Handbuch der Kriminalistik: Band 1 [Reprint 2022 ed.] 9783112677605, 9783112677599


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Vorwort des Bearbeiters
Aus dem Vorwort zur dritten Auflage
Aus dem Vorwort zur dritten Auflage
Aus dem Vorwort zur vierten Auflage
Vorwort zur fünften Auflage
Vorwort zur sechsten Auflage
Aus dem Vorwort zur siebenten Auflage
Inhalt des I. Bandes
Verzeichnis häufiger Abkürzungen
Einleitung
Allgemeiner Teil
I. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer
II. Abschnitt. Die Vernehmung.
III. Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines
Besonderer Teil
IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen des Untersuchungsführers
V. Abschnitt. Die Identitätslehre
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Handbuch der Kriminalistik: Band 1 [Reprint 2022 ed.]
 9783112677605, 9783112677599

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Hans Groß Bronzebüste von Ambrosi vor der Aula der Reichsuniversität Graz.

Handbuch der Kriminalistik Von

weiland Dr. Hans Gro£

o.ö. Professor des Strafrechts an der Universität Graz

Achte Auflage des

„Handbuchs für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik" Neu bearbeitet und ergänzt von

Professor Dr. Ernst Seelig Direktor des Kriminologischen Institutes der Reichsuniversität Graz

I. Band Mit einem T i t e l b i l d u n d 28 A b b i l d u n g e n im T e x t

J. S c h w e i t z e r V e r l a g , B e r l i n u n d M ü n c h e n

Druck von Dr. F. P. Datterer & Cie., Freising-München.

Vorwort des Bearbeiters. W a h r h a f t große Werke der K u n s t und Wissenschaft sind — im besten Sinne des Wortes — zeitlos. D e r Schöpfer des Werkes, als Mensch selbst hineingestellt in den Strom des biologischen Geschehens, f u ß t zwar in seiner Heimat und ist ein K i n d seiner Zeit, das v o n ihm Geschaffene aber, sein W e r k , sprengt diese Grenzen v o n R a u m und Zeit: es ist überall und immer gültig. Dies ist für große Kunstschöpfungen, etwa eine Beethovenschen Symphonie, ohne weiteres einzusehen; auf wissenschaftlichem Gebiet ist man geneigt, dies für große Werke mehr „allgemeiner" Disziplinen, v o r allem der Philosophie, zuzugeben. Auf „fach"wissenschaftliche W e r k e im engeren Sinn scheint dies hingegen nicht zuzutreffen. Der rastlose Fortschritt der Wissenschaften, ganz besonders jener des naturwissenschaftlichen und technischen Gebietes, läßt auch bedeutende Arbeiten oft in kurzer Zeit als „ ü b e r h o l t " erscheinen. F ü r viele Erscheinungen des wissenschaftlichen Büchermarktes gilt dies auch, mögen sie v o m engeren Gesichtspunkt ihrer Disziplin für den Zeitpunkt ihres Erscheinens noch so ausgezeichnet gewesen sein. E s sind dies eben tüchtige, aber n u r fachwissenschaftliche Leistungen, nicht geweiht durch den Genius einer großen Persönlichkeit, die hinter dem W e r k steht. N u r solche Schöpfungen, die diese Weihe empfangen haben, erlangen trotz ihres fachwissenschaftlichen Inhaltes jene allgemeine Gültigkeit. D a s „ H a n d b u c h für Untersuchungsrichter", das Hans Groß 1893 in erster A u f l a g e erscheinen ließ und das er „als System der Kriminalistik" 1913 in 6. umgearbeiteter A u f l a g e veröffentlichen konnte, gehört zu dieser Gruppe v o n Werken. Die r ä u m l i c h e n Grenzen seiner deutschen Heimat überschritt das B u c h schon bald nach seinem ersten Erscheinen: 1898 waren Übersetzungen in sechs Sprachen teils schon erschienen, teils in Arbeit, 1907 war das W e r k in fast alle Kultursprachen übersetzt. Eine z e i t l i c h e Grenze für die Gültigkeit des Werkes konnte aber auch der T o d seines Schöpfers im Jahre 1915 nicht sein. Die letzte v o n ihm selbst besorgte 6. A u f l a g e (1913) w a r alsbald vergriffen, Generalstaatsanwalt D r . E. Höppler besorgte 1922 eine neue Ausgabe des Buches; auch diese ist seit Jahren nicht mehr erhältlich. Dieser für ein W e r k der wissenschaftlichen Literatur selten große Bucherfolg ist nicht allein durch fachliche Vorzüge zu erklären, der tiefere Grund liegt vielmehr in der besonderen K r a f t u n d E i g e n a r t d e r G r o / ? s c h e n P e r s ö n l i c h k e i t , die zwischen allem Stofflichen überall z u m Durchbruch k o m m t u n d durch die erst die Darstellung für den Leser so lebendig und eindringlich wird. Seine Schreibweise, die nicht mit der üblichen A r t der „populärwissenschaftlichen" Literatur verwechselt werden darf, wendet sich mit ihrer klaren Sprache an jeden Volksgenossen, der durch irgendein A m t dazu berufen ist, kriminalistische Untersuchungen zu führen, oder sich I*

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Vorwort des Bearbeiters.

in irgendeinem Sinn mit Verbrechern oder Verbrechen zu beschäftigen hat. Das Buch setzt hiebei kein spezielles Fachwissen voraus, sondern macht es sich eben zur Aufgabe, dieses Wissen aus allen Grenzgebieten, so weit es der Kriminalist nötig hat, selbst zu vermitteln. Es zeigt die mutige Schreibweise eines d e u t s c h e n K ä m p f e r s — der Kampf eines Hans Groß, dessen Vater Oberkriegskommissär und dessen Urgroßvater Richter am Weimarer Reichskammergericht war, und der selbst in jungen Jahren im bosnischen Feldzug eine kaiserliche Auszeichnung erwarb, galt der lebensfremden Paragraphenjuristerei, die gerade bei der Durchsetzung des volksnahesten aller Rechte, des Strafrechts, am gefährlichsten ist. Er erkannte die Notwendigkeit, dem Kriminalisten den Blick für das Reale, für das Lebendige zu erschließen und so kämpfte Hans Groß für die Ausbildung der Juristen in den „strafrechtlichen Hilfswissenschaften", aus denen alsbald die Idee der K r i m i n o l o g i e als einer selbständigen Schwesterdisziplin der Strafrechtswissenschaft erwuchs1). Und er führte diesen Kampf zum Sieg, als er im Vorwort zur 6. Auflage dieses Werkes zu seiner größten Freude von der Erfüllung seines Lebenstraumes berichten konnte: durch die Gründung des „Kriminalistischen Institutes" an der Universität Graz hatte die junge Wissenschaft ihre erste Heimstätte gefunden! Aus dieser E i g e n a r t des W e r k e s u n d seines S c h ö p f e r s ergab sich nicht nur die Berechtigung, sondern auch die Verpflichtung zu einer Neuherausgabe: auch für die Kriminalistengeneration der Gegenwart ist das Standardwerk ihres Altmeisters gültig und sie braucht es! Es ergaben sich daraus aber auch die Richtlinien für die hiebei notwendig gewesene Neubearbeitung: das Buch war so zu gestalten, wie dies Hans Groß getan haben würde, wenn er heute noch lebte. Groß verlangte vom praktischen Kriminalisten stets, daß er sich über den n e u e s t e n Stand des erforderlichen Fachwissens orientiere, und so war es meine Aufgabe, das Buch inhaltlich durchwegs auf den gegenwärtigen Stand der kriminologischen Forschung zu bringen, ohne hiebei trotz der stellenweise erforderlichen tiefgreifenden Änderungen und Ergänzungen das Wesentliche und Besondere des Werkes zu beeinträchtigen. Einige Beispiele mögen dies erläutern. Die Kapitel über die Wahrnehmung und das Gedächtnis mußten mit Rücksicht auf die grundlegenden Wandlungen, die die Fachpsychologie seit der Entstehung dieser Kapitel — vor allem durch die Gestalts- und Ganzheitslehre — erfahren hat, neu geschrieben werden; aber wo es hiebei galt, die dargestellten Lehren durch Anwendungsfälle aus der kriminalistischen Praxis zu veranschaulichen, konnte ich auch hier vielfach auf den alten Text zurückgreifen, da der psychologische Forscherblick Hans Groß' diese Dinge — trotz der heute überholten theoretischen Erklärung, die geändert werden mußte — in ihrem Wesen doch richtig gesehen hatte. Im Kapitel „Lombroso" konnte die ausführliche Widerlegung seiner Lehren, die V g l . meinen Artikel „Kriminologie" im Handwörterb. der Kriminologie, Berlin 1 9 3 2 — 3 6 .

Vorwort des Bearbeiters.

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zur Zeit der Entstehung dieses Werkes noch heiß umstritten waren, kürzer gefaßt und dafür auf die Gedankengänge der modernen Kriminalbiologie eingegangen werden. Infolge Vertiefung unseres Wissens und vielfacher methodischer Fortschritte in den letzten Jahrzehnten mußten gänzlich umgearbeitet und erweitert werden: die Kapitel über Tatbestandsdiagnostik, sexuell Perverse, Alkoholismus, Wachsuggestion und Hypnose, mikroskopische Untersuchung von Verunreinigungen, die Verwendung der Photographie, Ähnlichkeit und Vererbung (wobei auf die von H. Groß schon 1913 in der 6. Auflage prophetisch vorausgeahnte Entwicklung der Blutgruppenuntersuchung und des erbbiologischen Abstammungsnachweises näher einzugehen war), ebenso auch die Signalement lehre, das Kapitel über Planskizzen nach photometrischen Aufnahmen und die Darstellung der Daktyloskopie, der nunmehr entsprechend ihrer Bedeutung ein eigener Abschnitt im II. Band gewidmet ist. Neu eingefügt wurden: das Kapitel über Psychische Fehlleistungen bei Verkehrsunfällen, in welchem auch die Bedeutung des Blutalkoholnachweises eine ausführliche Darstellung erfuhr, die Kapitel über Untersuchungen mit besonderen Strahlen (Ultraviolett, Infrarot, Kathoden- und Röntgenstrahlen) und über die Identifikation der Waffe aus den Spuren auf der Munition sowie — als neuer Ahschnitt — die Lehre von der Schriftvergleichung. Schließlich mußte auch der Titel des Werkes selbst geändert werden: der U n t e r s u c h u n g s r i c h t e r bildet heute in der Praxis nur mehr einen kleinen Teil aller U n t e r s u c h u n g s f ü h r e r , für die das Buch bestimmt ist. Es empfahl sich daher, das bisherige „Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik" einfacher und richtiger als „Handbuch der Kriminalistik" zu bezeichnen. Die S y s t e m a t i k der Stoffgliederung habe ich grundsätzlich n i c h t geändert. Zwar erkannte Hans Groß bald, daß die Anordnung der einzelnen Teile, Abschnitte und Kapitel, die sich zunächst entsprechend dem Bedürfnis der Praxis ergeben hatte, wohl kaum einer wissenschaftstheoretischen Kritik standhält: im Vorwort zur 4. Auflage hat darum Groß selbst eine Neugruppierung des Stoffes für die folgenden Auflagen angekündigt, die auch unserer heutigen Auffassung v o m Gegenstand der Kriminologie entsprechen würde: Gliederung in zwei Hauptteile, in die theoretische Erscheinungslehre des Verbrechens und in die praktische Untersuchungskunde. Aber Groß ist selbst von einer solchen völligen Umgestaltung des Werkes abgekommen und hat im Vorwort zur 5. Auflage den erwähnten Plan als „endgültig aufgegeben" erklärt. Dieser Entschluß war auch für mich als Bearbeiter des Werkes bindend. Nur wo die Hinzufügungen von Neuauflage zu Neuauflage zu offenkundigen Unrichtigkeiten in der Kapitelgliederung geführt hatten (so wenn z. B. die Unterabschnitte „Alkoholismus", „weibliche Geschlechtsfunktionen", „Landstreicher" und „Heimweh" unter der Kapitelüberschrift „Psychotisches im engeren Sinn" eingereiht waren), habe ich Kapitelüberschriften eingefügt, gestrichen oder entsprechend geändert I**

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Vorwort des Bearbeiters.

und es so erreicht, daß die in der Praxis bewährte Stoffanordnung ohne Verstöße gegen die Logik beibehalten werden konnte. Besondere Sorgfalt war auf die L i t e r a t u r z i t a t e zu verwenden. Durch bloßes Hinzufügen der seit der letzten Auflage erschienenen einschlägigen Literatur wäre dem Werk schlecht gedient gewesen: Der Sinn vieler von Groß beigefügten Literaturangaben war ja, den Leser auf die n e u e s t e n Erscheinungen der betreffenden Fachliteratur hinzuweisen, die als Repräsentanten der betreffenden Disziplin zur Zeit des Erscheinens des vorliegenden Buches angesehen werden konnten. Sofern diese — oft sehr zahlreichen — Literaturangaben Arbeiten betrafen, die heute längst überholt sind, wäre die Belassung für den Leser nur irreführend gewesen. Vielmehr mußte das Werk von dem B a l l a s t dieser veralteten und umfänglichen L i t e r a t u r z i t a t e befreit und an deren Stelle auf die g e g e n w ä r t i g e Literatur hingewiesen werden. Anders war jedoch dort vorzugehen, wo Groß sich a b s i c h t l i c h auf a l t e Literatur berief, um die historische Entwicklung einer Ansicht darzutun oder zu zeigen, daß moderne Gedankengänge auch schon vor langer Zeit aufgetaucht waren, oder ein zum Vergleich angeführtes Beispiel der Vergangenheit quellenmäßig zu belegen. In allen diesen Fällen waren die Zitate alter und ältester Literatur selbstverständlich beizubehalten. Es wurde deshalb jeder Literaturhinweis darauf geprüft, in welchem S i n n das Zitat erfolgte. — Zu der von mir übernommenen Aufgabe fühlte ich mich nur dadurch berufen, daß es mir vergönnt war, als blutjunger Student noch von Hans Groß selbst in die kriminologischen Lehren eingeführt zu werden, und daß seither das von ihm gegründete Institut auch Werkstatt meiner bisherigen wissenschaftlichen Arbeit war. Dadurch war es auch möglich, das reiche Erfahrungsmaterial, das durch die Forschungsund Lehrtätigkeit des Institutes in allen diesen Jahren gewonnen wurde, der Bearbeitung des Buches dienstbar zu machen. Als Hans Groß drei Jahre nach der erwähnten Institutsgründung am 9. Dezember 1915 als Achtundsechzigjähriger einer Lungenentzündung erlag, die er sich im freiwillig übernommenen Militärdienst zugezogen hatte, stand sein Heimatland — mit dem Deutschen Reich in engster Waffenbrüderschaft verbunden — in hartem Kampf gegen eine Welt von Feinden. Es ist Hans Groß erspart geblieben zu erleben, was in den zwei Jahrzehnten n a c h Beendigung dieses Kampfes geschah. Die Wiederauferstehung seines Werkes hätte nicht unter glückhafteren Zeichen erfolgen können als dadurch, daß zu Beginn der vorliegenden Neubearbeitung, die ich vor drei Jahren in Angriff nahm, Graz, seine Geburtsstadt und Stätte seines Wirkens, und damit das von ihm gegründete Institut der Grazer Universität in Großdeutschland eingegliedert werden konnte — als sinnfälliges Zeichen dafür, daß jener Kampf nun doch zum Siege geführt hat. Möge gleiche Huld des Schicksals auch den weiteren Werdegang des Buches in seiner neuen Gestalt begleiten! G r a z , im Sommer 1941.

Ernst Seelig.

Aus dem Vorwort zur dritten Auflage.

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Aus dem Vorwort zur dritten Auflage. (1898.) Ich danke hier nochmals allen, die sich um das Werk bemüht haben. V o r allem danke ich der in- und ausländischen Kritik, welche in Hunderten von Besprechungen das Buch auf das denkbar Wohlwollendste aufgenommen hat; ich danke allen, welche die Übersetzung des Werkes (erschienen ist die russische, spanische und französische Übersetzung, in Arbeit steht die ungarische, serbische und dänische) veranlaßt und bewerkstelligt haben. Bestens danke ich auch allen, welche mir Zusendungen zur E r gänzung des Inhaltes usw. übermittelt haben; diese sind nämlich an den betreffenden Orten angeführt. Ich danke auch dem Herrn Verleger für die sorgfältige und kostspielige Ausstattung der neuen Auflage und endlich meiner Frau, welche bei dieser Neuauflage ebenso, wie bei meinen anderen wissenschaftlichen Arbeiten mit mir die Korrektur besorgt hat. W a s den teilweise geänderten Titel des Buches anlangt, so glaube ich nunmehr berechtigt zu sein, seinen Inhalt als „ S y s t e m der Kriminalistik" bezeichnen zu dürfen, da diese heute als selbständige Disziplin ihr scharf abgegrenztes Arbeitsgebiet, eingehende Bearbeitung und Anerkennung ihrer Eigenberechtigung gefunden hat. Gleichwohl möchte ich die Stellung der Kriminalistik in der bescheidenen Reihe einer Hilfswissenschaft fixieren. Ein amerikanisches Blatt (New-Yorker Staatszeitung vom 14. August 1898) hat in einer größeren Abhandlung („Die Entwicklung des Strafrechts") ausgeführt, daß das in meiner „Kriminalpsychologie" (und im vorstehenden „Handbuch") vertretene Prinzip „eine neue kriminalistische Schule inauguriert h a t " , welche „neue Schule als die Überwinderin der rein historischen Rechtsauffassung zu begrüßen" und als „die psychologische (realistisch-psychologische) Schule zu bezeichnen ist". So viel behaupte ich sicher nicht. D i e K r i m i n a l i s t i k soll ihrer N a t u r n a c h dort einsetzen, wo das S t r a f r e c h t ebenf a l l s s e i n e r N a t u r n a c h m i t s e i n e n L e h r e n z u E n d e i s t ; das materielle Strafrecht befaßt sich mit den Delikten und ihrer Bestrafung, das formelle Strafrecht mit den Regeln, nach welchen bei dieser vorzugehen ist; wie aber die Verbrechen begangen werden, wie dies zu erforschen und klarzulegen ist, welche Motive gewirkt haben, welche Zwecke erreicht werden sollten, das können uns Strafrecht und Strafprozeß nicht sagen, das bleibt der Kriminalistik und einem ihrer besonderen Teile, der Kriminalpsychologie vorbehalten. W a s z. B . Brandlegung im gesetzlichen Sinne ist, welche Qualifikationen und Arten vorliegen können, welche Strafen darauf gesetzt sind, das sagt uns das Strafgesetz, seine Kommentare und wissenschaftlichen Bearbeitungen; wie der Richter vorzugehen hat und wie der Beschuldigte, die Zeugen und die Sachverständigen zu behandeln sind, das enthält der Straf-

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Aus dem Vorwort zur dritten Auflage.

prozeß — wie aber bei der Brandstiftung selbst vorgegangen wird, welche Mittel und Hilfen dem Brandleger zur Seite stehen, wie man die Art der Brandstiftung und damit auch den Täter entdecken kann, das ist Sache der Kriminalistik, und Aufgabe der Kriminalpsychologie ist es endlich, die seelischen Triebe des Täters zu verfolgen, festzustellen, welchen Wert die Aussagen verschiedener Zeugen haben, und nachzuforschen, welchen Fehlern und Irrungen alle Wahrnehmungen und Äußerungen der am Prozesse Beteiligten, einschließlich des Richters, ausgesetzt sind. Auch die Kriminalistik muß ihre eigenen Wege gehen und der ihr nach ihrer Eigenart vorgeschriebene Weg ist der naturwissenschaftliche. Will die Strafrechtswissenschaft die Kriminalistik als einen Teil ihres Wesens ansehen, dann hat letztere allerdings naturwissenschaftliche Methode in erstere hineingetragen, ob zu ihrem Schaden, bleibe unerörtert. Will die Strafrechtswissenschaft die Kriminalistik nicht als integrierenden Bestandteil aufnehmen, dann muß sie ihr auch ihre eigene Methode lassen; die Erkenntnisse, welche die Kriminalistik gefunden, und ihre Verwertung kann die eigentliche strafrechtliche Disziplin nicht abweisen. Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen ist auch das Strafrecht nicht und die wissenschaftlich wertvollsten Lehren, welche das Strafrecht etwa über dolus und culpa, über Mitschuld und Versuch, über Notwehr und Notstand, über Zurechnung und Irrtum, über Konkurrenz und Rückfall festgestellt hat, sie alle haben doch nur den Zweck, lehrend und klärend auf die Praxis zu wirken und dort verwertet zu werden. Sie alle sind aber wertlos, wenn der Richter sie nicht den Realien anpassen kann, wenn er die Zeugen nicht versteht oder falsch beurteilt, wenn er den Wert sinnlicher Wahrnehmungen falsch einschätzt, wenn ihn jede Gaunerpraktik irreführt, wenn er zurückgelassene Spuren des Verbrechens nicht zu benützen weiß, und wenn er überhaupt die zahllosen Lehren nicht kennt, deren systemmäßige Zusammenfassung eben die Kriminalistik zu bieten vermag. Was das Strafrecht geleistet hat, wie sein bewunderungswürdiger Bau entstanden ist und weiter geführt wurde, wie gefestigt er dasteht, niemand weiß dies besser als die Kriminalistik, aber als Dienerin des Strafrechts, als ihre organisierte Hilfswissenschaft will sie bestehen und Selbständigkeit beansprucht sie. Bestanden hat sie denn doch von jpher; wer eine Fußspur ansah, ein Gaunerwort auffing, eine Skizze vom Tatorte aufnahm, jeder von ihnen hat Kriminalistik getrieben, aber wissenschaftliche Disziplin waren diese einzelnen Bestrebungen nicht, und erst, wenn in jeder ihrer Richtungen weiter geforscht und das Gefundene systematisch zusammengetragen und geordnet wurde, erst dann verlangten wir den Namen einer Disziplin für die Kriminalistik, aber stets nur in der Stellung einer Hilfswissenschaft. Wenn nun aber die Kriminalistik in dieser Stellung keinen direkten

Aus dem Vorwort zur dritten Auflage.

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Einfluß auf das Strafrecht nehmen kann und immer erst dienend dort einsetzt, wo das Strafrecht aufhört, so ist es doch nicht zu leugnen, daß die Endergebnisse ihrer Arbeit auf das Strafrecht und seine Formen eine gewisse Wirkung ausüben werden. Diese kann heute schon in bestimmten Richtungen vorausgesehen werden. Wir wollen die Wirkungen unterscheiden: I. Auf das materielle Strafrecht. Die Kriminalistik, als die Lehre von den Realien des Strafrechts, zu welchen in erster Linie der Mensch selbst (Verbrecher, Zeuge, Sachverständiger und Richter) gehört, führt uns auf das Wesen der verbrecherischen Handlungen, ihre Entstehung, ihre Bestandteile, ihren Verlauf und ihre Ziele. Dies leitet zu gewissen Unterscheidungen und wieder Zusammenlegungen, die nicht immer mit jenen stimmen, die der dem verbrecherischen Treiben Fernestehende vorzunehmen pflegt. Die Kriminalistik findet oft Gemeinsames, das ferneab zu liegen scheint, sie trennt manches, was sich unter demselben Gesichtspunkt darstellen will. Das Strafgesetz ist für die Menschen geschrieben, die Menschen zeigen sich am Äußern, an den Realien des Lebens, und die Realien des Strafrechts zeigen den Verbrecher, wie er ist; ist dann aber zu entnehmen, daß sich im Laufe der Zeit an den Trennungen und Zusammenlegungen manches ändern muß, dann ist Vorsicht im Generalisieren und Konkretisieren geboten. Eine Disziplin, die so jung ist wie die Kriminalistik, vermag heute noch nicht zu sagen, zu welchen Feststellungen sie bestimmt gelangen wird, wohl aber weiß sie, daß man einst im Strafrecht anders scheiden und vereinen wird, als man es heute tut, und weiter, daß diese Änderungen, zu denen man da über kurz oder lang gelangen wird, auch nicht von Bestand sein werden, daß es nie zu einem Bestand kommen kann, daß ein fortwährendes Schwanken das einzig Bleibende sein wird. Die Rechnung abzuschließen ist leicht: sie zeigt de lege ferenda dahin, daß unsere Gesetze nur dann brauchbar, anpassend und gerecht sein können, w e n n sie m ö g l i c h s t e i n f a c h , m ö g l i c h s t a l l g e m e i n u n d m ö g l i c h s t f r e i v o n eine n g e n d e n , t ä g l i c h w e c h s e l n d e n u n d d o c h nie p a s s e n d e n Def i n i t i o n e n sein w e r d e n . Nur dann treffen sie die Menschen im allgemeinen und nicht bloß den einzelnen Menschen, auf den sie zufällig stimmend gemacht werden. Daß dies aber richtig ist, das lehrt jedes Kapitel der Kriminalistik. II. Auf das formelle Strafrecht. So wie in jeder Disziplin, so läßt sich auch in der Kriminalistik das Ergebnis ihrer Feststellungen in verschiedener Richtung zusammenstellen, je nachdem man die Gruppierung der Forschungen verschieden vornimmt. Rechnet man nun in der Richtung auf den Wert der Beweismittel, dem Hauptarbeitsgebiete der Kriminalistik, so gelangt man zu dem Resultate, daß der Wert der Z e u g e n a u s s a g e bislang entschieden

X

Aus dem Vorwort zur dritten Auflage.

überschätzt wurde, daß man aber nicht vermochte, aus den vorliegenden T a t s a c h e n das aus ihnen zu Verwertende genügend herauszuziehen. Die Kriminalpsychologie, als ein integrierender Teil der Kriminalistik, beweist das erstere, alle anderen Lehren der Kriminalistik das letztere. Die unzählbaren Mängel der sinnlichen Wahrnehmung, die Fehler des Gedächtnisses, die tiefgreifenden Verschiedenheiten der Menschen nach Alter, Geschlecht, Natur und Kultur, nach augenblicklicher Stimmung, Gesundheit, leidenschaftlicher Erregung, das Milieu, in dem sich der einzelne gerade befindet, das alles wirkt so kräftig, daß wir kaum jemals zwei ganz gleichlautende Angaben über dasselbe Ereignis bekommen und daß ein genaues Zusehen darüber, was die Leute erfahren und was sie uns sagen, uns nichts zeigt als Irrtümer über Irrtümer. „Aus zweier Zeugen Mund" kann uns formelle Wahrheit kommen, wir können uns eine Anschauung über den Hergang eines Ereignisses schaffen und uns dabei beruhigen — materiell wahr wird das selten sein und wer sich mit diesen Dingen genauer befaßt, d e s s e n G e w i s s e n w i r d n i c h t s c h w e i g e n , u n d w e n n er die S a c h e a u c h v o n z e h n Z e u g e n g e h ö r t h a t . Böser Wille und Täuschung, Irrtümer und Versehen, am allermeisten eigenes Schließen und der Glaube, das Erschlossene w a h r g e n o m m e n zu haben, tun so unendlich viel, daß wir von einer objektiven, wirklich absolut richtigen und unbeeinflußten Zeugenaussage nur in seltenen Fällen sprechen können. Lehrt uns das die Kriminalpsychologie, so zeigen uns wieder die anderen Teile der Kriminalistik den Wert der Realien. Wie wir tatsächlich Feststellungen finden können, wo wir zu ihnen gelangen, wie sie festzuhalten und zu verwerten sind, dies zu sehen ist ebenso wichtig wie der Nachweis, was wir mit diesen Feststellungen dartun können. Eine aufgefundene und verwertete Spur, eine korrekte und wenn noch so einfache Skizze, ein mikroskopisches Präparat, eine dechiffrierte Korrespondenz, eine Photographie von Personen oder Sachen, eine Tätowierung, ein restauriertes, verkohltes Papier, eine sorgfältige Vermessung und tausend andere Realien sind ebenso viele, unbestechliche, einwandfreie, jederzeit neu revidierbare und ausdauernde Zeugnisse, bei welchen Irrtum und einseitige Auffassung geradeso ausgeschlossen sind, wie böser Wille, Verleumdung und unerlaubte Hilfe. Mit jedem Fortschritt der Kriminalistik fällt der Wert der Zeugenaussagen, und es steigt die Bedeutung der realen Beweise — das entspricht dem .realistischen Tic unserer Zeit', den Goethe geweissagt hat. Das Ergebnis wäre: Z e u g e n können wir zur Hauptverhandlung haben, so viele wir wollen, die brauchen eher auch gar nicht vernommen zu sein, aber die B e w e i s e a u s den R e a l i e n müssen vor der Hauptverhandlung gesammelt und zusammengestellt worden sein und so ginge die weitere Behauptung der Lehren aus der Kriminalistik dahin, daß ein g e w i s s e s S c h w e r g e w i c h t d e s P r o z e s s e s a u s d e r H a u p t v e r h a n d l u n g in die V o r u n t e r s u c h u n g r ü c k v e r l e g t w e r d e n muß. Wir haben durch Jahrzehnte hindurch das Heil in der öffent-

Aus dem Vorwort zur vierten Auflage.

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liehen, mündlichen Hauptverhandlung mit kurzer, ungefähr vorbereitender Voruntersuchung gesucht — Mißgriffe, Irrtümer, Schwierigkeiten und Zweifel waren die Folge. Niemand wird behaupten, daß wir die Mündlichkeit der Hauptverhandlung wieder aufgeben sollen; der erkennende Richter m u ß alles sehen, alles hören, alles beurteilen können, was auf seine Entscheidung von Bedeutung sein soll, aber die Voruntersuchung darf nicht vernachlässigt werden, sie muß die Beweise sammeln bis zum letzten Reste, sie muß es aber auch verstehen, die Realien zu finden und zu verwerten — daher die nie zu überschätzende Wichtigkeit des Untersuchungsrichters, seiner Arbeit u n d s e i n e r A u s b i l d u n g ; kommt die Kriminalistik dahin, wohin sie kommen soll, dann ist der Untersuchungsrichter und die Voruntersuchung Maßgebendes im ganzen Prozesse. G r a z , Weihnacht 1898.

Hans Groß.

Aus dem Vorwort zur vierten Auflage. (1904.) In den wenigen Jahren, welche seit der letzten Auflage dieses Buches verflossen sind, hat sich in den Auffassungen auf kriminalistischem Gebiet mehr geändert, als dies sonst in Jahrzehnten der Fall war. Schon lange als drängend empfunden, haben sich diese Änderungen nun mit Gewalt geltend gemacht und so wankt auf unserem Gebiete alles, überall wollen neue Anschauungen zum Durchbruche gelangen. Kaum einer der Grundsätze des alten Strafrechts steht mehr fest, die Fragen nach Umwertung der Vorstellungen über Determination, Verantwortung und Zurechnung drängen in das Strafgesetz, ganze Kapitel sollen davon ausgeschieden, andere völlig umgeändert werden, ein neues Strafensystem muß erdacht, der Strafzweck fixiert und eine Fürsorgeordnung eingeführt werden. K a u m weniger Bewegung herrscht im Strafprozeß; unsere alten Anschauungen über den Beweis halten nicht mehr, das Vertrauen auf die wichtigsten Beweismittel, Zeugenaussagen und richterliche Anschauung, sind erschüttert, neue Beweismittel, die Realien des Strafrechts, machen sich mit Nachdruck geltend und neue Theorien darüber, was als wahr anzusehen ist, wollen geprüft werden. Das Laienelement in der Rechtsprechung, in das man noch vor wenigen Jahrzehnten alles Heil verlegt hatte, brachte uns nur Schwierigkeiten, Unwahrheit und unabsehbare Gefahren, und wer die Frage ehrlich überlegt, zweifelt nur mehr darüber, w i e wir dieses Unheil wieder los werden könnten. Ebenso unsicher ist die Auffassung über das Vorverfahren, die Stellung der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung, über die Rechtsmittel geworden — kurz, wir befinden uns in einem so stürmischen Gärungsprozesse, daß wir einerseits mit Freude über das überall pul-

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Aus dem Vorwort zur vierten Auflage.

sierende Leben, anderseits mit Bedenken über die Schwierigkeit dieser Lösungen an die Arbeit gehen. Aber auch auf unserem besonderen Gebiete herrscht das regste Leben. Die Kriminalistik hat sich emporgearbeitet, überall regen sich fleißige Hände, um ihr Gebiet zu bebauen, viele ihrer Fragen wurden zur Lösung gebracht, neue Fragen angeregt, wirkliche Probleme sind entstanden und der Nutzen war ein tausendfältiger. Mit besonderer Befriedigung darf auf die Entwicklung der subjektiven Kriminalpsychologie geblickt werden, der Psychologie des Zeugen, Sachverständigen und Richters. Auf ihre Wichtigkeit wurde zuerst in der ersten Auflage dieses Handbuches, also vor 12 Jahren, hingewiesen; dort wurde das Trügerische und Gefährliche namentlich der Zeugenaussagen entwickelt und die Notwendigkeit ihrer Unterstützung, Prüfung und teilweise Ersetzung durch die Realien des Strafrechtes dargetan. Später wurde dieses Problem von mir („Kriminalpsychologie" Graz 1898) besonders behandelt, dann von mehrfacher Seite aufgegriffen und heute beschäftigt sich ein ganzes periodisches Unternehmen („Beiträge zur Psychologie der Zeugenaussage" Lpzg., J . A. Barth) ausschließlich und in verdienstlicher Weise mit dieser wichtigen Frage. Die Stellung der Kriminalistik im System (s. die Tabelle am Schlüsse dieses Vorwortes) ist eine andere geworden, als vom Anfange an richtig geschienen hat; als Lehrgegenstand soll sie nicht vereinzelt dastehen, sie muß auf breite Grundlage gestellt werden; neben ihr haben sich Schwesterdisziplinen: Kriminalanthropologie, Kriminalpsychologie, Kriminalsoziologie und Kriminalstatistik so kräftig emporgearbeitet, daß sie unbedingte Beachtung verdienen; sie sind aber alle mit der Kriminalistik an allen ihren Grenzen so innig verbunden, daß sich keine dieser Disziplinen allein bewegen kann, sie alle streben zusammen vorwäi^s j s i j können sich auch nur zugleich entwickeln. So h a t sich die N o t w e n d i g k e i t e r g e b e n , aus den g e n a n n t e n D i s z i p l i n e n , a l s o : Kriminalistik, Kriminalanthropologie, Kriminalpsychologie, K r i m i n a l s o z i o l o g i e u n d K r i m i n a l s t a t i s t i k eine f e s t g e g l i e d e r t e und f e s t v e r e i n t e G r u p p e zu b i l d e n , sie müssen a l s s t r a f r e c h t l i c h e H i l f s w i s s e n s c h a f t e n g e m e i n s a m e P f l e g e erh a l t e n und sich g e m e i n s a m , b e s c h e i d e n , a b e r u n a b w e i s l i c h , in den D i e n s t des S t r a f r e c h t s stellen. Wir haben die strafrechtlichen Hilfswissenschaften über ihre ersten Anfänge hinausgebracht, heute erklären wir aber mit Nachdruck, daß ohne ihre Kenntnis ein Kriminalist weder in Theorie noch in Praxis ausgebildet erscheint, ihre unentbehrliche Notwendigkeit kann nicht mehr bezweifelt werden. Dem Inhalte nach erscheint das Werk derzeit zum l e t z t e n Male in dieser Anordnung. Als die Kriminalistik zuerst in die Welt trat, konnte begreiflicher-, oder wenigstens entschuldbarermaßen noch nicht klar sein, welche Materien zu ihr gehören und in welcher Gruppierung diese zu bieten seien. Im Laufe der Arbeit ergab es sich aber, daß in

XIII

Aus dem Vorwort zur vierten Auflage.

nicht weiter zu vertretender Weise in dieser Disziplin eine rein theoretische und eine rein praktische Lehre vereinigt und vermengt sei. Der eine Teil befaßt sich mit der Erscheinung des Verbrechens in objektiver Form; allgemeine Erscheinungen; das Wesen der Verbrecher, ihre Tricks, ihre Sprache, ihre Zeichen, ihre Verständigungsmittel, Simulationen, Täuschungsmittel, Lügen (normales und pathoformes), falsche Namen, Gewohnheiten, Aberglauben usw.; besondere Erscheinungen bei den einzelnen Verbrechen, namentlich: Diebstahl, Betrug, Fälschungen, Mord, Abtreibung, Brandlegung usw. Endlich: überall nach Tunlichkeit die historische Entwicklung. Der zweite Teil enthält lediglich praktische Anweisungen; über das Vorgehen des U., seine Heranbildung, das Verhör, die auswärtigen Amtshandlungen, den Verkehr mit den Sachverständigen und ihre Verwendung, den praktischen Teil der Gaunerpraktiken, die Waffen, die verschiedenen Spuren, die Fertigkeiten und Techniken des U. usw. — endlich die praktischen Fragen bei den einzelnen Delikten. Es wird somit, sollte eine neue Auflage noch nötig werden, das Buch erscheinen als S y s t e m der Kriminalistik. I. Teil: Theoretische Erscheinungslehre des Verbrechens. II. Teil: Praktische Untersuchungskunde. Zur Klärung darüber, wie ich mir die Stellung der Kriminalistik im System des Strafrechts denke, füge ich endlich ein Tableau über die Gesamtlehre bei:

Kriminologie

als die Lehre vom Verbrechen: Allgemeine Erscheinungslehre des Verbrechens

Krim. Anthropologie

Krim. Somatologie

Krim. Soziologie

Objekt. Krim. Krim. Statistik Psychologie

Besondere Erscheinungslehre

Soziale KrimiKr. Psycho- nalistik logie

Subjekt. Krim, Psychologie

Kriminalpolitik Materielles und formelles Strafrecht P r a g , Neujahr 1904.

Pönologie Hans Groß.

XIV

Vorwort zur fünften und sechsten Auflage.

Vorwort zur fünften Auflage. (1907.) Auch die neue Auflage ist vollständig umgearbeitet und bis auf den letzten Stand der Fragen gebracht; sie hat auch einige neue Kapitel erhalten („nächste Umgebung des Körpers", „Linkshändigkeit", „Selbstmord", „Kindmord"). Die Voraussagung des Vorwortes der vierten Auflage: das Werk werde künftig in völlig anderer Anordnung erscheinen, ist nicht zugetroffen; ich habe die frühere Einteilung des Stoffes beibehalten, da sich die Kritik und treue, alte Freunde des Buches einstimmig gegen eine Umgestaltung aussprachen und verlangten, es sollte die bewährte, eingewöhnte und gebilligte Anordnung belassen werden. Dieser, in der vierten Auflage erwähnte Plan ist daher endgültig aufgegeben. Eine äußere Änderung erfuhr das Buch dahin, daß es nicht mehr in zwei B ä n d e n , sondern in zwei T e i l e n (mit fortlaufender Paginierung) erscheint, um das Aufsuchen nach dem Register zu erleichtern. Bezüglich des Inhalts berufe ich mich lediglich auf das in den Vorworten zur dritten und vierten Auflage Gesagte; ich habe nichts hinzuzufügen. Der Stoff der Kriminalistik ist derart angewachsen, daß er in einem Buche allein nicht mehr Raum findet, und es ist daher das von mir herausgegebene „Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik" (jetzt im 28. Bande), Leipzig, F. C. W. Vogel, wie schon im Vorworte zur vierten Auflage gesagt, ein integrierender Bestandteil des vorliegenden Buches geworden. Ich danke abermals der so überaus wohlwollenden Kritik des Inund Auslandes, allen Übersetzern (das Werk ist nunmehr in fast alle Kultursprachen übersetzt), allen Freunden des Buches und seinen Helfern ; endlich auch der Verlagsanstalt für den schönen, bequemen Druck, die Aufnahme vieler neuer Abbildungen und ihr vielfach bewiesenes Entgegenkommen bei der mühsamen Herstellung der neuen Auflage. G r a z , Spätherbst 1907. Hans Groß.

Vorwort zur sechsten Auflage. (1913) Die Unterbringung des anschwellenden Materials hat viel Mühe gemacht; es wurde eigentlich fast das ganze Buch neu gearbeitet, es mußten andere Zusammenlegungen vorgenommen, vieles weggelassen und sehr vieles anders gesagt werden. Die Literatur ist in das Unabsehbare gewachsen — soweit möglich habe ich sie berücksichtigt und angeführt — , es konnte aber das viele Wichtige, was in meinem „Archiv

Aus dem Vorwort zur sechsten Auflage.

XV

für Kriminalanthropologie und Kriminalistik" (Leipzig, F. C. W. Vogel) jetzt im 55. Bande, gebracht wurde, nur mehr durch Hinweis auf die betreffende Stelle wiedergegeben werden. Dieses Archiv bildet also nunmehr in der Tat einen Teil des vorliegenden Buches. Zu meiner Freude hat die „Erscheinungslehre des Verbrechens" endlich eine Stätte für ihre Pflege gefunden — nach i8jährigem Bemühen ist es gelungen, die Eröffnung eines „k. k. Kriminalistischen Institutes an der Universität in Graz" zu erreichen. Es besteht aus sechs Teilen: 1 ) I. V o r t r ä g e , gehalten im Rahmen des Institutes, an der Universität: a) Kriminalpsychologie, b) Kriminalanthropologie, c) Kriminalstatistik, d) Kriminalistik; II. H a n d b i b l i o t h e k für die Sonderzwecke des Institutes; III. K r i m i n a l m u s e u m ; IV. L a b o r a t o r i u m ; V. K r i m i n a l i s t i s c h e S t a t i o n , auf welcher vor und mit den Studenten über Verlangen von Gerichten, Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden, Arbeiten geleistet werden sollen, die nur mit den Hilfsmitteln des Institutes durchgeführt werden können — also gewissermaßen eine Kriminalwissenschaftliche Klinik. VI. W i s s e n s c h a f t l i c h e s O r g a n , als welches mein „Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik" dient. Das Kriminalistische Institut ist einstweilen auf das Dürftigste untergebracht, soll aber in nicht ferner Zeit entsprechende Räume zur Verfügung bekommen. So wie in den früheren Auflagen, danke ich auch diesmals auf das Wärmste allen Freunden und Anhängern dieses Buches, seinen Helfern, Kritikern und Übersetzern. Ebenso auch dem Verleger, der in opfermutiger Weise allen Wünschen für die Herstellung und Ausstattung des Werkes nachgekommen ist. G r a z , zu Allerheiligen 1912. Hans Groß.

Näheres s. in der Schlußzusammenstellung in der Ztschr. f. Hochschulpädagogik Jahrg. I I I Heft 1 und 2 (Jänner—April), Ernst Wiegand, Leipzig. Daselbst, S. 34, sind auch die früheren Publikationen zitiert. S. auch unten im T e x t dieses Buches S. I4ff.

XVI

Aus dem Vorwort zur siebenten Auflage.

Aus dem Vorwort zur siebenten Auflage. (1922.)

Die vorliegende Neuauflage bringt in der Anordnung des Stoffes keine Veränderung. Hans Groß, der in der 4- Auflage eine Völlige Umarbeitung des Werkes angekündigt hatte, war selbst von diesem Gedanken abgekommen und die 5. und 6. Auflage hatten die bewährte und im Leserkreise eingelebte Anordnung beibehalten. Um so weniger konnte ich als Treuhänder dieses Werkes mich zu einschneidenden Änderungen noch dazu gleich bei der ersten Neuauflage entschließen. So enthält die 7. Auflage hauptsächlich nur Ergänzungen, die durch neue Forschungen und durch die Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit nötig geworden waren. Hiebei ergab es sich selbstverständlich, daß einzelne Unterabschnitte dem heutigen Stande der Forschung und Wissenschaft entsprechend völlig umgearbeitet werden mußten, so z. B. das Verhältnis des U. zur Tagespresse und zur Öffentlichkeit, die kriminalistische Verwertung der Graphologie und vor allem das Gebiet der gerichtlichen Medizin. In letzter Hinsicht glaubte ich den vielfach geäußerten Wünschen entgegenkommen zu müssen, Kasuistik möglichst zu vermeiden und mich hauptsächlich auf die Besprechung dessen zu beschränken, was der U. braucht, um den Sachverständigenbeweis zweckmäßig vorbereiten und an ihm verständnisvoll und werktätig mitarbeiten zu können. Aus diesem Bestreben erklären sich auch Kürzungen z. B. bei Besprechung der Hypnose und der Schußverletzungen. Neu eingeführt wurden: Die Abgrenzung zwischen richterlicher und Sachverständigentätigkeit, die Besprechung einzelner, namentlich in der Großstadt vorkommender Betrugsarten, die Kindermißhandlung und die kurze Erörterung über zufällige Verletzungen und Scheintod, wozu ich hauptsächlich durch den von Puppe veröffentlichten Aufsehen erregenden Grunewalder Fall angeregt wurde. So hoffe ich, das Lieblingswerk unseres Meisters, soweit dies in unseren düsteren Zeiten möglich war, im Geiste seines Begründers ein bescheidenes Stückchen Weges weiter geführt zu haben und erbitte mir bei allen Freunden Hans Großs eine freundliche und wohlwollende Aufnahme und Beurteilung des Buches. W i e n , im Februar 1922. Dr. Erwein Höpler.

Inhalt des I. Bandes. Seite

V o r w o r t des Bearbeiters A u s d e m V o r w o r t z u r III. A u f l a g e A u s d e m V o r w o r t z u r IV. A u f l a g e V o r w o r t z u r V. A u f l a g e V o r w o r t z u r VI. A u f l a g e A u s dem V o r w o r t zur VII. A u f l a g e Inhaltsverzeichnis Verzeichnis häufiger Abkürzungen Einleitung

III VII XI XIV XIV XVI XVII XX i

Allgemeiner Teil. I. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer. 1. 2. 3. 4.

5. 6. 7. 8. 9. 10.

Allgemeines Heranbildung des Untersuchungsführers Aufgabe des Untersuchungsführers Das Vorgehen des Untersuchungsführers a) Feste Meinung und Plan b) Verwendung der Polizei c) Cherchez la femme Von der vorgefaßten Meinung a) Falsche Vorstellungen b) Vorgetäuschte Verbrechen Über einige Eigenschaften des Untersuchungsführers Über Menschenkenntnis Orientiertsein Der expeditive Untersuchungsführer Über Ordnung

9 Ii 18 20 20 24 28 30 30 33 36 45 50 58 61

II. Abschnitt. Die Vernehmung. 1. Allgemeines 2. Vernehmung der Zeugen a) Wenn der Zeuge die Wahrheit sagen will I. Allgemeines a) Die Wahrnehmung und ihre Verarbeitung ß) Das Gedächtnis y) Die Verarbeitung des Erinnerungsbildes und die Suggestion II. Besonderes a) Unrichtige Beobachtungen infolge Aufregung, Trunkenheit u. ä ß) Psychische Fehlleistungen infolge Kopfverletzungen . . . y) Psychische Fehlleistungen bei Verkehrsunfällen S) Verschiedenheit der Aussagen gemäß der verschiedenen Natur und Kultur des Beobachtenden b) Wenn der Zeuge nicht die Wahrheit sagen will c) Das pathologische Lügen 3. Vernehmung des Beschuldigten a) Allgemeines b) Geständnis c) Mimik und Physiognomik

66 74 75 76 77 96 105 in in 117 123 131 144 155 158 158 163 166

XVIII

Inhaltsverzeichnis. Seite

d) Lombroso und die moderne Kriminalbiologie e) Tatbestandsdiagnostik und Registrierung unwillkürlicher drucksbewegungen

Aus-

172 179

I I I . Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Allgemeines Vorbereitung Ausrüstung Vorgehen auf dem T a t o r t e Die Beschreibung selbst Die Umwelt der vorgefundenen Leiche a) Das W e t t e r b) Leichen im fließenden Wasser c) Kleider und darin Befindliches d) Tiere an Leichen 7. Aufsuchung verborgener Gegenstände a) Das Suchen im Äußeren b) Das Suchen im Inneren c) Das Suchen a m Beschuldigten selbst d) V o m Polizeihund

188 188 191 195 200 209 209 211 214 216 218 218 219 222 223

Besonderer Teil. I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen des Untersuchungsführers. 1. Allgemeines. Grenzen zwischen Sachverständigen und Richter 2. Die Verwendung der Gerichtsärzte a) In eigentlich gerichtsärztlichen Fällen b) Bei Konservierung von Leichenteilen c) Bei Geisteskranken d) Bei Psychopathen, Perversionen und psychischen Grenzfällen 1. Epileptiker 2. Hysterie • 3. Sexuell Perverse a) Homosexualität . . . ß) Sadismus . y) Masochismus tf) Fetischismus f) Saliromanie . f) Nekrophilie rj) Sodomie &) Die Transvestiten 1) Die Exhibitionisten x) Die Pädophilen X) Sonstige geschlechtliche Abwegigkeiten 4. E i n f l u ß weiblicher Geschlechtsfunktionen 5. Alkoholismus 6. Die Landstreicher 7. Die Degenerierten 8. Schlaftrunkenheit 9. Heimweh 10. Reflektoides und impulsives Handeln 11. Verbrechen der Masse 12. Hypnose und Wachsuggestion e) Bei Farbenblindheit f) Bei Fragen der Linkshändigkeit 3. Die Verwendung der Mikroskopiker, Chemiker und Physiker . a) Bei Blutspuren b) Bei Exkrementen, Urin, Speichel, Sperma, Milch usw

. .

. . • •

. .

231 238 240 242 245 253 254 255 258 258 262 263 267 269 269 269 270 271 272 273 276 277 284 286 287 289 290 291 292 299 300 302 305 305

Inhaltsverzeichnis.

XIX Seite

c) d) e) f) g)

4. 5. 6. 7. 8. 9.

Bei Haaren Bei sonstigen medizinischen Fällen Bei Schriftenfälschungen Bei der Untersuchung von Stoffen, Fäden usw Bei der Untersuchung von Verunreinigungen 1. Spuren an Waffen und Werkzeugen 2. Staub und Schmutz 3. Flecken auf Kleidern usw 4. Erdspuren auf der Beschuhung h) Bei der Identifikation von Waffen i) Bei Untersuchungen mit besonderen Strahlen (Ultraviolett, Infrarot, Kathoden- und Röntgenstrahlen) k) Bei sonstigen physikalischen und chemischen Untersuchungen Die Verwendung der Mineralogen, Zoologen und Botaniker Die Verwendung der Sachverständigen im Waffenfache Die Verwendung der Buchsachverständigen Über die Gebühren der Sachverständigen Die Verwendung der Photographie Die Verwendung der Tagespresse, des Rundfunks und der Öffentlichkeit

308 319 323 323 327 328 329 333 335 336 337 353 358 361 361 362 364 375

V. Abschnitt. Die Identitätslehre. 1. Allgemeines a) Grenzen b) Identitätszeugen c) Ähnlichkeit und Vererbung 2. Aufgefundene Knochenreste 3. Besondere Kennzeichen a) Zähne b) Berufsmerkmale c) Tätowierungen d) Sonstiges 4. Bertillonage und Signalement a) Die Anthropométrie und ihre Ablösung durch die Daktyloskopie b) Das „portrait parlé" und die moderne Signalementlehre . . . . 5. Das Agnoszieren auf Grund von Photographien 6. Ersatz- und Ergänzungsmittel für Bertillonage und Daktyloskopie

381 381 383 391 396 400 400 402 404 416 416 416 421 432 440

XX

Verzeichnis häufiger Abkürzungen. U.

= Untersuchungsführer (der die Ermittlungen führende Staatsanwalt, Untersuchungsrichter oder Polizeibeamte). Archiv = Archiv für Kriminologie, früher: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, begründet von Hans Groß, derzeit hgg. von R. Heindl, Springer-Verlag, Berlin. Kriminalistik = Kriminalistik, Monatshefte für die gesamte kriminalistische Wissenschaft und Praxis, früher: Kriminalistische Monatshefte, derzeit hgg. von R. Heidrich, Kriminalwissenschaft und Praxis-Verlag, Berlin. MschrKr. = Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform, früher: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform, derzeit hgg. von F. Exner, H. Reiter und R. Sieverts, J. F. Lehmanns Verlag, München. HdK. = Handwörterbuch der Kriminologie, hgg. von A. Elster und H. Lingemann, 2 Bände, Berlin 1933—1936. HGerMed. = Handwörterbuch der gerichtlichen Medizin und naturwissenschaftlichen Kriminalistik, hgg. von v. Neureiter, Pietrusky und Schutt, Berlin 1940.

Einleitung1). „Dies Buch hat einer geschrieben, der in einer langen Reihe von Jahren, in denen er mit Leib und Seele Untersuchungsrichter war, zur Erkenntnis gekommen ist, daß der U. in seinem Amte mehr braucht, als ihm seine Gesetzbücher, deren Kommentare und wissenschaftliche Bearbeitungen zu sagen vermögen. Manches von dem, was der U. sonst noch nötig hat, ist in verschiedenen Büchern zu finden, manches aber auch nicht; diese Bücher hat der U. häufig nicht zur Hand, und wenn er sie hat, so ist das darin Gebotene doch nicht so zusammengestellt, wie er es im Augenblicke braucht; um jemanden zu fragen, der es wüßte, fehlt oft Zeit und Gelegenheit, und so ist der U. schließlich doch zumeist auf sich selbst gestellt und höchstens noch auf ein Hilfsmittel angewiesen, das er stets zur Hand haben kann und in dem er zur Not für die voraussichtlich meisten Fälle Anhaltspunkte finden könnte. Ein solches Hilfsmittel soll das vorliegende Handbuch sein, in dem der U., namentlich der Anfänger, wenigstens für den ersten Augenblick einen praktischen Ratgeber finden möge". „Als es sich um die Ausarbeitung dieses Werkes gehandelt hat, lag eigentlich der Gedanke am nächsten, einzelne seiner Teile von besonderen Fachleuten behandeln zu lassen: das Gerichtlich-Medizinische von einem Arzte, die Waffenlehre von einem Waffentechniker, das Kapitel über Photographie von einem Photographen usw.; zweifellos wären diese Abschnitte in dieser Weise technisch richtiger dargestellt worden, aber der eigentliche Zweck wäre nicht erreicht gewesen. Bücher über diese Materien gibt es ja genug, aber für den U. und seine Zwecke sind sie nicht geschrieben, und so findet er auch darin das nicht, was er braucht. Der Fachmann kann sich nicht in die Lage des Juristen denken, der nicht Fachmann ist und über die Sache doch unterrichtet sein soll, er bietet ihm dann vieles, aber nicht das Notwendige. So habe ich mich denn entschlossen, alle Abschnitte selbst zu bearbeiten und hiezu die Erfahrungen zu benützen, die ich von Fall zu Fall selbst gemacht und durch besondere Fachstudien auf sichere Grundlage gestellt habe. Es wurde hier alles zusammengetragen, das nach meinem Dafürhalten in einzelnen Fällen in Frage kommen kann und über welches der U. nicht sofort in der gewöhnlichen Weise Rat findet". „Ich behaupte gewiß nicht, daß das Vorhegende erschöpfend sei; ich möchte damit eigentlich nur eine Anregung für künftige Arbeit gegeben haben; ich glaube aber, daß ein Werk in dieser Richtung vollständig werden könnte, wenn sich die beteiligten Kreise mit Eifer der Sache annehmen und einzelne Materien der Kriminalistik selbständig *) Fassung nach der 6. A u f l a g e (1913), auf die sich auch die Zeitangaben beziehen. G r o ß - S e e l i g , Handbuch. 8 . A u f l .

I

2

Einleitung.

bearbeiten oder wenigstens mir Mitteilungen, Verbesserungen und Ratschläge zukommen lassen wollten; ich verhehle mir ja nicht, daß mir manches wichtige Kapitel, das bearbeitet werden sollte, gar nicht eingefallen ist, daß trotz ängstlicher Sorgfalt mancher Irrtum unterlaufen sein kann, daß manches von anderen besser oder ganz verschieden beobachtet wurde und daß es noch vielfache Hilfsmittel und Handgriffe gibt, die dem U. seine Arbeit erleichtern können und die mir unbekannt waren oder an die ich nicht gedacht habe. Für jede Mitteilung, Mahnung oder Verbesserung werde ich dankbar sein, sie prüfen und aufnehmen, wenn etwa weitere Auflagen nötig werden sollten; i c h b i t t e j e d e n L e s e r , d a ß er k e i n e W a h r n e h m u n g , die er g e m a c h t h a t , f ü r u n w e s e n t l i c h h a l t e — wie in allen anderen Richtungen, so kann auch hier das scheinbar Unbedeutende zu einer wichtigen Anregung werden." Als ich diese Worte vor nun 21 Jahren geschrieben hatte, konnte ich nicht annehmen, daß sich meine Hoffnungen in so hohem Maße erfüllen würden. Mit stolzer, aber dankbarer Genugtuung darf ich auf die Entwicklung des neuen Wissenszweiges sehen, dem in raschem Aufblühen ein nie geahntes Wachstum beschieden war. In Verbindung mit Kriminalanthropologie, Kriminalpsychologie und Kriminalstatistik bildet die Kriminalistik heute als Komplex der strafrechtlichen Hilfswissenschaften eine gefestigte neue Disziplin, deren einzelne Teile sich selbständig fortentwickeln, sich aber doch wieder als Teile des großen Ganzen einfügen. Das bescheidene kleine Handbuch, welches vor zwei Dezennien in die Welt ging, ist heute ein dreibändiges System der Kriminalistik in sechster Auflage und in fast alle Kultursprachen übersetzt; seine lebende, fortwährend ergänzende Hilfe stellt das nunmehr im 53. Bande stehende „Archiv für Kriminalanthropologie und K r i m i n a l i s t i k " d a r . Die größte Freude bildet für mich aber die sichtbare befruchtende Wirkung, welche die neue Disziplin auszuüben vermochte, indem einzelne ihrer Bestandteile sich so überaus kräftig entwickelt haben. Das Kapitel über die Zeugen, dessen Inhalt ich dann (1898) zu einem besonderen Buche „Kriminalpsychologie" ausgestaltet habe, bildete die Grandlage für die heute schon weit ausgebaute „Psychologie der Aussage"; die Sammlung von Fällen des kriminellen Aberglaubens ist der Gegenstand besonderer Arbeiten; Gaunersprache und die Lehre von den Gaunerzeichen sind vielfach neu untersucht und gepflegt; die Lehre von den Spuren bildet heute eine besondere Disziplin und mit Befriedigung kann wahrgenommen werden, daß die Anregung zum Studium der gerichtlichen Medizin, der forensen Psychiatrie und Psychologie bei Juristen vielfach auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Es darf behauptet werden, daß die neue Disziplin eine neue r e a l i s t i s c h p s y c h o l o g i s c h e K r i m i n a l i s t e n s c h u l e im großen Rahmen der Jungdeutschen Kriminalistenschule ins Leben gerufen hat. *) Seit 1 9 1 6 f ü h r t es die Bezeichnung „ A r c h i v für Kriminologie" und erscheint 1941 im 109. B a n d (Herausgeber: R. Heindl) bei Springer, Berlin.

Einleitung.

3

Freilich wurden die Anforderungen durch das riesige Anwachsen der Literatur immer größer, zumal diese nicht bloß auf dem eigenen juristischen Gebiete, sondern auch auf dem der Medizin, Philosophie, Technik usw. gesucht werden muß — hier setzt aber die Literatur der Kriminalistik helfend ein, indem sie auf den genannten fremden Gebieten das für uns Brauchbare sucht und für den Kriminalisten verarbeitet, oder doch wenigstens ihm sagt, in welchen Büchern er das Notwendige findet. A b e r e b e n s o , w i e f r ü h e r , m ö c h t e ich a u c h h e u t e n i c h t s so sehr v e r m i e d e n s e h e n , a l s die A n s i c h t , d a ß m i t den v o n der K r i m i n a l i s t i k g e g e b e n e n R a t s c h l ä g e n der U. a n g e w i e s e n w e r d e n s o l l , s i c h der H i l f e der F a c h m ä n n e r m e h r o d e r w e n i g e r zu e n t s c h l a g e n — ein solcher Rat ginge dahin: der U. sollte zum Pfuscher werden. Nichts könnte mehr schaden, durch nichts würde der U. seine Stellung mehr verkennen, durch nichts würde er mehr Irrtümern anheimfallen. I m G e g e n t e i l e : ich m ö c h t e g e r a d e e r r e i c h e n , d a ß die U. s i c h v i e l m e h r an die S a c h v e r s t ä n d i g e n h a l t e n , als es b i s h e r g e s c h e h e n ist und daß noch eine Reihe von Fachmännern unter die zu verwendenden Sachverständigen aufgenommen werde, Fachmänner, die man bisher noch nicht verwendet hat, die aber unabsehbaren Nutzen schaffen können. So unzulässig es aber ist, wenn sich der U. eine Tätigkeit anmaßen will, die nicht ihm, sondern nur dem Fachmanne zusteht, ebenso kann aber gefordert werden, daß der U. weiß, in w e l c h e n F ä l l e n er Sachverständige fragen soll, w e l c h e A r t von solchen er wählen muß und endlich, w o n a c h er fragen soll. U m d i e s e drei F r a g e n w i r d es s i c h in den w e i t a u s m e i s t e n F ä l l e n h a n d e l n . Aber es gibt auch Fälle — und gar so selten sind sie nicht — in welchen sich der U. ohne Sachverständige behelfen muß. Hieher gehören: i. Alle Fälle, für die es eigentlich keine Sachverständigen gibt und in denen es sich nur darum handelt, mit eigenem Nachdenken vorzugehen; z. B. jene Urkundenfälschungen, bei denen der Beweis des begangenen Verbrechens aus dem Zusammenhange des Textes, den Unrichtigkeiten, Anachronismen usw. geführt wird (wenn es sich nicht etwa um Urkunden so alten Datums handelt, daß Historiker usw. befragt werden müssen); weiters Behandlung von Fußspuren, die meist n i c h t in das Gebiet der ärztlichen Tätigkeit fällt, Dechiffrierungen, Fragen des Aberglaubens, die vielen Fragen psychologischen Inhalts usw.1). 1) Heute gibt es jedoch für mehrere der hier genannten Fragen bereits Sachverständige, so vor allem dort, wo von den Gerichten — wie in der Ostmark — eigene Sachverständige für „Kriminologie" bestellt sind (siehe unten S. 16). Aber auch für allgemein-psychologische Fragen kann m i t u n t e r die Heranziehung psychologischer Sachverständiger wertvoll sein. Vgl. Marbe, Der Psycholog als Gerichtsgutachter im Straf- und Zivilprozeß, Stuttgart 1926, und dessen Aufsätze in: Archiv 86 S. 1, 126 und 208.

4

Einleitung.

2. Jeder der vielen Fälle, in denen der U. nicht a u g e n b l i c k l i c h Sachverständige zur Hand hat und in denen er doch sofort eine Verfügung treffen muß, die von folgenschwerer Wichtigkeit sein kann, z. B. Verhaftungen, Anordnung eines weiteren Lokalaugenscheines, Hausdurchsuchung usw. In solche Lage kann der U. oft kommen, wenn z. B. bei kleinen Gerichten auf dem Lande die Ärzte — wie oft existieren bloß ein bis zwei solche am Sitze eines Gerichtes — nicht zu treffen sind, oder wenn der U. nach auswärts verreisen mußte, der Natur der Sache nach keine Ärzte mitgenommen hat und sie trotzdem brauchte: es ist z. B. eine Brandlegung gemeldet worden und es zeigt sich an Ort und Stelle, daß dieses Verbrechen nur begangen wurde, um Mord oder versuchten Mord zu maskieren. In einem solchen Falle hat der U. keinen Sachverständigen bei sich, kann auch nicht leicht rasch einen zur Stelle bringen, dann muß er für den Augenblick mit seinen eigenen Kenntnissen Rat schaffen und davon, wie ihm das gelingt, kann leicht der Ausgang der ganzen Sache abhängen. Selbstverständlich behauptet niemand, daß der U. auch hier irgendwelche gerichtsärztliche Tätigkeit entwickeln soll, er ist aber verpflichtet, so vorzugehen, daß er dem G e r i c h t s a r z t f ü r später seine A r b e i t e r l e i c h t e r t , zum mindesten sie ihm nicht erschwert oder u n m ö g l i c h macht. 3. Endlich ist hier auch zu erwägen, daß man es nicht immer mit Sachverständigen erster Qualität zu tun hat; der vielbeschäftigte Gerichtsarzt an einem Gerichtshofe oder an einem großen Landgerichte weiß gewiß immer genau, was und wie er zu reden hat, das kann aber nicht von jedem ersten besten Arzte verlangt werden, der entweder erst am Beginne einer gerichtsärztlichen Tätigkeit steht, oder aber nur ausnahmsweise und vorübergehend als Sachverständiger benützt wird. Auch in formeller Beziehung kann der U. oft in die Lage kommen, sich in Gebieten zurecht finden zu müssen, die ihm von Haus aus fremd sind. So machte schon der ausgezeichnete Kriminalist Jagemann („Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde") vor mehr als einem halben Jahrhundert darauf aufmerksam, daß ein Mediziner zwar ein sehr guter Arzt sein und auch achtbare gerichtlich-medizinische Kenntnisse haben kann, ohne deshalb imstande zu sein, ein brauchbares Protokoll zu diktieren. Dann bleibt dem Untersuchungsführer wohl nichts anderes übrig, als „den ärztlichen Befund wie ein Dolmetscher selbst zu diktieren", d. h. sich vom Arzte die nötigen fachmännischen Daten geben zu lassen, diese dann richtig zu formulieren und zu Protokoll zu geben. Hat nun aber der U. gar keine Kenntnisse in dieser Richtung, so kann das Protokoll trotz aller Mühe doch wirklich unsinnig werden. Die Verhältnisse sind nun seit Jagemann nicht anders geworden: wir finden noch heute auf dem Lande genug Ärzte — und es sind nicht immer gerade die ältesten von ihnen so — welche bei allem Wissen und Können durchaus nicht imstande sind, ein brauchbares Protokoll zu verfassen. Da muß der U. freilich selbst Hand anlegen.

Einleitung.

5

Noch weniger kann man brauchbare Gutachten von minder gebildeten Leuten verlangen, wenn sie auch in ihrem Fache relativ vollendete und für den Fall brauchbarste Kenntnisse besitzen; sie sind eben nicht imstande, ihr Wissen der kriminalistischen Verwertung anzupassen und gerade das zu sagen, was der U. braucht; endlich kann man z. B. von einem Handwerker, einem Jäger, einem Landmanne nicht verlangen, daß er sich richtig ausdrücke und sich auf jenen Standpunkt stelle, auf welchem man ihn braucht; man vergesse niemals, daß doch der beste Sachverständige noch immer kein Kriminalist ist und daß das durch den Sachverständigen Gewonnene nur dann Wert hat, wenn es so geboten wird, als ob es vom U. selbst, in dessen Person die Kenntnisse des Sachverständigen fingiert werden, ausgegangen wäre. Es muß also Identifizierung der Person der Sachverständigen mit der des U. erreicht werden und das ist nur dann möglich, wenn das von jenen Gesagte dem U. nicht fremd ist, wenn dieser der Protokollierung durch den Sachverständigen mit gespanntester Aufmerksamkeit folgt und den Verlauf des Gutachtens in dem Geleise erhält, in welchem er es für seine Sache nötig hat — das alles ist aber unmöglich, wenn dem U. alles fremd und neu ist, was der Sachverständige angibt. Als Grundsatz hat jedem Kriminalisten zu gelten: A u f g a b e alles S t r a f v e r f a h r e n s sowohl im V o r p r o z e ß als im H a u p t v e r f a h r e n ist es, den e r k e n n e n d e n R i c h t e r in die L a g e zu v e r s e t z e n , als ob er den f r a g l i c h e n H e r g a n g m i t eigenen S i n n e n u n d m i t den K e n n t n i s s e n des S a c h v e r s t ä n digen w a h r g e n o m m e n h ä t t e — je mehr dies erreicht wird, desto besser ist der Prozeß geführt. Endlich glaube ich aber auch, daß dieses Buch nicht bloß für den Untersuchungsrichter 1 ) bestimmt sein soll, sondern daß es in derselben Weise von Staatsanwälten, erkennenden Richtern, dann Polizeibeamten, Gendarmen und allen Organen des Sicherheitsdienstes, aber auch von Gerichtsärzten, die genau wissen wollen, was der Kriminalist braucht, benützt werden kann. Es ist ja hauptsächlich für das erste Stadium eines Prozesses bestimmt, in welchem es sich um Feststellung des Tatbestandes handelt und an diesem wichtigen Stadium des Falles sind die genannten Organe meist mehr beteiligt, als der Untersuchungsrichter. Es ist deshalb im Verlaufe der vorliegenden Arbeit zwar fast nur vom Untersuchungsrichter die Rede, dies ist aber nur der Kürze wegen so ausgedrückt, g e m e i n t ist u n t e r ,,U." ü b e r h a u p t j e d e r , der von A m t s wegen an der E r f o r s c h u n g von K r i m i n a l f ä l l e n zu a r b e i t e n h a t . In der vorliegenden 8. Auflage dieses „Handbuches" ist daher in den folgenden Abschnitten unter, ,U." j ederUntersuchungs f ü h r e r zu verstehen. >) Das Buch nannte sich, als Hans Groß die obigen Worte schrieb, noch „Handbuch für Untersuchungsrichter" — hier hat aber Groß mit prophetischem Blick die Entwicklung dieses Begriffes zu dem des Untersuchungsführers bereits vorausgeahnt.

Allgemeiner

Teil

I. Abschnitt.

Vom Untersuchungsführer. 1. Allgemeines. Von allen Stellungen, in die ein Jurist im praktischen Leben gelangen kann, ist die eines U. die eigenartigste; von ihr wird allgemein angenommen, daß sie sehr verdienstlich in ihren Leistungen und interessant in ihrem Wirken sei, selten wird es aber, auch von Fachmännern, voll erfaßt, wie schwierig das Amt eines U. ist. Von ihm wird jugendliche Kraft und frischester Eifer, ausdauernde, rüstige Gesundheit, umfangreiches, stets gegenwärtiges juristisches Wissen — nicht nur in strafrechtlichem, sondern auch in zivilrechtlichem Fache — verlangt; er muß Menschenkenntnis und gewandtes Benehmen, offene Sinne und Energie haben; Takt ist unerläßlich, wirklicher Mut in vielen Fällen notwendig und stets muß der U. bereit sein, erforderlichenfalles Gesundheit und Leben einzusetzen, wenn er es mit gefährlichen Verbrechern zu tun hat, wenn er anstrengende Reisen unternehmen, Infektionskranke verhören oder bei bedenklichen Obduktionen anwesend sein muß. Außerdem treten an ihn Fragen aus allen nur denkbaren Kreisen menschlichen Wissens heran; er soll Sprachen können und zu zeichnen vermögen, er soll wissen, was ihm der Arzt sagen kann, was er ihn fragen soll, er muß die Schliche des Wilddiebes so gut kennen wie die des Börsenspekulanten, er soll klar sehen, wie ein Testament gefälscht wurde und wie es bei einem Eisenbahnunglücke zugegangen ist, er muß wissen, wie die Falschspieler arbeiten, wie eine Kesselexplosion erfolgt und wie der Roßtäuscher sein Pferd jung macht; er muß sich in kaufmännischen Büchern zurecht finden, soll die Gaunersprache verstehen, soll Chiffriertes entziffern können und soll auch die Arbeitsweise und die Werkzeuge aller Handwerker kennen. Das läßt sich aber alles nicht erst lernen, wenn man zum U. bestellt wird, ebensowenig als man sich von diesem Augenblick an erst den nötigen Eifer, den nötigen Scharfblick erwecken kann, den man zu diesem Amte braucht. Es sollte daher als erste Regel gelten, zu U. nur jene Leute zu ernennen, die, abgesehen von sonstigen geistigen und körperlichen Eignungen, eine wirklich enzyklopädistische Bildung haben, die Land und Leute kennen, ohne jedoch durch verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen, die namentlich in kleinen Orten oft eine große Rolle spielen, befangen zu sein, die sich im Leben umgesehen und verschiedene Kenntnisse erworben haben, die endlich aber auch bereit sind, mit Anwendung aller Ausdauer ihre gewiß schwer erworbenen Kenntnisse zum allgemeinen Besten zu verwenden. Jeder Kriminalist weiß, daß ein U. alles,

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i. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

aber wirklich absolut alles, was er im Leben irgendwie sich an Kenntnissen und Fertigkeiten erworben hat, in seinem Amte brauchen kann und daß er alles zum mindesten einmal schwer vermissen wird, was er zu erlernen versäumt hat. Mangeln aber einem richterlichen Beamten universelle Kenntnisse, so hat er auch kein Interesse für die Tätigkeit eines U.; hat er dies nicht, so paßt er auch nicht dazu und er wird wohl tun, wenn er beizeiten trachtet, sein vielleicht höchst wertvolles juristisches Wissen in anderen Zweigen der Rechtspflege oder Verwaltung zu verwerten. Als U. würde er nicht bloß keine zweckentsprechende, sondern auch eine unglückliche Existenz führen: er muß sich schließlich um Dinge kümmern, die ihm gleichgültig sind, und er kommt damit zu keinem rechten Ziele, weil sie ihm fremd sind; die Erkenntnis, daß dies eine schiefe Stellung ist, muß ihm über kurz oder lang kommen und kein A r b e i t e n ist ein unseligeres als das an u n r e c h t e r Stelle. Wer sich dies aber ersparen will, der prüfe strenge, ob er die Eigenschaften für einen U. besitzt, bevor er sich dieser schweren und dornenvollen Laufbahn zuwendet. Mit dem Wissen allein ist es aber nicht getan. Ich verlange vom U. nicht bloß juristisches und sonstiges Wissen, allgemeine Bildung und besondere Kenntnisse und Fertigkeiten und deren fortwährende Ausbildung, ich verlange von ihm auch ein dermaßen vollständiges Aufgehen in seinem Berufe, daß ihn das S t r e b e n , e t w a s zu lernen und sein Wissen a u s z u d e h n e n , auch dann nicht verläßt, wenn er sich augenblicklich nicht in seinem Berufe befindet. Wer erst dann, wenn er an der Erforschung eines großen Verbrechens ist, lernen will, wird kaum zum Ziele kommen, dies muß schon früher im ganzen, im gewöhnlichen Leben geschehen sein. Und die Möglichkeit, für sein Fach etwas zu lernen, bietet sich alle Tage, jeden Augenblick. Der eifrige U. wird z. B. bei jedem Gespräche, bei jedem Zusammensein mit irgendeinem Menschen psychologische Beobachtungen machen, auf Physiognomik, besondere Gewohnheiten, Ausdrucksweise und ähnliches aufmerken; er wird auch bei jedem Spaziergange Fußspuren verfolgen, die er im Staube, im Kote der Landstraße findet; ebenso Spuren von Tieren, von Wagenrädern, Eindrücke im Grase, wo jemand saß oder lag, wo eine Last hingelegt war; er beachtet weggeworfene Papierstückchen, Verletzungen an Bäumen, weggehobene Steine, Scherben von Gläsern oder Töpfen, auffallend geschlossene oder geöffnete Türen oder Fenster und ähnliches — alles kann dem U. Anlaß geben, daran Kombinationen zu knüpfen und zu trachten, sich das Vorausgegangene zu erklären. Ist ja doch das, was wir „Beweisverfahren" nennen, nichts anderes als das Forschen nach der Kausalität 1 ), d.h.: x) Vgl. namentlich Ad. Bollinger, Das Problem der Kausalität, Leipzig 1878; J. Fischer, Die Kausalität als Wegweiser durch die Psychologie, Leipzig 1909. An der Gültigkeit dieses „allgemeinen Kausalgesetzes", das uns gestattet, bei allem, was real (physisch oder psychisch) geschieht, nach einer erklärenden Ursache zu forschen, ist auch heute unbedingt festzuhalten. Diese

Heranbildung des Untersuchungsführers.

II

„ a u s V o r a u s g e g a n g e n e m und N a c h f o l g e n d e m auf das Nachf o l g e n d e u n d V o r a u s g e g a n g e n e s c h l i e ß e n " , und dies muß an Kleinigkeiten im voraus, nicht erst am vorliegenden Raubmorde hintendrein gelernt werden. Selbst aufgefangene, unbedeutende Worte von Vorübergehenden, nicht ganz klare Handlungen von Leuten können wertvollen Stoff dazu geben, um daran seine Kombinationsgabe zu üben. Ebenso wichtig ist es, sich Vorgänge gleichgültiger und wichtiger Natur, die man selbst gesehen oder gehört hat, von andern, die auch Zeugen waren, erzählen zu lassen. Solche Mitteilungen sind ob ihrer Verschiedenartigkeit (den guten Willen, die Wahrheit sagen zu wollen, vorausgesetzt) im höchsten Grade interessant und lehren auf die einfachste und zugleich einzige Art, wie man Zeugenaussagen auffassen soll. Ebenso versäumt der gewissenhafte U. keine Gelegenheit, um irgendeine Hantierung, das Arbeiten eines Handwerkers, die Kunstgriffe eines Technikers usw. kennen zu lernen — last, not least — sich Menschenkenntnis zu verschaffen. Hiezu ist jeder Mensch, mit dem wir verkehren, als Objekt zu gebrauchen, und wer eifrig studiert, kann auch da vom Albernsten lernen.

2. Heranbildung des Untersuchungsführers. Fragt man nun, wie der zum U. bestimmte junge Jurist für seinen Beruf herangebildet werden soll, so möchte man zur Überzeugung kommen, daß dies, wenn er ganz sich selbst überlassen bleibt, nur ausnahmsweise gelingen wird. Dem angehenden U. mangelt vor allem die Klarheit darüber, was er in seinem Amte brauchen wird; erst wenn er lange in diesem Berufe gearbeitet und bittere Erfahrungen darin gemacht hat, weiß er, was ihm alles fehlt. Er weiß weiters die in den verschiedenartigsten Reichen menschlichen Wissens gelegenen Hilfsmittel nicht zu finden und zu verwerten, er vermag aber namentlich nicht, ein gewisses System in seinen Lernplan zu bringen, weil er eben nicht weiß, was und wieviel er braucht, woher er es nehmen und wie er es verwenden soll. Von einem hochgestellten richterlichen Beamten, dessen wissenschaftlicher Ruhm weit über die Grenzen seines österreichischen Vaterlandes gedrungen war, Jos. v. Waser, wurde seinerzeit die Ansicht vertreten, es sei ein „Untersuchungsamt" herzustellen, in dem mehrere jüngere, erst heranzubildende U. unter der Oberleitung eines erfahrenen, älteren und vielseitig gebildeten Richters die Untersuchungen durchGültigkeit wird keineswegs dadurch erschüttert, daß es auf einigen Teilgebieten der Naturwissenschaft (z. B . der Quantentheorie der P h y s i k ) nicht gelingt, die dort herrschenden letzten Gesetzmäßigkeiten (also „spezielle Kausalgesetze") zu erkennen. V g l . Schottky, D a s Kausalproblem der Quantentheorie als eine Grundfrage der modernen Naturwissenschaft überhaupt, in: Die Naturwissenschaften I X (1922); Planck, D a s Weltbild der neuen Physik, 1929, und P h y sikalische R u n d b l i c k e S. 9 7 ; Seelig, Persönlichkeit und Verantwortung, MschrKr. 27 S. 38 f.

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i. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

führen sollten. Aber abgesehen davon, daß eine solche Einrichtung in keinem Verfahren vorgesehen ist oder damit vereinbar wäre, so ließe sich dies auch praktisch unmöglich durchführen. Wollte man bestimmen, daß der betreffende Amtsleiter stets von einem U. zum andern wandern und deren Tätigkeit zeitweilig überwachen sollte, so würde dies vor allem die Autorität des U. auf das ärgste schädigen, es würde aber auch insoferne nichts nützen, als ja hintendrein erfolgende Ausstellungen den Gang der Untersuchung nicht mehr verbessern können. Sollte aber der Überwachende bloß dazu da sein, damit sich die U. in schwierigen Fällen bei ihm Rat erholen können, so ist dies entweder überflüssig oder unmöglich. Hat der U. Zeit zu fragen, so kann er dies ja ohnehin bei irgendeinem erfahrenen Kollegen tun, Literatur nachschlagen usw. Ist er aber draußen an Ort und Stelle der Tat, so hat er weder Freunde noch Literatur, noch seinen „Überwachenden" zur Seite, um nachzufragen, da muß er selbst wissen, selbst beschließen, selbst handeln. Und das sind gerade für den U. und für die Sache die wichtigsten Lagen, denn nur bei bedeutenden Fällen wird er vom Amtssitze weg entsendet, meistens ist da der Straffall erst im Werden und jeder Schritt, jedes Wort des U. hat folgenschwere Wichtigkeit. Ebenso können sich Schwierigkeiten mitten im Verhöre ergeben, und wenn dies auch in seinem Amtszimmer stattfindet, so kann der U. jedenfalls nicht inmitten des Verhöres dieses abbrechen und sich beim Ober-U. Rat erholen. Es darf auch nicht vergessen werden, daß viele Untersuchungen nicht in der Hand des Untersuchungsrichters, sondern des Erhebungsrichters auf dem Lande gelegen sind. Unsere Strafprozeßordnungen haben zumeist an den Untersuchungsrichter gedacht, dem Erhebungsrichter ist keine wichtige Stellung eingeräumt, das ist aber nur theoretisch so, in Wirklichkeit hat oft der Erhebungsrichter den größten und wichtigsten Teil der Arbeit zu leisten; der ist aber meilenweit von der Hauptstadt und dem Sitze des überwachenden U., für ihn hätte seine Überwachung und Hilfe niemals Wert. Ü b r i g e n s ist die A m t s s t u b e des U. keinesf a l l s mehr seine S c h u l e , sondern der P l a t z s e l b s t e i g e n e n , f e r t i g e n , ü b e r l e g t e n und ganzen Wirkens. Freilich muß er noch in jeder Stunde lernen, sowie wir alle immer und immer wieder lernen, aber soweit möglich muß der U. wenigstens theoretisch fertig gebildet sein, wenn er seinen Platz einnimmt. Etwas anders wäre es freilich, wenn man sich entschlösse, wenigstens an einigen Universitäten Lehrstühle für unsere Sonderzwecke zu schaffen; hier wäre der Platz, an dem nicht bloß der Studierende der Jurisprudenz, sondern auch der angehende Kriminalrichter an der Hand wirklich vorgekommener lehrreicher Fälle für sein Fach vorbereitet werden sollte und alle jene zahlreichen Hilfskenntnisse sich erwerben könnte, ohne die er immer unbeholfen und schwerfällig bleibt. Zu solchen Lehrstühlen gehören Kriminalistische Institute. Es ist gewiß erfreulich, wenn unsere Universitäten Lehrstühle für oft recht weitab liegende Disziplinen bekommen, aber es sollten doch

Lehrstühle f ü r strafrechtliche Hilfswissenschaften.

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praktische, sehr wichtige Kenntnisse auch ihre Vertretung finden, wenn sie Ansprach auf Wissenschaftlichkeit machen können. Und das können d i e s t r a f r e c h t l i c h e n H i l f s w i s s e n s c h a f t e n nach ihrem heutigen Stande um so gewisser, als sie das in den wissenschaftlichen Disziplinen verschiedenartigster Richtung Geschaffene für sich verwertet und zu einem geschlossenen, systematisch gegliederten Ganzen vereinigt haben. Freilich wird die Errichtung solcher Lehrstühle dem Staate manches Stück Geld kosten, der Erfolg wird es aber auch lohnen. Man wird eben zur Einsicht gelangen müssen, daß der Segen der Justiz nicht darin liegt, daß man etliche Groschen spart, indem man dem Arbeiter, der stundenweit zu Gericht als Zeuge kommt, oder dem sachverständigen Gelehrten, der nächtelang über einem Gutachten saß, einige Pfennige abdrückt, den wahren Segen der Rechtspflege wird man überhaupt erst fühlen, wenn man dort Geld aufwendet, wo es wirklich notwendig ist. Ein Staat, der den heute auch gebildeteren und raffinierteren Gaunern nur Beamte gegenüberstellt, die allerdings die gewöhnliche oder vielleicht eine hervorragende wissenschaftlich-juristische Bildung besitzen, aber der dem U. nötigen besonderen Ausbildung entbehren, erfüllt seine Aufgabe nicht richtig. Ein schlechter Staat zeigt sich schwach vor seinen eigenen Verbrechern und vernachlässigt seine Pflicht gegenüber den ehrlichen Staatsbürgern, die verlangen können, daß der Kampf gegen das Verbrechertum mit allen Mitteln menschlichen Wissens und Könnens aufgenommen werde — dem Guten muß zum Triumphe verholfen werden, und dies ist nur möglich durch einen Generalstab bestgeschulter U. Die Arbeit des U. ist keine Kunst, aber ein Kunststück — dies Kunststück ist kein großes, aber es besteht aus einer langen Reihe von kleinen Kunststücken — diese muß man aber können, um sie zu können, muß man sie erst einmal lernen, und dazu diene eine Schule, auf der die U. tüchtig herangebildet werden. Seitdem diese Worte in der ersten Auflage dieses Buches geschrieben wurden, habe ich mir alle erdenkliche Mühe gegeben, den strafrechtlichen Hilfswissenschaften Zutritt auf der Hochschule zu verschaffen1). Es war lange vergeblich, obwohl man doch einsehen muß, daß von den unzähligen verunglückten Untersuchungen, die unsere Registraturen und Archive verwahren, keine einzige deshalb mißlungen ist, weil der betreffende U. z. B. eine mangelhafte Auffassung von der Lehre des 1 ) Zeitschrift f. d. ges. Strafrechtswissenschaft 14. B d . 1. H e f t , 16. B d . 1. H e f t ; Mitteilungen der internat. kriminalistischen Vereinigung 5. B d . 2. H e f t und Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 10. Jg. 4. H e f t und zahlreiche A u f s ä t z e in den bis j e t z t erschienenen B ä n d e n des Archivs. V g l . daselbst Wulften, Zur Ausbildung des praktischen Kriminalisten, A r c h i v 16 S. 107. D a n n : Hans Groß, Gesammelte kriminalistische Aufsätze, 2 Bände, Leipzig, F . C . W . V o g e l : B d . I S. 82, 89, 97, 1 1 4 ; B d . I I S. 261, 276; Deutsche Juristenz t g . v o m März 1 9 1 1 Nr. 5. Hoegel in Nr. 13 der österr. Gerichtsztg. v . J. 1916 S. 1 1 6 ; Zürcher, Zur F r a g e der Untersuchungskunde als Lehrfach in der Schweizer Ztschr. f. Strafrecht 32. Jg. S. 112. Neuere Literatur s. unten S. 17 A n m . 5.

