oftmals von den Probanden als solche gar nicht wahrgenommen. Werden sie aber auch als Sekundärtätigkeiten nicht registriert, kann es erhebliche Verzerrungen in den Aussagen über bestimmte Aktivitäten geben. So wurde z. B. „Radiohören" in einer Zeitbudgetstudie 240 mit nur durchschnittlich fünf Minuten pro Tag als Primärtätigkeit ermittelt. Bei Berücksichtigung als Nebenbeschäftigung stieg der Umfang des Radiohörens auf 61 Minuten für den gleichen Zeitraum an. Entscheidend für die Auswertung von Zeitbudgetdaten ist das Vorhandensein eines theoretisch begründeten Kategoriensystems. Die Vielzahl vorhandener Kate-

239 2i0

Vgl. P. Förster, Analyse des Zeitbudgets, a. a. O., S. 21. Die Ergebnisse stammen aus Zeitbudgetforschungen des WB Soziologie der K M U Leipzig und sind im unveröff. Forschungsbericht „Zeitbudget Guben 1977" enthalten.

Zeitbudgetstudien

403

goriensysteme und ihre Problematik können an dieser Stelle nicht diskutiert werden, 241 hier sollen nur einige generelle Bemerkungen niedergeschrieben werden. Grundsätzlich sollte ein Kategoriensystem in der Zeitbudgetforschung drei Ansprüchen genügen: 1. Es muß das Typische der Zeiteinteilung sichtbar machen. 2. Es muß zulassen, Entwicklungstendenzen in der Zeiteinteilung zu diagnostizieren. 3. Es müssen die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Beeinflussung der Nutzung bestimmter Zeitfonds sichtbar gemacht werden. Auf die Klassifikation wird immer die Zielstellung einer Zeitbudgetstudie Einfluß haben, d. h., bis zu einem gewissen Grade hängt die Ausarbeitung des Kategoriensystems von der durch eine Zeitbudgeterhebung zu lösenden Aufgabe ab; sie ist bei Sportsoziologen anders als z. B. bei Arbeitssoziologen. Diese Wechselbeziehungen zwischen allgemeinen und speziellen Anforderungen an ein Kategoriensystem sind bis heute unbefriedigend gelöst, so daß weder im nationalen noch im internationalen Maßstab Vergleiche ohne Einschränkungen möglich sind, 242 wenngleich Ansätze durchaus vorhanden sind (so die Internationale UNESCOZeitbudgetstudie in Mittelstädten von elf Ländern 1966). Für diesen unbefriedigenden Zustand gibt es zwei entscheidende Gründe: Erstens : Es fehlen theoretische Arbeiten über die Verwendung und Ausnutzung der Zeit (einschließlich entsprechend theoretisch begründeter Begriffsdefinitionen). Die bei Zeitbudgeterhebungen „verwendeten Klassifizierungen charakterisieren das theoretische Niveau der Forschungen, und vorläufig ist das Niveau nicht sehr hoch" 243 . Zweitens hat sich die Zeitbudgetforschung vorwiegend als Teil der Wirtschaftswissenschaften entwickelt; ihre Ergebnisse werden aber heute auch von anderen Wissenschaften genutzt, die zum Teil andere Kategorien verwenden. Da aber die Zeitbudgetstudien einen ausgesprochen hohen methodischen, personellen, finanziellen und rechentechnischen Aufwand erfordern, sollte eine hohe Standardisierung bei Forschungen auf diesem Gebiet möglichst schnell angestrebt werden, so daß alle an Zeitbudgetergebnissen interessierten Wissenschaftsgebiete sinnvolle und miteinander vergleichbare Daten erhalten. Ausgehend von den bisherigen Überlegungen kann die Aufgabe eines Kategoriensystems für Zeitbudgetanalysen im gesellschaftlichen Rahmen nicht darin 241

242

243

27

Vgl. G. Lippold, Das Zeitbudget der Bevölkerung, a. a. O.; W. A. Artemow, Das Zeitbudget — Fragen der Untersuchung und Anwendung, a. a. O.; W. A. Artemow, Methodologische Fragen der Untersuchung des Zeitbudgets, Nowosibirsk 1972 (Arbeitsübersetzung der Hochschule für Ökonomie Berlin); W. Blass, Zeitbudget-Forschung, a. a. O. Vgl. G. Lippold, Dauer und Lage der Arbeitszeit als eine ökonomische Grundlage für die Entwicklung der sozialistischen Lebensweise, a. a. O., S. 87, 89. W. A. Artemow, Das Zeitbudget — Fragen der Untersuchung und Anwendung, a. a. O., S. 98. Soziolog. Forschung

404

Datenerhebung

bestehen, ein umfassendes, bis ins kleinste reichende Bild von der Zeitverteilung der Bevölkerung zu gehen, sondern es muß zeitliche Grundstrukturen sichtbar werden lassen. Diese müssen aber so differenziert sein, daß sie erstens: in verschiedenen Wissenschaftsbereichen Aussagen über Tätigkeiten ermöglichen und zweitens: Ausgangspunkt für eventuell notwendige, detailliertere Zeitanalysen in diesen Bereichen sein können. In Untersuchungen hat sich gezeigt, daß eine Erfassung von Tätigkeitsgrundgruppen — es sollten mindestens 30, aber nicht mehr als 60 sein — günstig ist, weil sich hieraus im Nachhinein eine Vielzahl von Zeitkombinationen höherer Ordnung, entsprechend der Spezifik von Teildisziplinen und Forschungsaufgaben, bilden lassen. Gleichzeitig könnte diese Grundstruktur Ausgangspunkt für eine sich ebenfalls aus der Spezifik spezieller Forschungsaufgaben und -richtungen ergebende weitere Unterteilung bestimmter Grundkategorien sein, so daß die Vergleichbarkeit verschiedener Zeitbudgetuntersuchungen auf einem bestimmten Niveau immer erhalten bleibt. Neben der Kategorienbildung stellt die rechentechnische Auswertung einen weiteren Schwerpunkt bei der Auswertung von Zeitbudgeterhebungen dar. Mit Hilfe der modernen Rechentechnik ist es heute relativ leicht, Häufigkeitsverteilungen, Durchschnittswerte und Varianzen sowohl für die Gesamtstichprobe wie auch für bestimmte Teilpopulationen zu berechnen. Um die vielfaltigen Wechselwirkungen und Zusammenhänge, die sich hinter den Zeitbudgetdaten verbergen, besser erkennen und richtig bewerten zu können, ist der Einsatz von mathematisch-statistischen Methoden unabdingbare Voraussetzung. Wenn auch die Aussage, daß die Anwendung solcher Verfahren „vorläufig experimentellen und episodenhaften Charakter" hat, übertrieben ist, so zeigt doch die bisher umfassendste Darstellung 244 von bisher eingesetzten statistischen Verfahren und Kennziffern, daß vorhandene Ansätze konsequent weiterentwickelt werden müssen. Die Berechnung von Korrelations- und Regressionsfunktionen, von Elastizitätskoeffizienten, das Aufstellen von Kontingenztabellen u. a. ist bisher nicht befriedigend. Strukturvergleiche von Zeitbudgetanalysen fehlen noch vollkommen. 245 Dennoch bilden die schon jetzt vorhandenen Materialien in ihrer Vielfalt und Qualität günstige Voraussetzungen für qualitative Wertungen und Forschungsberichte.

244 245

Vgl. ebenda, S. 84. Vgl. R. Müller/L. Neumann, Zeitbudget und Zeitbilanzen, Teil 2, a. a. O.

4. KAPITEL

Auswertung und Anwendung soziologischer Forschungsergebnisse 4.1. Prinzipien der Datenauswertung (Auswertungsstrategien)

Die Auswertung soziologischer Untersuchungen, die Aufbereitung, Analyse und Interpretation der in subtiler Detailforschung gewonnenen Daten und Tatsachen ist ein außerordentlich bedeutsamer Abschnitt im soziologischen Forschungsprozeß. In dieser Phase zeigt sich, ob sich das ausgearbeitete Forschungsprogramm und die eingesetzten Forschungsmethoden als tragfahige Forschungsinstrumente bewährt haben. Ausgehend von theoretischen Zielstellungen, formulierten Hypothesen und Fragestellungen werden auf der Basis der ermittelten Daten wissenschaftliche Erkenntnisse über soziale Sachverhalte, ihre Merkmalsstrukturen und Dimensionen, ihre Wirkungsbedingungen und Beziehungen zu anderen Sachverhalten, ihre Ursachen, Funktionsweisen und Entwicklungstendenzen gewonnen. So gesehen, ist die Datenauswertung zugleich Analyse und Synthese. Im Grunde handelt es sich bei der Auswertung empirisch-soziologischer Untersuchungsergebnisse um die theoretische Reproduktion sozialer Sachverhalte und ihre Einordnung in den gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang, d. h. um die Ermittlung soziologischer Tatsachen. Freilich ist der Nachweis soziologischer Tatsachen außerordentlich vielschichtig und verschieden je nach Art der analysierten sozialen Erscheinungen bzw. Ereignisse, Prozesse, Zusammenhänge, Regularitäten, Regelmäßigkeiten, Trends und Bedingungen. Je nach Art des soziologischen Forschungsprogrammes und der dementsprechenden Zielstellung soziologischen Forschens gelten neben allgemeinen Prinzipien besondere Regeln für die Datenauswertung. Immer aber kommt es darauf an, Methoden anzuwenden, die es gestatten, die sozialen Sachverhalte in ihrer tatsächlichen qualitativen Beschaffenheit und ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen zu erfassen. Ausgehend von der Tatsache, daß jeder soziale Sachverhalt nur über und durch den soziologischen Erkenntnisprozeß (einschließlich der angewandten Methoden) das Erkenntnisresultat determiniert, kommt es darauf an, die Gesamtheit aller Seiten des sozialen Sachverhaltes zu analysieren. Nach Abschluß der Datenerhebung liegen in der Regel so viele Daten vor, daß das „Ergebnis der Messung" der sozialen Wirklichkeit gar nicht überblickt werden kann. Deshalb ist der Meßprozeß mit der Datenerhebung auch nicht abgeschlossen, sondern wird in der Datenanalyse und -auswertung fortgesetzt. Grund27'

406

Auswertung und Anwendung

prinzip aller Auswertungsstrategien muß sein, die Menge der Daten überschaubar zu machen, d. h., die Daten in geeigneter Weise zu aggregieren und zu strukturieren. Ehe überhaupt an eine Interpretation der Meßergebnisse gedacht werden kann, ist eine Reihe von Prozeduren auszuführen, die sehr zeit- und personalaufwendig sein, kann, aber im Forschungsprozeß einen festen Platz hat. Dabei handelt es sich um — die Datenerfassung und Datenaufbereitung, — die Datenvorverarbeitung und — die eigentliche Datenanalyse. Die vorliegenden Daten sind in der Regel sehr heterogen und von unterschiedlicher Qualität; nicht alle sozialen Sachverhalte lassen sich auf dem gleichen metrischen Niveau messen. Die unterschiedlichen Meßniveaus der Daten haben zur Folge, daß nicht alle Auswertungsverfahren, wobei es sich hauptsächlich um Verfahren der mathematischen Statistik handelt, angewandt werden können, weil diese immer an bestimmte methodologische und mathematische Voraussetzungen gebunden sind. Die Daten stammen weiterhin aus unterschiedlichen Erhebungsverfahren, weil, entsprechend dem Prinzip des Methodenpluralismus u. a. im 1. Kapitel begründeten methodologischen Prinzipien der soziologischen Forschung, in jeder Untersuchung mindestens zwei verschiedene Erhebungsmethoden angewendet werden. Das bedeutet aber, daß alle Daten in bestimmten Transformationsprozessen so umgewandelt werden müssen, daß Auswertungsverfahren voraussetzungskonform angewendet werden können. Somit ist ersichtlich, daß bereits bei der Datenerfassung Bewertungen und Vergleiche vorgenommen werden müssen, daß sogenannte soziologische Plausibilitätsprüfungen erfolgen müssen, um beispielsweise zu gewährleisten, daß subjektive Meinungen über Arbeitsbedingungen auch mit den objektiv ermittelten, tatsächlichen Arbeitsbedingungen richtig in einen Zusammenhang gebracht werden. Natürlich ist es nicht so, daß nach Vorliegen der Daten die Überlegungen beginnen, wie man sie auswerten kann. Da Theorie und Methode in jedem Forschungsprozeß eine Einheit bilden, Hypothesen immer so formuliert werden, daß sie verifiziert oder falsifiziert werden können, muß das Forschungsziel so klar formuliert sein, daß die Datenerhebung bei Kenntnis der Auswertungsstrategie und der Auswertungsverfahren erfolgt und deren Erfordernissen entsprochen wird. Das heißt, die Erfordernisse der Auswertung müssen bei der Datenerhebung berücksichtigt werden. Es gilt der Grundsatz, daß mit Auswertungsverfahren Datendefekte nicht beseitigt werden können, die durch Datenausfall (z. B. ungenügender Rücklauf von Fragebögen oder unvollständig ausgefüllte Erhebungsunterlagen) oder fehlerhafte Daten entstanden sind.

Auswertungsstrategien

407

Speziell in der Phase der Datenanalyse gelten einige methodologische Prinzipien1, die nur kurz erläutert werden sollen. Das Prinzip der Einheit von Ziel, Objekt, Inhalt und Methode fordert, daß alle Auswertungsmethoden sowohl dem Forschungsobjekt angemessen (adäquat) als auch theoriegeleitet (Maßzahlen sind hypothesen- oder indikatororientiert interpretierbar) in der Weise angewendet werden müssen, daß die erzeugten Datenaggregate oder Datenstrukturen zur Erreichung des Forschungsziels beitragen. Sowohl die Datenerhebung als auch die Datenanalyse bzw. die Verknüpfung von Daten müssen auf der Grundlage eines konzeptualen hypothetischen Modells vollzogen werden. Aus der Gültigkeit dieses methodologischen Prinzips kann z. B. geschlußfolgert werden, daß sich Bewertungskriterien für die Bewertung von statistischen Maßzahlen, Koeffizienten, Indices etc. nicht aus der Statistik oder Rechentechnik ableiten lassen, sondern stets aus der soziologischen Theorie, aus den Hypothesen und inhaltlichen Überlegungen abgeleitet werden müssen. In diesem Sinne sind mathematische Statistik und Rechentechnik für die marxistisch-leninistische Soziologie zwar unentbehrlich, aber doch nur Hilfsmittel der Datenanalyse. Eine wichtige Schlußfolgerung aus diesem Prinzip ist, daß die Auswertungsstrategie nicht willkürlich, d. h. unabhängig von Forschungsobjekt und Forschungsziel, festgelegt werden kann. Es gibt zwar eine breite Vielfalt von analogen Verfahren, aber immer nur eines, das dem Forschungsproblem am besten entspricht. Ein weiteres methodologisches Prinzip ist das der Einheit von Analyse, Synthese, Bewertung, Entscheidung und Gestaltung. Es fordert, daß die Datenanalyse nicht Selbstzweck sein darf und mit der Verifizierung der Forschungshypothese nicht abgeschlossen ist. Vielmehr kommt es darauf an, auf der Grundlage der ermittelten Datenstrukturen, sozialen Fakten, Tatsachen, Zusammenhänge, Wirkungsmechanismen und Gesetzmäßigkeiten begründete Vorschläge für die Gestaltung der sozialen Wirklichkeit und für die Führung sozialer Prozesse einschließlich ihrer Vorhersagen zu erarbeiten. Das Ziel der Datenanalyse ist also stets die Synthese der Untersuchungsergebnisse und deren Verallgemeinerung und Erklärung, um davon ausgehend Gesetzesaussagen, Entscheidungsvorschläge und Gestaltungslösungen ableiten zu können. Diese Aufgabe gilt es unabhängig vom konkreten Forschungsziel zu erfüllen, weil sie sich aus den Funktionen der marxistischleninistischen Soziologie und aus ihrem Praxisverständnis (Einheit von Theorie und Praxis) ergibt. Das Prinzip der Einheit von Beschreibung, Erklärung, Bewertung und Prognose fordert, den gesamten Auswertungsprozeß der Daten von der Sortierung bestimmter Teilpopulationen nach sozialen Merkmalen bis zur empirischen und theore1

Vgl. A. Ullmann, Zur soziologischen Erfassung und Bewertung von Neuerungsprozessen, in: Aus dem wissenschaftlichen Leben des Instituts für marxistisch-leninistische Soziologie der Humboldt-Universität zu Berlin, 4/1984, S. 22—30.