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i . Abschnitt. V o m Untersuchungsführer.

Versuches besaß, weil er sich über die wissenschaftliche Natur der Teilnahme unklar war, oder weil er die modernste Auffassung der Culpa nicht kannte; die Ursache dieser verfehlten Untersuchungen war meistens darin zu suchen, daß der betreffende U. eine wichtige Gaunerpraktik nicht kannte, daß er sich mit einer Fußspur nicht zurechtfand, daß er etwas Chiffriertes nicht lesen konnte, daß er es nicht verstand, mit den Sachverständigen richtig zu verkehren, daß er irgendeine Kleinigkeit der Realien übersah, daß er keine Kenntnis der so unentbehrlichen Kriminalbiologie besaß und zumeist, daß er aussagepsychologisch und vernehmungstechnisch nicht geschult war. Das sieht man ein, aber man läßt es nicht gelten, und so hatten wir keine Lehrstühle für strafrechtliche Hilfswissenschaften. „Aber es vergeht kein Dezennium mehr, so wird man diese doch auf der Hochschule lehren, als notwendige und das eigentliche Strafrecht unterstützende, ergänzende und belebende Disziplin"; so hatte ich noch in der 5. Auflage dieses Buches gesagt — im Sommer 1912 ist wenigstens in Graz ein „kriminalistisches Universitätsinstitut" entstanden 1 ), das schon damals folgende Abteilungen umfaßte: I. Vorträge über strafrechtliche Hilfswissenschaften; sie werden an der juristischen Fakultät der Universität im Rahmen des Institutes vom Leiter und Vorstand des Institutes gehalten, und zwar in jedem Semester über einen Gegenstand: 1. Kriminalpsychologie, 2. Kriminalanthropologie, 3. Kriminalistik, 4. Kriminalstatistik. II. Handbibliothek. Sie soll enthalten: 1. Bücher rein kriminalistischen Inhalts; 2. Bücher über die genannten strafrechtlichen Hilfswissenschaften; 3. eine Auswahl von Werken gerichtlich-medizinischen Inhalts; 4. ebenso psychiatrisch-forensen Inhalts; 5. Werke über allgemeine Psychologie; 6. gewisse technische Bücher (über Waffen, Photographie, Sprengtechnik usw.); 7. Nachschlagewerke allgemeiner Natur. III. Kriminalmuseum. Dieses, v o m Leiter des Institutes 1896 beim Landes- und Strafgerichte Graz eröffnet, wurde an die Universität übertragen und steht nun im Institute. Sein Zweck ist einerseits, die Grundlage bei den Vorträgen über Kriminalistik zu bilden und Lehrobjekte abzugeben, anderseits Vergleichsgegenstände in praktischen Fällen zur Verfügung zu stellen. Dem Herkommen nach sind die Objekte zum Teil abgetanen Straffällen entnommen (Tötungswerkzeuge, verletzte Knochen, Projektile, Falsifikate aller Art, Brandlegungsapparate, Chiffren, Gifte, Abortiva usw.), zum Teile sind es Arbeiten aus Strafprozessen (Muster *) Über die Notwendigkeit kriminalistischer Institute vgl. insbesondere H. Groß in Archiv 1 S. 108, 10 S. 258, 12 S. 191; Ztschr. f. Hochschulpädagogik 3 S. 34; ferner Ottolenghi, Das wissenschaftliche Polizeiwesen in Italien, Archiv 14 S. 75; Lindenau-v.Lizet-Straßmann, Denkschrift über die Errichtung kriminalistischer Institute, Deutsche Strafr.-Ztg. 3. Jg. S. 98.

Das Grazer Institut.

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von Anklagen, Urteilen, Lokalaugenscheinsaufnahmen, Tabellen; dann Restaurierungsarbeiten, Pläne, Skizzen, Reliefs, Abklatsche usw.), zum Teil wurden die Sachen zu Lehrzwecken eigens angefertigt (Spuren, Aufnahmen, Papillarabdrücke, Photographien usw.). IV. Laboratorium. Dieses soll verschiedenen Zwecken dienen: 1. Zur Erzeugung und Beschaffung von Objekten für das Kriminalmuseum. 2. Für den Unterricht und die Vornahme von Übungen mit den Studenten; z. B.: Erzeugung von Fußspurabdrucken; von Abklatschen; Herstellung von Croquis, Skizzen, Reliefkarten usw.; Zusammensetzen von zerrissenem, Konservierung von verkohltem Papier; Untersuchungen von Fälschungen; Aufnahme von Photographien; daktyloskopische Übungen usw. 3. Für die Arbeiten der kriminalistischen Station, die zumeist nur in einem Laboratorium gemacht werden können. V. Die kriminalistische Station. Diese soll eine Art strafrechtliche Klinik darstellen und einerseits über Verlangen von Gerichten und Staatsanwaltschaften für diese Arbeiten leisten, die nur mit den Hilfsmitteln des Institutes hergestellt werden können, andererseits aber den Studenten, die hiebei mitarbeiten oder zusehen, Gelegenheit zum Lernen geben. Als solche Hilfeleistungen wären zu denken: Äußerungen über alle Arten psychologischer Fragen, dann über Gaunerpraktiken, weiters Ergänzung und Deutung von Fußspuren, namentlich von unklaren und unvollständigen Teilspuren; ebenso Erklärung, Zeichnung und Deutung von Blutspuren, soweit diese nicht in das Gebiet des gerichtlichen Mediziners oder gerichtlichen Chemikers zu fallen haben; weiters Papillarlinien und sonstige verschiedene Spuren; ferner: Beurteilung, Erkennung und Erklärung von Falsifikaten verschiedener Art (Urkunden, Siegel, Stempel, Maße, Gewichte usw.), natürlich auch nur insoweit, als sie nicht anderen Sachverständigen zuzufallen haben; dann (mit derselben Beschränkung) Beurteilung von falschen Antiquitäten, Raritäten und Kunstsachen; Äußerungen über Wesen und Bedeutung von Ausdrücken der Gaunersprache und Gaunerzeichen; über Verständigungs- und Fluchtversuche usw., ebenso über Gegenstände des Aberglaubens, seine strafrechtliche Bedeutung, Erklärung und Folgen; weiter über Wesen, Gebräuche, Sitten, Geschicklichkeiten usw. der Zigeuner, ihre Art, Verbrechen zu begehen usw., Beurteilung von Apparaten für Brandstiftungen; endlich Gutachten über Verstellungskünste, Tätowierungen usw. VI. Wissenschaftliches Organ. Als solches sollte das oben erwähnte „Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik" dienen 1 ). Als Zweck und Aufgabe des Kriminalistischen Institutes wurde bestimmt, den Unterricht im Strafrecht durch Pflege der strafrechtlichen Hilfswissenschaften und ihrer Realien auf breite, dem Leben entnommene Grundlage zu stellen, ihn der Wirklichkeit näher zu bringen und so Interesse und Verständnis für das Strafrecht zu steigern.

Das Institut erfüllte diese Aufgabe in vollem Maße, seine weitere Entwicklung hat die Erwartungen bei der Institutsgründung weit übertroffen. Die Studenten erkannten alsbald den besonderen Wert der *) Vgl. die Anm. 1 auf S. 2.

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i . Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

kriminologischen Lehren für ihre weitere Ausbildung, zahlreiche Arbeiten von Schülern konnten im Laufe der Jahre veröffentlicht werden. Innerhalb der Tätigkeit der „kriminalistischen Station" wurde die zunächst auf technische Methoden beschränkt gewesene Urkundenuntersuchung durch die besondere Pflege der wissenschaftlichen S c h r i f t k u n d e 1 ) überhaupt erweitert; innerhalb der Spurenuntersuchungen wurde auch die Methode der S c h u ß w a f f e n - u n d W e r k z e u g i d e n t i f i z i e r u n g besonders gepflegt und ausgebaut. Die theoretische Forschungs- und Lehrtätigkeit des Institutes erfuhr aber besonders dadurch eine Erweiterung, daß — entsprechend der Entwicklung der biologischen Lehren in der Medizin und charakterologischen Persönlichkeitskunde — die K r i m i n a l b i o l o g i e 2 ) ein Hauptgegenstand der Institutstätigkeit wurde. Ihr dient eine neue Abteilung des Institutes, die kriminalbiologische Untersuchungsstelle an der Männerstrafanstalt Graz, durch die erst die Möglichkeit unmittelbarer Forschungen an den hier verwahrten Verbrechern und deren Demonstration zu Lehrzwecken im Rahmen eines „kriminalbiologischen Seminars" ermöglicht wurde. Dieser Entwicklung gemäß führt das Institut schon seit 1918 die Bezeichnung „ K r i m i n o l o g i s c h e s Institut der Universität Graz" 3 ) und seine Funktionäre wurden von mehreren Gerichten zu Sachverständigen für das Fach „Kriminologie" bestellt 4 ). Bei der Neuregelung des Rechtsstudiums in Österreich (1935) wurde eine zweistündige Vorlesung aus Kriminologie für obligat erklärt und die Kriminologie zum Prüfungsgegenstand der juridischen Staatsprüfung gemacht. Der Erfolg der Grazer Gründung hat die Frage der Einführung und des Ausbaues der Pflege strafrechtlicher Hilfswissenschaften in Forschung und Lehre an vielen Orten neu angeregt. 1914 überreichten Lindemann, v. Liszt und Straßmann den preußischen Ministern des Unterrichts, der Justiz und des Innern eine Denkschrift, in der sie die Errichtung kriminalistischer Institute forderten. 1923 wurde nach dem Grazer Vorbild ein „Institut für die gesamte Strafrechtswissenschaft und Kriminalistik" in W i e n von Graf Gleisfach gegründet8), das sich nunmehr als „Universitätsinstitut für Kriminologie" bezeichnet 6 ). Im S. unten Abschn. X V . Vgl. A, Lenz, Kriminalbiologischer Unterricht mit Demonstrationen Sträflingen, MschrKr. 16 S. 30 (1925); Grundriß der Kriminalbiologie 2)

an

(1927).

а) Eine ausführliche Darstellung seines Entwicklungsganges 1912—1936 enthält ein unter der obigen Bezeichnung erschienener Aufsatz von A. Lenz und E. Seelig in der „Festschrift zur Feier des 350jährigen Bestandes der Karl Franzens-Universität in Graz" (Leuschner u. Lubensky, Graz 1936), aus diesem ein kleiner Auszug im Archiv 99 S. 7of. Das Institut wurde nach Groß' Tode (1915) bis 1938 von A. Lenz, seither von E. Seelig geleitet. 4) Die kriminologische Gutachtertätigkeit wurde durch einen Erlaß des Österreichischen Justizministeriums vom 23. Mai 1931, JAB1. Nr. 14 (wiedergegeben in der Staatsdruckereiausgabe der österreichischen Strafprozeßgesetze, Wien 1933, S. 892) geregelt. б) Ztschr. f. d. ges. Strafrechtswissenschaft 49 S. 586 ff. 6) Geleitet von H. Streicher, einem aus dem Grazer Institut hervorgegangenen Schüler Groß'.

K r i m i n o l o g i s c h e A u s b i l d u n g des U n t e r s u c h u n g s f ü h r e r s .

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selben Jahr eröffnete G. Bohne das „Kriminalwissenschaftliche Institut der Universität K ö l n " an deren juristischer Fakultät 1 ). Aber auch im Ausland ging man ähnliche Wege: während das ältere „Institut de police scientifique" der Universität Lausanne 2 ) — seinem Namen entsprechend — mehr polizeiwissenschaftlich orientiert ist, eröffnete 1923 A. Kanger in Riga ein „Institut für wissenschaftliche Gerichtsexpertise", das ideell der juristischen Fakultät der lettländischen Universität, administrativ aber der Staatsanwaltschaft am Appellhof angegliedert ist; der zweijährige Lehrgang findet in den Räumen der Universität statt und ist in ihren Lehrplan aufgenommen. Außerdem wurde in Prag und zwar sowohl an deren deutscher als auch an deren tschechischer Rechtsfakultät je ein „Kriminologisches Institut" errichtet. 1930 eröffnete H. Södermann an der juristischen Fakultät der Universität Stockholm ein „Kriminaltechnisches Institut", das 1936 in neuen Räumen großzügig ausgestaltet wurde 3 ). Es ist daher verständlich, daß die Forderung nach einem allgemeinen Ausbau der kriminologischen Ausbildung aller Organe der Strafrechtspflege, die für die Funktion eines U. in Betracht kommen, von den kriminalistischen Fachkreisen — Wissenschaftlern wie Praktikern — immer wieder erhoben und zum Gegenstand von Beratungen auf wissenschaftlichen Tagungen gemacht wurde. So beriet 1925 die gemeinsame Tagung der Deutschen und Osterreichischen Landesgruppe der Internationalen kriminalistischen Vereinigung in Innsbruck und der 35. Deutsche Juristentag in Salzburg (1928) über die Ausgestaltung des strafrechtlichen Unterrichtes durch Einführung kriminologischer Lehrgänge, wobei vielfach die Frage diskutiert wurde, ob das Schwergewicht dieser Lehrgänge in das Hochschulstudium oder in die Praxis zu legen sei4). Auch der I. Internationale Kongreß für Kriminologie in Rom (1938) hat die Frage der Ausbildung der Richter in einem besonderen Abschnitt der Verhandlungen beraten. Man hat mir vielfach vorgeworfen, daß ich vom U. zu viel, einfach Nichtleistbares verlange; das, was ich als notwendig bezeichne, sei so ') V g l . A r c h i v 99 S. 70. 2 ) G e l e i t e t v o n M. Bischoff. 3 ) A r c h i v 98 S. 245. 4 ) Z w e c k m ä ß i g e r w e i s e werden die G r u n d z ü g e der kriminologischen Disziplinen schon innerhalb der V o r l e s u n g e n des juridischen H o c h s c h u l s t u d i u m s d e n j u n g e n Juristen zu v e r m i t t e l n sein, weil sie d a d u r c h in die L a g e v e r s e t z t werden, ihre L i e b e und E i g n u n g f ü r diesen g a n z besonderen Z w e i g zu erproben, b e v o r sie sich e n d g ü l t i g f ü r eine b e s t i m m t e p r a k t i s c h e L a u f b a h n entscheiden. D i e E r g ä n z u n g d u r c h V e r m i t t l u n g der D e t a i l k e n n t n i s s e k a n n d a n n d u r c h I n f o r m a t i o n s k u r s e f ü r P r a k t i k e r erfolgen. V g l . hiezu die R e f e r a t e Mittermaier u n d Lenz in M i t t e i l u n g e n der J K V . , N e u e F o l g e , 1. B d . S. i 8 f f . , die G u t a c h t e n , R e f e r a t e u n d Diskussionsreden in V e r h a n d l u n g e n des 35. D e u t s c h e n Juristentages, 1. B d . S. 2 0 5 f f . u n d 2. B d . S. 4 6 8 f f . ; ferner: A. Lenz, D e n k s c h r i f t über die A u s g e s t a l t u n g des s t r a f r e c h t l i c h e n U n t e r r i c h t s , i n : G e r i c h t s Z . S. 76, S o n d e r n u m m e r ; E. Seelig, D i e A u s g e s t a l t u n g des strafrechtlichen U n t e r richts, M s c h r K r . 17 S. 60; ders., D i e kriminologische A u s b i l d u n g der juristischen O r g a n e der S t r a f r e c h t s p f l e g e , M s c h r K r . 1 9 S. 7 5 2 ; A. Unger, A r t . „ A u s b i l d u n g " i m H d K ; Sauerlandt-Seelig, D e r S t a n d des kriminologischen A u s b i l d u n g s w e s e n s , M s c h r K r . 32, S. 54. G r o ß - S e e l i g , Handbuch. 8. Aufl.

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i . Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

viel, daß dieser Forderung niemand oder nur ein kleiner Bruchteil nachkommen könne. Ich gebe zu, daß es sich um ein „sehr viel" handelt, aber das wird n i c h t v o n mir, sondern von der Sache v e r langt. Wer aufmerksam die Ergebnisse unserer Untersuchungen und Verhandlungen studiert, wird an den begangenen Fehlern ersehen können, daß unbedingt sehr viel verlangt werden m u ß , wenn nicht Unheil auf Unheil angerichtet werden soll. Allerdings gebe ich aber zu und habe es unzählige Male betont, daß man das, was man unbedingt vom U. verlangen muß, nicht als Selbstgefundenes fordern kann; es muß gezeigt und gelehrt werden. Und alles, was der U. wissen und können soll, läßt sich auf der Hochschule, so lange noch Lernens-Zeit ist, so leicht zeigen und lehren; selber erfinden ist nicht jedermanns Sache. Freilich handelt es sich heute nicht mehr bloß um die Kriminalistik, die Lehre von den Realien des Strafrechts, sondern um den ganzen Komplex der strafrechtlichen Hilfswissenschaften, um Kriminalbiologie (die ältere Kriminalanthropologie und „objektive Kriminalpsychologie" umfassend), um Kriminalsoziologie (mit ihrer wichtigen Methode: der Kriminalstatistik), um Kriminalistik i. e. S. (Technik der Verbrechensbegehung, Kriminaltaktik, Lehre von den einzelnen technologischen und biologischen Untersuchungsmethoden), schließlich noch um die Straf- und Sicherungsvollzugskunde (Gefängniskunde usw.) — mit einem Wort: um die weitverzweigte und doch systematisch aufgebaute, in sich geschlossene Wissenschaft der Kriminologie 1 ). Sie ist als selbständige Schwesterdisziplin des Strafrechts theoretisch und praktisch unentbehrlich, sie muß gelernt, daher auch gelehrt werden. Wird aber der U. in seinem Fach wissenschaftlich ausgebildet, dann, aber erst dann vermag er jede Untersuchung als das anzusehen, was sie ihm sein muß: ein w i s s e n s c h a f t l i c h e s P r o b l e m , der G e g e n s t a n d v o r a u s s e t z u n g s l o s e r F o r s c h u n g , b e i dem es ihm um E r k e n n t n i s des R i c h t i g e n und um sonst n i c h t s zu t u n sein darf.

3. Aufgabe des Untersuchungsführers. Fragen wir, wie weit der U. in seiner Aufgabe zu kommen hat 2 ), so werden wir notwendig zur Überzeugung gelangen: „ D e r U. muß bei seiner A r b e i t zu einem E r f o l g e kommen". Strebt er dies nicht an, so sinkt seine Arbeit zu einem bloßen Erledigen von Nummern, zum hastigen Hinausschaffen der Akten herab; freilich gibt es aber dann, wenn der U. sich wirklich bestrebt, bei jeder Untersuchung einen Erfolg zu erzielen, nie ein gemächliches, gleichmäßiges und ruhiges Fortarbeiten, da muß man sich immer voll einsetzen, mit ganzer Kraft arbeiten und — darf nie rasten; nervöse Leute taugen nicht zum U. 1)

Vgl. E. Seelig, Art. „Kriminologie" im H d K . Über diese Frage vgl. H. Groß in Archiv 6 S. 221, 10 S. 258, 12 S. 191, 21 S. 169. 2)

Aufgabe des Untersuchungsführers.

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Dabei soll unter dem Worte „Erfolg" wirklich das verstanden sein, was man in seinem eigentlichen Sinne darunter versteht: „Die Arbeit soll zur vollen Klarheit gelöst sein". Gelöst muß jede Aufgabe, gleichviel in welchem Fache immer, werden, wenn sie gewissenhaft unternommen wird. Das ist aber in unserem Falle anders gemeint: es handelt sich nicht um das naturgemäße und sich von selbst ergebende Weiterschreiten in einer gewissen Richtung, welches beendet ist, wenn das von Anfang an bestimmte Quantum hinter sich gebracht wurde, hier handelt es sich vielmehr jedesmal um die Lösung eines Problems. Deshalb gibt es beim U. auch keine halbe Arbeit; entweder ist das Problem gelöst und die Arbeit geleistet, er hat Erfolg gehabt, oder: es ist nichts, absolut nichts zuwege gebracht worden. Freilich darf der Erfolg nicht mit E f f e k t verwechselt werden, es soll keine Leistung mit Lärm und Aufsehen darunter verstanden sein, man meine damit nicht, es müsse um jeden Preis der Täter erforscht werden. Wohl aber heißt Erfolghaben hier nichts anderes, als: der U. muß die Sache von Anfang an so anlegen, daß er darin das Menschenmögliche leisten will, und nicht eher ruht, bis er es geleistet hat. An der Grenze des Erreichbaren angelangt ist er aber noch immer nicht, wenn nur so viel Klarheit in die Sache gebracht wurde, als man gerade hineinzubringen pflegt; das „Weiter gehts nicht" ist leicht und bequem zu sagen, sagt man sich aber immer: „Es muß noch um einen Schritt weiter gehen", so kommt man schließlich um Meilen weiter. Wir wollen gewiß den alten Inquisitionsprozeß nicht mehr heraufbeschwören, aber uns, die wir heute in allen Fächern des menschlichen Wissens nur exakte Arbeit von Erfolg gekrönt sehen, uns will es, wenn wir auf unser Fach blicken, scheinen, als ob das Humanitätsideal der liberalen Epoche unserer Sache einen schlechten Dienst erwiesen hat1). Vom grünen Tische und von der Gelehrtenstube aus wurde Humanität verordnet, man verlangte vom Richter vornehmes Fernebleiben vom ganzen Getriebe der Ereignisse im Vorprozesse, ein Leiten, aber kein Eingreifen, ein Klarlegen, aber kein Zwingen. Mit Ekstase wurden damals die Lehren der neuen Auffassung aufgenommen, aber wohin haben sie in Wirklichkeit geführt? Oft wurde die Humanität gegen den einzelnen zur Härte gegen die anderen, die Vornehmheit zur Lässigkeit, das Nichteingreifen zur Unordnung, das Nichtzwingen zum bequemen „Vorhalt" ohne die Mühe des logischen Überzeugens. Und wenn heute in so vielen Strafprozessen noch immer Ausgezeichnetes geleistet wird, so ist es nicht den noch geltenden Maximen des liberalen Strafverfahrens, sondern dem guten Willen des U. und — dem Zurückx ) Daß ich den Inquisitionsprozeß nicht will, wie mir seltsamerweise mitunter vorgeworfen wurde, beweisen die auf der vorigen Seite zitierten Arbeiten. Ich wiederhole bloß: i c h v e r l a n g e d i e U n m i t t e l b a r k e i t d e s V e r f a h r e n s i m H a u p t p r o z e ß b i s zur ä u ß e r s t e n d e n k b a r e n G r e n z e — aber damit hier wirklich unmittelbar verfahren werden kann, muß der Prozeß sorgfältig vorbereitet sein und das kann nur in einem guten, energisch geführten Ermittlungsverfahren geschehen.

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I. Abschnitt. V o m Untersuchungsführer.

greifen auf „veraltete" Lehren zu danken. Ich meine, daß das feste Anpacken der Sache noch immer das Richtige sei, daß voraussetzungsloses, energisches, oft rücksichtsloses Dreingehen allein zu Beweisen verhilft, und daß das eigene, logische Verwerten des Gefundenen schon im Vorprozesse zum „Erfolge" führt. Ob nun der U. aus dem von ihm Festgestellten die Spur des Täters anzugeben vermag, ob er den Verdächtigten überführen kann, ob er den höchsten Triumph erreicht, einem Unschuldigen den ehrlichen Namen zurückzugeben, oder ob er nur den Vorfall erklären, dies aber so weit durchführen kann, daß nicht der mindeste Zweifel darüber bestehen bleibt, wie der Hergang in seinen kleinsten, einfachsten Einzelheiten gewesen ist — das ist alles gleichgültig — , aber eines davon m u ß der U. erreichen!

4« Das Vorgehen des Untersuchungsführers. a) Feste Meinung und Plan. Ist der U. einmal an der Arbeit, so ist es d a s W i c h t i g s t e , d a ß er d e n r i c h t i g e n Z e i t p u n k t f i n d e t , in d e m er s i c h ü b e r d e n F a l l e i n e f e s t e M e i n u n g b i l d e t . Daß dieser Umstand so wichtig ist, kann nicht kräftig genug hervorgehoben werden, von ihm hängt es in schwierigen Fällen fast immer ab, ob ein gedeihlicher Erfolg eintritt oder nicht. Bildet sich der U. die feste Meinung über den Hergang zu früh, so wird sie zur vorgefaßten Meinung, die dann mit mehr oder minder großer Zähigkeit festgehalten wird, bis dies nicht mehr möglich und die wertvollste Zeit vergangen ist, so daß die richtigen Spuren verloren und häufig nicht mehr aufzufinden sind. Versäumt der U. aber den richtigen Augenblick, um sich die feste Ansicht über den Fall zu verschaffen, so wird die Untersuchung zu einem planlosen Herumtappen, einem schwankenden Probieren, einem zwecklosen Suchen. Wann dieser „richtige Augenblick" gegeben ist, läßt sich freilich weder im allgemeinen sagen, noch für den bestimmten Fall im voraus entnehmen, wohl aber kann gesagt werden, daß ihn der U. immer finden m u ß , wenn er mit gewissen, unverrückbaren Grundsätzen an die Arbeit geht, und sich stets vor Augen hält, daß die „feste Meinung" über den ganzen Fall nicht plötzlich und fertig vor ihn treten wird, sondern, daß er sich ihr Schritt für Schritt auf einem Boden nähern muß, den er sich erst zu b i l d e n hat durch das vorsichtige Schaffen von e i n z e l n e n „festen Meinungen" über einzelne Erscheinungen, Vorgänge und Ereignisse. Von allem Anfange an sollte man über den Fall gar keine Meinung haben; die Meldung, die Anzeige, darf für den U. keinen anderen Wert haben, als die Feststellung der Tatsache: „es s o l l dies und jenes dort und da geschehen sein, es k a n n darin dies und jenes Verbrechen liegen". Ebenso dürfen die angezeigten weiteren Umstände über den Täter, den Schaden, das Motiv usw. für den U. keine andere Bedeutung haben, als: „man hört, es s o l l so sein". Nehmen wir an, es handelt sich um ein

Einteilung und Plan der Arbeiten.

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wichtiges Verbrechen und der U. begibt sich auf den Tatort, wo regelmäßig eine Anzahl greller und kräftiger Eindrücke auf ihn einwirken werden, so daß er genug zu tun hat, um diese allein aufzunehmen und sie unschädlich zu machen; nun kommt auch noch dazu, daß von allen Seiten Meldungen behördlicher Organe zugehen, Berufene und Unberufene drängen sich heran, die wertvolle und wertlose Wahrnehmungen bekanntgeben wollen und die man nicht zurückweisen will, um das Brauchbare nicht zu verlieren; da gibt es genug Material, um sich, wollte man darauf eingehen, sofort eine „feste Meinung" zu bilden und auf Irrwege zu geraten. In diesen für die Untersuchung so wichtigen Momenten hat der U. eine eigentümliche Tätigkeit: er muß wie mit einem Badeschwamm alle einzelnen Tropfen aufsaugen, und dann den vollgesaugten Badeschwamm in eine Schale ausdrücken — ob das Gesammelte reine Flüssigkeit, oder unreiner Schlamm ist, sei einstweilen gleichgültig: man nimmt einfach auf und hält sich vor Augen, daß das, was im ersten Augenblick als das Unwahrscheinlichste erscheint, später oft zur Tatsache wird. In demselben Maße, in welchem die Arbeit fortschreitet, werden sich auch nach und nach einzelne Meinungen und Ansichten entwickeln und fest werden: dieser und jener Zeuge wird einen guten Eindruck machen, man wird anfangen, seinen Äußerungen Glauben beizumessen; es finden sich einzelne Dinge, die unter Umständen einen Anhaltspunkt geben können; man wird eine Vorstellung davon bekommen, wie z. B. der Täter zu dem Tatorte gekommen ist; man wird sich über die verwendeten Werkzeuge Klarheit verschaffen; es werden Momente auftreten, die den Zeitraum, wann die Tat geschehen sein kann, immer mehr einschränken. Wenn endlich eine bestimmte Anzahl von Ansichten über die einzelnen Momente der Tat festgelegt erscheint, wird man sich diese selbst in ihrem ganzen Hergange vorzustellen trachten, auch wenn dies vorerst nur in allgemeinen Umrissen möglich ist, so daß man etwa sagt: „Am ungezwungensten läßt sich alles Vorliegende erklären, wenn man diesen oder jenen Hergang annimmt" oder „So wie der Vorgang a u s s i e h t , ist die Sache gewiß n i c h t gewesen, man hat sie künstlich anders aussehen gemacht"; oder man wird einmal darüber sicher, daß dieses oder jenes Delikt vorliegt, kurz, man ist soweit gekommen, um wenigstens einen Umriß festzustellen, an welchem man einen vorläufigen Plan anschließen kann. Früher einen solchen zu fassen, wäre überflüssig und gefährlich, jenes, weil er alle Augenblicke geändert werden muß, dieses, weil man um des voreilig gefaßten Planes willen leicht in falscher Richtung arbeiten könnte. .Damit will aber nicht gesagt sein, daß man nicht von allem Anfange an eine E i n t e i l u n g aufstellen sollte, nach welcher vorgegangen werden muß, denn ohne diese wird nur herumgetappt, ohne zu finden und ohne weiterzukommen. Zwischen einer vorläufigen E i n t e i l u n g der Arbeit und einem bestimmten P l a n e ist ein großer Unterschied. Ist es aber schon schwierig, den Plan für die Untersuchung zu fassen, so ist es noch viel schwieriger, mit diesem Plane dann in der

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i. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

Untersuchung zu arbeiten. Der Plan für eine Untersuchung darf nicht mit einem Plane verglichen werden, der für gegebene willkürlich zu schaffende und willkürlich zu ändernde Verhältnisse gemacht wurde, er ist für bewegliche, vielfach noch unbekannte und nicht in der Macht des Arbeitenden gelegene Momente bestimmt, er g l e i c h t n i c h t dem R i s s e f ü r ein zu b a u e n d e s H a u s , sondern dem P l a n e f ü r einen zu f ü h r e n d e n K r i e g . Der Plan für die Untersuchung ist aufgebaut auf jene Grundlagen, die der U. zur Zeit der S c h a f f u n g h a t t e oder zu h a b e n g l a u b t e ; an diesem Plane ist energisch festzuhalten, s o l a n g e diese G r u n d l a g e n dieselben g e b l i e b e n sind, oder sich nur n a t u r g e m ä ß v e r b r e i t e r t haben. Es muß aber einiges oder alles am Plane geändert werden, sobald es klar wird, daß die Grundlagen sich geändert haben oder falsch aufgefaßt waren. Daß man dies tun muß, scheint natürlich und selbstverständlich zu sein, es liegt aber in der menschlichen Natur, daß man diesem einfachen Grundsatze nicht nachkommt. Je schwieriger man sich etwas beschafft, um so mehr hält man daran fest: deshalb sind die Dummen meistens eigensinnig, weil sie jeder Gedanke soviel Mühe gekostet hat, und was schwer erworben wurde, das gibt man ungern wieder auf. Den Plan für eine Untersuchung entwerfen ist aber schwer, und wenn man auf ihm bauend weiter arbeitet, so läßt man ihn auch nicht gerne fahren, nicht absichtlich, sondern nur mechanisch weiter arbeitend; so kann es kommen, daß man auf einmal die Wahrnehmung macht: man arbeitet mit ängstlicher Genauigkeit an seinem Plane festhaltend, dessen Grundlagen sich längst als unrichtig herausgestellt oder sich doch so verschoben haben, daß das ganze Gebäude, wenn nicht vollkommen in der Luft, so doch schief steht. Es mag eine pedantisch klingende Regel scheinen, sie bewährt sich aber immer, wenn man rät, seinen Plan für eine halbwegs wichtige Untersuchung nach jedem Schritte, jeder Zeugenvernehmung, jedem Augenscheine, jedem Gutachten, ja nach jeder selbst gemachten Kombination, neu daraufhin zu prüfen: ob die Grundlagen, auf welche hin der Plan entworfen wurde, noch dieselben sind, und wenn nein, welche Änderung daran zu machen ist. Deshalb wird man nicht bloß am leichtesten, sondern auch in der Regel am besten und sichersten fahren, wenn man den Plan tunlichst einfach konstruiert1), mit natürlichen Hergängen rechnet, nicht viel Absonderliches und Seltsames annimmt und nie die wichtige Lehre von „der einen g r o ß e n D u m m h e i t " vergißt, die fast bei jedem, besonders sehr schweren Verbrechen gemacht zu werden pflegt. Hundertmal werden Kriminalisten vom schon betretenen richtigen Wege wieder abgelenkt, bloß weil man sich sagte: „nein, so dumm kann der Täter doch nicht gewesen sein". Ebensoviele Prozesse beweisen, daß er es „In detection is the simplest hypothesis allways the best" sagt der vielerfahrene Major A. Griffiths in „Mysteries of Police and Crime", London, Cassel 1898. Freilich gibt es aber auch genug Fälle, in denen wieder Nietzsche recht hat: Simplex non est Signum veri.

Plan der Untersuchung.

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doch gewesen ist, mag da Verwirrung, Übereilung, plötzliche Angst, Eigennutz oder sonst etwas schuld gewesen sein. J a ich habe einmal1) sogar gefragt, ob das Wesen des Verbrechers nicht gerade in der Unfähigkeit besteht, große Fehler zu unterlassen; ich glaube, Seneca hat irgendwo Ähnliches behauptet. — Jedenfalls fährt der Kriminalist stets am besten, wenn er, wenigstens vorerst, den einfachsten Hergang annimmt. Pfister2) sagt mit Recht: „Die höchste Kunst des peinlichen Richters besteht darin: die Untersuchung so zu führen, daß bei Lesung seiner Akten der Eingeweihte seine leitende Hand erkennt; während der Mindererfahrene wähnet: es habe sich alles ganz von selbst so aneinandergereiht." Diese „leitende Hand" nimmt man aber nur dann wahr, wenn ein guter Plan zugrunde gelegt, stets geprüft und sicher durchgeführt wurde; wie oft sieht man aber in einer Untersuchung, daß der heutige „peinliche Richter" einen ganz guten Plan gefaßt und mit verzweifelter Festigkeit auch dann noch eingehalten hatte, als dessen Bedingungen längst nicht mehr existierten. Ein solches Fortfahren auf nunmehr als falsch erwiesener Bahn kann mitunter verhängnisvoller und gefährlicher werden als ein planloses Herumfahren; bei diesem ist es wenigstens möglich, zufällig etwas Richtiges zu finden, bei jenem aber geradezu ausgeschlossen. Am bedenklichsten für den Ausgang eines Falles steht die Sache aber dann, wenn der „Plan" dahin gegangen ist, in einer bestimmten Person den Täter zu vermuten, und wenn dann in dieser Richtung allein fortgearbeitet wurde, bis es sich zweifellos herausstellt, daß die fragliche Person nicht der Täter ist. Wenn man durch diese falsche Spur eine halbwegs nennenswerte Zeit verloren hat, so ist auch der Prozeß in der Regel als verloren zu erachten. Man hat eine gewisse Ansicht über den Hergang des Falles ausgesprochen, man hat das Beweismaterial in einer bestimmten Richtung verwertet und hat, was das Wichtigste ist, die Zeit vergehen lassen. Stellt sich nun die erste Annahme als unrichtig heraus, so muß man vor allem mit seiner eigenen und der Entmutigung des Hilfspersonales kämpfen, und wird nun irgendwie ein neuer Plan gefaßt, so fehlt ihm das richtige Entgegenkommen, das Beweismaterial sieht nicht mehr so recht verläßlich und verwendbar aus, manches ist verloren gegangen, manches nicht mehr beizuschaffen und bei jeder Vorführung eines neuen Beweises hat man dem von sich selbst oder anderen gemachten Einwände zu begegnen, daß dies bei der ersten Annahme anders oder wenigstens in anderer Richtung behauptet worden sei. Um solche Gefahren zu vermeiden, gibt es nur ein einziges Mittel: sich niemals von einer Idee allein beherrschen zu lassen, nie diese Idee allein zu verfolgen. Will man diesen wichtigen Grundsatz festhalten und doch nicht seine Kraft zersplittern, so heißt es: seine Leute haben, seine Leute kennen, seine Leute verwenden. 1

) Hans Groß in Archiv 21 S. 180. „Merkwürdige Criminalfälle", Heidelberg 1 8 1 9 — 1 8 2 0 .

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i. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

b) Verwendung der Polizei. Die Lehren dieses Handbuches gelten wie erwähnt für jeden U. — mag er als Staatsanwalt das Ermittlungsverfahren durchführen, als Richter bestimmte Beweisaufnahmen vornehmen oder eine gerichtliche Voruntersuchung führen oder den Fall als Referent der Kriminalpolizei bearbeiten. Gleichwohl paßt nicht jede Untersuchungshandlung, nicht jedes kriminaltaktische Vorgehen für die genannten Arten von Untersuchungsführern in gleicher Weise. Dies gilt vor allem von dem Konfidentenwesen, das die Polizei 1 ) niemals entbehren kann, das aber für den Staatsanwalt und den Untersuchungsrichter nicht taugt. Diese empfinden die „vertraulichen Mitteilungen" für ihre Arbeit recht störend, denn nur selten vermag die Polizei ihre Vertrauensmänner preiszugeben und dem Gerichte behufs Einvernehmung zu nennen, weil sie hiedurch für weitere polizeiliche Zwecke nicht brauchbar würden, und der Staatsanwalt oderUntersuchungsrichter kann diese vertraulichen Meldungen nur schwer überprüfen; er wird infolgedessen trachten müssen, diese Erkenntnisquelle anderweitig zu ersetzen, z. B. durch Widerlegung eines Alibi-Beweises, wenn die vertrauliche Mitteilung die Anwesenheit am Tatort behauptet u. ähnl. Ich finde übrigens, man teilt häufig der Polizei eine schiefe Stellung dadurch zu, daß man sie einmal zu niedrig, einmal zu hoch stellt; zu n i e d r i g , weil es der Staatsanwalt nicht für nötig hält, mit ihr Hand in Hand zu gehen, gemeinschaftlich zu arbeiten, und weil er die Grenzlinie zwischen seiner Leistung und der der Polizei allzuscharf zu ziehen pflegt; zu h o c h , weil der Staatsanwalt die Polizei ganz selbständig stellt, sie tun läßt, was sie will, und dann lediglich als fertig und zweifellos das hinnimmt, was sie auf eigene Faust gearbeitet hat. Die richtige Stellung wird die Polizei erst haben, wenn der Staatsanwalt und Untersuchungsrichter sich ihr k o o r d i n i e r t und im wohlverstandenen Interesse der Sache gleichmäßig m i t der Polizei arbeitet, sie von allem Geschehenen Die ältere Literatur über die Polizeitätigkeit s. R. v. Mohl, System der Präventivjustiz, Tübingen 1834; Niceforo-Lindenau, Die Kriminalpolizei und ihre Hilfswissenschaften, Großlichterfelde 1909; J. Ottolenghi, Trattati di Pol. scient., Roma, Milano, Napoli 1910; F. Paul, Die Reform der Kriminalpolizei, Archiv 36 S. 1; Küttig, Zur Reform unserer Kriminalpolizei, Archiv 40 S. 1; Bell, Reichskriminalpolizei, Archiv 72 S. 161; Heindl, Die sächsische Landeskriminalpolizei, Archiv 72 S. 171. Neuere Literatur über die Organisation der Polizei und ihr Verhältnis zur Staatsanwaltschaft: Stieber-Schneickert, Praktisches Lehrbuch der Kriminalpolizei, Potsdam 1921; Lichem, Die Kriminalpolizei, Graz 1935; A. Böhme, Neue Wege der Kriminalpolizei, Archiv 89 S. 129; May, Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei, Ztschr. f. d. ges. Strafrechtsw. 52 S. 612; Schneidenbach, Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei, Gerichtssaal Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei (ebenda); Fiad, Staats106; Klaiber, anwaltschaft und Ermittlungsverfahren nach französischem Recht, MschrKr. 22 S. 279; K. Peters, Zur Neuordnung des Strafverfahrens, Ztschr. f. d. ges. Strafrechtsw. 54 S. 34; Becker, Das Verhältnis der Staatsanwaltschaft z. Kriminalpolizei im neuen Strafverfahren, Deutsches Strafrecht 5 S. 167; Schinnerer, Wirkungskreis und Organisation der Staatsanwaltschaften, 1938; Nebe, Aufbau der deutschen Kriminalpolizei, Kriminalistik 12 S. 4; Gürtner, Das kommende deutsche Strafverfahren, 1938.

Verwendung der Polizei.

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und erst zu Geschehenden fortwährend in Kenntnis setzt, und nur den einen Stolz kennt, die Arbeit zu einem gedeihlichen Ende zu bringen. Geht er aber einerseits stets ohne Überhebung mit der Polizei, so verlange er dann auch anderseits nachdrücklich, daß die Leitung der Erhebungen sofort und ganz in seine Hand übergehe, daß nichts geschehe, von dem er nicht Kenntnis hätte, daß aber auch alles durchgeführt werde, was und wie er es angeordnet hat. In diese Stellung wird sich jeder pflichttreue Polizeibeamte gerne und willig finden; es wird dies zum Besten der Rechtspflege dienen und" der U. wird „Leute" zur Verfügung haben, die ihm ergeben sind und im Vertrauen auf seine Anordnungen gut und rasch arbeiten. Diese Leute muß der U. aber kennen, überhaupt kennen, und ihre Ansicht über den besonderen Fall kennen. Hat sich nun ein wichtiger Fall soweit geklärt, daß der Verdacht gegen eine bestimmte Person rege wurde, oder daß die möglichen Lösungen deutliche Formen gewonnen haben (z. B. Raub oder Fiktion eines solchen zur Verdeckung einer Veruntreuung, Brandstiftung durch A oder Assekuranzbetrug durch B), so wird sich der U. im Verlaufe des Prozesses in irgendeiner Richtung entscheiden und einer Ansicht Raum geben müssen. Sagen wir also, es läge genug Material vor, um den A der Tat dringend für verdächtig zu halten, ihn zu verhaften usw. Wie nun erwähnt, darf der U. nicht blindlings in der Richtung arbeiten, daß nur der A der Täter sein könne, er darf aber auch nicht zum Schaden der Sache gleichzeitig in mehreren anderen Richtungen selbst tätig sein. Da muß der U. seine Leute haben, kennen und verwenden. Haben wird sie der U., wenn er mit den in Betracht kommenden Polizeiorganen gut steht; kennen wird er sie, wenn er jetzt und auch schon früher mit ihnen in fortwährender Verbindung stand; richtig verwenden wird er die Leute, wenn er sie — allerdings zuerst nach ihrer Natur und Kultur — dann aber nach ihrer Ansicht über den Fall verwendet; man macht der Auffassung des Mannes ein Zugeständnis und verwendet ihn an passender Stelle. Nehmen wir nun an, es hätten gerade mehrere Polizeiorgane den ersten Verdacht gegen den A rege gemacht, so wird man ihren Eifer und guten Willen am besten dadurch ausnützen, daß man sie gerade zur Verfolgung der weiteren Spuren in dieser Richtung verwendet und sie noch andere Verdachtsgründe gegen den A suchen läßt. Ist nun der Verdacht gegen diesen nicht erdrückend, so wird es dem U. nicht entgehen, daß einige der Polizeiorgane wieder anderer Ansicht sind, und gegen B Verdacht haben; da diese Organe wohl auch ihre Motive für ihre Ansicht haben werden, so wird der U. diese Gründe hören, und wenn sie nicht durch irgendwelche Gegengründe als a b s o l u t haltlos erscheinen, so wird er gerade jenen Polizeiorganen, welche diese Ansicht gewonnen haben, die weitere Verfolgung der betreffenden Spuren gegen B überlassen; gibt es noch eine weitere Ansicht in der Sache, die von anderen Polizeiorganen vertreten wird, so wird er wieder diesen die Aufsicht über das Kind ihrer Kombinationen übertragen und sicher

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i. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

sein, daß sich dieses in der besten Pflege befindet. Ist so dafür Sorge getragen, daß jede nur denkbare Richtung, in welcher etwas zu finden sein könnte, gehörig besetzt ist, so kann der U. selbst mit ganzer Kraft dort arbeiten, wo er auf dem richtigen Wege zu sein glaubt; er wird nur von Zeit zu Zeit die Berichte der anderen, in anderer Richtung Forschenden einholen, das Gebotene prüfen und mit seinen eigenen Resultaten vergleichen. Kommt es auch nicht dazu, daß der U. zur Überzeugung gelangt, die andere Spur sei die richtigere, so wird doch manche bedenkliche Überraschung verhindert. Oft genug geschieht es sonst, daß man den „Richtigen" zu haben vermeint und dem U. einliefert; die Polizei glaubt das Ihrige getan zu haben und legt die Hände in den Schoß. Der U. untersucht darauf los und muß schließlich den „Richtigen" frei lassen, was die Polizei nun verdutzt vernimmt; zu machen ist nichts mehr, und der Fall gilt als „bis auf weiteres" beendet. Das „Weitere" kommt aber nicht. Ein wichtiges Moment im Verkehre mit den Polizeiorganen ist ferner die Behandlung begangener Fehler. Es ist selbstverständlich, daß der U., streng gegen sich selbst, auch streng von allen, die mit ihm und unter ihm arbeiten, die äußerste Pflichterfüllung verlangt und unnachsichtlich vorgeht, wo er eine Pflichtverletzung wahrnimmt. Kommen aber Fehler vor, so benehme man sich diesen gegenüber, wenn es wirklich nur Irrtümer waren, auf das nachsichtigste und präge es den unterstehenden Organen ein, daß vielleicht nirgends so notwendig ein begangener Fehler rasch einbekannt werden muß, als bei der Handhabung des Sicherheitsdienstes und der Gerechtigkeitspflege. Man muß sich vor allem klar halten, daß wohl nirgends leichter ein Fehler begangen werden kann als hier, so daß er auch nirgends leichter verziehen werden sollte. Man muß es auch immer wiederholen, daß nirgends ein begangener und fortgeschleppter Fehler verhängnisvoller und gefährlicher werden kann, als bei der Erforschung eines Verbrechens und seines Täters; es muß aber endlich auch betont werden, daß nirgends ein Fehler so vollkommen und gründlich wieder gut gemacht werden kann, wenn er nur so rasch als möglich eingesehen und offen einbekannt wird. Keine Fehler zu machen, kann auch hier von niemandem verlangt werden, jeden Fehler aber sofort zugeben und selber aufdecken, das ist das dringendste Postulat an die Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit jedes Kriminalisten. Fragt man noch, auf was das Augenmerk der Polizei durch den U. zu richten sei, so muß geantwortet werden, daß dies im großen und ganzen allein vom fraglichen Falle abhängt, so daß allgemeine Richtlinien nicht gegeben werden können. Wohl aber kann gesagt werden, daß die Haupttätigkeit des U. dahin gehen muß, den unterstehenden Leuten den speziellen Fall zu individualisieren. Dies kann nur der gebildete, psychologisch gebildete Mann tun, der geübteste Polizeimann vermag vielleicht alles zu leisten, was in sein Fach gehört, aber i n d i v i d u a l i s i e r e n kann er nicht, das muß der U. tun, indem er den betreffenden

Heranziehung von Auskunftspersonen.

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Fall aus der Menge anderer ähnlicher Fälle herausschält, das Eigentümliche in bezug auf die Tat selbst, den Beschädigten und Verdächtigen aufsucht und so die Wege ausschließt, auf welchen vorliegend nicht zu suchen ist. So wenig es nun dem Polizisten möglich ist, diese Individualisierung selbst vorzunehmen, so leicht gelingt es ihm in der Regel, auf das ihm Gezeigte einzugehen und das Besondere des Falles aufzufassen, wenn er einmal darauf aufmerksam gemacht wird. Endlich ist es noch Sache des U., bei schweren Verbrechen — wir sprechen hier nur von der Großstadt1) — auf die wichtigen Auskunftspersonen zu achten: die Mietkutscher2), Dienstmänner und Prostituierten3). So bekannt die Wichtigkeit dieser Leute für unsere Fälle ist, so oft wird es doch versäumt, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Daß diese Leute so wichtig sind, hat einen dreifachen Grund: Der erste liegt darin, daß sie keine regelmäßige Beschäftigung und infolgedessen oft einen größeren Teil des Tages Zeit und Gelegenheit zu Beobachtungen haben. Weiters haben diese Leute in der Regel ihre bestimmten Reviere und in diesen beobachten sie dann in ihrer Langeweile einerseits das Regelmäßige, andererseits das Außergewöhnliche. Von ihnen ist also sehr oft zu erfahren, wie es bei diesem oder jenem (Beschädigten oder Täter) r e g e l m ä ß i g zugegangen ist, was er tat und ließ, mit wem er verkehrte, was er einnahm und ausgab, wann er ausging und heimkam usw.; sie wissen aber auch, was (zur Zeit der Tat) A u ß e r g e w ö h n l i c h e s in Ausgaben, im Verkehre, im Ausgehen, im Benehmen usw. vorgegangen ist. Hat man diese beiden Momente festgestellt, so ist auch oft der Faden zur weiteren Abwicklung gefunden. Der z w e i t e Grund für die Wichtigkeit der genannten drei Menschengruppen liegt nicht so sehr in ihnen, als in der Person des Verbrechers, da dieser in vielen Fällen vor oder meistens nach der Tat mit ihnen in Verbindung treten wird: er hat oft nach VerÜbung des Verbrechens Geld im Besitze und wird trachten rasch und möglichst ungesehen vom Tatorte fortzukommen: hiezu bedient er sich des Mietkutschers. Er hat Briefe zu bestellen, Sachen zu verwerten oder einzukaufen: hiezu bedient er sich des Dienstmannes. Er will sich endlich unterhalten und zerstreuen: da muß die Prostituierte heran. Der d r i t t e Grund der Wichtigkeit dieser Leute ist ihre ausgedehnte, fast organisch gegliederte Verbindung untereinander. In einem gewissen Umkreise kennt ein Mietkutscher fast alle anderen Kutscher, ein Dienstmann die anderen Dienstmänner, eine Prostituierte die anderen ihres Berufs, sie sind untereinander in Verbindung und was die einen ') Vgl. Roscher, Bedürfnisse der modernen Kriminalpolizei, Archiv 1 S. 244. s) Dasselbe gilt heute von den Taxichauffeuren. Über den Zusammenhang zwischen Prostituierten und der Verbrecherwelt vgl. die gute anonyme Schrift „Kriminalistische Streifzüge; Betrachtungen eines unpolitischen Praktikers", Berlin 1894, Sigismund. Ferner: C. Lombroso, Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte, übers, von Kurella, 1894; Ottolenghi, Prostitution und Kriminalität, Rassegna di studi sessuali, Bd. 1; P. 8)

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i. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

wissen, erfahren die anderen und so kann auch der Polizeimann in der Regel von ihnen erfahren, was er braucht. Freilich gelingt das nicht, wenn der Polizist erst am Tage nach einem großen Morde die nötigen Bekanntschaften mit Kutschern, Dienstmännern und Prostituierten anknüpfen wollte, das muß lange eher geschehen sein, er muß seine Leute kennen und ihr Vertrauen genießen, dann erfährt er etwas, wenn er es braucht, und der U. muß derjenige sein, der seine Polizisten auf die Wichtigkeit dieser Momente im voraus aufmerksam macht. Nicht Häscher und Spione soll er züchten, er soll nur veranlassen, daß eine Anzahl von Menschen bestimmt werde, im Dienste der Justiz mitzuwirken. In England und Frankreich weiß man das schon lange, bei uns viel zu wenig. Zu den unverlässigsten Zeugen gehören die Gastwirte vom Lande. Ihre Aussagen lauten gewöhnlich dahin, sie seien gerade mit dem Bedienen eines Gastes, mit der Entgegennahme einer Zahlung beschäftigt gewesen und haben daher von den Vorfällen keine Kenntnis. In den meisten Fällen ist das nicht wahr; der Wirt will nur nichts gesehen haben, um sichs mit niemandem zu verderben oder weil er die Rache des Beschuldigten und dessen Sippe befürchtet. Seltener, aber um so gefährlicher sind die Fälle, in denen der Wirt bemüht ist, einen ihm lästigen Gast, der ihm z. B. in seiner Streitsucht andere Gäste verjagt, los zu werden, und infolgedessen — oft vielleicht unbewußt — seine Aussage färbt. c) Gherchez la f e m m e . Ein Wort, welches dem U. oft viel Hilfe gewähren kann, ist das alte „cherchez la femme". Dieser Ruf klingt romanhaft und abgebraucht zugleich, aber jeder erfahrene Praktiker wird bestätigen, daß an der Sache wirklich etwas daran ist 1 ). Allerdings kann man hiebei in zweifacher Weise fehlgehen: entweder wenn man glaubt, es müsse jedes Verbrechen von einer Frau angestiftet worden sein, oder aber wenn man sich in dieser Richtung damit zufrieden gibt, daß nur überhaupt in der Untersuchung der Name einer Frau genannt worden ist. Im ersteren Fall ist man zu weit gegangen, im zweiten ist man noch nicht am Ziele. Richtig gehandelt wird, wenn man ohne pedantische Starrsinnigkeit darauf hinarbeitet, als Agens im Straffalle ein weibliches Dufour, Geschichte der Prostitution, Berlin 1 9 2 5 (Originalausgabe Brüssel 1 8 6 1 ) ; J. Hermann, Die Prostitution und ihr Anhang, 1905; L. Kemmer, Die graphische Reklame der Prostitution, 1906; Baumgarten, Polizei und Prostitution, Archiv 8 S. 2 3 2 ; ders., Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen, Archiv 1 1 S. 1 ; Fehlinger, Das britische Gesetz zur Unterdrückung der Prostitution, Archiv 5 1 S. 2 8 1 ; Coester, Sittenkontrolle und Verbrechensbekämpfung, Deutsche Strafrechts-Ztg. 8 S. 2 8 3 ; Hübner, Über Prostituierte und ihre strafrechtliche Behandlung, MschrKr. 3 S . 6 4 1 ; K. Schneider, Studien über Persönlichkeit und Schicksal eingeschriebener Prostituierten, 1 9 2 1 ; v. d. Laan, Das Zuhältertum in Mannheim, MschrKr. 24 S. 4 5 7 ; Hagemann, Art. „Prostitution" im H d K . ') Vgl. den interessanten Straffall, den Horch in Archiv 73 S. 8 „Familienmord und cherchez la femme" veröffentlichte.

Cherchez la femme.

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Wesen zu finden. Nicht immer muß die Idee zum Verbrechen von einer Frau ausgegangen sein, wohl aber wird man häufig finden, daß die wichtigsten Handlungen des Verbrechers vor oder nach der Tat wegen einer Frau oder für sie begangen wurden. Die Sache ist nicht so gleichgültig. Wir fühlen uns immer dann nicht sicher, wenn wir irgendein wichtiges Moment in der Untersuchung motivlos hinstellen müssen, und messen einem Vorgang so lange keine Bedeutung bei, als wir nicht wissen, was ihn in Bewegung gesetzt hat. Man wird dann immer gut tun, wenn man vorerst annimmt, daß eine Frau dahintersteckt; es m u ß ja nicht so sein, aber Erhebungen in dieser Richtung sind immer zu empfehlen. Von den einfachsten Vorgängen an: wenn der Bauernknecht Weizen stiehlt, um seinem Mädel ein Paar Schuhe kaufen zu können, oder wenn der brave Holzknedit zum Wilddiebe wurde, um vor seiner Geliebten in neuen wildledernen Hosen glänzen zu können, angefangen, bis zu einem hochpolitischen Prozesse, in welchem eine beleidigte Schönheit Anhänger geworben, um staatsstürzende Pläne durchzuführen, überall finden wir die Frau. Eigentumsdelikte werden begangen, um die Braut heimführen zu können oder um das Erbeutete mit Dirnen zu verprassen; Raufereien entstehen in der Mehrzahl auf dem Tanzboden wegen der Mädchen; das sicherste Versteck für Geraubtes ist bei einer unschuldig aussehenden Frau und das Fliehen und Verbergen von Verbrechern ist meistens mit Hilfe von Frauen geschehen. Bei großen Betrügereien und Münzfälschungen geschieht das Verbreiten des Verfälschten fast immer durch die Frauen; die berüchtigten Spielhöllen stehen unter dem Patronate einer Frau. Alle ungezählten Verbrechen, die auf Liebe zurückzuführen sind, geschahen wegen der Frau, und viele sind zu Berufsverbrechern herabgesunken aus dem U m g a n g e mit Trauen und das alles nicht bloß in Romanen. Freilich, nicht bloß die Gerechtigkeit gegenüber dem weiblichen Geschlecht, sondern auch die kriminalistische Erfahrung gebietet darauf hinzuweisen, daß das Umgekehrte ebenfalls gilt: hinter einem „unmotivierten" Tun einer Frau, das mit ihrem sonstigen Verhalten in Widerspruch steht, ist fast stets ein Mann zu suchen. Als man bei der österreichischen Postsparkasse auf Fehlbeträge stieß, die durch geschickte Überweisungen verschleiert waren, entpuppte sich als Täterin eine Beamtin, die infolge ihrer vieljährigen, ausgezeichneten Dienstleistung das größte Vertrauen genoß. Das alternde Mädchen hatte einen Freund gefunden, dem sie in an Hörigkeit grenzender blinder Liebe ergeben war; der gewissenlose Bursche nützte dies aus und stellte immer höhere finanzielle Ansprüche, die sie schließlich nicht anders befriedigen konnte, als daß sie sich unter schwersten Gewissensqualen an den ihr anvertrauten Vermögenswerten vergriff 1 ). Ein sogenanntes /.Krisenverbrechen" nach Seelig, Das Typenproblem in der Kriminalbiologie, Journal f. Psychol. u. Neurologie 42 S. 515.

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i . Abschnitt. V o m Untersuchungsführer.

5. Von der vorgefaßten Meinung. a) Falsche Vorstellungen. Der oben angedeutete Vorgang, in welchem man gleichlaufende Erhebungen, gewissermaßen Kontroll-Erhebungen pflegen läßt, ist auch das beste und eigentlich so ziemlich einzige Mittel gegen die großen Gefahren, welche sich aus den „vorgefaßten Meinungen", diesen ärgsten Feinden der Untersuchungen, zu ergeben pflegen1). Die vorgefaßten Meinungen sind um so gefährlicher, als ihnen gerade die eifrigen und an ihrer Arbeit interessierten U. am leichtesten verfallen; der handwerksmäßige, gleichgültige Kriminalist macht sich überhaupt nicht viel Gedanken über seine Fälle und läßt die Sache sich so entwickeln, wie die Verhältnisse es geben. Aber gerade beim eifrigen Graben und Grübeln findet sich leicht ein Anhaltspunkt, der in seiner Bedeutung entweder falsch aufgefaßt oder mit übertriebener Wichtigkeit versehen wird, und dazu führt, daß sich der U. alsbald eine „Meinung" über den Fall bildet; diese wird nicht mehr leicht fallen gelassen. Man hat bei einigermaßen strenger Selbstbeobachtung (bei anderen kann man diese rein psychischen Vorgänge wohl nur ausnahmsweise verfolgen) oft Gelegenheit, das Entstehen solcher vorgefaßter Meinungen zu studieren und staunt häufig, wie aus zufälligen, fast gleichgültigen oder bedingten Wahrnehmungen eine Ansicht entstehen konnte und wie man später nur mit der größten Mühe von ihr sogar dann schwer loskommen kann, wenn man längst ihre Haltlosigkeit erkannt hat. Bevor man oft von einer Sache mehr weiß, als daß „Etwas" geschehen ist (beim Warten auf den Inquisiten, beim Gange zum Tatorte usw.), drängt sich unwillkürlich eine Vorstellung auf, sicher nicht ganz grundlos, aber oft nur äußerlich zusammenhängend: man hat einmal etwas Ähnliches gehört, es ist anderwärts etwas Gleichartiges geschehen, man hat „sich schon lange gedacht* daß dies so und so kommen werde", genug, man tritt der Sache nicht frei näher; nun kommt eine zufällige Äußerung eines andern dazu* eine Stimmung wirkt unterstützend, eine gewisse Physiognomie kann auch das ihre beitragen, tausend andere Zufälle, namentlich weitabführende Ideen-Assoziationen können mitwirken und schließlich ist die „vorgefaßte Meinung" fertig, ohne daß eigentlich eine juristische und durch die Tatsachen begründete Unterlage überhaupt schon dagewesen wäre: sogar der Klang eines Namens kann da mitwirken. Dazu kommen noch andere Momente. Man fixiert seine Ansicht über etwas Mufig dahin, daß man sich sagt: „ W e n n sich der Umstand A und B erweisen läßt, dann ist die Sache so und so aufzufassen." Dies mag korrekt geschlossen sein. Die Erweisung des Umstandes A und B zieht sich nun aus irgendeinem Grunde länger hinaus, man hat aber immer die genannte Auffassung im Kopfe, die sich so festsetzt, daß sie dann, wenn sich die Umstände A und B als ganz anders erwiesen haben, noch immer sitzen bleibt» *) Vgl. H. Groß, Krimmalpsychologie, 2. A u f l . , Vogel, Leipzig 1905.

Jede Übertreibung ist zu vermeiden.

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obwohl die Voraussetzungen, die man sich selbst gestellt hat, um die Auffassung als richtig gelten zu lassen, n i c h t eingetroffen sind. Häufig kann es auch geschehen, daß man eine vorgefaßte Meinung durch eine falsche Stellung zur Sache erhält; so wie es optisch möglich ist, daß man durch gewisse Situationen einen Gegenstand als etwas anderes sieht, so kann es auch psychisch geschehen, daß man einen Fall falsch angesehen hat und sich um keinen Preis mehr in eine andere Lage begeben will, sondern sich immer wieder so stellt, daß man bei seiner „vorgefaßten Meinung" verbleibt. Da können an sich unbedeutende unrichtige Vorstellungen verhängnisvoll werden. Sagen wir, es sei eine Brandlegung in einem entfernter gelegenen Orte angezeigt worden. Unwillkürlich stellt man sich die ganze Sachlage lebhaft vor, und denkt sich das Gebäude, welches abgebrannt ist und das man von früher nicht gekannt hat, z. B. l i n k s von der Straße gelegen vor. Im Laufe der am Gerichtsorte vorgenommenen Erhebungen wird diese Vorstellung immer deutlicher und kräftiger, man sieht im Geiste den ganzen Vorgang und alle Nebenumstände, aber alles immer l i n k s von der Straße; diese Vorstellung wird zuletzt so fest, daß man überzeugt ist, das Haus liege links, und daß man alle Vernehmungen so macht, als ob man das Haus d o r t gesehen hätte. Wenn nun aber das Gebäude r e c h t s von der Straße liegt, wenn dieser Umstand nicht zufällig richtiggestellt wird, und wenn in der Klarstellung des Sachverhaltes und in der Beweisführung dieser Umstand irgendwie von Wichtigkeit ist, so kann die falsche Vorstellung trotz ihrer scheinbaren Gleichgültigkeit bedeutende Verwirrungen anstellen. Schlimmer als alle diese Vorgänge, die schließlich doch nur auf psychischen Mängeln beruhen, denen wir alle unterworfen sind, wirken Erscheinungen, die ihren Grund in dem Bestreben haben, aus seiner Sache mehr zu machen, als an ihr ist. Es ist selbstverständlich, daß kein Richter je doloserweise, auch nur im entferntesten, etwas anders, größer darstellen wollte, als es in Wahrheit ist, aber es liegt eben tief in der menschlichen Natur, daß man das Interessante lieber sieht als das Alltägliche, daß man oft gerne einen romantischen Zug entdeckt, wo er nicht vorhanden ist, ja daß selbst das Ungeheuerliche, Grauenhafte lieber gehört wird, als das einfach Gemeine, Gewöhnliche, daß man zum mindesten eine Zahl, die ein Ereignis zum Ausdruck bringt, etwas höher ansetzt, als es der Wahrheit entspricht. Dies ist in jedermanns Natur eingepflanzt, offener oder verdeckter, es ist gewiß da, und hundert Erfahrungen darüber, was mehr gelesen, lieber gehört und rascher verbreitet wird, zeigen uns, daß ein Hang zur Übertreibung den meisten Menschen mit ins Leben gegeben wurde. Er ist an sich nicht so schlimm; der Hang zur Übertreibung ist auch Hang zum Verschönern und gäbe es keine Übertreibung, so fehlte uns der Begriff des Schönen, der Begriff der Poesie. Aber von unserm Fache muß alles, was nur eine Spur von Übertreibung in sich hat, auf das nachdrücklichste und gewissenhafteste fernegehalten werden, soll sich nicht der

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i . A b s c h n i t t . V o m Untersuchungsführer.

U. zu einem unbrauchbaren, im hohen Grade gefährlichen Kriminalisten gestalten. Man sage nicht, es sei doch selbstverständlich, daß ein U. sich Übertreibungen nicht zuschulden kommen lassen wird. Möge jeder seine und anderer Arbeiten daraufhin durchsehen und eingehend forschen, ob er keine Spuren von Übertreibungen findet; sie schleichen sich unwillkürlich ein und sind sie einmal da, so weiß niemand, wo sie ihre Grenzen finden. Ich erinnere z. B. an die Strenge, mit der U. Wilddieben entgegenzutreten pflegen, wenn sie selbst Jagdliebhaber sind oder an die unwillkürliche Furcht vor Schädigung durch einen Menschen, der verdächtig ist, in der Umgebung des eigenen Heimes gewerbsmäßig gestohlen zu haben u. ähnl. Welche suggestive Wirkung Stand, Reichtum 1 ), Volkstümlichkeit, Ruf und Macht, namentlich wenn diese bloß auf Schrecken aufgebaut ist, auszuüben vermögen, ist bekannt. Da hilft nur die strengste Selbstzucht, das fortwährende Erwägen und das gewissenhafteste Ausmerzen alles dessen, was sich nur im entferntesten als Übertreibung oder als ergänzende oder erklärende Ausschmückung der Wirklichkeit darstellt. Gerade weil man von guten Untersuchungsführern einen gewissen Schwung, einen frischen Zug verlangen muß, wird man auch in den Besten von ihnen eine leise Regung der „Lust zum Fabulieren" finden; diese muß durch genaue Selbstbeobachtung entdeckt und durch strenge Selbstdisziplin beseitigt werden. Ein bedeutender Psychiater 2 ) hat einmal behauptet, Künstler, Dichter und Schauspieler von Bedeutung seien „meist neuropathische Individuen". Hiermit behauptet er wohl nicht, daß die Beschäftigung mit Kunst, Dichten und Mimen verrückt mache, sondern daß eine gewisse neuropathische Veranlagung die Betreffenden zu dem werden ließ, was sie geworden sind. Diese Veranlagung haben nun aber nicht bloß jene, die offiziell unter dem Namen Dichter, Künstler und Schauspieler herumgehen, sondern auch sehr viele, die sich einem minder poetischen Erwerbe hingeben, und wenn auch ihre Anlagen nicht so geartet sind, um, nach Krafft-Ebing, als neuropathisch bezeichnet werden zu müssen, so entspricht es doch der Eigenart ihrer Persönlichkeit, daß ihr künstlerischer Zug auch ihre Berufsarbeit beeinflußt. Ich wiederhole: die so Beschaffenen sind auch als U. gerade die Besten, aber sie haben auch die größte Verantwortung bei der Geltendmachung ihrer Anlagen. Eine besondere Art der vorgefaßten Meinung besteht in dem Festhalten dessen, was z u e r s t angezeigt wurde. Die erste Anzeige ist verfaßt nach dem ersten Eindrucke, den die Sache gemacht hat, und nach ') Näcke,. Stand und R e i c h t u m als gefährliche Suggestionsfaktoren beim Richter, A r c h i v 49 S. 187. 2) v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie, S t u t t g a r t 1897. Die B e ziehungen zwischen G e n i e u n d I r r s i n n , richtiger: zwischen künstlerischer und psychopathischer Anlage, hat seinerzeit Lombroso in zahlreichen Arbeiten (Genio e follia, 1863, 4. A u f l . 1882; Studien über Genie und E n t a r t u n g , übers, von Jensch, Reclam 1910) behandelt. F a s t alle neueren Psychiater, wie Bleuler, Bumke, Kraepelin, Kretschmer u. a. haben zu diesem Problem Stellung genommen. Vgl. W. Lange-Eichbaum, Genie, Irrsinn und R u h m , München 1928 (mit u m fassenden Literaturangaben).

Vorgetäuschte Verbrechen.

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diesem war ja jene völlig gerechtfertigt; eine andere Frage geht aber dahin, ob das zuerst Gesehene wohl im Laufe der Erhebungen noch denselben Anblick bietet, wie im Anfange. Daß sich Einzelheiten ändern, ist selbstverständlich und soll hier nicht weiter besprochen werden, gemeint ist hier hauptsächlich das Delikt selbst. Die wichtigsten hieher gehörigen Fälle sind jene, in welchen Mordtaten als Selbstmorde oder „rätselhafte Todesfälle" angezeigt werden; auf derartige Fälle kann man nicht genau genug sehen; von ihnen wird später gesprochen werden1). Weiteres Augenmerk ist zu richten auf angeblich Ertrunkene, Abgestürzte, Erstickte und an „plötzlichen Erkrankungen" (mit Erbrechen, Durchfall, Krämpfen usw.) Verstorbene; wir können mit Sicherheit annehmen, daß ein erschreckend großer Prozentsatz dieser Leute durch fremde Hilfe gestorben ist. b) Vorgetäuschte Verbrechen.

Aber auch eine Anzahl sonstiger „Verbrechen" stellt sich oft als etwas anderes dar, als ihrem gewollten Aussehen entspricht. Der erfahrene Kriminalist begegnet einer ganzen Reihe von Verbrechen schon von vorneherein mit Mißtrauen und hält sich die Frage offen, ob nicht etwas anderes vorliegt2). Hierzu gehört in erster Linie der Raub. Dieses schwere Verbrechen kommt heute in den europäischen Kulturstaaten — von den Gangstermethoden in Amerika wollen wir absehen — infolge der gebesserten Verkehrs- und Sicherheitsverhältnisse verhältnismäßig selten vor, wird aber häufig dann vom „Beraubten" behauptet, wenn der Verlust von Geld usw. maskiert werden soll. Man wird also immer behutsam vorgehen, wenn behauptet wird, daß namentlich a n v e r t r a u t e s Geld „geraubt" worden sein soll; selbst schwere Verletzungen, die der Beraubte erlitten haben will, dürfen nicht irreführen: solche hat sich der Mann, der anvertrautes Geld verloren, verspielt, vergeudet oder versteckt hat, oft genug selbst zugefügt. Zwei Fälle sind mir selbst vorgekommen, in welchen der Bauer den eingenommenen Viehkaufschilling verspielt hat und Beraubung fingierte, bloß um sich vor seiner Frau zu sichern. Ähnlich verhält es sich mit der Notzucht, welche so oft fingiert wird, um den Verlust jungfräulicher Ehre zu maskieren und allgemeines Mitleid und Bedauern statt Schande einzuheimsen. Überfälle von Unbekannten, von Handwerksburschen, Zigeunern usw. sind häufig gelogen worden; bedenklicher sind Verleumdungen bestimmter Personen. Fast ausnahmslos wird in solchen Fällen nicht der eigentliche Verführer der Notzucht geziehen; dieser wird geschont, und es wird gewartet, bis die Betreffende ihrer Schwangerschaft sicher ist; nun kommt es darauf an, daß es ihr gelingt, von einem anderen „verführt" zu werden, und erst dieser wird dann einer Notzucht beschuldigt. ') Vgl. die Kapitel über Vergiftungen, Erschießen, Erdrosseln und Selbstmord, im Abschnitt X V I . *). Vgl. Polke, Vorgetäuschte Verbrechen, Archiv 95 S. 104; Schneickert, Kriminaltaktik. Berlin 1940, S. 116 ff. G r o ß - S e e l i g , Handbuch. 8. Aufl.

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I. A b s c h n i t t . V o m U n t e r s u c h u n g s f ü h r e r .

Leider läßt sich der Beweis der Verleumdung in solchen Fällen oft erst spät, d. h. bei der Geburt des Kindes, führen, wobei es sich zeigt, daß dieses viel früher konzipiert worden sein muß, als die „Notzucht" geschah. Man versäume es daher in einem solchen Falle niemals, s o f o r t bei der Geburt das Kind von Sachverständigen auf seine Reife untersuchen zu lassen — denn wie erwähnt: zur Zeit der „Notzucht" war die Betreffende schon längst schwanger. Während in diesen Fällen durch das fingierte Verbrechen ein eigenes Verheilten maskiert werden soll, das zwar nicht gerne eingestanden wird, aber selbst nicht strafbar ist (Vergeudung des erlösten Kaufschillings, außerehelicher Geschlechtsverkehr), wird in anderen Fällen ein Verbrechen vorgetäuscht, um dadurch die Aufdeckung eines eigenen schweren Verbrechens zu verhindern. So beschuldigten in einem vom Psychiater H. W. Maier (Zürich) berichteten Fall1) Vater und Tochter übereinstimmend einen alten Kutscher der Verführung an dem 15 % jährigen Mädchen, um ihr eigenes blutschänderisches Verhältnis, das nicht ohne Folgen geblieben war, zu verdecken. Der verleumdete Kutscher wurde in allen Instanzen verurteilt, erst nach 2 Jahren kam durch Selbstanzeige des Mädchens und das darauf folgende Geständnis des Vaters der wahre Sachverhalt auf. Selbstverletzungen2) kommen nicht selten vor; abgesehen von Versicherungsbetrug und fingierten Raubanfällen, stößt man auf sie, wenn Entschädigungen erpreßt werden sollen; so geschieht es, daß nach einer harmlosen Balgerei einer der Kämpfenden mit Verletzungen auftritt, die er damals erlitten haben will. Hierher gehören auch jene Fälle, in welchen schon lange bestandene Schäden einem bestimmten Täter als eben zugefügt aufgehalst werden sollen; berüchtigt sind in dieser Richtung alte Luxationen, Gesichts- und Gehörsleiden und hauptsächlich Leibschäden. Vielleicht die Hälfte von solchen Leiden, die bei Prügeleien, Mißhandlungen usw. entstanden sein sollen, sind alten Datums. Ähnlich verhält es sich mit Verletzungen durch Maschinen, Jagdunfälle usw., welche zum mindesten übertrieben oder mit lange bestandenen Leiden in ungerechtfertigte Verbindung gebracht werden3), ') H. W. Maier, K a s u i s t i s c h e B e i t r ä g e zur P s y c h o l o g i e der A u s s a g e , M s c h r K r . 8 S. 480; der F a l l ist a u c h f ü r die P s y c h o l o g i e der L ü g e v o n Interesse (unt. S. 144 f f . ) . s) Kaufmann, H a n d b . d. U n f a l l m e d i z i n I S. 1 2 4 ; Straßmann, Merkmale der b e h u f s V o r t ä u s c h u n g f r e m d e n A n g r i f f s b e w i r k t e n S e l b s t v e r l e t z u n g e n , Viertel] . Sehr. f. d. ger. M e d i z i n 39 (19x0), S u p p l . ; Bennecke, Simulation und Selbstv e r s t ü m m e l u n g in der A r m e e , A r c h i v 43 S. 1 9 3 ; Schill, Ü b e r S i m u l a t i o n b e i m Militär, D e u t s c h e Medizinische W o c h e n s c h r i f t 1907 N r . 24; Galliez, L a Simulation des t r a u m a t i s m e , B r u x e l l e s 1909; Wiek, Ü b e r S i m u l a t i o n v o n B l i n d h e i t und S c h w e r h ö r i g k e i t und deren E n t l a r v u n g , 2. A u f l . , B e r l i n 1 9 0 7 ; F. Reuter, D i e S e l b s t b e s c h ä d i g u n g u n d ihre forensische B e u r t e i l u n g , in: B e i t r ä g e z u r gerichtlichen M e d i z i n 1 9 1 9 , B d . 1 ; Ziemke, Ü b e r S e l b s t b e s c h ä d i g u n g e n , A r c h i v 7 5 S. 2 4 1 ; Jungmichel-Manz, Art. „Selbstbeschädigung" HGerMed. a ) V o n großer B e d e u t u n g sind die zahlreichen E r f a h r u n g e n , die diesfalls v o n den Ä r z t e n der U n f a l l v e r s i c h e r u n g e n g e m a c h t w e r d e n und die eine erstaunliche Z a h l v o n S i m u l a t i o n e n u n d V e r g r ö ß e r u n g e n der t a t s ä c h l i c h v o r h a n d e n e n V e r l e t z u n g e n a u f w e i s e n ; v g l . z. B . die zahlreichen b e l e h r e n d e n A u f s ä t z e , d i e j e d e N u m m e r der „ Ä r z t l . S a c h v e r s t ä n d i g e n - Z t g . " b r i n g t ; d o r t a u c h L i t . —

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Selbstverletzungen und künstliche Leiden.

und endlich mit absichtlich herbeigeführten Verlängerungen der Heilungsdauer. Wir alle kennen genug Fälle, in welchen, wenn der Verletzer zahlungsfähig ist, durch allerlei Mittel Wunden offen gehalten oder verschlimmert werden, um mehr Entschädigung herauszuschlagen. Es ist zu wenig bekannt, wie viele Kurpfuscher1) sich damit befassen, Leuten zu helfen, die ein „künstliches Leiden" brauchen. Namentlich in Rußland und den angrenzenden Gebieten bestand in der Zeit vor dem Weltkrieg ein förmliches Gewerbe, welches militärpflichtigen Burschen nach Bedarf Herzfehler, Leistenbrüche, Gelbsucht, Geschwüre, Verstümmelungen aller Art, große Hautemphyseme usw. zu machen wußte, um sie vom Wehrdienst zu befreien2). Dieselben gewissenlosen Kurpfuscher besorgen diese und ähnliche Leiden oder vergrößern bestehende, wenn es sich darum handelt, Entschädigungsansprüche durchzudrücken. Hierauf ist zu merken! Seltsame, aber nicht seltene Fälle sind jene der Selbstkastration, in welchen die Verstümmelung häufig reisenden Drahtbindern, Bärentreibern, Handwerksburschen usw., stets aber unbekannten Leuten, zugeschrieben wird. Kenntlich sind solche Selbstverstümmelungen daran, daß die Betreffenden meistens die Operation wegen der großen Schmerzen nicht ganz zu Ende führen und daß es meistens Leute übertrieben pietistischer Färbung3) und mehr einsamen Lebenswandels sind: Hirten, Feldhüter usw. In einem Falle geschah die völlige Selbstkastration von einem überspannt Effeminierten, um einer Frau ähnlich zu sehen!4) Auch bei Selbstmördern kommt es vor, daß Tötung von fremder Hand vorgetäuscht wird, damit auf diese Weise den Angehörigen der Versicherungsanspruch gewahrt bleibe, — mitunter bereitet schon sogar der Selbstmörder die Umstände der Auffindung seiner Leiche in diesem Sinne vor 6 ). Von den Eigentumsdelikten werden am häufigsten Diebstahl und Brandlegung fingiert. Ersterer, abgesehen von jenen Fällen, wo wirklich gestohlen wurde, und der Verdacht nur anderen zugeschoben werden soll, meist dann, wenn eigener Vermögensverfall, eine begangene Veruntreuung usw. dadurch maskiert werden soll, daß der Betreffende behauptet, bestohlen worden zu sein6). Daß dies nicht wahr ist, fällt x ) Schneickert, Aus dem Formularienmagazin unserer Kurpfuscher, Archiv 26 S. 327. а) Briefliche Mitteilung des Professors Dr. Kobert in Rostock. Vgl. Derblich. Die simulierten Krankheiten der Wehrpflichtigen, Wien 1880. 3) Soll sich doch der große Kirchenvater Origines (angeregt durch Ev. Matth. 19, 12) selbst kastriert haben. — A. Blake, A specimen of seif mutilation, Boston med. & surg. journ. Vol. C L V I p. 202 berichtet von einem Kutscher, der sich Penis und Hoden mit einem Schnitt abgetrennt hat. *) H. Groß in Archiv 43 S. 339. Einen neueren Fall berichtet Kleinschmidt, Kriminalistik 3 S. 182. б) Über solche Fälle berichten Riedmayr Archiv 91 S. 1 u. Lattes, Archiv 106 S. 1; vgl. unten Abschnitt X V I I . *) So täuschte z. B. ein Postamtsleiter in der Nähe von Graz in der Nacht zu dem Tage, an dem die Kassakontrolle hätte stattfinden sollen, einen schweren Einbruch in das Postamt mit Erbrechung der eisernen Kasse vor.

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I. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

meist nicht allzuschwer zu beweisen; die Hauptsache ist nur, daß der U. überhaupt den Gedanken aufgreift: der Diebstahl könne auch fingiert sein. Diese Frage zu erörtern, ist in vielen Fällen nötig: man braucht ja nicht gleich Lärm zu schlagen, man behalte vorerst den Gedanken für sich, prüfe aber auch j edes sich ergebende Moment nach der anderen Seite hin; zuerst: wie verhält es sich, wenn der Diebstahl wirklich geschah? dann: wie aber, wenn er bloß zum Scheine dargestellt wurde? Von diesen Erwägungen darf sich der U. weder durch Ansehen und Stellung des „Bestohlenen", i\och durch geschickte Inszenierung, noch durch sonstige Rücksichten abhalten lassen. Es handelt sich nicht bloß um die Überführung des angeblich Bestohlenen, sondern in erster Linie um den Schutz Unschuldiger, die durch den ganzen Mummenschanz in Verdacht geraten können. Das Hauptaugenmerk in solchen Fällen ist auf die äußeren Vorgänge zu richten: Art des angeblichen Einbruches, Vorgang hiebei, Kenntnisse dessen, der die Spuren erzeugt hat usw. (Vgl. Abschnitt „Diebstahl".) Brandlegungen an eigener Sache, welche aussehen sollen, als ob sie von fremder Hand geschehen wären, kommen bekanntlich sehr oft vor; meistens dienen sie dazu, um die hohe Versicherungssumme zu erhalten, oft aber sollen sie zerrütteten Vermögensstand, nicht selten begangenen Mord decken und die Spuren dieses Verbrechens tilgen. Der Nachweis für solche Verbrechen ist häufig nicht so schwer zu liefern, als es den Anschein hat. (Vgl. Abschn.: „Brandlegung"). Die Hauptsache bleibt hierbei ebenfalls das Aufgreifen einer Möglichkeit, d a ß etwas verdeckt werden soll. Das ist noch lange kein fortwährendes Verdächtigen, es ist nur ein Offenhalten aller denkbaren Erklärungsgründe. Und um auf einen solchen Gedanken zu kommen und um auch das wirklich Richtige zu finden, ist nur logische Verwertung alles bisher Erhobenen nötig. Alle feststellbaren Momente müssen klar wahrgenommen und in ihrer Entstehung, namentlich in psychologischer Richtung, bis auf den letzten Stand streng logisch geprüft werden. Stockt diese Entwickelung irgendwo, so ist der Verdacht gerechtfertigt und es ist dort, wo sich eines aus dem anderen nicht logisch entwickeln läßt, zu prüfen, in welcher Weise, nach welchen Motiven sich der Vorgang besser erklären ließe. Findet sich ein solches Motiv, dann ist die Weiterforschung nicht mehr schwer.

6. Über einige Eigenschaften des Untersuchungsführers. Um die oft gestellte Frage, wie ein U. sein soll, zu beantworten, müßte man lediglich versichern, daß der U. eigentlich alle guten Eigenschaften haben soll, die ein Mensch überhaupt besitzen kann: unermüdlichen Eifer und Fleiß, Selbstverleugnung und Ausdauer, Scharfsinn und Menschenkenntnis, Bildung und liebenswürdige Formen, eiserne Gesundheit und Wissen in allen Gebieten; das versteht sich alles von selber, aber einige Dinge braucht der U. außerdem noch, auf die, wie ich glaube, noch immer zu wenig Gewicht gelegt wird.

Schneidigkeit des Untersuchungsführers.

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Vor allem fordere ich vom U. einen bedeutenden Grad jener Eigenschaft, die sich einzig und allein mit „Schneidigkeit" bezeichnen läßt. Es gibt nichts Traurigeres und Unbrauchbareres als einen langweiligen, mattherzigen und schläfrigen U.; ich glaube, ein Kavallerist dürfe eher noch diese Eigenschaften haben als ein U., und wer keine Schneidigkeit in sich fühlt, der wende sich ja gewiß zu einem anderen Zweige juristischer Tätigkeit, ein guter U. wird er nie und nimmer. Schneidig muß der U. aber nicht bloß im einzelnen Falle sein, wenn er z. B. einem aufbrausenden, widerspenstigen oder gar aggressiven Beschuldigten gegenübersteht, zumal, wenn er entfernt vom Amtssitze, ohne Assistenz und ohne Klingel eine Vernehmung oder Verhaftung durchzuführen hat, — das ist das wenigste; hauptsächlich muß er schneidig auftreten können, wenn es sich darum handelt, einen schwierigen, verworrenen und unklaren Fall anzupacken; am schneidigsten muß er aber sein, wenn er glaubt, daß jemand unschuldig verdächtigt wird, und wenn diesem nur durch energisches Eingreifen geholfen werden kann. Es ist geradezu widrig anzusehen, wenn ein ganzer Akt nichts anderes zeigt, als daß der U. den Fall zaghaft, unsicher, ängstlich und mit fein zugespitzten Fingern angefaßt hat; wie herzerfreuend ist es aber, wenn man tatkräftiges, fröhliches und festes Anpacken und Festhalten der Situation wahrnehmen kann. Oft läßt sich große Geschicklichkeit und langjährige Übung lediglich durch eine energische Faust ausgleichen, fehlt aber diese, so kann ihr Mangel durch gar nichts ersetzt werden, und so wie für jeden Menschen, so gilt namentlich für den Kriminalisten Goethes unvergleichliches Wort: „Schlag nicht leichthin in ein Wespennest, doch wenn du schlägst, so schlage fest." Nicht minder ist vom U. ein hoher Grad wirklicher Selbstverleugnung zu verlangen. Mit klugem Rechnen, feiner Spekulation, vorsichtigem Abwägen und kaufmännisch richtigem Bilanzieren ist nicht alles getan — die Leistung muß in selbstverleugnender, stiller und ganz ehrlicher Arbeit liegen, die auf j e d e n äußeren und glänzenden Erfolg von vorneherein verzichtet. Die glückliche Verhaftung eines langgesuchten Einbrechers durch einen Polizisten, eine wirkungsreiche Rede des Staatsanwalts vor Gericht, die umsichtige Leitung des Verhandlungsvorsitzenden können Anerkennung, Staunen und Bewunderung hervorrufen, auf all das muß der U. verzichten, seine mühevolle, anstrengende Arbeit bleibt der Öffentlichkeit verborgen und seine ganze Leistung, sein aufreibendes Denken, seine glücklichen Kombinationen, seine umfangreichen Kenntnisse entdecken, wenns gut geht, einige wenige Leute, die den Akt genau studieren und manches Mal — selbst die Anerkennung erhalten. Für den kleinsten, verzeihlichen und nur hinterdrein zu entdeckenden Fehler wird der U. rasch verantwortlich gemacht, seine Mühe und seine Verdienste würdigt selten jemand. Das mache sich der U. beizeiten klar und prüfe, ob er sich mit dem Lohne zu begnügen vermag, der meistens nur im Bewußtsein treu erfüllter Pflicht liegen wird.