408

Auswertung und Anwendung

tischen Interpretation der Ergebnisse als dialektisch einheitlichen Prozeß von empirischen, statistischen, rechentechnischen, manuellen und maschinellen, deskriptiven und bewertenden sowie theoretischen, erklärenden, begründenden, bewertenden, interpretierenden Tätigkeiten zu gestalten. In diesem Sinne bilden empirische und theoretische Forschungsoperationen und Datenmanipulationen keine zeitliche Abfolge, sondern sie durchdringen sich wechselseitig. Das Prinzip der Einheit von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem verlangt, die Untersuchungsergebnisse nicht als Anhäufung einzelner isolierter Daten zu betrachten, sondern als singuläre Informationen über die vielfaltig gegliederte Mannigfaltigkeit sozialer Sachverhalte und ihrer Zusammenhänge. Lenin weist darauf hin, daß Einzelnes und Allgemeines in einem dialektischen Zusammenhang existieren: „das Einzelne existiert nicht anders als in dem Zusammenhang, der zum Allgemeinen führt. Das Allgemeine existiert nur im Einzelnen, durch das Einzelne ... Jedes Einzelne hängt durch Tausende von Übergängen mit einer anderen Art Einzelner (Dinge, Erscheinungen, Prozesse) zusammen" 2 . Indem in den vielen Zusammenhängen der sozialen Ereignisse allgemeine Zusammenhänge ermittelt werden, wird erst die Erkenntnis des gesetzmäßigen Zusammenhanges eröffnet. Der Erkenntnisprozeß der Gesetzmäßigkeiten erfolgt also über die Analyse und Synthese der Vielfalt einzelner, besonderer (empirisch-allgemeiner) und allgemeiner Zusammenhänge. Gerade aber in der Heraussonderung des Besonderen (Typischen) besteht eine wichtige Funktion der statistischen Datenanalyse. Schließlich sei das Prinzip der Einheit von Komplexität und Differenziertheit der Bewertung genannt. Hierbei geht es um die Beachtung der Tatsache, daß im Datenauswertungsprozeß immer nur Teilaspekte, Ausschnitte, einzelne Seiten der sozialen Erscheinungen, Prozesse, Fakten und Zusammenhänge einem speziellen Auswertungs- oder Analyseverfahren unterworfen werden können und als solcher Teil differenziert bewertet werden müssen, um richtige Schlußfolgerungen für das Gesamtobjekt der Untersuchung ziehen zu können. Soziale Sachverhalte lassen sich nicht vollständig abbilden; um sie aber in der Totalität ihrer wesentlichen Bestimmungen erfassen zu können, muß der Abbildungsprozeß seriell, d. h. in Teilschritten in Form eines Mosaiks zunächst vom Konkreten, Ganzheitlichen weg zum Abgesonderten hin erfolgen, um dann wieder vom Abstrakten zum Konkreten hin aufzusteigen (konkrete theoretische Reproduktion). Deshalb müssen alle Teilschritte richtig gegangen werden, um am Ende die Synthese zu einem komplexen Abbild der sozialen Wirklichkeit zu gewährleisten. Diese Dialektik von Teil und Ganzem, von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem muß in allen Phasen des Auswertungsprozesses beherrscht werden. Daraus ergibt sich im Auswertungsprozeß und bei der Gestaltung der Auswer2

W. I. Lenin, Zur Frage der Dialektik, in: Werke, Bd. 38, Berlin 1968, S. 340.

Auswertungsstrategien

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tungsstrategie eindeutig die dominierende Rolle des Soziologen und nicht des Mathematikers, Statistikers, Programmierers oder eines anderen EDV-Spezialisten. Die Auswertungsstrategie einer soziologischen Untersuchung wird vom Forschungsziel, Forschungsgegenstand und Forschungsobjekt determiniert. In ihr geht es vorrangig um inhaltliche und nicht um technisch-organisatorische Fragen. So gelingt es bei der Auswertung von Befragungen, absolute und relative Häufigkeiten der Antwortverteilungen in einer Gesamtpopulation und in bestimmten Teilpopulationen festzustellen. Der Forscher, der eine Fallstudie auswerten will, muß bisweilen langwierige manuelle Arbeiten durchführen, um gemeinsame Merkmale zu klassifizieren, Hypothesen zu generieren und Aussagen auf ihre Generalisierbarkeit zu überprüfen. In der Regel sind soziologische Untersuchungen auf die Analyse statistischer Verteilungen, Trends, Regelmäßigkeiten oder gar Gesetzmäßigkeiten ausgerichtet und müssen sich daher der statistischen Analyse der Daten bedienen, was unter heutigen Bedingungen auch die Benutzung von modernen EDV-Anlagen einschließt. Deshalb erweist sich die mathematische Statistik einschließlich der Wahrscheinlichkeitstheorie für die Soziologie als sehr brauchbares Kalkül. 3 In der sozialen Wirklichkeit existieren soziale Ereignisse in einer Vielzahl von sozialen Handlungen der Individuen innerhalb sozialer Bedingungsgefüge.4 Auch die Erhebung soziologischer Primärdaten kommt bei den entsprechenden Methoden (Beobachtung, Befragung) nicht am Individuum vorbei, sie muß sich der Individuen als Medien des Meßvorganges5 bedienen. Die mathematische Statistik erlaubt — ohne daß hier nähere Ausführungen erfolgen sollen — sehr viele individuelle Daten, unabhängig von ihrer konkreten sozialen Qualität, nach bestimmten formalen Algorithmen in Kennwerten, Maßzahlen, Koeffizienten etc. zusammenzufassen, d. h. aus einer Vielzahl von Daten durch Aggregation wenige, und damit besser überschaubare, sogenannte Sekundärdaten zu erzeugen. Das entspricht genau der eingangs dargestellten Intension der soziologischen Datenauswertung. Hinzu kommt, daß alle sozialen Daten bestimmten Verteilungen folgen, die meist komplizierter sind als die idealisierten Verteilungsgesetze der Statistik, aber durch letztere hinreichend gut beschrieben werden können, wodurch auch die Nutzung der statistischen Theorie für die soziologische Forschung ermöglicht wird. Um die mittels statistischer Analyse gefundenen statistischen Tatsachen soziologisch interpretieren zu können, müssen sie vier Forderungen genügen, die Lenin aufgestellt hat: 3

4 5

Vgl. H. Zühlke, Die Anwendung der Statistik in der soziologischen Forschung, in: G. Aßmann/ R. Stollberg (Hrsg.), Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, Berlin 1977, S. 116— 129. Vgl. W. I. Lenin, Statistik und Soziologie, in: Werke, Bd. 23, Berlin 1970, S. 285/286. Vgl. A. UUmann/St. H. Wilsdorf, Bewertung und Vergleich, Berlin 1977, S. 13.

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Auswertung und Anwendung

1. Vollständigkeit der Daten (sowohl hinsichtlich der Erhebung aller Elemente als auch der für die Verarbeitung notwendigen und wesentlichen Merkmale des betreffenden Objekts in Raum und Zeit), 2. Erklärung der Besonderheiten der Wechselwirkung aller wesentlichen Seiten der untersuchten Erscheinungen (soziale Komplexität), 3. Zuverlässigkeit der Daten (Erhebungsprogramm und Organisation der Erhebung, Gütekriterien geprüft etc.), 4. Homogenität der Daten (Vergleichbarkeit in Raum und Zeit, Zählbarkeit). 6 Jeder Interpretation statistischer Tatsachen liegt der Gedanke zugrunde, daß alle individuell erhobenen Daten nicht nur schlechthin statistisch zusammengefaßt worden sind, sondern daß sie auch Ausdruck statistischer, sprich sozialer Gesetzmäßigkeiten sind. Auf Grund der sozialen Determination individuellen Verhaltens (vgl. 1. Kapitel) wird durch die Anwendung der Statistik in der Soziologie von der formalen Seite her die inhaltlich so bedeutsame Reduktion des Individuellen auf das Soziale unterstützt, wenn nicht gar überhaupt erst ermöglicht.7 In der Regel fallen bei einer soziologischen Untersuchung so viele Daten an, daß sie nicht „per Hand" bewältigt werden können. Sie müssen mindestens maschinell, gewöhnlich aber mit EDVA verarbeitet werden. Zu diesem Zwecke sind die Daten mit geeigneten Verfahren der Datenerfassung und Datenaufbereitung auf Datenträger zu übertragen, die von der verfügbaren Datenverarbeitungsanlage eingelesen werden können. Unmittelbar an die Datenerfassung schließt sich die sogenannte Datenvorverarbeitung an, die zum Ziel hat, Daten in sogenannten Profilmatrizen bereitzustellen, die weitgehend fehlerfrei sind, auf die sich die Verfahren der mathematisch-statistischen Analyse anwenden lassen und die für alle möglichen weiteren Analyseschritte abrufbar sind. In zunehmendem Maße werden von Software-Herstellern auch Programme für die Datenvorverarbeitung bereitgestellt. Es muß ausdrücklich betont werden, daß die Datenvorverarbeitung eine unentbehrliche, wenn auch sehr zeitaufwendige Etappe im Prozeß der Datenauswertung ist, die vorwiegend im Mensch-Maschine-Dialog zu realisieren ist. Wenn auf fehlerhafte Daten mathematisch-statistische Analyseverfahren angewandt werden, so können selbstverständlich keine gültigen Ergebnisse gewonnen werden, was wiederum den ganzen Aufwand der Datenanalyse fragwürdig machen würde. Damit wird nicht geleugnet, daß das soziologische Meßergebnis, wie jedes Meßergebnis, fehlerbehaftet ist und daß der Datenauswertungsprozeß am Gesamtfehler einen Anteil hat.

6

7

Vgl. W. I. Lenin, Zur Frage unserer Fabrik- und Werkstatistik, in: Werke, Bd. 4, Berlin 1955, S. 18-33. Vgl. E. Hahn, Lenin und die Soziologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderheft 1970, S. 200/201.