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I. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

Eine weitere Eigenschaft, die unbedingt vom U. verlangt werden muß, ist die der absoluten Genauigkeit, worunter man nicht bloß verstehe, daß alles so protokolliert wird, wie es gesehen oder gesagt wurde; daß dies geschieht, ist selbstverständlich; es ist damit jenes Arbeiten gemeint, das sich nicht mit Angaben und Behauptungen anderer begnügt, wenn es möglich ist, das Richtige durch eigenes Ansehen oder durch noch genaueres Nachforschen festzustellen. Wir wollen also nicht sagen, „der U. muß genau arbeiten", wir wollen statt „genau" das zwar gleichwertige, aber mit besonderer Bedeutung ausgestattete Wort „exakt" verwenden, ein Wort, das heute im wissenschaftlichen Gebrauche einen hervorragenden Sinn bekommen hat. Der hohe Stand aller heutigen Wissenschaft ist einzig und allein durch das „exakte" Arbeiten erreicht worden, und wenn wir ein modernes, wissenschaftliches Buch, gleichgültig welcher Disziplin, mit einem ähnlichen vergleichen, welches nur wenige Dezennien früher geschrieben wurde, und wenn wir dann fragen, worin denn der große Unterschied beider Arten von Forschungen gelegen ist, so finden wir ihn fast nur darin, daß heute weitaus exakter gearbeitet wird als früher. Daß dem Forscher etwas „einfallen" muß, ist selbstverständlich, sonst kann er eben nicht forschen, aber im übrigen wird auch der Vergleich zwischen zwei Forschern moderner Zeit zugunsten dessen ausfallen, der exakter arbeitet, und die glänzenden, bahnbrechenden Gedanken, mit welchen ein Gelehrter die Welt in Erstaunen setzt, sind oft nicht geniale plötzliche Einfälle, sondern das Ergebnis exakter Forschung. Genaues Ansehen der Sache, Nachgehen bis in die letzten Gründe, unzählige Vergleiche, mühsame Versuche und Klarlegen der Natur der Sache zeigen sie von so verschiedenen Seiten, in so vielen Phasen ihrer Entwicklung, daß neue Ansichten, neue Gedanken von selbst kommen, die dann, richtig erkannt und verwertet, zur wirklichen Leistung werden. Sehen wir aber, welch großen Wert die exakte Arbeit in jedem Gebiete menschlichen Forschens hat, so wollen wir sie auch auf die unsere anwenden. Was heißt schließlich exakt arbeiten? Nichts anderes als: „Dem anderen nicht trauen, sondern selber schauen, sich selber nicht trauen, sondern wieder und wieder schauen". Wer so verfährt, wird exakt arbeiten und hundert Irrtümer auf allen Gebieten wären vermieden worden, hätte nicht einer auf den unrichtigen Angaben des anderen fortargumentiert, und hätte dieser eine nicht das bloß Mögliche für wahr, das einmal Beobachtete für immer vorkommend gehalten. Freilich können wir bei unserer Arbeit das Wenigste selber sehen und wiederholt beobachten, wir müssen uns darauf verlassen, was uns andere sagen — darin liegt das Schwierige und Unzulängliche unserer Forschungen; wohl aber kann dieses Mißliche bedeutend eingeschränkt werden, wenn wir einerseits dasjenige, was wir selber ansehen können, wirklich selber ansehen und nicht nach den Angaben anderer beurteilen, und indem wir andererseits alles dasjenige, was uns der andere

Genaues und exaktes Arbeiten.

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sagt, dadurch exakter zu gestalten suchen, daß wir durch Vergleiche, Versuche und Demonstrationen die Glaubwürdigkeit und richtige Auffassung des Gewährsmannes prüfen und so richtig oder wenigstens richtiger zu stellen suchen. Wie man das erstere macht, ist leicht zu sagen: man überzeuge sich selbst, man nehme selbst den Augenschein vor 1 ), man messe selbst nach, man gehe die Strecke selbst ab und vergleiche die Richtigkeit der Uhren, nach denen die Zeugen Angaben machten2), kurz: man vergleiche und beurteile selbst. Und handelt es sich um nur einfache Dinge, die bloß durch Genauigkeit sichergestellt werden können, so verlasse man sich nicht auf Angaben, die nur ungefähr lauten, sondern auf sichere, zu dem Z w e c k e vorgenommene Erhebungen. In einem wichtigen Falle hatte man z. B. umständliche Kombinationen gemacht und weitgehende Schlüsse gezogen, die für den Gang der Sache wirklich von entscheidender Wichtigkeit gewesen wären. Im letzten Augenblicke fiel es einem der Mindestbeteiligten ein, doch zu fragen, ob man es gewiß wisse, daß es von einem Orte bis zum andern wirklich zweitausend Schritte weit sei, was eine der Grundlagen des künstlichen Schlußgebäudes war. „Zwei Zeugen hätten es gesagt, daß die Entfernung zweitausend Schritte betrage". Man beschloß doch, diese durch einen Gendarmen abschreiten zu lassen, und als dieser fand, es seien — 450 Schritte, ergaben die nun gezogenen Schlüsse das Gegenteil der früheren. Dies nur als ein typisches Beispiel aus den hunderten, welche in dieser Richtung jeder von uns erlebt hat. Viel schwieriger ist zu sagen, wie man Aussagen dann „exakter machen" kann, wenn eine direkte Nachschau unmöglich ist — selbstverständlich stets die Fälle vorausgesetzt, in denen der Zeuge die Wahrheit sagen will und nur unrichtig aufgefaßt hat3). Im allgemeinen wird man sagen: man helfe sich durch das „ad oculus demonstrare", durch „probieren". Z. B.: der Zeuge sagt: „Der X hat mich mindestens zehn Minuten lang geprügelt"; — man legt dem Zeugen die Uhr hin und verlangt, er möge einmal sehen, wie lange zehn Minuten dauern und ob der X wirklich zehn Minuten lange geprügelt hat. Und nach höchstens einer Viertelminute ruft der Zeuge: „Nun, länger hat's allerdings nicht gedauert" 4 ). — Oder: der Zeuge sagt: „Ich kann bestimmt versichern, daß der Schrei, den ich gehört habe, von u n t e n gekommen ist." Ver1)

Vgl. Renner, Brandstiftung und Staatsanwalt, Archiv 89 S. 216. Welche wichtige Folgen es z. B. haben kann, wenn Zeitangaben nach verschieden gehenden Uhren gemacht wurden, s. Archiv 6 S. 209. 8) Literatur s. später im Kapitel von der Vernehmung der Zeugen. Hier sei nur im.voraus erklärt, daß die heute kaum absehbare Literatur über die sog. „Psychologie der Aussage", über „Zeugenprüfung" usw. ihre Anregung und ihren Ausgang gerade von dem aus genommen hat, was in den ersten Auflagen dieses Buches und in H. Groß, Kriminalpsychologie, 1. Auflage 1898, über diese Fragen gesagt worden ist. 4) Vgl. Klaußmann, Zeugen-Prüfung, Archiv 1 S. 39. In deutlicher Erinnerung ist mir die Aussage eines Straßenkehrers, der als Zeuge befragt wurde, wie lange ein Kraftwägen von einem bestimmten Punkte bis zur Unfallstelle gebraucht hatte, und antwortete: drei Besenstriche. Diese Aussage war gewiß viel verläßlicher als wenn er einige Minuten genannt hätte. a)

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I. Abschnitt. V o m Untersuchungsführer.

suche an Ort und Stelle ergeben aber, daß er es nie errät, ob der Schrei von rechts oder links, von oben oder unten gekommen ist. Oder: der Zeuge sagt: „In seiner Hand hielt der X — wenn ich auch nur kurz hinsah — höchstens zwölf Mark." — „Können Sie dies so sicher abschätzen?" — „Gewiß." — „Also: wie viel Geldstücke habe ich jetzt in der Hand?" — „Nun, etwa auch zwölf." — „Es sind aber fünfundzwanzig!" Oder: der Zeuge sagt: „Wenn ich einen Menschen einmal angesehen habe, erkenne ich ihn stets wieder." — „Haben Sie den Häftling angesehen, der, als Sie eintraten, hinausgeführt wurde?" — „O j a — sehr gut." — „Nun, Sie sollen ihn aus zehn anderen wieder heraussuchen." — Oder: Zeuge schätzt eine wichtige Entfernung auf, sagen wir, 200 Schritte: man führt ihn ins Freie und läßt ihn sagen, bis wohin 100, 200, 300, 400 Schritte sein mögen; schreitet man diese Strecken dann ab, so kann man ziemlich genau ermessen, ob und inwieweit der Zeuge Entfernungen richtig schätzt. Da dieses Entfernungsschätzen oft vorkommt und häufig wichtig ist, so empfiehlt es sich, die von einem leicht erreichbaren Fenster sichtbaren Gegenstände schon im voraus abzuschreiten und sich deren Entfernung für spätere Proben zu notieren. Ich hatte durch Jahre eine hiezu sehr günstige Aussicht von der Amtsstube aus und wußte z. B.: bis zur linken Hausecke sind es 65 Schritte, bis zur Pappel 120, bis zum Kirchturm 210, bis zum kleinen Haus 400, bis zum Bahndamm 950 Schritte — daran habe ich unzählige, stets Klärung bringende Proben mit Zeugen veranstaltet: machte er einige halbwegs stimmende Schätzungen, so konnte ich seine für den Fall wichtige Schätzung auch glauben, sonst aber nicht. J a man kann dann sogar unrichtige Schätzungen richtiger machen, wenn man z. B. feststellen kann, daß der Zeuge regelmäßig zu hoch oder zu nieder schätzt1). Derartige Kontrollversuche gehören zu dem Belehrendsten, aber auch zu dem Verblüffendsten, was man in dieser Richtung erleben kann, und jeder, der sie macht, wird ihren nicht hoch genug anzuschlagenden Wert bald kennenlernen. Ist das exakte Arbeiten aber schon bei jeder, auch unbedeutenden Feststellung nötig, so tritt seine Wichtigkeit namentlich dann in den Vordergrund, wenn es sich in großen Fällen um die Sicherstellung der Grundlage für weitere Arbeit, um die Schaffung der „Operationsbasis" handelt. Gerade hiebei geschehen oft die größten Unbegreiflichkeiten. 1 ) Allerdings ist hiebei der Unterschied von Gegenwartschätzungen und Erinnerungsschätzungen zu beachten: d e r s e l b e Zeuge, der die Entfernung bis zu einem ihm jetzt gezeigten Gegenstand richtig oder zu hoch schätzt, neigt mitunter — wie Versuche ergeben haben — bei Entfernungsangaben aus der Erinnerung zur Unterschätzung (Seelig, Ergebnisse und Problemstellungen der Aussageforschung, in: Ergebnisse d. ges. Medizin 1 3 S. 428f.). E s empfiehlt sich daher, den Zeugen auch (dem U. bekannte) Entfernungen zwischen nicht gegenwärtigen Örtlichkeiten („wie weit ist es vom Gasthaus X bis zur Kirche?") schätzen zu lassen. Aber auch auf die Art der geschätzten Entfernungen kommt es an: derselbe Zeuge schätzt z. B. eine Wegstrecke anders als den objektiv gleichen Abstand des Waldes vom Weg bei dazwischenliegenden Wiesen (Seelig a. a. O.).

Unrichtige „Operationsbasis",

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Beim Lesen der Akten über wichtige Fälle kann man häufig die Beobachtung machen, daß dann, wenn die „Operationsbasis" einmal geschaffen war, mit der größten Sorgfalt und Genauigkeit vorgegangen und viel Scharfsinn in Verwendung gebracht wurde, es war aber alles umsonst, denn schon bei S c h a f f u n g der Basis hatte man irgendeine anscheinend unbedeutende Nebensache nicht genau erhoben, es war zu einer falschen Annahme gekommen und so stand dann das ganze schöne und mühsam hergestellte Gebäude auf schwankendem, weichendem Grunde. Ich will zweier Fälle Erwähnung tun, die das Gesagte anschaulich machen. Der eine davon, ein in mehrfacher Beziehung interessanter Straffall, brachte das merkwürdige Ereignis zutage, daß der U. längere Zeit auf der Leiche des Ermordeten gestanden ist und — sie nicht gefunden hat. Man hatte einen blutigen Rock gefunden (am Ufer der Mur in Graz) und man konstatierte, daß der gefundene Rock wirklich einem Manne gehört habe, der seit der Nacht zum 15. Dezember verschwunden war. Wohin der Mann gekommen war, konnte nicht herausgebracht werden. Erst vierzehn Tage später kam ein alter Sägeschleifer mit der Mitteilung, daß er am Morgen des 15. Dezember an einer bestimmten Stelle des Murufers (aber nicht an jener, an welcher der Rock gefunden worden war), bedeutende Blutspuren wahrgenommen hatte. Der alte Sägeschleifer konnte nicht lesen und war stark taub, so daß er die Nachricht vom Verschwinden jenes Mannes und dessen mutmaßlicher Ermordung etwas verspätet vernommen hatte. Die Stelle, wo die Blutspuren gewesen sein sollten, befand sich neben einer Brücke, das Flußbett war dort mit hohen Ufermauern versehen. Hier wurde stets der in den Straßen der Stadt gesammelte Schnee über die Mauer gestürzt. Da nun nach jedem Schneefall an dieser Stelle große Massen von Schnee abgeleert wurden und da im Winter das Flußwasser beinahe nie bis zum Fuße der Mauer heranreicht, so bildet sich dort eine oft mehrere Meter breite und ebenso hohe Schneebank, die erst spät im Frühjahre vollends schmilzt. Man konnte nun nach den vom Sägeschleifer beschriebenen und seither vollkommen verschwundenen Blutspuren annehmen, daß der Getötete über das Gitter, welches die Ufermauer krönt, auf die Schneebank geworfen und alsbald verschüttet wurde, da es in der Nacht zum 15. Dezember stark geschneit hatte und schon sehr früh morgens mit dem Ableeren des Schnees begonnen worden war. Am 20. und 27. Dezember hatten neuerliche Schneefälle stattgefunden und jedesmal waren neue Schneemassen auf die genannte Schneebank abgeleert worden, kein Schneefall war aber in diesem Winter so stark, wie der erste. Man machte sich nun daran, diese Schneemassen in den Fluß zu schaufeln, um die Leiche des Getöteten zu finden; auch die Gerichtskommission war anwesend, um im Auffindungsfalle sofort das visum repertum aufnehmen zu können. Nun hatte sich der U. bei den Leuten erkundigt, ob in diesem Winter der e r s t e Schneefall jener vom 15. Dezember gewesen sei (der U. erinnerte sich nicht mehr genau daran) und es antworteten die Befragten, der Schneefall vom 15. Dezember sei der zweite, schwächere gewesen, so daß der Getötete schon auf einer starken Schichte von Schnee (von dem ersten, großen Schneefalle zusammengeschüttet) liegen müsse; die Leute sagten, diese erste Schichte müsse 6—8 Fuß hoch gewesen sein. Man beschloß also solange zu graben, bis man ungefähr auf die Schichte des ersten Schneefalles, a u f welcher der Getötete j a liegen müsse, gestoßen sein werde. Man grub und schaufelte und

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I. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

als die restliche Schichte nur mehr etwa 4 Fuß stark war und man sich also zweifellos schon längst in der Schichte des e r s t e n Schnees befand, wurde die Arbeit aufgegeben und man nahm an, daß sich der alte, taube Sägeschleifer geirrt habe. E r hatte sich aber nicht geirrt, denn als spät im Frühjahre jene Schneebank völlig geschmolzen war, fand man ganz unten, schon auf dem festen Ufer, die Leiche des Ermordeten, und zwar gerade an jener Stelle, oberhalb welcher der U. während des Forschungsschaufeins stundenlange gestanden war. Die Aufklärung lag einfach darin, daß die vom U. über die Zeit des ersten Schneefalles befragten Leute sich geirrt hatten; der Schneefall vom 15.Dezember war nicht der z w e i t e , sondern der e r s t e dieses Winters gewesen, die Leiche wurde also über die Mauer gestürzt, als noch gar kein Schnee abgeleert worden war, sie war also auch nicht a u f der ersten Schichte, sondern u n t e r ihr zu suchen, und hätte man damals genauer erhoben, wann der erste Schneefall eingetreten war, so hätte man auch die letzte Schicht weggeräumt und schon damals die Leiche gefunden. Seither war aber viel Zeit verlorengegangen und der Täter ist niemals entdeckt worden.

Der zweite Fall betrifft ebenfalls einen Mord und zeigt, daß durch die unrichtige Angabe einer großen Anzahl von Zeugen leicht die Spur vom wirklichen Täter auf einen Unschuldigen hätte gelenkt werden können. Zwei schlecht beleumundete und herabgekommene Bauern, Sp. und B., hatten einen dritten, wohlhabenden Bauern, im Volksmunde Teiplschuster genannt, beredet, mit ihnen einen weit entfernten Markt zu besuchen, um dort Vieh einzukaufen. Sie verließen ihren gemeinsamen Heimatsort S. sehr zeitlich morgens, wanderten bis L., hielten dort Mittagsrast und gingen um 3 Uhr von dort fort; sie beabsichtigten über V. bis St. zu gehen, hier zu übernachten und am nächsten Tage den nur mehr eine Stunde entfernten Marktort M. zu erreichen. Am nächsten Morgen wurde nun T. zwischen den Orten L . und V., aber näher von V., neben der Straße im Straßengraben gefunden; er war am Hinterhaupte schwer verletzt und bewußtlos. Im Laufe des nächsten Tages erlangte er das Bewußtsein wieder und gab an: Alle drei seien, wie erwähnt, genau um 3 Uhr, durch den Schlag der Kirchenturmuhr ermahnt, von ihrer Mittagsrast in L. aufgebrochen und auf der Landstraße fortgegangen; nach etwa einer Stunde haben Sp. und B . plötzlich davon zu sprechen angefangen, ob nicht am Ende der Markt in M. wegen einer Rinderseuche abgesagt wäre, man solle in dem seitwärts von der Straße gelegenen Dorfe darüber Nachfrage halten. T. habe ihnen erklärt, zu dieser Annahme liege nicht der mindeste Grund vor und außerdem könne man j a in jedem Gasthause an der Straße hierüber Erkundigungen einziehen; an der Straße wissen die Leute derartige Dinge besser als in dem abseits gelegenen Dorfe; auch hätten sie gar nicht nötig, ihren ohnehin tüchtigen Marsch durch den Umweg nach dem Dorfe zu verlängern, setzte T. hinzu. Sp. und B . seien aber so hartnäckig bei ihrer Meinung geblieben, daß er die Vermutung bekam, sie hätten in dem Dorfe irgend etwas Heimliches vor — wahrscheinlich einen Viehhandel, von welchem er, T., nichts wissen sollte, und so erklärte er ihnen, sie sollten nach dem Dorfe gehen, er werde langsam weiter wandern, bis die beiden andern, im Bogen über das Dorf gehend, ihn wieder auf der Straße einholen würden. Diese seien lange nicht gekommen und so habe er sich auf einen Meilenstein neben der Straße gesetzt, um zu warten, und zwar mit dem Rücken gegen die Straße, da starker Wind ging und den Straßenstaub aufwirbelte. Plötzlich habe er von rückwärts einen starken Schlag auf den Kopf bekommen, hiemit ende seine Erinnerung; das Geld zum Vieheinkaufe war verschwunden. Mehrere Tage darauf starb T. an den Folgen der Kopfverletzung, ohne mehr genauer einvernommen werden zu können. Sp. und B . gaben ziemlich übereinstimmend an, sie hätten in der T a t keinen anderen Zweck im Dorfe

Überprüfung der Lichtverhältnisse.

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verfolgt, als wegen des Marktes zu fragen, sie hätten auch in einem Gasthause unbekannte Gäste darüber gefragt und seien dann wieder dem T. nachgegangen, hätten ihn aber auf der Straße nirgends gefunden, a u c h n i c h t s d a v o n g e s e h e n , d a ß er im S t r a ß e n g r a b e n g e l e g e n w ä r e , sie hätten angenommen, er sei bis V. oder St. gegangen und als sie ihn da auch nicht fanden, zogen sie am anderen Tage auf den Markt nach M. — Erst auf dem Rückwege hätten sie von einem halberschlagenen Manne gehört, man habe sie aufgefordert, ihn in einem Bauernhause anzusehen, da niemand ihn kenne, und da hätten sie ihren Kameraden T. erkannt. Daß sie ihn nicht sahen, als er, zweifellos schon verletzt, im Straßengraben lag, sei dadurch erklärlich, daß es damals, als sie an der Tatstelle vorbeikamen, s c h o n f i n s t e r g e w e s e n sei (es war im Spätherbste). Die weiteren Erhebungen führten nun zu der Annahme, daß dem Sp. und B. der Gedanke gekommen war, bei eingebrochener Dunkelheit den T. zu überfallen, zu erschlagen und seines Geldes zu berauben; um die näheren Umstände ungestört besprechen zu können, haben sie die Ausrede gebraucht, im Dorfe wegen des Marktes zu fragen, da sie wußten, daß T., der schlechteste Fußgänger unter ihnen, den Umweg scheuen werde. Sie konnten natürlich nicht wissen, daß T. auf einem Steine sitzen und ihnen den Rücken zuwenden werde und hatten wahrscheinlich als Tatort einen Wald bestimmt, den sie erst in der Dunkelheit passieren mußten; da sie den T. in der ihnen günstigen Stellung sahen und auch dort die Straße recht einsam und verlassen war, so haben sie dort die Gelegenheit benutzt und ihn von rückwärts niedergeschlagen und beraubt. Zugunsten der Beschuldigten sprach nur der Umstand, daß ihre Darstellung auch möglich war, daß nämlich T. von einem Fremden erschlagen und beraubt wurde, und daß Sp. und B., an ihm vorbeikommend, ihn nicht bemerken konnten, weil es damals, wie erwähnt, schon finster war. Es wurden nämlich zahlreiche Leute aus der Gegend vernommen, die einstimmig versicherten: wenn man in dieser Jahreszeit um 3 Uhr von L. fortgeht und den Umweg über jenes Dorf macht, so kommt man, bei langsamem Tempo ermüdeter Leute, wie Sp., B. und T. damals waren, erst an die Tatstelle, wenn es schon vollkommen dunkel ist. Daß es aber beim Aufbruche von L. genau 3 Uhr war, hatten nicht bloß die drei Genannten, sondern auch mehrere Leute bestätigt, mit denen diese im Gasthause gesessen waren, da einer von ihnen gesagt hatte: „Jetzt schlägts drei, wir müssen gehen, wir haben noch weit." Trotz dieser Schwäche der Anklage wurden auf Grund des vielen sie belastenden Materials Sp. und B. verurteilt. Im zeitlichen Frühjahre verlangten die Verurteilten Wiederaufnahme des Verfahrens. Es gelang ihnen in der Tat, manches vom Beweismateriale zu erschüttern, sie lenkten den Verdacht auf einen übelberüchtigten Burschen, der sich in der Nähe des Tatortes herumgetrieben hat, und da eben der erwähnte Umstand, daß sie den schwerbeschädigten T. nicht hatten sehen können, noch immer ins Gewicht fiel, so stand die Verhaftung jenes Burschen und die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Sp. und B. unmittelbar bevor. Dem U. fiel es nun ein, sich die Sache einmal selbst zu besehen; er ließ sich, da man auf den Spätherbst, in welchem die Tat geschehen war, natürlich nicht warten konnte, vom Astronomen der Universität jenen Tag im F r ü h j a h r e berechnen und angeben, welcher Tag rücksichtlich seiner Beleuchtungseffekte (Sonnenuntergang usw.) jenem Tage entspricht, an welchem die Tat im H e r b s t e begangen war, und so begab er sich in Begleitung des Staatsanwaltes an dem ihm bezeichneten Tage an Ort und Stelle. Sie brachen nun Schlag 3 Uhr von L. auf, gingen langsamen Schrittes, wie die ermüdeten Sp., B. und T. gegangen sein müssen, mit dem Umwege über das mehrgenannte Dorf, hielten sich dort entsprechend lange auf und trafen endlich (alle Verhältnisse zugunsten der Verurteilten auslegend) am Tatorte an, bei v o l l k o m m e n h e l l e m T a g e ; sie

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I. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

machten nun alle erdenklichen Versuche: abwechselnd legte sich einer, dann der andere in den Straßengraben an jene Stelle, auf welche T. unmittelbar nach dem Schlage vom Meilensteine herabgekollert war und an welcher er auch am nächsten Tage gefunden wurde; dann gingen sie abwechselnd wieder auf der Straße zurück, kehrten um und konstatierten, daß man, gleichviel auf welcher Seite der Straße gehend, schon auf weite Entfernung unbedingt sehen müsse, daß ein Mensch im Straßengraben liege und daß dies absolut nicht zu übersehen sei. Erst nach Beendigung dieser zeitraubenden Versuche b e g a n n die Dämmerung, und es war somit festgestellt, daß die Angaben aller vernommenen Zeugen auf irrigen Annahmen beruht hatten und daß das einzige Moment, welches zugunsten der Verurteilten gesprochen hatte, bei genauer Besichtigung einfach nicht existierte.

Solche Beispiele ließen sich in Menge aufzählen und jeder von uns hat sie erlebt, aber eben, weil sie häufig sind, kann man nicht oft genug auf sie hinweisen, und darauf aufmerksam machen, von welch ausschlaggebender Wichtigkeit die genaueste Feststellung der „Operationsbasis" sein muß. Es liegt übrigens, wie schon erwähnt, in der Natur des Menschen, sich auch an Anhaltspunkte zu klammern, welche noch keineswegs sichergestellt sind; man hört irgendeinen Umstand, oft nur ungefähr hingeworfen, von irgendeiner Auskunftsperson erwähnt, und ist leicht geneigt, für den Fall, daß sich dieser Umstand bewahrheiten sollte, eine Kombination daran zu knüpfen; diese hat etwas für sich; sie gefällt, und man knüpft eine zweite, eine zehnte daran; die Sache wird interessant und kann Erfolg haben: man erhebt nun alle einzelnen Momente der Kombinationen auf das genaueste, sorgfältigste und umständlichste; a b e r ob der e r s t e U m s t a n d , auf den m a n a l l e s w e i t e r e a u f g e b a u t h a t , w a h r s e i , das w u r d e m i t t l e r w e i l e v e r g e s s e n — der Eifer und der gute Wille, etwas zu leisten, hat uns mitgerissen, das langsam fortschreitende, kühl überlegende Sondieren haben wir unterlassen, und alles war umsonst. Dagegen gibt es nur ein einziges Mittel: mitten im ruhigen Gange, im Laufe, im Sturmschritte einer Untersuchung m ü s s e n Ruhepausen gemacht werden, in welchen man nicht vorwärts drängt, sondern nach rückwärts sieht, man nimmt dann die einzelnen Momente der Untersuchung, stets vom Anfange an beginnend, einzeln vor, zerfasert jedes, auch das kleinste gewonnene Produkt in seine letzten Faktoren, und sind diese nicht mehr weiter zu zerlegen, so prüft man jeden von ihnen wieder ängstlich auf seine Herkunft, deren Verlässigkeit und Begründung. Ist diese in den letzten Elementen richtig befunden, dann fügt man wieder vorsichtig eines an das andere und prüft das Gewonnene wieder so, als ob man es zum ersten Male wahrgenommen hätte; meistens wird die Sache ganz anders aussehen, da man anfänglich den Hergang noch nicht so kannte als jetzt. Hat das Gewonnene aber ein anderes Aussehen bekommen als es früher besaß, so entsteht jedesmal die Frage, ob es nun wohl noch in das alte Gefüge passe, ob und was zu ändern sei. Und stimmt die Schlußbilanz nicht, so habe man Selbstverleugnung genug, sich ehrlich zu sagen: „Falsch gerechnet, nochmals anfangen!"

Studium der Vorakten.

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7. Über Menschenkenntnis. Ein gewisser Teil des „exakten Arbeitens" liegt auch in der genauen Kenntnis des Hauptmaterials der Untersuchung, des Menschen. Die Leute, die in einer Untersuchung eine Rolle spielen, sind in ihrem Werte Beweismittel und leisten viel oder wenig in der Hand des U., je nachdem er viel oder wenig aus ihnen zu machen weiß. Eine auf dem Tatorte aufgefundene Fußspur bedeutet gar nichts für den kenntnislosen U., sie bedeutet aber einen schlagenden Beweis, wenn der Meister ihn aus ihr herauszulesen vermag; ebenso spricht ein Zeuge nichts oder die Unwahrheit oder Belangloses zum ungeschickten U., während derselbe Zeuge genau, wahr und wichtig zum U. spricht, der ihn durchschaut und zu behandeln weiß. Und wenn manch ein U. ohne Menschenkenntnis das Richtige herausgebracht hat, so war es nicht sein Verdienst, sondern es haben dann die Vernommenen zufällig das Richtige sagen wollen; wollen sie dies aber nicht tun, so ist es ein geradezu unwürdiges Schauspiel, wenn die ganze Untersuchung nur zeigt, wie sich der U. von den Vernommenen irreführen und dorthin leiten ließ, wo sie ihn haben wollten. Ein Lehrbuch der Menschenkenntnis, das wirklich Kenntnis des Menschen beizubringen vermöchte, ist noch nicht geschrieben worden und wird auch nicht geschrieben werden, es ,lassen sich nur Hilfsmittel nennen, die im besonderen Falle angewendet werden können; — für uns Kriminalisten gibt es deren nur wenige. Eines der wichtigsten, aber ein wirklich wertvolles Hilfsmittel ist das Studium der Vorakten, so daß man in der Tat mit mehr Beruhigung an einen Fall gehen kann, wenn über den Beschuldigten schon Vorakten vorliegen, gleichviel ob seine Schuld oder seine Unschuld bewiesen werden soll. Ist aber der Fall nur einigermaßen von Wichtigkeit, dann müssen die Vorakten so studiert werden, als ob sie den g e g e n w ä r t i g e n Fall betreffen würden. Es genügt nicht, etwa bloß das Protokoll mit dem Beschuldigten und einige andere wichtige Aktenstücke zu lesen: es muß der ganze Fall studiert und dann Schritt für Schritt das Wesen des Beschuldigten herausgeschält und seine damalige Verantwortung in ihrer Entwickelung geprüft und mit den vorgeführten Beweisen verglichen werden. I n der A r t , s i c h z u v e r a n t w o r t e n u n d zu v e r t e i d i g e n , b l e i b e n s i c h die L e u t e a u c h n a c h l ä n g e r e n Z e i t r ä u m e n m e r k w ü r d i g gleich 1 ). Dies will freilich nicht besagen, daß z. B. einer, der e i n m a l gestanden hat, i m m e r gestehen wird, oder daß er als Maxime seiner Verteidigung stets die Verdächtigung der Belastungszeugen wählen wird, weil er es einmal so gemacht hat, so sklavisch genau wiederholt sich nichts im Leben, a b e r d a s g a n z e B i l d , d e r G e s a m t e i n d r u c k den m a n a u s der V e r n e h m u n g e i n e s M e n s c h e n e r h a l t e n h a t , w i r d sich j e d e s m a l w i e d e r Der Psychologe Marbe spricht vom „Wiederholungssatz": unter ähnlichen Umständen verhält sich derselbe Mensch immer wieder ähnlich (K. Marbe, Persönlichkeit und Aussage, Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft III S. 91 f.).

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I. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

h o l e n , so o f t e r n e u v e r n o m m e n wird. Jeder, der in dieser Weise vorgeht und zuerst die Vorakten des Beschuldigten studiert, wird bei der neuen, nun folgenden Vernehmung zuerst den Eindruck bekommen: diesmal macht er es völlig anders; ist aber die Vernehmung nur einigermaßen vorgeschritten, so taucht nach und nach deutlich das alte Bild auf und man gewinnt endlich die zweifellose Überzeugung: „Heute so wie damals" — man erkennt die alte Art des Benehmens, vielleicht nur mit dem Unterschiede, daß der Mann mittlerweile auch gelernt hat, schlauer und vorsichtiger wurde, oder daß er alt geworden ist, und die frühere Schnellkraft und Geschicklichkeit eingebüßt hat. Aber immer wird auch der Schatten von dem, was einst da war, noch den klaren, deutlichen Umriß des alten Bildes zeigen. Hat man gar mehrere Vorakten über den Beschuldigten zur Verfügung und hat man diese genau studiert, so gewinnt man eine so vollständige Kenntnis über ihn, daß man im voraus sagen kann, wie er sich verhalten, verteidigen und verantworten werde, was man ihm davon glauben dürfe, was unwahr sei, und wie man bezüglich des letzteren ihm beikommen könne. Oft geschieht es aber auch, daß gerade ein sorgfältiges, psychologisch abgeklärtes Studium der Vorakten eines wiederholt bestraften Menschen zweifellos seine Unschuld für den gegenwärtigen Fall beweist: man lernt ihn aus den Vorakten kennen, und dieses Bild paßt auf den heutigen Fall nicht — allerdings: ein solcher Schluß fordert s e h r sorgfältige Arbeit! Aber nicht bloß bei den Beschuldigten, sondern auch bei wichtigen Zeugen, die entweder schon Vorstrafen erlitten haben, oder in früheren Prozessen als Zeugen vernommen wurden, ist ein Studium dieser alten Akten von Wichtigkeit, da es oft auf das sicherste zeigt, wie der Zeuge zu behandeln und was ihm zu glauben ist, wie weit man ihm trauen kann, und wie bei ihm der Nachweis, daß er nicht die Wahrheit gesagt hat, am leichtesten zu erbringen ist. Ein weiteres Hilfsmittel zum Erwerb von Menschenkenntnis liegt in der Aufmerksamkeit bei den Verhören und in dem steten Bedachtnehmen darauf, daß man den Menschen zu durchschauen wünscht. Wer seine Zeugen vernimmt, nur damit sie vernommen sind, und seine Fälle erledigt, nur damit die Nummer glücklich draußen ist, der wird freilich wenig Gelegenheit finden, die Menschen kennen zu lernen; will er das aber, so muß ihm j e d e s Individuum, das seine Amtsstube betritt, schon von verneherein zum interessanten Objekt für seine Studien werden. Die Art, wie einer erscheint, herumsieht, sich fragen läßt, antwortet, selbst fragt, kurz wie er sich gibt, darf dem U. unter keiner Bedingung, auch im unbedeutendsten Falle, gleichgültig sein. E r muß sich stets eine Vorstellung darüber machen, ob der Mensch die Wahrheit, die volle Wahrheit gesagt, oder gelogen, oder etwas verschwiegen h a t ; weiters, was die Beweggründe hiefür gewesen sein können, wie die Äußerungen mit den übrigen hier maßgebenden Umständen zusammenhängen, worauf er reagiert hat, was ihm wichtig war, welche

Menschenstudium im Alltag.

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Mittel er angewendet hat, um seine Angaben als wahr und richtig erscheinen zu lassen. Das, was der U. in dieser Weise wahrgenommen hat, oder wahrgenommen zu haben vermeint, muß er sich merken, oder noch besser, notieren, es kann ja überdies in der Untersuchung von Wert sein. Ergibt sich nun in ihrem Laufe irgendein Moment, welches das früher Beobachtete als richtig oder unrichtig darstellt, so erhält man in einem Falle eine Befestigung in seiner Auffassung, im anderen aber muß man nachforschen, warum man sich geirrt hat, und feststellen, wo und wie der Irrtum entstanden ist. Bevor der U. seinen Akt aus der Hand gibt, hat er bei dessen ohnehin notwendiger Generalrevision abermals Gelegenheit, alles Beobachtete zu wiederholen und mit den gewonnenen Aufklärungen zu vergleichen; es liegt viel Mühe und Zeitaufwand in solcher Arbeit, sie ist aber reich an interessantem und für die Zukunft wertvollem Gewinn und lohnt darum die Mühe. Besonders dann, wenn es gelungen ist, einen verwickelten Fall vollkommen zu klären, und wenn die Lösung eine unerwartete war, ist es von großem Werte, die Untersuchung nochmals durchzunehmen, und jede Zeugenaussage auf den nunmehr bekannten Sachverhalt hin zu prüfen. Da ergeben sich oft eine Menge von Aufklärungen: man weiß, warum dieser Zeuge zögernd sprach, warum jener verlegen war; man versteht eine Anzahl von zweideutigen, unbestimmten Äußerungen, man reimt vieles zusammen, was fern auseinander zu liegen schien, man versteht Betonung, Zweifel und Sicherheit in den Aussagen. Und bei einem künftigen Falle ist das alles mit Zinsen zu verwerten. Aber das Haupthilfsmittel für den U., sich Menschenkenntnis zu erwerben, findet er nicht in seiner Amtstätigkeit, sondern im alltäglichen, gemeinen Leben, bei seinem Verkehre mit Menschen in ihren gewöhnlichen Verhältnissen. Man lernt freilich bei jeder Arbeit und bei jeder Arbeit immer wieder Neues, aber so eigentlich zum Lernen ist die ernste Amtstätigkeit, die so vielfach und von so vielen Seiten zu schaffen macht, nicht recht da. Wer arbeiten will, muß schon gelernt haben; er kann sich im Beruf weiter ausbilden und dazu lernen, aber die Hauptlernzeit muß vorüber sein. Das hat namentlich darin seinen Grund, daß kein Lernen ohne Versuchen möglich und nutzbringend sein kann, „probieren geht über studieren" sagt mit vollem Rechte der Volksmund, und probieren kann man im Privatleben, im Amte geht das nur in gewisser Richtung an. Verwendbar ist nun im Leben für diese Zwecke alles: jede Unterredung, jede kurze Äußerung, jedes hingeworfene Wort, aber auch jedes Handeln und Streben, jeder Zug, jedes Auftreten, ja jede Gebärde und Miene, die wir an anderen sehen, und wenn es sich nur auf Augenblicke oder auf Reihen von Jahren erstreckt, soll studiert und mit dem Kommenden, Geprüften, Wirklichen verglichen werden. Allerdings müßte man da über jeden Menschen, mit dem wir in Berührung kommen. Buch führen und alles notieren, was er durch Handlungen, Worte und Mienen wahrnehmen ließ, und von

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Fall zu Fall wieder vergleichen, prüfen und feststellen; wer so weise ist, über sein Leben ein Tagebuch zu führen, der wird es am besten ausfüllen, wenn er darin Beobachtungen über sich und andere aufnimmt. Aber auch ohne schriftliche Aufzeichnungen läßt sich manches lernen: für die Eindrücke, die wir vom Tun der anderen bekommen, haben wir meistens ein gutes Gedächtnis und vergessen namentlich nicht leicht Enttäuschungen, die wir über das Wesen anderer erlitten haben. Wer nur blindlings durchs Leben läuft, hat von diesen Enttäuschungen nur die Kränkung, wer sich aber die Erfahrungen, die er im Leben macht, zunutze machen will, der lernt Lebensweisheit aus ihnen. „Kein Geld", sagt der Frankfurter Philosoph, „ist besser angewendet, als das, um welches wir uns haben betrügen lassen, — denn wir haben Lebensklugheit eingehandelt dafür." Und genau so ist es mit bösen Erfahrungen, und solche sind ja doch die weitaus zahlreichsten, die wir machen; sie b e r u h e n i m m e r a u f f a l s c h e n A n n a h m e n , die wir aufgestellt haben, und wenn dann Schlimmes eintrifft, so können wir noch reichen Gewinn darin finden, wenn wir, statt zu wehklagen, die Sache als „wertvolles Problem" auffassen und fragen, wie denn das gekommen ist. Wir werden unsere frühere Auffassung wachrufen, zugleich untersuchen, wie wir zu ihr gekommen sind, werden sie mit den heutigen Erfahrungen vergleichen, hiebei endlich den damaligen Fehler erkennen, ihn künftig nicht mehr begehen, und das Gewonnene als Kriminalisten verwerten können. Aber nicht bloß einschneidende Erfahrungen, die wir machen, können wertvoll werden: jede k l e i n e Beobachtung kann einmal von ausschlaggebender Bedeutung sein1). Wir hören etwas und glauben es, später stellt es sich als unwahr heraus; wir hören etwas und glauben es nicht, später erfahren wir, daß es doch richtig war. Das eine und das andere war uns gleichgültig im Leben, aber Lernmaterial kann es bieten, wenn wir nachgehen und fragen, wodurch wir uns haben irreführen lassen, wodurch der Erfolg willkürlich oder unwillkürlich veranlaßt wurde, wie wir auf das Richtige schon damals hätten kommen können, und warum wir nicht darauf gekommen sind. Die späteren Ereignisse gestatten uns vielleicht sogar, klar darüber zu werden, warum der andere sich damals anders gegeben hat, wie es damals verhüllt wurde, und wie die ganze Täuschung bewerkstelligt war; dann stellen wir uns mit der neuen Kenntnis der Sachlage auf den Standpunkt von früher und vergegenwärtigen uns, wie wir damals hätten auffassen sollen. Führt man dies öfters durch, so wird man sich dann in künftigen ähnlichen Fällen vielleicht nicht mehr irren. Besonders lehrreich für unsere Arbeiten ist im Privatleben das Forschen nach den Motiven einer Unwahrheit. Ist uns oder anderen in irgendeiner Weise unwahr berichtet worden und kommen wir später ') R. Avenarius, K r i t i k der reinen Erfahrung, 2. Aufl., 1907/08; A. v. Meinong, Ü b e r die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens, A b h a n d l u n g e n zur D i d a k t i k und Philosophie der Naturwissenschaft, H e f t 6, Berlin, Springer, 1906.

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Das Forschen nach den Lügemotiven.

dahinter, so werden wir der Sache in der Mehrheit der Fälle nicht weiter nachgehen, weil sie später gewöhnlich von keiner Bedeutung mehr ist; wollen wir aber daraus lernen, so werden wir in irgendeiner erlaubten Weise, am besten durch direkte ehrliche Frage, zu erfahren trachten, warum damals die Unwahrheit in die Welt gesetzt wurde. Meistens werden wir sehen, daß viel weniger wirkliche Schlechtigkeit, als eine kleine menschliche Schwäche das Motiv der Unwahrheit war. Wir werden im Laufe der Jahre überhaupt die Erfahrung machen, daß v i e l , v i e l mehr g e l o g e n w i r d , als man in der R e g e l g l a u b t , aber wir werden der Sache auch viel milder entgegentreten, wenn wir sehen lernen, daß die M o t i v e m e i s t e n s recht k l e i n l i c h und d u m m sind. Und das, was wir so im gemeinen Leben gelernt haben, ist oft im Ernste unserer Arbeit zu verwerten; wir werden wahrnehmen, daß der Zeuge, der unwahr ausgesagt hat, deshalb noch keineswegs mit dem Raubmörder gemeinsame Sache macht, sondern nur aus Furcht, Faulheit, Egoismus, Eitelkeit, Dummheit oder sonst einer menschlichen Schwäche die Unwahrheit gesagt hat 1 ). Für die Sache selbst ist es aber gleichgültig, aus welchem Motive der U. irregeführt wurde, und dieser wird in zahllosen Fällen einer Irreführung vorbeugen können, wenn er auf jene kleinlichen Motive Rücksicht nimmt, und selbst dann, wenn er sicher ist, daß der Zeuge „es nicht mit dem Täter hält", noch immer nachsieht, ob ihn der Zeuge nicht aus einem andern, oft ferne abliegenden Grunde belogen hat. Von großer Bedeutung ist auch das Beobachten und Verwerten auffallender Vorgänge aus dem gewöhnlichen Leben, wenn sich solche als kriminalistisch wichtig denken lassen. Das ist von jeher vernachlässigt worden, und der große Fortschritt, den die Kriminalpsychologie und mit ihr die Strafrechtswissenschaft überhaupt in den letzten Jahren gemacht hat, beruht zum großen Teile auf der Beo b a c h t u n g v o n g e w ö h n l i c h e n T a t s a c h e n , die dann auf kriminalistische Vorkommnisse umgewertet wurden. Es ist verhältnismäßig schwer, an wirklichen kriminalistischen Vorkommnissen seine Studien zu machen: es fehlt an Zeit und Ruhe, auch an Objektivität, weil man dem Verdächtigten nicht glaubt, beim Beschädigten absichtliche, beim Zeugen auch solche oder unwillkürliche Täuschung annimmt. Das alles entfällt bei einem Vorgange des gemeinen Lebens, den man ruhig und sorgfältig untersuchen kann und bei dem man besonders dann weniger Täuschungen ausgesetzt ist, wenn man die beteiligten Personen als verläßlich kennt und kein Grund zu Irreführung vorgelegen ist Hat man die Sache gut beobachtet und vielleicht eine befriedigende Lösung gefunden, so ist die Umwertung auf kriminalistische Vorgänge — oder, wie wir zu sagen pflegen, auf den „Ernstfall" — selten schwer. Daß dies gar nicht angängig sein sollte, wird kaum vorkommen: man braucht sich nur zu denken: „wie wäre es, wenn mein Gewährsmann !) Vgl. Seelig, Art. „Lüge" im H d K . G r o ß - S e e l i g , Handbuch.

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I. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

ein Beschuldigter, Beschädigter, ein wichtiger Zeuge wäre?" Besonders belehrend sind alle Fälle von Täuschungen, Fehlschlüssen, unrichtigen Wahrnehmungen; irrige Sinnesauffassungen, Vorgänge bei Schreck, Zorn, Angst, Furcht, im Schlaf oder in der Schlaftrunkenheit, im Rausch usw.; dann absichtliche unwahre Angaben, die sich irgendwie motivieren lassen, Fälle von reflektivem oder reflexoidem Handeln usw. Alle solche Dinge sollen beobachtet, untersucht, und wo möglich, zur allgemeinen Belehrung, veröffentlicht werden1). 8. Orientiertscin. Orientiert, ich finde keinen anderen Ausdruck hierfür, ist der U. dann, wenn er seinen Bezirk, seine Gegend, seine Leute, seine Hilfsmittel, die zu schaffenden Erleichterungen, die möglichen Schwierigkeiten, kurz alles kennt, womit er in Berührung kommen, was ihm helfen oder schaden kann. Man halte sich immer gegenwärtig, daß jeder auftretende, einigermaßen verwickelte Fall solche Mengen von Schwierigkeiten bietet oder bieten kann, daß dann, wenn man an die Arbeit gehen soll, weder die Zeit noch die Gelegenheit vorhanden ist, Nachforschungen darüber zu machen, wie man sich seine Lage erleichtern und Schwierigkeiten beseitigen könnte. Das muß alles früher geschehen sein. Nehmen wir an, es sei ein U. soeben auf seinen Posten irgendwo auf dem Lande gekommen, so ist es seine erste Aufgabe, Vorgesetzte und Untergebene kennen zu lernen. Er halte sich vor Augen, daß für ihn oft eine wichtige Persönlichkeit auch der Amtsdiener sein kann; von seiner Intelligenz, seiner Kenntnis von Land und Leuten, seinem guten Willen hängt oft alles ab; seine Aufklärungen sind für den jungen U., falls der Diener verläßlich ist, meist das Wertvollste, was ihm geboten werden kann, zumal, wenn der Diener ein alter Soldat und seit langer Zeit am Amtssitze bedienstet ist. Dann sucht der U. sich über die anderen Behörden klar zu werden, um zu wissen, was er von ihnen zu erwarten hat; jeder pflichttreue Beamte des Staates, sei er wo immer bedienstet, muß überzeugt sein, daß er dem Dienste im allgemeinen untersteht, und daß er verpflichtet ist, in wichtigen Fällen auch behilflich zu sein, wenn es sich um Beistand in einem anderen Amte handelte. Um aber solche Hilfe begehren zu können, muß der U. auch mit diesen Beamten schon früher in Berührung gekommen sein und sich nach Tunlichkeit amtlich gefällig gezeigt haben, um dasselbe verlangen zu können, wenn er Hilfe braucht. Diese Hilfe kann vielfach sein und sich auf alle erdenklichen Seiten von Erhebungen erstrecken; das Wichtigste ist aber zumeist, Aufklärung über Verläßlichkeit und Vertrauenswürdigkeit von Leuten zu bekommen, mit denen es der U. zu tun hat. In meinem ersten Dienstort hat ein alter Steuerbeamter gelebt, der mir im Laufe der Zeit, als ich seine ausgedehnte Kenntnis von Land und Leuten und seine absolute Verläßlichkeit wahrgenommen l

) Näheres im II. Abschnitt.

Vertrauensmänner und Leumund.

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hatte, von unschätzbarem Werte geworden ist, und wiewohl ich ihn immer wieder mit einer Frage quälte, war er stets von gleichbleibender Bereitwilligkeit. Er war seit langer Zeit am selben Orte gewesen, war ein leidenschaftlicher Fußgänger, kannte das kleinste Steiglein im Bezirke und jeden Bewohner, und so wußte er alles, was man ihn fragen konnte: „Ist der A ein verläßlicher Mensch?" — „Kann man von X nach Y auch über Z gehen?" — „Wenn einer in M eine Kuh stiehlt und sie nach N treibt, kann er mit ihr über den Berg bei O kommen?" — „Wie schwer mögen die größten Forellen sein, die man im P-Bache stehlen kann?" — „Wer ist in Q gescheiter: der Bürgermeister oder seine Frau?" — „Ist der R wirklich allgemein als gewalttätiger Mensch bekannt?" — und tausend andere Fragen erledigte er stets prompt und richtig. Solche Leute gibt es aber überall, man muß sie nur suchen, und hat man sie, so ersparen sie viel an Mühe und Arbeit, und was die Hauptsache ist, an Irrtümern. Natürlich genügt eine einzige derartige Auskunftsperson nicht, man muß solche verläßliche Leute in jedem Dorfe, in jeder Gegend haben. Die sogenannten „Wohlverhaltungs-", „Leumunds-", „Sittenzeugnisse" und wie die von der Ortspolizei ausgestellten Atteste sonst noch heißen mögen, müssen natürlich eingeholt werden, schon deshalb, um eine sonst entstehende Lücke auszufüllen; wer aber mit den Dingen lange zu tun hat, weiß, daß ihr Wert in den meisten Fällen ein geringer ist. Theoretisch genommen sollte ein solches Zeugnis von der Gemeinde selbst ausgehen, und in Wirklichkeit ist es aber im günstigsten Falle vom Bürgermeister selbst, häufig aber von irgendeinem Gemeindeschreiber ausgestellt und in der Großstadt vom Hausbesorger, bei dem sich das erhebende Organ zu erkundigen pflegt, zumindest stark beeinflußt. In beiden Fällen, namentlich aber dem letzteren, spielt persönliche Ansicht, oft Gunst und Mißgunst, Verwandtschaft und Freundschaft, Feindschaft und Neid eine große Rolle. Wo wäre auf dem Lande ein Bürgermeister, der mit niemandem seiner Gemeinde verwandt oder befreundet, verfeindet oder zerworfen wäre! Weiß dies aber der U., und wissen muß er es doch, dann wäre eä geradezu gewissenlos von ihm, wenn er seine Auffassung und seine Entschließungen einzig von einem derartig entstandenen Atteste abhängig machen wollte. Geht er also gewissenhaft und ehrlich vor, so muß er seine Vertrauensmänner haben, an die er sich in heiklen Fällen wendet. Ich glaube, daß dies niemand Spionage nennen wird, wenn sich der U. bei Leuten seines Vertrauens über Menschen, deren Aussage im Augenblicke von Wichtigkeit ist, Rat erholt. Aber auch hier genügt es nicht, erst dann, wenn der Fall schon gegeben ist, sich Vertrauenspersonen zu suchen, diese muß man schon lange eher kennen und vielfältig geprüft haben, bis man ihnen Glauben schenken darf. Man wird vielleicht den Wert solcher Leute nicht so ohne weiteres einsehen wollen, wer aber tlas erstemal in die Lage kommt, die Tragweite einer wichtigen, sonst weiter nicht unterstützten Anzeige zu prüfen, oder zwei widersprechende Aussagen gegeneinander abzuwägen, oder wer darüber schlüssig werden 4*

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I. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

muß, ob man jemandem eine wider ihn erhobene Beschuldigung zutrauen kann, der wird Gott danken, wenn er eine ehrliche, erprobte, und mit den Verhältnissen vertraute Persönlichkeit zu finden weiß, die ihn über den Charakter der hier maßgebenden Leute aufklärt. Der Arzt, der Pfarrer und kluge, schweigsame alte Frauen wissen oft Dinge, die man sonst von niemandem erfahren kann. Von oft bedeutendem Werte sind die Äußerungen der Militärbehörden, die über gewesene Soldaten in den Stammblättern usw. vorzukommen pflegen. Der Abteilungskommandant des betreffenden Mannes hat doch immerhin Gelegenheit gehabt, ihn genügend zu beobachten und zwar gerade zu einer Zeit, in der sich der Charakter eines Menschen am kräftigsten und doch noch ziemlich unverhohlen ausspricht. Ich hatte oft Gelegenheit zu beobachten, wie richtig und zutreffend, oft geradezu prophetisch die diesbezüglichen Äußerungen der Militärkommandanten gewesen sind, wenn auch seit deren Abgabe viele Jahre vergangen waren. Als sehr verläßlich erweisen sich in der Regel auch die Auskünfte der Schulen bei Jugendlichen. Sie vervollständigen in einer mitunter ganz trefflichen Weise das Charakterbild des Beschuldigten und sind auch bei der Beurteilung von Zeugenaussagen Jugendlicher von unschätzbarem Werte. Ein anderes Gebiet, in dem sich der U. auf das genaueste umsehen muß, ist das lokale. Vom A u g e n b l i c k e , da ein Jurist U. wurde, ist er nur noch U. und sonst gar n i c h t s , alles, was er tut, treibt, studiert und hört, muß der einzigen Idee untergeordnet werden, wie er das, was er erfahren hat, in seinem Amte verwerten könne. Nicht einseitig soll er werden, sondern vielseitig, so vielseitig als nur möglich; eben weil er alles brauchen kann, soll er sich um alles kümmern, um alles, aber nur mit dem Gedanken, wie er es als U. verwerte. Er darf also nicht mehr „spazieren gehen", d. h. gedankenlos daherbummeln und sich harmlos freuen an Gottes schöner Welt; jeder Weg zur Erholung oder im Dienste muß mit der Karte in der Hand gemacht werden, jeder Weg, jede Flur, jedes Wässerchen usw. ist auf der Karte aufzusuchen und der Name dem Gedächtnisse einzuprägen; die Namen der Eigentümer auch der letzten Hütten sind festzustellen, von jedem Aussichtspunkte muß der gemachte Weg mit dem Auge wiederholt werden, bekannte örtlichkeiten sind aufzusuchen, ihre gegenseitige Lage, Entfernung und Verbindung ist klarzustellen, die Weltgegend zu merken und zu prüfen, was und wohin man sehen kann. Jeder Weg ist nach der Uhr zu machen, die aufgewendete Zeit, am besten auf der Rückseite der Ortskarte, zu notieren. Der Bauer weiß nach der Uhr nur die E n t f e r n u n g von seinem Hause zur Kirche, zum W i r t s h a u s e und zur nächsten E i s e n b a h n s t a t i o n richtig a n z u g e b e n , da es mißlich ist, wenn er zum Gottesdienste, zum Eisenbahnzuge oder vom Wirtshause nach Hause zu spät kommt. Alle Fragen nach anderen E n t f e r n u n g e n b e a n t w o r t e t er zwar

Kenntnis der örtlichkeiten und Betriebe.

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i m m e r s o f o r t , a b e r a u c h i m m e r f a l s c h 1 ) , und dies kann oft zu bedenklichen Irrtümern führen. Gegebenenfalles aber jedesmal durch einen Gendarmen die Distanz ablaufen zu lassen, geht nicht immer an, man muß im voraus und bei Gelegenheit die Sache selbst feststellen. Gewisse Örtlichkeiten betrachte man schon mit bestimmter Rücksicht auf gewisse Fälle: Wirtshäuser wegen der da vorkommenden Raufereien, Totenkammern wegen der dort vorzunehmenden gerichtlichen Obduktionen, Gewässer in Dörfern wegen der hier ertrinkenden unbeaufsichtigten Kinder, Waldungen wegen der Wilddiebstähle, Wegkreuzungen wegen der Autounfälle usw. Man suche sich zu orientieren, wie es mit der Unterbringung der Ortspolizei, der Einrichtung des Feldschutzes, der Entfernung der Gendarmerieposten beschaffen ist, wie die Leute h i e r ihre Türen, Fenster, Stallungen und Nebengebäude verwahren, wie sie es d o r t machen; eine Stunde Entfernung bringt häufig ganz andere Gebräuche zutage. Man kümmere sich um gewisse technische Einrichtungen, die auch allerorten verschieden sind, so daß man gegebenenfalles oft Schwierigkeiten hat, wenn man aus den stets mangelhaften Beschreibungen der Leute klar werden soll. Eine Mühle, eine Brettersäge, eine Hufbeschlagschmiede, ein Sensenhammer, ein Steinbruch, ein Kohlenmeiler, ein Ziegelofen und zahlreiche andere gewerbliche oder Fabriksanlagen sehen überall anders aus und sind aus der Beschreibung nicht zu verstehen; m a n m u ß sie g e s e h e n h a b e n , um sich nach einer Beschreibung orientieren zu können. Jeder von uns hat es erlebt, daß ihm eine nur ungefähr richtige Vorstellung einer solchen Anlage bloß nach Erzählungen unmöglich ist, während man sofort die ganze Sachlage begreift, wenn man nur ein einziges Mal eine ähnliche Betriebsanlage gesehen hat. Ich weiß es aus Erfahrung, daß ein großer Teil gebildeter Menschen ihr lebelang noch nie eine Mühle, eine Brettersäge, eine Hufschmiede betreten und besichtigt hat, obwohl eine solche Anlage jedem ein gewisses Interesse einflößen sollte. Dies ist um so unbegreiflicher, als jeder unzählige Male daran vorbeigekommen ist und es keine Schwierigkeiten bietet, sich eine solche Einrichtung zeigen zu lassen. Ich habe, solange ich praktischer Kriminalist war, nie eine Gelegenheit versäumt, eine landwirtschaftliche, gewerbliche oder Fabriksanlage zu besichtigen und mir eingehend zeigen und erklären zu lassen, und kann versichern, daß mir in all diesen vielen Malen nicht ein einziges Mal Unfreundlichkeit oder wenig Entgegenkommen bewiesen wurde. Jeder, am meisten allerdings der einfache Mann, zeigt sogar Freude, wenn man sich um seine Arbeit und Leistung kümmert, wenn er als der Belehrende und Erklärende auftreten kann, er zeigt willig und gerne, was er aufzuweisen hat. Besitzt man schon einige Kenntnisse von der Sache, um so besser, der Mann spricht dann noch lieber. Hat man keine, Ich habe viele Zuschriften bekommen, die mir bestätigen, daß das in der T a t ü b e r a l l so ist; vgl. Archiv 6 S. 209.

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I. Abschnitt. V o m Untersuchungsführer.

so hüte man sich, allzu naiv zu fragen: der gemeine Mann kann es sich nicht vorstellen, daß der Gebildete Dinge „so einfacher Natur" nicht wisse, er wird mißtrauisch und zurückhaltend, weil er glaubt, man halte ihn zum besten. Man beschränke sich also auf das Schauen, Stellen kurzer Fragen, und auf das Zuhören: das nächstemal wird es besser gehen. Hat man aber in derlei technischen Dingen einige Kenntnisse, so wird man in zahlreichen Fällen viel leichter arbeiten können und überraschend viel Zeit und Mühe ersparen. Bleiben wir bei dem naheliegenden Beispiele einer Mühle und nehmen wir an, der U. hätte solch ein merkwürdiges Ding sein Lebelang noch nie betreten. Handelt es sich nun um einen Unfall, der in einer Mühle sich ereignet hat, um einen Einbruchdiebstahl, um Betrügereien und Veruntreuungen, die das Mühlpersonal begangen hat, um einen Brand in der Mühle usw., so wird jeder dieser Vorgänge irgendwelche Beziehung zur technischen Einrichtung der Mühle haben: der Unfall wird durch mangelhafte Konstruktion oder Beaufsichtigung irgendeines Mühlenteiles entstanden sein, der Dieb wird irgendeine technische Einrichtung zu seinem Vorteile benützt haben, die Betrügereien des Personals werden nur zu verstehen sein, wenn man die innere Einrichtung, namentlich aber die einzelnen Räume der Mühle kennt, und bei einem Brande hat man ohne diese Kenntnis absolut keine Vorstellung davon, wie die Sache zugegangen ist. Ich möchte nun wissen, wie es ein U. verantworten will, die Untersuchung eines solchen Falles durchzuführen, ohne daß er eine sichere Unterlage für seine Erhebungen besitzt. Im gegebenen Falle aber erst hinlaufen und sich die Sache ad hoc ansehen, dazu fehlt in der Regel Zeit und Legitimation, zumal wenn die Sache doch nicht so wichtig ist, um das besondere Aufheben zu rechtfertigen. Zu bemerken wäre noch, daß man in der Regel derlei lokale Dinge leicht im Gedächtnisse behält, da fast alle Menschen ein gutes Lokalgedächtnis haben, und wenn man selbst die einzelnen Momente vergessen hätte, so werden sie doch wieder lebhaft aufgefrischt werden, sobald ein Zeuge von den Einzelheiten einer solchen Anlage erzählt. Von Wichtigkeit sind weiters alle Verkehrswege im Bezirke: Hauptstraßen, Chausseen, Straßen, Wege, Steige, Brücken, Fähren, Furten, Übergänge usw. Die Orientierung darüber ist nicht schwer, da man ja nur jeden begangenen Weg auf der Generalstabskarte nachzusehen und zu notieren braucht, ob er richtig verzeichnet ist, was im großen und ganzen der Fall sein wird. Die Korrekturen werden sich bei den Hauptverkehrsadern darauf beschränken, daß man Straßenumlegungen verzeichnet, daß man es angibt, wenn aus einer Straße niederer Ordnung eine solche einer höheren wurde, oder eine neue Brücke einzeichnet usw. Bei dieser Gelegenheit wird der U. auf seiner Karte auch sonstige Veränderungen verzeichnen: Neubauten, Auflassungen, Änderungen in den Kulturen, den Wasserläufen usw., kurz, seine Karte muß stets auf dem l e t z t e n Stande erhalten werden. Die meisten Änderungen werden sich bei kleinen Wegen ergeben; kleine Fußsteige, die aufgelassen oder

Orientierung über Sachverständige.

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neu erstanden sind, müssen eingezeichnet werden, sie können von Wichtigkeit sein. Ebenso vergesse man auch hier nicht auf neuangelegte oder aufgelassene Brücken und Stege, auf Brunnen, Wasserlachen und Tümpel, Teiche und sonstige Wasserbestände. Diesen ist überhaupt ein besonderes Augenmerk zuzuwenden; Lauf, Breite, Richtung usw. der Gewässer ist allerdings auf der Karte zu sehen, das ist aber nicht alles. Man bekümmere sich um Tiefe, Ufer, Wechsel der Wassermenge, Zugänge, Furten, Schleusen, Art des Grundes (ob steinig oder schlammig) usw., kurz alles, was zur Charakterisierung des Gewässers gehört, denn diese spielen in so vielen Kriminalfällen eine Rolle, und man arbeitet schwer, wenn man gar nicht weiß, wie das Ding aussieht. Endlich kümmere man sich auch um das Innere der Häuser. Wenn man einige große und einige kleine Bauernhäuser (und hier haben wir ja nur die Verhältnisse auf dem Lande im Auge) in allen Einzelheiten angesehen hat, so weiß man, wie alle aussehen, da die Bauernhäuser allerorts nach einigen wenigen Typen gebaut sind. Aber wie diese aussehen, wie sie im V o l k s m u n d heißen und wie sie benützt werden, das muß man wissen, sonst hat man beim ersten besten Diebstahle Schwierigkeiten. Von größter Wichtigkeit ist es, daß der U. über die Sachverständigen, die ihm erforderlichenfalles zu Gebote stehen, vollkommen orientiert ist. Daß er seine wichtigsten Sachverständigen, die Gerichtsärzte, genau in allen ihren besonderen Geschicklichkeiten, Eigenheiten und Schwächen kennet muß, ist selbstverständlich. Aber auch in anderen Richtungen muß er sidi mit seinen Leuten zurechtfinden: Sachverständige im Waffenwesen, h Jagdsachen, im Baufache, die Schätzleute usw., diese alle muß der U. von f r ü h e r kennen und muß wissen, was er von ihnen erwarten kann und in welcher Richtung er das von ihnen Gebotene wird verwerten können. Aber es genügt nicht, daß er die Leute in der Leistung allein kennt, welche auf ihrem Aushängschilde zu lesen ist, er muß auch von dai besonderen Geschicklichkeiten und Eigenheiten, welche den Leuten z i f ä l l i g zukommen, Kenntnis haben, um diese nötigenfalls verwerten zu können. Wenn einer besoidere Sprachkenntnisse besitzt, Reisen gemacht hat, wenn er Münzenammler oder ein guter Pferdekenner ist, wenn er über ein gutes Mäkroslop oder über einen besonders geschickten Hund verfügt, so pflegt er da; nicht ober seiner Haustüre ersichtlich zu machen, und doch kann einer oder der andere dieser Umstände dem U. auf dem Lande oft deai gräten Nutzen schaffen. Der erste ist als Dolmetsch zu verwenden, der zwdte kann bestätigen, ob die Behauptungen eines angeblich vielgereisten Gauners wahr sind, der dritte eine gefälschte Münze untersuchen, dr vierte bei einem Fall von Pferdebetrug helfen, der fünfte sein Imstxuaent dem Gerichtsarzte borgen, und der sechste mit seinem Hundle et\as Wichtiges suchen helfen. Und wenn an einem sonst nichts Merkwüdiges ist, als daß er in einem fernen Lande

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I. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

geboren ist, so kann er einen mystischen Menschen entlarven helfen > der zufällig behauptet, aus derselben Gegend zu sein, aber einen anderen Dialekt spricht. Im kleinsten Landstädtchen gibt es fast immer einige Leute, welche gewisse Fähigkeiten besitzen, die unter Umständen von großem Werte sein können, das alles muß man aber schon eher wissen und man darf nicht erst im letzten Augenblick darnach Umfrage halten. Wenn für den U. in der Stadt die Polizei mit allen ihren Organen von großer Wichtigkeit ist, so ist es für den U. auf dem Lande die Gendarmerie, von der ein großer Teil seiner Tätigkeit, oft die ganze, abhängt. Immer aber wird es auf den U. selbst ankommen, ob er mit der Gendarmerie Erfolge erzielt oder nicht. Wenn der U. seine Gendarmen kennt, über sie orientiert ist und sie richtig verwendet, wird er gute Erfolge haben; ist dies nicht der Fall, dann wird er keine erzielen. In diesem Falle aber ist immer der U. schuld, nicht die Gendarmerie. Ich kenne allerdings praktisch nur die österreichische Gendarmerie, diese aber aus einem fortwährenden Verkehre durch fast drei Jahrzehnte, und aus diesem Verkehre habe ich die Erfahrung gewonnen, daß irgendein Mißerfolg fast ausnahmslos dem U., nicht aber dem Gendarmen zuzuschreiben ist. Dieser hat immer getan, was seine Pflicht war und was man von einem Menschen verlangen kann, aber wenn man ihn nicht genügend oder ungeschickt informiert, von ihm Unmögliches verlangt, oder ihn in einer Weise verwendet, die seinen persönlichen Eigenschaften nicht entspricht, dann darf man sich nicht wundern, wenn hie und da einmal etwas schief geht. Ich habe oft Gelegenheit gehabt, an den Mitgliedern dieses ausgezeichneten Korps Beispiele der aufopferndsten Leistung, der größten Unerschrockenheit, musterhaften Taktes und eingehendster Kenntnis zu sehen, welche geradezu Bewunderung verdient haben, immer aber war der Gendarm wenigstens eifrig, willig, ausdauernd, und korrekt im Vorgehen1). Aber der Gendarm ist keine Maschine, er genießt zwar eine g l e i c h m ä ß i g e Schulung, aber man tötet dadurch nicht seine eigene Individualität, und diese muß dann auch in der Praxis entsprechend verwendet und ausgenützt werden. Deshalb muß der U. auch genau über die ihm zur Verwendung stehenden Gendarmen, ihre Natur und Kultur unterrichtet sein. Allerdings ist die besondere Verwendung des einzelnen Mannes nicht Sache des U., sondern die des Vorgesetzten. Wenn der U. anordnet: „Man entsende einen Gendarmen, der dies oder jenes zu tun hat", so hat er der F o r m nach genug getan. Ob aber auch der Sache nach, ist eine andere Frage. Der eine Gendarm ist besonders tüchtig in Sachen taktvollen Auftretens, der zweite ist besonders „schneiDie kriminalistisch-fachliche Ausbildung der Gendarmen, die früher etwas zu wünschen übrig ließ, wurde seit der Einführung großzügiger Schulungsmaßnahmen — Gendarmeriezentralschule, Gendarmerieakademie für den Offiziersnachwuchs (erstmalig in Graz 1928/29), Informationskurse für ältere Offiziere — wesentlich gehoben.

Auswahl der Erhebungsorgane.

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dig", der dritte vermag mehr als die anderen körperliche Anstrengungen zu überwinden, der vierte verfügt über besondere Kenntnisse. Handelt es sich nun in einem schwierigen Falle um die Betätigung einer der genannten Eigenschaften, so ist vielleicht alles verloren, wenn nicht der richtige Mann ausgewählt wurde. Der Vorgesetzte kennt aber vielleicht die Einzelheiten des Falles oder die Pläne des U. gar nicht, hat auch oft nicht die Zeit, sich mit der Sache so eingehend zu befassen und wenn der U. es nur bei einem trockenen Amtsschreiben hat bewenden lassen, so wird es auch bei einem entsprechenden Erfolge bleiben. Kennt er aber seine Gendarmen und ihre besonderen Fähigkeiten, so wird der U. in jedem wichtigeren Falle zuerst mit dem Vorgesetzten über die Wahl des zu entsendenden Mannes Rücksprache pflegen, sich dann den Mann kommen lassen, mit ihm den Fall eingehend erörtern, ihm seine eigenen Ansichten und Absichten entwickeln, auch etwa die des Gendarmen anhören, Zwischenfälle, die sich ereignen können, in Erwägung ziehen, sich über die Varianten einigen, kurz, die Sache so klar stellen als nur möglich. Ist der Mann so unterrichtet, dann wird er gewiß tun, was er zu tun imstande ist und wozu ihn sein derart rege gemachter persönlicher Ehrgeiz antreiben wird. Und kommt er dann mit einer anerkennenswerten Leistung heim, so versage man ihm die Anerkennung aiich nicht: ein herzliches, aufmunterndes und belobendes Wort ist so leicht gesprochen und wirkt immer gut. Man stelle sich nur die Tätigkeit eines Gendarmen in ihrer ganzen Schwierigkeit vor: tüchtig bepackt, ohne genügenden Schutz gegen Kälte und Hitze, in verantwortlicher Mission muß er meilenweite Wege zurücklegen; eingeengt von unzähligen Vorschriften politischen und gerichtlichen Inhaltes, ohne die Möglichkeit, sich mit jemanden zu beraten, soll der Mann den feinsten Takt entwickeln, unerschütterlichen Mut beweisen, nicht zu viel und nicht zu wenig tun und schließlich einen erschöpfenden und richtigen Bericht über das Ganze verfassen. Hat der Mann das alles tadellos gemacht, so ist dies wirklich eine bedeutende Leistung, und der U., dem in dieser Weise Mühe und Arbeit erspart wurde, dem eine brauchbare Grundlage für seine weiteren Erhebungen geschaffen ist, tut wahrhaftig nicht zu viel, wenn er dem braven Gendarmen, seinem treuesten Mitarbeiter, ein Wort der Anerkennung und des Dankes zukommen läßt. Er versäume es auch nicht, sich über hervorragende Leistungen eines Gendarmen belobend zu dessen Kameraden und Vorgesetzten zu äußern; hat es der Mann verdient, so soll ihm auch seine Anerkennung zuteil werden. Außerdem wirkt nichts so aneifernd für künftige Fälle, als verdientes Lob, nichts so deprimierend als fortwährendes Fordern, allenfalls Ausstellen, niemals aber Anerkennen. Dies sei überhaupt gemerkt in betreff des Benehmens gegen jeden Untergebenen. Von großer Bedeutung für den Erfolg ist es, die Arbeit des Gendarmen derart zu begrenzen, daß er sie auch leisten kann. Nicht selten kommt es vor, daß der Gendarmerie umfangreiche Aktenstücke, ja ganze Untersuchungsakten „zur geeigneten Erhebung" geschickt

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I. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

werden. Da kann nichts Ordentliches herauskommen. Der Gendarm muß wissen, was er zu tun hat, und er muß die Möglichkeit haben, die ihm gestellten Aufgaben zu leisten. Bei diesem Anlasse sei auch noch ein Wort darüber gesagt, wie man Aufträge erteilt. Daß diese kurz, vollständig und deutlich sein müssen, ist selbstverständlich. Man soll aber auch Zweifel ausschließen, und das geschieht am verläßlichsten, wenn man Aufträge s c h r i f t l i c h gibt, und Aufbewahrung des Auftrages verlangt. Einerseits wird dadurch jeder Ausrede vorgebeugt, andererseits hilft man auch dem Vergessen und Mißverstehen ab. Im Augenblick der Auftragserteilung versteht der Mann die Sache ganz gut — nach einer Viertelstunde verwechselt er vielleicht rechts und links oder Maier und Müller oder zwei Zahlen; hat er das Ding aber schriftlich, so ist dies alles ausgeschlossen. Auf jeden Fall muß aber immer, ob der Auftrag schriftlich, oder wegen Zeitmangels mündlich erteilt wurde, etwas geschehen: „Befehl wiederholen". Es gibt wenig dümmere Fragen, als die: „Haben Sie mich wohl verstanden?" Sie wird immer mit J a beantwortet, denn hätte der Mann nicht verstanden, so hätte er wohl gefragt; er g l a u b t e verstanden zu haben, hat es aber nicht kapiert. Man mag gegen den militärischen Drill noch so viel einwenden, er hat doch sehr viel Gutes und einer seiner besten Grundsätze ist, immer verlangen: „Befehl wiederholen". Dieses Mittel ist fast ganz verläßlich; kann der Mann sagen, was er soll, so weiß e r es auch, hat er es nicht verstanden, so kann er es auch nicht sagen.

9. Der „expcdifive" Untersuchungsführer. Auch der Kampf gegen das Verbrechen ist ein Krieg und erfordert daher Geld, — gebt genügend Geld und ihr habt die beste Strafjustiz. Hat man Geld, so kann man die besten Leute für den Polizeidienst haben und diesen mit allen modernen Hilfsmitteln ausstatten; man kann seine U. vor allem modern ausbilden und dann finanziell günstig stellen, dafür aber ausgesuchtes Material verlangen, Leute, die es sich Zeit und Mühe kosten ließen, sich für ihr schwieriges, aber gut bezahltes Amt vorzubereiten. Mit Geld kann man die besten Gutachten von den besten Sachverständigen bekommen, welche Zeit, Mühe und Vorversuche daran wenden können, wenn sie entsprechend entlohnt werden; mit Geld bekommt man Zeugen, denn, wenn er Zeitverlust und Zureise reichlich ersetzt erhält, kommt jeder gerne, der in der Sache etwas weiß; hat er aber von seiner Vernehmung materiellen Verlust zu erwarten, so sucht es jeder zu verheimlichen, daß er ein Zeuge ist, um nicht zu Gericht kommen zu müssen. Mit Geld lassen sich auch kostspielige Exkursionen, Versuche und Proben machen; mit Geld kann man endlich auch eine g e n ü g e n d e Anzahl von Beamten, namentlich von U. einstellen, damit dann jeder von ihnen mit Muße, Fleiß

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Nachteile des „expeditiven" Arbeitens.

und Sorgfalt, ohne Hetze, Übereilung und Schleuderhaftigkeit arbeiten kann. Nun hat die moderne Zeit aber für die Justiz nicht das genügende Geld; man kann darob niemandem einen Vorwurf machen, das ist in vielen Verhältnissen gelegen, die man nicht willkürlich ändern kann. Die Arbeit muß d o c h gerichtet werden und dazu noch tunlichst gut, die Zahl der U. ist aber allerorts in gar keinem Verhältnisse mit der zu bewältigenden Arbeit. Paul Lindenberg1) erzählt, ein Berliner Untersuchungsrichter habe sich über seine Arbeiten genaue Vormerkungen gemacht, die ergaben, daß er in 16 Jahren 32656 Personen vernommen habe. Dazu kommen die Obduktionen, Lokalbesichtigungen, Lokaltermine und die gesamte Schreibarbeit! Ähnliche für sich genug sprechende Ziffern könnte jeder U. aufstellen. In der Nachkriegszeit mit ihrem noch nie dagewesenen Ansteigen der Kriminalität hatte sich das Mißverhältnis zwischen Zahl und Arbeitslast der U. noch erheblich verstärkt. Man hatte allerdings an den meisten Gerichtshöfen, Staatsanwaltschaften und Polizeidirektionen einen oder zwei U. mehr, als man ihrer vor mehreren Jahrzehnten dort hatte; aber was hilft es, wenn die Zahl der Straffälle sich im Verhältnisse von 2 : 3 vermehrt hat 2 ), und man erhöhte die Zahl der U. nur im Verhältnisse von 6:7? Verlangt nun der betreffende Vorgesetzte wirklich eine Vermehrung des Personals, so geht dies Begehren seinen vorgeschriebenen Instanzenzug hinauf, und da man kein Geld hat, es zu erfüllen, auch ebenso wieder herunter, mit der Parole: „ E s muß mit den vorhandenen Kräften das Auslangen gefunden werden." Sind die Verhältnisse besonders schwierig, so wird vielleicht nochmals ein ähnlicher Versuch gemacht, und da auch dieser erfolglos bleibt, so muß man es, selbst beim besten Willen, Abhilfe zu erreichen, beim alten bewenden lassen. Was bleibt da zu tun übrig? Es hat sich auch hier zur rechten Zeit ein Wort eingestellt, man erfand den „expeditiven U.". Unter diesem angenehmen Manne versteht man einen U., der nie über zu viel Arbeit klagt, in der Tat auch nie zu viel Arbeit hat, der seine Untersuchungen einfach, leicht und rasch beendet, keine Schwierigkeiten macht und findet, in dessen Bureau keine „Seeschlangen, Bandwürmer, Hydren" und andere „Berliner Polizei und Verbrechertum", Leipzig, Ph. Reclam, ohne Jahresangabe. s) Seit 1933, der Machtergreifung des Nationalsozialismus, nimmt hingegen im Deutschen Reich die Kriminalität stetig ab. Es betrug die Zahl der Verurteilten auf je 100000 der strafmündigen Zivilbevölkerung im Durchschnitt der Jahre 1909—1913 193 2

1184 1125

1933

973

1937

737

193 6

741

Auch die seit 1936 eingeführte polizeiliche Kriminalstatistik, die nicht die Verurteilten, sondern die bearbeiteten Straftaten zählt, weist bereits für das Jahr 1937 einen Rückgang von fast 2 % auf, wiewohl gleichzeitig die Verfolgungsintensität durch die Neuorganisation der Kriminalpolizei wesentlich gestiegen ist (Kriminalistik 12 S. 137).

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I. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

Ungeheuer hausen, der seine Fälle vielmehr eher zum Abschlüsse bringt, bevor sie durch allzu viele Fragen und allzu genaues Nachforschen zu solch zeitfressenden Bestien anschwellen. In der Tat: fast jede Untersuchung läßt sich überraschend schnell beenden, wenn man nur will; wenn man die Auskunftspersonen, die dieser und jener nennt, für „irrelevant" hält, so braucht man sie im Protokolle nicht zu erwähnen — sind sie nicht in actis, so braucht man sie nicht zu vernehmen, und hat schon Zeit erspart; fragt man einige unwissende Leute, ob ein Lokalaugenschein die Klärung der Sache fördern könnte, so werden sie gewiß „Nein" sagen; das kommt natürlich auch in das Protokoll, man hat genügende Begründung, um den Lokalaugenschein n i c h t vorzunehmen, und hat abermals viel Zeit gewonnen; hat man eine Diebsbande, die beschuldigt ist, ein Dutzend Einbruchdiebstähle begangen zu haben, so hat man ja „genug, um sie zu verurteilen", und man ist absolut nicht dazu gezwungen, die Gendarmerie zu Erhebungen zu veranlassen, welche vielleicht ein zweites Dutzend von Diebstählen zutage fördert, welche jene Bande höchst wahrscheinlich auch begangen hat. Abermals eine Menge Zeit erspart. Hat man einen großen Betrugsprozeß, so ist es sehr „praktisch", einige „haltbare" Fakten herauszugreifen und diese durchzuführen; freilich sollte man den Fall eigentlich auf breite Basis stellen, das ganze Gebaren des Betrügers studieren und klarlegen und jedes seiner Geschäfte auf seine Ehrlichkeit prüfen — aber wer zwingt dazu? Tut man es nicht, so ist viel, viel Zeit erspart. Was für Arbeit gibt es, wenn man bei den verschiedenen Unfallsprozessen den eigentlich Schuldtragenden suchen will; endlose Besprechungen mit Sachverständigen, wiederholte Besichtigungen des Unfallortes, umständliche Vernehmungen erfordern entsetzlich viel Zeit; man nimmt den zunächst schuldigen Arbeiter als den Verantwortlichen und die Sache ist im Handumdrehen fertig. Diese Reihe läßt sich beliebig vergrößern, und wenn so im Laufe der Untersuchungen überall e t w a s Zeit gewonnen wird, so gibt das viel aus, die Untersuchungen fließen leicht und rasch ab, und wenn der betreffende Künstler, sagen wir: Takt genug hat, um das Auftreten von Schwierigkeiten und Anständen zu verhindern, die bei allzu — flinkem Arbeiten lästig werden könnten, so ist das „expeditive Talent" fertig. Wer es mit seinem Gewissen vereinen kann, sich auf diese Art Lorbeeren zu sammeln, der mag es tun, der entgegengesetzte Rat fruchtet bei einem solchen U. ohnehin nichts; ob er später beruhigt auf seine Tätigkeit zurückblicken kann, auch wenn ihm seine „Expeditivität" manches recht Angenehme gebracht hat, das ist allerdings eine andere Frage. Kein Mensch wird behaupten, daß Untersuchungen schleppend und langsam geführt werden sollen, daß Überflüssiges geschrieben und getan werden soll, daß man die Akten „rasten" lassen muß, damit sich später irgendwie ein glücklicher Gedanke findet, aber was in der Untersuchung auch nur entfernt Schuld oder Unschuld eines Menschen

Vermerkkalender und Notizblock.

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beweisen oder unterstützen kann, das muß erhoben werden, es darf bei schwerer Verantwortung des U. nicht als gleichgültig beiseite geschoben werden. Die Führung j e d e r Untersuchung ist mühsam und zeitraubend, das kleinste Übersehen, der verzeihlichste Leichtsinn kann weittragende traurige Folgen nach sich ziehen; gut arbeiten und expeditiv sein sind Begriffe, die einander unbedingt ausschließen. Ich habe noch nie, absolut nie, eine wirklich gut geführte Untersuchung von einem U. gesehen, der als „expeditive Kraft" gegolten hat — verzichte jeder U. auf den traurigen Ruhm, ein „expeditiver" U. zu sein! Ich betrachte die lobende Bezeichnung als „expeditiven U." als den berechtigten Vorwurf von Gewissenlosigkeit.

10. Ober Ordnung. Es sind eigentlich Geringfügigkeiten, die da zur Sprache kommen, sie können aber in ihrer Gesamtheit von Wichtigkeit werden. Es sieht überflüssig aus, wenn man erwähnt, daß sich der U. keine Unordnung zuschulden kommen lassen soll, und doch kann es leicht vorkommen, daß ein von Haus aus vielleicht nicht sehr ordentlich veranlagter U., namentlich bei größerem Andränge der Arbeit, manches nicht allzu peinlich genau durchführt. Dies rächt sich oft in arger Weise, wie man es namentlich dann sieht, wenn eine Untersuchung sich vom Anfang an so anließ, als ob sie unbedeutend sei, während sie im späteren Verlaufe großen Umfang gewinnt. Zu Beginn wurde alles nur oberflächlich geordnet, der Moment, wann man mehr Sorgsamkeit für das Äußere anwenden sollte, hat sich nicht besonders angekündigt, und plötzlich ist Unordnung und Verwirrung in einem wichtig gewordenen Falle fertig. Man halte also vor allem seinen Kalender in ängstlicher Ordnung und trage alles auch noch so Unbedeutende darin ein, damit sich nicht an einem Tage unvorhergesehene Arbeit häufen kann. Man h ü t e sich vor dem g e f ä h r l i c h e n : „ D a s merke ich mir schon", man merkt sichs im Augenblick, morgen ists aber vergessen, was um so gefährlicher ist, als man gerade von wichtigen Dingen glaubt, man vergesse sie nicht, obwohl es doch geschieht. Vorgeladene Zeugen, anberaumte Amtshandlungen, Fristen und sonst zeitlich Bestimmtes müssen sorgfältig eingetragen werden. Hiemit ist es aber nicht genug; man muß nicht nur bei jeder Eintragung das schon Eingetragene durchsehen, um zu wissen, ob noch Raum ist, sondern man muß auch stets das Eingetragene f ü r die n ä c h s t e n T a g e durchsehen, um nicht von einer Frist oder einer nötigen Vorbereitung erst im letzten Augenblicke überrascht zu werden. Besonders wichtig ist das Notieren von „Einfällen", die überraschend kommen, nicht sofort zu erledigen sind, aber doch wichtig sein können. Man hält es für unmöglich, etwas so „Wichtiges" zu vergessen, und doch geschieht es, wenn es nicht s o f o r t notiert wurde.