Auswertungsstrategien

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Abb. 1 EDV-Nutzanwendung

Die Einordnung der elektronischen Datenverarbeitung in den Datenauswertungsprozeß verdeutlicht das Flußbild in Abbildung 1 (vgl. Abb. 1). Die Ausnutzung der Möglichkeiten der EDV für die Datenanalyse hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Dazu gehören die Qualifikation des Forschungspersonals, die Verfügbarkeit von Rechentechnik und Software, die Datenerfassungskapazitäten, die Verfügbarkeit von Rechnerzeit bzw. von finanziellen Mitteln für Rechenaufträge etc. Die wichtigste Voraussetzung für die EDV-Nutzanwendung ist jedoch die Einstellung der Forschungskollektive zu ihr. Dazu muß bemerkt werden, daß zu jedem sozialwissenschaftlich relevanten Rechnerprogrammangebot (Programmpaket, Software-System) von der Herstellerfirma der Rechner (in Ausnahmefallen separate Programmerstellung) sogenannte Nutzerhandbücher oder Software-Anwendungshandbücher angeboten werden, deren gründliches Studium eine sogenannte nutzerfreundliche, d. h. von der konkreten Rechenanlage unabhängige, Anwendung dieser Programme ermöglicht. Dabei handelt es sich in der Regel um Programme für Datenerfassung, Datenvorverarbeitung, Datenmanagement und Datenanalyse sowie entsprechende Steuerprogramme, die alle Teilprogramme zu einem Programm vereinigen. Unabhängig von dieser Anwendungshilfe ist natürlich ein kameradschaftlicher Dialog zwischen Soziologen

412

Auswertung und Anwendung

und EDV-Spezialisten immer zu empfehlen, weil dadurch optimale Lösungen gefunden werden können. Die mittels Rechentechnik erfolgende Datenanalyse spielt sich vorwiegend im Rechner ab. Der Nutzer erhält Ergebnisausdrucke in Form von Tabellen, Histogrammen, Dendrogrammen etc., die er zunächst der empirischen Interpretation zu unterziehen hat. Hier interessiert nun, wie die Datenanalyse inhaltlich zu konzipieren ist, welche spezifischen mathematisch-statistischen Algorithmen unter welchen Voraussetzungen angewendet werden können. Dabei spielt, wie schon erwähnt, die Datenauswertungsstrategie eine entscheidende Rolle. In Statistikbüchern werden in der Regel die hypothesenprüfende und die hypothesensuchende Auswertungsstrategie angeführt. Diese Bezeichnungen können nicht ohne weiteres auf den soziologischen Hypothesenbildungsprozeß bzw. -bestätigungsprozeß bezogen werden. Überhaupt muß beim Studium von Auswertungsproblemen beachtet werden, daß die benutzten Fachtermini in der Regel der Mathematik, der Statistik oder der EDV-Fachsprache entstammen, um Verwechslungen mit soziologisch-inhaltlich gemeinten Ausdrucksformen zu vermeiden. Jede soziologische Auswertungsstrategie folgt einem inhaltlich-theoretischen Konzept und kann prinzipiell mit Modifizierungen der gleichen mathematisch-statistischen Verfahren realisiert werden, wenn die entsprechenden methodologischen und methodischen Voraussetzungen erfüllt sind. Nahezu alle Verfahren der Datenanalyse zielen auf den Nachweis von Zusammenhängen, Abhängigkeiten, Veränderungen und Unterschieden. Diese werden innerhalb einer Profilmatrix ermittelt, die generell als Ausgangsgröße für die Datenanalyse dient. Prinzipiell werden drei Ebenen der statistischen Informationsgewinnung unterschieden: 1. die Ausprägung aller untersuchten Merkmale in absoluten und relativen Häufigkeiten (das Niveau sozialer Erscheinungen), d. h. die Häufigkeitsverteilungen der Primärdaten; 2. die durchgängige Gruppierung (Sortierung) des Materials nach bestimmten demographischen, sozialen, statistischen oder ökonomischen Gesichtspunkten und Vergleiche zwischen Gesamtheit und Teilgesamtheiten sowie innerhalb von Teilgesamtheiten; 3. die vertiefte statistische Analyse nach speziellen Unterprogrammen (z. B. Berechnung von Mittelwerten und Streuungsmaßen, Kontingenz-, Korrelations-, Regressions-, Cluster-, Faktor-, Varianz-, Zeitreihenanalyse und statistische Testverfahren). Die vertiefte statistische Analyse kann nach zwei Grundtypen als inferenzstatistisch bzw. konfirmatorisch (hypothesenprüfend) und als explorativ (offen bzw. hypothesensuchend) erfolgen. Bei der Inferenz lassen sich wieder zwei Grundtypen unterscheiden:

413

Auswert ungs Strategien

— auf der Ebene der Meßtheorie, d. h. von den beobachteten Variablen (Indikatoren), wird auf die Grundgesamtheit der wahren, aber unbekannten latenten Variablen in der sozialen Wirklichkeit geschlossen; — auf der Ebene des Repräsentationsschlusses, d. h. von einer Stichprobe, wird auf die wahren, aber unbekannten statistischen Kenngrößen der Grundgesamtheit geschlossen. Ein Problem besteht bei der Datenanalyse unter anderem darin, daß gar nicht alle Variablen gemessen werden, die Einfluß auf die untersuchten Objekte haben, trotzdem aber in irgendeiner Weise Wirkungen auf andere Variablen zeigen, deren Erklärung dann natürlich nicht leicht ist. Es sei an dieser Stelle noch einmal hervorgehoben, daß die Voraussetzungen für die Anwendung der ausgewählten Verfahren in jedem Falle geprüft werden müssen, weil sonst fehlerhafte Analyseergebnisse mit Notwendigkeit zu falschen Interpretationen der Untersuchungsergebnisse insgesamt führen würden. Tatsächlich werden manchmal in der Praxis Analyseverfahren angewandt, für die nicht alle Voraussetzungen erfüllt sind.

Verfahren

formale Aufgabenstellung

automatische Klassifizierung

Klassifizierung von Objekten an Hand von Merkmalsrealisationen Ermittlung homogener Subpopulationen

Faktoranalyse

Erklärung und Identifikation latenter Variabler als gemeinsame Faktoren meßbarer Indikatoren

Mehrdimensionale Skalierung geometrische Interpretation nichtmetrischer Daten (im weitesten Sinne Analogien zur Faktoranalyse) Schaffung von Voraussetzungen zur Anwendung metrischer Verfahren Regressionsanalyse

Quantifizierung der Abhängigkeit zwischen Variablen Vorhersage

Varianzanalyse

Analyse von definierbaren Einflüssen

Diskriminanzanalyse

Zuordnung unbekannter Fälle in wohlunterscheidbaren Klassen Ermittlung von Variablen, die zur Differenzierung von Klassen beitragen

Abb. 2 Multivariate, nichtmetrische Verfahren und ihre formalen Aufgabenstellungen

414

Auswertung und Anwendung

Zu den Verfahren der Datenanalyse sei abschließend auf die sogenannten multivariaten Verfahren hingewiesen, die im Zusammenhang mit der EDV-Nutzanwendung und der damit ermöglichten komplexeren Herangehensweise an die Erforschung der sozialen Realität verstärkt eingesetzt werden. Sie erlauben, multifaktorielle Wirkungen auf Variablen, Zusammenhänge zwischen Variablen etc. quantitativ zu bestimmen. Aus diesen Maßzahlen lassen sich Richtungen für die empirische und theoretische Interpretation der Untersuchungsergebnisse ableiten. Vor einer Überbewertung dieser Maßzahlen muß ausdrücklich gewarnt werden. Sie können nicht als Begründung für theoretische Schlußfolgerungen dienen, sondern lediglich auf eine gewisse Plausibilität solcher Begründungen hinweisen (vgl. Abb. 2). Sehr wichtig sind Methoden der Prüfstatistik bzw. der statistischen Testtheorie im soziologischen Forschungsprozeß. Dabei geht es um folgende Fragestellung: Sind die in der Analyse ermittelten Unterschiede, Zusammenhänge und Abhängigkeiten zufallig durch Besonderheiten der Untersuchungspopulation bedingt oder bringen sie soziologisch bedeutsame, wesentliche Beziehungen zwischen Merkmalen zum Ausdruck? Die statistischen Testverfahren beruhen auf einem Vergleich zwischen Größen theoretischer Verteilungen und zu erwartenden Größen aus beobachteten Verteilungen. Diese Größen werden in einer vom jeweiligen Testverfahren abhängigen Prüfvorschrift in eine bestimmte quantizierende Beziehung gebracht, deren konkrete Maßzahl zur Ablehnung oder Nichtablehnung einer (statistischen) Hypothese führt. Je nachdem, wie die Hypothese formuliert ist, kann aus ihrer Ablehnung auf Signifikanz oder Nichtsignifikanz geschlossen werden. Für alle theoretischen Verteilungen und nahezu alle wichtigen Prüfgrößen der Prüfstatistik liegen Tafeln vor, 8 so daß die Prüfung der Ergebnisse einer soziologischen Untersuchung auf Signifikanz als selbstverständlich angesehen werden muß, vorausgesetzt, die zu prüfenden Parameter stammen aus einer Zufallsstichprobe. Die geprüften Untersuchungsergebnisse müssen im weiteren Prozeß der Datenauswertung bewertet und untereinander sowie mit den theoretischen Vorstellungen (Erfahrungswerten, Hypothesen, Indikatoren, Ergebnissen anderer Untersuchungen etc.) verglichen werden. Das geschieht zunächst in der Phase der empirischen Interpretation, die man als Aufbereitung der Sekundärdaten bezeichnen könnte. 9 Innerhalb der empirischen Interpretation der berechneten Koeffizienten, Häufigkeiten, Zusammenhangsmaße etc. können die statistische und die graphische Interpretation unterschieden werden. Hier finden erste synthetisierende 8 9

Vgl. P. H. Müller/P. Neumann/R. Storm, Tafeln der mathematischen Statistik, Leipzig 1973. Der Begriff der empirischen Interpretation wird in zweifachem Sinne verwandt. Er bezeichnet einmal die Bestimmung des empirischen Inhalts theoretischer Begriffe (vgl. Abschnitt 2.6. in diesem Buch) und zum anderen die Bewertung und Deutung von empirischen Befunden.