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I. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

Die meisten Menschen besitzen ein Notizbuch und tragen es gewissenhaft bei sich, wenige benützen es aber und die wenigsten benützen es richtig, tut man dies aber, so ist ein Notizbuch unschätzbar. Am besten empfiehlt sich ein Notizblock, von welchem man das Erledigte abreißen und beseitigen kann; sonst übersieht man in der Menge des nicht mehr Nötigen manches Wichtige. Dieser Notizblock muß aber immer in Verwendung stehen: zu Hause, unterwegs, auch während der Arbeit, und muß alle plötzlichen Einfälle in Schlagworten enthalten; man wundert sich später oft über die Fülle des darin Enthaltenen, von dem sicher das meiste vergessen worden wäre. Aber nichts vergißt man sicherer, als das was einem nachts, bei plötzlichem Aufwachen einfällt — das ist fast immer am Morgen verschwunden; ich habe mir deshalb angewöhnt, solche Dinge mit einem bereitliegenden Bleistift auf der weißen Steinplatte des Nachtkästchens zu notieren. Das geht, ohne erst Licht machen zu müssen, und bewährt sich vortrefflich. Der U. muß es sich zur Pflicht machen, jedes Einlaufstück selbst anzusehen; es hat sich oft bitter gerächt, wenn der U. den sog. „kleinen Einlauf" durch den Schriftführer oder einen Kanzleibeamten einlegen ließ. Im schlichtesten Kleid verbergen sich oft die wichtigsten Nachrichten. Weiters achte der U. — sofern nicht eine Schreibmaschine zur Verfügung steht — unnachsichtlich auf leserliche Schrift seiner Protokollführer 1 ); man kann von niemandem verlangen, daß er schön schreibe, wenn er schon einmal keine schöne Schrift hat, aber leserlich schreiben kann jeder, der einen guten Willen hat, und diesen dem Schriftführer nötigenfalls beizubringen ist Sache des U.; dieser halte sich vor Augen, daß er vielleicht einige Minuten durch rascheres Schreiben gewinnt, und daß die, welche später den Akt zu lesen haben, — darunter er selbst — Stunden verlieren müssen, um das allzu rasch Geschriebene zu entziffern. Ein vortreffliches Mittel, auch die schlechteste Schrift leichter leserlich zu machen, besteht darin, daß man die einzelnen Zeilen t u n l i c h s t w e i t v o n e i n a n d e r h ä l t . Die schönste Schrift ist schwer zu lesen, wenn eine Zeile an die andere drängt, und die schlechteste Schrift gewinnt überraschend, wenn die Zeilen recht, recht weit voneinander stehen. Das kann jeder machen. Sehr störend wirkt auch ein Durchscheinen der Schrift von einer Seite des Papieres auf die andere. Hat man solch verwünschtes Papier, so beschreibe man es nur auf einer Seite. Kommt beim Protokollieren eine Schreibmaschine zur Verwendung, so ist die Anfertigung von Durchschlägen zu empfehlen, die als Beilagen für Ersuchschreiben an auswärtige Gerichte und andere Stellen verwendet werden können und oft die Informationserteilung durch lange Sachverhaltsdarstellungen ersparen. Bei Protokollierungen im AmtsVgl. Höpler, Die Protokollierung im Vorverfahren, Archiv 67 S. 197, und die dort verzeichnete Literatur.

Das Anlegen von Tabellen.

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gebäude ist die allgemeine Verwendung von Schreibmaschinen heute wohl fast selbstverständlich, was auch den Vorteil bietet, daß der U . vieles zunächst w ö r t l i c h mitstenographieren und dann in die Maschine diktieren kann. F ü r auswärtige Protokollierungen (bei Augenscheinen u. ä.) empfiehlt sich die Mitnahme einer leichten Reisemaschine. Besondere Sorgfalt sei der Aktenbezeichnung mit Seitenzahlen und Ordnungsnummern und namentlich der Bezeichnung aller Gegenstände gewidmet, welche nicht im Akte erliegen, aber zu diesem gehören. E s kann zu heillosen Verwirrungen, gewiß aber zu bedeutendem Zeitverluste führen, wenn Corpora delicti, Briefschaften, Photographien usw. nicht genauestens bezeichnet und mit den betreffenden Stellen im Akte in Verbindung gebracht werden. Die besten Bezeichnungen helfen aber nichts, wenn sie dann beim Protokollieren nicht angeführt werden. E s klingt unglaublich, aber jeder von uns hat es schon gelesen: „ N a c h Vorweisung der Photographie": , J a , das ist der Richtige.' Kein Mensch weiß aber, w e l c h e Photographie vorgewiesen wurde. Oder: „ N a c h Vorstellung des A und des B " : ,Der größere von den beiden ist der Täter.' W e r aber den A und den B nicht kennt, weiß auch nicht, wer der größere ist. Oder: „ N a c h Vorlesung der Briefe vom 1., 3., 5., 10. J ä n n e r " : ,Von diesen Briefen rühren nur die mit der schöneren Schrift von mir her.' Der Leser des Aktes hat nun die Arbeit, die Briefe auf die Schönheit ihrer Handschrift zu untersuchen. Solche und andere Ungenauigkeiten sind aber nicht nur rücksichtslos gegen jeden späteren Leser, sie deuten auch auf einen namhaften Grad von Gewissenlosigkeit, da schwerwiegende Verwechslungen und Irrtümer daraus entstehen können. Z u m Begriffe des ordentlichen Vorgehens gehört es auch, daß dort, wo es erforderlich ist, tabellarisch gearbeitet wird 1 ). Die Anlegung einer Tabelle empfiehlt sich in allen Fällen, wo entweder einem Beschuldigten mehrere Fakten zur Last liegen oder wo mehrere Beschuldigte vorkommen. Eine solche Tabelle genügt ihrem Zwecke aber nicht, wenn sie erst am Schlüsse der Arbeit angelegt wird oder wenn sie nur wenige dürftige Spalten enthält. Man darf nicht vergessen, daß jede Tabelle einen doppelten Zweck erfüllt: sie soll jedem, der mit dem Akte n a c h dem U. sich befassen wird, die Arbeit erleichtern, sie soll aber auch dem U. selbst Überblick gewähren, ihm eine Kontrolle bezüglich der Vollständigkeit seiner Arbeit bieten und ihm übersichtliches Arbeiten ermöglichen. Dieser Zweck wird aber nur erreicht, wenn der U. von allem Anfange an sofort, wie sich die Mehrteiligkeit des Falles gezeigt hat, die Tabelle anlegt, wobei dann ihre Ausfüllung mit dem Fortschreiten der Arbeit gleichen Schritt halten muß und wobei in der Tabelle für alle wichtigen Momente der Untersuchung die entsprechenden Spalten eröffnet sind. Diese Spalten müssen nicht nur für jeden einzelnen Fall das Wer, Was, Wo, Womit, Wie und Wann enthalten, sondern auch für jede Einzeltat die Mitschuldigen, die belastenden l

) R. Ehmer in Archiv 36 S. 353.

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I. Abschnitt. Vom Untersuchungsführer.

und entlastenden Momente, die verschiedenen verbrecherischen Qualifikationen, etwa vorliegendes Geständnis oder Schadengutmachung übersichtlich erkennen lassen. Sind die Spalten sorgfältig angelegt, so genügt dem U. während und am Schlüsse der Untersuchung ein Blick auf die Tabelle, um zu wissen, ob die Untersuchung vollständig ist und wo noch etwa ein Punkt unerhoben blieb. Die Sorgfalt und Verläßlichkeit des U. zeigt sich häufig gerade darin, ob und wie er seine Tabellen gemacht hat. Von großem Wert sind in manchen Untersuchungen sogenannte Ubersichtstafeln, auf welchen das Ergebnis der Untersuchung gewissermaßen graphisch dargestellt ist, so daß der Gang der wichtigsten Momente mit einem einzigen Blick übersehen werden kann. Hiezu ist vor allem nötig, daß das Wichtige und Maßgebende der Untersuchung herausgefunden und nur dieses allein graphisch dargestellt wird, denn wird etwas Nebensächliches so behandelt, so ist es schade um Zeit und Mühe, es wirkt aber auch verwirrend für den Leser, weil er dann dem Dargestellten ungebührlichen Wert beilegen muß. Die Möglichkeit, solche Tafeln zu verwerten, ergibt sich häufig, und zwar meistens dann, wenn es sich in der Untersuchung um eine gewisse Bewegung einer Person oder Sache handelt, also z. B. dann, wenn ein Beschuldigter an verschiedenen Orten verschiedene Delikte begangen, oder wichtige Zusammenkünfte gehabt hat. Ebenso, wenn sich ein Objekt nach und nach in verschiedenen Händen befunden hat, wenn bei großen Raufereien nach und nach viele Verletzungen (namentlich an mehreren Beschädigten) vorgekommen sind, endlich wenn ein zusammengesetzter Beweis gegen einen Menschen aus vielen, an sich unwesentlichen Momenten zusammengetragen werden muß, die erst in ihrer Aufeinanderfolge von Bedeutung werden; z. B. am 16. i . kommt A in X an; am 17. 1. trifft er mit B zusammen; am 18. 1. verkauft er seinen Rock; am 19. 1. frägt er bei C um Arbeit; am 20. 1. kauft er sich einen schwarzen Hut usw. In den Sammlungen des Grazer Kriminologischen Universitätsinstituts erliegt unter anderen derartigen Arbeiten in der Abteilung „Muster für kriminalistische Arbeiten" ein Blatt Papier, welches eigentlich eine vollständige, komplizierte Untersuchung enthält. E s waren plötzlich in einem größeren Landstriche viele falsche 50 fl.-Noten aufgetaucht, worauf es der Untersuchung gelang, festzustellen, daß diese Noten alle auf einen einzigen Mann zurückzuführen seien, der sie wieder von einigen wenigen Leuten in Italien bekommen hatte, wo sich (bei Udine) eine größere Fälscherbande aufgetan und durch ihre Mitglieder die Noten vertrieben hatte. Das ganze Ergebnis der Untersuchung hatte der U. auf ein Blatt zusammengetragen, so daß alle weitere Arbeit auf das einfachste zurückgeführt werden konnte. Von unten nach oben sind die Behörden oder Leute verzeichnet, wie sie nach und nach jede einzelne Note erhalten haben, bis sie sich in der Hand eines Mannes (Ant. Saglio) vereinten, der wieder (von ihm nach aufwärts) ihren Bezug angegeben hatte (die Namen sind verändert):

Übersichtstafeln. (Note A und B j Mario Ulli in St. Marco T b . Nr. 42.

(Note C) Tullio Verce in Celle T b . Nr. 115.

(Note D) Annibale Formi in Manile T b . Nr. 47.

Franz Maier Marie Schwarz Conrad Peter Carl Weiß T b . Nr. 4. T b . Nr. 7. T b . Nr. 2. T b . Nr. 18. Carl Blatter T b . Nr. 8. 1

E m i l Franz T b . Nr. 19. I

Adolf Blau T b . Nr. 2.

Oskar Gelb T b . Nr. 15. (Note B)

Elias Hermann T b . Nr. 8. (Note A)

65 (Note E und F.) Paolo Verme in St. Maria T b . Nr. 94.

Emil Braun T b . Nr. 14.

Joh. E l l y T b . Nr. 20.

GustavFeller Franz Schulz Anton Müller Alois Früh Tb. Nr. 21. T b . Nr. 30 T b . Nr. 26. Tb. Nr. 23. I (Note D) I (Note F) Josef Terrer T b . Nr. 31.

C a j e t a n Spät T b . Nr. 32.

Gendarmerieposten in Flathdorf (Note C)

Balduin Berger T b . Nr. 34. Steueramt in Klettendorf T b . Nr. 3. (Note E)

Derartige Arbeiten lassen sich in allen Variationen denken; sie wirken, wenn vernünftig gemacht, immer vortrefflich und können nicht genug empfohlen werden. Hieher gehören übrigens auch gewisse Behelfe, die namentlich im Verkehr mit schwerfälligen Leuten zum mindesten bequem, wenn nicht unentbehrlich sind. So hat die Münchener Polizeidirektion (Frühjahr 1910) eine treffliche sog. Mustersammlung1) herausgegeben, in welcher (lithographische) Zeichnungen verschiedener, oft vorkommender Wertgegenstände mit den gebräuchlichen, keineswegs jedermann geläufigen Bezeichnungen dargestellt waren, z. B. Collier de chien, Pendeloques, Savonettuhr, Guillochierter Grund, Panzerkette, Chatelaine usw. In verbreiteten Polizeiblättern usw. kommt nur die Bezeichnung vor, und man hat seine Not, den Leuten begreiflich zu machen, was gemeint ist. Solche Musterblätter sollten international verbreitet werden, um auch die verschiedenen Bezeichnungen vereint zu sehen. Zum Schluß sei noch folgender wichtige Wink gegeben: Der U. soll, wenn der Beschuldigte verhaftet ist, über alle Umstände, die damit zusammenhängen, genau informiert sein und er hat deshalb dafür zu sorgen, daß er von den Haftvollzugsorganen über alle den s) 1934 wurde die Mustersammlung neu herausgegeben und umfaßt außer Schmucksachen und Uhren auch Photoapparate und optische Instrumente (abgedruckt bei Leibig, Kriminaltechnik, München 1937).

G r o ß - S e e l i g , Handbuch. 8. Aufl.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

verhafteten Beschuldigten betreffenden Vorkommnisse raschest unterrichtet wird; insbesondere muß der U. genau wissen, welche Gegenstände dem Beschuldigten abgenommen wurden und für ihn erlegt sind. Ich erinnere mich eines Falles, in dem der Beschuldigte unter Hinweis auf die in den Akten erliegenden Zeugnisse den Taubstummen spielte. Während der U. mit den größten Schwierigkeiten die Identität des Beschuldigten festzustellen suchte, lag bei der Gefangenhausverwaltung ein Paket Schriften, aus denen sich klar ergab, daß der Beschuldigte ein bekannter Bettelbetrüger war, der Taubstummheit vortäuschte. In einem anderen Fall hatten die Gefangenenaufseher den Beschuldigten wiederholt in der Zelle bei scheinbar epileptischen Anfällen beobachtet, ohne dies dem U. zu melden. Alle derartigen Umstände lassen sich bei sofortiger Festlegung leicht überprüfen, gehen aber später der Erinnerung, damit aber auch der Untersuchung verloren.

II. Abschnitt.

Die Vernehmung. 1. Allgemeines. Die Vernehmung sowohl im Vor- als im Hauptverfahren hat den Zweck, den e r k e n n e n d e n R i c h t e r n a c h M ö g l i c h k e i t ü b e r d e n H e r g a n g der T a t so z u u n t e r r i c h t e n , a l s ob er sie m i t e i g e n e r . Sinnen und sachverständigem Wissen und K ö n n e n wahrg e n o m m e n h ä t t e . Werden eigentliche Tatzeugen vernommen, so sollen sie sagen, was sie gesehen und gehört haben, so daß der Richter darüber erkennen kann, als ob er alles selbst gesehen oder gehört hätte; werden Zeugen vernommen, durch deren Aussagen ein indirekter Beweis hergestellt werden soll, so müssen sie Hergänge angeben, die in ihrem Zusammenhange so wirken, als wenn sie der Richter selbst miterlebt hätte, um aus ihnen auf die eigentliche Tat schließen zu können; wird der g e s t ä n d i g e Beschuldigte vernommen, so wirkt er so wie ein Tatzeuge; wird der l e u g n e n d e Beschuldigte vernommen, so ergänzt seine Angabe das, was durch andere Beweismittel erschlossen wurde, und wird endlich der Sachverständige gehört, so soll dadurch erreicht werden, daß der Richter die Sachlage nicht nur mit eigenen Sinnen, sondern auch mit dem Wissen des Sachverständigen zu betrachten vermag. Kurz, das Ergebnis aller Vernehmungen muß das sein, daß der Richter die Sache geradeso beurteilen kann, als ob er sie mit eigenen, sachverständigen Sinnen wahrgenommen hätte. Ist es gelungen, dieses Ergebnis zu erreichen, so ist die Untersuchung beendet; ist dies nicht gelungen, so war entweder wirklich genügendes Beweismaterial nicht beizuschaffen, oder es w a r beizuschaffen und der U. hat es nicht verstanden, es zu

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Die Untersuchung als wissenschaftliches Problem.

finden: in diesem Falle ist die Untersuchung entweder u n f e r t i g und es kann das Mangelnde noch nachträglich beigebracht werden, oder sie ist v e r f e h l t und es gibt keine Möglichkeit mehr, den Mißgriff gut zu machen. Dieses zeugt von einem ungeschickten, jenes von einem leichtsinnigen U.; von . einem guten U. wird man aber dann sprechen, wenn er es versteht, die Zahl jener Untersuchungen, in denen „genügendes Material nicht beizuschaffen ist", auf eine möglichst geringe einzuschränken. Ob er aber dies getan hat, wird daran zu erkennen sein, wen und wie er vernommen hat; denn die Vernommenen sind das Skelett, ihre Aussagen Fleisch und Blut einer Untersuchung; fehlen einige von den notwendig zu Vernehmenden, so ist das Skelett mangelhaft und hat keine Festigkeit; sind sie zwar da, sind aber ihre Aussagen mangelhaft, so ist der Körper da, er ist aber tot oder doch schwach und unbrauchbar. Wer nun in einem Prozesse als Zeuge oder Sachverständiger zu vernehmen ist, wird oft nach einem einfachen Hergange bestimmt: die Anzeige liegt vor, in ihr sind einige Auskunftspersonen genannt, diese werden vernommen; sie und der Beschuldigte nennen wieder andere Auskunftspersonen, die wieder vernommen werden und vielleicht wieder andere Personen namhaft machen, auf welche weiter zugetappt wird. So geht es fort, bis die Leute entweder niemanden mehr oder schon vernommene Zeugen nennen; dann werden noch etwa die nötigen Sachverständigen abgehört, die erforderlichen aktenmäßigen Belege herbeigeschafft, und die Untersuchung ist, gottlob, beendet. Das Ganze ist eigentlich so leicht und natürlich vor sich gegangen, eines hat sich aus dem anderen ergeben und wenn alle Leute, deren Namen im Prozesse genannt wurden, auch vernommen wurden, so muß er ja vollständig sein, es kann — so scheint es — in der Untersuchung keine Lücke mehr geben. In gewisser Beziehung mag dies ja wahr sein und einer besonderen Lässigkeit, eines Versehens wird man den U., der so vorgegangen ist, nicht zeihen können, wohl aber kann man ihm vorwerfen, daß er einfach die Walzen seiner Leier abgespielt hat, daß er sich von den Verhältnissen tragen ließ, wie ein Stück Holz auf dem Flusse daherschwimmt, daß er Formularien ausgefüllt, aber keine Untersuchung durchgeführt hat. Wem dieser Vorwurf nicht weh tut, der fahre auch weiter so fort; wer sich aber daran erinnert, daß er geschworen hat, seine Pflicht und sein Bestes zu tun, der muß die Sache anders anpacken und sie vor allem als ein systematisches Ganzes und, wie schon erwähnt, als w i s s e n s c h a f t l i c h e s P r o b l e m auffassen. Er muß sich darüber klar werden, daß im natürlichen Hergange der Dinge nichts Sprunghaftes, nichts Unmögliches, nichts Abgesondertes und Unzusammenhängendes auftritt, und so, wie das Wesen des Menschen etwas Gewordenes, Entwickeltes und Aufgebautes ist, in dem keine Lücke, keine Kluft und kein Zufall besteht, so ist es auch mit allem, was aus dem Menschen hervorgeht: seine Sprache, seine Leistung, sein Wollen und Können, sein Streben und sein Erreichen, alles ist ein lebender, 5*

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

sich allmählich und natürlich entwickelnder, sorgsam gegliederter Organismus, in dem alles, was da ist, da sein muß und niemals fehlen darf. So ist es aber auch mit jeder Handlung des Menschen: keine davon ist ein zufälliges, unzusammenhängendes und unerklärliches Ereignis, jede ist die naturnotwendige, organisch erklärbare Frucht aus der Natur und Kultur eines Menschen, zu ihm gehörig, wie jedes Blatt zu dem Baum, auf dem es wächst und so zweifellos von ihm stammend, wie die Frucht von jener Pflanze, die sie erfahrungsgemäß trägt. Die Lösung der K a u s a l i t ä t ist die in jeder Untersuchung zu lösende Frage. Hält der U. aber an dieser Erkenntnis fest, so muß es ihm auch bei jeder strafbaren Handlung, die er zu untersuchen hat, klar werden, daß die Menschen, die mit ihr zu tun haben, sei es als tätige oder leidende, sei es als bestimmende oder betroffene, sei es als bloße Staffage, naturnotwendig mit ihr zusammenhängen müssen; und so wie der Naturforscher aus jedem Organismus, auch wenn er ihn noch nie gesehen hat, oder wenn er längst verschwundenen Schöpfungsperioden angehört, erkennen kann, mit welch anderen Organismen er entstanden ist, gelebt hat und zugrunde ging, so muß der U. aus der Tat selbst erschließen, welche Menschen sie bewirkt haben können, welche von ihr betroffen wurden und welche sonst etwas von ihrwissen dürften. Nicht das zufällige Draufkommen und der gute Wille der Erstvernommenen darf den U. leiten, sondern die s y s t e m a t i s c h e K o n s t r u k t i o n des F a l l e s , das scharfe und richtige Auffassen seiner natürlichen Entwicklung. Daß man die Leute vernimmt, die gesehen haben, wie es der Verbrecher gemacht hat, ist selbstverständlich, das gehört gewissermaßen zur ersten Tatbestandserhebung. Aber wie die Sache geworden ist, warum es so geschah, was die Triebfeder und die Endabsicht war, welche Gegenströmungen gewirkt haben, wie sie überwunden wurden, was früher geschah und wie es mit dem Letztgeschehenen zusammenhängt, das muß konstruiert und erschlossen werden, da gibt es kein Zutappen auf zufällig oder gutmütig Gebotenes. Und wie erst, wenns keiner gesehen hat, wenn Tatzeugen und somit die Enden des Fadens gänzlich mangeln? Da hat die ganze Kunst, einen auf dem anderen emporkriechen zu lassen, ihr Ende, und wenn sie doch geübt wird, indem man den ersten besten, der in der Nähe war oder der etwas reden hörte, vorruft und die von ihm Genannten weiter vernimmt, so führt dies fast immer auf Abwege und weitab vom Ziele. Da muß man erst recht konstruieren und sich mit Mühe und Arbeit ein Gebäude fertigstellen, so gefügt und verbunden, wie ein lebender Organismus; man weiß, wie ein Baum, wie die ganze Landschaft aussehen muß, wenn man nur die Frucht kennt, und ebenso muß man auch aus der Tat den Hergang, ihre Motive und die Menschen erkennen, die daran beteiligt waren; die lebende Staffage zur Landschaft ergibt sich von selbst. Wie man sich den richtigen Blick dafür schafft, wie das im einzelnen Falle zu machen ist, dafür weiß niemand bestimmte Normen

Menschenkenntnis und Takt des Untersuchungsführers.

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anzugeben, das eine aber weiß ich, daß auch im schwierigsten Falle das ruhige, vorsichtige und abwägende Konstruieren des Herganges, wie er gewesen sein muß, immer und ausnahmslos wenigstens auf die K r e i s e von Menschen führen wird, unter denen es Wissende gibt; ihre Namen zu finden, ist Sache der Polizei. Die von den Vernommenen genannten Personen wird man freilich vorrufen, man wird aber auch von jeder Stufe aus, auf die man emporgekommen ist, wieder neu zu konstruieren, neu zu kombinieren und Früheres richtigzustellen haben, damit man neue Kreise findet, aus denen man Auskunftspersonen entnehmen kann. Nie beschränke man sich darauf, in jenen Geleisen zu fahren, in die man durch einzelne Vernommene absichtlich oder zufällig gedrängt wurde. Abgesehen davon, daß es das einzig Richtige ist, wenn man selbst konstruiert, ist es auch das einzig Interessante, wodurch man angeregt und zu weiterer Arbeit frisch erhalten wird. Wie zu vernehmen ist, steht — soweit man lediglich den äußeren Hergang der Vernehmung in Betracht zieht — im Gesetze genau zu lesen und daß sich jeder daran halten wird, ist selbstverständlich. Aber hiemit ist noch nicht alles getan, der Gesetzgeber kann nur mit wenigen Worten die Form regeln; den Inhalt zu finden, muß dem Wissen und Können des einzelnen überlassen bleiben. Es braucht aber viel davon, wenn es gut gemacht werden soll; Eifer und guter Wille sind die Hauptsache, natürliche und sorgfältig geschulte Menschenkenntnis unerläßlich und klarer, unverdorbener und doch auf alles eingehender Sinn oft das einzige, was über eine schwierige Situation hinweghilft. Takt, das unersetzliche, instinktmäßige Herausfinden des richtigen Vorgehens, muß angeboren sein; wer ihn nicht hat, der werde kein U. und wenn er alle guten Eigenschaften eines solchen hundertfach hätte: er wird beim besten Willen überall anstoßen, nirgends etwas herausfinden, den zu Vernehmenden, der Wichtiges sagen will, einschüchtern, den Schwätzenden zu weiterem Schwätzen aneifern, dem Frechen Mut geben, den Zaghaften ängstlich machen und den richtigen Augenblick versäumen. Und was dem, der Takt hat, von selbst gelingt: Individualisieren und Generalisieren, das ist dem, der ihn nicht hat, unmöglich.- Ein U., der dies aber nicht zu tun vermag, kann überhaupt nicht vernehmen, denn jeder Mensch ist im Wesen verschieden vom anderen, jeder gibt sich anders, hört, sieht und empfindet anders, jeder gibt auch das Wahrgenommene anders wieder, und doch sind sie wieder alle gleich und das im einzelnen Verschiedene wird, in großen, weiten Zügen gesehen, wieder gleich und einförmig1). 1 ) Hier wird es offenkundig, daß die Aussageleistungen der Menschen, wie überhaupt jedes psychische Verhalten, t e i l s generellen psychologischen Gesetzen, die für alle Menschen gelten (Marbe, Die Gleichförmigkeit in der Welt, 1916—1919), t e i l s typenmäßigen Gesetzmäßigkeiten, die nur bei bestimmten Persönlichkeitstypen wirksam sind, t e i l s individuellen Gesetzmäßigkeiten, die durch die Einzigartigkeit jedes Menschen gegeben sind, unterliegen (vgl. Seelig, Persönlichkeit und Aussage, Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft I I I S. 107).

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

Der U. muß — wie später ausgeführt werden wird — alles daran setzen, den zu Vernehmenden m ö g l i c h s t u n b e e i n f l u ß t zu hören; er hüte sich daher vor allem, durch s e i n e Person einen Einfluß auszulösen. Nur allzu leicht kann der Richter suggestiv wirken; macht ja doch schon der ganze gerichtliche Apparat mit allen seinen Zutaten Beschuldigte und Zeugen sehr suggestibel, namentlich wenn es Leute sind, die mit dem Gerichte noch nicht viel zu tun hatten 1 ). Ebenso selbstverständlich ist es, daß der U. an k e i n e Vernehmung u n v o r b e r e i t e t herantreten darf; sie wird nur dann sachgemäß und vollständig sein, wenn der U. den Stoff beherrscht und sofort in der Lage ist, dem Vernommenen Irrtümer oder gar Unwahrheiten vorzuhalten, ihn auf Widersprüche aufmerksam zu machen und ihn zur Klärung bisher unklarer Verhältnisse heranzuziehen. Was hinsichtlich des Vorganges geraten werden kann, das beschränkt sich darauf, daß auf einzelne Momente, bei welchen sich Schwierigkeiten und Mißgriffe ergeben können, besonders aufmerksam gemacht wird. So genau ich das diesfalls Nötige zum Ausdrucke bringen kann, habe ich es in meiner „Kriminalpsychologie" 2 ) getan und das, was die allgemeine Psychologie lehrt, unter den Gesichtswinkel des Kriminalisten zu stellen versucht. Hier bringe ich nur, was des Zusammenhanges wegen in einem Handbuch der Kriminalistik an Kriminalpsychologischem ausgeführt werden muß. Dies genügt aber nicht, ja es wird kaum mit hinreichendem Verständnisse aufgenommen werden können, wenn der U. nicht wenigstens genügende a l l g e m e i n - p s y c h o l o g i s c h e K e n n t n i s s e besitzt. Seit Jahren habe ich mich bemüht, darzutun, daß der Kriminalist, der ohne psychologisches Wissen an die Arbeit geht, lediglich Paragraphenquälerei betreibt — unser wirkliches Leisten und jeder Fortschritt kann nur mit Hilfe gründlicher psychologischer Kenntnisse geschehen. Gottlob wird dies heute vielfach anerkannt: das Zurückgreifen auf psychologische Momente wird in Theorie und Praxis immer häufiger und Kriminalisten mit ausgebreitetem psychologischen Kenntnissen sind keine Seltenheiten mehr; das Studium diesfälliger Bücher 3 ) muß von jedem jungen U. mit allem Nachdrucke verlangt werden. x) Vgl. Seelig, Art. „Suggestion" im HdK. *) i. Aufl. bei Leuschner u. Lubensky, Graz 1898; 2. Aufl. bei E. C. W. Vogel, Leipzig 1905. l ) Die wissenschaftliche Psychologie hat in den Jahrzehnten seit Beginn des Jahrhunderts grundlegende Wandlungen erfahren. Das naturwissenschaftliche Zeitalter des 19. Jahrhunderts hatte auch die psychologische Forschung wesentlich beeinflußt: strengstes Fußen auf der Erfahrung (daher Ablehnung jeder „spekulativen" Psychologie), das Laboratoriumsexperiment als grundlegende Methode, die weitgehendste Analyse in letzte psychische „Elemente" das Ziel. Inhaltlich wendete sich diese „experimentelle Psychologie" hauptsächlich den Erscheinungen des intellektuellen Lebens (Empfinden, Vorstellen, Denken) zu, wobei die neuentdeckten Gesetze der Vorstellungsverknüpfung oder Assoziation eine große Rolle spielten („Assoziationspsychologie"). Gegenüber dem unendlich komplizierten menschlichen Gefühls-, Trieb- und Willensleben beschränkte man sich auf die Analyse einfachster „Bewußtseinszustände", die mit „Lust" oder „Unlust" verbunden sind. Diese Auflösung unseres Erlebens in ein Mosaik einzelner, elementarer „psychischer Vorgänge" führte zu

Notwendigkeit des Psychologiestudiums.

71

Nach einer solchen allgemeinen psychologischen Schulung ist dem U . , der sich mit den Hinweisen in den folgenden Kapiteln nicht begnügen will, das Studium der speziellen Literatur der A u s s a g e p s y c h o l o g i e u n d V e r n e h m u n g s k u n d e zu empfehlen, die sich im 20. Jahrhundert zu einer eigenen Sonderdisziplin entwickelt hat. Historisch nahm diese Aussageforschung ihren Ausgang einerseits von der eben erwähnten „Kriminalpsychologie", in der zum erstenmal die aussagepsychologischen Erfahrungen der gerichtlichen Praxis eine systematische Sammlung und Verarbeitung erfahren haben, anderseits von psychologisch-pädagogischen einer „Psychologie ohne Seele". Erst verschiedene Geistesströmungen des 20. Jahrhunderts erkannten die Leere einer solchen Psychologie, die an den tiefgreifendsten Problemen seelischen Erlebens vorbeigeht. Man erkannte, daß sich der seelische Ablauf vielfach in G a n z h e i t e n vollzieht, die nicht als Summe einzelner Elemente erfaßt werden können („Gestaltpsychologie"). Neben der Verknüpfung durch Assoziation werden auch „verständliche Zusammenhänge" anerkannt („verstehende Psychologie"). Vor allem aber wurde der aktuelle Strom unseres Erlebens wieder als Äußerung einer dahinterstehenden Einheit, der Persönlichkeit des Erlebenden, erfaßt und führte zu einem ungeheuren Aufschwung der P e r s ö n l i c h k e i t s l e h r e und Charakter künde. Von Einfluß wurden auch Richtungen in der Medizin, die ebenfalls ihre Blickrichtung auf die Person des Menschen als Ganzes richtete, woraus sich die Beziehungen zwischen medizinischer Konstitutionsforschung und psychologischer Persönlichkeitslehre von selbst ergaben: das b i o l o g i s c h e D e n k e n , das alles Leben und Erleben als ganzheitlich-körperlich-seelischen Ablauf erkennt, beherrscht auch die Psychologie der Gegenwart. Sie hat dadurch auch e i n s e i t i g e psychiatrisch-psychologische Richtungen ü b e r w u n d e n , die zu dieser Entwicklung vorübergehend gerade durch ihre extremen Behauptungen und' die dadurch gegebenen Anregungen für die ernsthafte Forschung nicht unwesentlich beitrugen, aber d e u t s c h e m wissenschaftlichen Denken f r e m d geblieben sind: dies gilt von der Freudschen P s y c h o a n a l y s e , die als Grundprinzip für die Erklärung seelischer Vorgänge die Verdrängung unbewußter Komplexe ansieht, wobei diese Komplexe fast stets mit der Sexualsphäre in Zusammenhang gebracht werden; ebenso von der Adlersciien I n d i v i d u a l p s y c h o l o g i e , die ebenso einseitig alle menschlichen Äußerungen als Überkompensation von Minderwertigkeitsgefühlen zu erklären sucht. Durch alle diese neueren Richtungen wurde das Experiment als psychologische Methode keinesfalls völlig verdrängt: so verwendet auch die moderne Charakterkunde und Typenlehre die experimentelle Methode vielfach zur Erprobung psychischer Dispositionen (Neigungen, intellektuelle Fähigkeiten, Charaktereigenschaften) und ganz besonders dienen die sogenannten „Test"-Methoden der experimentellen Prüfung der Intelligenz und der Eignung für bestimmte Berufe usw.; hiemit beschäftigt sich ein besonderer Zweig der psychologischen Forschung, die P s y c h o t e c h n i k . Die Literatur der wissenschaftlichen Psychologie ist durch die angedeutete Vielheit von Forschungsrichtungen heute fast unübersehbar geworden. Zur Orientierung über die wesentlichsten Auffassungen und Lehren mögen nachstehende Hinweise dienen: 1. Z u r a l l g e m e i n e n E i n f ü h r u n g i n d a s G e s a m t g e b i e t : A. Messer, Psychologie, 5. Aufl. 1934; W- McDougall, Aufbaukräfte der Seele, 1937; B. Petermann, Wesensfragen seelischen Seins, 1938; Th. Elsenhans, Lehrbuch der Psychologie, 3. Aufl. (bearb. v. F . Giese),Tübingen 1938. 2. N o c h h e u t e w e r t v o l l e L e h r b ü c h e r a u s d e r ä l t e r e n R i c h t u n g d e r e x p e r i m e n t e l l e n P s y c h o l o g i e : Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, 6. Aufl., Leipzig 1908 (3 Bände); A. Höfler, Psychologie, Wien 1897, 1. Bd., 2. Aufl. 1930; Witaseh, Grundlinien der Psychologie, Leipzig 1908; W. James, Psychologie (übers, von Dürr); Fröbes, Lehrbuch der experimentellen Psychologie, 2 Bde.; 3. Aufl. 1929; Lindworsky, Experimentelle Psychologie, 5. Aufl. 1931; Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie, 9. Aufl. bearb. von K. Bühler, Leipzig 1932. 3. G e s t a l t s - u n d G a n z h e i t s p s y c h o l o g i e : W. Köhler, Psychologische Probleme, Berlin 1933; fV. Ehrenstein, Einführung in die Ganzheitspsychologie, Leipzig 1934; Weinhandl, Über Gestaltanalyse, 1937.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

Untersuchungen an Schulkindern, die auf eine Arbeit Binets von 1896 zurückgehen 1 ). Vereinzelt hatten sich allerdings schon vorher auch Juristen — Mittermaier2), Brauer3) — auf Grund ihrer praktischen Erfahrung mit dem Aussageproblem beschäftigt und hiebei sehr moderne Gedankengänge entwickelt; unabhängig hievon haben frühzeitig auch Psychiater — so z. B. Schrenck-Notzing4) —• in Einzelfällen den Beweiswert von Zeugenaussagen untersucht. Aber erst nach der Jahrhundertwende erfuhr die systematische Aussageforschung in Deutschland einen raschen Ausbau, der sich an die Namen der Psychologen W. Stern, O. Lipmann, Stöhr, Marie und vieler anderer knüpft 5 ). Da sich die hochgespannten Erwartungen, die durch die ersten von W. Stern mit allzuviel Lärm verkündeten Ergebnisse ausgelöst wurden, nicht ganz erfüllten, flaute im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts das Interesse der Forschung an dem Aussageproblem ab, ist aber seit der Neuorientierung, die die wissen4. V e r s t e h e n d e P s y c h o l o g i e : Dilthey, Beiträge zum Studium der Individualität, 1896; Jaspers, Psychopathologie, 3. Aufl. 1923; derselbe, Psychologie der Weltanschauungen, 3. Aufl. 1925; Spranger, Lebensformen, 6. A u f l . 1930; Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, Bonn 1923. 5. P e r s ö n l i c h k e i t s l e h r e , C h a r a k t e r k u n d e , L e b e n s p s y c h o l o g i e : Kretschmer, Körperbau und Charakter, 11./12. Aufl. 1936; Klages, Grundlagen der Charakterkunde, 4. Aufl., Leipzig 1926; Müller-Freienfels, Grundzüge einer Lebenspsychologie, Leipzig 1924; H. Hoffmann, Das Problem des Charakteraufbaues, Berlin 1926; derselbe, Die Schichttheorie, Stuttgart 1935; E. R. Jaensch, Grundformen menschlichen Seins, Berlin 1929; A. Huth, E x a k t e Persönlichkeitsforschung, Leipzig 1930; Charlotte Bühler, Der menschliche Lebenslauf, Leipzig 1933 ; Lersch, Der A u f b a u des Charakters, 1938; Pfahler, Warum Erziehung trotz Vererbung? 4. Aufl., Berlin 1940; Tumlirz, Anthropologische Psychologie, Berlin 1939; Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, 2. Aufl., 1941 ; Gehlen, Der Mensch, Berlin 1940. 6. J u g e n d k u n d e : Preyer, Die Seele des Kindes, 6. Aufl., Leipzig 1905; Gaupp, Psychologie des Kindes, 4. Aufl. 1918; K. Groos, Das Seelenleben des Kindes, 6. Aufl., Berlin 1923; Scholz, Anomale Kinder, 3. Aufl. 1922; H. Hoffmann, Die Reifezeit, Leipzig 1922; K. Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, 4. Aufl. 1924; Charlotte Bühler, Das Seelenleben des Jugendlichen, 4. Aufl., Jena 1927; Tumlirz, Die Reifejahre, 2 Teile, 1924—1927 ; derselbe, Einführung in die Jugendkunde, 2 Bände, 1 9 2 7 — 1 9 3 1 ; Spranger, Psychologie des Jugendalters, 15. Aufl. Leipzig 1938. 7. S o z i a l p s y c h o l o g i e : McDougall, Grundlagen einer Sozialpsychologie, Jena 1928; Helipach, Elementares Lehrbuch der Sozialpsychologie, Berlin 1933; derselbe, Einführung in die Völkerpsychologie, Stuttgart 1938. 8. M e d i z i n i s c h e P s y c h o l o g i e : Kretschmer, Medizinische Psychologie, 5. Aufl., Leipzig 1939; Bleuler, Naturgeschichte der Seele, 2. Aufl., 1932; Bumke, Psycholog. Vorlesungen, München 1923; Heyer, Der Organismus der Seele, Berlin 1937; Bier, Die Seele, 6. Aufl., München 1940. 9. P s y c h o t e c h n i k : Münsterberg, Grundzüge der Psychotechnik, 2. Aufl. 1920; W. Moede, Psychotechnik, 1. Bd., 1930. Schon seit vielen Jahren erkannte man die Wichtigkeit des Psychologiestudiums für den Juristen und besonders den Kriminalisten. Diesem Bedürfnis Rechnung tragend entwickelte sich die,,forensische Psychologie" als ein Zweig der allgemeinen „angewandten Psychologie". Die Literatur ist in zahlreichen Einzelabhandlungen zerstreut. An (bereits veralteten) Einführungen in das Gesamtgebiet sind erschienen: H. Reichel, Über forensische Psychologie, München 1910; O. Lipmann, Grundriß der Psychologie für Juristen, 2. Aufl. 1914; Marbe, Grundzüge der forensischen Psychologie, München 1913. Binet, L a description d'un objet. L'année psychol. 3 S. 296 (1896). 2) C. J. Mittermaier, Die Lehre v o m Beweis, 1834; Hellwig, Arch. 17 S. 74. ') Brauer, Über die Unzuverlässigkeit des direkten Zeugenbeweises, Annalen der deutschen und ausl. Kriminalrechtspflege 14 S. 1 (1841). 4) Suggestion und Erinnerungsfälschung im Berchtold-Prozeß, 1897. 6) Vgl. auch das Vorwort zur 4. Aufl. dieses Handbuches, oben S. X I .

Die Entwicklung der Aussagepsychologie.

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schaftliche Psychologie überhaupt erfahren hat, in gesteigertem Maße wieder erwacht. Die Methode, die in der erwähnten Aussageforschung nach der Jahrhundertwende verfolgt wurde, war die der e x p e r i m e n t e l l e n Psychologie, von der sie deren Vorzüge, aber auch deren Nachteile m i t b r a c h t e . Diese Nachteile wurden nur in geringem Maße dadurch vermindert, daß die Aussagepsychologen das „Prinzip der Lebensnähe" betonten und vom Laboratoriumsexperiment zu den „Vorgangsversuchen" oder „Wirklichkeitsversuchen" übergingen. Hiedurch wurde zwar der Hergang des Versuches dem Ablauf des tatsächlichen Lebens angenähert und es konnte in negativer Beziehung die außerordentlich große Fehlerhaftigkeit der Aussagen, die von erfahrenen Praktikern stets vermutet wurde, wissenschaftlich erwiesen werden; aber die positiven Ergebnisse hinsichtlich des Zustandekommens der Fehler, deren Vermeidbarkeit und der Bewertung widersprechender Aussagen wurden um so geringer, je komplizierter der für den Versuch verwendete Vorgang war. Dies konnte man schon bei jenem (heute bereits „klassisch" gewordenen) Vorgangsversuch ersehen, den der Strafrechtslehrer v. Liszt auf Anregung des Psychologen Stern im Wintersemester 1901/02 im kriminalistischen Seminar der Universität Berlin machte: am Schluß einer Diskussion meldete sich ein Seminarteilnehmer zum Wort, um den behandelten Gegenstand noch „vom Standpunkt der christlichen Moralphilosophie" zu betrachten — der Zwischenruf eines anderen Seminarteilnehmers „Das fehlte noch gerade!" löste einen heftigen Wortwechsel zwischen den beiden Teilnehmern aus, in dessen Verlauf Schimpfworte fallen und schließlich ein Revolver gezogen wird, der im kritischen Augenblick scheinbar versagt. Die übrigen Seminarteilnehmer, die alle den Vorfall für ernst gehalten hatten und dadurch naturgemäß entsprechend erregt waren, wurden in mehreren Gruppen zu teils schriftlichen, teils mündlichen Aussagen über den Vorfall veranlaßt. Der Vorgang war so genau einstudiert, daß jedes gefallene Wort und jede Körperbewegung der Beteiligten nachträglich mit den darüber gemachten Aussagen der „Zeugen" verglichen werden konnte. Ähnliche Versuche wurden später in verschiedenen Abwandlungen durchgeführt. Einen neuen Antrieb bekam die Aussageforschung aber erst, als sich das Blickfeld der zünftigen Psychologie zu jenem der P s y c h o b i o l o g i e erweiterte: Die „Aussage" eines Menschen erscheint uns heute nicht mehr isoliert als eine unter bestimmten Versuchsbedingungen zustande kommende Durchschnittsleistung, sondern als eine aus dem Strom des seelisch-körperlichen Lebensablaufes sich ergebende Äußerung des A u s s a g e n d e n , bedingt durch die Eigenart seiner Persönlichkeit. Während die aussagepsychologische Literatur zu den einzelnen Problemen in den folgenden Kapiteln an den betreffenden Stellen angeführt ist, seien hier — ohne damit eine Wertung der einzelnen Autoren vorzunehmen — die wichtigsten Arbeiten genannt, die das Gesamtgebiet der Aussage- und Vernehmungskunde zum Gegenstand haben und in ihrer *) Vgl. die obige Anmerkung 3 auf S. 70.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

zeitlichen Reihung zugleich die historische Entwicklung der neueren Aussageforschung erkennen lassen. Es sind dies : W. Stern, Beiträge zur Psychologie der Aussage (unter Mitwirkung zahlreicher Autoren), 2 Bde., Leipzig 1 9 0 3 — 1 9 0 4 ; A. Stöhr, Psychologie der Aussage, Bd. 9/10 der Sammlung „Das Recht", Berlin 1911; J. Schrenk, Einführung in die Psychologie der Aussage, Leipzig 1922; A. Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik bei Tatbestandsermittlungen, 1927 (eine anschaulich geschriebene, systematisch geordnete Gesamtdarstellung vom Standpunkt des Praktikers); F. Gorphe, La critique du témoignage, Deux, ed., Paris 1927; Tesoro, La psicologia della testimonianza, Torino 1929; E. Seelig, Die Ergebnisse und Problemstellungen der Aussageforschung, in: Die Ergebnisse der gesamten Medizin, Bd. 13, 1929 (eine systematisch-kritische Darstellung des Gesamtgebietes der Aussagekunde mit zahlreichen Beispielen aus Beobachtung und Experiment und ausführlichen Literaturnachweisen) ; 0. Mönkemöller, Psychologie und Psychopathologie der Aussage, Heidelberg 1930 (Gesamtdarstellung vom Standpunkt des Arztes); C. Musatti, Elementi di psicologia della testimonianza, Padova 1931; K. Marbe und E. Seelig, „Persönlichkeit und Aussage", Korreferate auf der Münchner Tagung der Kriminalbiologischen Gesellschaft, in: Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft, III, 1931 (erster Versuch, die Zusammenhänge zwischen Aussage und psychobiologischer Persönlichkeitsartung aufzuzeigen) ; P. Plaut, Der Zeuge und seine Aussage im Strafprozeß, Leipzig 1931 ; 0. Lipmann, Methoden der Aussagepsychologie, in: Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, hgg. v. Abderhalden, Abt. VI. Teil C/II (1933) ; Meinert, Vernehmungstechnik, Lübeck 1939, schließlich im Handwörterbuch der Kriminologie (1932—1935) die Artikel „Zeugenaussage" (H. Gruhle), „Zeugenaussagen von Kindern und Jugendlichen" (E. Nau), „Vernehmungstechnik" (A. Lenz), „ L ü g e " (E. Seelig), „Geständnis" (F. Härtung) und „Suggestion" (E. Seelig).

2. Vernehmung der Zeugen. Wenn man eine Unterscheidung trifft zwischen der Vernehmung von Zeugen und von Beschuldigten, so ist sie nur bis zu einem gewissen Grad zulässig: in beiden Fällen handelt es sich um die Erforschung der Wahrheit, gleichviel, ob sie den eigentlichen Gegenstand betrifft oder Nebenumstände, aus welchen auf diesen geschlossen werden soll. Aber die Wege, auf denen dies zu geschehen hat, sind verschieden: bei Vernehmung des Zeugen soll die Wahrheit unmittelbar aus der A u s s a g e erschlossen werden, bei Vernehmung des Beschuldigten soll diese aber erst mittelbar aus der Art seiner V e r a n t w o r t u n g in Verbindung mit den anderen Erhebungen abgeleitet werden; hierin liegt der eigentliche Unterschied zwischen beiden Vernehmungen, nicht in Die „Beiträge", die in den angeführten zwei Bänden vorliegen, sind ursprünglich als Zeitschrift erschienen, die dann später als „Zeitschrift für angewandte Psychologie" fortgesetzt wurde.

Zeugenbeweis und Realien.

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der äußeren Form des Auftretens gegen diesen und jenen. Der Unterschied in der Verwendung des von beiden Gebotenen ist aber ein so bedeutender, daß eine getrennte Behandlung der Vernehmung von Zeugen und Beschuldigten geboten erscheint; doch gilt alles, was von der Wahrnehmung und dem Gedächtnis der aufrichtigen Zeugen zu sagen ist, auch für einen geständigen Beschuldigten, der über seine Wahrnehmungen bei Begehung der Tat berichtet, und umgekehrt hat das Leugnen des schuldigen Täters manches mit dem Lügen eines Zeugen gemeinsam. Die Hauptaufgabe des U. bei Vernehmung der Zeugen ist eine zweifache: er hat dafür zu sorgen, daß alles berührt und besprochen wird, was für den vorliegenden Fall von Wichtigkeit ist, und daß nichts übersehen bleibt; er hat ferner darauf zu achten, daß alles, was der Zeuge ihm sagt, die volle Wahrheit ist. Wie es erreicht wird, daß nichts Wichtiges übersehen werde, wurde schon besprochen; was aber die Erlangung der Wahrheit betrifft, so hat der U. wieder mit zweierlei Schwierigkeiten zu kämpfen: es kann der Zeuge ehrlich die Absicht haben, die volle und ganze Wahrheit zu sagen, er k a n n es aber aus dem Grunde nicht, weil er falsch aufgefaßt hat oder weil ein Fehler des Erinnerungs- oder des Verarbeitungsprozesses eingetreten ist; es kann aber auch der Zeuge die Absicht haben, den U. anzulügen. Die Schwierigkeiten, die sich im ersten Falle ergeben, sind ungleich größer und mühsamer zu bekämpfen, als die des zweiten Falles. Ich glaube sagen zu können, daß sich die Wertung des durch Zeugen Gebotenen im Laufe der letzten Jahre ganz wesentlich herabgesetzt hat; f r ü h e r war das H a u p t g e w i c h t j e d e s P r o z e s s e s in die Z e u g e n a u s s a g e n v e r l e g t , heute kennt man die unabsehbaren Mängel der Wahrnehmung, der Auffassung, des Gedächtnisses und der Wiedergabe auch der ehrlichsten Zeugen, man weiß, wie verschieden die einzelnen Menschen auf Wahrnehmungen, insbesondere auf Gesichts-, Gehörs- und Bewegungswahrnehmungen reagieren, man schätzt den Wert der Zeugenaussage viel weniger hoch und weiß einerseits, wie diese Mängel im Einzelfall erkannt werden können, wie man aber andererseits das Verlorene durch den unschätzbaren Wert der R e a l i e n des Strafrechts zu ersetzen vermag. Darin liegt vornehmlich der Unterschied zwischen dem alten und dem gegenwärtigen Beweisverfahren im Prozeß.

a) Wenn der Zeuge die Wahrheit sagen will. Prüft man zunächst allgemein Aussagen im Alltag, so kann man beobachten, daß die Menschen die geläufigsten Vorgänge verschieden auffassen, verschieden im Gedächtnisse behalten und verschieden wiedergeben; man kann sich in dieser Richtung mancherlei Aufklärung verschaffen, wenn man Hergänge, die man entweder selbst miterlebt hat, oder bei denen mehrere Personen anwesend waren, von a l l e n Zeugen genau erzählen läßt. Ob der Vorgang ein wichtiger war oder ein unbedeutender, ist gleichgültig, denn auch die Zeugen über die wichtigsten Vorgänge in einem großen Prozesse haben oft zur Zeit der

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

Wahrnehmung noch keine Kenntnis davon, daß der jetzt so gleichgültig aussehende Umstand einmal von Wichtigkeit sein werde. Läßt man sich nun aber irgendeinen Vorgang, den man selbst mit mehreren anderen Personen zugleich gesehen hat, von jedem einzelnen wiedererzählen, so wird man fast in jedem Falle in Erstaunen darüber versetzt werden, wie anders jeder die Sache wiedergeben wird, ohne aber hierbei den mindesten Zweifel auszudrücken. Darin liegt der Drehpunkt der ganzen Frage. Will man solche Proben mit Nutzen machen, so muß man schon zur Zeit der Beobachtung des Herganges die Absicht haben, später die Probe zu machen, und muß daher schon jetzt mit größter Genauigkeit dem Vorgange folgen, um später zu wissen, wer von den Zeugen besser, wer schlechter beobachtet hat. Sich bloß den Hergang erzählen lassen, hat wenig Wert: man muß auf den Grad der Sicherheit aufmerken, mit welchem erzählt wird, und muß dahinter zu kommen trachten, w a r u m der Betreffende unrichtig wiedergegeben hat: falsche Auffassung, Temperament, Alter, Lebensstellung, Interesse an der Sache und zahlreiche andere Umstände sind da maßgebend, und wenn man bei einer Reihe von Beobachtungen wahrgenommen hat, in welcher Richtung Leute einer bestimmten Gruppe (z. B. Optimisten, phantasiereiche Knaben, Sportkameraden usw.) unrichtig beobachten und wiedergeben, so wird man auch im praktischen Falle anzunehmen berechtigt sein, daß der Zeuge, der irgendeiner, schon früher oft beobachteten und kontrollierten Gruppe angehört, auch diesmal in der festgestellten Richtung unrichtig aussagt. Selbstverständlich muß auch hier beim Generalisieren die größte Vorsicht angewendet werden. Wir wollen nun zuerst die a l l g e m e i n e n Grundlagen der Aussage eines Zeugen: seine Wahrnehmung und sein Gedächtnis, und dann einige b e s o n d e r e Ursachen unrichtiger Angaben besprechen. I. Allgemeines. Wem das im folgenden Gesagte zu eingehend und zu wenig „unmittelbar kriminalistisch" däucht, der möge sich die oben und weiter unten angegebene Literatur ansehen, die ihm zeigen wird, daß wir für unsere Fälle nur aus dem gewöhnlichen Leben lernen können; dies ist aber nur möglich, wenn wir dessen Ereignisse genau studieren und bei jedem einzelnen Fall die Anwendung auf die Erscheinungen in unserem Arbeitsgebiete versuchen. Wer sich diese Mühe nicht verdrießen läßt, wird im Laufe der Arbeit unzählige Male an die Beispiele aus dem sonstigen Leben erinnert werden und dann wichtige Belehrung für seinen heutigen Fall finden. Ebenso lehrreich ist eine Selbstbeobachtung, denn sie zeigt uns, wie sehr wir bei unseren Wahrnehmungen und nicht weniger bei deren Wiedergabe von Stimmungen abhängen, die dem Wahrgenommenen und Erzählten ganz verschiedene Färbungen verleihen. Ich halte diesen Vorgang für die einzige Möglichkeit gründlicher psychologischer Schulung, die uns so unabsehbar nottut.

Wahrnehmen

und

Schließen.

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«) Die Wahrnehmung und ihre V e r a r b e i t u n g 1 ) . Wenn wir einen Tatbestand aus Zeugenaussagen aufklären wollen, so werden wir — wie es alte kriminalistische Überlieferung ist — stets darauf dringen, daß uns der Zeuge nur seine Wahrnehmungen mitteile und daß er das Ziehen von „Schlüssen" uns überlasse. Hiebei wird aber oft der große Fehler begangen, daß wir die Aussagen, die ein Zeuge uns in der Form von erlebten Wahrnehmungen macht, auch einfach als Wahrnehmungen hinnehmen und — sofern wir glauben, daß der Zeuge die Wahrheit sagen will — das von ihm Gesagte als richtig betrachten; tatsächlich beruht jede Mitteilung einer Wahrnehmung auf komplizierten psychischen Vorgängen, unter denen oft auch Schlüsse, die der Wahrnehmende zieht, eine Rolle spielen, ohne daß er sich selbst dessen bewußt ist. Wenn ich z. B. sage: „Dort steht ein Trinkglas", so scheint dies doch sicher nur die Wiedergabe einer alltäglichen Sinneswahrnehmung zu sein. Analysieren wir aber, was sich hiebei an seelischen Vorgängen in mir abspielt, so müssen wir drei Erlebnisse auseinanderhalten : 1. den Komplex von E m p f i n d u n g e n , die mir in diesem Fall der Gesichtssinn vermittelte: Farben-, Licht- und Gestaltempfindungen; 2. die A u f f a s s u n g des gesehenen Gegenstandes als Trinkglas: die a s s o z i a t i v e V e r k n ü p f u n g jenes Empfindungskomplexes mit der (mir aus der Erfahrung geläufigen) Vorstellung „Trinkglas", verbunden mit dem D e u t u n g s u r t e i l : „Das ist ein Trinkglas", mag dieses Urteil auch kaum bewußt gedacht und noch weniger sprachlich ausgedrückt werden; 3. die Überzeugung, daß der so gewonnenen Trinkglasvorstellung auch in der Außenwelt ein wirkliches Trinkglas entspricht, daß also das Trinkglas dort s t e h t ; dieser dem naiven Realismus entsprechende S c h l u ß auf die A u ß e n w e l t wird ebenfalls ganz von selbst und unbewußt vollzogen. Bei allen diesen drei Bestandteilen des Gesamterlebnisses „Dort steht ein Trinkglas", die — wie wir gesehen haben — selbst schon wieder komplexer Natur sind und in Wirklichkeit zu einem Ganzheitserlebnis verschmelzen2), können nun u n t e r U m s t ä n d e n Fehler unter*) Vgl. z u m folgenden die Abschnitte über die Wahrnehmung in der auf S. 7off. Anm. 3 angeführten allgemein-psychologischen und in der auf S. 74 angegebenen aussagepsychologischen Literatur; ferner Klemm, Wahrnehmungsanalyse, in: Abdahaldens H B . der biol. Arbeitsmethoden V I B 1 ; Benussi, Gesetze der inadäquaten Gestaltauffassung, A r c h i v f. d. ges. Psychologie 32 S. 400; Henning, Die Aufmerksamkeit, Berlin 1925; die A u f s ä t z e von Klaußmann, A r c h i v 1 S. 39, Cuny, Archiv 3 S. 337, Schneickert, Archiv 18 S. 175, O. Lipmann, A r c h i v 20 S. 68, Radbruch, A r c h i v 23 S. 329, Huber, A r c h i v 30 S. 337, Hellwig, A r c h i v 31 S. 282, van Waveren, A r c h i v 33 S. 91, Reichel, Archiv 35 S. 1 1 7 , Gerland, Archiv 39 S. 116, Bockel, A r c h i v 40 S. 225, Kdrmdn, A r c h i v 46 S. 234, Höppler, Archiv 51 S. 38, Mach, A r c h i v 51 S. 273, Mönkemöller, A r c h i v 78 S. 126. •) E s k o m m t also in Wirklichkeit nicht zu einem Hintereinander isolierter psychischer Abläufe, die nur hier zum Zwecke der A n a l y s e herausgehoben und aneinandergereiht werden mußten.

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II. A b s c h n i t t . Die Vernehmung.

laufen, infolge deren dann auch eine so einfache Wahrnehmungswiedergabe unrichtig ist. Fassen wir z. B. den zuletzt erwähnten Schluß auf die Außenwelt näher ins Auge, so hätte ich, um vorsichtig vorzugehen, eigentlich sagen sollen: „Da ich nach meiner bisherigen Erfahrung nicht an Halluzinationen leide, da ich, so viel ich weiß, mich in keinem sonstigen krankhaften Zustand befinde, da ich weiters keinen Grund zur Annahme habe, daß mir jemand durch Spiegelreflexe oder sonstige physikalische Kunststücke das Bild eines Trinkglases vortäuscht und da ich auch keinen Grund zur Annahme habe, daß sich auf dem Tisch eine künstliche Malerei befindet, die mich ein gemaltes Trinkglas für ein wirkliches ansehen läßt, so glaube ich schließen zu können, daß dasjenige, was ich auf dem Tisch stehen sehe, ein wirkliches Trinkglas ist." Ich will selbstverständlich nicht behaupten, daß man etwa so weit gehen und bei jeder Protokollierung die Reihe dieser Schlüsse anführen soll. Jeder weiß, was darunter gemeint ist, wenn es heißt „Ich sehe dort ein Trinkglas", jeder aber soll auch wissen, daß in einer solchen Behauptung komplizierte seelische Abläufe und Schlüsse stecken, welche — wenn ein Anlaß dazu vorliegt — auf ihre Richtigkeit zu prüfen sein werden. Wenn daher einmal ein übergenauer U. einen Zeugen im Protokoll sagen ließ: „Ich sah in größerer Entfernung einen Menschen gehen; dieser Mensch hatte Röcke an und dürfte daher ein Weib gewesen sein" — so ist die hiemit versuchte Andeutung, daß hier die Geschlechtszugehörigkeit der gesehenen Person nicht unmittelbar Gegenstand der Wahrnehmung war, sondern erschlossen wurde, gewiß töricht, da ja dann, wenn es einfach hieße: „Ich sah ein Weib", niemand zweifeln wird, daß der Zeuge nur nach der äußeren Erscheinung der Person diese als Frau gedeutet hat. In diesem Fall wäre es auch ganz unrichtig zu glauben, daß diese Deutung im Wege eines formellen Schlusses zustandegekommen sei, etwa nach der Formel: „Röcke werden bei uns — Transvestiten ausgenommen — nur von weiblichen Personen getragen, diese Person trug Röcke, also dürfte sie eine Frau sein." Eine solche „Interpretation" der Zeugenaussage durch den Vernehmenden wäre lebensfremder Logizismus — in Wirklichkeit hat der Zeuge diese Gedanken gar nicht erlebt, sondern mit der Gestaltvorstellung, die ihm der Gesichtssinn vermittelte, verband sich sofort und unmittelbar die Vorstellung „eine Frau" und auf die theoretische Möglichkeit, daß die gesehene Person auch ein verkleideter Mann sein könnte, kam der Zeuge höchstens durch eine Frage unseres klugen U. Überhaupt hüte sich jeder Vernehmende, in eine Aussage etwas hineinzuinterpretieren, was der Zeuge nicht selbst sagt oder gar solche Interpretationen in der Form einer Zeugenaussage zu protokollieren. Dadurch können die größten Mißverständnisse und Irrtümer entstehen, während umgekehrt eine dem Sinne nach treue Protokollierung nie schädlich ist: selbst wenn es sich in unserem Beispiel wirklich um einen Transvestiten gehandelt hätte, so würden auch 10 oder 20 übereinstimmende Zeugen-

Innere Bedingungen der Wahrnehmung.

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aussagen „Ich sah ein Weib" für keinen vernünftig denkenden Menschen einen Gegengrund dafür bilden, daß es doch ein verkleideter Mann war, sondern lediglich einen Grund dafür, daß die Verkleidung so gut war, daß auch bei 10 oder 20 Zeugen ein Zweifel nicht aufkam. Für die Erklärung von Unstimmigkeiten zwischen Zeugenaussagen, die auf die Wahrnehmung desselben Gegenstandes beruhen, ist die Erkenntnis von grundlegender Bedeutung, daß das Ergebnis jedes der drei Einzelphasen, aus denen sich — wie wir oben gesehen haben — jedes Wahrnehmungserlebnis aufbaut, nicht etwa bloß von der Beschaffenheit des dargebotenen äußeren Reizes, sondern von zahlreichen Bedingungen in u n s s e l b s t abhängt, die wir bereits zur Wahrnehmung mitbringen. Dies ist zunächst bei der ersten Phase der Wahrnehmungserlebnisse, den Empfindungen, ohne weiteres verständlich, sobald wir uns darüber klar sind, daß eine bestimmte Empfindung als seelischer Ablauf nicht bloß durch physikalische und physiologische Reize zustandekommt, sondern auch die F ä h i g k e i t des Menschen voraussetzt, auf solche Reize mit einem bestimmten Empfindungserlebnis zu antworten. Der Farbenblinde sieht z. B. bestimmte Farben anders, der Schwerhörige hat bei denselben Schalleindrücken, die für den Durchschnittsmenschen vernehmbar sind, noch keine Gehörsempfindung. Aber nicht bloß Dauereigenschaften, krankhafte Zustände und ähnliches spielen hiebei eine Rolle, sondern auch der psycho-physische Zustand im Augenblick der Wahrnehmung. Wenn ich „horche", um etwa einen erwarteten Verständigungspfiff oder ein im Nebenzimmer geführtes Gespräch zu hören, so werde ich tatsächlich Schalleindrücke wahrnehmen, die ich sonst nicht hätte; mit anderen Worten: ein willkürlich herbeigeführter Zustand erhöhter Empfindungsbereitschaft (Aufmerksamkeit) steigert tatsächlich die Empfindungsfähigkeit. Umgekehrt können E r m ü d u n g oder T r u n k e n h e i t die Empfindungsfähigkeit herabsetzen. Für Gesichtsempfindungen spielt z. B. auch der jeweils durch die vorausgegangenen Lichteindrücke bedingte Zustand unseres Sinnesorgans eine Rolle: die bekannte Tatsache der D u n k e l a d a p t a t i o n des Auges. Helles Licht zerstört den Sehpurpur der Augennetzhaut, der im dunklen Raum langsam regeneriert, so daß noch nach 20 Minuten eine fortschreitende Steigerung der Empfindungsfähigkeit beobachtet werden kann. Dadurch kann z. B. ein Zeuge, der sich schon längere Zeit in nächtlicher Stunde im Freien aufhielt, eine Reihe von Beobachtungen machen, die einem anderen, der aus der beleuchteten Wirtsstube heraustritt, völlig unmöglich sind. Besonders deutlich tritt diese Abhängigkeit des Wahrnehmungsergebnisses von der Beschaffenheit des Wahrnehmenden zutage, wenn wir die in unserer obigen Analyse an zweiter Stelle genannte Phase des Wahrnehmungserlebnisses näher betrachten: die assoziative Verknüpfung des Empfindungskomplexes mit einer bestimmten Vorstellung und das urteilsmäßige Erfassen „das ist ein . . . ". Welche Vorstellungen

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

uns für diese assoziative Verknüpfung zur Verfügung stehen hängt von unserem i n d i v i d u e l l e n V o r s t e l l u n g s s c h a t z ab, den wir seit der Geburt durch die tausendfältigen Erfahrungen des Lebens gesammelt haben. Dabei gilt, daß die Verknüpfung mit einer Vorstellung um so leichter zustandekommt, je g e l ä u f i g e r oder je i n t e r e s s e b e t o n t e r uns diese Vorstellung ist 1 ). Wenn zwei Freunde, von denen der eine Photoliebhaber ist, während der andere sich gerne nach der neuesten Mode kleidet, zusammen einen Spaziergang durch die Straßen einer Stadt machen, ohne sich Bestimmtes anzusehen, und sie nachträglich berichten sollen, an was für Geschäftsauslagen sie vorbeigekommen sind, wird der eine von einer Photohandlung berichten, in deren Auslage ihm eine neue Apparat-Type aufgefallen ist, während des anderen Blicke an einer schönen Kravatte eines Modegeschäftes hängen geblieben waren. Hier sehen wir schon, daß von unseren individuellen Dispositionen (hier die Interessenrichtung) nicht bloß die Auswahl der aus unseren Vorstellungsschätzen herausgeholten Vorstellungen abhängt, sondern auch der Umstand, ob uns die betreffende Vorstellung überhaupt „bew u ß t " wird. Ständig stürmen auf uns im Wachen und zum Teil auch im Schlafe eine ungeheure Menge von Reizen ein, die auch Empfindungen auslösen, ohne daß wir darum wissen. Während wir, bequem in einem Stuhl sitzend, ein Buch lesen, achten wir nicht auf die unzähligen Schall-, Wärme- und Tastempfindungen, die wir dabei erleben und auf die wir erst „aufmerksam" würden, wenn sie entweder ganz verschwänden (also z. B. plötzlich lautlose Stille einträte) oder überdurchschnittliche Intensität erlangte (erhöhter Lärm, übermäßige Wärme im Zimmer usw.). Der Müller hört — ein altes Schulbeispiel — nicht mehr den Gang seiner Mühle, aber er erwacht aus dem Schlafe, wenn die Mühle plötzlich stehen bleibt — ein deutlicher Beweis dafür, daß diese „unbewußten Empfindungen" doch erlebt werden, als Empfindungen existent sind. Aber nur ein winziger Teil aus diesem ständigen Erlebnisstrom fällt in das „engere Blickfeld" unseres Bewußtseins, nämlich diejenigen, die wir durch ein Daseinsurteil erfassen und über die wir allein Aussagen machen können. W e l c h e n Erlebnissen wir aber diese Urteilsfunktion zuwenden, hängt eben von unserer i n d i v i d u e l l e n E i g e n a r t Auch noch andere persönliche Eigenschaften beeinflussen den Auffassungsvorgang, so die Neigung zum Analysieren, die zur Heraushebung von Einzelheiten aus der Gesamtwahrnehmung führt, während umgekehrt der zur Ganzheitsbetrachtung Neigende das Wahrgenommene als Ganzes auffaßt und deutet. Daher kann man aus der Art und dem Inhalt des Auffassens auf den Persönlichkeitstyp des Betreffenden schließen. Darauf beruht der heute vielverwendete, von dem jung verstorbenen Schweizer Psychiater Rorschach ausgearbeitete Klecksdeutungstest: dem Prüfling werden 10 Tafeln mit sinnlosen Gebilden vorgelegt, wie sie etwa entstehen, wenn man frische Tintenkleckse durch Faltung des Papiers symmetrisch ausbreitet. Der Prüfling hat anzugeben, was er in diesen Gebilden „sieht", ähnlich wie man etwa Wolkengebilde deutet. Die A r t der Antworten läßt sich in verschiedenen Richtungen auswerten. Vgl. Rorschach, Psychodiagnostik, 3. Aufl. 1 9 3 7 ; Furrer, Der Auffassungsvorgang beim Rorschachschen psychodiagnostischen Versuch, Zürich 1930; Schneider, Psychodiagnostisches Praktikum, Leipzig 1936 (mit vollständiger Angabe der ,,Rorschach-L.iteia.tui"); Zulliger, Jugendliche Diebe im ÄorscAacA-Formdeutversuch, Bern 1938.

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Simultankapazität

und unserer jeweiligen A u f m e r k s a m k e i t s r i c h t u n g und sonstigen „ E i n s t e l l u n g " ab. A u c h die Menge von Einzelgegenständen, die wir bei gleichzeitiger Darbietung auf diese Weise erfassen, ist durch eine individuelle Disposition bedingt, die man als „Simultankapazität" bezeichnen kann 1 ): Wenn man im Experiment eine Tafel, auf der etwa 1 6 Gegenstände dargestellt sind, mehreren Versuchspersonen nur wenige Sekunden lang zeigt und die Versuchspersonen sofort auffordert, die gesehenen Gegenstände aufzuschreiben, so können manche nur 4 bis 5, andere wiederum 8 bis 1 0 Gegenstände angeben. In der Praxis spielt dies z. B . dann eine Rolle, wenn ein Zeuge, der kurze Zeit in einem fremden Zimmer weilte, später gefragt wird, was sich alles in diesem Zimmer befunden hat. Eine überdurchschnittlich große Simultankapazität muß aber keineswegs mit guter Allgemeinintelligenz Hand in Hand gehen und ist darum, wenn dies für die Beurteilung der Zeugenaussage wichtig ist, individuell zu prüfen. Dies lehrte besonders ein von Placzek2) berichteter Fall: Ein 15jähriges, als schwachsinnig, gemütsstumpf, verlogen und sittlich verkommen beschriebenes Mädchen bekundete im Riedel-Prozeß übereinstimmend mit den Angaben des Angeklagten, daß es nur einmal in dessen Wohnung gewesen sei und hierbei ein bestimmtes Zimmer nicht betreten, sondern nur durch die offene Tür hineingesehen habe. Da sie aber die Einrichtung dieses Zimmers bis in Einzelheiten zu schildern vermochte, zweifelten Polizei und Gericht an der Richtigkeit ihrer Angaben. Placzek untersuchte das Mädchen in seinem Ordinationszimmer; in das Wartezimmer war die Zeugin durch das Musikzimmer geführt worden (4 Schritte in 1—2 Sekunden), die Tür zwischen Musik- und Wartezimmer wurde hinter ihr rasch geschlossen. Das Mädchen vermochte spontan eine Anzahl Details des Musikzimmers richtig anzugeben; die Einzelheiten des Wartezimmers schilderte sie verblüffend exakt; auch noch 7 Wochen später erinnerte sie sich an Handschuhe auf einem Ölbild, die Placzek selbst noch nie bemerkt hatte. Beim Bildversuch mit der Sternschen Bauernstube 8 ) gab sie von selbst 74 Einzelheiten richtig an und lehnte beim folgenden Verhör sämtliche Suggestivfragen ab. In diesem Fall war die besonders große Simultankapazität des Mädchens (die außerdem auch mit einer überdurchschnittlichen Merkfähigkeit, also einer Gedächtnisdisposition — siehe das nächste K a pitel — verbunden war) wohl auch unterstützt durch eine sogenannte „eidetische A n l a g e " 4 ) : bei manchen Menschen, besonders in der Jugend, x ) Kretschmer, Experimentelle Typenpsychologie, Ztschr. f. d. ges. Neurologie und Psychiatrie 1 1 3 S. 776 (1928); vgl. hiezu auch Gerland, Archiv 39 S. 1 1 6 (1910). ! ) MschrKr. 6 S. 83 (1910). ') Dieser in der experimentellen Aussagepsychologie vielfach verwendete Versuch besteht darin, daß man ein farbiges Bild einer Bauernstube, in der die Familie bei Tisch sitzt, der Versuchsperson eine Minute lang ansehen läßt und sie nachher fragt, was alles auf dem Bild zu sehen sei; wenn die Versuchsperson mit ihrem „Bericht" zu Ende ist, beginnt das „Verhör" durch Stellung einzelner Fragen, unter die auch mehrere Suggestivfragen (s. darüber im Text unten S. 108 f) eingestreut werden. 4 ) Mit der Erforschung dieser Anlage beschäftigten sich besonders die Brüder E.R. Jaensch und W. Jaensch; vgl. W. Jaensch, Grundzüge einer Psychologie und Klinik der psychophysischen Persönlichkeiten, Berlin 1926; Heller, Eidetik und Psychologie der Aussage, Ztschr. f. angew. Psychologie 35 S. 2 1 0 (1930).

G r o ß - S e e l i g , Handbuch

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I I . A b s c h n i t t . Die Vernehmung.

bleiben die Wahrnehmungsbilder durch längere Zeit nach der Wahrnehmung mit voller Lebendigkeit erhalten; ein solcher Eidetiker vermag noch innerhalb der Dauer der Nachbilder Einzelmerkmale der Wahrnehmung gewissermaßen „abzulesen". — Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß eine „ W a h r n e h m u n g s l ü c k e " entweder dadurch entstehen kann, daß der äußere Reiz — weil er zu schwach ist oder zu kurz dauert oder unser Sinnesorgan sich nicht in entsprechender Funktionsbereitschaft befand usw. — überhaupt k e i n e E m p f i n d u n g hervorruft; o d e r dadurch, daß Empfindungen und Empfindungskomplexe zwar durch den äußeren Reiz hervorgerufen, uns aber n i c h t b e w u ß t werden, weil wir sie infolge anderwärtiger Aufmerksamkeitsrichtung oder zu großer Zahl gleichzeitig erlebter anderer Empfindungen usw. nicht „auffassen". Wie immer nun eine solche Wahrnehmungslücke entstanden sein mag, ist sie für spätere Aussagen eines Zeugen stets gefährlich: der nicht psychologisch geschulte Mensch, ist von vornherein geneigt, das Wahrnehmungsvermögen zu überschätzen und glaubt in der Lage zu sein, das, was ihm seine Sinne vermitteln, vollständig wahrzunehmen; dadurch entsteht die unwillkürliche T e n d e n z z u r A u s f ü l l u n g v o n W a h r n e h m u n g s l ü c k e n , auf die noch später zurückgekommen werden wird. Neben diesen Wahrnehmungslücken sind für die Psychologie der Zeugenaussage jene Wahrnehmungsfehler von besonderer Bedeutung, die mit dem eigenartigen psychischen Prozeß des E r f a s s e n s v o n G e s t a l t e n u n d a n d e r e n G a n z h e i t e n zusammenhängen. Unter „Gestalten" verstehen wir hiebei nicht bloß Raumgestalten, wie sie uns in allen körperlichen Gegenständen der optischen Wahrnehmung entgegentreten, sondern auch Tongestalten (eine Melodie, ein akustisches Wortbild) oder eine Zeitgestalt (z. B. ein Rhythmus) 1 ). Bei den Raumgestalten spielt außer den durch die Größenausdehnungen von Licht und Farbe gegebenen Gestaltqualitäten besonders auch die räumliche Tiefe eine Rolle, die uns den Eindruck von nah und fern vermittelt. Ganzheiten, die Raum- u n d Zeitmomente in sich schließen, sind die Bewegungsvorgänge, deren richtiges oder fehlerhaftes Erfassen durch ') Die ältere Psychologie übersah vielfach überhaupt diese Ganzheiten oder sie anerkannte sie nicht als Gegenstand unmittelbaren Erfassens, sondern nahm einen komplizierten Vorgang der „ p r o d u k t i v e n P h a n t a s i e " an, durch den der Mensch zu diesen höheren „Vorstellungen" gelange. Ehrenfels (Über Gestaltqualitäten, Vierteljahr. f. wiss. Philos. 14, S. 249) und Meinong (Zschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane, B d . 2, S. 254; 6, S. 352 u. 21, S. 181) habenzuerst auf die besondere Eigenart dieser Gegenstände hingewiesen; seither entwickelte sich die,,Gestaltpsychologie", die eine U m w ä l z u n g unserer psychologischen Grundauffassungen bedeutete (vgl. die H a u p t w e r k e dieser R i c h t u n g oben S. 70f, A n m . 3 ) . Wir wissen heute, daß wir Gegenstände, wie z. B. die Physiognomie eines Menschen, u n m i t t e l b a r als G a n z e s erfassen und dann erst — falls wir zu analysieren beginnen — zum Erfassen der einzelnen Teile gelangen, nicht aber umgekehrt aus den einzelnen Teilen erst das Ganze aufbauen. D e m Gestalterfassen entspricht daher auch ein primärer physiologischer Vorgang (vgl. Klemm, Wahrnehmungsanalyse, in: Abderhaldens H B . d. biol. Arbeitsmethoden V I B 1) und wir anerkennen auch eine eigene Tiefenempfindung, Zeitempfindung usw.

Erfassen von Ganzheiten

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Zeugen ebenfalls von großer Wichtigkeit werden kann. Wir wollen uns daher näher mit diesen Dingen beschäftigen. Sehen wir einmal zu, wie wir überhaupt mit den Sinnen auffassen und dann zur Vorstellung des Gegenstandes gelangen, so kommen wir zur Überzeugung, daß wir ja in den seltensten Fällen einen Gegenstand auf alle jene Merkmale hin ansehen, durch welche er als das charakterisiert wird, als was wir ihn deuten. Das beste Beispiel bieten uns solche Ganzheiten, welche durch das ihnen eigene Gestaltmoment ein genaues Analysieren der einzelnen Bestandteile überflüssig machen. Wenn wir lesen, so buchstabieren wir nicht jedes einzelne Wort, sondern fassen das gesamte W o r t b i l d auf; wir buchstabieren erst wieder, wenn wir ein Wort in einer fremden Sprache mit uns fremden Silbenzusammenstellungen1) sehen. Daher kommt es, daß wir kleine Druckfehler, namentlich in längeren Worten, oft nicht bemerken, wenn nur das Gesamtbild des Wortes durch den Fehler nicht wesentlich gestört wird2). Ebenso geht der geübte Klavierspieler vor, der auch nur (namentlich bei Akkorden) das Gesamtbild der Noten aufgreift, ohne sich die einzelnen Notenköpfe genau zu besehen. Am besten sehen wir dies beim Kartenoder Dominospiel, wo der Spieler gewiß die einzelnen Points oder Augen nicht abzählt, sondern nach dem mehr oder minder geschickt gruppierten Bild den Schluß zieht, daß er einen Siebener oder Neuner vor sich hat. Wären diese Bilder nicht typisch, sondern die Points verschieden und willkürlich angeordnet, so müßte der Spieler wenigstens bei den größeren Karten (7, 8, 9, 10) unbedingt jedesmal zählen. Das Erfassen solcher Ganzheiten tritt aber bei allen Wahrnehmungen viel häufiger auf, als wir gemeinhin glauben; es wird dadurch erleichtert, daß wir schon bei Teilwahrnehmung vieler Gegenstände — sofern nur darin das charakteristische Gestaltmoment enthalten ist — den Gegenstand als Ganzen erfassen und ihn entsprechend deuten. Wenn ich im Zimmer ein Zifferblatt sehe, so erfasse ich, daß eine Uhr da ist, wenn ich sie auch nicht ganz gesehen habe; ja, ich werde mir nach dem Aussehen des Zifferblattes und nach der Umgebung im Zimmer zuerst ungefähr und nach einiger Zeit deutlicher ein Bild der Uhr machen; ja noch später werde ich vielleicht sogar genau zu wissen glauben, wie die Uhr ausgesehen hat. Wenn ich das erstemal durch ein Zimmer gegangen bin und nur seitlich und undeutlich etwas Großes, Prismatisches, Weißes in einer Ecke gesehen habe, so werde ich erfassen: „Dort steht *) Oder auch ein Wort, welches e'in Bild gibt, das mit einem anderen s e h r ähnlich ist, z. B . „furchtbar" und „fruchtbar"; „Physiologie" und „Psychologie"; „ S t e r b e n " und „Streben" usw.; solche Worte schauen wir, falls sich nicht der richtige Sinn aus dem Zusammenhang von selbst ergibt, genauer an und buchstabieren sie nötigenfalls. 2 ) Von unzähligen bekannten Beispielen seien nur genannt: die Fehldrucke (1901) der deutschen Briefmarken mit Umschrift: „ D F U T S C H E S R E I C H " ; die Bismarckrede, in der statt: „preußischen Streit aus der Welt geschafft" stand: „preußischen Staat usw."; Uhlands Gedichte, bei welchen statt „Lieder sind wir" —zuerst stand: „Leider sind wir" und dann, korrigiert: „Leder sind wir". Das sind lauter Druckfehler, die vielen Korrektoren entgangen sind.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

ein Ofen", weil ich seine charakteristischen Merkmale wahrgenommen und in den drei anderen Ecken des Zimmers keinen Ofen gesehen habe. Wenn ich im Felde einen größeren Vogel mit sehr langem Schweife fliegen sehe, so zweifle ich nicht, daß es ein Fasan ist, und wenn ich in einer Menagerie nur undeutlich ein großes Tier mit einem langen Rüssel sehe, so weiß ich, daß es ein Elefant ist. So einfach und richtig vollzieht sich aber das Erfassen und Deuten der Ganzheiten nicht immer, es ist nach der Natur und Kultur des Erfassenden sehr verschieden und auch ungleich berechtigt. Der Fachmann kennt z. B. die wirklichen Charakteristika der Gegenstände seines Faches sehr gut und wird sich nicht irren, wenn er ein einziges Kennzeichen wahrgenommen hat; der Arzt weiß z. B., daß sich in seinem Wartezimmer ein Tuberkuloser

Abb. i.

und ein Tabetiker befindet, wenn er den ersten nur husten, den zweiten nur gehen gehört hat. Für einen anderen, der dieselben Patienten husten und gehen hört, bedeutet dies nichts. Aber abgesehen von Lebenserfahrung, Beruf und sonstige persönliche Eigenart hängt es aber auch bei ein und demselben Menschen von seiner jeweiligen „Einstellung" ab, wie das Erfassen von Gestalten und ihre Deutung ausfällt. Wenn wir die obenstehende Abbildung betrachten, so können wir in diesem auseinandergefaltenen Scheerenschnitt, j e n a c h d e m wir u n s d a z u i n n e r l i c h e i n s t e l l e n , zwei gegeneinander blickende Männerköpfe oder aber auch einen Becher (hell auf dunklem Grund) sehen. Haben wir vorher andere Scheerenschnitte angesehen, die nur helle Figuren auf dunklem Grund darstellten, so werden wir infolge der dadurch erworbenen E r w a r t u n g s e i n s t e l l u n g auch in unserer Abbildung nur den Becher sehen. Im praktischen Leben spielen solche Erwartungseinstellungen für die Auffassung und Deutung eine große Rolle und können oft zu Fehldeutungen führen (sogenannte E r w a r t u n g s s u g g e -

Auffassen gesprochener Worte

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stionen) 1 ). Wer z. B. in der Nacht auf einen Heimkehrenden wartet, ist nur zu leicht geneigt, in jedem leisen Geräusch bereits das Öffnen einer Tür oder Schritte zu hören; der ängstliche Wanderer sieht bei Nacht in den Umrissen eines Baumstrunkes einen kauernden Wegelagerer. Gerade Affektzustände (Angst, Erregung) begünstigen solche Fehldeutungen und wir dürfen nicht vergessen, daß die in Prozessen vernommenen Zeugen sich in vielen Fällen zur Zeit der Wahrnehmung in einer gewissen Aufregung befunden haben. Bei abergläubischen Leuten kommt es besonders bei nächtlichen Begebenheiten verhältnismäßig häufig vor, daß ihnen aus irgendeinem Grund „unheimlich" zumute wird — oft weil sie irgendwelche Wahrnehmungen machen oder zu machen glauben, die sie sich mit ihren Begriffen nicht recht erklären können. Von dem Augenblick jedoch, als es jemandem unheimlich wurde, ist keine einzige Wahrnehmung mehr verläßlich, ja es ist zweifelhaft, ob dasjenige wahr ist, was er erlebt haben will, bevor es ihm unheimlich wurde. Dazu kommt, daß es die wenigsten Menschen eingestehen wollen, daß es ihnen unheimlich zumute war — vielleicht wissen sie es gar nicht. Besonders gesprochene Worte, die nur bruchstückweise und undeutlich gehört wurden, werden oft — gemäß der allgemeinen Tendenz, Wahrgenommenes zu einem sinnvollen Ganzen zu vervollständigen — entsprechend der Erwartung und dem eigenen Wortschatz des Wahrnehmenden fehlerhaft ergänzt2). Dies kann besonders bei Zeugenaussagen über gefallene Beschimpfungen zu verhängnisvollen Irrtümern führen. Unter Umständen kann dies soweit gehen, daß aus mißverstandenen Gebärden die Zeugen auch die dazupassenden Worte zu hören vermeinen, selbst wenn gar nichts gesprochen wird. Ich erinnere mich folgenden Falles3): Einige Burschen schoben Kegel, als ein unbekannter Bursche vorbeiging. Die Spieler riefen ihm zu, ob er nicht mitschieben wolle, sie brauchten einen zur „geraden Zahl". Der Fremde antwortete nicht und ging weiter; die Burschen betrachteten dies als Grobheit und schimpften ihm nach. Wie alle Zeugen und Beschuldigten einstimmig angaben, drehte sich darauf der Fremde um und rief den anderen eine Flut von Schimpfworten zu, weshalb sie ihm nachliefen und ihn arg mißhandelten. Bei den hierwegen vorgenommenen Erhebungen stellte es sich zuletzt, als man endlich des Mißhandelten habhaft wurde, heraus, Seelig, Art. „Suggestion" im H d K . ; wegen der allgemeinen Bedeutung der Suggestion für das Zustandekommen von Aussagen wird davon noch ausführlich unter S. loöff. die Rede sein. 2) Einen hieher gehörigen Fall stellt die Beobachtung Heilbergs dar: Bei einer Durchreise durch Frankfurt ging Justizrat Heilberg entlang dem Zug Sieinem mitreisenden Kollegen A. entgegen, für den er den Platz im vordersten Wagen belegt hatte, und traf ihn am Ende des Zuges. A. hatte unmittelbar vorher im Vorübergehen eine Dame gegrüßt und fragte dann Heilberg, ob er diese Dame kenne, da sie soeben zu A. gesagt habe: „Justizrat Heilberg ist schon vorne eingestiegen." Heilberg kannte die Dame nicht und es stellte sich heraus, daß die Dame nicht von Heilberg und überhaupt nicht zu A., sondern zu einer anderen Dame etwas gesprochen hatte, worin das Wort „Justizrat" vorkam. A. war in Angst gewesen, zum Einsteigen nicht zurecht zu kommen (Beiträge — oben S. 74 Anm. 1 — S. 606). 3) Hans Groß, Das Verstehen der Zeugen und die Einbildung, Archiv 15 S. 125.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

daß der fremde Bursche taubstumm ist — er hatte also weder die Aufforderung mitzuspielen und die ihm geltenden Beschimpfungen hören, noch auch zurückschimpfen können.