Auswertungsstrategien

415

Überlegungen statt. So können z. B. durch eine andere Gestaltung der ausgedruckten Tabellen, durch graphische Gestaltung von Histogrammen, Polygonzügen, Kurven, durch Gegenüberstellung der empirisch gewonnenen Verteilungen mit den theoretisch erwarteten, durch Kombination der Ergebnisse aus verschiedenen Erhebungsverfahren etc. die Voraussetzungen geschaffen werden, um durch Abstraktion, Idealisierung, Typologisierung, Systematisierung, Synthetisierung, Generalisierung und Verallgemeinerung eine theoretische Interpretation der Ergebnisse vornehmen zu können. Theoretische Interpretation der Untersuchungsergebnisse heißt, diese in umfassende gesellschaftliche Prozesse einzuordnen, zu erklären und zu begründen. Dabei geht es letztlich um die Frage, ob die aufgedeckten Zusammenhänge notwendig, wesentlich und allgemein sind, d. h. um Gesetzeserkenntnis. Es gibt eine Vielzahl von theoretischen Methoden, auf die sich die Erklärung und Begründung soziologischer Resultate stützen kann, aber leider sind kaum Algorithmen für die theoretische Auswertung von Daten ausgearbeitet worden. Hier sind nach wie vor Kreativität und Erfahrungswissen des Soziologen gefragt. Leistungen

Arbeitsgänge bei der soziologischen Forschungsgruppe Vor der Erhebung: Planung der Auswertung Entwurf des Auswertungsprogramms, der statistischen Auswertung, Gliederung des Forschungsberichts etc.

Sofortbericht an den Praxispartner über Verlauf der Erhebung

Abstimmung und Vereinbarung mit EDVSpezialisten

Nach der Erhebung: Dokumentation der Erhebungsphase Kontrolle der Vollständigkeit der Materialien evtl. Übertragung auf EDV-gerechte Formulare (Signierbogen) Programm der Datenaufbereitung und der statistischen Datenanalyse

Abb. 3

Arbeitsgänge bei der EDV

Übertragung auf EDVDatenträger (z. B. Lochkarte)

416

Auswertung und Anwendung

Dokumentation über Aufbereitungsprogramm

Abstimmung mit und Übergabe an EDV-Verantwortliche

Sofort bericht über Eckdaten

Auswertung: mathematisch-statistische Bearbeitung; empirische Interpretation; theoretische Prüfung

Datenvorverarbeitung (Kontrolle der Daten) Aufbereitung (Computerausdrucke, Tabellen) usw.)

Dokumentation über empirische Ergebnisse

evtl. Anforderung nach weiteren Auswertungsleistungen Hypothesenprüfung

entsprechende Leistungen Überführung in Datenspeicher

empirischer Forschungsbericht

theoretischer Forschungsbericht

Publikationen

weitere empirische und theoretische Auswertung unter speziellen Gesichtspunkten, z. B. Teilpopulationen, neue Hypothesen; Vergleich mit anderen Erhebungen und theoretischen Erkenntnissen theoretische Verallgemeinerung ; Verwahrung der Forschungsmaterialien gem. den gesetzlichen Bestimmungen

Abb. 3 Schematische Darstellung der Auswertung von soziologischen Erhebungen

Für die Praxiswirksamkeit der soziologischen Forschung ist von größter Bedeutung, wie die Untersuchungsergebnisse dargestellt werden. Hier müssen die Bedürfnisse der potentiellen Anwender der Erkenntnisse sorgfältig berücksichtigt werden. Gegenwärtig kann festgestellt werden, daß nur ein Bruchteil der vorliegenden soziologischen Erkenntnisse bei der Führung und Leitung sozialer Prozesse auf den verschiedenen Ebenen der Gesellschaft praktisch genutzt wird. Die Auswertung soziologischer Untersuchungsergebnisse ist jene Phase des soziologischen Forschungsprozesses, in der die aus den empirischen Daten ermittelten sozialen Tatsachen als Struktur- und Entwicklungselemente sozialer

Auswertungsplanung

417

Sachverhalte einer wissenschaftlichen Bewertung unterzogen werden. In dieser Phase erfolgt die Konfrontation der Forschungsthesen mit den ermittelten sozialen Tatsachen — ihre Bestätigung bzw. Widerlegung. Die Hypothesenüberprüfung kann als wesentlicher Bestandteil der Auswertungsphase bezeichnet werden. Statistische Verarbeitung des Datenfonds, Interpretation und Erklärung der Untersuchungsergebnisse und die Überführung der gewonnenen soziologischen Erkenntnisse in die gesellschaftliche Praxis bilden die Hauptmerkmale des Auswertungsprozesses. Um eine zielgerichtete Auswertung vornehmen zu können, muß eine gesicherte Datenbasis vorhanden sein. Es empfiehlt sich, Erhebungsund Auswertungsprogramme parallel zu erarbeiten, um einerseits über die notwendigen Daten zu verfügen und andererseits eine orientierungslose Datenanalyse zu vermeiden. Das Auswertungsprogramm impliziert nicht nur die erforderlichen Merkmalskombinationen und notwendigen Verknüpfungen der Daten, sondern auch die erforderlichen Auswertungsmethoden und -prozeduren. Im Mittelpunkt der nachstehenden Darlegungen steht der Auswertungsprozeß empirisch gewonnener Daten (vgl. Abb. 3).

4.2. Planung der Auswertung Das Auswertungsprogramm beinhaltet Richtlinien und Hinweise, wie, ausgehend von den im Forschungsprogramm formulierten Zielsetzungen, Hypothesen und konzeptualen Modellen, die zur Problemlösung des jeweiligen sozialen Sachverhalts erforderlichen Gruppierungen, Klassifikationen und Kombinationen der erhobenen Daten erfolgen sollen. Das Auswertungsprogramm hat die realen Möglichkeiten, die durch die Art und den Charakter der Auswertung (manuelle, maschinelle oder elektronische Datenverarbeitung) bestimmt werden, zu berücksichtigen und für eine optimale Datenverarbeitung einzusetzen. Um von vornherein ein optimales Verhältnis zwischen erhobenen und verarbeiteten Daten zu gewährleisten, ist die parallele Erarbeitung von Erhebungs- und Auswertungsprogrammen erforderlich. Wir unterscheiden je nach Konkretheitsgrad der Hypothesen, Ziel- und Fragestellungen und des Wissens über die empirischen Datengegebenheiten (inhaltliche und Untersuchungseinheiten-Repräsentanz, Meßniveau der Variablen, mathematisch-statistische Voraussetzungen und Bedingungen) den Grobplan und den Plan der rechentechnischen Aufbereitungs- und Auswertungsläufe. Während der Grobplan mehr die Vororientierung der Datenanalyse im Auge hat, beinhaltet der Plan der rechentechnischen Aufbereitungs- und Auswertungsläufe exakte Angaben der Einzelaktivitäten in Verbindung mit der statistischen Software und den Terminvorgaben. Es ist dabei zu beachten, daß beide Pläne der ständigen Aktualisierung bedürfen, da der Akt der Auswertungsplanung

418

Auswertung und Anwendung

durch eine Reihe von Stufen des empirisch-soziologischen Forschungsprozesses überdeckt wird und dadurch ständig Informationsimpulse erhält. Voraussetzung für die Erarbeitung des statistischen Auswertungsprogramms ist das Vorliegen der empirisch-soziologischen Hypothesen und Fragestellungen, die aus erkenntnistheoretischer Sicht ein hierarchisches System oder Gefiige bilden und hinfuhren zu ersten Vorstellungen über die empirischen Widerspiegelungsmöglichkeiten der sozialen Sachverhalte. Den empirisch-soziologischen Hypothesen und den Fragestellungen lassen sich folgende statistische Analyse- und Problemtypen zuordnen: 1. Statistische Problemstellungen, die auf die Verallgemeinerung ausgewählter statistischer Kennwerte oder des Gesamtverteilungsverlaufs einer oder mehrerer Variablen (Merkmale/Indikatoren) innerhalb einer Untersuchungsgesamtheit oder Teilen davon ausgerichtet sind, also bestimmte Niveaucharakteristika ansprechen. Wir wollen deshalb diesbezüglich von allgemeiner und spezieller Niveaubeurteilung/ -Charakteristik sprechen; allgemein, wenn wir die Untersuchungsgesamtheit als eine in sich geschlossene Population betrachten, und speziell, wenn wir in Teilen davon derartige Betrachtungen anstellen wollen. Wir wollen dabei auch beachten, daß die Reichweite der Niveauaussagen nicht auf die Untersuchungspopulation beschränkt bleibt. Dies kann durch Konfidenzintervalle ausgewählter statistischer Kennwerte und adäquater statistischer Prüfverfahren abgesichert werden. 10 2. Statistische Problemstellungen, die einen Vergleich ausgewählter statistischer Kennwerte oder Verteilungsverläufe einer oder mehrerer Variablen zwischen Teilen einer Untersuchungsgesamtheit oder zwischen mehreren Untersuchungsgesamtheiten anstreben, einen Vergleich mehrerer Variablen innerhalb einer definierten Untersuchungspopulation oder beide Zielstellungen kombiniert zum Gegenstand erheben. In Anlehnung an 1. wollen wir vom Niveauvergleich sprechen. Als Spezifikation dieses Vergleichs ist zu beachten, worauf sich der Vergleich bezieht (welche Kennziffern der Niveaucharakteristik) und welcher Art der Vergleich ist (Globalvergleich, Paarvergleich, Kontrastvergleich etc.). 3. Statistische Problemstellungen, die die Entwicklung der Niveaugraduierungen oder ausgewählter -Charakteristika von Variablen über mehrere Zeitpunkte, in einem bestimmten Zeitabschnitt einer Untersuchungsgesamtheit oder Teilen davon zum Gegenstand einer Analyse machen. Es handelt sich hierbei um Niveauentwicklungsbetrachtungen oder Niveauverlaufsbetrachtungen. 4. Statistische Problemstellungen, die die (faktorielle) Wirkung von Einflüssen auf das Niveau von einzelnen Variablen oder ganzen Komplexen erhellen sollen. Das geschieht in der Regel über die Ermittlung der verschiedensten Arten von Zusammenhängen zwischen Variablen. Dabei wollen wir drei Teilaufgaben herausstellen: Nachweis von Einflüssen (faktorielle Bedingtheiten), Messung der Ein10

Vgl. H. Schwarz, Stichprobenverfahren, Berlin 1975.

Auswertungsplanung

419

flußstärke und Beschreibung/Beurteilung faktoriell bedingter Niveauveränderungen im Sinne von Prognosen. Spezifikationen ergeben sich aus der Frage nach Einflußarten (Haupt- und Wechselwirkungseffekten), der Niveaubezüge und der Dimensionalität der Einfluß-(Prädiktions-) und Wirkungs-(Kriteriums-)Größen. Problemstellungen dieser Art lassen sich als Faktorwirkungsbetrachtungen interpretieren. 5. Statistische Problemstellungen, die die innere Struktur von Variablenkomplexen (Merkmale/Indikatoren eines definierten sozialen Sachverhaltes) und die Struktur von Probanden (Merkmalsträger) im Sinne von Klassifikationsstrukturen beleuchten. Im ersten Fall haben wir es mit Zusammenhangsstrukturen von Variablen und im zweiten Fall mit Strukturen homogener Klassen/Gruppen von Merkmalsträgern einer Untersuchungsgesamtheit oder eines Teiles davon zu tun. Beide Richtungen lassen sich unter der Bezeichnung Strukturcharakteristik behandeln. Statistische Problemstellungen der hier aufgeführten Art sind jedoch nich,t nur als eigenständige, voneinander unabhängige Marschrichtungen in der Datenanalyse aufzufassen. In der praktischen Forschung sind oft Kombinationen dieser abzuarbeiten. Als Beispiel sei hier auf die Erkundung/Auffindung sozialer Gruppierungen von Probanden (Merkmalsträgern) im Rahmen einer Strukturanalyse und auf den sich anschließenden Niveauvergleich von Variablen eines anderen sozialen Sachverhaltes und diesem hingewiesen. Diese Analysestrategie ist erfolgreich bei der Herausarbeitung sozial-demographischer Unterschiede im Freizeitverhalten und Leistungsverhalten verfolgt worden. Aus der Sicht der empirischen Datenanalyse wollen wir in Anlehnung an die vorangegangenen Bemerkungen folgende spezielle Analysestrategien festschreiben: — allgemeine und spezielle Analyse des Niveaus sozialer Sachverhalte (allgemeine und spezielle Niveauanalyse — ANA/SNA), — Analyse des Niveauvergleichs sozialer Sachverhalte (Vergleichende Niveauanalyse — VNA), — Analyse der Entwicklung des Niveaus sozialer Sachverhalte (Niveauentwicklungsanalyse — NEA), — Analyse von faktoriellen Einflüssen auf das Niveau sozialer Sachverhalte (Faktorwirkungsanalyse — FWA), — Analyse von Strukturen sozialer Sachverhalte (Strukturanalyse — STRA). Wie entsteht ein Gefüge von empirischen Hypothesen und Fragestellungen und welche Konsequenzen hat dies für die mathematisch-statistische Datenanalyse innerhalb einer konkret-soziologische^ Forschungsaufgabe? Bei der Ableitung der theoretischen Hypothesen zu empirisch-soziologischen Hypothesen stößt man schnell auf Grenzen hinsichtlich der Umsetzung in Verbindung mit den empirischen Widerspiegelungsmöglichkeiten der sozialen Er28

Soziolog. Forschung

420

Auswertung und Anwendung

scheinungen und Prozesse (sozialen Sachverhalte). Die Hypothesenformulierung, sowohl die theoretische als auch ihre empirische Umsetzung, ist stark vom jeweiligen Kenntnisstand über das Forschungsobjekt abhängig. Bei geringerem Kenntnisstand einzelner Teilprobleme bleibt dem Forschenden nur der Weg der Formulierung von Fragestellungen. Bei der Klärung wechselseitiger Abhängigkeiten von Bestimmungsmerkmalen eines sozialen Sachverhaltes (Aufdeckung der inneren Zusammenhangsstruktur) ist es z. B. oft nicht möglich, ein hypothetisches Modell der wechselseitigen Beziehungen voranzustellen. Deshalb formuliert man zunächst eine Frage in der Richtung, ob überhaupt wechselseitige Beziehungen zwischen den Bestimmungsmerkmalen bestehen könnten. Durch Einsatz adäquater mathematisch-statistischer Verfahren und Methoden ist diese Fragestellung nicht nur einfach beantwortbar, sondern es werden auch gleichzeitig hinreichende Informationen gegeben, die es nun ermöglichen, hypothetische Modelle zu den wechselseitigen Verflechtungen der Bestimmungsmerkmale/ Indikatoren zu entwerfen. Ähnliche Beispiele lassen sich für Niveauvergleiche komplexer sozialer Sachverhalte (über mehrere Teilpopulationen oder über mehrere Zeitpunkte), für Ursache-Wirkungsbeziehungen verschiedener sozialer Sachverhalte, für die Aufdeckung von Klassifikationsstrukturen etc. aufzeigen. Für die Auswertungsprogrammplanung empfehlen wir folgende Schrittfolge: 1. Abbildung von sozialen Erscheinungen und Prozessen auf empirischer Ebene (direkt oder vermittelt über Indikatoren); 2. Konfrontation von empirisch-soziologischen Hypothesen, Fragestellungen mit sozial-statistischen Fakten oder Tatsachen; 3. massenhafter Anfall von Daten (Befragung, Beobachtung etc.) als Profilmatrix ; 4. Herausarbeitung von sozial-statistischen Fakten oder Tatsachen durch Einsatz computergestützter Verfahren und Methoden mathematisch-statistischer Datenanalyse (Statistik-Software). Der Algorithmus zur Erarbeitung eines Auswertungsprogramms stützt sich formallogisch auf das Vorhandensein eines hierarchischen Systems der empirisch-soziologischen Hypothesen und Fragestellungen in Verbindung mit der Profilmatrix auf der einen Seite und auf das breite Spektrum der mathematisch-statistischen Datenanalyseverfahren auf der anderen Seite. Während bei der Grobplanung mehr das erkenntnistheoretische Leistungsvermögen der einzelnen Verfahren im Vordergrund steht, bezieht man sich bei der Feinplanung (Erarbeitung des Planes der Datenauswertungsläufe) stärker auf die Möglichkeiten der rechentechnischen Realisierung (Computerprogramme/Programmsysteme). Als Profilmatrix bezeichnen wir die Darstellungsweise: Zeile = Ausprägungsprofil aller Indikatoren (Variablen) pro Untersuchungseinheit und Spalte = Ausprägungsprofil eines Indikators (einer Variablen) über alle Untersuchungseinheiten.

421

Auswertungsplanung

Die Schrittfolge sollte folgende Einzelschritte einschließen: Schritt 1: Studium des hierarchischen Gefüges empirisch-soziologischer Hypothesen und Fragestellungen und der tragenden Vorstellungen zum Untersuchungsfeld, Auswahlplan zur Untersuchungsmethodik. Ergebnis: Expertise Bewertung der Hypothesen und Fragestellungen hinsichtlich der empirischen Abbildungsmöglichkeiten. Schritt 2: Erarbeitung eines Grobplanes zum Auswertungsprogramm. Den Hypothesen und Fragestellungen werden entweder direkt oder indirekt über statistische Analysetypen (vgl. Abschnitt 4.4.) unter Beachtung zu erwartender Datengegebenheiten mathematisch-statistische Datenanalyseverfahren zugeordnet. Ergebnis: Grobauswertungsplan als Bestandteil der Forschungskonzeption (vgl. Abb. 4). Empirisch -soziologische Fragestet lung Hypothese Kurz-Bezeichnung

Inhalt

0

Abb.