Mit dem Umstand, daß wir einen gesprochenen Satz zunächst als Ganzheit und nicht als Summe von einzelnen Lauten erfassen, hängt es zusammen, daß auch dann, wenn die akustische Wahrnehmung nicht mangelhaft war, fast niemand das Gehörte dem W o r t l a u t , sondern dem Sinn nach aufnimmt. Daher vermag auch fast niemand die Reden seiner Mitmenschen im Alltagsleben wörtlich wiederzugeben, auch wenn er sofort nach der Wahrnehmung darum gefragt wird. Solange hiebei der wirkliche Sinn getroffen wird, mag die Abweichung im Wortlaut nicht allzuviel verschlagen (allerdings gibt es auch Prozeßsituationen, in denen es gerade auf den Wortlaut einer Äußerung ankommt). In vielen Fällen legen die Menschen aber den gehörten Äußerungen jenen Sinn unter, der ihnen selbst nach Lage der Sache als der entsprechendste erscheint und demgemäß wird dann auch, falls die gehörte Äußerung wiedergegeben werden soll, deren Wortlaut verändert und zwar nach der individuellen Auffassung der einzelnen Personen, die die Äußerung hörten. Haben wir daher schon unter gewöhnlichen Umständen bei der Wiedergabe von gehörten Gesprächen vorsichtig zu sein, so ist dies in erhöhtem Maße notwendig, wenn irgendwelche Schwierigkeiten dazugekommen sind1), wenn z. B. die betreffende Stimme aus größerer Entfernung oder schreiend, kreischend, gepreßt oder sonstwie unnatürlich gehört worden ist. Ebenso wenn die Stimme jemandem angehörte, der anderer Nationalität2), anderen Dialektes3) oder anderen Bildungsgrades als der Zeuge ist. Es ist Vorsicht geboten, wenn der Zeuge die Stimme unvermutet hörte, wenn er den Zusammenhang des Gesagten mit dem gleichzeitig Geschehenen nicht gekannt hat oder gar, wenn die Möglichkeit vorliegt, daß dieser Zusammenhang vom Zeugen mißverstanden wurde. Man halte sich immer vor Augen, daß hier das Gedächtnis noch gar keine Rolle spielt, und daß es sich wirklich um unrichtige Wahrnehmungen handelt, da die Leute auch gleich darauf unrichtig reproduzieren. Man merke auch, daß die wörtliche Wiedergabe, namentlich längerer Sätze, für Leute minderer Bildung nicht nur große Schwierigkeiten hat, sondern daß sie auch regelmäßig Entstel') Gewöhnlich nimmt man an, daß Blinde, obwohl sie eine Sinneswahrnehmung durch das Auge nicht kontrollieren können, besser hören und feiner tasten, als Sehende. Dies ist nach Experimenten, die Prof. Griesbacher mit dem Direktor des Blindeninstitutes Jllzach-Mühlhausen, Kung, angestellt hat, nicht richtig; die Blinden haben aller Wahrscheinlichkeit nach keinen besseren Gehörs- und Tastsinn als normale Menschen; sie sind nur gezwungen besser aufzumerken und beachten auch infolge ihrer auf die gesunden Sinne eingestellten Erziehung daher manches, was der Sehende vernachlässigen darf. ') Über typisches Mißverstehen s. H. Groß in Archiv 7 S. 161. Wie wichtig das Verstehen des Dialektes überhaupt werden kann vgl. K. Erdmann, Die Bedeutung des Wortes, Leipzig 1909; Meringer, Aus dem Leben der Sprache, Berlin 1908; Chamberlain, Analogy of the language of primitive peoples, Americ. Journ. of psychol. Okt. 1907 p. 442.

Sehen von Bewegungen

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lungen vornehmen, wenn man sie zum wörtlichen Wiedergeben zwingt1). Es bleibt daher nichts anderes übrig, als sich mit der Erzählung des Inhaltes der Äußerung zu begnügen, wobei man sich aber immer die volle Überzeugung verschaffen muß, daß der Zeuge die Sachlage richtig aufgefaßt hat, weil er sonst bei Wiedergabe des Inhaltes der Rede ihren Sinn zuverlässig in der Richtung seiner Auffassung verdreht. Eine verschiedene Deutung des Wahrgenommenen tritt insbesondere auch beim S e h e n von B e w e g u n g e n in Erscheinung. Wir alle kennen die Irrungen, denen wir ausgesetzt sind, wenn es sich um die Beurteilung der Frage handelt, was sich bewegt. Wir wissen oft nicht, ob sich der Eisenbahnwaggon bewegt, in dem wir uns befinden, oder der auf dem nächsten Geleise befindliche; oder wenn wir lange von der Brücke ins fließende Wasser sehen, so scheint zuletzt die Brücke stromabwärts zu schwimmen. Aber solche der Wirklichkeit nicht entsprechende Bewegungseindrücke, die mit der Relativität der Bewegungserscheinungen zusammenhängen, entstehen nicht immer, sondern wiederum nur je nach unserer augenblicklichen Einstellung (wenn ich die Abfahrt des eigenen Zuges bereits dringlich erwarte, lasse ich mich besonders gerne täuschen, wenn sich die Zugsgarnitur auf dem Nebengeleise in umgekehrter Richtung in Bewegung setzt). Verschiedene Auffassungen desselben Bewegungsvorganges können auch dadurch entstehen, daß die einzelnen Bilder, aus deren Nacheinander der Eindruck der Bewegung als Ganzheit entsteht, von verschiedenen Personen in anderen Teilkomplexen erfaßt werden. Dies kann damit zusammenhängen, daß der einzelne Beobachter seine Aufmerksamkeit um einen Bruchteil einer Sekunde später dem Bewegungsvorgang zuwendete, cder auch damit, daß die zeitliche Reizschwelle für kurze optische Eindrücke, bei der erst eine Gesichtswahrnehmung beginnt, bei den einzelnen Menschen verschieden ist. Daher fassen Menschen, die „langsam sehen", bei raschen Bewegungen nur größere Teilkcmplexe auf, während andere Beobachter bereits kürzere Phasen der Bewegung erfassen. Hiefür bietet das Kino ein reiches Anschauungsmaterial: wenn zwei Menschen, die in der angedeuteten Richtung einem verschiedenen Wahrnehmungstyp angehören, zusammen einen Film sehen und hernach ihre Eindrücke austauschen, sind sie oft erstaunt, daß der eine Dinge beobachtete, die der andere nicht sah, und umgekehrt. Besonders bedeutsam für die kriminalistische Praxis werden aber solche Fälle, in denen ein rascher Bewegungsvorgang, dessen einzelne Phasen unter jener zeitlichen Reizschwelle lagen, als solcher überhaupt nicht wahrgenommen werden konnte, so daß dadurch eine „Wahrnehmungslücke" entstand, die aber von den Beteiligten als solche nicht erkannt, sondern — gemäß der schon erwähnten Tendenz, alle Wahrnehmungen zu einem sinnvollen Ganzen zu ergänzen — sofort und unbewußt „ausgefüllt" wird. Wir erleben es oft, daß z. B. von Zeugen einer Wirtshausrauferei ein Teil 1 ) Vgl. E. Unger, Bedenken gegen die ü bliche Protokollierurg, D J Z . Nr. 22 in 1905; Eug. Kulischer, Das Zeugnis vom Hörensagen, Wien icc6.

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I I . Abschnitt. Die Vernehmung.

behauptet, der Beschuldigte habe dem Beschädigten das Bierglas an den Kopf g e w o r f e n , während ein anderer Teil mit der gleichen Sicherheit angibt, der Beschuldigte habe mit dem Bierglas auf den Kopf des Beschädigten g e s c h l a g e n . In solchen Fällen muß nicht der eine oder andere Teil gelogen haben, die Erklärung liegt darin, daß die Zeugen das Aufheben des Bierglases und dann wieder das Zerschellen auf dem Kopf des Beschädigten gesehen haben. Alles Dazwischenliegende ist von ihnen nicht gesehen worden, weil es zu kurz gedauert hat, um einen gesonderten Eindruck zu hinterlassen. Nur selten aber ist ein Zeuge so selbstkritisch, daß er angibt „es ist alles so schnell gegangen, daß ich nichts sagen kann", meistens kommt es vielmehr sofort zur Ausfüllung der Lücke durch jene Vorstellungen, die der Zeuge zu Beginn der Wahrnehmung erwartet hat. Als der Beschuldigte das Bierglas in die Höhe hob, hat sich ein Teil der Zeugen gedacht: „jetzt wird er schlagen"; der andere Teil hat gedacht: „jetzt wird er werfen"; und als der andere das Glas am Kopfe hatte, so ergänzte sich jeder der Zeugen den mit dem Auge nicht wahrgenommenen Hergang, so wie es seiner bisher im Leben gemachten Erfahrung mit Wirtshausraufereien und der dadurch gegebenen Erwartung entsprach. Die bisher besprochenen Mängel der Wahrnehmung und der sich anschließende Verarbeitungsprozeß haben dargetan, daß das, was als Eindruck des Wahrgenommenen zurückbleibt, wesentlich mitbeeinflußt ist durch die Person des Wahrnehmenden selbst und zwar sowohl durch seine Dauereigenschaften als auch durch seine augenblickliche Einstellung im Zeitpunkt der Wahrnehmung. Wenn daher mehrere über denselben Vorgang vernommene Zeugen Verschiedenes berichten und wir zur Überzeugung kommen, daß weder Mängel des Gedächtnisses oder spätere Einflüsse (worüber in den folgenden Kapiteln zu sprechen sein wird), noch Lügen diese Verschiedenheit bewirkten, sondern daß die Zeugen schon im Zeitpunkt der Wahrnehmung den Vorgang verschieden aufgefaßt haben, so wird es Aufgabe des U. sein, durch eine sorgfältige Prüfung jener individuellen Faktoren, von denen wir gesprochen haben, alle diese verschiedenen Aussagen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wenn zwei d a s s e l b e s e h e n , so sehen sie doch nicht d a s s e l b e — so könnte man das Ergebnis unserer Beobachtungen schlagwortartig zusammenfassen und ein U., der sich der verschiedenen aufgezeigten Möglichkeiten dieses „Anders-Sehens" bewußt ist, wird schon dadurch vor manchem Irrtum bewahrt bleiben. Nun gibt es aber auch solche Fehlerscheinungen in unseren Wahrnehmungen, bei denen dieser individuelle Faktor in seiner Bedeutung zurücktritt und die daher regelmäßig bei a l l e n Menschen ungefähr gleiche mangelhafte Wahrnehmungen hervorrufen 1 ). Hieher gehören In diesen Fällen bedeutet naturgemäß der Umstand, daß mehrere Zeugen ü b e r e i n s t i m m e n d dasselbe behaupten, keinen Beweis für die Richtigkeit der Aussagen. Vgl. auch Hayn, Zur Frage der Wahrnehmung rascher Vorgänge, Archiv i S. 1 2 3 .

Bauernfängertricks

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alle jene Erscheinungen, die man als „Sinnestäuschungen" bezeichnet. Im Gebiet des zuletzt besprochenen Sehens von Bewegungen haben wir schon erwähnt, daß Bewegungen, die infolge ihrer Raschheit unter der menschlichen Reizschwelle für Gesichtswahrnehmungen liegen, überhaupt nicht gesehen werden können. Die erwähnte Reizschwelle schwankt allerdings bei verschiedenen Menschen in geringem Maße, aber unter einer gewissen Grenze können optische Reize von niemandem wahrgenommen werden 1 ). Darauf beruhen z. B. die Tricks der Taschenspieler, die infolge der Schnelligkeit der verwendeten Handbewegungen tatsächlich von keiner Person aus dem Publikum erkannt werden können. Ihnen verwandt sind viele Bauernfängertricks, die bei bestimmten Kartenspielen (z. B. „Kümmelblättchen") und ähnlichen Bauernfängerspielen verwendet werden. Beim Kümmelblättchen legt der Bauernfänger von den drei Karten, die er in der Hand hält, schon bei Beginn des Spielganges nicht, wie es scheint, die von ihm gezeigte rote Karte auf den Tisch, sondern eine der beiden anderen, die er ebenfalls in der Hand hält. Wie wir an der Grazer Strafanstalt an einem gewerbsmäßigen Bauernfänger, der seine Fertigkeiten gerne zeigte, beobachten konnten, ist der Trick auch für denjenigen nicht bemerkbar, der ihn kennt und genau weiß, in welchem Augenblick die betreffende Handbewegung vorgenommen wird. Dasselbe gilt für die verwandten Tricks der Falschspieler2). Unter den Sinnestäuschungen auf dem Gebiete des Sehens spielen aber nicht bloß solche zwangsläufig entstehende Wahrnehmungslücken, sondern vor allem auch falsche Raumvorstellungen, die auf unrichtigen Gestalt- und Tiefenempfindungen beruhen, eine wichtige Rolle. Die hieher gehörigen Erscheinungen sind von der Fachpsychologie seit jeher ausführlich untersucht und behandelt worden und bedeuten für die Wahrnehmungslehre der Gegenwart kaum mehr ein Problem. Es sieht z. B. das schwarze Rechteck zwischen weißen Flächen schmäler aus als das gleich breite Rechteck zwischen schwarzen Flächen; für die Zeugenpsychologie bedeutet dies die Nutzanwendung: Leute, die schwarz gekleidet sind, erscheinen schmächtiger als wenn sie helle Anzüge tragen. Eine geteilte Linie sieht kürzer aus als eine ungeteilte ; ein quergeteiltes Quadrat erscheint breiter als hoch; ein senkrechtgeteiltes höher als breit; so macht einfarbige oder längsgestreifte Kleidung eine Person größer, verschiedenfarbige oder quergestreifte Kleider machen sie l ) Für uns auch praktisch oft wichtig ist die Frage, ob man beim Aufblitzen einer Schußwaffe genug Zeit hat, um einen Menschen zu erkennen. Im berühmten und vielbesprochenen Fall Fourey (1808) haben 5 Professoren der Physik erklärt, daß dies selbst dann ausgeschlossen sei, wenn der Betreffende auf das Kommende vorbereitet war. (Sello, Gesch. d. Justizirrtümer, Berlin 1911, S. 344). Spätere Versuche ergaben, daß ein seitwärts Stehender den Schießenden auf 5 m, vielleicht unter günstigen Verhältnissen auf 10 m erkennen kann; stehen sich beide gegenüber, so sei das Erkennen bis zu 10 m, u. U. bis 20 m möglich (Romary, L a visibilité à la lueur des coups de feu tirés la nuit, Arch. d'anthropol. crimin. Nr. 176, 177). ») Vgl. unten II. Bd., X I X . Abschn., 5.



II. Abschnitt. Die Vernehmung.

kleiner. Praktisch wichtig sind besonders auch die Fehler beim Erfassen der Tiefe: Nach einem Regen erscheinen die Berge näher gerückt (was mit der anderen Lichtbrechung der wasserreichen Luft zusammenhängt), ebenso scheint ein bei einem Bauernhof ausgebrochenes Feuer in der Nacht viel näher zu sein als der betreffende Bauernhof bei Tag. Hinwiederum erscheinen Gegenstände, welche uns in der Nacht oder bei dichtem Nebel am Tage unerwartet gegenübertreten, oft ins Ungeheuerliche vergrößert. Die ältere Psychologie suchte die Erklärung für solche Fehlempfindungen in einer Reihe „unbewußter Schlüsse", die wir in solchen Fällen zögen. Wenn mir im Nebel ein entgegenkommender Heuwagen, bevor ich ihn recht erkenne, riesenhaft wie ein Haus erscheint, so — erklärte man sich — zöge ich folgende Schlüsse: „Mir erscheinen die Umrisse des auftauchenden Gegenstandes undeutlich; ich weiß aus Erfahrung, daß Gegenstände, welche mit undeutlichen Umrissen erscheinen, noch weit entfernt zu sein pflegen; ich weiß ferner, daß Gegenstände, die weit entfernt sind, in meiner Gesichtswahrnehmung entsprechend den Gesetzen der Perspektive stark verkleinert sind; ich muß daher annehmen, daß der auftauchende Gegenstand, welcher trotz der (aus den undeutlichen Umrissen erschlossenen) größeren Entfernung in meiner Gesichtswahrnehmung noch ziemlich bedeutende Ausmaße hat, in Wirklichkeit von noch viel größerem Maße sein muß." In Wahrheit aber spielt sich der seelische Vorgang keineswegs als ein Hintereinander solcher logischer Schlüsse ab, sondern ich erfasse sofort und unmittelbar bei Auftauchen des Gegenstandes die Gestaltsempfindung „riesenhaft groß". Die Disposition, solche Gestaltempfindungen unter gewissen Voraussetzungen zu erleben, haben wir freilich im Laufe der Jahre durch Erfahrungen erworben, die wir im Sinne der früher angedeuteten Schlüsse sammelten. Ist aber einmal die Disposition da (die durch das ständige Sehen fernerer und näherer Gegenstände jeder Mensch erwirbt), dann tritt eine durch ausnahmsweise Umstände bedingte Fehlempfindung der übermäßigen Größe mit derselben Unmittelbarkeit und Lebendigkeit auf, wie sonst im alltäglichen Leben eine richtige Größenempfindung. Jedem Autofahrer ist es wohl schon passiert, daß er einen im Nebel entgegenkommenden kleineren Wagen für einen großen Autobus in weiterer Ferne hielt und im Augenblick darauf überrascht war, daß der Wagen sehr klein, aber dafür schon in nächstör Nähe ist1). Dies weist allerdings darauf hin, daß die zuerst auftretende fehlerhafte Größenvorstellung mit der unbewußt gebliebenen ebenso fehlerhaften Tiefenempfindung, die den Eindruck großer Entfernung vermittelte, zusammenhängt. Aber der Erlebende weiß dies selbst in der Regel nicht und noch weniger hat er aus ihm unbekannten Prämissen „Schlüsse" gezogen. Aber gerade weil es sich hier nicht um das Ergebnis einer intellektuellen Überlegung, sondern um eine l ) Uber andere Sinnestäuschungen, denen der Autolenker oft unterliegt, vgl. Lossagk, Sinnestäuschungen und Verkehrsunfall (Berlin 1937); über Schrecksekunde und Reaktionszeit unten S. i25ff.

Akustische Täuschungen

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unmittelbar erlebte Raumempfindung handelt, unterliegen wir der Täuschung um so selbstverständlicher. Von gleicher Wichtigkeit, aber oft nicht so aufklärbar sind Sinnestäuschungen auf akustischem Gebiet1), insbesondere die damit zusammenhängenden fehlerhaften Entfernungsempfindungen und die akustischen Fehllokalisationen. Wind, Wettereinflüsse, Nebel und ähnliches können bewirken, daß ein Geräusch, ein Schuß, ein Hilferuf Näherstehenden nicht hörbar ist, wohl aber weiter Entfernten2). Wenn daher Zeugen aus größerer Entfernung einen Schuß oder einen Ruf gehört haben, so braucht ein anderer Zeuge keineswegs die Unwahrheit zu sprechen, wenn er behauptet, trotz seiner geringen Entfernung nichts gehört zu haben. Ganz besonders fehlerhaft ist aber oft die Lokalisation von Schallreizen, zumal wir nur allzuleicht geneigt sind, diese Fähigkeit zu überschätzen; daß wir überhaupt Schalleindrücke lokalisieren können beruht auf einem Richtungseindruck, der durch den Intensitätsunterschied der durch die beiden Ohren vermittelten Schallempfindungen u n m i t t e l b a r entsteht. Gerade bei der Fähigkeit zur akustischen Lokalisation macht sich aber auch die Abhängigkeit vom Persönlichkeitstyp bemerkbar, dem der Betreffende angehört. Der Außenwelt zugewandte Menschen (extravertierte Persönlichkeiten) erleben den Richtungseindruck deutlicher, schneller und plastischer als nach innen gekehrte3). Es gibt auffallend viele Menschen, die, ohne schwerhörig zu sein, nicht sagen können, ob eine Stimme von oben oder unten, rechts oder links, hinten oder vorne, von weit oder von nah kommt, und die wenigsten dieser Menschen wissen es, daß sie ein so mangelhaftes akustisches Unterscheidungsvermögen haben. Auch die durch Schalleindrücke vermittelten Mengenempfindungen sind sehr unzuverlässig und weisen daher bei mehreren Personen eine große Schwankungsbreite auf; dies ist in der kriminalistischen Praxis bei den Angaben mehrerer Zeugen über die Zahl gefallener Schüsse von Bedeutung. Ein von Seelig4) veranstalteter Versuch hatte folgendes Ergebnis: Während der Vorlesung ertönen im Nebenraum 5 Schüsse innerhalb eines Zeitraumes von 3 Sekunden. Während dieser Zeit wurde der Vortrag unterbrochen; nach 10 Minuten gaben von 16 Hörern über die Zahl der Schüsse an: 4 Hörer 3 Schüsse, 4 Hörer 4 Schüsse, 1 Hörer 4 — 5 Schüsse, 4 Hörer 5 Schüsse, ') Vgl. H. Groß, Archiv 22, S. 277; 49, S. 266; 60, S. 241; ferner K. Münich, Wahrnehmung der Schallrichtung, in: Beitr. z. Anatomie usw., 2. Bd.; Urbantschitsch, Über Lokalisation d. Tonempfindungen, Archiv f. d. ges. Physiologie, 101, S. 154. a) W. Brand (Sitzungsbericht der Gesellschaft der gesamten Naturwissenschaften 4,1915) berichtet von der Beobachtung, daß Geschützdonner in einem kreisförmigen Gebiet, in dessen Mittelpunkt die Schallquelle war, normal zu hören war, wobei seine Stärke mit der Entfernung vom Mittelpunkt abnahm; außerhalb dieses Umkreises wurde zunächst nichts gehört, aber in größerer Entfernung setzte die Hörbarkeit wieder plötzlich ein, um schließlich ganz zu verschwinden. s) W. Knöpf,, Untersuchungen zu Schallokalisationen und ihre Beziehung zum Persönlichkeitstypus, in: Untersuchungen zur Psychologie, Phil. u. Pädag. 11 (1936); über Extraversion und Introversion s. Jung, Psychologische Typen, Zürich 1921. 4) Ergebnisse u. Problemst. d. Aussageforschung, a. a. O. S. 407.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

3 Hörer 6 Schüsse. Zählt man die Antwort „ 4 — 5 Schüsse" als richtig, so waren 1 1 Antworten falsch, 5 richtig; unter den falschen überwogen die Unterschätzungen ( 8 : 3). Von den richtigen Antworten lauteten zwei genauer: „ 1 Schuß und dann 4 Schüsse" und „zuerst ein Schuß, dann zwei, dann wieder zwei". Tatsächlich war die Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Schuß ungefähr doppelt so groß wie zwischen den vier restlichen Schüssen; innerhalb dieser wurde eine Phrasierung nicht vorgenommen. Beide Hörer, von denen die zwei letzterwähnten Antworten stammten, gaben an, musikalisch zu sein.

Im Gebiete der übrigen Sinne spielen Sinnestäuschungen und Fehldeutungen der Häufigkeit nach naturgemäß eine geringere Rolle, können aber in Einzelfällen ebenfalls von großer Bedeutung sein. Daß z. B. der T a s t s i n n zu falschen Vorstellungen Anlaß geben kann, ist bekannt genug, wir wissen auch, daß diese Irrungen in der kriminalistischen Praxis namentlich dann von Wichtigkeit sind, wenn es sich um die Fixierung erhaltener Verletzungen handelt. Es ist niemandem fremd, daß z. B. Stiche und Schüsse zuerst nur als Stöße empfunden werden, daß unbedeutende Verletzungen im ersten Augenblick oft großen Effekt machen, während tödliche kaum empfunden werden; wir wissen, daß Leute, die z. B. bei einer Rauferei mehrere leichte und eine schwere Verletzung erlitten haben, selten zu sagen wissen, wann die schwere Verletzung versetzt wurde; wir wissen, daß die wenigsten Verwundeten richtig angeben, wie viele Stöße, Schläge oder Stiche sie bekommen haben; kurz, die Angaben der Verletzten über alles, was sie mit Hilfe des Tastsinnes wahrgenommen haben, sind entweder unvollständig oder unverläßlich1). Hieher gehören auch die häufigen Fälle, in welchen Leute, auf die z. B. geschossen wurde, alle möglichen Empfindungen von Schmerz, Brennen, auch Nässe infolge fließenden Blutes empfinden, obwohl der Schuß sie gar nicht getroffen hatte. Zu beachten ist auch die noch zu wenig gewürdigte Tatsache, daß unsere Körperteile Tastreize nur dann richtig vermitteln, wenn sie in i h r e r g e w ö h n l i c h e n L a g e sind. Das zeigt das uralte Beispiel mit der Erbse: wenn wir eine Erbse mit dem Daumen und Zeigefinger ergreifen, so fühlen wir die Erbse nur einfach, obwohl uns ihr Tastbild durch zwei Finger, also doppelt, übermittelt wird. Wenn wir aber den dritten Finger über den vierten kreuzen, und nun die Erbse zwischen die Spitzen dieser zwei Finger fassen, so fühlen wir sie doppelt, weil die Finger nicht in ihrer gewöhnlichen Lage sind, also auch doppelt vermitteln. Anders gesagt, entspricht die doppelte Vermittlung dem ursprünglichen Empfinden des neugeborenen Kindes; wenn wir aber in der natürlichen Lage tasten, so spielt die Erfahrung mit, die beiden Einzelempfindungen verschmelzen alsbald zu einem Ganzheitseindruck und wir empfinden nur eine Erbse. Diese, schon von Aristoteles eingehend untersuchte psychologische Erscheinung erklärt uns manche, bei bestem Willen falsch gemachte Äußerung. — Ein- ähnliches Beispiel: Faltet man die Hände über Kreuz und dreht sie so nach innen und ») Vgl. Wilke

in Archiv Bd. 3 S. 1 1 7 .

Unverläßllchkeit der Tastempfindungen

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aufwärts, daß die linken Finger wieder nach links und die rechten wieder nach rechts stehen, so hat man die Lokalisation der Finger total verloren, und wenn dann eine zweite Person auf einen der Finger, ohne ihn zu berühren, mit der Aufforderung deutet, ihn zu heben, so hebt man regelmäßig den entsprechenden Finger der anderen Hand. Überhaupt zeigt es sich, daß der Tastsinn insoferne auf geringerer Höhe der Ausbildung steht, als er dann, wenn nicht lange Erfahrung zuhilfe kommt, noch der Unterstützung eines anderen Sinnes, namentlich des Gesichtssinnes bedarf 1 ). Wahrnehmungen durch den Tastsinn allein sind daher stets von geringer Verläßlichkeit, weil dann nur nach wenigen und gröberen Merkmalen auf das Ganze geschlossen wird2). In überzeugender Weise wird dies durch ein Gesellschaftsspiel bestätigt, mit welchem sich unsere Jugend zu unterhalten pflegt und das für uns recht belehrend ist; hiebei werden (es dürfen nur ein oder zwei Eingeweihte vorhanden sein) u n t e r dem T i s c h e gewisse harmlose Dinge weiter gereicht: ein Stück weichen Mehlteiges, eine geschälte, feuchte und mit kurzen Holzspitzchen gespickte Kartoffel, ein nasser, mit Sand gefüllter Lederhandschuh, eine spiralig abgenommene Rübenschale usw. Jeder, der einen dieser Gegenstände, also ohne ihn sehen zu können, in die Hand bekommt, glaubt, ein scheußliches Untier erhalten zu haben, und schleudert es von sich. Er hat mit dem Tastsinn nur das Feuchte, Kalte und Bewegliche, also die gröbsten Merkmale der Reptil-Vorstellung wahrgenommen, die Phantasie ergänzt Bewegungen und Greifen, und so wird die Vorstellung eines Reptils usw. dem Gehirne überliefert. Wenn ein Zeuge Angaben bloß auf Grund seines Tastens macht, möge man immer an dieses Kinderspiel denken! Aber auch ohne äußeren Reiz kommen Tastempfindungen verhältnismäßig leicht im Wege der Suggestion3) zustande. Wenn z. B. in der Nähe meines Sitzes Ameisen kriechen, so empfinde ich sofort, daß mir Ameisen unter den Kleidern laufen, und wenn man eine Wunde sieht oder beschreiben hört, so empfindet man häufig an der entsprechenden Stelle des eigenen Körpers Schmerzen. Professoren der Dermatologie erzählen, daß die Studenten bei Demonstration von Kranken mit juckenden Hautausschlägen in geradezu komischer Weise an den betreffenden Stellen des eigenen Körpers zu kratzen beginnen. Daß dies namentlich bei Zeugen, die zur Hysterie neigen, zu argen Täuschungen führen kann, ist selbstverständlich. Diese geringe Verläßlichkeit der Wahrnehmungen, die auf dem Tastsinn beruhen, wird noch durch den Umstand erhöht, daß bei ihm mehr als bei den anderen Sinnen die Relativität der Reize von Einfluß *) Obersteiner, Zur vergleichenden Psychologie der verschiedenen Sinnesqualitäten, Wiesbaden 1905. 2) Es ist auffallend, wie lange man braucht, wenn man im Finstern einen bestimmten Gegenstand heraustastet; sagen wir, ich suche z. B. aus der nicht allzu ordentlichen Werkzeuglade eine Zange; ich brauche verhältnismäßig sehr lange, bis ich weiß, daß der erfaßte Gegenstand nicht die gewünschte Zange ist. 3) Über das Wesen der Suggestion vgl. unten S. ioöf.

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I I . A b s c h n i t t . Die Vernehmung.

ist. Dies gilt besonders von den Temperaturempfindungen. Wir empfinden den Keller im Winter warm und im Sommer kalt, weil wir nur den Unterschied mit der Außentemperatur verspüren, und wenn wir eine Hand in heißes und die andere in kaltes Wasser und dann beide in laues tauchen, so empfindet die eine Hand das laue Wasser kalt, die andere fühlt es warm. Behauptungen auf Grund von Temperaturempfindungen kommen in unseren Protokollen häufig vor, es ist ihre Unverläßlichkeit stets zu berücksichtigen. In gewisser Beziehung gehören hieher auch eigentümliche Erscheinungen, die ihren Grund im unregelmäßigen Baue unseres Körpers haben, also z. B. die stärkere Entwickelung eines Beines, welches dann stärker ausschreitet und den Weg bogenförmig gestaltet, wenn andere Korrekturen fehlen oder mangelhaft sind. Hieher gehört z. B. das Irregehen im Kreise (statt geradeaus fortzugehen). Dies kommt namentlich vor, wenn jemand in fremder Gegend im Nebel oder Schneegestöber oder nachts im Walde geht, am öftesten aber, wenn er seiner Sinne nicht ganz mächtig, krank, erschreckt, betrunken oder durch Schläge, Blutverlust usw. betäubt ist. Es sieht dann oft unwahrscheinlich aus, wenn jemand etwa nach einem behaupteten Attentat, Raubanfall, Notzuchtsfall usw., statt geradeaus zu fliehen, im Kreise um den Tatort herumgegangen ist (etwa durch seine Fußspuren oder durch Zeugen erweisbar). Daß ein solcher Verletzter, der im Kreise herumgeirrt ist, doch die Wahrheit sagen kann, wird heute nicht mehr bestritten1). Bezüglich des Geschmackes oder Geruches2) wäre zu erwähnen, daß nicht nur infolge von Schwangerschaft und Krankheiten sehr häufig sonderbare Gelüste und Ablehnungen auftreten, sondern daß auch beim normalen Menschen die subjektiven Unterschiede sehr groß und unkontrollierbar sind. Geschmack und Geruch spielen im Leben eine geringere Rolle als Sehen und Hören; wir können zwar jeden fragen oder uns auch objektiv davon überzeugen, ob er gut sieht oder hört, es wäre aber die Frage, ob er richtig und scharf schmeckt oder riecht, zwecklos, weil man die Richtigkeit der Antwort nur schwer (etwa in einem Laboratorium usw.) überprüfen kann3). Zudem kommen beim Schmecken und Riechen J) Literatur usw. s. H. Groß in A r c h i v B d . 10 S. 170. D a ß an diesem Irregehen die A s y m m e t r i e des menschlichen Körpers schuld ist, wird allgemein zugegeben; vgl. weiter: Gaupp, Die normalen Asymmetrien des menschlichen K ö r pers, Jena 1909; dann die beweisenden Versuche von Jordan in der „ U m s c h a u " H e f t 38 S. 754 (1910) und die vielfachen Messungen, die an R e k r u t e n vorgenommen wurden und die z. B . bei sog. normalen Menschen Unterschiede bis zu 2 cm in der L ä n g e der Beine ergeben haben. 2) Spezialiragen behandeln: Mario Pongo, Über die W i r k u n g gewisser Medikamente auf den Geschmack, Arch. f. d. ges. Psychol. B d . 14 S. 385 und A. Herlizka, Über das A u f t r e t e n gewisser metallischer Geschmacksempfindungen, Arch. di Fisiologia V S. 217 (wichtig bei wirklichen und eingebildeten Vergiftungen). 3) In einem Prozesse war es einmal wichtig geworden, warum ein Zeuge, ein alter Bauer, den Geruch einer Leiche nicht wahrgenommen h a t t e ; der U . ließ daher durch die Gerichtsärzte umständliche Proben mit verschiedenen In-

Geschmack und Geruch

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eigentümliche Umstellungen vor. Wenn ich z. B. eine Speise nach ihrem Aussehen für eine süße Mehlspeise halte, während sie in Wirklichkeit eine gesalzene Fleischspeise ist, so werde ich beim Kosten nicht die Empfindung ihrer wahren Natur, sondern lediglich einen ekelhaften Geschmack empfinden. Es hat sich nämlich die Vorstellung der süßen Mehlspeise mit dem wirklichen Geschmack der gesalzenen Fleischspeise so gemengt, als ob man die beiden Speisen wirklich vermischt hätte. Bezüglich des Geruchsinnes ist hauptsächlich zu bemerken, daß die Begriffe angenehm und unangenehm hier sehr verschieden zu sein scheinen. Der eine findet den Geruch von faulen Äpfeln, der andere den eines feuchten Badeschwammes vortrefflich; dieser nennt dasselbe „entsetzlichen Aasgeruch", was der andere „entzückendes haut gout" heißt; es gibt Frauen, welche Asa foetida als den besten Geruch erklären, für gewöhnlich nennt man dieses Harz Teufelsdreck. Der Geruch von Knoblauch wird verschieden beurteilt, und die sonst beliebten Parfüms, Moschus und Patschuli, sind vielen Leuten unerträglich. Man wird daher bei Aussagen über Geruchswahrnehmungen um so vorsichtiger sein müssen, als auch die Schärfe des Geruches bei verschiedenen Menschen sehr verschieden ist. Es gibt Leute, welche eine Katze im Zimmer riechen, welche Kleidungsstücke nach ihrem Geruch, sogar auf größere Entfernung, ihrem Eigentümer zuweisen können, während andere wieder die heftigsten Gerüche gar nicht wahrnehmen. Auch können Gerüche besonders leicht durch Suggestion1) umgedeutet oder überhaupt halluziniert werden. Seelig2) konnte im Experiment zeigen, daß an einer mit Wasser gefüllten Eprouvette, der aus einem Fläschchen mit der Aufschrift „Benzin" (das in Wirklichkeit nur Wasser enthält) einige Tropfen zugesetzt werden, i bis 2 % der erwachsenen Versuchspersonen (Gendarmeriebeamte) den Benzingeruch wahrzunehmen vermeinen. Mit diesem experimentellen Ergebnis stehen praktische Erfahrungen im Einklang. In dem sogenannten Rieder Justizmord3) gaben zwei Zeuginnen an, sie hätten 3 Tage nach der Aufdeckung des Mordes beim Vorübergehen am Hause des verdächtigten H. einen starken Geruch nach verbrannten Kleidern wahrgenommen, während in Wirklichkeit der unschuldige H. damals nur sein Mittagessen bereitete. Auch Alltagserfahrungen bestätigen das: HeUwig4) berichtet daß ein Fahrstuhlführer ihn wegen verbotenen Rauchens beanstandete, während er nur einen zusammengerollten Papierzettel zwischen den Fingern hielt; auf die erste Antwort, daß er ja nicht rauche, sagte der Fahrstuhlführer: „Aber der ganze Fahrstuhl riecht ja schon nach Zigarettenrauch!" Ein ähngredienzien an dem Zeugen anstellen. Endlich sagte dieser: „ S i e plagen sich umsonst — mir ist einmal bei einer Rauferei die Nase eingeschlagen worden, seitdem riech' ich überhaupt nichts"! l ) Vgl. die Anm. 1 auf S. 93. ') Ergebnisse und Problemstellung der Aussageforschung, a. a. O. S. 410. 3 ) Der Rieder Justizmord, Archiv 20 S. 308 (1905). *) Eine suggestiv bewirkte Geruchsillusion, Archiv 50 S. 14.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

licher Fall ereignete sich am Abend des 24. Januar 1920 in einem Wiener Theater. An diesem Abend war in einem Gebäude des weit entfernten Praters ein Brand ausgebrochen, über den zwei Theaterbesucher sprachen. Die mißverstandene Auffassung dieses Gespräches erzeugte eine regelrechte Panik, viele Besucher verließen das Theater, darunter einige mit den Worten, man spüre schon den Brandgeruch. Nach diesen Erfahrungen scheinen gerade Brandgerüche besonders leicht suggerierbar zu sein. ß) D a s G e d ä c h t n i s . Außer der Wahrnehmung und ihrer Verarbeitung ist für das Zustandekommen einer Aussage das Gedächtnis des Vernommenen wesentlich. Das Wesen des Gedächtnisses überhaupt ist ein so wunderbares und zusammengesetztes und die Art seiner Tätigkeit eine so verschiedene, daß sich der U. mit der Natur dieser merkwürdigen Funktion nicht eingehend genug befassen kann 1 ). Hängt doch von der Treue und dem richtigen Funktionieren des Gedächtnisses der Zeugen oft die ganze Darstellung des Herganges ab. Die Funktion des Gedächtnisses ist eine zweifache: 1. Die E i n p r ä g u n g (das Erleben hinterläßt einen Eindruck); 2. die E r i n n e r u n g oder R e p r o d u k t i o n (das einmal Erlebte wird wieder gegenwärtig). Über das Wesen des „Eindruckes", der durch die E i n p r ä g u n g entsteht, sind die Meinungen auch heute noch geteilt. Sicher ist, daß hiebei eine physiologische Veränderung im Großhirn (ein „Engramm'*) stattfindet, die eine spätere Reproduktion ermöglicht. Abzulehnen ist wohl die Ansicht, daß in der Zwischenzeit das Erlebte als a k t u e l l e s Psychisches existiert, etwa innerhalb eines „Unterbewußtseins". Wer z. B. einen Roman zu lesen beginnt, auf Seite 60 plötzlich merkt, daß ihm die Sache irgendwie bekannt sei, sich alsbald des weiteren Ganges des Romaninhaltes erinnert und nunmehr feststellt, daß er diesen Roman vor 15 Jahren gelesen hat, der besaß während dieser Zwischenzeit, in der in ihm der unendlich mannigfaltige Erlebnisstrom des Alltags, des Berufs, des Familienlebens lebendig war, in der er schlief, andere Bücher las usw., keineswegs den Inhalt des einmal gelesenen Romans dauernd als „unbewußtes Erlebnis", sondern in dieser Zwischenzeit existierten lediglich die Dispositionsgrundlagen für die Möglichkeit, gleichartige Denkinhalte neuerlich mit dem Merkmal des Schon-einmalErlebten zu erleben (Seelig2)). Ob diese Dispositionsgrundlagen lediglich Vgl. die Abschnitte über das Gedächtnis in der oben angeführten Literatur der allgemeinen Psychologie und der forensischen Psychologie (S. 70 Anm. 3) und der Aussagepsychologie (S. 73 f). Von den älteren und neueren Monographien über das Gedächtnis seien hervorgehoben: A. Forel, Das Gedächtnis und seine Abnormitäten, Zürich 1885; Kramer, Zur Untersuchung der Merkfähigkeit, in: Kraepelins Psychol. Arbeiten, 9. Bd.; Ziehen, Das Gedächtnis, Berlin 1908; H. Meyer, Uber die Erinnerung, Bonn 1908; Meumann, Ökonomie und Technik des Gedächtnisses, Leipzig 1908; Semon, Die Mneme als geltendes Prinzip, 2. Aufl., Leipzig 1908; Offner, Das Gedächtnis, 4. Aufl., Berlin 1924. s) Ergebnisse und Problemstellungen der Aussageforschung, a. a. O. S. 405 f.

Einprägung und Reproduktion.

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in den erwähnten physiologischen Engrammen bestehen oder ob sie a u c h psychischer Natur sind, ist eine theoretische Streitfrage, die von den Kriminalisten nicht gelöst zu werden braucht. Jedenfalls sollen wir uns aber klar sein, daß es sich in der Zwischenzeit, so lange die vergangenen Erlebnisse nicht wieder in uns irgendwie „anklingen", um d i s p o s i t i o n e l l e Tatbestände handelt, die wohl zu unterscheiden sind von den in der Wahrnehmungslehre1) erwähnten „unbewußten" aktuellen Erlebnissen, die wir infolge des engen Blickfeldes unseres Bewußtseins neben diesem stets in größerer Zahl haben. Diese unbewußten Erlebnisse im eigentlichen Sinn spielen in der Gedächtnislehre, worauf noch zurückzukommen sein wird, ebenfalls eine wichtige Rolle. Auch die R e p r o d u k t i o n ist ein außerordentlich komplizierter Vorgang in unserem Erleben. Sie bedarf hiezu eines auslösenden Erlebnisses, das zum eingeprägten Erlebnis in irgendeiner Beziehung steht. Handelt es sich um denselben Erlebnisinhalt (wie in unserem früheren Beispiel des schon einmal gelesenen Romans), so äußert sich die Reproduktion in dem erwähnten Merkmal des Schon-einmal-Erlebten, des — wie man zu sagen pflegt —• ,,déjà-vu". Dasselbe ist z. B . der Fall, wenn ich einen Bekannten auf der Straße sehe, worauf eben das im Alltag tausendfältig bewährte Wiedererkennen von Personen und Sachen beruht 2 ). Eine ältere Psychologie hat angenommen, daß es hiezu eines besonderen psychischen Aktes des Vergleichens bedarf; in Wirklichkeit jedoch handelt es sich bei dem „déjà-vu" um ein unmittelbares Merkmal des reproduzierten Erlebnisinhaltes. In anderen Fällen betrifft das auslösende Erlebnis nicht denselben Gegenstand wie das eingeprägte Erlebnis: ich sehe z. B. meinen Freund und erinnere mich in dem Augenblick an unseren gemeinsamen Bekannten, mit dem wir gestern beisammen waren; oder ich denke phantasierend über Vergangenes nach, erinnere mich z. B. der Erlebnisse einer Sommerreise und es werden mir dabei der Reihe nach die seinerzeit erlebten Inhalte lebendig. Hier löst eine reproduzierte Vorstellung die andere aus, mit der sie seinerzeit durch zeitliche Aufeinanderfolge oder durch sonstige Beziehungen verknüpft war und der auftretende reproduzierte Inhalt erscheint mir sofort mit dem Merkmale eines Vergangenheitserlebnisses. Wenn ich meine Urteilsfunktion solchen reproduzierten Inhalten zuwende und etwa darüber eine Aussage mache, also früher Erlebtes erzähle, so beschäftige ich mich nur mit Vergangenem (dem G e g e n s t a n d meiner reproduzierten Vorstellungen), nicht aber etwa mit meinen gegenwärtigen reproduzierten Vorstellungen selbst3). Dies geschieht nur !) Oben S. 80. 2 ) In der kriminalistischen Praxis kann dieses Wiedererkennen sehr wichtig werden, s. darüber unten S. 109L und 3 8 3 f f . 3) Forel a. a. O. meinte seinerzeit noch, wenn ich an einen Eisbären denke, den ich gestern gesehen habe, stelle ich durch Vergleichung des gestern gesehenen Bildes mit dem heute reproduzierten dessen Identität fest. Niemand tut dies, vielmehr wird durch die Reproduktionsvorstellung der Gegenstand Eisbär bereits als gestern gesehener in mir lebendig. Groß-Seelig,

H a n d b u c h . 8. Aufl.

7

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

ausnahmsweise, etwa bei Störungen des Gedächtnisablaufes, wenn ich mich willkürlich einer Sache zu erinnern suche und dabei auf die auftauchenden Vorstellungen achte. Die Güte einer Gedächtnisleistung hängt sowohl von der Güte der Einprägung als auch von jener der Reproduktion ab. Beide Leistungen der Gedächtnisfunktion sind wiederum von mannigfaltigen Bedingungen abhängig. So ist für die Güte der E i n p r ä g u n g maßgebend: die Intensität des Reizes, das Verhältnis des Reizes zu benachbarten Reizen (der erste und der letzte Reiz in einer Reihe werden besser eingeprägt: sogenannte Initial- und Finalbetonung), die Dauer und allfällige Wiederholung des Vorganges; der Grad der Aufmerksamkeit, die dem eingeprägten Erlebnis zugewendet war, die assoziative Verknüpfung mit anderen, besonders nachhaltigen Einprägungsinhalten; die gefühlsmäßige Betonung des eingeprägten Erlebnisses oder der damit im Zusammenhang stehenden Vorstellungskomplexe; der psycho-physische Zustand des Erlebenden zur Zeit der Einprägung (Ermüdung, Alkohol usw.). Alle diese Abhängigkeiten, die von der Gedächtnispsychologie erforscht sind, können auch in der Praxis des Kriminalisten sehr wichtig werden. Wenn z. B. mehrere Versammlungsteilnehmer als Zeugen den hauptsächlichsten Inhalt einer Rede, die sie gemeinsam hörten, wiedergeben sollen, so erzählt jeder etwas anderes: der eine hat sich bloß den Anfang und das Ende gemerkt, der andere wiederum, der erst während der Rede hinzukam, das, was der Redner damals gerade sprach (denn dies war ja für ihn der Anfang!); ein Dritter merkte sich einen Satz, der in ihm heftigen Ärger ausgelöst hat, während ein Vierter sich eine andere Stelle merkte, in der zufällig von seinem Heimatort die Rede war. Ähnlich ist das Zustandekommen der R e p r o d u k t i o n von einer großen Zahl von Faktoren abhängig: von der Länge der Zwischenzeit, von der Art des auslösenden Erlebnisses und seinem Verhältnis zum Einprägungsinhalt, von der gefühlsmäßigen Betonung des zu reproduzierenden Inhaltes (Angenehmes reproduziert man leichter, Unangenehmes „verdrängt" man lieber), vom psycho-physischen Zustand zur Zeit der Reproduktion und von anderen mehr. Was insbesondere die L ä n g e der Z w i s c h e n z e i t anlangt, so ist die naheliegende Ansicht, daß eine treue Reproduktion um so schwieriger sei, je länger das eingeprägte Erlebnis zurückliegt, nur zum Teil richtig. Seinerzeit hat Stern1) den Satz aufgestellt, daß der Erinnerungsverlust annähernd gleichmäßig fortschreitet und pro Tag 1 / 3 % beträgt. Nach der Ebbinghausschen Kurve des Erinnerungsverlustes schreitet dagegen das Vergessen in der ersten halben Stunde sehr rasch, in den weiteren neun Stunden etwas langsamer, im folgenden Zeitraum bis zu zwei Tagen wieder langsamer und von da an gleichmäßig in sehr geringem Maße fort2). Dies stimmt gewiß vielfach auch mit den Alltagserfahrungen überein; daneben hat aber die Aussageforschung auch ergeben, daß bei Vorgängen, die mit 1)

2)

Vgl. Vgl.

N. Borst in: Beiträge zur Psychologie der Aussage O. Bumke, Psychologische Vorlesungen, 1923.

I S. 93.

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Fehlleistungen des Gedächtnisses.

Aufregung oder einem sonstigen starken Affekt verbunden sind, die Erinnerungsleistung nach einiger Zeit sich wesentlich bessert, so daß die unmittelbar nach dem Vorfall gemachten Angaben der Zeugen vielfach unzuverlässiger sind als deren spätere Angaben 1 ). Versuche mit dem japanischen Gedächtniskünstler Isihara haben ferner ergeben, daß dessen großartige Reproduktionsleistungen sich mit dem Fortschreiten der Zwischenzeit sehr oft noch besserten2). Man kann daher einen Zeugen, der später mehr weiß, als bei seiner früheren Vernehmung, nicht gleich verdächtigen, daß er bisher mit der Wahrheit zurückgehalten habe. Für die kriminalistische Vernehmungskunde ist es besonders wichtig, die Erfahrungen der Gedächtnisforschung darüber zu sammeln, welcher Art die Fehlleistungen des Gedächtnisses sind, die in der Praxis zu unrichtigen Aussagen zu führen pflegen. Nach Seelig3) können die Fehler der Gedächtnisleistung sein: i . E r i n n e r u n g s l ü c k e n , die als solche e r k a n n t werden; eine solche Lücke ist entweder zeitlich vorübergehend (ich kann mich z. B. augenblicklich auf einen bestimmten Gegenstand nicht erinnern, der mir später wieder einfällt 4 )) oder aber dauernd (ich habe überhaupt keine Erinnerung an diesen Umstand). 2. E r i n n e r u n g s l ü c k e n , die als solche n i c h t e r k a n n t und auch nicht mit einem anderen Inhalt ausgefüllt werden (es fehlt also im Erinnerungsbild einfach ein Umstand, ohne daß dies auffällt). 3. E r i n n e r u n g s l ü c k e n , die zwar als solche nicht erkannt, aber — weil das Herausfallen dieses Umstandes für das Ganze störend wäre — sofort und unbewußt durch andere geläufige Vorstellungsinhalte a u s g e f ü l l t werden; hier zeigt sich wiederum die bereits wiederholt erwähnte, den Menschen eigene Tendenz, unvollständige Erlebnisse zu einem sinnvollen Ganzen zu ergänzen. Es ist dies ein Verarbeitungsprozeß, der aber sofort bei Auftauchen einer in diesem Sinn unvollständigen Erinnerung ungewollt und unbewußt einsetzt. 4. Z e i t l i c h e Verschiebungen: es wird z. B. das zeitliche Hintereinander ganzer Erlebnisse in anderer Reihenfolge reproduziert. 5. T e i l v e r t a u s c h u n g : an Stelle eines Erinnerungsteiles wird der entsprechende Teil aus einer anderen Erinnerung eingeschoben, besonders einer solchen, die in ihren übrigen Teilen ähnlich ist. 6. E r w e i t e r u n g e n : selbst ol\ne Lücken im Erinnerungsbild pflegen manche Menschen aufgetauchte Erinnerungsbilder durch Ergänzungen aus ihrem sonstigen Vorstellungsvorrat auszuschmücken oder durch kausale Erklärung das Zustandekommen des erinnerten Vorganges sich selbst verständlicher zu machen. Auch das ist ein Verarbeitungsprozeß, zu dem *) Dies nimmt auch (auf Beobachtungen Kraepelins fußend) Bumke a. a. O . sowie Schrenk (Einführung in die Psychologie der Aussage, 1922) an. s) Susukitu und Heindl, Der Gedächtniskünstler als Zeuge, A r c h i v 97

S. 93-

3)

Ergebnis und Problemstellung der Aussageforschung, a. a. O. S. 413. *) D a s Merkwürdigste hiebei ist, daß der Mensch auch während der Zeit der Erinnerungslücke gleichwohl feststellen kann, daß er das betreffende E n gramm und daher die Disposition besitzt, unter günstigeren U m s t ä n d e n zu reproduzieren; ich sage z. B . : „ M i r fällt augenblicklich der N a m e dieses Herrn nicht ein, aber ich weiß ihn." 7*

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

manche Menschen neigen, ohne daß sie es selbst wissen. 7. T r a u m e r i n n e r u n g e n : Geträumtes wird mitunter nicht mit den Merkmalen des Phantasieerlebnisses, sondern mit dem des Ernsterlebnisses reproduziert ; der Betreffende glaubt sich daher an ein wirklich stattgefundenes Erlebnis zu erinnern und macht eine entsprechende Aussage. Sowohl das gewöhnliche Leben als auch die kriminalistische Praxis bieten uns eine Fülle von Beispielen für alle diese Arten von Gedächtnisfehlern. Unerkannte Erinnerungslücken können besonders dadurch entstehen, daß das seinerzeitige Erlebnis u n b e w u ß t ablief 1 ) und infolge intensiver Aufmerksamkeitsabwendung überhaupt nicht eingeprägt wurde 2 ). Dies gilt auch für Zweckhandlungen, die infolge ihrer Mechanisierung unbewußt vorgenommen werden, während sie nach außen hin den Eindruck einer überlegten Handlung machen 3 ). Ein Zeuge muß daher keineswegs lügen, der die Vornahme solcher ihm nachgewiesener Zweckhandlungen bestreitet 4 ). Zu welchen mechanisierten Zweckhandlungen aber ein bestimmter Mensch fähig ist, hängt von den Lebensgewohnheiten des Betreffenden ab: uns klingt es unwahrscheinlich, wenn ein Mensch, der eine andere regelmäßige Tätigkeit hat als wir, unbewußt Sachen gemacht haben will, zu welchen wir allerdings genaue Überlegung nötig hätten. E s ist daher unbedingt nötig, sich zuerst darüber klar zu werden, welche Lebensgewohnheiten der Betreffende hat, !) Vgl. oben S. 80 f. 2) E s gibt jedoch auch Fälle, in denen unbewußte Erlebnisse zwar eingeprägt wurden, aber unter normalen Umständen nicht reproduziert werden können, so daß sie praktisch auch „vergessen" sind; die Einprägung vollzog sich gewissermaßen „ i n einer tieferen Bewußtseinsschichte". In solchen Fällen können mitunter diese Erlebnisinhalte im T r a u m oder in der Hypnose wieder z u m Vorschein kommen. (Vgl. unten S. 293.) 3 ) Forel sagte: „ W e n n ich, in ein philosophisches Problem vertieft, eine P f ü t z e umgehe, so habe ich eine Menge v o n Reflexionen gemacht, ohne ihrer b e w u ß t zu werden." Ähnlich pflegte der Physiologe Rollett das Wesen mechanisierter Zweckhandlungen zu erklären: „ W e n n ich beschließe, zum Hilmteich zu gehen, so denke ich während des Weges nicht fortgesetzt »jetzt gehe ich zum Hilmteich — j e t z t gehe ich zum Hilmteich«; so mache ich es nicht, sondern ich beschließe zu Hause, zum Hilmteich zu gehen, lege den komplizierten W e g zurück, denke die ganze Zeit an G o t t weiß was, gewiß aber nicht an den Hilmteich, und schließlich bin ich doch glücklich d o r t . " 4) Seelig berichtet a. a. O. S. 114 folgende eigene Beobachtung: „ I m Großglocknergebiet machte ich eine photographische Aufnahme. Es blies ein kalter W i n d und ich mußte länger warten, bis sich der Nebel in einer für die Lichtverhältnisse günstigen Weise teilte. Ungefähr 10 Sekunden nach der A u f n a h m e fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, den Schieber der Plattenkassette herauszuziehen. D a ich keine Platten mehr zur V e r f ü g u n g hatte, ging ich die wenigen Schritte zur Stelle der A u f n a h m e zurück und suchte mich, um sicher zu gehen, in die Situation der A u f n a h m e zurückzuversetzen. Ich stellte fest, daß das Herausziehen des Schiebers mit Umständen verbunden gewesen wäre, da ich in einer H a n d den Apparat, in der anderen die Mattscheibe gehalten hatte und in dem zerklüfteten Terrain und infolge des herrschenden Sturmes keinen besonders sicheren Stand h a t t e ; ich hätte wohl zum Herausziehen des Schiebers vorher die Mattscheibe müssen in die Tasche der W i n d j a c k e stecken. Daraufhin hin beschloß ich, die A u f n a h m e zu wiederholen. Tatsächlich hatte ich, wie sich bei der E n t w i c k l u n g ergab, die Aufnahme zweimal gemacht, also den Schieber doch aus der Kassette gezogen."

Prüfung aller Fehlermöglichkeiten.

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weil wir nur dann die Möglichkeit und den Grad der Verläßlichkeit eines unbewußten Vorganges zu beurteilen vermögen. Wie eine T e i l v e r t a u s c h u n g zu fehlerhaften Erinnerungen und dadurch zu falschen Aussagen führen kann, die mit größter subjektiver Sicherheit bekundet werden, zeigt z. B. folgender Fall, der sich in Berlin zutrug 1 ): Der sehr ruhige, sachliche und verantwortungsbewußte Rechtsanwalt Y gab einem Kollegen gegenüber an, daß der Rechtsanwalt X ihm auf einem gemeinsamen Wege vom Amtsgericht II bis zum Halleschen Tor, den sie an einem Montag anläßlich von Verhandlungen zusammen zurücklegten, eine bestimmte Mitteilung über das Ehepaar A gemacht habe, unter anderem habe X — so berichtete Rechtsanwalt Y — gesagt, die Ehefrau des A triebe sich als öffentliche Dirne umher. Rechtsanwalt X, von dem dritten Anwalt darüber befragt, war auf das höchste erstaunt, daß er diese Mitteilung gemacht haben sollte, weil ihm die ehelichen Verhältnisse des A fremd waren. X wandte sich nun direkt an seinen Kollegen Y , erinnerte ihn daran, daß sie bei jenem gemeinsamen Weg zum Halleschen Tor sich lediglich über eine Reise des Y und andere harmlose Dinge unterhalten hätten — doch blieb Rechtsanwalt Y bei seiner Behauptung und erklärte, er müsse, so leid es ihm täte, wenn es zu einem gerichtlichen Verfahren komme, beschwören, daß Kollege X ihm damals jene Mitteilung gemacht habe. Schließlich stellte sich aber heraus, daß Rechtsanwalt Y am Tage nach jenem Montag mit einem Kollegen B denselben Weg gemeinsam zurückgelegt hatte und daß ihm jene Mitteilung damals vom Anwalt B gemacht worden war.

Die Ähnlichkeit der beiden Erinnerungsbilder — gemeinsamer Weg mit einem Kollegen zum Halleschen Tor — hatte offenbar dazu geführt, daß bei der Reproduktion des Zusammentreffens mit Kollegen X ein Teil aus dem zweiten Erinnerungsbild, das im übrigen in Vergessenheit geraten war, in das erste Erinnerungsbild übernommen wurde. Alle diese Möglichkeiten von Gedächtnisfehlern wird der U. in jedem wichtigen Fall sich vor Augen halten müssen, wenn er den Verdacht hat, daß das Gedächtnis des Zeugen nicht treu ist. Versucht der U. nur im allgemeinen herumzusuchen, wo der Fehler im Gedächtnisse der Zeugen steckt, so wird er nicht zum Ziele kommen, wohl aber wird dies sogar meistens gelingen, wenn er allen genannten Fehlermöglichkeiten und allen Bedingungen der Einprägung und Reproduktion einzeln nachgeht. Er wird also fragen, wie lange die Wahrnehmung gedauert hat, wie und unter welchen Verhältnissen diese geschah, wie der Zeuge sonst wahrzunehmen pflegt, kurz, er wird sich ein möglichst vollständiges und anschauliches Bild von der Situation machen, in der die Einprägung geschah, und alle Umstände prüfen, die für die Güte der Einprägung von Einfluß gewesen sein könnten. Dann prüft er in gleicher Weise die Bedingungen der Reproduktion, die Möglichkeit einer Lückenausfüllung durch anderwertige Erlebnisse, einer Teilvertauschung usw. Auf diese Weise wird er fast immer auf den gemachten Fehler kommen müssen. Man sage nicht, daß dieser Vorgang zu zeitraubend sei; jedenfalls geht viel weniger Zeit verloren, wenn auf diese Weise Beiträge zur Psychologie der Aussage, S. 537.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

zwar mühsam, aber schließlich doch der wahre Vorgang festgestellt wird, als wenn man irregeleitet ist und zahlreiche Zeugenvernehmungen auf dieser falschen Fährte unrichtig oder umsonst durchführt. Von der größten Wichtigkeit für die Nachhilfe mangelhafter Gedächtnisleistungen von Zeugen ist die Herstellung von Verbindungsgliedern zwischen einzelnen Erinnerungsbildern1). Jeder von uns weiß, wie er seinem eigenen Gedächtnisse dadurch zu Hilfe kommt, daß er gewisse Erinnerungen aneinander knüpft, um so bestimmte Daten von einer Erinnerung für die andere zu erlangen2). Wenn ich z. B. wissen möchte, wann ich einen bestimmten Gegenstand gekauft habe, so werde ich zuerst vielleicht gar keine Vorstellung haben, wann sich dies zutrug. Ich erinnere mich nun, daß ich den gerade gekauften Gegenstand eine Zeitlang in der Hand trug, bis es mich in der Hand fror, es war also im Winter; ich steckte die Sache dann in die linke Brusttasche meines Winterrockes, es muß also erst voriges Jahr gewesen sein, denn im vorvorigen Jahre hatte ich einen Winterrock, der keine linke innere Brusttasche besaß; als ich nach Hause kam, war mein Freund X da, es war also Mittwoch, weil er nur an diesem Tage zu kommen pflegt; dieser besah meinen neuen Winterrock, er muß also noch ganz neu gewesen sein. Aus der Rechnung über diesen entnehme ich, daß ich den Rock anfangs November bekommen habe, und nun kann ich mit Hilfe des Mittwochs genau den gesuchten Tag bestimmen, an welchem ich den fraglichen Gegenstand gekauft habe. Wir machen solche Verknüpfungen sehr häufig, unbeholfene Leute aber bringen dies nicht leicht zustande, und will man von ihnen bestimmte Angaben haben, so genügt es nicht, ihnen gut zuzureden, oder ihnen bloß Zeit zu lassen, man muß ihnen auch helfen und nach dem Grade der Geschicklichkeit dieser Hilfe wird sich auch die Richtigkeit und Genauigkeit der gewonnenen Daten ergeben. Man wird hiebei selbstverständlich die Umgebung und die Stellung des betreffenden Zeugen wohl ins Auge fassen müssen. Daß man dem Bauer mit landwirtschaftlichen Ereignissen, der alten Frau mit kirchlichen Festen, dem Bummler mit Stadtklatsch usw. zu Hilfe kommen muß, ist selbstverständlich, aber auch bei minder typischen Charakteren kommt man fast immer dem Ziele wenigstens näher, wenn man sich in ein Gespräch einläßt und allmählich auf nähere Daten zu kommen strebt. Auch hier macht die Übung viel, man kann schöne Erfolge erzielen, hüte sich aber immer vor gewagten Kombinationen und hauptsächlich vor jeder Suggerierung. Ist eine Zeitbestimmung von einiger Wichtigkeit, so wird es zu empfehlen sein, daß die ganze Reihe der Erinnerungsbilder im Protokoll festgestellt wird. Hiedurch wird die Zeitangabe gewissermaßen zu einer bedingten („Wenn es richtig ist, daß sich das Ereignis A zugleich mit dem Er') Vgl. Otto Groß in Archiv 7 S. 123; derselbe, Die zerebrale Sekundärfunktion, Leipzig 1902; dann: R. Semon, Die Mneme, Leipzig 1904. 2) Dies beruht auf alten Erfahrungen der „Mnemotechnik": Kotte 1877; Kühne 1875; Otto 1837.

G e d ä c h t n i s h i l f e d u r c h gleiche E i n d r ü c k e .

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eignisse B abgespielt hat, und w e n n sich das Ereignis B an dem Orte C vollzogen hat, und w e n n der D damals an diesem Orte gewesen ist, d a n n hat sich auch das Ereignis A an dem Orte C abgespielt") und es kann dann jedermann durch Nachprüfen der Zwischenerlebnisse die Richtigkeit der Bestimmung feststellen. In solchen Protokollen wird aber zum Ausdruck zu bringen sein, welche der angeführten Verbindungsglieder der Zeuge nicht von selbst, sondern erst auf Vorhalt oder Fragen des Vernehmenden angegeben hat. Ein anderes wichtiges Mittel, das Gedächtnis zu unterstützen, ist das Zurückversetzen unter die gleichen Verhältnisse. Wir kennen dies aus dem täglichen Leben. Ich denke in meiner Studierstube daran, daß ich heute etwas Bestimmtes gelegentlich eines Ganges besorgen muß. Auf der Straße angelangt, ist es mir entfallen, was ich besorgen will und alle Anstrengungen, mein Gedächtnis aufzufrischen, sind vergeblich. Gehe ich aber zurück in die Studierstube und setze mich an dieselbe Stelle, an welcher ich früher jenen Gedanken faßte, so fällt mir fast gewiß wieder ein, was ich besorgen wollte. Der Vorgang ist zweifellos der, daß ich, wenn auch unbewußt, jene Sinneseindrücke wieder empfange, welche ich beim Fassen jenes Beschlusses bekommen hatte: Ansehen desselben Gegenstandes auf dem Schreibtisch, Hören des Tickens der Uhr, Empfindung des Druckes des Sessels usw. Die dadurch gegebene Ähnlichkeit des Gesamterlebnisses mit jener Situation, die erinnert werden soll, fördert die Reproduktion wesentlich und überhaupt "bringen Wahrnehmungsvorstellungen als auslösendes Erlebnis den Reproduktionsprozeß besser in Gang als Phantasievorstellungen. Solche Assoziationen sind überhaupt sehr wichtig und wir wissen, daß bestimmte Sinneseindrücke: Glockengeläute, gewisse Beleuchtungen, körperliche Zustände, namentlich aber Eindrücke auf den im Erinnern treuesten Sinn, den Geruchsinn, längst entschwundene Erlebnisse wieder hervorbringen können. Solche Beobachtungen sind ebenso interessant als wichtig und jeder von uns weiß, wie durch Sinneseindrücke auch länger zurückliegende Erinnerungen, die längst und scheinbar vollständig verschwunden waren, nach und nach, gewissermaßen mühsam hervorgeholt werden1). Fragen wir, wie wir diese jedermann bekannte Tatsache für unsere Fälle verwerten können, so finden wir die Antwort darin, daß wir dann, wenn die denkbar genaueste Erinnerung eines Zeugen von großem Werte ist, nichts anderes tun können, als den Zeugen wieder genau in jene Verhältnisse zu bringen, unter welchen er die betreffende Wahrnehmung gemacht hat 2 ). Es ist aber nicht genug getan, daß wir den Zeugen wieder an den Tatort bringen, wir müssen auch sonst für die Wiederherstellung der damaligen Verhältnisse Sorge tragen; es muß die gleiche Tagesund womöglich gleiche Jahreszeit, die gleiche Stunde und sonst ein Nücke in A r c h i v 32 S. 165. Haußner, D i e E r ö r t e r u n g des V e r b r e c h e n s a n O r t u n d Stelle, in A r c h i v 14 S. 1 4 g ; R. Ehmer, I n loco rei sitae, A r c h i v 20 S. 87. 2)

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

gleiches äußeres Verhältnis vorhanden sein, und wenn man auch selbstverständlich keine theatralische Inszenierung verlangt, so wird man doch sagen: je genauer, desto besser. Dieses Verfahren wird sich besonders dann empfehlen, wenn es sich um komplizierte Vorgänge und namentlich um die Feststellung handelt, in welcher Reihenfolge ein Mensch verschiedene Handlungen begangen, oder was jede von mehreren Personen in kurz aufeinander folgenden Zeiträumen getan hat. Die einzelnen Momente lassen sich häufig in der Erinnerung gar nicht, an Ort und Stelle und an die einzelnen Lokalverhältnisse geknüpft, sehr leicht reproduzieren. Ich kann versichern, daß man in dieser Weise geradezu verblüffende Resultate erreichen kann; Leute, die sich in der Amtsstube an nichts erinnern wollen, kommen an Ort und Stelle sofort in andere Stimmung, erinnern sich zuerst an Nebensächliches und dann an immer wichtigere Einzelheiten. Hierbei darf man freilich nicht erwarten, daß es den Zeugen an Ort und Stelle wie eine plötzliche Eingebung überkommt, man lasse ihn sich fassen und orientieren, bespricht die Gegend im allgemeinen und überhaupt gleichgültige Dinge, sucht dann das Markanteste des betreffenden Vorkommnisses oder das dem Zeugen Erinnerliche hervorzuheben, knüpft daran an und bringt ihn so nach und nach auf alles, was er weiß. Man hüte sich aber auch hier streng davor, dem Zeugen zu suggerieren1), fragliche Umstände, die er nicht von selbst angibt, vorzusagen und ihn so zur B e h a u p t u n g von Dingen zu b r i n g e n , die er nicht oder a n d e r s erlebt h a t . Die Gefahr, dies zu tun, ist keine geringe, sie wird aber vermindert, wenn man nur fragt und ihm nicht Tatsachen lediglich zur Bejahung vorlegt. Hiebei darf aber nicht vergessen werden, daß unter Umständen sehr lebhafte Erinnerungstäuschungen dahin vorkommen können, daß man bisweilen die Empfindung hat, irgendetwas schon einmal im Leben erlebt zu haben, obwohl dies nicht der Fall ist. Ein neues Erlebnis wird also mit dem Merkmal des ,,déjà-vu" erlebt. Jeder von uns kennt dies, da es nicht nur bei gewissen Geisteskrankheiten, sondern auch bei normalen Menschen, namentlich dann vorzukommen pflegt, wenn sie g e i s t i g oder körperlich sehr ermüdet sind. Diese Täuschungen beziehen sich meist auf den Ort und bestehen darin, daß man die Empfindung hat: „hier muß ich schon einmal gewesen sein", obwohl man bestimmt weiß, daß dies nicht der Fall war. Solche Täuschungen (Paramnesie)2) lassen sich wahrscheinlich mit eingehender und doch vergessener Lektüre, mit lebhaften Träumen, mit Vererbung und sonstigen Ursachen erklären3) ; schon Leibniz (perceptiones insensibiles) befaßte sich damit ; Vgl. unten S. io8ff. ) Auch „fausse reconnaissance" genannt. ) Das Gegenspiel zu der im Text behandelten Täuschung bildet das häuiige Vorkommnis, daß jemand etwas für einen neuen, eigenen Gedanken hält, was er aber in der Tat irgendwo gelesen hat. Hiedurch erklärt sich ein Teil jener merkwürdigen „literarischen Zufälle", bei welchen sich derselbe Gedanke, oft bis in die letzte Ausdrucksweise bei zwei Schriftstellern vorfindet. Fr. Hirth 2

3

E i n f l u ß von Zwischenerinnerungen.

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später Dugas, J. J. van Biervliett, J. Soury, A. Ltüande, Bourdon1), dann viele Psychiater und Psychologen gegen Ende des 19. Jahrhunderts2), und schließlich jedes Lehrbuch der Psychiatrie. Die reiche Literatur zeigt, daß die Erscheinung sehr häufig ist, also auch für unsere Fälle wichtig sein muß; spielt sie doch sogar in einem Roman Dickens „David Copperfield" eine Rolle3); — vielleicht war sie schon der Antike bekannt 4 ). Nicht zu vergessen ist noch die Tatsache, daß manche Menschen infolge einseitiger Beschäftigung5) ein uns unverständlich starkes Gedächtnis haben und daß auch bei geistig sehr tiefstehenden Leuten bisweilen das ganze Gedächtnis oder ein bestimmter Teil abnorm gut entwickelt ist6). Vorsicht ist bei solchen überraschenden Darbietungen stets geboten — aber möglich sind sie. y) Die V e r a r b e i t u n g des E r i n n e r u n g s b i l d e s und die S u g g e s t i o n . Für das Zustandekommen einer Aussage sind meist nicht bloß Wahrnehmung und Gedächtnis des Zeugen maßgebend, dies ist vielmehr nur dann der Fall, wenn der Zeuge erst bei seiner Vernehmung sich zum erstenmal wieder an den Gegenstand seiner Wahrnehmung erinnert. Das sind aber in der Praxis die einfachsten Fälle und sie sind selten. Verfolgt man hingegen die Entwicklungsphasen der Aussagen, wie sie im Leben gewöhnlich Zustandekommen, so stellen sich die Dinge meist viel komplizierter dar. Oft erhält ein Zeuge eine gerichtliche Ladung, erinnert sich dadurch der vergangenen Vorfälle, über die er voraussichtlich eine Aussage zu machen haben wird und faßt den Entschluß, beim kommenden Termin „nach bestem Wissen" darüber auszusagen; von diesem Zeitpunkt an beschäftigt er sich öfter in Gedanken mit diesen Erinnerungen, überlegt sich, wie er seine Aussage am klarsten fassen wird, erzählt von der bevorstehenden Vernehmung seinen Fahat im Sommer 1910 eine überraschend große Menge solcher Zufälle, auch aus Klassikern, mitgeteilt und gewiß richtig damit erklärt, daß einer etwas gelesen und diese Tatsache, nicht aber den Inhalt des Gelesenen vergessen hat. Ein weiterer Teil dieser Erscheinungen erklärt sich daraus, daß manche Gedanken — auch wissenschaftliche und technische — gewissermaßen in der L u f t liegen und der Rest ist dadurch entstanden, daß zwei Schriftsteller aus einer gemeinsamen Quelle — bewußt oder unbewußt — geschöpft haben. Solche häufig benützte Quellen sind z. B . Boccaccio, K o t z e b u e und gewiß auch — die „ F l i e genden B l ä t t e r " ! — >) R e v . phil. B d . 36, 37 11. 38. а ) Vgl. Archiv f. Psychiatrie Bd. 4 u. 8; Allgem. Ztschr. f. Psychiatrie B d . 25, 26 u. 27; Arch. f. d. ges. Psych. B d . 15; Ztschr. f. Psychologie B d . 6, 36 u. 43; R e v . phil. 1893 u. 1894. 3) I. E d . 1850 I I I S. 283, vgl. Nücke in Archiv 5 S. 114. *) H. Groß in Archiv 21 S. 308. б) Andre Urbye in der Lisztschen Festschrift erzählt über das Gedächtnis der L a p p e n , die kleine Stücke v o m Geweihe ihrer Renntiere erkennen, obwohl jeder deren Hunderte besitzt. D e r japanische Gedächtniskünstler Isihara leistete nur bei Zahlen, Buchstaben und Silben Erstaunliches, hingegen w a r sein Gedächtnis für Farben eher unterdurchschnittlich (Susikata u. Heindl in Archiv 97 S. 93)•) So z. B. Näcke in A r c h i v 34 S. 363 und der oben S. 81 mitgeteilte Fall.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

milienangehörigen und Bekannten usw. Bei allen diesen Anlässen finden bereits wiederholte Reproduktionen des seinerzeit Wahrgenommenen und Eingeprägten statt und es liegt in der Eigenart des Menschen begründet, daß sich an jede solche Reproduktion unwillkürlich ein Verarbeitungsprozeß anschließt: schon durch den Wunsch, eine klare und deutliche Aussage zu geben, werden Lücken des Erinnerungsbildes ausgefüllt, für scheinbar motivlose Vorgänge wird ein „zureichender Grund" gesucht und in diesem Sinn der Vorfall zurechtgelegt. Wenn der Zeuge über seine bevorstehende Vernehmung im Familienkreise spricht, übt er bereits eine bestimmte Ausdrucksweise für die Erzählung des Erinnerungsbildes ein und kommt er etwa durch eine Zwischenfrage darauf, daß sein Urteil über eine Einzelheit unsicher sei, so sucht er diesen Mangel durch Nachdenken, wie die Sache sich wohl zugetragen habe, zu beheben, um dann vor Gericht nicht eine schwankende und unsichere Angabe machen zu müssen. Gerade der wahrheitsbestrebte Zeuge stellt solche Überlegungen an. Das bedeutet aber, daß unzählige Zwischenreproduktionen und Gedankengänge stattfinden, b e v o r es zur Aussage im Verfahren kommt, so daß schließlich die bei der Vernehmung stattfindende Gedächtnisleistung nicht die Reproduktion des ursprünglichen Einprägungsinhaltes, sondern die schon fertig formulierte Aussäge darstellt, die sich der Zeuge durch diese wiederholten Erinnerungen, Überlegungen, Besprechungen usw. zurechtgelegt hat. Besonders beeinflußt und dadurch verändert wird ein Erinnerungsbild bei solchen Zwischenerlebnissen dann, wenn dem Zeugen etwa eine ähnliche, aber nur in Einzelheiten richtige oder in Einzelheiten abweichende Darstellung zu Ohren kommt, sei es, daß er mit anderen Zeugen desselben Vorganges zusammentrifft und deren Erzählungen hört, sei es, daß er eine Darstellung in der Presse liest. Solche Einflüsse auf das Zustandekommen der Aussage fallen unter den sehr weiten Begriff der S u g g e s t i o n 1 ) , der deshalb auch für den Kriminalisten besonders wichtig ist. Der Begriff der Suggestion verlor den ihm seinerzeit anhaftenden mysteriösen Beigeschmack, als man sich darüber klar wurde, daß es sich hiebei um eine Urweise des menschlichen Seelenlebens handelt, die im g e w ö h n l i c h e n A l l t a g eine große Rolle spielt und für den Menschen nicht bloß als Einzelwesen, sondern besonders auch für das Gemeinschaftsleben von großer Bedeutung ist. Es würde zu weit führen, hier den verschiedenen Wandlungen nachzugehen, die der Suggestionsbegriff im Laufe der Zeit, so besonders durch die Hypnoseforschung der Schule von Nancy (Liebeault, Bernheim) und später dann bei Forel und in der modernen medizinischen Psychologie erfahren hat. Lassen sich überhaupt alle die Fälle, in denen man von Suggestion spricht, auf einen gemeinsamen Begriff bringen? Man möchte zunächst daran zweifeln, wenn man sich die bunte Mannigfaltigkeit der hieher gehörigen Fälle vergegenwärtigt: Jemand, der weiß, daß er ein l ) Vgl. zum folgenden Seelig, Art. „Suggestion" im HdK. und die daselbst angegebene Literatur.

Die Suggestion.

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bitteres Medikament im Tee aufgelöst zu nehmen hat, genießt den Tee nur mit Widerwillen, wenngleich die Pflegerin aus Versehen das Medikament nicht hineingab (ähnlich verzehrt der Hypnotisierte die Kartoffel, die ihm in der Hypnose als Apfel gereicht wird, mit der angenehmen Empfindung des süßen Apfelgeschmackes); Behauptungen, die mit Überzeugung, wenn auch ohne Argumentation, oder als Selbstverständlichkeiten vorgebracht werden, lösen bei den Mitmenschen gleiche Urteile aus und werden schließlich als eigene Ansicht übernommen; in einem geselligen Kreis überträgt sich die Stimmung von einem Teilnehmer auf den anderen, Lachen und Gähnen wirkt „ansteckend"; der Wunsch der Zechgenossen, noch ein weiteres Nachtlokal zu besuchen, veranlaßt manchen mitzugehen, der selbst keine Lust dazu hat; der furchtsame nächtliche Wanderer erblickt in einem undeutlich sichtbaren Baumstrunk einen kauernden Wegelagerer und hört in den Geräuschen des Waldes herannahende Schritte. Trotz der Verschiedenheit dieser Situationen und Erlebnisse liegt aber bei allen das gemeinsame Merkmal darin, daß ein P h a n t a s i e e r l e b n i s ohne neu h i n z u k o m m e n d e a d ä q u a t e U r s a c h e in das i n h a l t s g l e i c h e E r n s t e r l e b n i s überg e h t (Seelig). Eine Phantasievorstellung wird plötzlich mit dem Charakter einer Wahrnehmungsvorstellung erlebt, eine gedankliche Annahme wird zu einem mit Überzeugung gefällten Urteil, die zunächst phantasiemäßig miterlebten Gefühle und Strebungen unserer Mitmenschen werden zu unserem eigenen Fühlen und Begehren1). In allen diesen Fällen liegt Fremdsuggestion vor, wenn jenes Phantasieerlebnis von einem anderen Menschen — im Wege der Sprache oder der Ausdrucksbewegung — vermittelt wird (der andere somit seine Vorstellungen, Urteile, Gefühle oder Strebungen auf mich „überträgt"). Ihr steht die A u t o suggestion gegenüber, bei der das betreffende Phantasieerlebnis ohne Dazutun eines anderen Menschen in demjenigen, der der Suggestion erliegt, selbst entsteht (wie in unserem Beispiel vom nächtlichen Wanderer). Das früher erwähnte Wesensmerkmal der Suggestion (Übergang eines Phantasieerlebnisses zum Ernsterlebnis) ist aber auch hier wie dort dasselbe. Daraus folgt auch, daß das Charakteristische des Suggestionsvorganges auf der p a s s i v e n Seite liegt, nämlich in einer Erlebnisweise desjenigen, der der Suggestion erliegt. Auch bei der Fremdsuggestion ist das der Fall: es gibt keine besondere Tätigkeit oder geheimnisvolle „Kraft" des Suggerierenden. Dieser versteht nur, die Suggestibilität des anderen entsprechend zu benützen. Suggestion hat daher zunächst nichts mit Hypnose2) zu tun und ist, wie wir gesehen haben, ein viel weiterer Begriff: Hypnose bedeutet einen psycho-physischen Ausnahme') Seelig, a. a. O., unterscheidet darum 4 Arten der Suggestion: E m p f i n dungssuggestion, Urteilssuggestion, Gefühlssuggestion und Strebungssuggestion. Diese verschiedenen Suggestionen stehen oft miteinander in Zusammenhang, sind aber doch streng zu unterscheiden: ein sehr gefühlssuggestibler Mensch (der mit anderen mitfühlt) kann gleichzeitig sehr gering urteilssuggestibel sein (er läßt sich eine fremde Meinung nicht leicht aufdrängen). 2) V g l . darüber auch unten S. 292 ff.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

zustand und seine Beziehung zur Suggestion besteht nur darin, daß innerhalb des hypnotischen Zustandes Suggestionen besonders leicht Zustandekommen und daß auch bei der Technik des Hypnotisierens Suggestionen als Mittel zur Herbeiführung jenes Zustandes häufig verwendet werden. Vergegenwärtigen wir uns nun nochmals, welche Rolle die Suggestion beim Zustandekommen von Aussagen wahrheitsliebender Zeugen spielt, so müssen wir je nach dem Zeitpunkt, in dem die Suggestion wirksam wird, unterscheiden: Suggestion zur Zeit der W a h r n e h m u n g , in der Zwischenzeit und zur Zeit der Aussage. Die der ersten Gruppe haben wir bereits in der Wahrnehmungslehre behandelt. Sie kommen meist durch Erwartungseinstellung zustande, durch die eine entsprechende Phantasievorstellung entsteht, die dann zur scheinbaren Wahrnehmungsvorstellung wird (sogenannte Erwartungssuggestionen)1). In der Zwischenzeit machen sich in der Form der Urteilssuggestion alle früher erwähnten Mitteilungen und Behauptungen geltend, die der Zeuge seit seiner eigenen Wahrnehmung über den Gegenstand seiner Wahrnehmung gehört oder gelesen hat. Besonders bei Sensationsprozessen, bei denen sich die P r e s s e ausführlich mit den Vorgängen des Beweisverfahrens beschäftigt und schon bald nach der Entdeckung der Tat ausführliche Berichte über den Hergang bringt, können solche Suggestionswirkungen größten Umfang annehmen und weitgehende Irrtümer in den Zeugenaussagen hervorrufen; ein Beispiel hiefür bot der seinerzeit viel beachtete Berchtold-Prozeß2). Aber auch noch innerhalb des Gerichtsverfahrens, oft in den letzten Stunden und Minuten vor der Aussage, machen sich oft derartige suggestive Einflüsse geltend. Hiezu trägt oft auch das noch immer nicht abgeschaffte gemeinsame Warten der Zeugen auf dem Korridor bei. Nichts ist natürlicher, als daß in dieser Situation — besonders wenn das Warten länger dauert — die Leute untereinander über den Gegenstand des Prozesses zu sprechen beginnen und durch die wechselseitige Mitteilung ihrer Meinungen suggestive Verfälschungen der zu machenden Aussage bewirken3). Von besonderer Bedeutung sind schließlich die Suggestionen der dritten Gruppe, die im Z e i t p u n k t der A u s s a g e auf diese verfälschend einwirken. Sie spielen sich hauptsächlich in Form der F r a g e n ab, die der Vernehmende an den Zeugen richtet, und die in solchen „Suggestivfragen" liegende Fehlerquelle ist auch am meisten bekannt und erörtert. So wandte sich schon im römischen Recht ein von Ulpian angeführtes Reskript des Kaisers Trajan gegen solche Fragestellungen: „Qui quaestionem habiturus est, non debet specialiter interrogare, an Lucius Titus homicidium fecerit, sed generaliter, quis id fecerit; altertum enim magis suggerentis quam requirentis videtur" (1. i § 21 Dig. de quaestionibus ¡ T o b e n S. 8 4 f . , 88 u. 9 3 f f . 2 ) Schrenck-Notzing, Suggestion und Erinnerungsfälschung im BercltoldProzeß, 1897. 3 ) Hierauf hat besonders auch Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik bei Tatbestandsermittlungen, hingewiesen.