Statistischer Analyse-/ Problem typ Grundtyp

1

2

Spezifik

3

Verfahren /Metho - Bemerkungen de der math.stat. Datenanalyse

4

5

4

Grobauswertungsplan

Nach erfolgreicher Verteidigung der Forschungskonzeption werden im Rahmen der Auswertungsplanung fortsetzend abgearbeitet: Schritt 3: Studium der Indikatoren in qualitativer und quantitativer Hinsicht aus dem Blickwinkel der Hypothesen und Fragestellungen. Ergebnis: Expertise Bewertung der Vereinbarkeit von Hypothesen und Fragestellungen einerseits und Merkmalen/Indikatoren (qualitativ und quantitativ) andererseits. Die qualitative Bezugnahme zielt auf die inhaltliche Repräsentanz und die quantitative auf die Festlegungsmöglichkeit des Variablenmeßniveaus ab. Schritt 4: Überarbeitung des Grobplanes zum maßgebenden Auswertungsprogramm wie Schritt 2. Konzentration im wesentlichen auf ein Verfahren. Ergebnis: wie Schritt 2. Wenn vorgesehen, Durchführung einer Voruntersuchung mit der Zielstellung einer Indikatorenprüfung (Reliabilität, Validität, Objektivität) und Informations28'

Auswertung und Anwendung

Bemerkungen

422

60

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Y

unter Berücksichtigung der Dimensionalität von X bzw. Y und der Variablentypen (metrisch, gemischt, nichtmetrisch) spezifiziert wird. Einen Überblick über statistische Verfahren moderner Programmpakete gibt Abbildung 23 (vgl. Abb. 23 und Tab. 12). Moderne Programmpakete enthalten darüber hinaus Verfahren zur elementaren Dateibeschreibung.

Tabellen und Graphiken Die Erzeugung instruktiver Tabellen und Graphiken nimmt in der praktischen Anwendung der EDV einen wichtigen Platz ein. Tabellen und Graphiken finden Anwendung zur: — reproduktionsreifen Darstellung der Originaldaten, — Auflistung ausgewählter Fälle, — synoptischen Fehlersuche, — Darstellung von Häufigkeiten bestimmter Phänomene etc. In einigen Softwaresystemen, wie z. B. SPSS oder SIR, findet man Spezialprozeduren zur normgerechten Tabellenherstellung, die kaum Nutzerwünsche offenlassen. Allerdings kann der Bedienaufwand groß sein, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Unter den Graphiken zur Darstellung elementarer Aggregationen sind vor allem zu nennen (vgl. Abb. 24): — Histogramme für absolute und relative Häufigkeiten, — Stem-And-Leaf-Plots als Variante von Histogrammen (TUKEY), — Blockdiagramme, — Kreisdiagramme, — Sterndiagramme, — Scatterplots. Graphische Ausgaben spielen eine wichtige Rolle zum Kennenlernen der Daten (Datenschnüffelei). Liegen aussagefahige Variablen vor, so kann mit der Tabellierung bzw. graphischen Darstellung schon das Hauptergebnis der EDV-Nutz-

480

Auswertung und Anwendung

anwendung erreicht sein. Dies trifft besonders auf Datenbanken mit sozialpolitischen, sozialstrukturellen oder demographischen Daten zu. Vor der Druckausgabe auf Papier oder Microfiches sollte eine Terminaltechnik genutzt werden, um das für den jeweiligen Anwendungszweck optimale Druckbild zu entwerfen.

Histogramm

AUSWERTUNG DER DATEI ARBEIT VARIABLE V5 =• BERUFE

4. - xxx Î3)

3

OHNE ANGABE

x x x x x x x x x x flO) MED. PERSONAL

.¿"-XXXXXXXXXXXXX x (W PROD. ARBE/TER

7 - x x x/j;

LEHRER

1

5

Stamm - uncf- Blcrtt- Diagramm fStem -And-

I

10

Leaf-Plot)

0003215 566 )

bedeutet : In den Daten sind die Realisationen 3536 36 anzutrefftn

14456889 - 112357

800

1000

7200

7400

Methodik der Datenanalyse

481

Kreisdiagramm

Sterndiagramm

Statterplot f für numerische Realisationen )

Abb. 24 Graphiken zur Darstellung elementarer Aggregationen

4.5.5. Methodik der Datenanalyse Mit der Einführung des Begriffes „Datenanalyse" soll nicht einer Arbeitsweise Vorschub geleistet werden, die, ohne nach Voraussetzungen zu fragen, in bunter Folge Analyseverfahren anwendet. Das Gegenteil ist der Fall: Der Anwender soll geschult werden, mit Sorgfalt und wissenschaftlicher Präzision komplexe Analyseverfahren richtig anzuwenden. Der Beitrag, den Verfahren der nicht-statistischen Datenanalyse dazu erbringen können, besteht darin, die Erfüllung von Voraussetzungen statistischer Verfahren zu prüfen, Strategien zur Annäherung an die Voraussetzungen sowie eine automatisierte Hypothesenfindung zu ermöglichen. Nachdem eine bestimmte Analysemethode für ein Problem ausgewählt wurde, muß in jedem Fall geprüft werden, ob die Daten gewisse formale oder statistische

482

Auswertung und Anwendung

Eigenschaften aufweisen. Sind die Eigenschaften für die ausgewählte Verfahrensklasse akzeptabel, so kann innerhalb einer Verfahrensklasse diejenige Spezifikation ausgewählt werden, die den Voraussetzungen wie auch Untersuchungszielen optimal entspricht. Fallen die Prüfungen negativ aus, so ist in Abhängigkeit von der konkreten Art der Verletzung von Voraussetzungen zu versuchen, durch zulässige Methoden die Daten den Voraussetzungen eines gewünschten Verfahrens anzunähern. Man beachte, daß an dieser Stelle bewußt von „Annäherung" gesprochen wird. Dies ermöglicht den Aufbau flexibler Strategien und zwingt nicht, sich nur statistischer Verfahren zu bedienen. Den Prozeß der Datenanalyse verdeutlicht zusammenfassend der folgende Graph (vgl. Abb. 25).

Abb. 25

Prozeß der Datenanalyse

Die Prüfungen der Voraussetzungen erfolgen teils vergleichend, teils rechnerisch. Generell sind die konkreten Eigenschaften der Daten den Forderungen des ausgewählten Verfahrens gegenüberzustellen. Die folgende Abbildung faßt die Voraussetzungstypen sowie Annäherungsverfahren zusammen. Man beachte, daß hier natürlich keine Vollständigkeit der Strategien angegeben werden kann. Abhängig vom konkreten Verfahren sind Variationen möglich, aber auch der Vorrat an Strategien würde hier den Rahmen sprengen (vgl. Abb. 26). In jedem Fall sollten die angebotenen Rechenprogramme dahingehend überprüft werden, welchen Spielraum sie selbst erlauben, wenn die Daten in bestimmter Weise ausgeprägt sind. Grundsätzlich ist dieser Phase der Datenanalyse größte

483

Methodik der Datenanalyse

Fragestellung zur Analyse der Voraussetzungen

Strategien bei Verletzung der Voraussetzungen

Wie sind die Daten skaliert ? . metrisch . gemischt • nichtmetrisch Ist die Untersuchungspopulation homogen ?

ggf Intervalleinteilung dichotomisieren * geometrische Darstellung automatische Klassifizierung

BiuUen die Variablen die Depen- fComponentenanatyse denzvoraussetzungen, z. B. Unabhängigkeit ? Besitzt die Datei einen vom Verfahren und dergeförderten statistischen Sicherheit bestimmten minimalen Stich probenumftrng ?

dedingt: Bootstrapping f Vorsicht!) Gewinnung zusätzlicher Daten

Abb. 26 Voraussetzungstypen

Aufmerksamkeit zu widmen. Ein logisch richtiges Analyseverfahren erbringt, auf nicht voraussetzungskonforme Daten angewendet, immer falsche Ergebnisse. Diese Aussage gilt auch, wenn ein Voraussetzungstyp nicht erfüllt ist. Wissenschaftlich haltbar sind die Anwendungsergebnisse nur dann, wenn alle vier Voraussetzungstypen erfüllt bzw. hinreichend angenähert sind. Die folgende Tabelle stellt als Kreuztabelle die Verfahren dar, die zur gegenseitigen Überführung der Datentypen angewendet werden können. Durch Ausnutzung der Transformationsmöglichkeiten erweitert sich das Spektrum verwendbarer Verfahren beträchtlich (vgl. Tab. 12). Die Datenanalyse wird in Datenexploration und mathematisch-statistische Datenanalyse unterschieden. In Abhängigkeit von den inhaltlichen Zielen einer soziologischen Untersuchung ist diese Phase durch einfache bis sehr komplexe Strategien gekennzeichnet. Von ausgezeichneter Bedeutung ist für diese Phase des soziologischen Forschungsprozesses, ob eine in bestimmtem Sinne homogene Untersuchungsgesamtheit vorliegt oder nicht. Diese kann aus genetischer oder statistischer Sicht gemeint sein. Genetisch homogen heißt, daß Meßwerte eines oder mehrerer sozialer Sachverhalte an Untersuchungsobjekten gewonnen wurden, deren Ge32

Soziolog. Forschung

484

Auswertung und Anwendung

schichte durch relativ gleichartige Bedingungen beschreibbar ist, die die Ausprägung der Einstellungen und Verhaltensweisen verursachten. Statistisch homogen heißt, daß es sich um" Realisationen einer wohldefinierten Verteilung handelt. Zwischen diesen Homogenitätstypen besteht ein für die Untersuchung wichtiger Zusammenhang. Ist eine Homogenität der Untersuchungspopulation durch soziologische Plausibilitätserklärungen hinreichend absicherbar, kann die empirische Stichprobenverteilung als Approximation der wahren, aber unbekannten statistiTabelle 12: Independente Verfahren zur Datentransformation Profilmatrix

Profilmatrix

Datentransformation

M{ ... Mm ... M„ xu = X'(0„ Mj) ermittelter Meßwert des Objektes O, bzgl. Merkmal M j

Präferenzmatrix

Profilmatrix ist als Präferenzmatrix interpretrierbar, falls Meßwerte verschiedener Merkmale vergleichbar.

Proximitätsmatrix Merkmale

Objekte

Korrelation

Euklidische Distanz

je nach Meßniveau sehr viele Ansätze möglich falls M, ... M„ Paarvergleiche entsteht P, ... Pn Px - P„

Pk Folge von Proximitätsmatrix der Transformation Präferenzmatrix M, ... Mm O,

X,j

=

X(0„ Mj)

ermittelte Nähe des Objektes O, zu Merkmal M j

Präferenzmatrix ist immer als Profilmatrix interpretierbar MINISSA (Mehrdimensionale Skalierung)

Super-Proximitätsmatrix Aft ... Mm O, ... O,

0,

x,j

MISSING

MISSING

X[j

Om A/, Mm

485

Methodik der Datenanalyse Fortsetzung Tabelle 12 Profilmatrix

M,

Mm

Präferenzmatrix

Proximitätsmatrix Merkmale

Objekte nur möglich, falls pro Objekt eine Matrix

Proximitätsmatrix

MINISSA

MVNDS

M, ... Mm

Cluster-R

xu = X ( M „ Mj)

Faktoranalyse • Ladungen • Scores

(Mehrdimensionale Skalierung)

ermittelte Nähe zwischen Merkmalen

Faktorladungen Faktorscores

vorliegt: INDSCAL

Os ... 0„ O,

X i J

MINISSA Cluster-Q

MVNDS

= X ( O , , Oj

ermittelte Nähe zwischen Objekten 0„

sehen Verteilung der Realisationen (Meßwerte) interpretiert werden. In diesem Fall ist die Verwendung mathematischer Hilfsmittel zur Typologisierung nur im deskriptiven Sinne notwendig. Im entgegengesetzten Fall, d. h., daß a priori eine Homogenität des Untersuchungsmaterials nicht gesichert werden kann, ist in jedem Fall, in dem komplexe soziologische Zusammenhänge aufgedeckt werden sollen, als Vorstufe eine Identifikation von in mathematischem Sinne wenigstens homogenen Zielgesamtheiten erforderlich. Dies erfolgt mittels Klassifizierungsverfahren. Eine legitime Lösung für diese Aufgabe kann aber auch durch soziologische Überlegungen und daraus abgeleitete Sortierungen des Datenmaterials erfolgen. Als einfaches Beispiel sei die Trennung der Geschlechter genannt, wenn z. B. das Freizeitverhalten untersucht werden soll. Sind die Untersuchungspopulationen auf diese oder jene Weise getrennt, können, erforderliches Meßniveau der Variablen vorausgesetzt, alle statistischen Verfahren zur Analyse der Zusammenhänge zwischen den Variablen eingesetzt werden. Eine weitere Abstraktionsstufe wird erreicht durch die Aufgabe, Populationen zu vergleichen. Hier reicht das verwendbare Verfahrensinventar von einfachen Tabellen und Graphiken über Tests bis hin zu komplizierten Transformationsverfahren. 32*

486

Auswertung und Anwendung

Soziologische Aufgabe

Statistischer Hintergrund

Verfahren

Abb. 27 Datenanalysephasen

Eine zusammenfassende Übersicht über die Datenanalysephase vermittelt die Abb. 27. Diese Bearbeitungsabfolge braucht nicht starr eingehalten zu werden. Je nach Kenntnisstand und Notwendigkeiten können Phasen ausgelassen werden. Modellbildungen mit dem Ziel der Vorhersage, des Kontrollierens bzw. des Erklärens finden in der empirisch-soziologischen Forschung über die Abstraktion einzelner sozialer Erscheinungen statt. Als Typ bzw. Klasse von Erscheinungen oder Individuen verstehen wir Realisationen von Zufallsvariablen im Bedingungsoder Merkmalsraum, die eine unscharf bzw. scharf begrenzte Struktur haben. Im Sinne der Wahrscheinlichkeit ist das Verteilungsgesetz das deterministische Modell für einen Typ bzw. eine Klasse. Die Kenntnis bzw. Unkenntnis des Verteilungsgesetzes eines interessierenden Raumes ist analog der Kenntnis bzw. Unkenntnis von Typen bzw. Klassen äquivalenter Erscheinungen des jeweiligen Interesses. Das Wissen um diese Zusammenhänge ist von ausschlaggebender Bedeutung für eine beweisbare Methodologie der Nutzung mathematisch-statistischer Modelle. Beliebig oft sind Anwendungen sehr guter Algorithmen zu finden, die für den Anwender aber enttäuschende und nicht interpretierbare Ergebnisse bringen.

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Methodik der Datenanalyse

Neben der Möglichkeit der Auswahl eines völlig ungeeigneten Verfahrens ist hier der Fehler in einer ungenügenden Berücksichtigung der statistischen Voraussetzungen, die ein Verfahren hat, zu suchen. Ist das Verteilungsgesetz im Untersuchungsraum unbekannt, so ist eine konfirmatorische statistische Analyse nicht möglich, auch ist die Anwendung von Verfahren mit wohlformulierbaren Verteilungsannahmen unwissenschaftlich. In diesen Fällen ist eine Datenanalyse als Identifikation von Typen, also als Identifikation von Verteilungsgesetzen, zu interpretieren. Identifikation homogener Untersuchungspopulationen Einer der wesentlichen Gründe für fehlgeschlagene Anwendungen der EDV und mathematischer Verfahren zur Analyse soziologischer Daten besteht in der Nichtbeachtung der Forderung nach homogenen Untersuchungspopulationen. Eine logische Struktur der Vorgehensweise wird von Tolstova vorgeschlagen 46 (vgl. Abb. 28). Formulierung Bildung des einer sozioloMerkmalsgischen Vorstel- raumes lung über den fy/T der Objekte Sicherung der Homogenitätauf unterstem Niveau | Festlegung des Skalentyps

Ermittlung der Bedeutsamkeit derMerkmale

s

Auswahl der Klassifikationsmethode

Interpretation der Resultate der Klassifikation

Auswahl der Metrik

Beschreibung der Klassen

Auswahleines Analyse der Algorithmus Zusammenhan ge zwischen den oder einer folge von Algorith Merkmalen Suchenach tymen pischen Objekter, Zusammenim Merkmalsraum j stellung analytischer KennUntersuchung der Gesetzmäßig - werte | keit, d.h. ¡Charakterisierung der Objekte eines Typs

Suche nach latenten Änderungen

Analyse der Ursache dafür, daß ein bestimmtes Objekt in eine Klasse fjältt Nachweis, daß die Klassifikation als Typologie betrachtet werden kann

Abb. 28 Logische Struktur der Datenanalyse 46

Vgl. V. G. Andreenkov/Ju. N. Tolstova (Hrsg.), Tipologija i klassifikacija v sociologiceskich issledovanijach, Moskva 1982.

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Auswertung und Anwendung

Diese logische Struktur des Vorgehens bei einer Klassifikation (siehe Abb. 29, S. 489/490) zur Ermittlung homogener Untersuchungspopulationen ist ebenso wie die Anwendung anderer mathematischer Verfahrensklassen nicht soziologiespezifisch. Die Eigenheit in ihrer Anwendung in der Soziologie besteht in der vom soziologischen Wissen abhängenden Interpretation von Resultaten der Anwendung der Mathematik in der Sprache der Soziologie. Die Anwendung von Verfahren der sogenannten automatischen Klassifizierung kann daher sowohl für Zwecke der soziologischen Typologisierung als auch als Hilfsmittel für die Bestimmung von Zielpopulationen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit voraussetzungskonformer für statistische Verfahren sind als die Ausgangsgesamtheit, erfolgen. Softwareübersicht Welche Software zur Bearbeitung eines Projekts verwendet wird, hängt sowohl vom Problem als auch vom konkreten Rechenzentrum ab, das gewöhnlich nur einzelne Pakete installiert haben wird. Die folgende Tabelle gibt eine orientierende Übersicht über die Systeme: Tabelle 13: Softwareübersicht

Funktion

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