Suggestivfragen und Konfrontation.

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48, 18). Auch die Carolina (1532) gebot, „keinem Gefangenen die Umstände der Missetat vorzusagen, sondern sie ihn ganz von selbst sagen zu lassen" (Art. 56). In diesem Sinne müssen zu den Suggestivfragen auch schon alle sogenannten „Entscheidungsfragen" gerechnet werden, auf die man bloß mit Ja oder Nein zu antworten braucht. Soll z. B. durch den Zeugen festgestellt werden, ob die N. N. tatsächlich, wie der Beschuldigte behauptet, damals ein rotes Kleid angehabt hat, so darf nicht gefragt werden: „Hatte die N. N. ein rotes Kleid an?" sondern: „Welche Farbe hatte das Kleid der N. N.?", denn durch die ersterwähnte Fragestellung wird bereits ein bestimmter möglicher Antwortinhalt als Phantasieerlebnis dargeboten und kann darum — entsprechend dem oben dargelegten Wesen der Suggestion — in das inhaltsgleiche Ernsturteil übergehen. In der Literatur werden auch verschiedene sprachliche Frageformen angeführt, denen angeblich verschiedene Grade von Suggestivwirkung zukommen. So wird den sogenannten Erwartungsfragen, aus denen man bereits die erwartete Antwort heraushört („Hatte die N. N. nicht ein rotes Kleid an?"), eine erhöhte Suggestivwirkung zugesprochen 1 ). Allein dies trifft nur bei erhöht suggestiblen Menschen, besonders bei Kindern, zu; dagegen kann bei kritisch eingestellten Erwachsenen eine zu deutlich erkennbare Erwartungsfrage die gegenteilige Wirkung auslösen, sobald nämlich dadurch im Befragten eine gewisse Opposition gegen den Beeinflussungsversuch entsteht. Hier wirken oft einfache Entscheidungsfragen, deren Suggestivwirkung der Laie nicht merkt, stärker. Einen Spezialfall solcher Entscheidungsfragen stellt die Vorführung eines Menschen oder eines Gegenstandes verbunden mit der an den Zeugen gerichteten Frage dar, ob er die vorgeführte Person oder Sache w i e d e r e r k e n n e (Konfrontation zwecks Agnoszierung2)). Die darin liegende Suggestivwirkung kommt dadurch zustande, daß die Erwartung, es werde jetzt voraussichtlich die vom Zeugen seinerzeit wahrgenommene Person vorgeführt werden, bewirkt, daß die nunmehrige Wahrnehmungsvorstellung mit jenem Merkmal des déjà-vu auftritt, auf dem sonst das richtige Wiedererkennen beruht 3 ). Da im Alltag das Wiedererkennen der Personen und Gegenstände der täglichen Umgebung meist fehlerfrei verläuft, hält der Laie jedes auftretende Wiedererkennens-Erlebnis für beweiskräftig und daraus erklärt es sich, daß auch im Falle einer so bewirkten Fehlagnoszierung an ihr mit ungemeiner Zähigkeit und Überzeugung festgehalten wird 4 ). Die Suggestivwirkung, die in einer solchen Vorführung e i n e r Person oder Sache zum Zwecke der Agnoszierung liegt, läßt sich jedoch vermeiden, wenn man an Stelle einer solchen Einzelkonfrontation eine W a h l k o n f r o n t a t i o n vornimmt: Bei dieser wird der Zeuge nicht vor die bloße Ja-Nein-Möglichkeit gestellt, die ') O. Lipmann, Die W i r k u n g von Suggestivfragen, 1908. 2) Sie ist wohl zu unterscheiden von der Konfrontation mehrerer Zeugen oder Beschuldigten gegeneinander, u m widersprechende Aussagen aufzuklären. . a) Vgl. oben S. 97. *) Vgl. unten das K a p i t e l „ I d e n t i t ä t s z e u g e n " im V . A b s c h n i t t . S. 383ff.

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I I . A b s c h n i t t . Die Vernehmung.

ihm vorgeführte Person oder Sache als ihm bekannt anzuerkennen oder nicht, sondern es werden ihm m e h r e r e Agnoszierungsgegenstände zur Wahl vorgegeben. Es werden ihm also z. B. fünf Personen ungefähr gleichen Alters und Standes vorgeführt, die natürlich alle ihm unbekannt sein müssen und unter denen er den zu agnoszierenden Verdächtigen herauszufinden hat. Ebenso wird man dem Zeugen, der darüber vernommen werden soll, ob die beim Verdächtigten gefundene Brieftasche die seines ermordeten Onkels ist, nicht nur die fragliche, sondern fünf ähnliche Brieftaschen zur Agnoszierung vorlegen. Man macht hiebei die Erfahrung, daß Zeugen, die sonst ohne weiteres die Agnoszierungsfrage mit einfachem Ja beantwortet hätten, nun unsicher werden und ihren subjektiven Eindruck des Wiedererkennens viel kritischer prüfen, als sie es bei einer Einzelkonfrontation getan hätten. Gerade diese dadurch erzielte größere Urteilsvorsicht vermindert aber die Gefahr schwerwiegender Irrtümer, die nur zu leicht durch unrichtiges Wiedererkennen entstehen. Neben den Suggestivfragen kommt eine gleichgroße Wirkung den bisher noch wenig beachteten S u g g e s t i v b e m e r k u n g e n zu; darunter versteht Seelig1) Bemerkungen seitens des Vernehmenden oder anderer anwesender Personen (z. B. des Staatsanwaltes oder des Verteidigers in der Hauptverhandlung), durch die diese Personen — oft ihnen selbst unbewußt — ihre eigene Auffassung von dem Geschehenen zum Ausdruck bringen. Besonders gefährlich sind solche Bemerkungen dann, wenn sie sich auf Nebenumstände beziehen und in einem Zeitpunkt gemacht werden, in welchem der Zeuge noch gar nicht weiß, daß er über diesen Umstand wird gefragt werden. Wenn er in diesem Augenblick aus eigener Wahrnehmung nur eine undeutliche Erinnerung von diesem Umstand hatte und dann später darüber gefragt wird, wird nunmehr der fragliche Umstand im Sinne jener Auffassung erinnert, die in den gefallenen Bemerkungen zum Ausdruck kam. Die relativ starke Wirkung solcher Suggestivbemerkungen läßt sich im Experiment mittels des von Seelig ausgearbeiteten Suggestionstests auch bei Erwachsenen erweisen2). Schließlich wirkt das Fragen des Vernehmenden nicht bloß dann suggestiv, wenn „Suggestivfragen" gestellt werden, durch die ein möglicher A n t w o r t i n h a l t vorgegeben wird, sondern schon das Fragen an s i c h kann unter Umständen auf die Aussage von Einfluß sein, nämlich dann, wenn Umstände gefragt werden, über die der Zeuge sonst keine Aussage machen würde. Jede Frage suggeriert nämlich ein gewisses Antwort-geben-Wollen — darin liegt ja der Sinn des Fragens! Das ist nun weiter nicht schädlich, wenn der Zeuge die Dinge wirklich weiß, über die der Vernehmende Auskunft haben will. Ist es aber mit seinem Wissen um diese Dinge schlecht bestellt, kann sich das durch die Frage ausgelöste Antwort-geben-Wollen unheilvoll auswirken. Besonders schüch*) Ergebnisse und Problemstellung der Aussageforschung, a. a. O. S. 422. s) Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft I. B d . S. 67.

„ B l i n d e " Aussagen.

III

terne und durch die Situation des Gerichtssaales beeindruckte Zeugen trauen sich oft nicht zu erklären: „Darüber kann ich keine Auskunft geben, weil ich mich nicht mehr erinnern kann." Der Zeuge glaubt, irgend etwas sagen zu müssen, und so kommt es zu „blinden" Aussagen, bei denen sich der Zeuge gar nicht Rechenschaft gibt, ob seine Aussage den Tatsachen entspricht oder nicht. Dabei spielt auch mitunter der unbewußte Wunsch mit, zur gerichtlichen Beweisführung mit beizutragen und nicht als der Dumme oder Unwichtige dazustehen, der nichts zu sagen hat. Und mancher Vernehmende bestärkt noch diese Fehlerquelle, wenn er etwa auf das anfängliche Schweigen einer unbeholfenen Zeugin ihr aufmunternd zuruft: „Aber liebe Frau, Sie waren doch dabei und haben doch auch Augen im Kopf, da müssen Sie doch wissen, was ich Sie fragte!" Tatsächlich „besinnt" sich dann die Zeugin und sagt irgend etwas — aber welchen Wert hat eine solche Aussage I1) II. Besonderes.

a) Unrichtige B e o b a c h t u n g e n infolge Aufregung, T r u n k e n h e i t u. ä. Bei der Erörterung der Wahrnehmung2) sahen wir bereits, daß grundverschiedene Beobachtungen schon bei den gleichgültigsten Vorgängen stattfinden, bei denen es den Leuten durch keine Aufregung erschwert wurde, ruhig zu beobachten ; um wieviel mehr erst, wenn die Verhältnisse derartig waren, daß die Beobachter aus irgendeinem Grunde in Furcht, Schrecken oder Aufregung versetzt wurden3). Dann ist es mit jeder sicheren Auffassung zu Ende. Solche Beispiele gibt es in Menge. Von den historischen möchte ich nur das eine erwähnen, das die Hinrichtung der Königin Maria Stuart betrifft. Bei der Öffnung ihres Sarges (in den Dreißigerjähren des vorigen Jahrhunderts) hat es sich ergeben, daß die Königin mit dem Richtschwerte zwei Streiche empfangen hatte, von denen der eine den Nacken getroffen haben mußte, während erst der zweite den Kopf vom Rumpfe getrennt haben kann. Nun besitzen wir aber eine Reihe von zeitgenössischen Schilderungen der Hinrichtung, die alle mit echt englischer Breite und Genauigkeit den Hergang schildern: aber nicht ein einziger dieser Berichte erwähnt nur mit einem Worte den zweiten, oder besser gesagt den ersten Hieb (in den Nacken). Die Berichte sind so abgefaßt, daß man dieses Vorfalles 1 ) Die Franzosen (Bernheim, De la suggestion, 1888) sprachen von „hallucinations rétroactives". s ) Oben S. 79ff., wo auch die mannigfachen Ursachen dieser Erscheinung besprochen wurden. s ) Vgl. die Ausführungen über Angstzustände und Schreckreaktionen in den Lehrbüchern der Psychiatrie und in der mediz.-psychologischen Literatur (oben S. 72 Anm.). Ferner: Otto Groß, Psychopathische Minderwertigkeiten, Wien 1909; Dubois, Die Einbildung als Krankheit, Wiesbaden 1907; Pelman, Psychische Grenzzustände, Bonn 1909; Stierlin, Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neurologie Bd. X X V (über die merkwürdigen Schreckerscheinungen der Leute von Courierres); Diehl, Die Schreckreaktion vor Gericht, Archiv 1 1 S. 340; Dolenc, Trauma und Zeugnisfähigkeit, Archiv 3 1 S. 236.

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I I . Abschnitt. Die Vernehmung.

unzweifelhaft hätte gedenken müssen, wenn ihn einer der Beobachter gesehen hätte; sie waren aber so aufgeregt, daß a l l e den fehlgegangenen Hieb übersehen haben und seine Existenz gewiß eidlich in Abrede gestellt hätten, wenn sie gerichtlich wären vernommen worden1). Ich hatte einmal Gelegenheit, diesen Vorgang in gewisser Weise zu überprüfen, als eine Hinrichtung vorgenommen wurde, bei der es der Henker für nötig gehalten hatte, Handschuhe anzulegen. Nach der Hinrichtung befragte ich nun vier Personen, die amtlich bei der Hinrichtung anwesend waren, um die Farbe der Handschuhe des Scharfrichters; die Antworten lauteten: schwarz — hellgrau — weiß — und der vierte blieb dabei, daß der Henker überhaupt keine Handschuhe an den Händen gehabt hätte. Und alle vier waren in unmittelbarer Nähe gewesen, keiner zweifelte, jeder antwortete mit voller Bestimmtheit und glaubt heute noch, daß er das Richtige gesehen habe. Ein mir als sehr besonnen und ruhig bekannter Mann, ein gewesener Soldat, schweigsam und ernst, erzählte mir am Morgen nach einem Eisenbahnunfalle, der sich am vorhergehenden Nachmittage ereignet hatte und dessen Augenzeuge er war: es müßten an die hundert Menschen tot sein; er habe selbst, als er einem halbzertrümmerten Wagen entstiegen war, zahlreiche Menschenköpfe, die durch die Räder vom Körper getrennt worden waren, über den Eisenbahndamm hinabrollen gesehen. In Wirklichkeit war ein Mensch durch Zerdrücken der Brust getötet, fünf Leute waren verwundet worden, alles andere war Ergebnis der durch den (allerdings begreiflichen) großen Schrecken erregten Phantasie des sonst so ruhigen Mannes. Bei demselben Eisenbahnunglücke zeigte sich übrigens noch an einem zweiten Falle, was man im Schrecken sehen und hören kann. Ein Bierbrauer, ein herkulisch gebauter Mann in den besten Jahren und nicht im mindesten nervös, war aus einem ebenfalls zertrümmerten Waggon gesprungen und querfeldein im Dauerlaufe bis zum nächsten, dreiviertel Stunden entfernten Marktflecken gelaufen, weil er sah und hörte, daß die Lokomotive des entgleisten Zuges ihn über die Felder hin brausend und schnaubend verfolgte ! Der Mann war infolge seiner Einbildung derart gelaufen, daß er eine Lungenentzündung bekam, an deren Folgen er nach einigen Monaten starb. Beweis genug, daß seine vermeintliche Wahrnehmung sehr deutlich war und ihn zum angestrengtesten Laufe angetrieben hatte. 1 ) In der Münchener Allgem. Ztg. v. 2 1 . I. 1903 bemerkt Dr. v. Pannwitz, entgegen der obigen Darstellung, in einem Buche von Brantôme von 1589 (einen Auszug enthält Schillers Allgem. Sammlung histor. Memoiren Bd. 1 1 — 1 3 , 2. Abt., Jena 1 7 9 6 — 1 7 9 7 ) sei zu lesen, daß der Henker der Königin d r e i Streiche versetzt hat. E s ist vor allem zweifelhaft, ob man den romanhaften Memoiren des merkwürdigen Herrn von Brantôme Glauben beimessen darf, aber wenn dieser wirklich einen Augenzeugen als Gewährsmann hatte, so hat dieser wieder um einen Streich zu viel gesehen, da der objektive Befund z w e i Streiche feststellte. Außerdem ist dadurch, daß Brantôme später von den angeblichen drei Streichen Kenntnis hatte, nicht erwiesen, daß die zahlreichen englischenBerichterstatter sich zurZeit derHinrichtung nicht doch getäuscht haben ; diese englischen Berichte existieren ja, wie erwähnt, noch heute, — Vgl. Th. Ribot, Die Psychologie der Aufmerksamkeit, Deutsch v. Dietze, Leipzig, Maeder 1908.

Einbildungen in Erregungszuständen

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Schreck-Beobachtungen an sich und anderen hat jeder von uns gemacht, ich glaube aber, es wird ihr Wert für unsere Tätigkeit noch viel zu wenig gewürdigt. In allen überlieferten Fällen ließ sich nämlich jedesmal das Irrige der Beobachtung nachweisen. Haben nun mehrere dasselbe beobachtet und hat bloß einer unter ihnen im Schreckaffekt eine merkwürdige Wahrnehmung gemacht, so wird sie bezweifelt. Aber in wie vielen Fällen kommt es vor, daß nur ein einziger Zeuge da war, der infolge großer Aufregung falsch beobachtete, und wobei die Verhältnisse so lagen, daß sich die Unrichtigkeit der Wahrnehmung nicht von selbst ergab! Wie oft mag es schon vorgekommen sein, daß auf eine solche „Beobachtung", die vollkommen auf Einbildung beruht hatte, folgenschwere Schlüsse aufgebaut wurden! Fragt man, wie einem Unheile vorzubeugen ist, welches durch eine solche falsche Beobachtung eines Zeugen entstehen kann, so müssen wir antworten, daß jede Aussage wieder besonders bewiesen werden muß, die vereinzelt dasteht und in irgendeiner Weise etwas Unwahrscheinliches an sich hat. Man darf sich nie damit beruhigen, es werde „doch so gewesen sein", wenn die Sache auch nicht wahrscheinlich aussieht, denn „sonst könnte es ja der ganz vertrauenswürdige Zeuge nicht sagen". In solchen Fällen bleibt nichts anderes übrig, als den Fall im ganzen und in seinen Einzelheiten so zu konstruieren, wie er sich darstellen würde, wenn diese Beobachtung des einzigen Zeugen nicht vorläge. Ergeben sich dann alle vorgenommenen Konstruktionen leicht und ungezwungen, während die Unterbringung jener vereinzelten Beobachtung Schwierigkeiten macht und zu Unwahrscheinlichkeiten führt, dann muß man mit der Aufnahme jener Behauptung in die Beweisgrundlagen besonders vorsichtig sein. In höherem Grade muß man dies sein, wenn diese Beobachtung das einzige einen Beschuldigten belastende Moment ist. Kommt dazu, daß die Behauptung schon an sich unwahrscheinlich klingt, und war der Beobachtende zur entsprechenden Zeit aus irgendeinem Grunde in aufgeregter Stimmung, dann müssen alle Erhebungen so eingerichtet werden, daß in erster Linie die Glaubwürdigkeit jener Beobachtung auf das genaueste geprüft wird. Aber der Fall, in welchem eine vereinzelte Aussage sich von selbst als unwahrscheinlich zu erkennen gibt, ist noch der leichteste, da er selbst zur Vorsicht mahnt. Schwierig und gefährlich ist die Sache dann, wenn der Zeuge falsch auffaßt, etwas Mögliches erzählt und so aus bester Absicht heraus die bedenklichste Verwirrung anrichtet. Man forscht und erhebt lange Zeit und findet erst spät oder gar nicht, daß die Wahrnehmung unrichtig war. Leider kommen solche Fälle nicht nur dann vor, wenn sich der betreffende Zeuge aus irgendeinem Grunde in einer aufgeregten Stimmung befunden hat, sondern auch bei dessen scheinbar ruhiger Verfassung. Man wird daher gut tun, wenn man vor allem jede vereinzelte Beobachtung, die durch kein äußeres Moment unterstützt ist, von vorneherein ungläubig aufnimmt und dann genau erhebt, in welcher Gemütsverfassung der Zeuge zur Zeit der WahrG r o ß - S e e l i g , Handbuch. 8. Aufl.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

nehmung gewesen ist. Dabei ist der Begriff der „Aufregung" möglichst weit zu nehmen: es muß nicht eine augenblickliche Aufregung gewesen sein, der Zeuge kann sich infolge der auf ihn einwirkenden Verhältnisse schon durch längere Zeit in unterdrückter Erregung befunden haben (Affektaufspeicherung). Neben solchen meist depressiven Stimmungslagen spielen aber auch freudige Erregungszustände beim Zustandekommen von Aussagen eine Rolle und wirken oft verfälschend. Mir war in dieser Richtung ein Erlebnis nichtkrimineller Natur von Wichtigkeit, das mich oft vor zu rascher Gläubigkeit bewahrt hat. Ein Bauernbursche, den ich von Kindheit auf als einen vollkommen wahrheitsliebenden Menschen gekannt hatte, war zum ersten Male in seinem Leben in einer größeren Stadt gewesen und erzählte mit Lebhaftigkeit die merkwürdigen Erlebnisse des Tages. Den größten Eindruck hatte ihm die Menagerie eines wandernden Tierbudenbesitzers gemacht. Er erzählte von den einzelnen Tieren, beschrieb sie recht gut, schilderte ihre Fütterung und das Auftreten des Bändigers und erzählte dann, zuletzt sei eine riesige Schlange gekommen, die sich auf einen Löwen stürzte und diesen fressen wollte. Da kamen zahlreiche nackte Wilde, kämpften mit der Schlange und töteten diese und den Löwen! — Die Erklärung war leicht gegeben: die zuletzt geschilderte Szene war auf einem großen Bilde dargestellt, das außen an dem Zelt aufgehangen war, wie die Schaubuden der wandernden Menagerien fast immer mit solchen lockenden Bildern geziert sind. Der Bauernbursche hatte nun an diesem Tage in der Stadt so viel Wunderbares und Neues gesehen, daß ihm auch diese bildliche Darstellung möglich vorgekommen war, und als er zum Erzählen kam, war das farbige Bild, mit dem Wirklichen vermengt, für ihn in Wahrheit übergegangen und er erzählte das dort Gesehene im besten Glauben als Erlebtes. Wie oft werden wir ähnliches von Zeugen in Strafprozessen gehört haben, wie oft mögen wir so auf verhängnisvolle Weise irregeführt worden sein 1 )! Hieher gehört auch folgende Fehlbeobachtung: ein intelligenter, gut situierter Bauer erzählte mir einst, als er bei Gericht zu tun hatte, unser Gerichtsarzt habe ihn auf merkwürdige Art von Taubheit geheilt. Der Arzt habe ihm in das Ohr gesehen und dann mit vieler Mühe einen großen schwarzen Käfer in einzelnen Teilen herausgenommen, auf einem Blatt Papier zusammengesetzt und ihm diesen gezeigt: Kopf, Leib, sogar die meisten Beine seien dagewesen, nun. sei er seine Taubheit los. Ich fragte bald darauf den Arzt um den Hergang dieser Heilung und erfuhr, daß er dem Bauer lediglich einen tüchtigen Pfropfen Ohrenschmalz aus dem Ohre entfernt hatte. Der Bauer sei aber wegen seiner Taubheit sehr niedergeschlagen, während der Operation ängstlich und zuletzt sehr erfreut gewesen, so daß aus seiner wechselnden, immer erregten StimEinen weiteren Fall der Verschmelzung mehrerer Wahrnehmungen zu e i n e m Erinnerungsbild berichtet H. Groß, Archiv 6 S. 334 (in der freudig erregten Zuschauerin eines feierlichen Umzuges verband sich der starke Eindruck, den die markante und im übrigen richtig beschriebene Persönlichkeit eines Teilnehmers machte, mit der Uniform des Nebenmannes).

Aussagen und Alkohol

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mungslage die Einbildung erklärt werden konnte. Lüge war es gewiß nicht, sondern wirklich falsche Auffassung. Hätte es sich um einen Kriminalfall gehandelt und wäre die Erzählung nicht zu unwahrscheinlich gewesen, kein Mensch hätte in die Worte des bestbeleumundeten braven Mannes den mindesten Zweifel gesetzt! Neben solchen Erregungszuständen und veränderten Stimmungslagen, die sich aus entsprechenden Lebenssituationen von selbst ergeben, spielen die vielfältigen Veränderungen der Gemütsverfassung, die durch A l k o h o l g e n u ß bedingt sind, beim Zustandekommen von Aussagen eine besondere Rolle. Diese Veränderungen beeinflussen nicht bloß den Wahrnehmungsprozeß, sondern auch die Gedächtnisleistung und Verarbeitung des Erinnerten und sie treten nicht erst bei schwerer Alkoholvergiftung (Rausch), sondern auch schon bei leichten Trunkenheitsgraden (gehobene Stimmung, Weinlaune, Schwips) auf. Die Wirkungen der akuten Alkoholvergiftung wurden schon von Kraepelin und seiner Schule eingehend untersucht 1 ). Im allgemeinen verlieren die Wahrnehmungen an Klarheit, der Gesichtsumfang wird eingeengt, das Unterscheidungsvermögen für Farben verringert und die Auffassung des Wahrgenommenen verlangsamt 2 ); besonders aber leidet die Aufmerksamkeit. Die Stimmungslage ist zunächst meist gehoben und die Motorik angeregt, die sonst bestehenden Hemmungen sind abgeschwächt; daraus erklärt sich die größere Mitteilsamkeit und das laute, auffallende Benehmen. Erst bei vorgeschrittener Trunkenheit schlägt die zunächst gesteigerte Willenserregung in eine Willenslähmung um und es machen sich schwere Bewegungsstörungen (Ataxie) bemerkbar, die sich nicht bloß — wie allgemein bekannt — beim Gehen3), sondern auch beim Sprechen und in der Schrift 4 ) zeigen. Aber ob und in welchem Grad alle diese Erscheinungen auftreten, hängt nur zum Teil von der absoluten Menge des genossenen Alkohols a b ; zum anderen Teil werden sie von der individuellen Empfindlichkeit des betreffenden Menschen (der A l k o h o l i n t o l e r a n z , bzw. der durch Konstitution und Gewöhnung bedingten A l k o h o l t o l e ranz) und von zahlreichen Begleitumständen (Nahrungsaufnahme, Tageszeit u. a.) bestimmt. Aber auch die Form des genossenen Alkohols (Bier, Most, Wein, Sekt, Schnaps, Likör), also vor allem das Verdünnungsverhältnis und die Anwesenheit von freier Kohlensäure, ätherischen Ölen, Zucker, Säuren usw. ist hiebei von Bedeutung 8 ). Kraepelin, Psychiatrie, 8. Aufl., II. Bd. (Leipzig 1910), S. 76ff. und die dortselbst verzeichnete ältere Literatur. 2) Daraus erklärt sich auch die Verlängerung der „Reaktionszeit", die für die Aufklärung von Verkehrsunfällen (unten S. 128) wichtig ist. ») Vgl. unten Abschnitt X I I I im 2. Bd. 4) Vgl. unten Abschnitt X V im 2. Bd. ') Offenbar beeinflussen diese Umstände zunächst den physiologischen Prozeß: der genossene Alkohol wird vom Magendarmkanal ins Blut resorbiert und dann in sämtliche Gewebe, insbesondere auch in das Nervengewebe (Gehirn) verteilt. Daher läßt der relative Alkoholgehalt des Blutes, der durch die Widmarksche Blutalkoholprobe ermittelt werden kann (s. darüber unten S. 279ff. einen Rückschluß auf den Trunkenheitsgrad zu (unten S. 129t.). 8*

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

Für die Beurteilung von Aussagen spielt der Alkohol eine doppelte Rolle: einerseits können W a h r n e h m u n g e n , die im a l k o h o l i s i e r t e n Z u s t a n d g e m a c h t w e r d e n , lückenhaft sein und später in mannigfacher Weise umgedeutet und mit anderen Erinnerungsbildern vermengt werden; schwere Rauschzustände haben auch mitunter eine völlige Erinnerungslosigkeit (Amnesie) für die Vorgänge in der Trunkenheit zur Folge. Anderseits kann aber auch eine oft nur leichte und für Unbeteiligte nicht sofort erkennbare T r u n k e n h e i t zur Z e i t der A u s s a g e infolge der erhöhten Konfabulationslust und des angeregten Geltungstriebes verfälschend wirken. All dies könnte durch zahlreiche Erfahrungen aus dem alltäglichen Leben und aus der gerichtlichen Praxis belegt werden; hier seien zur Veranschaulichung nur zwei Beobachtungen mitgeteilt: Ein sittlich und sozial einwandfreier Universitätsdiener 1 ) gab am 40. Gedenktag der Schlacht von Königsgrätz, bei der er sich eine Medaille verdient hatte, morgens an: „So arg es damals auch zugegangen ist, geschehen ist mir nicht das mindeste." Nachmittag um 3 Uhr erklärte er nach Alkoholgenuß: „Eigentlich ist mir nichts Rechtes geschehen, aber eine Kugel ist durch den Tornister gegangen und hat mich gestreift; das hat höllisch gebrannt." Um 8 Uhr abends erklärte er in weinerlicher Stimmung, eine Kugel sei ihm in die Brust gegangen und neben dem Rückgrat hinausgeflogen, er sei zwar geheilt worden, leide aber täglich fürchterliche Schmerzen. E r gab jedoch gleichzeitig die Prüfungen des nächsten Tages richtig an und nannte Stunde und Namen der Kandidaten. Sein Benehmen war sonst nicht auffallend und die Alkoholwirkung für Fremde nicht erkennbar. Zu einem Justizirrtum, der erst im Wiederaufnahmsweg richtiggestellt wurde, führte die entschiedene Aussage eines Verletzten über die Person des Täters, die sich wohl als Vermengung der Bilder seines Rauschtraumes mit den tatsächlich gemachten Wahrnehmungen erklärt 2 ): Der Maurer Klapetik kam um 3 Uhr morgens blutüberströmt nach Hause und erklärte seiner Frau sofort, er sei auf dem Heimweg von dem ihm bekannten Leopold Kirschner überfallen und beraubt worden; ein Zweiter habe geholfen. E r erinnerte sich auch, daß beide, einer oben und einer an den Füßen, ihn aufhoben und daß Leopold Kirschner über ihm kniete und seine Taschen durchsuchte. Festgestellt wurde, daß ein Maurer namens Borocky im Verein mit einem unbeteiligten Bauern zuerst den auf der Bezirksstraße liegenden Klapetik zur Hilfeleistung aufhob und in den Straßengraben legte; sie hielten Klapetik für berauscht. Später hatte Borocky allein den im Straßengraben liegenden Klapetik tatsächlich beraubt und gestand dies auch. Leopold Kirschner erklärte völlig unbeteiligt zu sein (was Borocky bestätigte), wurde aber auf Grund der b e s t i m m t e n A n g a b e n des H. Groß, Über Zeugenaussagen Leichttrunkener, Archiv 29 S. 89. ) Felkl, Beiträge zur forensischen Kasuistik der solitären Erinnerungstäuschungen, Archiv 18 S. 1 ; vergleiche hiezu Seelig, Ergebnisse und Problemstellung der Aussageforschung a. a. O. S. 4 1 5 . 2

Erinnerungen aus Träumen.

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K l a p e t i k , der in Kirschner sofort den Täter wiedererkannte, verurteilt. Das Gericht nahm an, daß Kirschner und Borocky den Raub gemeinsam ausführten und Borocky seinen Komplizen nur entlasten wolle. Später stellte sich die völlige Unschuld des Leopold Kirschner heraus. Klapetik hatte vorher 1 j 10 1 Schnaps und 1 y2 1 Bier getrunken, Zeichen von chronischem Alkoholismus oder Geisteskrankheit waren nicht nachweisbar. In diesem Fall handelt es sich somit nicht um ein falsches Wiedererkennen (Borocky und der dem Aussagenden wohlbekannte Leopold Kirschner hatten miteinander keinerlei Ähnlichkeit), sondern offenbar darum, daß Klapetik in seinem Rauschtraum die Wahrnehmungen des Beraubtwerdens mit der Person des ihm bekannten Kirschner verband (der — wie später festgestellt wurde — 8 Tage vorher bei einer Rauferei mit Wiedervergeltung gedroht hatte) und nun nach dem Erwachen dieses Traumbild mit allen Merkmalen eines Wacherlebnisses reproduzierte: er m u ß t e daher den ihm gegenübergestellten Leopold Kirschner als Täter wiedererkennen, da er ja tatsächlich diesen in seinem Traum gesehen hatte 1 ). ß) P s y c h i s c h e F e h l l e i s t u n g e n i n f o l g e K o p f v e r l e t z u n g e n . In dem zuletzt mitgeteilten Fall mag vielleicht neben der Rauschwirkung auch die beim Überfall erlittene Kopfverletzung zum Zustandekommen der Traumerinnerung beigetragen haben und so weist uns diese Beobachtung darauf hin, wie sehr gerade die K o m b i n a t i o n v o n R a u s c h und K o p f v e r l e t z u n g g e n e i g t m a c h t , sich Vorg ä n g e e i n z u b i l d e n , die sich nicht z u g e t r a g e n haben 2 ). Da aber diese Kombination häufig vorkommt (Gasthausraufereien, Stürze im Rausch usw.), so dürfte es geraten sein, in solchen Fällen mit der Verwertung der Aussage eines Verletzten besonders vorsichtig zu sein. Aber auch ohne Alkoholwirkung vermögen erlittene Verletzungen, die mit einer S c h o c k w i r k u n g verbunden sind, und ganz besonders K o p f v e r l e t z u n g e n die merkwürdigsten psychischen Veränderungen in der Zeit nach dem Unfall hervorzurufen. Sofern sie sich in schweren Störungen des seelischen Ablaufs äußern (Erinnerungslosigkeit für die vor dem Unfall zurückliegende Zeit, sogenannte „retrograde Amnesie", dann Verwirrtheit, Verwechslung von Personen u. ä.) sind sie der Psychiatrie als „traumatische Psychosen" wohl bekannt und werden auch in ihrer Bedeutung für das Gerichtsverfahren gewürdigt3). Ähnliches gilt für die „Intoxikationspsychosen", die nach Vergiftungen (besonders nach Pilz-, Kohlenoxyd- und sonstigen Gasvergiftungen) auftreten4). Es ist *) Diese Deutung Cals Traumerinnerung, s. oben S. 100) vermag jene Fehlaussage ohne weiteres zu erklären, während Felkl a. a. O. eine „solitäre Erinnerungstäuschung" annimmt, die einer „fixierten Wahnidee" gleichkomme. s ) H. Groß, Falsche Vorstellung eines Trunkenen und am Kopfe Verletzten, Archiv 1 S. 336. ') Vergleiche die einschlägigen Kapitel in den Lehrbüchern der Psychiatrie, gerichtlichen Psychiatrie und gerichtlichen Medizin; ferner die ältere Monographie: Guder, Die Geistesstörungen nach Kopfverletzungen (Jena 1886). 4) Vgl. Hoffmann und Marx in der Ztschr. f. Med.-Beamte, Jahrg. 1911 Nr. 14. Ein besonders merkwürdiger Fall, dem von Psychiatern und Psychologen

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

selbstverständlich, daß in solchen Fällen ein psychiatrisch geschulter Arzt als Sachverständiger beizuziehen ist, der sich über die Aussagefähigkeit des Verletzten zu äußern haben wird. Besonders verhängnisvoll können aber jene Fälle werden, in denen das Benehmen des Verletzten zunächst nichts Auffälliges erkennen läßt, so daß der U. keine Bedenken trägt, ihn zu vernehmen, während in gewisser Richtung doch eine wesentliche Störung vorliegt, die bedeutungsvolle Veränderungen des Aussageinhaltes bewirkt. Es ist daher für den Kriminalisten wichtig, solche Erfahrungen zu sammeln 1 ). Der Chirurg Abercrombie stürzte einmal vom Pferde und verletzte sich am Kopfe. Da kein Arzt zur Stelle war, so ordnete er selbst alles bezüglich des Verbindens und seiner Pflege und sonstigen Behandlung genau und richtig an, hatte aber total vergessen, daß er Frau und Kinder habe. Carf enter erzählt, daß ein Kind infolge eines Sturzes auf den Kopf drei Tage lang bewußtlos war. Als es wieder gesund wurde, hatte es in seinem übrigen Wissen gar nichts eingebüßt, nur alle musikalischen Kenntnisse waren vollständig verschwunden. Bismarck berichtet, daß er in jungen Jahren einst vom Pferde stürzte und, aus der Bewußtlosigkeit erwacht, noch zweckmäßige Anordnungen dem Reitburschen gab; dann ritt er nach Hause und forderte dringend auf, dem Reitknecht, der vom Pferde gestürzt sei, Hilfe zu bringen — eine eigenartige Vertauschung der IchVorstellung mit der eines Mitmenschen. Ich möchte diese Wahrnehmungen durch Mitteilungen eigener Erfahrungen teils kriminellen, teils alltäglichen Inhaltes vermehren, weil sie zeigen, wie vorsichtig man die Aussagen von Leuten aufnehmen muß, welche Kopfverletzungen erlitten haben. Einer der Fälle betraf einen Bauern, der auf dem Wege zum Viehmarkte überfallen, schwer verletzt und des Geldes, mit welchem er eine Kuh hatte kaufen wollen, beraubt worden war; als der Mann einen Tag nach der Tat vernommen wurde, war er scheinbar bei klarem Bewußtsein und erzählte den Hergang mit minutiöser Genauigkeit und in vollster Übereinstimmung mit den übrigen Erhebungen. Nur begroßes Interesse entgegengebracht wurde, ereignete sich 1926 in Gelsenkirchen: Ein 25 jähriger Schlosser erleidet eine Hochofengasvergiftung, durch die er die Merkfähigkeit für alle Erlebnisse seit dem Unfall verliert—seine Erinnerung reicht nur bis 1926, alles Spätere erlebt er nur für den Gegenwarts-Augenblick, in diesem ist er aber völlig orientiert und charakterlich intakt. Da er zur Unfallszeit verlobt war, hält er seine Frau, die ihn trotz seines Defektes heiratete, stets noch für seine Braut — er lebt als ,,1-Sekunden-Mensch" (G. E. Störring, Gedächtnisverlust durch Gasvergiftung. Leipzig 1936). 1) Vergleiche zum folgenden außer den hier wiedergegebenen Fällen die Erfahrungen, die in folgenden Arbeiten berichtet sind: Hahn, Zum Thema über die falschen Wahrnehmungen von Verletzten, Archiv 17 S. 204; Bauer, Unrichtige Aussage eines Zeugen infolge einer erlittenen Kopfverletzung, Archiv 25 S. 88; Dolenc, Trauma und Zeugnisfähigkeit, Archiv 31 S. 237; W. Schütze, Erinnerungstäuschung durch Kopfverletzung, Archiv 43 S. 147; W. Schütze, Erinnerungstäuschung durch Kopfverletzung, Archiv 47 S. 110; B. Linser, Erinnerungstäuschung nach schwerem Trauma, Archiv 56, S. 366; Härtl, Fehlende Erinnerungen eines Verletzten für einen Schädelschuß, D. med. Wschr. 1916 Nr. 44.

Aussagen Kopfverletzter.

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hauptete er hartnäckig und trotz aller Gegenvorstellungen: man habe ihm die g e k a u f t e K u h (nicht das Geld zum Kuhkaufe) weggenommen. Wenn ihm vorgehalten wurde, daß er ja auf dem Wege zum Markte und am Tage v o r dem Markte beraubt wurde, daß er fünfzehn Minuten vor dem Raube von Leuten gesehen wurde, die auch bemerkten, daß er keine Kuh hatte usw., so dachte er eine Weile nach und gab stets dieselbe Antwort: „Alles eins, die Kuh hat er mir genommen, ich weiß nicht, wie die Kuh aussah und wieviel sie gekostet hat, aber gehabt habe ich eine Kuh." Im vorliegenden Falle konnte die Unrichtigkeit der Angabe mehrfach und sicher erwiesen werden; welche Fplgen hätte es aber haben können, wenn das nicht der Fall gewesen wäre, wenn man dem unrechtmäßigen Besitzer der niemals geraubten Kuh allein nachgeforscht hätte? Die Angaben des Beraubten hätten um so verhängnisvoller werden können, als alle sonstigen Angaben, die er gemacht hatte, wie erwähnt, völlig richtig waren1). Bei einer größeren Rauferei hatte ein Müllerbursche einen wuchtigen Hieb mit einem Pfahle über den Kopf bekommen, so daß er eine Schädelverletzung erlitt und lange bewußtlos war. Bei seiner ersten Vernehmung (zwei Tage nach der Tat) erzählte er mit aller Bestimmtheit, daß ihm ein auffallend großer Mann mit langem schwarzen Barte niedergeschlagen hatte. Glücklicherweise war an der Rauferei kein Mann beteiligt, auf den diese Beschreibung im entferntesten paßte; es konnte außerdem durch mehrere Zeugen bestätigt werden, daß der Täter ein kleinerer Bursche mit blondem Schnurrbart war. Wären keine Zeugen dagewesen und hätte ein großer Mann mit schwarzem langen Barte der Täter sein können, so wäre kein Anstand vorgelegen, diesen verhaften zu lassen, so bestimmt und klar lautete die Angabe des Verletzten. Dieser hatte, nebenbei gesagt, nicht etwa irgendeinen Grund, den ihm sonst unbekannten Täter zu schonen. Als der Mann gesund war und wieder vernommen wurde, gab er als Täter denselben an, den die anderen Zeugen bezeichnet hatten, und erzählte auf Befragen, es sei ihm allerdings, als er im halbbewußten Zustande im Bette lag, stets so vorgekommen, als ob ihn ein großer Mann mit langem schwarzen Barte aus dem Bette hätte ziehen wollen. Diese Beschreibung paßte auf den Arzt, der ihm die erste Hilfe geleistet hatte. Ein zwar nicht krimineller, aber nach meiner Ansicht für uns in mehreren Beziehungen lehrreicher Fall hat sich in der Person eines verstorbenen Freundes, eines absolut glaubwürdigen Mannes, zugetragen. Dieser, ein Freiherr v. S., war einst in Begleitung mehrerer Freunde über einen Gebirgszug gegangen und stürzte von einer Felswand ab; er erlitt bedeutende Verwundungen: mehrfachen Bruch eines Beines und sehr Hierauf machte auch schon E. Meyer in der Berliner Klin. Wochenschrift (nach einer Mitteilung in „Medizin für A l l e " , 1 9 1 1 S. 148) besonders aufmerksam : nicht bloß schwer, sondern auch gar nicht arg a m Kopf Verletzte ließen in längerem Gespräche keine Störung merken, und doch war für gewisse W a h r nehmungen verschiedenster A r t ein A u s f a l l festzustellen. Gerade diese Tatsache kann schwere Irreführungen veranlassen.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

schwere Schädelverletzungen, so daß er eine volle Woche (!) bewußtlos blieb. Das eine Merkwürdige an der Sache für uns ist nun, daß Freiherr v. S. nicht nur für den Absturz selbst, sondern auch für alles, was sich mehr als anderthalb Stunden vorher zugetragen hatte, n i c h t die a l l e r m i n d e s t e E r i n n e r u n g b e s a ß . Er erinnerte sich an die kleinsten Einzelheiten des Aufbruches und Anstieges, der Gespräche, die unterwegs geführt wurden, usw. bis zu dem Augenblicke, wo er seinen Freunden, etwas vor erreichter Höhe, einen Baum zeigte, an den sich eine bestimmte Jagderinnerung knüpfte. Von daab war ihm jede Erinnerung geschwunden, obwohl dann keineswegs nur Gleichgültiges gesprochen wurde. Als die Höhe überwunden war, wurde gefrühstückt (Getränk nur reines Quellwasser) und eine bestimmte Verabredung wegen einer Jagd getroffen, später, als v. S. die Felswand betrat, warnten ihn seine Kameraden, dann erfolgte der unglückliche Sturz. Von alledem wußte v. S. gar nichts, der Sturz hat alle Erinnerungen auf anderthalb Stunden zurück rein weggelöscht. Es schloß sich das Aufwachen aus der sieben Tage dauernden Bewußtlosigkeit unmittelbar an das Gespräch bei dem erwähnten Baume an. Nehmen wir nun an, daß sich ähnliches in der Person eines Verbrechers, der bei VerÜbung einer Tat schwer verletzt wurde, ereignet hätte, und er würde behaupten, er wüßte von allem nichts, was sich anderthalb Stunden v o r seiner Verletzung zugetragen hatte; wer würde ihm das glauben? Und wäre er ein Zeuge, würde man diesem ohne weiteres glauben? Man würde ihm einfach erklären, das sei nicht möglich, und ihn solange mit Fragen quälen, bis er wirklich allerlei anzugeben wüßte,, was sich ja ereignet haben könnte, von dem er aber in Wahrheit nichts weiß. Das zweite Merkwürdige an dem erzählten Vorfalle besteht darin, daß v. S. im bewußtlosen Zustande etwas ganz Korrektes sprach. Als er nämlich vom Hause fortgegangen war, hatte ihm seine Mutter eine Bestellung an ihren Bruder, zu dem v. S. ging, mitgegeben. Als er nun in vollständig bewußtlosem Zustande in das Haus seines Oheims gebracht wurde und dieser ihn auf das höchste erschreckt überlaut anrief, entledigte sich v. S. vollkommen richtig und klar seines ziemlich komplizierten Auftrages, um sofort wieder in vollkommene Bewußtlosigkeit zu verfallen. Wäre der Fall ein krimineller, so würde man einerseits einer solchen Mitteilung des bewußtlosen Schwerverletzten keinen Wert beilegen und das von ihm Gesagte als Phantasien nicht weiter beachten; andererseits aber, wenn der Verletzte ein Beschuldigter wäre, seine Bewußtlosigkeit für wenigstens zum Teile simuliert erklären, da er ja sonst nicht plötzlich auf kurze Zeit vernünftig hätte reden können. Es lehrt dieser Fall, daß in derlei Dingen das Unwahrscheinlichste vorkommen kann, daß nichts für sich allein betrachtet, sondern nur in Verbindung mit allem anderen verwertet werden darf, und daß jedes wichtige Moment, das in einer Untersuchung zutage tritt, wieder Gegen-

Aussagen Kopfverletzter.

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stand einer besonderen Erhebung und Erörterung durch die Ärzte werden muß, bevor es als sicher angenommen werden kann. Daß aber mitunter auch trotz schwerer, tödlicher Schädelverletzungen klare und verläßliche Aussagen vom Verletzten gemacht werden können, beweist folgender im Jahre 1914 vor dem Landgerichte Graz verhandelter Straffall: Ein Bauer war nach vorhergegangenem Streit mit einem schweren Prügel auf den Schädel geschlagen worden, war zusammengefallen, hatte sich aber nach wenigen Minuten erholt und trank seinen Kaffee; dann ging er in den Stall, besprach mit Nachbarn vollkommen klar verschiedene Angelegenheiten und machte hiebei durchaus richtige Angaben, verrichtete dann noch verschiedene Arbeiten und stürzte etwa 2 Stunden nach dem erlittenen Schlag tot zusammen. Die ärztliche Untersuchung zeigte äußerlich eine faustgroße Beule, innerlich wurde ein Schädelbruch mit langsamer Blutkuchenbildung festgestellt, die zur Gehirnlähmung geführt hatte. Ein anderer eigentümlicher Fall ist: Herr C., ein angesehener Beamter, fuhr von einer auswärtigen Amtshandlung nach Hause; die Pferde scheuten, C. flog aus dem Wagen, verletzte sich schwer am Kopfe und blieb auf einem einsamen Fahrwege bewußtlos liegen. Nach etwa einer halben Stunde kam er zu sich, ging bis zu einem in der Nähe gelegenen Landhause einer ihm befreundeten Familie, begab sich, ohne sich bei irgendjemanden zu melden, in das Speisezimmer und blieb dort auf einem Sopha sitzen. Nach einer Stunde, es war nachmittags, wurde er dort von dem Herrn des Hauses gefunden, mit dem er ganz verständig sprach. Im Verlaufe des Gespräches bemerkte der Hausherr, daß C. von der Ansicht ausging, er sei schon seit dem Morgen da und habe hier zu Mittag gespeist. Als man endlich seine Verletzung bemerkte, wollte er von dieser, von einem Unfall überhaupt, von einem Sturze aus dem Wagen absolut nichts wissen und blieb dabei, er sei schon seit dem Morgen da. Erst in der Nacht begann Fieber, Delirium und lange dauernde Bewußtlosigkeit. Auch hier wäre ähnliches eingetreten wie im früher erzählten Falle des Freiherrn v. S., wenn es sich um ein Verbrechen gehandelt hätte: einem Beschuldigten, z. B. einem bekannten Diebe, hätte es wohl kein Mensch geglaubt, daß er, ohne zu wissen wie, in das Haus gekommen sei; wäre C. aber das Opfer einer strafbaren Handlung gewesen, so hätte er von dieser wohl ebensowenig gewußt, wie von seinem Sturze, und hätte durch seine Aussage den U. gründlich irregeführt. Weiter: Ein Ingenieur, der mit einem alten Herrn auf der Straße an einem Wirtshaus vorbeiging, wurde von einem plötzlich herauskommenden Soldaten angefallen. Eine Anzahl von betrunkenen Soldaten hatte im Gasthause gerauft, einige von ihnen wurden hinausgeworfen und einer versetzte dem ahnungslos vorbeikommenden Ingenieur einen Säbelhieb über den Kopf, so daß der Getroffene zu Boden fiel. Da sich die Rauferei auf der Straße fortsetzte, so eilte der Begleiter des Verletzten davon und holte im nächsten Dorfe Leute. Als diese zum Wirtshaus zurückgingen, begegnete ihnen der Ingenieur, der von dem ganzen Vorfalle nichts wußte

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

und nur nicht begreifen konnte, wohin sein Begleiter gekommen war. Von einem Überfalle und einer Verletzung wollte er durchaus nichts wissen, und doch war die Verletzung so tief, daß bei der später vorgenommenen gerichtsärztlichen Untersuchung mit der Sonde die Gehirnmasse erreicht werden konnte. Ein älterer Fall, der für uns in mehrfacher Beziehung belehrend ist, hat damals großes und berechtigtes Aufsehen erregt und sei auch hier mitgeteilt. Am 28. März 1893 wurde in dem Hause des Lehrers Brunner zu Dietkirchen in Niederbayern ein Raubmord verübt. Zwei Kinder des Lehrers waren durch Hiebe mit einer Hacke getötet, die Frau und das Dienstmädchen mit dem gleichen Werkzeuge lebensgefährlich verwundet und bewußtlos angetroffen worden. Lehrer Brunner, welcher ein abgesondertes Zimmer bewohnte, hatte bei seinen ersten Vernehmungen in sinnloser Verwirrung so ungereimt gesprochen, daß er für den Täter gehalten und auch dann nicht sofort entlastet wurde, als seine Frau zum Bewußtsein kam und vernommen, werden konnte. Sie erzählte dem U., daß sie aus tiefem Schlaf erwacht sei und das ganze Bett naß gefunden habe; da es bald gegen Morgen ging, nahm sie wahr, daß die Nässe von Blut herrühre, worauf ihr wieder die Sinne schwanden. Sonst wußte sie trotz eingehenden Befragens gar nichts anzugeben; namentlich konnte sie nicht im entferntesten sagen, wann, wie und durch wen sie ihre schweren Verletzungen (alle am Kopfe) erlitten habe, ja es wurde ihr überhaupt erst durch dritte Personen gesagt, daß sie verletzt sei. Als es zur Fertigung des aufgenommenen Protokolls kam, unterschrieb sie statt ihres Namens (Martha Brunner) ohne jegliches Besinnen „Martha Guttenberger". Der U. hatte den glücklichen Gedanken, die Umgebung zu fragen, ob Frau Brunner etwa eine geborene Guttenberger sei, was verneint wurde, und als der U. weiter fragte, wer denn sonst den Namen Guttenberger führe, so wurde ihm gesagt, so hieße allerdings der frühere Geliebte des Brunnerschen Dienstmädchens, welchem wegen seines üblen Lebenswandels vom Lehrer Brunner das Betreten des Hauses verboten wurde. Der U. griff die Sache auf, Guttenberger wurde verfolgt, in München verhaftet, und gestand die Tat ein. Aus dem Gesagten ergibt sich der auch später von Frau Brunner bestätigte Sachverhalt, daß sie den Täter zur Zeit des Angriffes auf sie bestimmt erkannt und dann den Hergang infolge ihrer schweren Kopfverletzung vergessen hatte. Aber nicht ganz. Die Vorstellung von der Täterschaft des Guttenberger war bei Martha Brunner in der Tat in eine zweite Sphäre des Bewußtseins getreten, so daß ihr nur dämmerte: der Name G u t t e n b e r g e r sei im A u g e n b l i c k e v o n B e d e u t u n g . Diese Dämmervorstellung wurde in der Weise wirksam, daß im Augenblick, als sie sich anschickte, ihren eigenen Namen zu schreiben, der Name Guttenberger den Schreibvorgang als Leitbild beherrschte1). Dieser Fall *) In der Psychologie des Verschreibens und Versprechens spielen solche Leitbilder, die durch unbewußte, gefühlsbetonte Vorstellungen gegeben sind, eine große Rolle. Vgl. die Beispiele bei S. Freud, Zur Psychologie des Alltagslebens

Psychologie des Verkehrsunfalles.

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beweist, daß wir — wie schon seit langem Dessoir lehrt 1 ) — recht haben, wenn wir — wie es jetzt allgemein geschieht — mindestens zwei Sphären oder Schichten des Bewußtseins annehmen; die erste, das Oberbewußtsein, und eine zweite, das Unterbewußtsein, in welchem sich immer oder fast immer Vorgänge abspielen, welche uns zunächst nur teilweise oder gar nicht „bewußt" werden; aber unter besonderen Umständen tauchen sie in der Oberschichte auf und können hier zu den merkwürdigsten Erscheinungen führen 2 ). y) P s y c h i s c h e

F e h l l e i s t u n g e n bei

Verkehrsunfällen.

Alles was wir hier bisher än psychischen Fehlerscheinungen infolge Aufregung, Schreck, Trunkenheit, Schock und Kopfverletzungen kennengelernt haben, wird in der gerichtlichen Praxis in ganz besonderem Maße bei der A u f k l ä r u n g v o n V e r k e h r s u n f ä l l e n bedeutungsvoll. Oft sind die bei einem Autounfall Verletzten die einzigen Zeugen, die über das Geschehene berichten können, aber selbst wenn „unbeteiligte" Augenzeugen zufällig vorhanden sind, so wurden doch auch diese regelmäßig durch den mitangesehenen Unfall in heftige Erregung versetzt und es machen sich die geschilderten Wirkungen der Schreckreaktion und der heftigen Gemütsbewegung als Fehlerquellen beim Zustandekommen der folgenden Aussagen geltend. Dazu kommt, daß oft auch eine wohlverständliche, gefühlsmäßige Anteilnahme mit dem Opfer des Unfalls, das vielleicht in verstümmeltem Zustand einen furchtbaren Anblick bietet, das Sühnebedürfnis des Volksgenossen anregt und zu einer unwillkürlichen Stellungnahme gegen den vermutlich „Schuldigen" führt. Wer aber den oft sehr verwickelten Ursachenkomplex eines Verkehrsunfalles nicht zu überschauen vermag, wie dies bei den zufälligen Augenzeugen die Regel ist, für den liegt es am nächsten, im Wagenlenker den Schuldigen zu sehen, wenn vielleicht auch das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer schuldtragend war. So finden wir oft bereits in dem Zeitpunkt, in dem das erste Erhebungsorgan zur Unfallstelle gelangt, eine in Worten der Empörung sich Luft machende Erregung unter den „unbeteiligten" Personen, die mitunter nur zum Teil Augenzeugen waren, zum Teil sich als Neugierige später hinzugesellten und sich den Hergang von den anderen erzählen ließen. Bevor somit irgendeine objektive Aufklärungsarbeit beginnen konnte, hat sich auf solche Weise eine gefühlsbetonte Ansicht über die Schuldfrage entwickelt und färbt begreiflicherweise die Aussagen, die nunmehr dem Erhebungsorgan gemacht werden. Es wird sich daher mitunter empfehlen, solche erregte Auskunftspersonen erst später zu vernehmen, wenn sich die allgemeine (5. Aufl., Berlin 1917), der aber — entsprechend dem Pansexualismus der Psychoanalyse (s. oben S. 71 Anm.) — in völlig unzulässiger Weise fast nur Vorstellungen der Sexualsphäre zur Erklärung heranzuziehen sucht. *) Dessoir, Das Doppel-Ich, Berlin 1880. 2) Besonders in der Hypnose gelingt es, solche latente Erlebnisse des Unterbewußtseins an die Oberfläche zu bringen und „bewußt" zu machen. Vgl. unten IV. Abschnitt 293 ff.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

Aufregung gelegt hat und der objektive Sachverhalt schon einigermaßen klargestellt wurde. Für die spätere Verwertung der Aussagen der Verletzten oder sonst am Unfall Beteiligten (Mitinsassen des Autos) ist es wichtig, ihr Benehmen und seelisches Verhalten festzustellen und nach Möglichkeit sofort in Form eines Aktvermerkes festzuhalten. Für die Bewertung dieser Verhaltungsweisen sind die Erfahrungen heranzuziehen, die uns aus Beobachtungen in ähnlichen Schrecksituationen zur Verfügung stehen. So wurde ein ethisch hochstehender Arzt, der bei einer Bergbesteigung mit einem Kameraden abstürzte und — unten angelangt — seinen Kameraden mit einem komplizierten Oberschenkelbruch liegen sah, in den folgenden Minuten nur von der Frage beschäftigt, wo jetzt sein Hut sei1). Es kam ihm in diesem Zeitpunkt gar nicht in den Sinn, dem Kameraden zu helfen, was bei einem Arzt besonders auffallen muß. Auch aus anderen Fällen ist bekannt, daß sich geistig und sittlich hochstehende Menschen nach miterlebten Katastrophen (Erdbeben, Eisenbahnunglücken) völlig gleichgültig für die Leiden der Mitmenschen zeigen und sich mit kindisch-nichtigen Gedanken beschäftigen. Ferner wissen wir, daß Ereignisse, die sich u n m i t t e l b a r v o r dem Unfall abspielen, selbst von den unverletzt Gebliebenen regelmäßig nicht richtig wiedergegeben werden können. Ein anschauliches Beispiel hiefür bietet die ausführliche Darstellung des Autounfalles, den Prinz Heinrich von Preußen im August 1911 bei Cloppenburg dadurch erlitt, daß der von ihm gelenkte Benzwagen infolge Versagens der Lenkung gegen einen Baum raste; hier gingen die Aussagen des Prinzen und seiner Begleiter über ein angeblich entgegengekommenes Fahrzeug auseinander2). Bei dem Eisenbahnunglück, das sich im November 1912 auf der elektrisch betriebenen Bahnstrecke bei Bozen zutrug, behauptete der schwer verletzte, aber vom Arzt als vernehmungsfähig bezeichnete Bremser, die Ursache des Unglücks sei ein Kind gewesen, das unmittelbar vor dem Zug über den Bahnkörper sprang; in Wirklichkeit hatte er diese Szene einige Monate vorher gesehen, als er auf der gleichen Strecke mit einem Zug als Bremser mitgefahren war8). Um die Aussagen der Beteiligten eines Verkehrsunglücks richtig würdigen zu können, ist es aber auch nötig, daß sich der U. überhaupt mit der P s y c h o l o g i e des W a g e n l e n k e r s vertraut macht. Dazu ist in erster Linie erforderlich, daß er selbst Wagenlenker ist und die verschiedenen seelischen Abläufe in Gefahrsituationen an sich selbst erlebt und beobachtet hat. Es wird daher heute mit Recht verlangt, daß nicht bloß die erhebenden Organe der Verkehrspplizei und der Staatsanwalt, sondern auch die zur Aburteilung des Schuldigen berufenen Richter über entsprechende Sachkenntnisse verfügen. Die Zuziehung eines Sachverständigen, insbesondere eines Technikers, vermag diese Kenntnisse *) Veraguth, Zum Problem der traumatischen Neurosen, Vierteljahresschrift für gerichtliche Medizin, 3. Folge, Bd. 44 (1913). 2) Schütze in Archiv 47 S. 110. *) Linser in Archiv 56 S. 366.

Die Reaktionszeit

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keineswegs zu ersetzen, zumal die Erfahrung lehrt, daß der überwiegende Großteil der Autounfälle nicht durch technische Mängel des Fahrzeugs, sondern durch f e h l e r h a f t e s V e r h a l t e n d e r M e n s c h e n verursacht wird 1 ). Jedes solche ä u ß e r e fehlerhafte Verhalten setzt aber eine p s y c h i s c h e Fehlleistung voraus, sei diese schon in der Wahrnehmung und Auffassung, sei sie in der willensmäßigen Reaktion auf die Wahrnehmung gelegen. Als erster hat wohl Marbe, der schon im Jahre 1912 anläßlich des großen Prozesses wegen des Müllheimer Eisenbahnunglücks als psychologischer Sachverständiger zugezogen wurde und in seinem damals abgegebenen aussagepsychologischen Gutachten auch die psychischen Vorgänge beim Lokomotivführer und Heizer durch E x p e r i m e n t e a u f d e r L o k o m o t i v e eingehend untersuchte, das Problem in seiner großen Bedeutung erfaßt, die uns heute im Zeichen der Verkehrsintensivierung und des damit verbundenen Ansteigens der Verkehrsunfälle selbstverständlich erscheint. Auf ihn geht auch die Lehre von der „Schrecksekunde" zurück, die sehr bekannt wurde, auf die jedoch gerade dadurch in der Praxis der Verkehrsunfallaufklärung oft in mißverstandener Weise Bezug genommen wurde. Die sogenannte Schrecksekunde bedeutet eine Erweiterung der normalen Reaktionszeit, mit der sie nicht verwechselt werden darf. Unter R e a k t i o n s z e i t verstehen wir den Zeitabstand, der zwischen einem Reiz und der auf diesen erfolgenden „ A n t w o r t " (Reaktion) des Menschen liegt. Die beim Lenken eines Fahrzeuges notwendigen Reaktionen bestehen in Handlungen, die in bestimmter Weise je nach den wahrgenommenen „Reizen" (Sehen eines Verkehrshindernisses, Sehen eines Verkehrszeichens, Hören eines Signals usw.) vorzunehmen sind. Viele dieser Handlungen sind beim geübten Fahrer „automatisiert", d. h. sie werden ohne bewußte Überlegung ausgeführt, die betreffenden Willensimpulse kommen infolge der Einübung unmittelbar nach dem Erfassen des Reizes zustande. Bei a u ß e r g e w ö h n l i c h e n Reizen, die eine Ü b e r l e g u n g erfordern, e r h ö h t s i c h n a t u r g e m ä ß d i e R e a k t i o n s z e i t . Man hat schon seit langem die unter günstigsten Verhältnissen leistbaren Reaktionszeiten durch Laboratoriumsexperimente erprobt 2 ) und dabei unterschieden: e i n f a c h e Reaktionen, die bei Auftauchen eines bestimmten gleichbleibenden Reizes in einer schon festgelegten bestimmten Weise zu erfolgen haben (man unterscheidet unter ihnen wiederum „muskuläre" Reaktionen, die sofort beim ersten Erscheinen des Reizes vollzogen werden können und „sensorielle", wenn zur Ausführung der Reaktion die vorherige deutliche Erfassung des Reizes 1) v. Hentig, Unfallstatistik einer Großstadt, MschKr. 22 S. 569; vgl. zum folgenden Marbe, Die gerichtspsychologische Begutachtung von Autounfällen und die Eignung zum Chauffeur, Leipzig 1932; Schneider-Lossagk, Verkehrsunfälle, Berlin 1935; Lossagk, Sinnestäuschung und Verkehrsunfall, Berlin 1937; Buhtz, Der Verkehrsunfall, Gerichtsärztlich-kriminalistische Beurteilung unter besonderer Berücksichtigung der Alkoholbeeinflussung, Stuttgart 1938 (mit ausführlichem Literaturverzeichnis). 2) Vgl. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, 6. Aufl. 3. B d . Leipzig 1911.

I2Ö

II. Abschnitt. Die Vernehmung.

notwendig ist); U n t e r s c h e i d u n g s r e a k t i o n e n , die nur bei Auftauchen eines bestimmten unter mehreren verschiedenen Reizen ausgeführt werden dürfen, so daß vorher die Reize unterschieden werden müssen; W a h l r e a k t i o n e n , bei denen auf je einen der verschiedenen Reize eine jeweils andere Reaktion auszuführen ist, was bereits eine gewisse Überlegung erfordert. Unter den bereits erwähnten günstigen Verhältnissen im Laboratorium ergeben sich hierfür folgende Zeiten 1 ): Die mittlere Reaktionszeit beträgt bei der einfachen muskulären Reaktion auf akustische Reize 0,125 Sek. bei der einfachen muskulären Reaktion auf optische Reize . 0,175 „ bei der einfachen sensoriellen Reaktion auf akustische Reize 0,225 » bei der einfachen sensoriellen Reaktion auf optische Reize . 0,290 „ bei der Unterscheidungs- und Wahlreaktion auf einen einfachen akustischen Reiz a oder b . . . . 0,300—0,360 „ bei der Unterscheidungs- und Wahlreaktion auf einen einfachen optischen Reiz a oder b 0,365—0,425 „ bei der Unterscheidungs- und Wahlreaktion auf einen optisch dargebotenen Buchstaben oder ein kurzes Wort 0,385—0,445 „ bei den Wahlreaktionen mit 10 verschiedenen Bewegungen auf 10 verschiedenen Zahlzeichen . . 0,650 „ Es ist selbstverständlich, daß im wirklichen Verkehrsleben auch beim besten und nüchternsten Wagenlenker alle diese Reaktionszeiten durchschnittlich viel länger sind, was sich aus mehreren Ursachen erklärt: im Laboratoriumsversuch ist man schon auf eine bestimmte Art von Reizen eingeübt, man kennt auch bald den Ort, wo der oder die Reize erscheinen, die geforderten Reaktionen sind auch bei der zehnfachen Wahlreaktion doch noch viel schematischer als bei der Mannigfaltigkeit der Lebenssituationen; die im Verkehrsleben unvermeidbare Ermüdung, die zufälligen Ablenkungen durch Lärm, optische Eindrücke u. ä. fallen im Laboratorium meist weg. Vor allem aber ist die innere Einstellung der Versuchsperson notwendig eine andere: diese kann und soll darauf gerichtet sein, einfach m ö g l i c h s t schnell die geforderten Reaktionen auszuführen. Ein Autolenker jedoch, der stets nach diesem Grundsatz verführe, würde einem aufgeregten Neuling gleichen und erst recht große Gefahren herbeiführen; bei ruhiger Überlegung aber, die gerade in schwierigen Verkehrssituationen oft unbedingt nötig ist und bei aller gebotenen Raschheit des Handelns den verantwortungsvollen Fahrer kennzeichnet, erfordert eine solche Wahlreaktion naturgemäß eine längere Zeit. Darüber hinaus darf freilich nicht gezaudert werden. In den mannigfaltigen Situationen des wirklichen Verkehrslebens kommen aber oft noch weitere Umstände hinzu, durch die eine V e r l ä n g e r u n g der R e a k t i o n s z e i t eintritt. Schon im Experiment läßt *) Nach den Wimatechen Ergebnissen, zusammengestellt von Marbe, Die gerichtspsychologische Begutachtung von Autounfällen, S. 53.

Die sogenannte Schrecksekunde.

127

sich nachweisen, daß die Reaktionszeit be bekannten, erwarteten Reizen kürzer ist als bei unbekannten, außergewöhnlichen Reizen: die durch ein solches Ü b e r r a s c h u n g s m o m e n t bewirkte Verlängerung kann (nach Marbe) als „Überraschungszeit" bezeichnet werden. Ist aber gar dieser überraschend wirkende Eindruck besonders gefühlsbetont, wie dies insbesondere bei jäh auftauchenden Gefahrsituationen der Fall ist, so tritt eine S c k r e c k w i r k u n g ein und die dadurch bewirkte Verlängerung der Reaktionszeit ist dasjenige, was man gemeiniglich als „Schrecksekunde" bezeichnet. Ihre Größe schwankt naturgemäß nach der Stärke der ausgelösten Affektwirkung und der persönlichkeitsbedingten und daher individuellen Erregbarkeit (Schreckhaftigkeit) und braucht daher keineswegs genau eine Sekunde zu betragen. Ein Ü b e r m a ß individueller Schreckhaftigkeit und die durch eine solche bedingte a b n o r m e Verlängerung der Reaktionszeit vermag selbstverständlich k e i n e Entlastung für die Schuld des Betreffenden zu bilden, da von jedem Verkehrsteilnehmer verlangt werden muß, daß er auch in plötzlich auftauchenden gefährlichen Situationen nicht den Kopf verliert und zu zweckmäßigen Reaktionen nicht bedeutend länger braucht, als es eben von einem entsprechend geübten Fahrer im Durchschnitt verlangt werden kann. Eine individuelle Veranlagung, durch die alle Schreckzeiten bedeutend länger sind als beim Durchschnittsfahrer, kommt somit einer Unfähigkeit zum Lenken eines Kraftfahrzeuges gleich. Nur innerhalb der dadurch gegebenen Beschränkung ist daher die Schrecksekunde zur sonstigen Reaktionszeit, die sich für den betreffenden Fall nach den obigen Richtlinien ergibt, hinzuzurechnen. Ein weiterer Umstand, durch den die Reaktionszeit verlängert werden kann, liegt oft in der Undeutlichkeit der Wahrnehmung zu Beginn des Reizes. Wir haben schon oben 1 ) der Erscheinung gedacht, daß im Nebel entgegenkommende Fahrzeuge größer, aber weiter entfernt erscheinen, als es der Wirklichkeit entspricht. Hiehergehören aber auch noch zahlreiche andere Situationen, in denen durch Blendwirkung, Schattenwirkung, Verringerung der Auffälligkeitswerte des Gefahrenzeichens infolge ungünstiger Beleuchtung, perspektivische Wirkung des Straßenrandes, Ungunst der Örtlichkeit überhaupt usw.2) der Reiz, auf den reagiert werden soll, verspätet ins Bewußtsein tritt. Genau genommen handelt es sich hier nicht um eine Verlängerung der Reaktionszeit selbst, wenn wir diese erst von Beginn der Auffassung des Reizes rechnen, sondern um eine Verlängerung der Auffassungszeit vor Beginn der Reaktionszeit. Rechnet man aber — wie in der Praxis üblich — die Reaktionszeit von Beginn des objektiven Reizes, so kommt auch ein solcher Fall einer Verlängerung der Reaktionszeit gleich. Die praktische Bedeutung der sich daraus im Einzelfall ergebenden Gesamtreaktionszeit (Reizauffassungszeit -f- Reaktionszeit im engeren Sinn -f allfällige „Schrecksekunde") ergibt sich aus einfachen Bei») S. 90. Lehrreiche Beispiele bei Lossagk

s)

a. a. O.

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I I . Abschnitt. Die Vernehmung.

spielen. Wenn ein Autolenker ein plötzlich auftauchendes Hindernis wahrnimmt, so braucht er im günstigsten Fall eine halbe Sekunde bis er reagiert, d. h. ausweicht, bremst oder sonst etwas tut. Ergibt sich aber die Notwendigkeit einer Überlegung, z. B. ob er ausweichen soll oder etwa besser tut, zu bremsen usw., so ist die Reaktionszeit verlängert. Nehmen wir eine Fahrgeschwindigkeit von 60 km in der Stunde an, so kommt auf die erste erwähnte kürzeste Reaktionszeit von einer halben Sekunde eine Strecke von 8,3 m, d. h. der Autolenker kann auf ein Hindernis, welches er auf geringere Entfernung als 8,3 m wahrnimmt, überhaupt nicht mehr reagieren. Beträgt aber die Gesamtreaktionszeit infolge zuerst undeutlicher Wahrnehmung oder „Schrecksekunde" eine ganze Sekunde und hatte das Fahrzeug — z. B. auf der Autobahn — eine Geschwindigkeit von 120 km in der Stunde erreicht, so verlängert sich die kritische Strecke auf 33,3 m, innerhalb welcher der Wagenlenker auf kein Hindernis rechtzeitig reagieren kann. Diese der Gesamtreaktionszeit entsprechende Strecke können wir als „Reaktionsweg" bezeichnen. Erst n a c h Zurücklegung dieser Strecke b e g i n n t im günstigsten Fall die Wirkung der Reaktion, z. B. des Bremsens oder des Ausweichens, und erst von da an ist die Strecke zu rechnen, die der Wagen noch bis zur Erreichung des angestrebten Erfolges (Stillstand oder Verlegung der Fahrbahn) braucht 1 ). Daher ist z. B. die Gesamtstrecke, die ein Wagen vom Eintritt eines plötzlichen Hindernisses bis zum Stillstand notwendig braucht, gleich Reaktionsweg + Bremsweg. Diese Verhältnisse, die für den tüchtigen Durchschnittsfahrer im Normalzustand gelten, verändern sich aber sofort, wenn die schon oben beschriebenen2) Wirkungen der a k u t e n A l k o h o l v e r g i f t u n g eintreten. Die Verschlechterung der Wahrnehmungsfähigkeit, insbesondere des Gesichtsumfanges und des Farbenunterscheidungsvermögens, sowie die Herabsetzung der Aufmerksamkeit, die schon bei verhältnismäßig leichter Trunkenheit eintritt 3 ), bedeutet bereits eine schwere Beeinträchtigung der Fahrsicherheit. Hiezu kommt bei höheren Trunkenheitsgraden eine V e r l ä n g e r u n g der R e a k t i o n s z e i t und zwar insbesondere gegenüber u n v e r m u t e t auftauchenden Reizen. Hier nützt auch die G e w ö h n u n g a n r e g e l m ä ß i g e n A l k o h o l g e n u ß , auf die sich solche Fahrer oft berufen wollen, n i c h t s . Eine regelmäßig unter Alkoholwirkung ausgeübte Tätigkeit wird allerdings durch die erwähnten Wirkungen niederer Trunkenheitsgrade kaum oder nur in geringem Maße beeinträchtigt; aber zur Ausführung einer u n g e ü b t e n Tätigkeit ist der trunkene Alkoholgewöhnte ebenso unfähig wie der Ungewöhnte 4 ). Und gerade Beim Bremsen läßt sich diese Strecke, der sogenannte Bremsweg, auch aus der Spur des Fahrzeuges (der Bremsspur) feststellen, da v o m Augenblick der wirksamen B e t ä t i g u n g der Bremsen die blockierten R ä d e r eine Schleifspur hinterlassen (siehe darüber unten A b s c h n i t t X I I I ) . *) S. 1 1 5 . 8) Behrens, Besteht eine Parallelität zwischen Blutalkoholkonzentration und Auffassungsfähigkeit? Diss. G ö t t i n g e n 1937. 4) H. Elbel, Blutalkoholkonzentration und Alkoholwirkung, Ztschr. f. d. ges. ger. Medizin 28 S. 64.

Fahrsicherheit und Blutalkoholgehalt.

in unvermutet auftauchenden Gefahrsituationen, wie sie das Verkehrsleben mit sich bringt, handelt es sich darum, eine u n g e ü b t e Tätigkeit rasch und zweckentsprechend zu entfalten. Schließlich machen sich — und zwar gerade im scheinbar harmlosen Zustand des „Angeheitertseins" — noch die Alkoholwirkungen auf das G e f ü h l s - und W i l l e n s leben ungünstig geltend: die gehobene Stimmung führt zu einer optimistischen Überschätzung der Leistungsmöglichkeit, Gefahrmomente werden nicht ernst genommen, die Anregung der Willenstätigkeit führt zur Neigung, unverantwortliche Rekordleistungen zu erbringen, um damit renommieren zu können. Dies führt zu übermäßigen Fahrgeschwindigkeiten, Schneiden der Kurven, waghalsigem Überholen anderer Fahrzeuge und ähnlichen Verhaltungsweisen, auf die ein Großteil der Verkehrsunfälle zurückzuführen ist. Durch die Widmarksehe Methode der Feststellung des B l u t a l k o h o l g e h a l t e s ist es in den letzten Jahren möglich geworden, durch eine Untersuchung des Fahrers nach dem Unfall einen ziemlich sicheren Rückschluß auf den Grad seiner Trunkenheit zu ziehen1). Eingehende Untersuchungen zahlreicher Forscher {Graf, Müller-Heß, Buhtz, Sachsenberg, H. Bauer)2) lassen uns die Grenzwerte erkennen, bei denen eine Beeinträchtigung der Fahrsicherheit regelmäßig oder stets eintritt. Die Reaktionszeiten sind schon bei einem Blutalkoholgehalt von 1,2 pro Mille durchschnittlich um 150% verlängert. Besonders wichtig sind aber jene Ergebnisse, die sich nicht auf Laboratoriumsleistungen stützen, sondern unmittelbar die Fahrsicherheit von Kraftfahrern zum Gegenstand nahmen. Sachsenberg3) hat durch Versuche mit 16 Durchschnittsfahrern folgende Werte gefunden: es erwiesen sich als ungeeignet zur Führung eines Kraftwagens bei 0,2 pro Mille Alkoholgehalt 20% der Versuchspersonen 0,4 „ „ „ 40% „ 0,5 „ „ „ 49% „ „ 0,6 „ „ „ 58% „ 0,7 „ „ „ 66% „ „ 0,8 „ „ „ 75% „ „ 0,9 „ „ „ 80,5% „ 1.0 „ „ „ 87,5% „ 1.1

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Das bedeutet praktisch: bereits nach Einnahme von 2 bis 3 Flaschen Bier, die einen Blutalkoholgehalt von 0,5 pro Mille bewirken, konnte die *) schnitt 2) Buhtz, 3)

Über die Technik und den Beweiswert dieser Methode s. unten A b I V S. 279 ff. S. die ausführlichen Literaturangaben im Schrifttumsverzeichnis bei Der Verkehrsunfall, Stuttgart 1938. Hitgeteilt von Buhtz a. a. O.

G r o ß - S e e l i g , Handbuch. 8. Aufl.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

Hälfte der Kraftfahrer nicht mehr sicher fahren. Nach dem Genuß von 2 Flaschen mittelschweren Rheinweins (was einem Blutalkoholgehalt von etwa 1,4 bis 1,5 pro Mille entspricht) ist niemand zur Führung eines Kraftwagens geeignet. Daher nehmen auch die deutschen Gerichte bereits auf Grund des Blutalkoholbefundes bei einem Gehalt von 1,5 pro Mille s t e t s Fahruntüchtigkeit an, während bei kleineren Werten, insbesondere unter 1 pro Mille, die Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit noch i n d i v i d u e l l zu prüfen ist1). Besonders lebensnah und interessant sind die Versuche, die H. Bauer mit g e ü b t e n Motorradfahrern, die außerdem an Alkohol gew ö h n t waren, vorgenommen hat. Die Versuchspersonen mußten auf einem 30 cm breiten, mit Kreide bezeichneten Streifen fahren, ohne seitlich abzuweichen, ferner zwei Links- und zwei Rechtskurven mit einem Durchmesser von je 8 m nehmen und schließlich mußten sie beim Aufleuchten von Richtungsanzeigern unverzüglich nach rechts oder links abbiegen, wobei die dazu benötigte Zeit durch einen elektrischen Kontakt gemessen wurde, der automatisch durch das Überfahren einer bestimmten Stelle geschlossen wurde. Aus diesen Versuchen ergab sich, daß die Fahrsicherheit sämtlicher Fahrer bei einem Blutalkoholgehalt von 0,7 bis 0,9 pro Mille bereits erhebliche Schädigungen aufwies. Auf Grund dieser Ergebnisse muß daher von jedem Kraftfahrer verlangt werden, daß er auch geringere Trunkenheitsgrade, die einem Blutalkoholgehalt von 0,5 bis 1,0 pro Mille entsprechen, unbedingt vermeidet und sich auch nach Genuß kleiner Alkoholmengen, z. B. einer Flasche Bier oder eines Glases Wein, selbst prüft, ob er seine volle Fahrsicherheit besitzt2). In Gegenden, in denen die Bevölkerung an einen regelmäßigen Bier-, Most- oder Weingenuß gewöhnt ist, wird es gewiß Fahrer geben, bei denen nach dem Genuß solcher g e r i n g e r Mengen überhaupt keine Alkoholwirkung festzustellen ist. Und in solchen Fällen, aber auch nur bis zu dieser Grenze, kann der Genuß alkoholischer Getränke zugestanden werden3). Viele Autoren gehen allerdings noch weiter und verlangen, wie z. B. Buhtz, vom Kraftfahrer überhaupt völlige Alkoholenthaltsamkeit. S c h w e r e R a u s c h z u s t ä n d e , die bereits mit herabgesetzter Willenstätigkeit, Schlafsucht und Lähmung der Auffassungs- und Urteilstätigkeit einhergehen, kommen bei Fahrzeugführern in der Praxis des Verkehrslebens nur sehr selten vor, da in solchen Fällen der Berauschte meist selbst fühlt, daß er nicht fahren kann, oder überhaupt unfähig ist, das Fahrzeug in Bewegung zu setzen. Doch kann ausnahmsweise . I n nordischen Ländern wird vielfach ein noch strengerer Maßstab angelegt. In Norwegen ist die Grenze, bei der ein verantwortungsvoller Fahrer nicht mehr fahren darf, auf 0,5 pro Mille Blutalkoholgehalt festgesetzt. 2) Über die Frage, inwieweit durch Gegenmittel, insbesondere Kaffee, eine Beeinträchtigung der Fahrsicherheit nach geringem Alkoholgenuß vermieden werden kann, s. unten S. 282. 8) In diesen Fällen liegen aber auch die Blutalkoholwerte — würde man sie feststellen — weit unter 0,5 pro Mille.

Abweichende Zeugenaussagen.

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der höhere Trunkenheitsgrad durch die fortschreitende Alkoholresorption im Blut erst während des Fahrens eintreten und dann durch Einschlafen am Volant oder völlige Fahrunsicherheit zu schweren Verkehrsunfällen führen. Solche schwere Rauschzustände kommen jedoch als Verkehrsunfallursachen viel häufiger bei Fußgängern in Betracht, die infolge ihrer Trunkenheit in die Fahrbahn torkeln oder einen herannahenden Wagen überhaupt nicht bemerken. d) V e r s c h i e d e n h e i t der A u s s a g e n g e m ä ß der v e r s c h i e d e n e n N a t u r und K u l t u r des B e o b a c h t e n d e n . Die größte Schwierigkeit für den U. in bezug auf Vernehmung von Zeugen besteht in der Wertschätzung einer Zeugenaussage. Wer diese nur nach der größeren oder geringeren Glaubwürdigkeit eines Zeugen vornimmt und sich hierbei nur an das amtliche Leumundszeugnis hält, das allenfalls für den Zeugen eingeholt wurde, der wird freilich nur Formulare ausfüllen, er führt aber keine Untersuchung. Dies tut nur, wer sich vorerst in mühevoller Arbeit Klarheit darüber verschafft, wie verschieden derselbe Vorgang von verschiedenen Leuten aufgefaßt wurde1), der dann sicherzustellen sucht, worin die Unterschiede der Auffassung bestehen, und welcher Gruppe von Menschen bestimmte Arten von Auffassung gemeinsam sind. Hier liegt viel Material vor, in jeder Untersuchung, bei jeder Vernehmung ist es zu finden, und die Verwertung dieses Materials muß positive und allgemein verwertbare Ereignisse zutage fördern. Glücklicherweise ist jetzt das Interesse für diese Fragen lebhaft rege und wir können hoffen, daß sich diese Erfahrungen zu einer völlig sicheren Disziplin ausgestalten werden2). Das Wichtigste in dieser Beziehung ist, wie schon erwähnt, die Feststellung, daß Zeugen, die zweifellos die Wahrheit sagen wollten, verschieden ausgesagt haben, obwohl sie dasselbe hätten sagen müssen, wenn sie genau beobachtet hätten. Hat man dies sichergestellt, so handelt es sich um die Eruierung des Umstandes, w a r u m die Leute verschieden ausgesagt haben. Hier beginnt der U. am besten mit der Untersuchung, ob er daran nicht etwa selbst durch ungeschicktes und ungleichmäßiges Vorgehen die Schuld trage. Er erwäge vor allem, ob er nicht vom Zeugen mehr verlangt hat, als er verlangen sollte. Es liegt nicht in der Natur jedes Menschen, die Dinge mit besonderer Genauigkeit anzusehen, und wenn man etwas nicht bemerkt hat, so hilft hundertmaliges Fragen auch nichts. Hierzu kommt noch, daß der Umstand, der jetzt im Prozeß maßgebend wurde, häufig damals, als er vom Zeugen beobachtet wurde, ihm unmöglich wichtig scheinen konnte. Die Wichtig') S. darüber oben S. 84 ff. 2) Diesem Interesse entsprach es auch, daß auf der 3. Tagung der Kriminalbiologischen Gesellschaft (München 1930) die Fragestellung „Persönlichkeit und Aussage" zum Gegenstand zweier Korreferate von Marbe und Seelig gemacht wurde (Mitteil. d. Kriminalb. Ges. III. Bd. S. 89 u. 107). Diese Korreferate geben einen systematischen Überblick über die Entwicklung dieses Problems bis 1930. 9*

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

keit wurde erst hintendrein entdeckt und der U., der diese jetzt freilich zu ermessen weiß, vermag sich oft nicht auf jenen Standpunkt zurückzuversetzen, auf welchem der Zeuge zur Zeit der Wahrnehmung stand, als für ihn die Sache keinen Wert haben konnte. Der Zeuge hat z. B. einen Mann aus dem Hause treten gesehen und ihn so angeschaut, wie man jeden Begegnenden anzusehen pflegt, nämlich nur „mit halbem Auge". Wenn nun später festgestellt wird, daß der Mann damals im Hause ein großes Verbrechen verübt hat, so quält man den unglücklichen Zeugen mit Fragen und will mit Gewalt etwas erfahren, was er eben nicht weiß: „Sie werden doch wenigstens gesehen haben, ob — " , „Aber das eine werden Sie denn doch wissen, daß — " , und so geht es fort, bis man im günstigsten Falle zum Schlüsse nicht mehr weiß als am Anfange, im schlimmsten Falle aber etwas Falsches herausgepreßt hat. Waren nun mehrere Zeugen da, die dasselbe gesehen haben und Verschiedenes aussagen, so können dafür zwei Gründe vorhanden sein: entweder hat man die Leute nicht gleichmäßig verhört, oder man hat es getan, hat aber die Veschiedenheit der Zeugen nicht berücksichtigt. Im ersteren Falle verhält es sich gewöhnlich so, daß man mit dem ersten Zeugen noch ruhig verfuhr und es mit Geduld hinnahm, daß er zu wenig wußte, da man sich mit dem Gedanken tröstete, die anderen Beobachter der Sache wüßten wohl Genaueres. Je mehr Zeugen, die auch nicht viel wissen, nun vernommen werden, desto mehr schwindet die Hoffnung, Eingehenderes zu erfahren, desto ungeduldiger und dringender wird das Verhör, desto mehr sagen die Zeugen allerdings auch aus, desto geringer wird aber auch die Richtigkeit des Angegebenen. Vergleicht man dann das Niedergeschriebene, so stimmt freilich keine Beobachtung mit der anderen, aber nur deshalb, weil die einzelnen Zeugen verschieden gepreßt wurden; es liegt also nicht falsche Beobachtung der Zeugen, sondern falsche Vernehmung durch den U. vor. Hiermit soll natürlich nicht gesagt werden, daß der U. lässig und trocken vernehmen solle, denn viele Leute, namentlich Landleute, wissen am Anfange einer Vernehmung meistens „rein gar nichts" und lassen sich die wichtigsten Daten nur mühsam abfragen. Zwischen sorgsam und genau Fragen und zudringlich Herauspressen besteht ein großer Unterschied. Hat man nun aber die Leute wirklich gleichmäßig im Verhöre behandelt und doch verschiedene Beobachtungen mitgeteilt erhalten, dann liegt verschiedene Wahrnehmung infolge verschiedenen Standpunktes usw. der Zeugen oder aber wirklich Verschiedenheit in deren Wesen vor. Nicht immer ist das aber auf Verschiedenheit in der Auffassung und Verarbeitung des Aufgefaßten zurückzuführen, sondern es kann die Ursache hiervon erst im Zimmer des U. entstanden sein. Gleichwohl ist dies für die psychologische Beurteilung des Zeugen wichtig. Es kommt nämlich häufig vor, daß Zeugen aus irgendeinem Grunde glauben, sie sollen selbst zur Verantwortung gezogen werden, sei es,

Ängstliche und phantasievolle Zeugen.

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daß sie befürchten, es ruhe der Verdacht der Täterschaft auch auf ihnen, sei es, daß sie sich irgendeiner Unterlassung schuldig fühlen, wodurch die Tat erleichtert wurde, sei es, daß sie meinen, man beschuldige sie eines Einverständnisses mit dem Täter usw. In allen diesen und hundert anderen Fällen werden sie bei allem gutem Willen, doch die Wahrheit zu sagen, immer so sprechen, wie sie es ihrer Lage nach für zweckmäßig halten. Sie werden das, was sie zu sagen haben, anders betonen, anders anordnen, vielleicht auch etwas verschweigen, und wenn der U. in solchem Falle genau aufmerkt, wie diese Zeugen gesprochen haben, so kann er sich eine Gruppe von Leuten bilden, die unrichtig aussagen: die der Ängstlichen, stets Schuldbewußten und Unsicheren. In arge Verwirrung kann der U. sich und die Untersuchung bringen, wenn er selbst etwas phantasievoll ist und mit einem gleichbegabten Zeugen zu tun hat, der in der Sache einiges weiß. In solchen Fällen kommt es oft vor, daß der U. kühne Kombinationen macht und sie dem Zeugen mitteilt. Dieser geht seiner Individualität gemäß auf die Kombinationen des U. gerne ein und ergänzt einiges. Der U. benützt das zu weiteren Konstruktionen, einer steigt abwechselnd auf den Schultern des andern in die Lüfte und zuletzt weiß der U. nicht mehr, was ihm der Zeuge als Beobachtung mitgeteilt hat, der Zeuge kann nicht mehr unterscheiden, was er vor seiner Vernehmung wußte und was er mit dem U. zusammen erschlossen hat, und endlich kommt eine protokollarische Aussage zustande, an welcher manches nur Phantasieerzeugnis des U. und des Zeugen ist. Man glaube nur ja nicht, daß ein ehrlicher Zeuge denn doch stets bei der Wahrheit bleiben werde. Was leicht erregbare, oft vorzüglich veranlagte Leute durch Phantasie zu leisten vermögen, erreicht das Unglaubliche. Auch vergesse man nicht, daß in solchen Fällen jeder der zwei Beteiligten sich an die Autorität des andern anklammert: der U. an die des Tatzeugen, der die Sache ja gesehen hat, der Zeuge an die des U., der doch das Gesetz kennen muß. So imponiert einer dem anderen und jeder findet in der Autorität des anderen ein erwünschtes Mittel, um, wie er es ja gerne tut, seiner Phantasie freien Lauf lassen zu können und ihre Richtigkeit noch bestätigt zu finden. Man beobachte einmal zu eigener Belehrung, wie leicht es gelingt, phantasievolle, erregbare Leute dazuzubringen, daß sie Dinge erzählen, die sie niemals gesehen oder gehört haben, ohne daß man schon Suggestion annehmen muß; beim besten Willen, genau bei der Wahrheit zu bleiben, brechen sie bei der ersten Gelegenheit rechts und links aus und wissen zuletzt nie mehr, was Erlebtes oder Eingebildetes war. Mit solchen Leuten kann der U. nicht vorsichtig und trocken genug sein, namentlich dann, wenn er in sich selbst viel Phantasie entdeckt hat. Fast das Gegenteil von dem eben Besprochenen hat der U. zu tun, wenn ihm ein trockener, einsilbiger Zeuge unterkommt, der lediglich aus Gleichgültigkeit gegen die Sache gerade nur das sagt, was er unbedingt sagen muß. Ich bin weit entfernt davon, zu behaupten, daß man

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

in einem solchen Falle an dem Zeugen so lange drehen und schrauben muß, bis man das Nötige von ihm erfährt, sondern ich glaube, das einzige Mittel, in einem solchen Falle zum Ziele zu kommen, besteht darin, daß man den Zeugen mit sich fortreißt, daß man ihn seinen eigenen Eifer, sein eigenes Interesse an der Sache sehen läßt, ihm klarlegt, was in der Sache gearbeitet wurde, welchen Wert sie besitzt und was davon abhängt, daß der Zeuge a l l e s sagt, a l l e s wahrheitsgetreu erzählt. Allmählich erwärmt sich auf diese Weise jeder, wenn er anfängt, den U. und seine Sache zu begreifen, und ist es gelungen, den Zeugen so weit zu bringen, dann findet er es der Mühe wert, genauer nachzudenken, sich zu erinnern und das mitzuteilen, an was er sich langsam erinnert. Hierdurch kann der U., allerdings mit Mühe, aus einem gleichgültigen Zeugen die wichtigsten Aussagen gewinnen. Und so muß man zuerst immer feststellen, welcher Natur der Zeuge ist, den man im Augenblicke vor sich hat, und ihn dann so behandeln, wie es seiner Natur entspricht. Aber nicht bloß Geistes- und Gemütsanlage sind zu beachten, sondern auch die Berufsstellung des Zeugen, seine Stammeszugehörigkeit, Weltanschauung usw. ist von großer Bedeutung 1 ). Ohne die Unwahrheit sagen zu wollen, läßt sich ein guter Teil von Menschen auch in den wichtigsten Momenten von religiöser, politischer, sozialer Einstellung angefangen bis hinab zu Familien-, Freundschafts-, Standes-, vielleicht sogar Vereinsrücksichten mehr oder weniger stark beeinflussen2), er w i l l manches nicht sehen oder hören, und sieht und hört es dann anders, und so kann aus einem Zeugen, der seiner Natur nach ein Belastungszeuge wäre, ein Entlastungszeuge werden und umgekehrt. Häufig wird es geschehen, daß sich der U. auf eine befremdende Antwort eines Zeugen veranlaßt sieht, nach gewissen persönlichen Verhältnissen des Zeugen zu fragen, wonach die Angaben des Zeugen ganz anders zu beurteilen sind als zuvor 3 ). Über die Bedeutung, die auch die äußeren Verhältnisse, in denen ein Mensch aufwächst, für sein Seelenleben (und dadurch mittelbar auch für seine Aussageleistungen) haben vgl. W. Hellpach, Die geopsychischen Erscheinungen, (Wetter, K l i m a und Landschaft in ihrem Einfluß auf das Seelenleben) 4. A u f l . 1934; derselbe, Psychologie der Umwelt, Berlin 1924; P. Plaut, Aussage und Umwelt in Sittlichkeitsprozessen, Halle 1929; außerdem spielen biologische Tatsachen und zwar auch mannigfache krankhafte Zustände (abgesehen von den eigentlichen Geisteskrankheiten und der im nächsten Kapitel behandelten pathologischen Lügenhaftigkeit) eine erhebliche Rolle. Vgl. Hoche-Finger, Zur Frage der Zeugnisfähigkeit geistig abnormer Personen, Jurist.-psych. Grenzfragen, I. Bd. H. 8; Placzek, Experimentelle Untersuchungen über die Zeugenaussage Schwachsinniger, Archiv 18 S. 12; K. Boas, Materialien zu einer Pathologie der Zeugnisfähigkeit, Archiv 40 S. 216 (Zeugnisfähigkeit von Stotterern!); O, Mönkemöller, Psychologie und Psychopathologie der Aussage, Heidelberg 1930. 2) Maria Zillig, Einstellung und Aussage, Ztschr. f. Psychologie 106 S. 58, h a t dies in sehr beachtlichen, lebensnahen Versuchen an Schulkindern und Erwachsenen experimentell erwiesen. 3) D a der U. aus prozeßökonomischen Gründen nicht bei j e d e m Zeugen schon von vornherein eine eingehende Untersuchung seiner Persönlichkeit vornehmen kann, muß zunächst der Aussageinhalt selbst für den U. das Signal

Wert der Kinderaussage.

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Wichtig ist endlich A l t e r und G e s c h l e c h t eines Zeugen. Man kann natürlich nicht behaupten, in welchem Alter die Zeugen am zuverlässigsten, in welchem am unverläßlichsten sind; alles andere, was den Menschen ausmacht, seine Natur und Kultur sind ja ebenso und noch mehr maßgebend, aber gewisse Erfahrungssätze lassen sich denn doch im Laufe der Zeit aufstellen. In bestimmter Richtung sind K i n d e r 1 ) , etwa bis zum Alter von d a f ü r sein, wann und in welcher Richtung er die Persönlichkeit des Zeugen näher zu erforschen hat. Dafür bietet ihm der A u s s a g e t y p einen ersten Hinweis. Nach Seelig (oben S. 74) kann man unterscheiden: 1. den beschreibenden Aussagetyp (der wiederum in die Formen des komplexiv-beschreibenden und des analytisch-beschreibenden T y p s zerfällt); 2. den Aussagetyp der abschweifend-assoziativen Verknüpfung; 3. den emotionalen Aussagetyp (der wiederum in zwei Formen auftritt: als einfühlender und als wertender Typ). A b e r erst die Inbeziehungsetzung des vorliegenden A u s s a g e t y p s mit dem P e r s ö n l i c h k e i t s t y p d e s A u s s a g e n d e n vermag uns die Aussage in ihren tieferen biologischen Zusammenhängen verstehen zu lassen. Ich bemerke, daß mich die vielen Behauptungen, welche in letzter Zeit über den Unwert von Kindern als Zeugen aufgestellt wurden, nicht irre machen. Ich glaube, daß diese Ansichten so entstanden sind, daß die Beobachter ihre Versuche an Kindern, nur an Kindern oder hauptsächlich an Kindern, und dabei die Erfahrung gemacht haben, daß sich diese Versuchspersonen vielfach irren. Dann schloß man: „ K i n d e r als Zeugen sind wenig verläßlich". Das ist j a richtig, a b e r m i t E r w a c h s e n e n i s t es e b e n a u c h s o , und jene Experimentatoren haben nur den schon bekannten Satz bestätigt, daß Zeugenaussagen ü b e r h a u p t mit Vorsicht aufgenommen werden müssen; ihr W e r t wurde von jeher vielfach überschätzt und erst nach und nach kommen wir auf die richtige, sehr bescheidene Bewertung von Zeugenaussagen, die durch nichts anderes unterstützt sind. W i r können Aussagen nur relativ werten, und wer praktisch g e ü b t ist, Kinder zu vernehmen und hierbei richtig vorgeht, wird mir endlich doch zustimmen: in g e w i s s e r Richtung sind Kinder v e r h ä l t n i s m ä ß i g noch die besten Zeugen. Wiederholt und genau ausgeführt habe ich meine Stellung zu der Frage in Archiv 32 S. 262 (als Gegenschrift zu Baginsky, Die Kinderaussage vor Gericht, Berlin 1910). Vgl. außerdem die oben S. 73f. angeführte aussagepsychologische Literatur; ferner O. Michel, Die Zeugnisfähigkeit der Kinder vor Gericht, Pädag. Magazin, H. 312 (1907); Mohr, Kinder vor Gericht, 2. Aufl., Berlin o. J.; F. Siemens, Zur Psychologie der Aussage, insbesondere v o n Kindern, MschrKr. 2 S. 698; W. Stern, Mehr Psychologie im Vorverfahren v o n Sittlichkeitsprozessen! MschrKr. 19 S. 8; W. Bahn, Justizirrtum und Kinderaussage, MschrKr. 10 S. 434; O. Selz, Ein Schulbeispiel zur Frage der Würdigung jugendlicher Zeugenaussagen, MschrKr. 19 S. 641; Hirschberg, E i n Fehlurteil auf Grund unwahrer Kinderaussagen, MschrKr. 19 S. 670; Behrend, Die Zeugenaussagen von Kindern vor Gericht, MschrKr. 5 S. 307; G. Lelever, Zur Wertung von Zeugenaussagen, speziell kindlicher, Archiv 9 S. 194; A. Ledenig, Zur Frage der Zeugenwahrnehmung, Archiv 29 S. 238 (richtige Aussage eines 3 % jährigen Kindes!); Näcke, Zur Psychologie der Kinder als Opfer v o n Sittlichkeitsverbrechen, Archiv 32 S. 149; Buchholz, Zeugenaussagen, Archiv 35 S. 228; H. Groß, Zur Frage der Zeugenaussage, Archiv 36 S. 372; Mehl, Beiträge zur Psychologie der Kinderaussage, Archiv 49 S. 193; K. Marbe, E i n experimentelles Gerichtsgutachten über die Intelligenz und Glaubwürdigkeit eines erwachsenen Mädchens, Archiv 85 S. 1; H. Zingerle, Zur gerichtsärztlichen Beurteilung kindlicher Beschuldigungen, Archiv 74 S. 161; Kleinschmidt, Ein Fall von suggestiver Kindesaussage, Kriminalistik 1 S. 54; Wartenberg, Kinderaussagen in der Praxis des Strafrichters, Kriminalistik 1 S. 220; Beier, Ein Beitrag zur Psychologie der Kindesaussage, Kriminalistik 2 S. 59; Heiland, Vernehmung von Kindern und Jugendlichen in Strafsachen, Kriminalistik 3 S. 49; O. F. Krüger-Thimer, Das Traumerlebnis, ein Beitrag zur „ K i n d e r aussage", Kriminalistik 12 S. 108; A. Moll, Eine notwendige Kritik der forensischen Aussagepsychologie Sterns, Kriminalistik 1 S. 76; Charl. Meyer, Die Behandlung kindlicher und jugendlicher Zeugen bei Sittlichkeitsprozessen,

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

neun oder zehn Jahren, gute Zeugen. Liebe und Haß, Ehrgeiz und Falschheit, Religion und Stand, soziale Stellung und Geldbesitz sind ihnen noch fremd, falsche Auffassung infolge von Voreingenommenheit, nervöser Gereiztheit und langgeübter Gewohnheit kommt auch nicht vor, der Spiegel der gut gearteten Kindesseele zeigt ungetrübt und klar das, was sich vor ihm befindet. Freilich stehen diesen großen Vorteilen bei Verwertung einer Kinderaussage viele Nachteile entgegen. Der wichtigste ist gewiß der, daß wir uns niemals auf den Standpunkt stellen können, auf dem das Kind sich befindet, und wenn sich das Kind auch derselben Ausdrücke bedient wie wir, so v e r b i n d e t es d a m i t a n d e r e B e g r i f f e , j a s c h o n b e i der W a h r n e h m u n g e n t w i c k e l n s i c h die V o r s t e l l u n g e n im K i n d e a n d e r s a l s in E r w a c h s e n e n . Sogar die Begriffe von groß und klein, von rasch und langsam, von schön und häßlich, von weit und nahe sind im Kinderkopfe anders beschaffen als in unserem Hirn, nun erst ganze Vorgänge; für uns gleichgültige Vorgänge sind oft prächtig oder entsetzlich für das Kind, und was für uns herrlich oder tiefbetrübend ist, berührt das Kind nicht im mindesten. Welchen Eindruck etwas aber wirklich auf das Kind ausübt, das wissen wir nicht. Eine Schwierigkeit liegt ferner darin, daß der Horizont des Kindes überhaupt ein viel engerer ist als der unsere, so daß ein großer Teil des von uns Wahrgenommenen aus jenem Rahmen fällt, in dem das Kind überhaupt Wahrnehmungen machen kann. Wie groß dieser Rahmen ist, wissen wir nur in bestimmten Beziehungen: wir werden ein Kind nicht fragen, wie ein komplizierter Geschäftsbetrug vor sich gegangen ist, oder wie sich ein ehebrecherisches Verhältnis entwickelt hat, weil wir wissen, daß das Kind darüber nichts weiß. Aber in vielen anderen Beziehungen kennen wir die Grenze nicht, wo das Beobachtungsvermögen des Kindes anfängt. Wir finden es oft unerklärlich, daß das Kind dies und jenes nicht begreifen sollte 1 ), oft sind wir wieder überZtschr. f. d. ges. Strafrechtsw. 45 S. 126; A. Busemann, Psychologische Beobachtungen anläßlich eines Sexualprozesses mit jugendlichen Zeuginnen, Ztschr. f. angew. Psychologie 33 S. 388; / . Groß, Aussagepsychologische Untersuchungen an Kindern, Ztschr. f. angew. Psychologie 37 S. 438; M. Zillig, Typisches Verhalten kindlicher Zeugen bei wiederholter Aussage, Ztschr. für Psychologie 107 S. 366; M. Zillig, Experimentelle Untersuchungen über die Kinderlüge, Ztschr. für Psychologie 114 S. 1; G. Schierack, Über die Befähigung jugendlicher Zeugen zur Personenbeschreibung, Pädag. psychol. Arbeiten a. d. Inst. d. Leipz. Lehrervereins 17 S. 1; Wetzel, Zur Technik der Kindervernehmung, ebenda 18 S. 135; Müller-Heß a. Nau, Die Bewertung von Aussagen Jugendlicher in Sittlichkeitsprozessen, Jahresk. f. ärztl. Fortb. Jg. 1930 H. 9; Elisab. Nau, Art. „Zeugenaussagen von Kindern und Jugendlichen" im HdK. Allerdings muß man auch den Umstand in Rechnung ziehen, daß Kinder namentlich infolge des Unterschiedes von Stadt und Land oft Dinge nicht kennen, bei welchen es unbegreiflich erscheint, daß sie einem Kinde fremd sein sollen. Diesfalls irrt man sich selten in der Richtung, daß man bei Landkindern irrigerweise Kenntnis städtischer Verhältnisse voraussetzt. Sehr oft vergißt man aber, daß viele Großstadtkinder die gewöhnlichsten Dinge der freien Natur nicht gesehen haben. Ein Versuch in einer Hamburger Schule hat ergeben, daß von 120 Kindern im Alter von 10—16 Jahren •— also nicht etwa kleine Kinder, die wenig hinauskommen — n i c h t gesehen hatten:

Aussagen von Kindern und

Jugendlichen.

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rascht darüber, daß sich ein Kind in Dingen klar orientiert hat, die wir weit über sein Fassungsvermögen hinausreichend gehalten haben. Im allgemeinen dürfte aber der Irrtum unsererseits darin gelegen sein, daß wir dem Kinde zu w e n i g zutrauen. Ich habe selten gefunden, daß man von dem Kinde zuviel an Beobachtung erwartete, wohl aber, daß das Kind viel mehr wußte, und viel mehr bemerkte, als man geglaubt hat. Wir erfahren dies auch im eigenen Leben: wie oft redet und verhandelt man vor einem Kinde Dinge, von denen man meint, „es verstünde das ja so nicht", und später macht man die Wahrnehmung, daß das Kind nicht bloß alles sehr gut verstanden, sondern auch mit vielem anderen, früher oder später Erlebten, kombiniert hat. Wichtig ist endlich, daß das Kind am meisten Einflüssen von außen, absichtlich und unabsichtlich geübten, ausgesetzt ist. Wenn jemand weiß, daß ein Kind bei Gericht vernommen werden soll, wenn er an dessen Aussage Interesse hat und auf das Kind Einfluß nehmen kann, so wird er ihn doch in den meisten Fällen auch wirklich ausüben. Das Kind hat noch keine Grundsätze, aber dafür um so mehr Glauben an die Worte der Erwachsenen, es ist dadurch in höherem Maß suggestibel1) und besonders wenn eine Einflußnahme nicht zu bald nach der Wahrnehmung selbst, also erst, wenn das Vergessen beginnt, auf das Kind einwirkt, so wird es leicht dasjenige als beobachtet glauben, was ihm der Erwachsene vorgeredet hat. Namentlich vollzieht sich dies gut und sicher, wenn der Erwachsene vorsichtig und allmählich auf das Kind einwirkt und es durch öfteres Fragen: „war es nicht so?" — „nicht wahr, so war es?" nach und nach dorthin bringt, wo er es haben will. Ebenso verhält es sich, wenn die Einwirkung nicht absichtlich stattfindet. Hat sich etwas Wichtiges ereignet, so wird es begreiflicherweise viel besprochen, es werden daraus oft Schlüsse gezogen und auch das besprochen, was andere beobachtet haben, und was unter Umständen von anderen hätte wahrgenommen werden können. Hört dies das Kind, das auch einiges gesehen hat, so prägen sich diese Unterredungen seiner weichen Seele tief ein, und zuletzt glaubt es leicht, alles selbst wahrgenommen zu haben, was die anderen besprochen hatten. Bei Vernehmungen von Kindern ist daher Vorsicht immer geraten, aber im allgemeinen sind, wie erwähnt, Aussagen von Kindern, wenn sie geschickt gewonnen wurden, häufig wertvolles Material — ich be58 70 89 33

ein lebendes Schaf, ein wachsendes Veilchen, einen Sonnenaufgang, einen Sonnenuntergang.

D a s spricht mehr, als eine lange Abhandlung und erklärt manche verdrehte Auffassung, die ein K i n d vorbringt! Durch die Erziehung zur wahren Volksgemeinschaft, die sich die Jugendführung des Dritten Reiches zum Ziel gemacht hat, wird aber auch in dieser Richtung Wandel geschaffen und das Verständnis der Stadtkinder für Naturvorgänge und bäuerliche Verhältnisse — durch Fahrten, freiwilligen Landdienst u. ä. — gefördert. Vgl. hierzu das oben S. i o s f f . über die Suggestion im allgemeinen Gesagte.

13«

II. Abschnitt. Die Vernehmung.

tone: w e n n sie geschickt vernommen wurden. Das zu tun ist aber sehr schwer, und erfordert unabsehbar viel Erfahrung 1 ). Kommen wir vom Kinde zu dem zunächststehenden Alter, so werden wir schon das Geschlecht unterscheiden müssen; wie sich dieses in der körperlichen Entwicklung des Knaben und des Mädchens ausprägt, so trennt sich auch die Auffassung der beiden. In gewisser Beziehung ist der verständige Knabe zweifelsohne der beste Beobachter, den es gibt. Auf ihn beginnt die Welt hereinzustürmen mit all ihrem ungezählten Interessanten, und das Wenige, was ihm Schule und Haus bringt, füllt sein Herz nicht aus. Was sich Neues, Merkwürdiges, Seltsames ereignet, das ergreift er mit beiden Händen, und mit gespannten Sinnen sucht er es aufzunehmen, so gut und so weit es ihm gelingt. Wenn niemand im Hause eine Veränderung wahrnimmt, wenn niemand von der wandernden Gesellschaft ein Vogelnest entdeckt, wenn niemand sonst in Feld und Flur etwas Auffallendes sieht, dem heranwachsenden Burschen ist es nicht entgangen, und alles, was über das eintönige Leben herausragt, ist ihm ein willkommener Anlaß, seinen Scharfsinn zu üben, seine Kenntnisse auszudehnen und den Blick der Erwachsenen durch Mitteilung des Gefundenen auf sich zu lenken. Die Interessen des Knaben sind noch nicht durch die Nöte des Lebens, seine Stürme und Kämpfe, durch sexuelle Beziehungen und Streitigkeiten abgelenkt, frei und ungehindert kann er sich dem hingeben, was ihm merkwürdig vorkommt, sein Blick ist noch ungetrübt und unverdorben, und so sieht er oft schärfer, besser und richtiger als alle Erwachsenen. Dabei hat ein deutscher Junge auch schon Grundsätze, das Lügen ist ihm wegen seiner Verächtlichkeit zuwider, Eigensinn ist ihm auch nicht fremd, und die schöne Gelegenheit, mit seiner Beobachtung Recht zu behalten, läßt er sich nicht gerne entgehen. So ist er fremden Einflüsterungen meistens weniger zugänglich und sagt die Sache so, wie er sie wirklich gesehen hat. Ich wiederhole, der g e s c h e i t e , g u t g e a r t e t e Knabe ist in der Regel der beste Zeuge, den es gibt. Keineswegs dasselbe gilt von dem gleichaltrigen Mädchen. Schon die Natur und die Erziehung des Mädchens verhindert, daß es sich die nötigen Kenntnisse und den freien Blick erwirbt, den der Knabe frühe bekommt, und der zum Beobachten unbedingt nötig ist2). Das Mädchen bleibt doch mehr im engen Kreise an der Seite der Mutter, 1 ) Aus diesem Grunde wurde vielfach vorgeschlagen und teilweise auch praktisch eingeführt, daß zur e r s t e n Vernehmung von Kindern, die als Opfer von Sittlichkeitsdelikten zu vernehmen sind, ein psychologischer Sachverständiger zugezogen wird. Ein anderer W e g ist der, daß die polizeiliche Vernehmung durch besonders dafür geschulte Beamte (pädagogisch-psychologisch ausgebildete Kriminalhelfer oder Fürsorgerinnen) durchgeführt wird. In einzelnen Ländern sind hierfür ausführliche behördliche Verfügungen erlassen worden, die großes aussagepsychologisches Verständnis zeigen (abgedruckt bei P. Plaut, Der Zeuge und seine Aussage im Strafprozeß, Berlin 1931, S. 28gff.). 2) Auch hier zeigt sich der große Wert einer volksverbundenen, lebensnahen Jugendführung, die im Dritten Reich auch die Mädchen erfaßt: unsere Jungmädel kommen hinaus, ihr Blickfeld erweitert sich und sie stehen den Lebens-

Halbwüchsige Mädchen als Zeugen.

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während der Knabe hinauskommt und in Feld und Wald mit seinen Kameraden allerlei sehen kann, was ihm zuerst die Kenntnis davon verschafft, wie die Dinge gewöhnlich aussehen; nur so kann man dann entdecken, unterscheiden und beobachten, wenn etwas Außergewöhnliches und Auffallendes vorkommt. Allein oder mit dem Vater und den Altersgenossen lernt der Knabe eine Menge von praktischen Dingen kennen, aus denen das Leben zusammengesetzt ist und die man kennen muß, wenn man über sie sprechen will. Das alles fehlt dem Mädchen, es kommt weniger hinaus, nicht zu Arbeitern, Handwerkern und anderen praktischen Leuten, die den wißbegierigen Knaben manches lehren, und wenn etwas Auffälliges geschieht, so vermag es dies nicht, ich möchte sagen, mit den Sinnen anzupacken, d. h. richtig aufzufassen. Ist irgendetwas Gefährliches, Lärmendes, Schreckhaftes dabei, was den Knaben erst recht anregt und zu gespannter Aufmerksamkeit antreibt, so zieht sich das Mädchen scheu zurück und sieht den Hergang entweder gar nicht, oder nur undeutlich aus der Ferne. In gewisser Beziehung ist das heranwachsende Mädchen sogar eine gefährliche Zeugin, nämlich dort, wo es selbst an der Sache beteiligt oder gar deren Mittelpunkt ist. In solchen Fällen ist man vor argen Übertreibungen, ja selbständigen Erfindungen niemals sicher. Begabung, Schwung, Träumerei, Romantik und Schwärmerei sind die natürlichen Stufen, auf denen das Mädchen, das doch zu interessanten Erlebnissen noch zu jung ist, endlich zum Weltschmerz gelangt; Weltschmerz ist aber eine Art von sexueller Langeweile 1 ), diese geht darauf aus, etwas Abwechslung zu schaffen, und hierzu ist ein Kriminalfall, in welchen das kleine Fräulein mithineinverflochten wird, ein höchst willkommener Anlaß. Ist es schon an sich interessant, vor Gericht zu kommen, eine Aussage zu machen und in das Schicksal anderer einzugreifen, so ist es noch viel reizvoller, wenn es sich um etwas Wichtiges handelt, wenn alle Leute der Zeugin große Aufmerksamkeit zuwenden und zu erfahren begierig sind, um was die Zeugin gefragt wurde und was sie antwortete. So geschieht es dann leicht, daß aus einem belanglosen Diebstahle ein kleiner Raub wird, der gewöhnliche, armselige Gauner gestaltet sich zu einem interessanten blassen Jüngling, eine Grobheit wird zum Überfall, ein gleichgültiger Vorgang zu einer romantischen Entführung, ein dummes Bubengeschwätz zu einem wichtigen Komplott, kurz, der echte „Backfisch", gleichgültig welchen Ständen angehörig, kann nicht vortatsaclien aufgeschlossener gegenüber. Dadurch hat sich gegenüber dem T e x t manches geändert, ohne daß die naturbedingten psychischen Geschlechtsunterschiede verwischt werden. ') Derartige Mädchen im Entwicklungsalter, welche durch die abenteuerlichsten Inszenierungen und falsche Angaben heillose Verwirrungen anrichten, sind häufig der Onanie ergeben. Dies scheint nicht Zufall zu sein, sondern findet seine Korrelation in der überreizten Phantasie, die zum einen und zum andern führt. Oder: Onanie führt zur Überreizung der Phantasie und diese dann zu abenteuerlichen Erfindungen, denen stets etwas Sexuelles anhaftet. Einen einschlägigen Fall berichtet v. Höpler, Einiges über Zeugenaussagen, Archiv 51 S. 38.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

sichtig genug behandelt werden. Besonders gefährlich ist aber das junge Mädchen bei Beginn der Menstruation, sehr oft vor der ersten. M a n c h e bleiben ihr Leben lang (bis zum Klimakterium) vor und während jeder Menstruation gefährliche Zeuginnen 1 ). Will man aber gerecht sein, so muß anerkannt werden, daß für das Bemerken und Erkennen gewisser Dinge wieder niemand geschickter ist als ein heranwachsendes Mädchen. Wenn ihm die Phantasie keinen Streich spielt, so wird es oft wertvollere Daten liefern können als die klügsten Erwachsenen. Der Grund dafür ist derselbe, wie der für die Erfindungen und Übertreibungen solcher Mädchen angegebene. Schule, Erlebnisse und Selbstbeschäftigung geben nicht genug Ausfüllung für Grübeln, Schwärmen und Träumen, das sexuelle Moment regt sich auch schon, und so wird in der Umgebung halb unbewußt nach Erlebnissen gesucht, die diese Sphäre streifen, wenn auch noch so entfernt: kleine Interessen und Liebeleien der näheren und ferneren Umgebung entdeckt niemand so rasch, als ein begabtes, lebhaftes, halberwachsenes Mädchen; jeder Wechsel im gegenseitigen Interesse der beiden Beobachteten wird von ihm feinfühlig mitempfunden; schon lange bevor sich die beiden verstanden haben, weiß das Mädchen darum, daß sie füreinander empfinden. Es merkt genau das Näherkommen und weiß, wann sie sich ausgesprochen haben. Was nun folgt: inniges Aneinanderschließen oder Auseinanderkommen, die Kleine weiß es lange zuvor, jedenfalls eher und besser als die ganze Umgebung. Hiermit hängt auch die Beobachtung gewisser Personen durch solche Mädchen zusammen. Eine interessante Schönheit oder ein junger Mann, der in der Nähe wohnt, haben keinen genaueren Wächter über ihr ganzes Tun und Treiben als ein zwölfjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft. Wer die Leute sind, was sie tun, mit wem sie verkehren, wann sie ausgehen, wie sie sich kleiden, weiß niemand so gut als dieses. Das kleine Geschöpf merkt auch seelische Stimmungen, Freude, Trauer, Kummer, Hoffnung und, was sie sonst bewegt, an seinen Beobachtungsopfern am allerbesten. Will man über solche Fragen unterrichtet werden, so sind junge Mädchen die besten Zeugen, wofern sie nur die Wahrheit sagen wollen und sich auch sonst keine der früher erörterten Fehlerquellen geltend macht. Zusammenfassend kann man daher —• nach Seelig — sagen: die Frage nach der Verläßlichkeit der Kinderaussage ist n i c h t e i n h e i t l i c h zu beantworten, sondern in m e h r e r e T e i l p r o b l e m e a u f z u l ö s e n . W a h r h a f t e Aussagen g e s u n d e r Kinder, bei denen s u g g e s t i v e Einflüsse n i c h t stattgefunden haben und die sich auf Vorgänge beziehen, die dem V e r s t ä n d n i s und dem I n t e r e s s e n k r e i s des Kindes entsprechen, sind ganz anders zu bewerten als Kinderaussagen, die möglicherweise durch suggestive Befragung zustandegekommen sind oder aus einer Neigung zu ') Vgl. die wichtige Schrift von v. Krafft-Ebing, Psychosis menstrualis, Stuttgart 1902; J. Kosjek, Eine 12jähr. Verleumderin, in „ A u s den Papieren eines Verteidigers", Graz u. Leipzig 1884; s. ferner unten S. 143 u. 276!.

Alter und Geschlecht erwachsener Zeugen.

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phantastischen Lügeerzählungen 1 ) und Übertreibungen entsprungen sein können. Aber auch die Zwecklüge kommt bei kindlichen Beschuldigungen in Sittlichkeitsprozessen vor (z.B. Rache gegen den Lehrer wegen schlechter Zensur; oder: Erklärung des verspäteten Nachhausekommens mit einem angeblichen sexuellen Attentat auf der Straße), wobei wiederum die durch tatsächliche Parallelfälle oder Zeitungsberichte angeregte Phantasie den Stoff zu liefern vermag. Sofern eine dieser möglichen Fehlerquellen gegeben ist — was im Ernstfalle genau geprüft werden muß — , ist die Verläßlichkeit der Kinderaussage naturgemäß geringer als die des Erwachsenen, anders jedoch, wenn solche Fehlerquellen der Reihe nach ausgeschlossen werden können: dann kann — wie oben ausgeführt — die Kinderaussage unter Umständen hochwertiger sein als die Aussage eines Erwachsenen2). Von den heranwachsenden Knaben und Mädchen kommen wir zur e r w a c h s e n e n J u g e n d , die zwar in der Blüte des Lebens steht, keineswegs aber die besten Zeugen abgibt. Sie sind im allgemeinen schlechte Beobachter. In der glücklichsten Zeit des Lebens stehend, erfüllt von Hoffnungen und Idealen, sich und ihren Wünschen das größte Interesse entgegenbringend, hält die Jugend bloß sich für wichtig. Die Kindheit liegt ihr bereits ferne, die jungen Leute fühlen sich über deren Erscheinungen erhaben; umgekehrt gehören für sie die reiferen Leute einer schon längst vergangenen Zeit an, was diese tun und wozu sie raten, ist gleichgültig. Der Jugend gehört die Welt, wichtig ist nur das, was ihr zunächst steht, alles andere ist nicht wert, daß man danach sieht. Der ausgeprägteste Typ dieser völlig egozentrischen Altersstufe war das junge Mädchen, dem eine Welt unbemerkt versinken konnte neben der Wichtigkeit eines Balles, und der Couleurstudent, dem seine Verbindung mehr galt als alles andere unter dem Monde. Wenn auch nunmehr im deutschen Volk dies gottlob anders wurde und bereits unsere Jungen und Mädel ihre Sonderwünsche freudig den Belangen der Volksgemeinschaft unterordnen, so ist doch die Jugend in ihrer Vollkraft eben die Verkörperung jenes gesunden Egoismus, der Besitz ergreift von der Welt und in ihrem bunten Getriebe nur sich und sein Dasein kennt. Wer Gelegenheit hatte, junge Leute über die wichtigsten Vorgänge ihrer nächsten Umgebung, die weder sie selbst noch die Gemeinschaft berühren, als Zeugen zu vernehmen, wird sich ärgern und freuen darüber, mit welcher Gleichgültigkeit sie diese Dinge an sich vorüber*) Über den Übergang solcher phantastischer Konfabulationen zum pathologischen Lügen s. unten S.. 155 ff. 2) Es trug sich folgender Fall zu: Ein 6jähriger K n a b e richtet nach einem Spaziergang mit seiner Großmutter Grüße von einem Onkel aus, die dieser ihm im Vorbeigehen aufgetragen habe. Die Großmutter (Gattin eines aktiven Untersuchungsrichters) erklärt, niemand habe mit dem Jungen, den sie an der Hand führte, gesprochen; auch habe sie sich unterwegs nicht — wie der Junge nunmehr weiters behauptet — mit einer Dame unterhalten. Eben schilt der Untersuchungsrichter über die Neigung des Kindes zur Unwahrheit, als der Onkel kommt und fragt, ob der Junge den Gruß ausgerichtet habe. Auch das kurze Gespräch der Großmutter mit einer Bekannten bestätigt sich (Buchholz, Zeugenaussagen, Archiv 35 S. 128).

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

gehen lassen! Hat diese Jugend aber doch beobachtet, so wird dies in der Regel gut, treu und ehrlich wiedergegeben. Gute Grundsätze sind meist schon da, die Stürme des Lebens haben daran noch nicht gerüttelt. Im Höhepunkt des Daseins stehend verfügt der E r w a c h s e n e endlich über alle Kräfte, die ihm der Schöpfer gegeben hat: gute und schlechte Eigenschaften stehen in ihrer höchsten Ausbildung, die Sinne sind geschärft, der Verstand entwickelt, die Beeinflußbarkeit verringert, aber auch zu keiner anderen Zeit drängen Leidenschaften, Übelwollen, Eigennutz und Parteilichkeit so stürmisch als böse Versuchung auf den Menschen ein als dann, wenn er mitten im Lebenskampf steht. Auch in diesem größten Zeitabschnitt des Lebens macht sich der U n t e r s c h i e d z w i s c h e n M a n n u n d F r a u in ihren Aussagen geltend. Freilich haben die Versuche der experimentellen Aussageforschung, diesen Unterschied exakt zu erfassen, kein greifbares Ergebnis gebracht. Die einst von Stern aufgestellte Regel, daß die Frauen weniger vergessen, aber mehr verfälschen, bestätigte sich zwar manchmal, in vielen Fällen aber wiederum nicht. Die Urteilsvorsicht, die als Eigenschaft des Mannes gilt, kommt auch vielen Frauen zu. Daß die Suggestibilität beim Weibe höher sei, läßt sich nach den Untersuchungen Becks1) nicht mehr aufrechterhalten, da sich bei den Bildversuchen die männlichen Personen suggestibler erwiesen 2 ). Dieses Schwanken der experimentellen Ergebnisse, von denen noch mehrere bei Schrenck, Gorphe und Hellwig3) vergleichend gegenübergestellt sind, bedeutet aber nur, daß sich die durch den Geschlechtsunterschied bedingte seelische Verschiedenheit in jenen Aussageleistungen, die zum Gegenstand der Versuche gemacht wurden, nicht oder in so geringem Maße auswirkte, daß sie von den individuellen Unterschieden, die v o m Geschlecht unabhängig sind, überdeckt wurde. Denn selbstverständlich ist die geistige und charakterliche Streuungsweite i n n e r h a l b der Männer und i n n e r h a l b der Frauen sehr groß und kann für bestimmte Aussageleistungen ausschlaggebender sein als der geschlechtliche Unterschied. Aber das eine wissen wir trotzdem: d i e F r a u i s t a n d e r s a l s d e r M a n n und wenn dies nicht so wäre, so hätten wir darin die erste Ausnahme vom Kausalitätsprinzip zu erblicken. Der physiologische Unterschied muß sich auch in den geistigen und seelischen Äußerungen auswirken. Der Mann ist in seinen Interessen und seinen Bestrebungen mehr nach außen gerichtet, für die Frau steht ihr Gefühlsleben und ihre Innenwelt im Mittelpunkt ihres Daseins 4 ). Daraus erklären sich tiefgreifende Unterschiede im Beobachten des Mannes und dem des Weibes. Dies gilt in besonderem Maße Beck, Über Suggestion, eine experimentelle Studie, Ztschr. f. angew. Psychologie 14 S. 257 (1919). 2) Hiebei handelte es sich somit um die Feststellung der Urteilssuggestibilität; dadurch ist noch nichts hinsichtlich der Gefühls- und Strebungssuggestibilität festgestellt. Über diese Begriffe s. oben S. 107 A n m . 1. a) S. oben S. 74. 4) Keiner hat dies besser ausgedrückt als Grabbe: „ D e r Mann denkt weit, die Frau fühlt tief — ihm ist die W e l t das Herz — ihr das Herz die W e l t . "

Die Aussagen von Greisen.

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von allen Vorgängen, die mit der Sexualsphäre in Zusammenhang stehen 1 ): Geschlechtsleben, Mutterschaft und Kind sind für die Frau von ungleich größerer Bedeutung, alles, was damit zusammenhängt, wird mit dem innersten Einsatz ihrer Persönlichkeit erlebt. Und wenn eine Frau in solchen Dingen eine Beobachtung anders wiedergibt als ein Mann, so braucht keines gelogen zu haben: sie sehen es anders, merken es anders und geben es anders wieder. Und mit dem G r e i s e schließen wir. Milde und versöhnend oder schroff und verbittert tritt er uns entgegen, je nach dem Lose, das ihm zuteil geworden ist. Die Sinne und dadurch das Wahrnehmungsvermögen sind vielfach geschwächt (Schwerhörigkeit, Schwach- und Weitsichtigkeit) und die Gedächtnisleistungen zeigen oft eine eigenartige Verschlechterung: die R e p r o d u k t i o n s f ä h i g k e i t bleibt erhalten, während die E i n p r ä g u n g s f ä h i g k e i t zurückgeht 2 ). Dadurch werden alte Eindrücke nach wie vor gut erinnert und richtig wiedergegeben, neue Eindrücke hingegen rasch vergessen. Selbstverständlich treten diese Veränderungen nicht allgemein in einem bestimmten Lebensalter ein, sondern dies hängt vom individuellen Beginn des psychophysischen Rückbildungsprozesses des Gesamtorganismus ab. Daher kommen immer wieder Ausnahmen vor, wie z. B. der von Hellwig beobachtete über 80 Jahre alte Landgerichtspräsident i. R., der auch über Vorgänge der letzten Monate sehr genaue und richtige Angaben machte 3 ). Das regelmäßige Bild hingegen wird nicht bloß häufig vor Gericht, sondern auch z . B . von Ärzten in der Sprechstunde beobachtet: Ereignisse aus der Jugenzeit werden von alten Leuten oft sehr ausführlich und richtig erzählt, die neuen ärztlichen Anweisungen jedoch sofort ängstlich in ein Notizbuch vermerkt, weil der Patient seine Vergeßlichkeit für neue Eindrücke bereits kennt4). Endlich ist der Greis wieder das geworden, was er war: ein Kind. Ihm fehlt scharfes Erkennen, aber auch Leidenschaft, er sieht die Dinge 1 ) Vgl. unten S. 276t. und H. Groß, Kriminalpsychologie, 2. Aufl. (Leipzig 1905) S. 387ff. (daselbst die ältere Literatur); ferner: L. Weinberg, Über den Einfluß der Geschlechtsfunktion auf die weibliche Kriminalität, Juristischpsychiatrische Grenzfragen Bd. V I H. 1; G. Simmel, Zur Philosophie der Mode, Berlin 1905; derselbe, Zur Psychologie der Frauen, Ztschr. f. Völkerpsychol. 20, 1890; E. Bischoff, Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden, Archiv 29 S. 109; Jassny, Zur Psychologie der Verbrecherin, Archiv 42 S. 90. Eine unmittelbare Beziehung zwischen Aussageleistung und weiblichen Geschlechtsfunktionen tritt auch insoweit hervor, als in bestimmten Zeiten (Menstruation, Schwangerschaft, Klimakterium) vielfach eine allgemein erhöhte Affektlabilität besteht, die besonders bei hysteroiden Frauen zu phantastischen Übertreibungen, Verleumdungen und Schreiben anonymer Briefe führen kann. Diesen seit langem vielfach bestätigten Erfahrungen (Icard, L a femme dans la periode menstruelle, Paris 1890; v. Krafft-Ebing, Psychosis menstrualis, Stuttgart 1902) steht nicht der Umstand entgegen, daß sich im Laboratoriumsexperiment eine Verschlechterung der rein intellektuellen Aussageleistungen während der Menstruation nicht feststellen läßt (Wollenberg, Die forensischpsychiatrische Bedeutung des Menstruationsvorganges, MschrKr. 2 S. 36). 2)

Über diese beiden Grundfunktionen des Gedächtnisses s. oben S. 9öf. *) Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik, 1937. 4) O. Bumke, Psychologische Vorlesungen, 2. Aufl., München 1923.

II. Abschnitt. Die Vernehmung.

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einfach und ungekünstelt; der Gegensatz, der früher die Geschlechter geschieden hat, tritt wieder zurück, der Greis und die Greisin beobachten und verwerten gleich wie die Kinder verschiedenen Geschlechtes, und Einflüsterungen zu Gunst und Ungunst der anderen haben wieder ihre Gewalt, wie einst auf das Kind. Und ebenso, wie die eigentliche Kindheit beendet ist, wenn die sexuelle Differenzierung beginnt, ebenso setzt das Greisenalter ein, wenn die eigentliche geschlechtliche Verschiedenheit zwischen Mann und Frau ausgeglichen zu werden anfängt. Auch hier sehen wir die unabsehbare Wichtigkeit, welche das sexuelle Moment für die Beurteilungen des Kriminalisten in jeder Richtung hat.

Wenn der Zeuge nicht die Wahrheit sagen will. Daß man keine Anweisung darüber geben kann, wie das Lügen 1 ) der Zeugen zu verhindern ist, weiß jeder; daß aber viel weniger gelogen werden würde, wenn sich die U. mehr Mühe geben wollten, wird auch jeder zugeben, der weiß, mit welcher Schnelligkeit die U. oft die wichtigsten Zeugen verhören, allerdings auch schnell verhören müssen. D i e s i s t der H a u p t g r u n d der v i e l e n f a l s c h e n A u s s a g e n , die w i r in u n s e r e n A k t e n h a b e n . Das einzige Mittel, das diesem die Wahrheitsfindung der Justiz schwer schädigenden Übel noch am besten abhelfen könnte, ist gründliche Vorbereitung des U. für jede Vernehmung, energische Erinnerung jedes Zeugen zur Angabe der Wahrheit und e i n g e h e n d e Vernehmung des Zeugen, namentlich dann, wenn der geringste Verdacht einer falschen Aussage vorliegt 2 ). Soll der U. das aber wirklich so durchführen, wie es im Interesse des Staates gemacht werden muß, so braucht er viel mehr Zeit, als er jetzt beim besten Willen darauf verwenden kann, und die Folge davon ist, daß man allerorts fast doppelt so viel U. verwenden müßte, als man der Strafjustiz zur Verfügung stellt. Kann der U. auf seine Arbeiten genügende Zeit verwenden — auch dann wäre es nur genügende, nicht überflüssige Zeit — dann kann man von ihm auch gute Arbeit verlangen. Wie wichtig aber eine eingehende Vernehmung ist, wenn falsche Angaben entdeckt werden sollen, zeigen namentlich jene Fälle, in denen ein komplizierter Apparat in Bewegung gesetzt wurde, um den Richter zu täuschen; solche Fälle sind häufig genug und jeder kennt sie. Hier lehrt die Erfahrung, daß sich auch sehr geriebene und erfahrene Lügner doch nur eine gewisse Zeitlang über dem Wasser halten können, aber untergehen, wenn sie länger und genau erzählen sollen. Bei irgendeinem unvorhergesehenen Anlaß verlieren sie ihren Plan und sagen etwas, das Vgl. zum folgenden Seelig, Art. „ L ü g e " im H d K . Eine besondere psychologische Vernehmungstechnik zur Unterscheidung von L ü g e und Wahrheit, bei der durch entsprechende Fragestellung jeweils die „ L ü g e g e f ü h l e " oder die „Erlebnisgefühle" und deren sprachlich-mimischer Ausdruck verstärkt werden sollen, hat Leonhardt vorgeschlagen (C. Leonhardt, Psychologische Beweisführung, Archiv 89 S. 203 und MschrKr. 22 S. 141; derselbe, Psychologische Beweisführung in Ansehung existenzstreitiger Vorgänge, erläutert an einem praktischen Fall, Kriminalistik 5 S. 145). 2)

Aufdeckung falscher Alibibeweise.

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sie verrät. Freilich wird oft eine eingehende Vernehmung allein eine geschickt angelegte falsche Aussage auch nicht aufklären können; es wird sich dann darum handeln, wer schlauer ist, der U. oder der Zeuge. Aber einige Züge hat der U. dem anderen doch stets bei diesem Schachspiel voraus! Vor allem ist er der ruhigere, weil der lügende Zeuge immerhin ein gewagtes Spiel spielt und seine Existenz gefährdet, während der U. im schlimmsten Falle nur einmal mehr düpiert wurde; weiters kennt der U. das ganze Material, er weiß doch schon mindestens ungefähr, was sein kann und was nicht, er behandelt die Aussagen jedes Zeugen, namentlich wenn die Untersuchung schon weiter vorgeschritten ist, als einen Stein, der in das ganze, schon vorhandene Gefüge passen muß und als gefälscht erkannt wird, wenn er sich nicht gut einschieben läßt. Endlich ist der U. in der günstigen Lage, fragen zu können, was der Zeuge doch nur ausnahmsweise tun darf. Durch eingehendes und wiederholtes Fragen kommt der U. schließlich auf solche Momente, die vom Zeugen nicht vorher bedacht und mit seinen Komplizen durchbesprochen wurden, und ist ein einziger Widerspruch erwiesen, dann kennt der U. jene Stelle, an welcher die Verabredung ungenau und schadhaft ist, er wird in derselben Richtung fortarbeiten und bald das Lügengewebe durchbrochen haben. Um aber so arbeiten zu können, wird er seine günstigere Stellung ausnützen, fragen, viel fragen, und alle Antworten niederschreiben lassen müssen. Ich glaube nicht, daß durch eine solche Vermehrung des Verhörstoffes die Protokolle ungebührlich verlängert werden; wenn der U. den Fall genau studiert und sich klar gemacht hat, was er braucht und wo er hinaus will, wenn er wirklich Wichtiges fragt und hört und dies kurz und sachlich niederschreiben läßt, so ergibt sich mehr Inhalt bei geringerer Wortzahl und das Protokoll muß deshalb nicht länger werden. Allerdings wird die Sache manchmal dem U. recht langweilig, aber um sich zu plagen ist er da und wer nicht mancherlei Ungemach auf sich nehmen will, der darf nicht U. werden. Nehmen wir z. B. den Kampf des U. gegen einen falschen Alibibeweis 1 ), wohl den weitaus gefährlichsten Feind einer regelrechten Überführung des wirklichen Schuldigen, und betrachten wir uns den Alibibeweis etwas näher. Ich glaube, Karl Stieler ist es, der den köstlichen Ausspruch tat: „Zu einem ordentlichen Wilddiebe gehören drei Dinge: ein Abschraubegewehr, ein geschwärztes Gesicht und ein verläßlicher Alibibeweis." Das ist in Gegenden, in denen viel Wilddiebstähle vorkommen, geradezu regelmäßig geworden. In unseren Bergländern geht die Sache fast immer denselben Gang: der Holzknecht geht Wild stehlen, die Jäger entdecken, aber erwischen ihn nicht, da er bedeutenden Vorsprung hat, das Gewehr wird in einer Felskluft geborgen und der Ochsenknecht Über Alibibeweise s. Dr. Hermann Ortlofj, Lehrbuch der Kriminalpolizei, Leipzig 1881 S. 208ff.; Hurlebusch, Über die sogenannte Exemptio alibi, 1825; A. Weingart, Kriminaltaktik, Berlin 1904 S. i24ff. Groß-Seelig,

H a n d b u c h . 8. A u f l .



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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

und die Sennerin beschwören, daß der Holzknecht genau zur selben Stunde, zu der ihn die Jäger gesehen haben wollen, in der Sennhütte saß und sein Werktaggewand flickte. Das ist alles hübsch sorgfältig im vornherein ausgemacht und klappt vortrefflich, solange der U. nicht in Einzelheiten eingeht und in allerdings recht langweiliger Art alles genau abfragt, was nur irgend gefragt werden kann: wie sie saßen, wie lange sie beisammen waren, was sie taten, was sie sprachen, wie alles der Reihe nach vor sich ging usw. Wenn der U. hierbei auch die unerläßliche Vorsicht gebraucht, daß er den Beschuldigten und die Zeugen z u g l e i c h vorgeladen hat und daß er die Vernehmung so einrichtet, daß sich der schon vernommene Zeuge mit dem noch nicht vernommenen nicht besprechen kann, so müßte es schon recht seltsam zugehen, wenn er nicht auf Widersprüche kommen sollte. In den verwickeltsten und von wirklich geriebenen Leuten eingeleiteten Alibibeweisen1) ist die Sache auch nicht anders, wenn auch sorgfältiger vorbereitet, aber nachweisbar ist es nach meiner Ansicht immer und jedesmal, wenn der Alibibeweis ein falscher war; natürlich kostet es manchmal viel Mühe, langweilige und wiederholte Vernehmungen, aber schließlich m ü s s e n Widersprüche zum Vorschein kommen. Die meisten Schwierigkeiten bieten jene falschen Alibibeweise, in welchen die Leute übereingekommen sind, ein w i r k l i c h e s Ereignis lediglich auf jenen Zeitpunkt zu datieren, in welchem das Alibi bewiesen werden soll. Wenn die Tat also z. B. Montag geschah, so wird vereinbart, ein wirkliches Zusammensein, welches am Sonntag stattfand, auf diesen kritischen Montag zu datieren. Dann wird freilich jede Einzelheit stimmen. Hat man Verdacht, daß so vorgegangen wird, so muß der Zeit nach möglichst weit ausgegriffen, d. h. möglichst viel Früheres und Späteres abgefragt werden, dann paßt das falsch eingeschobene Ereignis plötzlich doch nicht und die Verwirrung ist um so größer, je mehr sich die Leute auf ihren „Beweis" verlassen haben. Wenn sich diese aber auf lang vergangene Zeiten gar zu genau erinnern können, so ist das in der Regel verdächtig; allerdings nicht immer, namentlich dann nicht, wenn diese dauerhafte Erinnerung in irgendeiner Weise motiviert werden kann. Ist der Beschuldigte in Haft, so tröste man sich ja nicht mit der angeblichen Sicherheit, die man hierdurch gewonnen haben will. So lange es nicht möglich ist, jeden Beschuldigten allein verwahrt zu halten, ihn auch beim Spaziergehen abzusondern und ihn nur mit absolut verläßlichen Wächtern zu umgeben, so lange ist es unmöglich, eine Verabredung mit der Außenwelt zu verhindern. Die größte Gefahr in dieser Richtung bilden die Mitgefangenen, denn wenn man auch nur Untersuchungshäftlinge beisammen läßt, so kann man nicht im voraus, wissen, ob die Untersuchung gegen den einen oder anderen nicht plötzlich beendet und der Mann entlassen wird. Für solche Fälle haben die „Maremokum" heißt ein solches systematisch betriebenes Aufstellen falscher Alibizeugen in der Gaunersprache.

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Unwahr aussagende Zeugen.

Häftlinge aber immer schon Vorsorge getroffen und vereinbart, was jeder von ihnen den Freunden und Verwandten der anderen zu hinterbringen hat, wofern einer von ihnen die Kerkermauern hinter sich bekommen sollte. Eben weil das alles schon lange verabredet war, nützt auch der Kunstgriff selten, nach welchem ein plötzlich auf freien Fuß Kommender gar nicht mehr zu seinen Zellengenossen zurückgebracht, sondern direkt entlassen wird. Mit solchen Verabredungen hängen die meisten jener wohlbekannten Fälle zusammen, in denen ein Untersuchungshäftling, der schon längere Zeit im Gefängnis ist, plötzlich einen Alibibeweis anbietet, der ihm eben erst „ e i n g e f a l l e n ist". Man begreift nicht, wie dem Menschen sein eigenes Schicksal so gleichgültig sein konnte, daß ihm dieser so nahe liegende Beweis, der seine Unschuld sofort dartun muß, nicht früher eingefallen ist. Die Sache wird erklärlich werden, wenn man erhoben hat, daß eben jetzt aus derselben Arrestzelle, in welcher der „vergeßliche" Mann untergebracht ist, ein anderer Häftling entlassen wurde, der den ganzen Alibibeweis draußen in Szene setzen mußte. Ist nicht festzustellen, daß in jüngster Zeit einer aus derselben Zelle enthaftet wurde, so kann man sicher sein, daß es gelungen ist, einen Brief hinauszuschmuggeln, durch den der Alibibeweis eingeleitet wurde1). Denn, daß jemandem wirklich ein so wichtiges Beweismittel erst gelegentlich später einfallen sollte, kommt nicht leicht vor. Hat man aber auf diese Weise festgestellt, daß ein falscher Alibibeweis konstruiert wurde, so hat man mit den anrückenden Zeugen leichtes Spiel. Gegen Zeugen aufzukommen, die in anderer Richtung als in der eines falschen Alibi unwahr aussagen, ist in der Regel schwieriger, da es hier mit dem Nachweisen von Widersprüchen, der Hauptwaffe des U., gewöhnlich sein Ende hat. Wer sich einen Alibibeweis bestellt, sorgt fast ausnahmslos dafür, daß durch mindestens „zweier Zeugen Mund" die „Wahrheit" kund werde, da er weiß, daß er mit einem Zeugen allein nicht gut durchdringen kann. In anderen Fällen aber, namentlich wenn der Beschuldigte irgendetwas in zusammengesetzter Weise dartun will, wird er, oft schon der Natur der Sache nach, für jedes einzelne Moment auch nur einen einzigen Zeugen stellen können. Hat er aber doch mehrere Zeugen aufgebracht, so beweisen für gewisse, namentüch nur kurz dauernde Vorgänge, die etwa auftauchenden Widersprüche nicht viel. Wenn z. B. jemand dartun will, daß er an einer Rauferei nicht beteiligt war und wenn dies, sagen wir, drei Zeugen bestätigen sollen, so werden diese ja nur um jenen Augenblick befragt, in dem der Betreffende verletzt wurde. Die falschen Zeugen werden sich wohlweislich nicht auf viele Details einlassen, namentlich gar nichts Positives behaupten und nur versichern, daß ihr Schützling in dem Augenblicke, als der Beschädigte verletzt wurde, nicht in der *) Über die Verständigung mit sog. Mitteln s. VI. Abschnitt (im 2. Bd.).

„Fuhren"

und

anderen

geheimen 10*

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

Nähe des Verletzten war. Wie alles hergegangen ist, können sie nicht genau sagen, da der „Rummel zu groß war" und „alles in wenigen Augenblicken zu Ende ging"; — in solchen Fällen wird man kaum Widersprüche finden können. Geht es also mit Widersprüchen nicht, so muß man sich in anderer Weise helfen. Die früheren Regeln: den Fall möglichst genau studieren und vorbereiten und so eingehend als möglich vernehmen, bleiben natürlich aufrecht. Dazu kommt noch: bei der Aussage des Zeugen alle bestehenden Möglichkeiten sich vor Augen halten! Es genügt nicht, darauf zu warten, daß die Aussage aus irgendeinem Grunde verdächtig erscheint, denn wenn man einen solchen Grund fand, hat man auch den Faden schon in der Hand und wickelt ihn meist leicht ab. Man muß also eigentlich bei j e d e r Zeugenaussage von vorneherein auch mit der Möglichkeit rechnen, daß diese falsch sei. Es ist dies nicht übertriebenes Mißtrauen, sondern nur Vorsicht und Kenntnis der Vorgänge, denn falsche Aussagen haben sich schon in der harmlosesten und unverdächtigsten Form einzuschleichen gewußt. Geht man also von diesem Grundsatze aus, so wird man zuerst zu prüfen haben, ob der Zeuge aus irgendeinem Grunde die Wahrheit nicht sagt, obwohl er sie sagen will. Hat man keinen Grund zu dieser Annahme gefunden, so fragt man sich, ob er vielleicht die Wahrheit nicht sagen will, und unterscheidet dann wieder, ob der Zeuge einen Grund haben kann, die Wahrheit nicht zu sagen, oder ob ein solcher Grund nicht zu entdecken ist. Diesen Grund kann man wieder finden, entweder in persönlicher Verbindung des Zeugen mit dem Täter oder Beschädigten oder in seiner sachlichen Verbindung zur Tat. Im ersten Falle wird es nicht schwer fallen, festzustellen, ob Freundschaft, Verwandtschaft oder sonstige Beziehungen vorliegen, im zweiten Falle wird allerdings nur eine genaue Kenntnis der Sachlage ergeben, ob der Zeuge ein wenn auch nur geringes Interesse am Ausgange der Sache hat, ob er am Verbrechen selbst beteiligt oder in Gefahr war, als Beteiligter erscheinen zu können. Weit schwieriger ist die Sache, wenn der Zeuge unter einer Suggestion, einem psychischen Druck steht. Als Typus dieser Fälle möchte ich das Verhältnis der Dirne zu ihrem Zuhälter (Strizzi, Louis) bezeichnen, die meist in einem Hörigkeitsverhältnis zu dem Manne steht, der unter dem Deckmantel eines „Beschützers" das Mädchen zu seinem Werkzeug macht. Wahrheitsgemäße Aussagen sind da zumeist erst dann zu erzielen, wenn der Zutreiber sicher hinter Schloß und Riegel sitzt, ohne daß an eine baldige Enthaftung zu denken wäre 1 ). 1 ) Sexuelle Hörigkeit vermag aber nicht bloß Dirnen zu falschen Angaben zu bringen. Im Jahre 1916 war eine 26 Jahre alte unbescholtene Taglöhnersgattin wegen falschen Eides und Verleumdung angeklagt worden. Sie hatte zugestandenermaßen zwei Mitbewohner des Interniertenlagers fälschlich hochverräterischer Äußerungen beschuldigt; ihr Liebhaber hatte sie durch das Versprechen, ihr etwas Zucker und K a f f e e zu beschaffen (!), hiezu verleitet und ihr andernfalls mit der A u f g a b e des Verhältnisses gedroht. Vgl. auch H. Groß, Kriminalpsychologie, 2. Aufl., S. 639 u. 686.

Parteiische Zeugen.

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Findet man irgendeine Beziehung des Zeugen zur Sache, so hat man Anlaß, alles, was er sagt, mit Mißtrauen aufzufassen und jede Äußerung des Zeugen in irgendeiner Weise zu erproben. Man muß mit Nachdruck darauf hinarbeiten, den Standpunkt kennen zu lernen, auf dem der Zeuge steht. Das ist nicht so schwierig, als man meint: ein zur Sache nicht objektiv eingestellter Zeuge verrät sich fast immer wenigstens mit einem einzelnen Worte 2 ). Wir können uns in dieser Richtung beim Lesen von leichten Romanen üben, indem wir schon von allem Anfange an uns bemühen, den Helden und den schlechten Kerl des Romanes herauszukriegen, bevor der Schriftsteller ihn noch ausdrücklich als solchen bezeichnet. Fast immer werden wir dies bald und o f t s c h o n an e i n e m e i n z i g e n W o r t e e r k e n n e n . Der Held kann z. B. alle möglichen, oft recht betrübenden Charaktereigenschaften haben, er wird aber n i e m a l s z. B. geizig, kleinlich, neidisch, unaufrichtig oder hämisch sein; er wird nicht immer als Inbegriff männlicher Schönheit geschildert werden, aber er wird niemals glatzköpfig, schielend oder mit schlechten Zähnen behaftet erscheinen und wenn dies doch sein müßte, so wird er „eine hohe Stirne" oder „einen eigentümlichen Blick" haben, und von den Zähnen wird man gar nicht reden; er kann nachlässig, einfach, unmodern, aber sicher nicht schäbig oder schmutzig gekleidet sein. Der schlechte Kerl wird zuerst vielleicht mit allen erdenklichen guten Eigenschaften des Körpers und Geistes auftreten und sich unter dem falschen Scheine eines Ehrenmannes in das Herz des Lesers einschleichen, bis dieser von seiner Arglosigkeit geheilt wird, wenn ihn der Dichter mit „kreischender" Stimme etwas rufen, mit „lauerndem Blicke" schauen, oder mit „nicht ganz echter Eleganz" eintreten läßt. Diese Eigenschaften hätte der Mann gewiß nicht abbekommen, wenn ihn der Dichter nicht später einmal als Schurken enthüllen wollte. G a n z g e n a u so m a c h t es der Z e u g e , der dem S c h u l d i g e n h e r a u s h e l f e n , den U n s c h u l d i g e n v e r d e r b e n w i l l ; im ersten Falle wird er, namentlich wenn er sich geschickt anstellt, den Beschuldigten auch mit üblen Eigenschaften ausstatten und vorsichtigerweise manches über ihn gelten lassen, was nicht gut abgeleugnet werden kann, er wird aber nie etwas behaupten, wodurch der Beschuldigte verächtlich oder sonst dauernd in der Achtung geschädigt werden könnte. Umgekehrt: will er dem Beschuldigten schaden, so wird seine Aussage vielleicht vom Anfange an den Charakter des Wohlwollenden, Entschuldigenden, Beschönigenden haben, bis ein einziges vom Zeugen gebrauchtes Eigenschaftswort den U. darauf aufmerksam machen wird, daß er vorsichtig sein müsse: der Zeuge behauptet vom Beschuldigten Schlimmeres, als er vor seinem Gewissen verantworten kann. Um solche Wahrnehmungen anstellen zu können, braucht man kein großer Psychologe zu sein; guter Wille und strenges Aufmerken wird jeden fast immer auf den richtigen Moment führen, in welchem dem Zeugen das verräterische Wort entschlüpft ist. Freilich ist dies noch kein unumstößlicher Beweis, aber 2)

Sog. „wertender A u s s a g e t y p " nach Seelig

(vgl. oben S. 134 A n m . 3).

i5o

II. Abschnitt. Die Vernehmung.

es genügt meistens, wenn der U. einen Fingerzeig bekommen hat, daß in der Aussage des Zeugen etwas nicht in Ordnung sein könnte. Die Prüfung vorzunehmen, ob man richtig vermutet hat, ist in der Regel nicht schwer. Sie besteht darin, daß man unbefangen den Zeugen irgend etwas erzählen oder beschreiben läßt, was der U. aus eigener Anschauung oder durch verläßliche Zeugen vollkommen sicher weiß und was für die Schuld oder Unschuld des Beschuldigten nicht gleichgültig ist. Da sich nun jedes Ding mehrfach auffassen und mehrfach erzählen läßt, so wird der verdächtige Zeuge, wenn er wirklich unehrlich ist, die Sache so darstellen, daß der U. ersehen kann, nach welcher Richtung der Zeuge entstellt. Man muß allerdings zwischen dem eigentlich falschen Zeugen1) und dem nur parteiischen Zeugen unterscheiden. Vollkommen unparteiisch ist vielleicht kein Zeuge, eine kleine Färbung in der Schilderung beweist noch nicht die bewußte Falschheit der Aussage, doch werden wir bei der Verwertung auch einer solchen bloß parteinehmenden Aussage vorsichtig sein; sie unterscheidet sich aber auch so wesentlich von der wirklichen falschen Aussage, daß eine Verwechslung nicht leicht denkbar ist2). Ist die Prüfung zum Nachteile des Zeugen ausgefallen, so wird vielleicht eine zweite Kontrollprüfung nötig sein. Wird durch diese aber der Verdacht noch mehr bestärkt, dann ist es meistens am besten, dem Zeugen unumwunden zu sagen, was man von seiner Aussage hält; zum mindesten wird weiterer Unwahrheit vorgebeugt. In vielen Fällen, namentlich bei unverdorbenen Naturen, kommt es vor, daß der Zeuge e i n e n mehr oder weniger dreisten Versuch macht, den U. anzulügen, dies aber sofort aufgibt und ehrlich redet, sobald er merkt, daß der U. nicht geneigt ist, auf die Lügen einzugehen3). Man kann in der Tat sagen, der U. ist oft selbst schuld, wenn er angelogen wird, denn hätte er von allem Anfang an besser aufgemerkt, so wäre es ihm ein leichtes gewesen, die Entwickelung des ganzen Lügengewebes zu verhindern. Auch da muß man die Augen offen halten und namentlich auf innere Widersprüche in der Aussage des Zeugen oder auf Widersprüche seiner Aussage mit äußeren Momenten aufmerken, denn nichts wirkt kräftiger, verblüffender und korrigierender auf solche noch besser veranlagte und weniger gebildete Leute als eine deutliche und schlagende Klarlegung ihres Lügengewebes. Freilich muß man zu diesem Zweck auch auf Kleinigkeiten sein Augenmerk richten und darf z. B. nicht vergessen, daß der Mann nicht lesen und schreiben kann, von welchem ein Zeuge behauptet, er habe ihm etwas vorgelesen; daß ein Zeuge versichert, sein Haus sei vom Feuer Vgl. auch oben S. 49. Falsch sagt auch ein Zeuge aus, der — um den Beschuldigten zu helfen — einen wesentlichen Umstand verschweigt oder eine Aussage so vorbringt, daß entscheidende Begleitumstände als selbstverständlich vorauszusetzen sind, die in Wirklichkeit nicht zutreffen. Vgl. H. Reichel, Reservatio mentalis eines Zeugen, Archiv 28 S. 203. 3) V o n guter Wirkung pflegt der Vorhalt zu sein, daß bei rechtzeitigem Widerruf der falschen Aussage Straflosigkeit eintrete. 2)

Unwahre Aussagen über Nebenumstände.

bedroht gewesen, obwohl es nicht in der Richtung des damals herrschenden Windes lag, oder daß er eine halbe Stunde mit bloßen Füßen im Freien gestanden sein will, obgleich knietiefer Schnee lag. Oder: der Zeuge behauptet, daß der Bach sehr häufig so anschwillt, daß er die Ufer überschwemmt, ein Blick auf die aus dem Wasser wenig hervorragenden Steine zeigt aber, daß diese dichtes Moos tragen, was nicht darauf bleiben würde, wenn die Steine öfters unter Wasser kämen. Der Zeuge erzählt, sein Sohn habe ihn damals sofort auf dies und jenes aufmerksam gemacht, eine Nachrechnung zeigt, daß dieser Sohn damals vier Jahre alt war. Der Zeuge behauptet, er habe die Gesichtszüge eines Menschen genau aufgenommen, aber nicht sehen können, ob er einen Stock oder ein Gewehr getragen hat. Solche Beispiele der offensten Widersprüche und Unmöglichkeiten zeigen sich häufig in Protokollen, sie geben die sicherste Handhabe, dem Zeugen das Unwahre seiner Erzählung zu beweisen, sie m ü s s e n a b e r e n t d e c k t w e r d e n . Das ist niemals allzuschwer, wenn man dem Verhöre überhaupt die volle Aufmerksamkeit widmet, wenn man auch beim Vorlesen des Protokolls genau zuhört und w e n n m a n , was unerläßlich ist und die Arbeit des U. sehr unterstützt, s i c h s t e t s d a s v o m Z e u g e n E r z ä h l t e l e b h a f t v o r s t e l l t . Worte allein widersprechen einander nicht so kräftig und deutlich. Wenn man aber bestrebt ist, sich den Sachverhalt, wie ihn der Zeuge erzählt, oder, wie man ihn schon aus früheren Schilderungen kennt, recht lebhaft vor Augen zu halten, und das nun Neuerzählte in das Bekannte einschaltet, wenn man dann im Verlaufe der Erzählung des Zeugen den Tatsachen immer folgt und alles in Gedanken dort sich abspielen läßt, wo es sich nach dem von früher Bekannten und dem neu Mitgeteilten abgespielt haben muß, dann ist es fast unmöglich, eine Unwahrscheinlichkeit oder Unmöglichkeit zu übersehen. Es ist aber notwendig, voll und ganz bei der Sache zu sein, dann wird auch die Arbeit voll und ganz geleistet. Wichtig sind diesfalls noch zwei Momente, die in gleicher Weise für den Zeugen als auch für den Beschuldigten gelten. Das eine geht dahin, daß Leute, die im allgemeinen die Wahrheit sagen (einschl. des geständigen Raubmörders), in Nebensachen doch lügen 1 ). Mitunter liegt der Grund offen zutage: er will jemanden schonen oder sich selbst doch noch besser erscheinen lassen usw. — mitunter ist der Grund aber nicht zu entdecken und dann ist die Unterscheidung: was wahr und was falsch ist, besonders schwierig. Der Gegenfall hierzu kommt ebenfalls vor: lügende Leute sagen in manchen Richtungen doch die Wahrheit 2 ) und man schafft sich selber 1) Peßler schildert im Archiv 27 S. 308 mehrere Fälle, in denen überführte Mörder nach abgelegtem Geständnis doch noch in Nebenumständen bei ihrer lügnerischen Darstellung verharren. 2) E. Sello, Justizirrtümer, Berlin 1911, S. 217; nach Seelig, Art. „ L ü g e " im H d K . , gebrauchen auch Unschuldige (deren Leugnen somit Wahrheit ist) öfters Lügen aus den mannigfachsten Gründen: um eigene kleine Schwächen (z. B. Trinkneigung) nicht eingestehen oder Geheimnisse, die sie vor ihren

152

II. Abschnitt. Die Vernehmung.

unnötig Schwierigkeiten, wenn man bei Nachweis e i n e r Lüge kurzweg alles für erlogen hält, was der Mann sagt. Auch hier das Richtige aus einer sonst erlogenen Aussage herauszusuchen, ist niemals leicht. Eine weitere wichtige Frage ist die, ob man wohl den Richtigen, der vorgeladen worden ist, wirklich vor sich hat. Daß n i c h t der Richtige vor dem U. erscheint, das kommt viel öfter vor, als man harmloserweise annimmt, und zwar in verschiedenen Formen: i . Am häufigsten ist es, daß nicht der wirklich vorgeladene Z e u g e erscheint. Als Beispiel sei ein Fall erwähnt, der lediglich von ungebildeten Weibern ausgedacht wurde. Es handelte sich um einen Vaterschaftsprozeß, in dem einem wohlhabenden, geistig beschränkten Bauer ein Kind als von ihm erzeugt zugeschoben werden sollte. Die Sache wurde entdeckt und der Mutter des Kindes und deren Mutter der Prozeß wegen Betruges gemacht; beide leugneten und beriefen sich auf eine Zeugin, die eine wichtige Aussage zugunsten der beiden Beschuldigten machen sollte. Als die Zeugin schon die Vorladung zu Gericht erhalten hatte, erschienen die beiden Beschuldigten bei ihr, die keineswegs das bestätigen konnte, was die Beschuldigten wollten; trotzdem suchten diese die Zeugin zu dem Versprechen zu bewegen, daß sie'falsch aussagen werde. Sie wollte sich dazu nicht bewegen lassen, erklärte sich aber auf vieles Zureden bereit, ihre gerichtliche Vorladung gegen Entgelt herzugeben und selbst n i c h t bei Gericht zu erscheinen. Nun gelang es leicht, eine Person zu finden, die, mit der Vorladung der echten Zeugin versehen, bei Gericht erschien und dort alles bestätigte, was ihr die beiden Beschuldigten beigebracht hatten. Glücklicherweise beschäftigte sich der U. mit dieser Zeugin sehr lange und als er auf die Verhältnisse zu sprechen kam, welche die Pseudo-Zeugin hätte wissen müssen, wenn sie die echte Zeugin gewesen wäre, wurde sie unruhig und unsicher, auf genaue Fragen über Personal Verhältnisse usw. konnte sie keine Antwort geben und mit einiger Mühe gelang es, festzustellen, daß eine andere Person dasitze, als jene, welche eigentlich vernommen werden sollte. Begünstigt wird die Unterschiebung eines falschen Zeugen durch den von manchem U. geübten Vorgang, den Erschienenen mit den einem bereits aufgenommenen Protokolle entnommenen Daten zu begrüßen, etwa: Sie sind der Adolf Möller, sind am 2. August 1880 in Graz geboren, nach Wien zuständig usw. Der Zeuge braucht jetzt nur zu nicken und der U. protokolliert: „Wie in ONr. . . ." nächsten Angehörigen haben, nicht aufdecken zu müssen; um nahestehende Personen nicht mit ins Gerichtsverfahren hineinzuziehen oder um sexuelle Beziehungen zu bestimmten Personen nicht zu verraten; um Geschäftsgeheimnisse zu wahren; weil sie befürchten, daß die wahrheitsgemäße Beantwortung im Prozeß irgendwie ungünstig verwertet werden könnte; aus dem Bestreben, verwickelte Geschehnisse einfacher und dadurch plausibler darzustellen; aus der gewonnenen Überzeugung, daß die Wahrheit — besonders bei komplizierten seelischen Tatbeständen — auf Unverständnis stoßen würde, usw.

I d e n t i t ä t s s c h w i n d e l e i e n der V e r n o m m e n e n .

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Damit begibt sich der U. der gewiß nicht allzu hoch zu wertenden, aber immerhin vorhandenen Kontrolle des Zeugen durch Feststellung seiner Personaldaten. Die Fälle, in denen statt des echten Zeugen, der sich zu einer falschen Aussage nicht entschließen wollte, ein anderer, weniger gewissenhafter, unter dem Namen des ersteren und mit dessen abgekaufter Vorladung bei Gericht erschienen war, sind häufig. Das eine Mal erfolgt die Entdeckung durch genaue Vernehmung, das andere Mal z.B. dadurch, daß der „Zeuge" am Schlüsse seiner Vernehmung aus der Rolle fällt und mit seinem echten Namen (oder Vornamen) unterzeichnet usw. — Aber in vielen Fällen gelingt der Betrug doch. 2. Es erscheint ein falscher B e s c h ä d i g t e r oder, besser gesagt, ein anderer als der, der z. B. gerichtsärztlich untersucht werden soll. Casper-Liman verweist auf den historischen Fall, nach dem die Gräfin Essex, um ihre Jungfräulichkeit darzutun, eine andere junge Person unterschoben haben soll1). Solche Fälle kommen aber in unseren Tagen auch vor; ich erinnere mich eines Falles, in dem A den B durch Schläge mit einem Holzscheit arg mißhandelt hatte, ohne aber die Knochen zu beschädigen. Als B zur gerichtlichen Untersuchung vorgeladen wurde, sandte er den C, der zur selben Zeit vom Kirschbaum gefallen war und richtig den Arm gebrochen hatte. C erschien, nannte sich B, wurde vernommen und untersucht und erst viel später, vor der Anklage, wurde der Betrug entdeckt; B hatte von dem vermögenden A hierdurch eine wesentlich größere Entschädigungssumme herausbekommen wollen. Erzählt wurde mir ein Fall, in welchem aus ähnlichen Gründen statt der A die schwangere B zu Gericht gesendet wurde, wodurch konstatiert werden sollte, daß die A (angeblich infolge einer Notzucht) schwanger sei. 3. Es erscheint ein falscher B e s c h u l d i g t e r , was in mehrfacher Weise von Vorteil sein kann. Ein der Urkundenfälschung verdächtiger D sandte den E, der sich für den D ausgab und erklärte, er sei halb blind, könne daher unmöglich jene Fälschung begangen haben; E wurde gerichtsärztlich untersucht, wobei weit vorgeschrittener Star festgestellt wurde, so daß D, von dem man dieses Augenleiden annehmen mußte, außer Verfolgung gestellt wurde. Die F war wegen einer vor wenigen Tagen vorgenommenen Leibesfruchtabtreibung angezeigt worden; als sie vorgeladen wurde, ließ sie sagen, sie sei bettlägerig und könne nicht zu Gericht kommen. Die Kommission erschien in der Wohnung, wo eine alte Frau ihre im Bett liegende Tochter vorstellte. Die Ärzte untersuchten die Person und stellten fest, daß diese bestimmt noch nie, geschweige vor einigen Tagen entbunden habe. Später wurde der Verdacht rege, daß die Untersuchte allerdings die Tochter jener alten Frau, aber nicht die verdächtige F, sondern deren Schwester G. gewesen sei, die Hargrave,

„ S t a t e t r i a l s " t o m e I S. 315.

I

54

II. Abschnitt. Die Vernehmung.

zum Zweck der drohenden gerichtsärztlichen Untersuchung ins Bett gelegt worden war. H wurde wegen des Verbrechens des Betruges vorgeladen und da er fürchtete, bei der Vernehmung in Untersuchungshaft genommen zu werden, so bewog er den J, sich als H vernehmen und allenfalls einsperren zu lassen. Beides geschah, und als H über die Grenze war, gestand der schon 4 oder 5 Tage lang verhaftete J, daß er nicht H, sondern J sei. Ich hatte einmal als U. etwa abends Uhr im Winter einem verhafteten K die Anklage kundzumachen. K wurde vorgeführt, ihm die Anklage vorgelesen, er verzichtete auf alle Rechtsmittel, unterschrieb das Protokoll und wurde abgeführt. Nun behauptete mein Schriftführer, der K hätte bei seiner früheren (einmaligen) Vernehmung ganz anders ausgesehen und es stellte sich heraus, daß wirklich ein L statt des K vorgeführt worden ist. K war damals schon zu Bett gegangen, war zu bequem, aufzustehen, und da es sich ohnehin um einen „geständigen Fall" handelte, so benützte er den Umstand, daß ein neuer Arrestaufseher zur Vorführung erschienen war, und sandte einen anderen Verhafteten, den L, in seiner Vertretung. Alle diese Fälle sollen nur zeigen, wie leicht und oft solche in ihren Folgen unberechenbare Unterschiebungen geschehen können und auch wirklich geschehen. Ganz entgehen kann man ihnen allerdings nicht, da man nicht mit jedem Vorgeladenen gleichzeitig einen Identitätszeugen vorrufen kann: aber größte Vorsicht ist wenigstens stets dann am Platz, wenn man durch die Eigenart des Falles, auffälliges Benehmen des Vorgeladenen oder sonstige Erscheinungen zur Aufmerksamkeit gemahnt wurde. Eine für uns in vielen Fällen wichtige Frage ist die nach dem Werte der Aussage S t e r b e n d e r . Solche Aussagen kommen in verschiedener Richtung in Betracht: es kann der U. Verwundete oder Vergiftete vernehmen ; es können Leute verhört werden, die auf dem Sterbebette lang gehütete Geheimnisse preisgeben, wodurch jemand eines Verbrechens geziehen wird; es können Sterbende ihr Gewissen dadurch erleichtern, daß sie sich selbst eines begangenen Verbrechens zeihen; sie können auch die Unschuld eines Verurteilten bezeugen. In vielen dieser Fälle ist die Aussage des Sterbenden deshalb besonders wichtig, weil man ob der Länge der Zeit oder wegen der besonderen Umstände des Falles jedes anderen Beweismittels entbehrt. Konnte der U. den Betreffenden noch selbst verhören, vielleicht auch beeiden, so ist die Sache weniger schwierig, weil er Gelegenheit hatte, die Ablegung des Zeugnisses selbst zu beobachten und sich über seinen Wert ein Urteil zu bilden. Oft ist es aber nicht mehr möglich gewesen, den U. herbeizurufen und es wurde die Aussage des Sterbenden nur dritten Personen gemacht, welche sie dann dem U. vorsichtig übermitteln. Daß diese Zeugen besonders genau vernommen werden müssen, ist wohl selbstverständlich, ebenso, daß in allen diesen Fällen der Gerichtsarzt darüber zu sprechen haben wird, ob der Ster-

Die Aussagen Sterbender.

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bende vermöge seines Zustandes die Wahrheit sagen konnte, sowie, daß alle Erhebungen gepflogen werden müssen, welche der Gerichtsarzt für die Abgabe dieses Gutachtens als nötig bezeichnet. Nehmen wir an, daß die Frage auf Zurechnungsfähigkeit zweifellos bejaht wurde, so haben wir noch die weitere Frage zu erledigen, ob der Umstand, daß jemand im Sterben liegt, auf die Wahrheit seiner Angaben einen besonders bestimmenden Einfluß hatte. Kann man auf dem Totenbett noch lügen? Die Juristen beantworten diese Frage oft verschieden; die einen behaupten, das, was ein Sterbender sage, sei gewiß und unter allen Umständen wahr, die andern meinen, seine Aussage sei nicht anders zu beurteilen, wie die eines anderen Menschen. Mehr Erfahrung in dieser für uns so wichtigen Frage als wir Juristen dürften Priester, namentlich katholische Priester besitzen 1 ), die ungezählte Male die letzten Geheimnisse Sterbender anhören 2 ). Das Urteil solcher erfahrener Priester hierüber geht dahin, man müsse vorerst unterscheiden, ob der Betreffende positiv gläubig sei oder nicht. Im ersteren Falle könne der Aussage des Sterbenden unbedingt Aufrichtigkeit beigemessen werden, da er in fester Überzeugung, nun vor den höchsten Richter treten zu müssen, sich gewiß nicht mit einer schweren Sünde belasten wird. Ob aber in einem solchen Falle der Nachweis, daß der Betreffende überzeugt war, sterben zu müssen, und daß er w i r k l i c h gläubig und nicht bloß scheinbar fromm war, erbracht werden kann, ist allerdings eine andere Frage. Ich meine: War der Verstorbene ein ehrlicher Mensch, so hat er auch auf dem Totenbette die Wahrheit gesagt, war er das nicht, so kann er auch da gelogen haben 3 ). c) Das pathologische Lügen. Es gibt Zustände, die zwischen jenen, in welchen jemand die Wahrheit sagen, und solchen, in denen er dies nicht tun will, gewissermaßen in der Mitte liegen. Dies sind jene Fälle, in welchen jemand zwar im g e g e b e n e n A u g e n b l i c k nicht die Absicht hat zu lügen, in welchen er aber infolge von Anlage, Gewohnheit usw. die Sache doch so darstellt, daß Unwahres zutage kommt. Ausgesprochen krankhaft ist in der Regel dieser Zustand nicht, die Grenze zum Pathologischen wird aber erreicht, wenn der Betreffende dann selbst Dinge für wahr hält, die es doch nicht sind. Diese Fälle bieten dem U. große Schwierigkeiten, weil dem Lügen solcher Leute kein oder wenigstens kein greifbares Motiv zugrunde liegt, weil die betreffenden Leute im übrigen einen normalen Eindruck machen und weil die Darstellung immerhin so verarbeitet gegeben wird, daß man an ihr für sich allein die Unwahrheit nicht erkennt. Diese Fälle, die man vielfach als pathologische Lügen bezeichnet, kommen zumeist bei p h a n t a s i e v o l l e n Leuten, Frauen und Kindern, aber auch bei Männern vor und durchlaufen alle Grade, von der kleinen Übertreibung bis zur voll1)

Nemo moriturus mentiri praesumitur. Vgl. Bucceroni, „Casus conscientiae", Univers. Gregor. R o m a 1903. 3) Vgl. Näcke, Zur Physio-Psychologie der Todesstunde, Archiv 12 S. 287. 3)

II. Abschnitt. Die Vernehmung.

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ständigen Erfindung des gesamten Herganges; „psychopathisch minderwertig" sind diese Leute aber meistens. Ein klassisches Beispiel für noch normales Verhalten in dieser Richtung gibt uns Goethe, welcher im zweiten Buch von „Dichtung und Wahrheit" von sich selbst sagt, daß er öfter erfundene Märchen als selbsterlebt erzählte. Er schließt mit den Worten: „Wenn ich nicht nach und nach, meinem Naturell gemäß, diese Luftgestalten und Windbeuteleien zu kunstmäßigen Darstellungen hätte verarbeiten lernen, so wären solche aufschneiderische Anfänge gewiß nicht ohne schlimme Folgen für mich geblieben." — Der erste, der die hierher gehörigen Erscheinungen einer eingehenden Untersuchung unterzog, war Delbrück. Seit seiner heute bereits klassisch gewordenen Arbeit „Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler" 1 ) fand dieser Gegenstand zahlreiche Bearbeitungen 2 ). Delbrück beobachtete viele Fälle unwahrer Erzählungen aus einem instinktiven Hang zur Lüge und Täuschung, wobei keine Möglichkeit besteht, den Vorgang im Krankheitsbild einer sonstigen Psychose unterzubringen. Delbrück bezeichnete dieses psychopathische Erscheinungsbild als „Pseudologia phantasica", betonte aber gleichzeitig, daß sich einzelne pseudologische Züge auch in anderen Krankheitsbildern finden. Fließend ist vor allem oft die Grenze zur Psychopathieform der Hysterie und zu dem Erscheinungsbild des vielumstrittenen „moralischen Schwachsinns" (moral insanity), bei dem ebenfalls eine abnorme Lügeneigung besteht. Im Einzelfall ist es schwer zu entscheiden, ob die unwahren ErStuttgart 1891. Vgl. die einschlägigen Kapitel in allen Lehrbüchern der Psychiatrie, insbesondere Kraepelin, Psychiatrie, 8. Aufl., Leipzig 1915 (4. Bd. S. 2043ff.); ferner die umfangreiche Literatur über seelische Grenzzustände (u. a. Otto Groß, Psychopathische Minderwertigkeiten, Wien 1909; H. F. Stelzer, Die psychopathischen Konstitutionen und ihre soziologische- Bedeutung, Berlin 1911; K. Schneider, Die psychopathischen Persönlichkeiten, 2. Aufl., Leipzig 1928; Willmanns, Die Psychopathie, Handb. d. Neurologie, hgg. von Lewandowski Bd. V) und übergerichtliche Psychiatrie (Cramer, Gerichtliche Psychiatrie, ein Leitfaden für Mediziner und Juristen, 4. Aufl., Jena 1908; Michel, Lehrbuch der forensischen Psychiatrie, Berlin 1931); von den seit Delbrück erschienenen zahlreichen Monographien über die pathologischen Lügner seien erwähnt : Koppen, Über die pathologische Lüge, Charité-Annalen 23 S. 674; Henneberg, Zur forensischen und klinischen Beurteilung der Pseudologia phantastica, Charité-Annalen, 25; J. Redlich, Ein Beitrag zur Kenntnis der Pseudologia phantastica, Allg. Ztschr. f. Psychiatrie 57 S. 65; Stemmermann, Beitrag zur Kenntnis und Kasuistik der Pseudologia phantastica, Allg. Ztschr. f. Psychiatrie 64 S. 69; Risch, Über die phantastische Form des degenerativen Irreseins (Pseudologia phantastica), Allg. Ztschr. f. Psychiatrie 65; Wendt, Ein Beitrag zur Kasuistik der ,,Pseudologia phantastica", Allg. Ztschr. f. Psychiatrie 68 S. 482; M. Dolenc, Pathologische Lügenhaftigkeit, Archiv 21 S. 82; F. Hartmann, Andichtung von Kindesmord, ein Beitrag zur Psychopathologie der Aussage, Archiv 21 S. 49; O. Hinrichsen, Zur Kasuistik und Psychologie der Pseudologia phantastica, Archiv 23 S. 33; E. Rechert, Eine Lügnerin aus Passion, Archiv 50 S. 305; A. Strauß, Zur Psychologie der pathologischen Schwindler, Archiv 56 S. m ; J. Jörger, Beitrag zur Kenntnis der Pseudologia phantastica, Vierteljschr. f. ger. Med., 3. Folge, 27 Suppl. S. 189; Göring, Ein hysterischer Schwindler, Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psychiatrie 1 S. 251; Wenger-Kunz, Kasuistische Beiträge zur Kenntnis der Pseudologia phantastica, Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psychiatrie 53 S. 263. 2)

Psychopathische Lügner und Schwindler.

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Zählungen solcher Menschen psychologisch noch im strengen Sinn als Lüge anzusehen sind, d. h. ob die Aussagenden im Augenblick ihrer Erzählungen an diese glauben oder nicht. Reinhard1) berichtete einst von einer hysterischen Dame, die unwahre Briefe schrieb, anonyme Sendungen an sich selbst veranstaltete und im Laufe der Zeit wirklich dahin kam, alles für wahr zu halten, was sie selbst in Bewegung gesetzt hatte. Ähnliche Fälle sind seither vielfach beobachtet worden. Hieher gehört aber auch schon jene eigentümliche und keineswegs seltene Sorte von Menschen, die mit Recht oder Unrecht von sich mehr halten, als ihnen die anderen zugestehen wollen und die sich dann in das gewünschte Plus von Anerkennung nach und nach hineinlügen. Das sind meistens Männer, etwas phantasievoll, nicht energisch genug, um sich die geträumte Stellung zu erkämpfen und mit so viel Naivität ausgestattet, um anzunehmen, daß ihnen die anderen ihre Erzählungen glauben. Eine Anzahl dieser Leute stellen Beamte usw., die von Anerkennungen und Belobungen durch hohe Vorgesetzte erzählen, welche sie nie erhalten haben und an die sie schließlich meistens selber glauben; Ärzte, Anwälte usw., die großartige Erfolge gehabt haben wollen, und am meisten die bekannten alten Schauspieler und Sänger, die aus ihrer theatralischen Vergangenheit Wunderdinge erzählen und oft auch glauben. Auch Erfinder, Neuerer und Weltverbesserer gehören hieher. Merkwürdig an diesen Erscheinungen, die alle etwas Pathologisches an sich tragen, ist ihre Übertragbarkeit, da in der Regel die Gattinnen dieser Leute von ihren Männern noch viel mehr erzählen als sie selbst. Den Übergang dieser phantasievollen Aufschneider ins Kriminelle bilden die immer wieder mit Erfolg auftretenden H o c h s t a p l e r , die in den mannigfachsten Rollen hochgestellter Persönlichkeiten — in der monarchistischen Zeit war besonders die Rolle des inkognito reisenden Mitgliedes des Herrscherhauses beliebt — ihre Umgebung zu täuschen wissen. Oft legen sie sich hochtrabende Titel und akademische Grade zu, die sie in ihrem Leben vielleicht gerne erreicht hätten, aber schon infolge ihrer psychopathischen Artung niemals erreichten, oder sie treten in Offiziersuniform (Hauptmann von Köpenick) oder im Priestergewand 2 ) x)

Vierteljschr. f. ger. Med. 1889. Seelig, Die Prüfung der Zurechnungsfähigkeit Geisteskranker durch den Richter, Graz 1920, schildert den Fall eines jungen Koches, dessen unerfüllter Herzenswunsch, Priester zu werden, ihn dazu trieb, während des Krieges als Feldkurat verkleidet mit an die Front zu gehen und durch lange Zeit unbeanstandet die priesterlichen Funktionen auszuüben. E n t l a r v t schrieb er ein bewegtes Selbstbekenntnis an seine Stiefeltern, das er sowohl mit seinem wahren Namen als auch mit seinem Pseudonym ,,P. Virgilius Feldkurat" fertigte. Wegen Betruges verfolgt, unterschrieb er auch die Gerichtsprotokolle in gleicher Weise und wie sehr sich bei ihm Lügebewußtsein und phantastische Einbildung verquickten, zeigen die Angaben, die er kurz nach seiner Verhaftung machte: „ I c h gebe zu, bei den Barmherzigen Schwestern 50 K herausgelockt zu haben. Ich bin nicht als Priester geweiht, habe mich aber beim 7. Korpskommando als Priester ausgegeben. Ich war jetzt 2 Monate an der Front als Feldkurat und ist der Urlaubsschein echt. Ich trage die Uniform mit Recht, weil ich wirklicher Feldkurat bin." 2)

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I I . Abschnitt. Die Vernehmung.

auf. Gewiß verbergen sich in diesen Rollen oft auch einfache Schwindler, deren Zurechnungsfähigkeit außer Frage steht — aber ein psychopathischer Zug haftet ihnen doch regelmäßig an: ohne einen solchen hätten sie nicht die Ausdauer zum ständigen Leben in fremden Rollen, zum fortgesetzten Lügen, das ihnen zur zweiten Natur geworden ist, und dessen Unwahrheit ihnen — zum Teil wenigstens —• nicht mehr bewußt ist. Eine v o r ü b e r g e h e n d e Neigung zu phantastischen Konfabulationen tritt bei Mädchen im Entwicklungsalter, insbesondere in der Zeit vor Eintritt der ersten Menstruation, und auch bei Frauen während der Schwangerschaft und im Wochenbett auf 1 ). In allen diesen Fällen ist es für den vernehmenden U. selbstverständlich besonders wichtig, die schon gegenüber gesunden phantasiebegabten Zeugen erforderliche Vorsicht 2 ) anzuwenden und nicht etwa durch interessiertes Weiterfragen und Eingehen auf die Phantasiegebilde den Vernommenen in seinen Erzählungen zu bestärken. Sobald die Leute merken, daß man ihren Angaben kritisch gegenübersteht, werden sie bald unsicher; umgekehrt steigern sie sich selbst in immer weitere phantastische Einbildungen hinein, wenn sie fühlen, ein geeignetes Objekt für ihre Märchen vor sich zu haben.

3. Vernehmung des Beschuldigten. a) Allgemeines. Bei der Vernehmung des Beschuldigten, der schwierigsten Aufgabe im Amte des U. — die zugleich sein Prüfstein ist —, ist zunächst all das zu berücksichtigen, was wir hinsichtlich des Zustandekommens und der Fehlerquellen aufrichtiger Zeugenaussagen3) kennengelernt haben: denn sofern sich der Beschuldigte wahrheitsgemäß verantwortet, unterliegt er den gleichen psychologischen Gesetzen. Ebenso ist auf den Beschuldigten, der unwahre Angaben macht, das sinngemäß anzuwenden, was in den beiden letzten Kapiteln über das (normale und pathologische) Lügen von Zeugen gesagt wurde. Dennoch gilt für die Beschuldigtenvernehmung insoweit noch Besonderes, als hierbei der Vernommene im Bewußtsein aussagt, sich gegenüber einem Verdacht, einer Beschuldigung oder gar schon erhobener Anklage zu verantworten — sei es, daß er als Unschuldiger einen unrichtigen Vorwurf abzuwehren hat und ehrlich Ripping, Die Geistesstörungen der Schwangeren, Stuttgart 1877; Klix, Uber die Geistesstörungen in der Schwangerschaft und im Wochenbett, Halle 1904; Wollenberg, Die forensisch-psychiatrische Bedeutung des Menstruationsvorganges, MschrKr. 2 S. 36; Horstmann, Über jugendliche Lügnerinnen, Ärztliche Sachverständigenzeitung 1 1 S. 4 1 2 ; Bischoff, Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden, Archiv 29 S. 109; Weinberg, Über den Einfluß der Geschlechtsfunktionen auf die weibliche Kriminalität, Halle 1907; Jaworski, Über Erscheinungen und Störungen während der Menstruation, Wien. Klin. Wochenschr. 1 9 1 0 Nr. 46. Vgl. oben S. 140 u. 143 und unten S. 276L 2 ) S. oben S. 1 3 3 . 3 ) Oben S. 75 ff.

Wahrheitstreue und Ruhe beim Vernehmen.

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um den Beweis seiner Unschuld kämpft, sei es, daß er als Schuldiger mit aufrichtiger oder geheuchelter Reue gesteht oder sich aufs Leugnen verlegt und mit gespielter Entrüstung den Kampf um den Unschuldsbeweis vorzutäuschen sucht. Hier sei zunächst nur auf einige allgemeine Regeln hingewiesen, die sich daraus für die Beschuldigten Vernehmung ergeben1). Die für jede Vernehmung aufgestellte Regel, nur nach e i n g e h e n d e r V o r b e r e i t u n g an die Vernehmung zu gehen, gilt ganz besonders bei der des Beschuldigten; dieser muß von allem Anfange an das Bewußtsein haben, der U. beherrsche das vorliegende und gesammelte Material vollständig, er muß die Arbeit des U. ernst nehmen, muß das Gefühl haben, daß der U. mit allen gesetzlichen Mitteln die Wahrheit zu erforschen gewillt ist. Daher befleißige sich der U. einer pedantischen, durch nichts zu verrückenden W a h r h e i t s t r e u e . Es klingt allerdings recht selbstverständlich, daß ein ehrlicher Mann die Wahrheit sprechen solle, aber gerade für den eifrigen U. liegt oft die Versuchung nahe, eine Zeugenaussage, die dem Beschuldigten vorzuhalten ist, oder ein Gutachten oder sonst ein Aktenstück ein ganz, ganz kleines bißchen anders mitzuteilen, um „dem Menschen das Geständnis zu erleichtern"; es liegt auch nahe, sich zu stellen, als ob man etwas wüßte, was man nicht oder nicht sicher weiß, oder etwas zu versichern, was man nicht versichern darf. Aber wie rächt sich all dieses! Welche Angst, wenn die Lüge bekannt würde, welche Beschämung vor dem Beschuldigten, wenn er das Unwahre nicht glaubt, und welche Qualen des eigenen Gewissens fürs ganze Leben lang! Die kleine „Inkorrektheit", als welche sie im Augenblicke erschien, wird im Laufe der Zeit in der Erinnerung zur ehrlosen Lüge, die vielleicht ohnehin ausgebliebene Wirkung wird zu einem unerlaubt erreichten Erfolge, der zweifellos Schuldige wird zum unschuldig Verurteilten! Darf der U. auf der einen Seite niemals von der Wahrheit abweichen, muß er andererseits dem Beschuldigten gegenüber den Eindruck zu erwecken wissen, daß er sich n i c h t a n l ü g e n lasse. Die kritiklose Hinnahme jeder noch so plumpen Lüge ist da vom Schaden. Der U. muß deutlich zu erkennen geben, daß er die Lüge erkenne, daß der Beschuldigte mit seiner verlogenen Verantwortung bei ihm kein Glück haben werde. Vollkommen falsch ist es, wenn der U. dem Beschuldigten die „Rechtsbelehrung" gibt, er habe das Recht zu lügen. Kein Gesetz enthält ein solches Recht. Wohl hat der Beschuldigte in den meisten Prozeßordnungen das Recht, die Aussage zu verweigern und ist zur WahrheitsVgl. die einschlägigen Kapitel bei v. Jagemann, H B . der gerichtl. Untersuchungskunde, Frankfurt 1838; A. Weingart, Kriminaltaktik, Berlin 1904; A. Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik bei Tatbestandsermittlungen, Berlin 1927; ferner: A. Henschel, Die Vernehmung des Beschuldigten, Stuttgart 1910; Glos, Zur Frage der Verteidigungsform der Verbrecher, Archiv 46 S. 213; v. Hentig, Zur Psychologie der Ausrede, MschrKr. Beiheft 1 (1926); E. Mezger, Die Beschuldigtenvernehmung auf psychologischer Grundlage, Ztschr. f. d. ges. Strafrechtsw. 40 S. 152; M. Liepmann, Die Psychologie der Vernehmung des Angeklagten im deutschen Strafprozeß, Ztschr. f. d. ges. Strafrechtsw. 44 S. 647; A. Wimmer, Gestehen und Leugnen im Strafprozeß, Ztschr. f. d. ges. Strafrechtsw. 50 S. 538.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

angabe nicht verpflichtet, was aber noch lange nicht einem Rechte zu lügen gleichkommt. Durch eine derart falsche Rechtsbelehrung wird dem Beschuldigten, der vielleicht sonst dem U. Vertrauen geschenkt hätte, ein ganz falscher Weg gewiesen und zwischen U. und Beschuldigten eine kaum durchtrennbare Mauer aufgerichtet. Ebenso unerläßlich ist leidenschaftslose R u h e . Wer sie verliert, begibt sich in die Gewalt des Beschuldigten, der, klüger als der U., seinerseits volle Ruhe bewahrt hat, ja vielleicht richtig berechnend, den U. absichtlich in Erregung brachte, um die günstigere Stellung zu erlangen. Unter Umständen ist es gewiß nicht leicht, seine Ruhe zu bewahren: wenn das Verbrechen selbst Abscheu und Zorn rechtfertigt, wenn der Beschuldigte gar zu frech leugnet, wenn er absichtlich nicht bei der Sache bleibt, nichts verstehen will und Unsinn vorbringt; trotz alledem darf der U. nie vergessen, daß er unter dem Zwange seiner Pflicht steht, und daß es seine Pflicht ist, sich vom Beschuldigten nicht überwinden zu lassen. Hält er sich stets vor Augen „ich darf nicht", so wird der pflichttreue U. sich auch dann nicht hinreißen lassen, wenn er ein sehr erregbarer Mann ist. Unfehlbar verloren ist auch jeder U., der sich vor seinem Beschuldigten f ü r c h t e t . Es ist freilich schwer, sich nicht zu fürchten, wenn man ein furchtsamer Mensch ist, aber, wie schon oben erwähnt, wer nicht „schneidig" ist, taugt nicht zum U. Jeder von uns hat übrigens Beispiele gesehen, wo Leute, die von Haus aus nicht viel Mut hatten, durch Überwindung und Gewohnheit niemanden mehr merken ließen, daß es ihnen einst recht unwohl zumute wurde, wenn der Beschuldigte nur die Augen rollen ließ. Ich möchte nicht die Verantwortung auf mich nehmen, jedem entschieden zu raten, sich n i e m a l s eines Schutzmittels gegen einen Beschuldigten (Fesselung, Wache beim Verhör usw.) zu bedienen; tue jeder, wie er es für nötig hält, ich spreche aber meine persönliche Ansicht dahin aus, daß derlei Ängstlichkeiten ausnahmslos überflüssig sind. Wie armselig muß es dem Beschuldigten vorkommen, wenn er gefesselt in das Büro des U. kommt, wenn Wache beigezogen wird, oder wenn er nur bemerkt, daß man schon vor seinem Erscheinen Papierscheren, schwere Tintenfässer, Falzmesser und ähnliche gefährliche Werkzeuge, die er etwa erwischen und damit zum Angriffe schreiten könnte, fürsorglich beseitigt hat, wenn sich der U. in respektvoller Entfernung von ihm aufhält und sofort einen einlenkenden Ton anschlägt, wenn der Beschuldigte lauter spricht oder die Hände ballt; da imponiert ihm der U. gewiß nicht, da läßt er sich von ihm auch nicht überzeugen. Und sind alle Vorsichtsmaßregeln getroffen, würde man den Beschuldigten selbst in einem Käfig hereinbringen lassen, wenn er etwas tun w i l l , so kann er es unter allen Umständen. Er tut aber nichts. Die Fälle, in denen ein Untersuchungshäftling handgreiflich gegen den U. wurde, sind so selten, wie das Erschlagen werden durch fallende Meteore. Besser als alle äußeren Schutzmittel sind die, welche der U. stets zur Verfügung haben kann: vollkommene Ruhe und gerechtes, mensch-

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B e s c h u l d i g t e , die gefährlich w e r d e n k ö n n t e n .

liches Vorgehen. Allerdings kommen ja Beschuldigte bösartiger Qualität vor, gegen die allerdings V o r s i c h t am Platze ist. Man gewöhne sich in solchen Fällen, den Mann nicht einen Moment, a b e r w i r k l i c h k e i n e n M o m e n t , aus dem Auge zu lassen, jeden Blick, jede Bewegung zu verfolgen und zu beobachten. F e r n e r s i t z e m a n nie b e i der V e r n e h m u n g b e d e n k l i c h e r P e r s o n e n : jeder Angriff, jede Abwehr wird stehend unternommen, sitzt man, und es erfolgt wirklich ein Angriff, so braucht man so viel Zeit, um aufzuspringen und sich in Position zu setzen, daß man schon bedeutend im Verzuge ist. Wenn der Beschuldigte sitzt (und sitzen m u ß er) und der U. steht, so ist dieser für jeden Fall bedeutend im Vorteil. Weiters stehe man so n a h e am Vernommenen, als es, ohne aufzufallen, zulässig ist. Man beobachtet ihn besser, m a n v e r g i ß t n i c h t , ihn s t e t s a n z u s e h e n , ihm selber vergeht aber die Lust etwas zu tun, wenn der U. knapp vor ihm steht, und im äußersten Falle hat man nahestehend, dem sitzenden Beschuldigten gegenüber, die beste Position, um ihn packen zu können. Ein festes, sicheres Auftreten ist auch Personen gegenüber am Platz, bei denen die Frage, ob man es vielleicht mit einem irren Verbrecher oder einem verbrecherischen Irren zu tun hat, noch ungelöst ist. Der feste Blick übt hier eine ähnliche Wirkung wie dem wilden Tier gegenüber. Es sind nur wenige Fälle möglich, in denen ein Attentat für den Beschuldigten einen Sinn hätte und ganz Sinnloses tut nicht leicht jemand! Es wäre möglich, daß der Beschuldigte gefährliche Geisteskrankheit, z. B. einen Tobsuchtsanfall, vortäuschen wollte, um dem drohenden Kerker zu entgehen und diesen mit einer Heilanstalt auszutauschen, aus der eine Flucht jedenfalls leichter ist; es wäre auch der Fall denkbar, daß ein wegen schweren Verbrechens Verurteilter ein Attentat verübte, um eine neue Verhandlung und auf diese Weise eine Wie der aufrollung des mit der Verurteilung geendeten Strafverfahrens zu erzwingen1). Allein in solchen Fällen wird das Vorleben des Beschuldigten wohl schon zur Vorsicht mahnen und eine Vernehmung in der Verhörzelle genügende Sicherheit bieten. Eine andere Möglichkeit wäre die, daß bei einem kleinen Gerichte ohne Korridorwache und ohne Torwart der Beschuldigte Gelegenheit suchte, zu entkommen. Wenn in einem solchen Falle der U. auch nur auf kurze Zeit keinen Protokollführer hätte, und wenn er den Beschuldigten nicht beobachtete, z.B. etwas im Akte suchte, und wenn dieser eine Waffe hätte, so könnte er ja den U. niederschlagen und zu fliehen versuchen, aber da sind so viele „wenn" und so viele Unvorsichtigkeiten beisammen, daß man an ihr Zusammentreffen nicht zu glauben braucht. Ein anderer Fall, in dem sich der Beschuldigte an dem U. vergreifen könnte, wäre der, wenn dieser sich ungerecht, aufbrausend, grob oder höhnisch gegen den Beschuldigten benommen und daher seinen Zorn erregt hat. Widerfährt dem U. in einem solchen Falle etwas Menschliches, so geschieht ihm recht. Man sage nicht, es könne auch ein Mißverständnis obwalten, der Beschuldigte könne nur g l a u b e n , daß er ') Höpler,

W i e d e r a u f n a h m s b e g e h r e n als V e r b r e c h e n s m o t i v , A r c h i v 67 S. 223.

G r o ß - S e e l i g , Handbuch. 8. Aufl.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

ungerecht beurteilt und behandelt werde, während es in Wirklichkeit nicht so sei. Das pflegt nicht vorzukommen. Der Beschuldigte, gleichviel welchem Stande er angehört, empfindet es richtig und wie ein Kind, ob er ungerecht oder bloß ernst und strenge behandelt wird; gegen dieses Vorgehen wird er sich niemals auflehnen, auch auf den Allerverworfensten macht es Eindruck, wenn er wahrnimmt, daß der U. seine Pflicht mit Eifer tut, und auch eiserne Strenge wird nicht schwer empfunden, wenn der Beschuldigte merkt, daß der U. ihn dabei menschlich behandelt und bemüht ist, nicht nur ihn zu belasten, wo es möglich ist, sondern auch mit gleichem Eifer das zu erheben, was allenfalls seine Unschuld erweisen oder sein Verschulden minder strafbar erscheinen lassen kann. Bei männlichen Beschuldigten versäume man ja nicht, im Vorleben auch das Verhalten im Krieg zu erheben. Ob der Mann an der Front gedient oder ob er ohne gesundheitliche, wirtschaftliche oder berufliche strenge Nötigung sich im Hinterlande oder der Etappe in allerlei Scheindiensten herumdrückte, ob er dem Gemeinsinn Opfer gebracht oder durch Schiebergeschäfte Sondervorteile gesucht, wie er sich dem Unglück der Heimat und dem Wiedererwachen des deutschen Volkes gegenüber benommen, all das ist für die Beurteilung des Charakters von großer Bedeutung. Die Technik der Vernehmung selbst verlangt zuerst, den Menschen zu kennen und zu erfassen1). Wenn in einem Protokolle mit einem Beschuldigten dessen Vorleben z u l e t z t aufgenommen wurde, so ist von der ganzen Führung der Untersuchung, wenigstens vom psychologischen Standpunkt aus, nicht viel zu erwarten, denn der U. hat sich keine Mühe gegeben, den Beschuldigten kennen zu lernen, bevor er an die eigentliche Arbeit gegangen ist, und wenn er das nicht getan hat, so wird er manches andere Notwendige auch nicht getan haben. Findet man aber zu B e g i n n des Protokolles einen sorgfältig aufgenommenen Lebenslauf des Beschuldigten, so wird die ganze Untersuchung wenigstens sorgfältig und gescheit geführt sein. Wird das Vorleben genau erhoben, so erfährt man vor allem, was für einen Menschentyp man vor sich hat, man kann weiter ausholen und manches fragen und feststellen, was zwar nicht eigentlich zur Sache gehört, aber oft klaren Einblick in das Wesen des Beschuldigten tun läßt. In der Regel sagt der Beschuldigte hierbei wenigstens zum Teile die Wahrheit, tut er das aber nicht, so l e r n t m a n d e n n doch e r k e n n e n , in w e l c h e r Weise er zu l ü g e n p f l e g t . Dazu kommt noch, daß man das Lügen beim Erzählen des Vorlebens bald durchschaut. Man macht sich nebstbei kleine Notizen, hält gewisse Zeitgrenzen fest, läßt sich später die Sachen wiederholen und bemerkt Widersprüche, mangelhafte Zeitausfüllungen oder Unmöglichkeiten; außerdem hat man oft Gelegenheit, aus den Vorakten das früher als 1

) Vgl. oben S. 45ff.; Lenz, Art. „Vernehmungstechnik" im H d K .

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G a n g der Vernehmung.

„Vorleben" Angegebene einzusehen und mit dem heute Erzählten zu vergleichen. Hält man dem Beschuldigten das vor und beweist man ihm so, daß man sich nicht zu gerne anlügen läßt, so kann ihn dies, und zwar keineswegs in seltenen Fällen, dahin bringen, daß er seinen Entschluß, in der Sache selbst zu leugnen, aufgibt und dann, wenn man allgemach auf diese selbst übergeht, reumütig gesteht. Überhaupt bewährt es sich, daß man zwischen der Aufnahme des „Vorlebens" und der Vernehmung zur Sache keine scharfe Grenze zieht, sondern, chronologisch vorgehend, nach und nach zu jener Zeit gelangt, in der das Verbrechen begangen wurde, bis man auf dieses selbst zu sprechen kommt. Die Tat oder das, was der Beschuldigte zur Tatzeit angeblich getan hat, läßt man sich z u s a m m e n h ä n g e n d erzählen und es ist wichtig, daß man diesen „Bericht" auch protokolliert, b e v o r man mit E i n z e l f r a g e n , dem eigentlichen „Verhör", beginnt. Denn nur dann kann man Widersprüche zur vorausgegangenen Erzählung, in die sich der Beschuldigte beim Verhör verstrickt, einwandfrei feststellen. Es muß auch aus dem Protokoll ersichtlich sein, wo der zusammenhängende Bericht beendet ist und die Angaben auf Einzelfragen beginnen; nur auf diese Weise ist eine nachträgliche psychologische Würdigung der Aussagen möglich. Hingegen ist eine w ö r t l i c h e Protokollierung des Frage- und Antwortespieles nur in Ausnahmefällen erforderlich, besonders wenn mit der Möglichkeit zu rechnen ist, daß später von der Verteidigung eine suggestive Beeinflussung behauptet wird, z. B. bei Vernehmung von Jugendlichen.

b) Geständnis1). Niemand wird behaupten wollen, daß man dem Beschuldigten das Über das Geständnis v g l . noch außer der oben S. 74 angeführten Literatur: H. Groß, Kriminalpsychologie, 2. A u f l . (1905), S. 3 6 f f . und i 3 o f f . ; E. Sello, Die Irrtümer der S t r a f j u s t i z und ihre Ursachen, Berlin 1 9 1 1 (mit zahlreichen Beispielen scheinbar unbegreiflicher Geständnisse); Hofmann, Gerichtl. Medizin, 9. A u f l . , S. 728, 739 und 1043; Seelig, Art. „ L ü g e " im H d K . ; ferner folgende speziell das Geständnis behandelnde Arbeiten: Kitka, Geständnis, Beiträge zur Lehre des T a t b e s t a n d e s der Verbrechen, Wien 1843; Kreuser, Zur forensen W ü r d i g u n g von Selbstanklagen, Allg. Ztschr. f. Psychiatrie 56; E. Lohsing, Das Geständnis in Strafsachen, Jurist.-psychiatr. Grenzfragen 3 H . 1/3, 1905; Hagemann, Selbstanzeigen Geisteskranker, Jurist.-psychiatr. Grenzfragen 7 H. 8, 1 9 1 1 ; Leppmann, E i n eigenartiger Fall v o n falscher Selbstbezichtigung, Arztl. S a c h v . - Z t g . 17 Nr. 22, 1 9 1 1 ; Heilbronn, Selbstanklagen und pathologische Geständnisse, Münch, med. Wschr. 1914 S. 345; E. Lohsing, Betrachtungen über das Geständnis, A r c h i v 4 S. 423; Nemanitsch, E i n Kannibale, A r c h i v 7 S. 300; hierzu: H. Groß, Z u m Fall „ E i n K a n n i b a l e " , Archiv 16 S. 1 5 1 ; Haußner, D a s Geständnis des Verbrechers, Archiv 13 S. 267; Margulies, Ü b e r Selbstanklagen bei Paranoia, A r c h i v 20 S. 9 1 ; Nücke, Erpressung von wahren und falschen Geständnissen, A r c h i v 25 S. 3 7 7 ; Kroch, E i n unwahres Geständnis, A r c h i v 27 S. 1 7 6 ; Peßler, E i n B e i t r a g zur Psychologie der Mörder (Genesis der Geständnisse, L ü g e n geständiger Mörder in Nebenpunkten, Gefühlsverrohung), A r c h i v 27 S. 308; Jung, U n w a h r e Geständnisse, Archiv 28 S. 3 1 3 ; v. Karmann, Falsche Geständnisse, A r c h i v 51 S. 326; Henschel, Der Geständniszwang und das falsche Geständnis, A r c h i v 56 S. 10; Ludwig, Ein Fall wissentlich unwahrer Selbstverdächtigung, A r c h i v 65 S. 3 0 1 ; Peschke, E i n Geständnis, A r c h i v 86 S. 87; 11*

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I I . A b s c h n i t t . Die Vernehmung.

Geständnis in dieser oder anderer Weise entlocken solle 1 ), dies wäre ehrund zwecklos, wohl aber meine ich, daß man ihm das Gestehen wenigstens nicht zu erschweren braucht. Man erweist ihm damit, nach meiner innersten Überzeugung, eine Wohltat, denn das Geständnis ist oft ein Vorteil für den Beschuldigten: seine Tat erscheint in einem milderen Lichte, er sichert sich eine geringere Strafe und die Erleichterung des Gewissens ist auch für den Verworfensten ein nicht zu leugnender Gewinn. Man suche stets den Weg zum Menschen. Zu verlangen, daß jemand seine oft entsetzliche Tat mit dürren Worten gestehen soll, ist entweder hart oder psychologisch nicht richtig; wer mit vielen Leuten tiefstehender Natur verkehrt hat, weiß gut, wie sehr sie sich selbst dann, wenn sie die Tat vollkommen gestanden haben, noch immer scheuen, den eigentlichen Ausdruck zu gebrauchen. Sogar das Wort „gestohlen" bringen bessere Naturen oft nicht heraus, und geradezu merkwürdig ist es, welch zahlreiche Umschreibungen häufig gesucht werden, um nicht „umgebracht" sagen zu müssen. Ist es aber den Leuten schwer, ein einziges bezeichnendes Wort auszusprechen, um wie viel schwerer muß es ihnen sein, ohne weiteres eine zusammenhängende Darstellung ihrer Schuld zu geben. Hierzu muß ihnen der Weg geebnet, die Rede erleichtert werden. Mitunter muß man auch den richtigen Augenblick erhaschen, in dem es dem Schuldigen leichter ist, zu gestehen. Häufig ist viel Geduld nötig; es muß langsam Schritt für Schritt vorgegangen werden, und mühsame Erhebungen sind anzustellen, wenn eine Tat nur teilweise oder von mehreren Taten nur einige gestanden werden. Solche Fälle erfordern oft genaue Unterscheidungen; manchmal gesteht einer nur bis zu einer gewissen Grenze, nämlich nur so weit, als es die Schonung eines Komplizen erfordert, oder als die Grenze der Strafbarkeit beginnt, oder als aus einem minder bestraften Delikte ein härter bestraftes werden könnte. E i n G e s t ä n d n i s e n t s p r i c h t nur d a n n d e r W a h r h e i t , w e n n es s i c h a l s die P r e i s g a b e e i n e s G e h e i m n i s s e s d a r s t e l l t . Daraus ergibt sich der richtige Weg zu seiner Erlangung. Nicht das Versprechen von Vorteilen, z. B. der Enthaftung, nicht eine durch stundenlange Nachtverhöre erreichte Erschöpfung (die psychische Ausnahmezustände erzeugen kann), nicht das Ausmalen von deprimierenden BilHussa, E i n Mordgeständnis, ausgelöst durch eine H a f t p s y c h o s e , A r c h i v 89 S. 1 1 7 ; F. Meinert, D a s erpreßte Geständnis, Kriminalistik 12 S. 249; Marx, Falsche Selbstbezichtigung und Massensuggestion, MschrKr. 9 S. 540; Weygandt, Über k r a n k h a f t e Selbstbeschuldigung, MschrKr. 19 S. 1 7 ; A. Wimmer, Gestehen und Leugnen im Strafprozeß, Ztschr. f. d. ges. Strafrechtsw. 50 S. 3 5 8 ; Härtung, A r t . „ G e s t ä n d n i s " im H d K . Zumal sind alle jene „ K u n s t s t ü c k e " grundsätzlich zu vermeiden, durch die der Beschuldigte „ g e f a n g e n " , „überrumpelt", „ g e w o n n e n " usw. werden soll und wie sie z. B. v o n Goron, Hollmann, Weien, Guillot, Haberland usw. seinerzeit triumphierend mitgeteilt wurden. Allerdings scheinen solche Methoden in der Praxis des amerikanischen Polizeiverhörs auch heute noch g e ü b t zu werden, so besonders bei dem gefürchteten „3. G r a d " der V e r n e h m u n g (vgl. W. Gierlichs, Untersuchungs- und Vernehmungsmethoden der amerikanischen Polizei, Kriminalistik 9 S. 8).

Wahre und falsche Geständnisse.

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dem (Not oder Krankheit in der Familie u. ähnl.) werden die Quelle wahrer Geständnisse sein, sondern derartige Feststellungen, Aufklärungen und Erhebungen, die den Beschuldigten zur Überzeugung bringen, daß seine Tat kein Geheimnis mehr ist. Unter diesen Voraussetzungen wird das Geständnis wie eine reife Frucht in den Schoß fallen. Falsche Geständnisse können nur dadurch vermieden werden, daß man das vom Beschuldigten Zugestandene und sorgfältig Niedergeschriebene möglichst erschöpfend auf seine Wahrheit überprüft. Niemals begnüge man sich mit einem durch keine anderen Beweise gestützten Geständnisse, mit dem der Schuldbeweis steht und fällt. Nicht selten treten falsche Geständnisse infolge von Geisteskrankheiten auf. Diese Fälle sind um so gefährlicher, als sich solche Erkrankungen oft nicht anderweitig äußern, so daß der betreffende Geständige, wenigstens für den Laien, normal erscheint. Auch bei gewissen Vergiftungen (durch Kohlendunst, gewisse schädliche Pilze usw.) wurden höchst merkwürdige unrichtige Geständnisse beobachtet, auf die nicht dringend genug hingewiesen werden kann. Selbstverständlich kommen aber auch unter ganz normalen Verhältnissen falsche Geständnisse und zwar verhältnismäßig zahlreich vor. Bei einem Teile von ihnen läßt sich der Beweggrund feststellen; meistens glaubt der Geständige — mit Recht oder Unrecht — , daß er sich dadurch seine Lage wegen eines anderen, wirklich begangenen Verbrechens erleichtert; mitunter will er die Schuld für irgend jemand, ihm Nahestehenden auf sich nehmen oder er wurde hiezu vom wahren Täter gegen Entgelt gedungen. Auch Fälle sind mir bekannt, in denen der Beschuldigte aus Scham, Trunkenheit einzugestehen, ein falsches Geständnis ablegte. Eine Kindesmutter gab einmal fälschlich zu, in einem Vaterschaftsprozesse eine falsche Zeugenaussage abgelegt zu haben, weil sie für ihr Kind einen vermögenden Vater zu erhalten hoffte. Auch kommt es vor, daß bei einem entsprechend veranlagten Beschuldigten — ganz ohne Zutun des U. — Depressionszustände entstehen, die zu falschen Geständnissen führen können. Sehr oft ist aber trotz aller erdenklichen Mühe der Grund des falschen Geständnisses durchaus nicht herauszubringen. Daß in diesen schwierigen Fällen alles daran gesetzt werden muß, um sich über die seelischen Hintergründe des Geständnisses Klarheit zu verschaffen, ist selbstverständlich. Überhaupt aber scheue man keine Mühe, um den Beschuldigten, die Akten und alle sonst erkundbaren Umstände, welche mit dem Fall zusammenhängen, so genau als möglich zu kennen, denn durch nichts verliert man so vollkommen und dauernd die Herrschaft über den Beschuldigten, als wenn man die geringste, vielleicht ganz gleichgültige Unkenntnis in der Sache verrät. Ist der Beschuldigte auf irgendeine Lücke im Verfahren, eine falsche Auffassung, eine Unkenntnis des U. oder auf mangelhafte Hilfsmittel gekommen, so verschanzt er sich dahinter, und keine Mühe und kein Scharfsinn bringt ihn aus seiner Bergung wieder heraus.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung. c) M i m i k und P h y s i o g n o m i k .

I c h m ö c h t e hier einige W o r t e ü b e r die L e h r e v o m Gesichtsausdruck anschließen, eine Disziplin, welche w i e w e n i g e andere v o n ihren A n h ä n gern ü b e r s c h ä t z t , v o n ihren Gegnern u n g e b ü h r l i c h herabgesetzt w i r d ; ich m ö c h t e meinen, d a ß eher jene R e c h t h a b e n , welche ihr einen verh ä l t n i s m ä ß i g nicht z u geringen W e r t beimessen. M a n geht z u w e i t , w e n n m a n E i n z e l m e r k m a l e i m menschlichen A n t l i t z e herausgreifen u n d beh a u p t e n will, d a ß gewisse F o r m e n , B i l d u n g e n , F a r b e n u n d Relationen untereinander auf b e s t i m m t e C h a r a k t e r e i g e n s c h a f t e n schließen lassen, sicher ist es aber, d a ß der erfahrene K e n n e r aus den Zügen, d e m Mienenspiel u n d d e m g a n z e n G e h a b e n des G e s i c h t s v i e l mehr entnehmen u n d erkennen k a n n , als alle W o r t e z u sagen v e r m ö g e n . E s k a n n nicht a n dieser Stelle ein A u s z u g ü b e r M i m i k u n d P h y s i o g n o m i k gegeben, wohl a b e r nicht dringend g e n u g darauf hingewiesen werden, d a ß sich der U . keine Gelegenheit entgehen lassen darf, u m theoretische u n d praktische S t u d i e n in dieser R i c h t u n g z u m a c h e n . I c h will nicht b e h a u p t e n , d a ß m a n den alten Lavater hervorziehen 1 ) u n d auf seine W o r t e schwören soll; w e r aber die modernen A n s i c h t e n 2 ) ü b e r unsere F r a g e einer genaueren D u r c h s i c h t unterzieht, w i r d finden, d a ß m a n v o n d e m B e g r ü n d e r dieser L e h r e a u c h h e u t e n o c h sehr v i e l lernen k a n n . W o er fehlt u n d w o er recht h a t , l ä ß t sich leicht sagen. E r fehlt dort, w o er, wie oben e r w ä h n t , die B e d e u t u n g der E i n z e l f o r m ü b e r s c h ä t z t , er belehrt uns dort, w o er zeigt, ') J. K. Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis, Leipzig 1775/78-,J.K.Lavater, Ausgewählte Schriften, Zürich 1844; von der übrigen älteren und alten Literatur vgl. Aristoteles, Physiognomika, übersetzt und eingeleitet in: Schneidewin, Die Aristotelische Physiognomik, Heidelberg 1929; Johannes Bapt. Porta, De humana physiognomonia, 1591, übersetzt und erläutert: Die Physiognomie des Menschen, Dresden 1929; C. G. Carus, Symbolik der menschlichen Gestalt, neu bearbeitet, 3. Aufl., Celle 1925; Schopenhauer, Zur Physiognomik, in: Parerga und Paralipomena, Berlin 1851: H. Magnus, Die Sprache der Augen, Wiesbaden 1885; Th. Piderit, Mimik und Physiognomik, 2. Aufl., Detmold 1886; Mantegazza, Physiognomik und Mimik, deutsche Ausgabe, Leipzig 1890; S. Schack, Physiognomische Studien, aus dem Dänischen übersetzt, Jena 1890; A. Borée, Physiognomische Studien, Stuttgart 1899. Berührungspunkte mit Physiognomik hatte auch die heute längst überholte Gehirnlokalisations- und Schädelbaulehre Galls (F. J. Gall, Anatomie et physiologie du système nerveux en général et du cerveau en particulier, 2. Aufl., Paris 1822—25). 2) Aus der reichhaltigen Literatur seit der Jahrhundertwende ist hervorzuheben; Hughes, Die Mimik des Menschen, Frankfurt 1900; H. v. Heller, Grundformen der Mimik des Antlitzes, Wien 1902; H. Rudolf, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen des Menschen, Dresden 1903; Sante de Sanctis, Die Mimik des Denkens, deutsche Übersetzung, Halle 1906; S. Skraup, Mimik und Gebärdensprache, 2. Aufl., Leipzig 1908; Virchow, Gesichtsmuskeln und Gesichtsausdruck, Arch. f. Anatomie u. Physiologie, 1908; Gießler, Mimische Gesichtsmuskelbewegungen vom regulatorischen Standpunkt aus, Ztschr. f. Physiologie, 1912; derselbe, Der Blick des Menschen als Ausdruck seines Seelenlebens, Ztschr. f. Physiologie, 1913; Kruckenberg, Der Gesichtsausdruck des Menschen, 2. Aufl., 1920; Th. Kirchhoff, Der Gesichtsausdruck und seine Bahnen bei Gesunden und Kranken, Berlin 1922; O. Rutz, Vom Ausdruck des Menschen, Celle 1925; A. Flach, Die Psychologie der Ausdrucksbewegung, Arch. f. d. ges. Psychologie 65, 1928 ; Th. Lersch, Gesicht und Seele, München 1932 ; R. Kaßner, Physiognomik, München 1933; H. Strehle, Analyse des Gebarens, Berlin 1935; Fritz Lange, Die Sprache des menschlichen Antlitzes, München 1937.

Mimische Ausdrucksbewegungen.

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wie man aus dem Gesamtausdrucke zu lesen vermag. Zu welch schweren Irrtümern eine bloße Formendeuterei führen kann, zeigte sich, als er das Porträt eines in Hannover hingerichteten Mörders für das von ihm längst erwartete Bildnis Herders gehalten und hierbei aus den Formen des Mördergesichtes alle Eigenschaften herausgelesen hat, die er bei Herder voraussetzte. Wie unübertrefflich ist es aber, wenn er z. B. sagt: „Vornehmlich erkenne ich, wie den wahren Weisen, so den echten Ehrlichen aus der Art, wie er hört. . . ein gewisses Licht der Augen, Helle des Blickes, in welchem Ruhe und Bewegsamkeit sich zu vereinen scheinen, ein Mittellicht zwischen Blitz und Mattigkeit." Dies ist eine Lehre, wie sie auch heute niemand dem U. besser und wertvoller geben könnte: d e n V e r n e h m e n d e n z u b e o b a c h t e n , w e n n er z u h ö r t , das ist eine Kardinalregel, deren Beobachtung den U. rascher zum Ziele bringen wird, als viele stundenlange Verhöre. Auch den Verstand, die gesellschaftliche Bildung, Gutmütigkeit und Bosheit kann man nie so gut beurteilen, als wenn man die Art, wie der Betreffende zuhört, sorgfältig wahrnimmt. Wer wirkliches Wissen auf diesem schwierigen Gebiet erwerben will, muß sich außer dem Studium der einschlägigen Literatur auch eingehenden, systematischen Beobachtungen widmen, durch die er sich übt, Ausdruckserscheinungen als solche zu erfassen und den von der modernen Forschung ermittelten körperlich-seelischen Zusammenhängen nachzugehen. Hierfür seien hier nur folgende grundsätzliche Hinweise gegeben: Der Gesichtsausdruck eines Menschen, der uns gegenübertritt, umfaßt z w e i e r l e i : den im wechselnden Mienenspiel liegenden Ausdruck seiner a u g e n b l i c k l i c h ablaufenden E r l e b n i s s e einerseits und den in der s t ä n d i g e n Eigenart des Antlitzes liegenden Ausdruck seiner P e r s ö n l i c h k e i t anderseits. Mit der ersten Gruppe von Erscheinungen beschäftigt sich die M i m i k , mit der zweiten Gruppe die P h y s i o g n o m i k . Gegenstand der M i m i k sind somit die A u s d r u c k s b e w e g u n g e n 1 ) des Gesichtes, die mit einem augenblicklichen Erlebnis in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Nach unserer biologischen Auffassung sehen wir in jedem Lebensvorgang einen ganzheitlichen, körperlich-seelischen Ablauf. Wir sind darum heute mehr denn je davon überzeugt, daß jedem seelischen Vorgang ein körperliches Geschehen e n t s p r i c h t , ohne uns auf die alte philosophische Streitfrage nach der Art dieses „psychophysischen Zusammenhanges" (kausale Wechselwirkung, psycho-physischer Parallelismus oder transzendentaler Monismus) einzulassen. Die ältere Forschung der „physiologischen Psychologie" erfaßte diese zuZur Lehre von den körperlichen „Ausdrucksbewegungen" in jenem weiten Sinn, in dem diese Bezeichnung im T e x t verwendet wird, vgl. Wundt, G r u n d züge der physiologischen Psychologie, 6. A u f l . 1 9 0 8 — 1 9 1 1 (insbes. 3. B a n d S. 26off.); A. Lehmann, Körperliche Äußerungen psychischer Zustände, I. Teil 1899, I I . Teil 1901; Leschke, D i e Ergebnisse und die Fehlerquellen der bisherigen Untersuchungen über die körperlichen Begleiterscheinungen seelischer Vorgänge, Archiv f. d. ges. Psychologie 31 (1914); E. Weber, Der E i n f l u ß p s y chischer Vorgänge auf den Körper, Berlin 1910; Störring, Psychologie des menschlichen Gefühlslebens, B o n n 1 9 1 6 ; Heyer, D a s seelisch-körperliche Z u sammenwirken in den Lebensvorgängen, München 1925.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

geordneten körperlichen Vorgänge lediglich als empirisch feststellbare körperliche „Begleiterscheinungen". Unter diesen bildet die Gesichtsmimik nur einen kleinen Ausschnitt, denn fast alle Funktionen unseres körperlichen Lebens sind von den jeweils ablaufenden seelischen Vorgängen abhängig, so insbesondere die Herztätigkeit und dadurch der Blutdruck, die Atmung, die (äußere) Sekretion der verschiedenen Drüsen, insbesondere der Speichel-, Tränen-, Schweiß-, Magen- und Darmdrüsen, die Innervation der Blutgefäße, der Spannungszustand der Muskulatur und dadurch die unwillkürlichen Bewegungen des Kopfes, der Hände und Füße, die Kontraktionen des Darmes und der Harnblase, die geschlechtliche Errektion usw. Bei einem Teil dieser körperlichen Vorgänge steht ihr Erscheinungsbild mit dem ihm entsprechenden Erlebnis in einem unmittelbar verstehbaren Zusammenhang: daß Lachen der Ausdruck von Freude sei, hingegen Weinen der Ausdruck von Schmerz, dazu bedarf es keiner langatmigen statistisch-empirischen Feststellungen, dies erscheint vielmehr im sinnhaften Wesen dieser Ausdrucksphänomene selbst zu liegen. Allein es empfiehlt sich nicht, nur solche körperliche Vorgänge als „Ausdrucksbewegungen" (im engeren Sinn) zu bezeichnen — wie es manche tun —, denn die Grenze dieser unmittelbaren Verstehbarkeit ist subjektiv und fließend: manche physiologischen Veränderungen, die im praktischen Leben wenig beobachtet werden, erscheinen uns zunächst als bloße „Begleiterscheinungen"; bei längerer Übung im Erfassen dieser körperlichen Vorgänge und der ihnen zugeordneten Erlebnisse erscheinen sie uns als deren A u s d r u c k . In der Kriminalistik werden daher zweckmäßigerweise unter „Ausdrucksbewegungen" alle physiologischen Veränderungen verstanden, die einem psychischen Vorgang in einer Weise zugeordnet sind, daß sie der Offenbarung dieses seelischen Vorganges — auf irgendeinem Weg menschlichen Erkennens1) —dienen können. Viele dieser Ausdrucksbewegungen lassen sich ihrer Natur l ) Viel erörtert wurde seinerzeit die Frage, wieso ü b e r h a u p t der Mensch seelische Vorgänge eines anderen erfassen k a n n . Die ältere Auffassung glaubte an einen Analogieschluß, durch den der Mensch, der die Zuordnung seelischer und körperlicher Abläufe an sich selbst erlebt, bei gleichartigen körperlichen Erscheinungen eines Menschen auf dessen Innenleben schließt (dazu m ü ß t e er aber seine eigenen Ausdruckserscheinungen — etwa durch Beobachtung im Spiegel — kennen!). Neuere Theorien nehmen einen EinfühlungsVorgang verb u n d e n mit einer angeborenen N a c h a h m u n g s t e n d e n z (Lipps) oder ein unmittelbares Erfassen infolge eines Wesenzusammenhanges zwischen Seelischem und seinem Ausdruck (Scheler, Klages u. a.) an. Diese Schwierigkeit der E r k l ä r u n g besteht aber n u r f ü r das erstmalige Erfassen fremder Erlebnisse als Kleinkind. I m L a u f e des Lebens ü b t sich der Mensch in diesem Erfassen schon dadurch, d a ß er in gemeinsamen äußeren Situationen, die in ihm b e s t i m m t e Erlebnisse hervorrufen, a n n i m m t , daß der andere, dessen Ausdrucksbewegungen er gleichzeitig w a h r n i m m t , Gleichartiges erlebt. Wir beobachten z. B. schon bei Kindern, die gemeinsam der V o r f ü h r u n g eines Kasperltheaters zusehen, den gleichzeitig a u f t r e t e n d e n Ausdruck der gespannten E r w a r t u n g , das durch eine komische Situation gleichzeitig a u f t r e t e n d e Lachen, den Ausdruck freudiger Genugtuung, wenn der Kasperl den Teufel besiegt usw. Mannigfaltige Lebenssituationen vermitteln ein ähnliches Anschauungsmaterial und so k o m m t der heranwachsende Mensch bald zu einer festen Zuordnung zwischen Ausdruckserscheinungen und Seelischem.

Das Deuten des Ausdruckes.

nach überhaupt nicht optisch erfassen, sondern nur mit Hilfe mehr oder weniger komplizierter Registrierapparate ermitteln 1 ). Die Mimik hingegen beschäftigt sich speziell mit den optisch wahrnehmbaren Ausdrucksbewegungen des Gesichtes. Für die kriminalistische Verwertbarkeit von Ausdrucksbewegungen ist es auch nicht entscheidend, ob wir ihr physiologisches Zustandekommen kausal erklären können oder nicht; manche Ausdrucksphänomene erscheinen entwicklungsgeschichtlich als ursprüngliche Zweckbewegungen (Darwin), bei vielen fehlt aber eine solche Erklärangsmöglichkeit. Für das Verstehen mancher Ausdrucksbewegungen ist es unterstützend, den ihnen zugrunde liegenden anatomisch-physiologischen Vorgang zu wissen, wie dies insbesondere für die Bewegungen des Auges, des Faltenziehens, des Lachens usw. von der wissenschaftlichen Forschung eingehend studiert wurde; die Rötung der Gesichtshaut kann z. B. durch erhöhten Blutdruck (beim Zornaffekt oder bei körperlicher Anstrengung), aber auch im Wege der Gefäßinnervation (einer peripheren Gefäßerweiterung) Zustandekommen (so beim „Erröten" aus Schamgefühl). Wichtiger als Unterschiede in der physiologischen Erklärung ist aber die Unterscheidbarkeit der beiden genannten Erscheinungen im Ausdrucksbild selbst. Und wichtig ist es hierbei zu wissen, daß ein Ausdrucksphänomen, wie das Erröten, nicht nur bei dem ihm zugeordneten Ernsterlebnis eintritt (also in einer Situation, in der sich der Betreffende tatsächlich schämt), sondern auch bei dem inhaltsgleichen Phantasieerlebnis (also beim Gedanken an eine Situation, in der man sich schämen müßte). Dadurch wird die Verwertung der Ausdrucksdeutung zu kriminalistischen Zwecken 2 ) besonders schwierig und verantwortungsvoll: ein schuldhaft-verlegenes Benehmen kann Ausdruck tatsächlichen Schuldgefühls, aber auch Ausdruck des Unlustgefühls darüber sein, daß einem ein solches schuldhaftes Verhalten zugemutet wird und man sich — als Unschuldiger — nun gegen diesen Vorwurf verteidigen soll. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, daß die Beziehungen zwischen seelischen Abläufen und ihrem körperlichen Ausdruck nicht bei allen Menschen gleich sind, sondern bei bestimmten Menschentypen oder auch bei Einzelmenschen eine besondere, vom Durchschnitt abweichende Ausprägung erfahren. Der eine Mensch bringt Seelisches mehr durch seinen Blick und durch seine Sprechweise, der andere wieder durch die Haltung des Kopfes und seine Gestik zum Ausdruck; bei einem gleichartigen Erlebnis —- etwa Wut über das Mißlingen eines falschen Alibibeweises — gerät der eine äußerlich in zornige, wortreiche Erregung mit Ballen der Fäuste u. ä., der andere erblaßt und verstummt. Diese typenmäßigen und individuellen Unterschiede im Ausdrucksverhalten der Siehe das übernächste Kapitel, S. i 8 i f f . Ansätze für eine solche Verwertung finden sich bei H. Groß, Kriminalpsychologie, E. Aufl., Leipzig 1905; Kleemann, Mimik und Pantomimik, P h y siognomik und Charakterologie, Archiv 54 S. 266; Kiesel, Das Ausdrucksproblem in der Kriminalistik, Archiv 72 S. 1; ferner in den oben S. 144 Anm. 2 angeführten Arbeiten von Leonhardt. 2)

II. Abschnitt. Die Vernehmung.

Menschen bilden aber kein grundsätzliches Hindernis für die Verwertbarkeit der Mimik und der sonstigen Ausdrucksbewegungen, sondern bedeutet nur eine Komplizierung unserer Aufgabe: es dürfen die Ausdruckserscheinungen nicht a b s o l u t gewertet werden (nach nichtbestehenden g e n e r e l l e n Gesetzen), sondern r e l a t i v im Hinblick auf die Art und Weise, wie d e r b e t r e f f e n d e M e n s c h sonst in verschiedenen Situationen Seelisches zum Ausdruck zu bringen pflegt. Mit anderen Worten: wir müssen den Vernommenen zunächst so weit in seinem sonstigen psychophysischen Verhalten erfassen 1 ), daß wir seine i n d i v i d u e l l e Rea k t i o n s n o r m kennen und an ihr vergleichsweise seine gegenständlichen Ausdruckserscheinungen messen und beurteilen. Immer handelt es sich hiebei um Ausdrucksbewegungen in dem oben festgelegten Sinn, also um den körperlichen Ausdruck gegenwärtig ablaufender („aktueller") Erlebnisse. Gegenstand der P h y s i o g n o m i k sind hingegen jene ständigen („statischen") Merkmale des Antlitzes, die mit der (relativ dauerhaften) seelischen E i g e n a r t d e r P e r s ö n l i c h k e i t im Zusammenhang stehen. Das Seelische, das hier zum Ausdruck gebracht wird, sind somit nicht — wie bei der Mimik — die aktuellen Erlebnisse (Gedanken, Affekte usw.), sondern die d a u e r n d e n W e s e n s z ü g e der intellektuellen oder charakterlichen Seite der Persönlichkeit, also D i s p o s i t i o n e n zu bestimmten seelischen Verhaltungsweisen. Die körperlichen Merkmale selbst können in der Gestalt des Schädels, im Dickenwachstum der Muskel und Fettpolster, in der durch Furchen und Falten gekennzeichneten morphologischen Gestaltung der Haut, im Haarwuchs, aber auch in andauernden Funktionszuständen (z. B. zugekniffenes Auge, geöffneter Mund), somit in anatomischen wie in physiologischen Eigenschaften bestehen. Das Analoge gilt natürlich auch für das Erscheinungsbild des ganzen Körpers (Größe, Breiten- und Dickenwachstum, relative Größenbeziehungen der einzelnen Körperteile untereinander, Körperhaltung usw.). Die Entstehung aller dieser Merkmale ist sehr verschieden: zum Teil sind sie durch R a s s e und K o n s t i t u t i o n bedingt und daher durch die E r b m a s s e bestimmt; zum Teil handelt es sich um im Leben erworbene Eigenschaften, insbesondere um v e r f e s t i g t e S p u r e n w i e d e r k e h r e n d e r m i m i s c h e r B e w e g u n g e n . Auf diese Unterscheidung wird von vielen Physiognomikern besonders Gewicht gelegt: manche wollen überhaupt nur die letztere Gruppe von Erscheinungen, also die im Laufe des Lebens durch wiederkehrende Ausdrucksbewegungen erworbenen Dauermerkmale als eigentlichem Gegenstand der Physiognomik gelten lassen. Der zur Depression Neigende erwirbt z. B. durch den häufigen Unlustausdruck des „bitteren Zuges" der Lippenpartie und das In-Falten-Legen der Stirn den Dauerausdruck der Verbitterung (herabgezogene Mundwinkel, Stirnfalten). Allein gerade die auf den E r b a n l a g e n beruhenden körperlichen Merkmale können einen Wesenskern der Persönlichkeit zum Ausdruck bringen. Die moderne Konstitutionsforschung (Kretschmer, *) Siehe darüber auch oben S. 45 ff.

Konstitution und Rasse.

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Jaensch u. a.) hat die biologische Zusammengehörigkeit („Affinität") körperlicher und seelischer Gegebenheiten1) aufgedeckt, die zum Teil auch von physiognomischer Bedeutung sind (so spielt z. B. bei de Kretschmer'sehen Körperbautypen die Gesichtsform2) eine große Rolle, die Jaensch'sehen Typen unterscheiden sich wiederum durch den „basedowoiden" und „tetanoiden" Blick usw.). Dabei bedeutet der erbmäßig gegebene Konstitutionstyp zunächst nur eine A n l a g e zu einer Körpergestaltung in bestimmter Richtung, wobei u. a. die anlagemäßig bestimmte (innere) Sekretion des Drüsensystems, insbesondere der Geschlechtsdrüsen und der Schilddrüse, eine besondere Rolle spielt. Auf die Quantität und Qualität solcher H o r m o n w i r k u n g e n sind z. B. das Dickenwachstum, die Ausprägung „sekundärer" Geschlechtsmerkmale, der früher erwähnte basedowoide Blick und ähnliche Erscheinungen zurückzuführen, die sich auch physiognomisch auswirken. Hierher gehört z. B. ein femininer Gesichtsausdruck beim Mann (weiche, fettreiche Gesichtsformen, langes zurückgekämmtes Haar), der eine Teilerscheinung des femininen Körperbaues überhaupt (relativ große Hüftenbreite, schwach vorspringender Adamsapfel, mangelhafte Brustbehaarung, horizontale Schamhaargrenze usw.) ist. Gerade diese endokrine Funktion der Drüsen ist trotz ihrer anlagemäßigen Richtung auch durch Umweltseinwirkungen beeinflußbar, wobei die Nahrung (Zufuhr von Jod, Kalk und Phosphor) und auch die Einflüsse der Naturumwelt von Bedeutung sind (z. B. der Ausdruck des Kretinismus bei manchen Bewohnern jodarmer Gebirgsgegenden). Auch krankhafte Prozesse anderer Art können mitunter die Gesichtsgestaltung beeinflussen und so ein physiognomisches Merkmal vortäuschen (z. B. eine hohe „Denkerstirne" infolge Rachitis). Schließlich kann heute nicht mehr geleugnet werden, daß die r a s s i s c h e n Eigenschaften der Menschen mit Vgl. Kretschmer, Körperbau und Charakter, 13./14. Aufl., 1940; W. Jaensch, Grundzüge einer Physiologie und Klinik der psycho-physischen Persönlichkeiten, Berlin 1926; E. R. Jaensch, Eidetik und die typologische Forschungsmethode, Leipzig 1927; derselbe, Grundformen menschlichen Seins, Berlin 1929; vgl. auch — die Ergebnisse zusammenfassend und kritisch beleuchtend — Brugsch, Die Biologie der Person, 4 Bände, Berlin 1926—1931, und A. Kronfeld, Lehrbuch der Charakterkunde, Berlin 1932; über die Kretschmersche Körperbauund Temperamentslehre siehe auch nächstes Kapitel. 2) Das Gesicht des P y k n i k e r s (Breitgebauten, Gedrungenen) entspricht in seiner typischen Form einem flachen Fünfeck, es hat die Neigung ins Breite, weich Abgerundete. Der Schädel ist groß, rund, breit und tief, das Gesicht mittelhoch, der Unterkiefer wirkt durch seine flache Biegung noch breiter als er ist. Die Gestaltung der Wangen ist oft durch Fettauflagerungen auf den seitlichen Kieferpartien bestimmt. Die Nase ist an der Wurzel mehr breit, die Spitze fleischig, die Augen sind meist klein, die Stirn breit und gewölbt und durch die Neigung zur Glatzenbildung oft nach oben scheinbar verlängert. Hingegen ist das Gesicht des L e p t o s o m e n (Schmalwüchsigen, Schlanken, häufig auch Schwächlichen = „Asthenikers") durch eine meist schmale, dünne, scharfe Nase gekennzeichnet. Die Kinnpartie tritt zurück, die Umrißlinie des Gesichtes zeigt von vorne eine verkürzte Eiform und bei seitlicher Betrachtung ein Winkelprofil mit vorspringender Nase. Das straffe Haar sitzt mützenartig auf der Stirn. Die Gesichtsform des A t h l e t i k e r s (Muskulösen) zeigt eine steile Eiform oder Schildform, das Knochenrelief tritt durch die Zeichnung des Jochbeines und des derben Unterkiefers plastisch heraus. Die Schädelform ist hoch, das Profil zeigt häufig stumpfe Nase und hohes Kinn.

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

bestimmten.seelischen Grundhaltungen in Zusammenhang stehen 1 ); in ausgeprägten Fällen besteht auch ein unmittelbarer ausdruckshafter Zusammenhang (z. B. der Leistungstyp des nordischen Menschen). Im einzelnen Menschen k r e u z e n s i c h naturgemäß a l l e diese mannigfachen Zusammenhänge 2 ). So wichtig und aufschlußreich daher das Aufdecken solcher Zusammenhänge im Rahmen der biologischen Untersuchung eines Menschen und speziell auch eines Verbrechers oft ist, so verfehlt wäre es doch, aus p h y s i o g n o m i s c h e n Merkmalen a l l e i n Rückschlüsse auf bestimmte seelische Eigenschaften zu ziehen. Sie können nur Bausteine sein im A u f b a u der Gesamtpersönlichkeit eines Verbrechers; diese zu erkunden, ist Aufgabe der kriminalbiologischen Untersuchung 3 ).

d) Lombroso und die moderne Kriminalbiologie. Wenn wir die Behandlung des Beschuldigten durch den U. besprechen, so darf auch nicht übergangen werden, mit einigen Worten zur seinerzeit viel erörterten kriminalanthropologischen „Lombroso-Schule" Stellung zu nehmen, da die Werke 4 ) des italienischen Arztes Cesare Lombroso (1835—1909) noch in der Hand manches Kriminalisten sind und sich in den Gedankengängen der modernen Kriminalbiologie neuerlich Anklänge an seine Ideen zu finden scheinen. Die mächtige Wirkung, welche Lombroso ausgeübt hat, beruhte aber nicht auf der Fülle des von ihm gebotenen Materials, noch weniger auf dessen exakter Bearbeitung, sondern darauf, daß seine Lehre in eine Zeit fiel, die den Nihilismus in jeder Richtung und ganz besonders auch in der Wissenschaft begünstigte, in eine Zeit, die dem Leugnen aller objektiven Werte nur allzu willig Vorschub leistete. Nicht die naturwissenschaftlichen Ergebnisse der Forschungen Lombrosos, sondern die kriminalpolitischen Folgerungen, die man daraus ziehen zu müssen meinte, waren es, die den Ideen Lombrosos in kürzester Zeit Weltruhm verschafften, der allerdings ebenso rasch von heftigster Ablehnung abgelöst wurde. Gerade darum ist es von Wichtigkeit, sich das Wesen und den Unterschied der kriminalanthropologi') Aus der umfangreichen rassebiologischen Literatur seien für eine erste Einführung des Kriminalisten genannt: Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, 92.—99. T., München 1938; Clauß, Rasse und Seele, 8. Aufl., München 1937; Eickstedt, Die rassischen Grundlagen des deutschen Volkes, K ö l n 1934. 2) Die Überschneidung von Rasse- und Konstitutionsmerkmalen haben untersucht: F. Weidenreich, Rasse und Körperbau, Berlin 1927 (in den Schlußfolgerungen bedenklich) und W. Jaensch, Wesensart und Rasse, Leipzig 1934. 3) Lenz, Grundriß der Kriminalbiologie, Wien 1927; v. Rohden, Einführung in die kriminalbiologische Methodenlehre, Berlin 1933; und das folgende Kapitel. 4) Lombrosos Hauptwerke sind: L'uomo delinquente in rapporto all' antropologia, giurisprudenza, medicine legale ed alle discipline carcerarie, 1871—1876, 3. Aufl. in deutscher Bearbeitung: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, 2. A b d r u c k Hamburg 1894. — Die Ursachen und B e k ä m p f u n g des Verbrechens, autorisierte Übersetzung von Kurella und Jensch, Berlin 1902. — Genio e follia, 1863, deutsche Übersetzung nach der 4. Auflage (1882) von Courth: Genie und Irrsinn, Leipzig 1887, Neudruck 1920. — Das W e i b als Verbrecherin und Prostituierte, übersetzt von Kurella, Hamburg 1894. — Neue Verbrecherstudien, übersetzt von Jensch, Halle 1907.

Der „geborene Verbrecher".

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sehen Lehre Lombrosos und der modernen Kriminalbiologie kurz vor Augen zu halten und in diesen Dingen völlig klar zu sehen. Das Wesentliche der Verbrechensauffassung Lombrosos1) liegt in seiner Lehre vom „geborenen Verbrecher" (delinquente nato) a l s e i n e r b e s o n d e r e n e i n h e i t l i c h e n A b a r t d e s M e n s c h e n in naturwissenschaftlichem Sinn. Das bedeutet: alle „echten" oder „eigentlichen" Verbrecher besitzen eine bestimmte, in sich kausal zusammenhängende Reihe von körperlichen und seelischen Merkmalen, die sie als einen eigenen anthropologischen T y p u s des Menschengeschlechtes kennzeichnen und deren Besitz ihren Träger mit unentrinnbarer Notwendigkeit zum Verbrecher — wenn auch vielleicht zum unentdeckten — werden läßt. „Der Verbrecher" erscheint demnach als eine variatio der species „homo sapiens" im naturwissenschaftlichen Sinn; die Natur schafft den Verbrecher, die Gesellschaft gibt ihm nur die Bedingungen und Anlässe für die Betätigung seiner verbrecherischen Disposition. Ein solcher Mensch wird schon a l s Verbrecher g e b o r e n und diese angeborene Eigenschaft hat als ihre Z e i c h e n gewisse (nicht durch Krankheit bedingte) körperliche Merkmale (stigmata) und zeigt sich seelisch in einer bestimmten Artung des Charakters und des Gefühlslebens, die — ohne die Form einer geistigen Erkrankung anzunehmen — Beziehungen einerseits zur Epilepsie und anderseits zu dem viel umstrittenen „moralischen Schwachsinn" (moral insanity) hat. Lombroso war nun bestrebt, die erwähnten k ö r p e r l i c h e n Merkmale durch anatomische und anthropometrische Untersuchungen an Gefangenen nachzuweisen. Eine wesentliche Rolle spielen hiebei Besonderheiten der Schädel- und Gesichtsbildung, wie übermäßig große oder geringe Schädelkapazität, fliehende Stirn, Vorspringen des Unterkiefers (Prognathie), große Augenbrauenwulste, starke Ausbildung des Jochbeines, große und verbildete Ohren usw., so daß es auch eine bestimmte Physiognomie des geborenen Verbrechers gäbe; dann Besonderheiten der Gehirnentwicklung (Anomalien der Gehirnwindungen, geringes Hirngewicht, Hypotrophie des Kleinhirns, histologische Rindenveränderungen), ferner zahlreiche anthropometrische Merkmale, wie Spannweite der Arme, Hände und Füße, Asymmetrien des Körperbaues usw. Auf der s e e l i s c h e n Seite fand Lombroso als Merkmale jenes angeborenen Verbrechertums herabgesetzte Schmerzempfindlichkeit (wodurch sich auch die Neigung zum SichTätowierenlassen erkläre), Grausamkeit, Leichtsinn, Arbeitsscheu, Hemmungslosigkeit, vorzeitiges Erwachen des Geschlechtstriebes, Eitelkeit, Neigung zu Aberglauben und primitiven Verständigungsmitteln. Viele dieser Merkmale erinnern an den Menschentyp wilder Völker in den 1 ) Vgl. aus der mannigfaltigen Literatur über Lombroso: Bär, Der Verbrecher in athropologischer Beziehung 1893; Kurella, Naturgeschichte des Verbrechers 1893; Bleuler, Der geborene Verbrecher 1896; Frank, Die Lehre Lombrosos, 1902; Kurella, Cesare Lombroso als Mensch und Forscher, 1910; ferner den Selbstbericht Lombrosos, Über den Ursprung, das Wesen und die Bestrebungen der neuen anthropologisch-kriminalistischen Schule in Italien, Zschr. f. d. ges. Strafrechtsw. i , S. 108 (1881).

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I I . A b s c h n i t t . Die Vernehmung.

Urzeiten des Menschengeschlechtes, weshalb Lombroso den geborenen Verbrecher auch als A t a v i s m u s erklärt. Lombroso selbst anerkannte allerdings, daß nicht alle Menschen, die ein Verbrechen nach dem Strafgesetz begehen, zu diesem Typ des geborenen Verbrechers gehören. Schon in seinem Hauptwerk schied er von diesen „eigentlichen" Verbrechern die L e i d e n s c h a f t s v e r b r e c h e r und die G e l e g e n h e i t s v e r b r e c h e r ; unter diesen unterschied er wieder „Pseudo-Verbrecher", die ohne verbrecherischen Hang mehr aus Zufall oder infolge gesetzlicher Nonnen mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten, und die „Kriminaloiden", die zwar eine gewisse Disposition besitzen, aber nur durch besondere Umweltslagen zur Verbrechensbegehung verleitet werden 1 ). Die k r i m i n a l p o l i t i s c h e n F o l g e r u n g e n , die Lombroso aus diesen Lehren zog, laufen im wesentlichen darauf hinaus, daß gegen den geborenen Verbrecher, der kraft seines Atavismus unentrinnbar seinem kriminellen Hang verfallen ist, nicht infamierende Strafe, nicht sittliche Sühne, wohl aber zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eine lebenslange Verwahrung, allenfalls sogar als letzte „Selektionsmaßnahme" die Todesstrafe am Platze sei. Für die Behandlung des Täters im Einzelfall komme es daher nicht auf die Schwere der Tatfolgen, sondern eben darauf an, ob der Täter ein eigentlicher Verbrecher, also ein delinquente nato, oder bloß ein Leidenschaftsverbrecher, Gelegenheitsverbrecher oder Kriminaloider sei. Im ersten Falle genüge schon eine geringfügige Rechtsverletzung oder auch ein mißlungener Versuch, um gegen den bei diesem Anlaß erkannten geborenen Verbrecher mit den schwerwiegendsten Maßnahmen vorzugehen; derselbe Tatbestand könne hingegen beim Jugendlichen oder beim Gelegenheitsverbrecher mitunter sogar straflos bleiben, wobei Lombroso besonders auf das damals erst in Amerika eingeführte „Probationsystem" (bedingte Strafaussetzung mit Bewährungsfrist) als empfehlenswert hinweist 2 ). Wie stehen wir nun h e u t e zur Lehre Lombrosos? Ist es richtig, daß In seinem späteren W e r k behauptet hingegen Lombroso, daß die Kriminaloiden trotz ihres Unterschiedes v o m geborenen Verbrecher auch A n k l ä n g e an Epilepsie und A t a v i s m u s zeigen; die Leidenschaftsverbrecher stehen infolge der Schönheit des Körpers und der Seele und ihrer übergroßen Empfindlichkeit sogar im Gegensatz z u m geborenen Verbrecher, haben aber trotzdem Berührungsp u n k t e zur Epilepsie; nur die Gelegenheitsverbrecher ( = die Pseudokriminellen) haben mit Epilepsie und A t a v i s m u s nichts zu tun. a) In mannigfachen kriminalpolitischen Einzelfragen h a t jedoch Lombroso die angedeuteten Folgerungen seiner Lehren nicht konsequent gezogen, indem er insbesondere die Schwere der „ T a t " doch wiederum berücksichtigt wissen will. Die von den Lehren Lombrosos ausgegangene, sogenannte positive kriminalpolitische Schule fand ihre weiteren Hauptvertreter in Garofalo (Criminologia 2. A u f l . , Turin 1891) und Ferri (Das Verbrechen als soziale Erscheinung, übersetzt von Kurella 1896), dessen Vorentwurf eines italienischen Strafgesetzbuches (1921) versucht, die Bestrebungen der positiven Schule in Gesetzesform zu kleiden; trotz seiner scheinbar radikalen Neuerungen (der E n t w u r f kennt weder den Begriff der Schuld noch den der Strafe, an deren Stelle die Gefährlichkeit des Täters und die ethisch-farblose „ s a n c t i o " tritt) gebraucht er vielfach nur neue Bezeichnungen und zeigt die gleiche Inkonsequenz, die schon den Lehren Lombrosos selbst anhaftete.

L o m b r o s o und Wir.

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seine Theorien, die bereits nach der Jahrhundertwende vom gesamten wissenschaftlichenSchrifttumals „abgetan" betrachtet wurden 1 ), durch die Ergebnisse der modernen Kriminalbiologie eine Art Rehabilitation erfuhren? 2) Der Kern der Lehre Lombrosos ist nach wie vor als unrichtig abzulehnen: es gibt keinen e i n h e i t l i c h e n Typ des geborenen Verbrechers, der durch körperliche und seelische Merkmale gekennzeichnet ist. Selbst wenn man die schon von Lombroso ausgeschiedenen Gruppen des „Leidenschaftsverbrechers" und des „Gelegenheitsverbrechers" beiseite läßt und nur die eigentlichen Verbrecher im Sinne Lombrosos untersucht, so stößt man auf eine große Mannigfaltigkeit von Persönlichkeitstypen, denen k e i n e i n z i g e s b i o l o g i s c h e s M e r k m a l g e m e i n s a m ist. „Der Verbrecher" als irgendeine Abart der Species „homo sapiens" existiert daher nicht. I n n e r h a l b der „geborenen Verbrecher" finden sich allerdings kleinere Gruppen von Kriminellen, für die tatsächlich eine körperlichseelische Persönlichkeitsartung charakteristisch ist, die daher als krimineller Typ angesprochen werden kann. Allein es handelt sich hierbei lediglich um kriminelle Varianten allgemeinerer Persönlichkeitstypen, aus denen sich auch die nichtkriminelle Bevölkerung zusammensetzt. Auch sind die körperlich-seelischen Merkmale dieser speziellen Typen innerhalb der eigentlichen Verbrecher oft einander entgegengesetzt: z. B. finden sich unter den Gewalttätern aus angeborener Anlage einerseits übererregbare Athletiker mit gesteigertem Ich-Bewußtsein, die sich in ihrem rohen Kraftbewußtsein „nichts gefallen lassen" und denen das Messer stets locker sitzt; anderseits finden wir unter ihnen aber auch willensschwache, zur Depression neigende Astheniker, deren Minderwertigkeitsgefühle zu einer Affektstauung führen, die sich plötzlich in einer explosionsartigen Entladung in Form einer Gewalttat gegen denjenigen Luft macht, dem er die Schuld an seinem Lebensunglück beimißt. Dies erklärt uns auch den methodischen Fehler, den Lombroso und viele nach ihm begangen haben (und auch heute noch begehen): es ist wissenschaftlich sinnlos, die Insassen einer Strafanstalt einer statistischen Massenuntersuchung zu unterziehen und auf diese Weise Merkmale „des Verbrechers" (der nicht existiert) finden zu wollen. Denn hierdurch werden Merkmale eines völlig unhomogenen Materials unzulässigerweise addiert, wobei die tatsächlich vorhandenen, vielfach gegensätzlichen Merkmale jener erwähnten kleineren Gruppen sich ziffernmäßig aufheben und dadurch in der massenstatistischen Zählung verloren gehen. Zu diesem Hauptfehler der Methode Lombrosos kommt noch hinzu, daß er aus einem relativ kleinen Material vorzeitig allgemeine Schlüsse zog, die bestehenden Möglichkeiten anderweitiger Erklärungen der von ihm beobachteten Tatsachen unberiicki i I L ') Ebenso auch in den früheren A u f l a g e n dieses Werkes. Vgl. hiezu A. Lenz, Grundriß der Kriminalbiologie, Wien 1927, S. 7 f f . ; v. Rohden, Lombrosos Bedeutung für die moderne Kriminalbiologie, A r c h i v f ü r Psychiatrie 92, S. 140 (1930); E. Seelig, D a s Typenproblem in der Kriminalbiologie, Journ. f. Psychol. u. Neurologie 42, S. 515 (1931); E. Mezger, Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage, 2. A u f l . Stuttgart 1942, S. 1 5 f f . ; Exner, Kriminalbiologie, H a m b u r g 1939, S. 178 ff. !)

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

sichtigt ließ und keine entsprechenden Paralleluntersuchungen an nichtkriminellen Menschen vornahm. Dadurch sind die statistischen Ziffern Lombrosos über das Vorkommen der einzelnen körperlichen und seelischen Merkmale seines Verbrechertyps für uns heute wertlos. Dennoch gebührt Lombroso ein bleibendes Verdienst. Denn wiewohl sich Anklänge an seine Gedankengänge schon vor ihm, ja selbst im Altertum finden, wurde erst durch die Übertriebenheit der Lehren Lombrosos die wissenschaftliche Welt darauf aufmerksam, daß eine zweckmäßige Verbrechensbekämpfung nicht durch die Aufstellung juristischer Tatbestände und strafrechtlicher Begriffe und Unterscheidungen, sondern nur durch das Studium der Verbrecher selbst, des lebendigen Menschen, möglich ist. Einer solchen Betrachtungsweise erscheint die verbrecherische Handlung nicht als „Tatbestandsverwirklichung", sondern als L e b e n s ä u ß e r u n g e i n e s M e n s c h e n und somit eines körperlich-seelischen Organismus, dessen Werdegang und Äußerungen nur in ihren lebensgesetzlichen (biologischen) Zusammenhängen zu verstehen sind. Diese b i o l o g i s c h e Verbrechensauffassung ist zugleich eine d y n a m i s c h e Verbrechensauffassung 1 ), denn sie erkennt in dem Zustandekommen der einzelnen T a t die gesamte Dynamik des W e c h s e l s p i e l s angeborener A n l a g e n und mannigfacher U m w e l t s e i n f l ü s s e , die oft freilich bloß die Äußerung der Anlagen ermöglichen, oft aber auch ihre Entwicklung lenken oder umgekehrt erst infolge der bestehenden Anlagen wirksam werden konnten. Mögen daher auch für die A u s l ö s u n g einer verbrecherischen Äußerung die jeweiligen Umweltsbedingungen von weitgehender Bedeutung sein, so besteht heute doch kein Zweifel, daß für die E n t w i c k l u n g der kriminellen Persönlichkeit die angeborenen Dispositionen (Anlagen) fast durchwegs ausschlaggebend sind 2 ). Aber auch innerhalb der Persönlichkeit Vgl. Mezger a. a. O. S. i64ff. Der alte Gegensatz zwischen „Anlagetheorie" und „Milieutheorie" spiegelte sich auch in der Forschung der letzten Jahrzehnte dadurch wider, daß z. B. das Massenexperiment des Weltkrieges die ungeheure Veränderung der Kriminalität bei gleichbleibendem Menschenmaterial zeigte und dadurch die Bedeutung der Umweltfaktoren in den Vordergrund treten ließ (vgl. insbesondere: Exner, Krieg und Kriminalität in Österreich, Wien 1927; hiezu auch Mezger, Anlage und Umwelt als Verbrechensursache, MschrKr. 19, S. 141). Gleichzeitig haben aber die kriminalbiologischen Forschungen an Verbrecherfamilien, die Lebenslaufuntersuchungen an kriminellen Jugendlichen und in besonderem Maße die vergleichenden Forschungen an eineiigen und zweieiigen Zwillingspaaren (die eine bedeutend größere Übereinstimmung der kriminellen Lebensformen bei eineiigen Zwillingen als bei zweieiigen ergaben) die ü b e r w i e g e n d e B e d e u t u n g des A n l a g e f a k t o r s erkennen lassen (/. Lange, Verbrechen als Schicksal, Leipzig 1929; Cranz, Lebensschicksale krimineller Zwillinge, Berlin 1936; Stumpft, Erbanlage und Verbrechen, Berlin 1935; derselbe, Die Ursprünge des Verbrechens, Leipzig 1936). Dieser scheinbare Gegensatz schwindet jedoch, wenn man —- wie oben im Text — zwischen dem A u s l ö s u n g s p r o b l e m und dem E n t w i c k l u n g s p r o b l e m scharf unterscheidet (Seelig, Anlage, Persönlichkeit und Umwelt bei jugendlichen Schwerverbrechern Österreichs, Mitteil. d. Kriminalbiol. Gesellschaft 4, S. 113). Weiteres Material findet sich in den von Exner herausgegebenen Kriminalistischen Abhandlungen (insbesondere Schnell, Anlage und Umwelt bei 500 Rückfallsverbrechern; Schmid, Anlage und Umwelt bei 500 Erstverbrechern) .Über die oft verschieden verwendeten Begriffe vonAnlage und Umwelt vgl. Lange-Exner, Die beiden Grundbegriffe der Kriminologie, MschrKr. 27, S. 353. 2)

177

Die moderne Kriminalbiologie.

reihen sich deren Dispositionen nicht sinnlos nebeneinander, sondern stehen selbst wiederum in einem dynamischen Strukturzusammenhang. Um das Zustandekommen eines konkreten Verbrechens zu verstehen, genügt es daher nicht, alle in der Täterpersönlichkeit vorhandenen Dispositionen bis ins Letzte zu analysieren, sondern es ist nötig, diese in ihrer besonderen B e d e u t u n g für die Gesamtpersönlichkeit zu erfassen und den Stellenwert der einzelnen Dispositionen und Dispositionskomplexe im A u f b a u der Persönlichkeit zu bestimmen. Mit anderen Worten: auf die A n a l y s e muß die S y n t h e s e der Persönlichkeit folgen. Dabei ist immer davon auszugehen, daß — ebenso wie alle Lebensvorgänge körperlich-seelischer Natur sind — auch die menschliche Gesamtpersönlichkeit und die sie aufbauenden Dispositionen und deren Strukturen körperlich u n d seelisch fundiert sind. Dies gilt auch dann, wenn uns im Einzelfall das körperliche Korrelat einer seelischen Disposition unbekannt ist. Die hier bestehenden Zusammenhänge sind so mannigfacher und sich gegenseitig überschneidender Art 1 ), daß sie trotz der intensiven Forschungsarbeit der letzten Jahrzehnte bisher nur zu einem geringen Teil geklärt wurden. Nur beispielsweise sei daher erwähnt, daß neben den Funktionszuständen des Gehirns, denen die ältere Körper-Seele-Forschung ihr Hauptinteresse zuwandte, besonders die Vorgänge der inneren Sekretion (der Keimdrüsen und anderer Drüsen) eine wesentliche Rolle spielen und daß diese sich im Seelischen auswirkenden Vorgänge auf der körperlichen Seite wiederum das Wachstum und dadurch die morphologische Körpergestalt beeinflussen. So erscheint uns auch die in der modernen Kriminalbiologie viel verwendete Körperbau-Temperamentslehre Kretschmers2) nur als e i n e Seite solcher Zusammenhänge, die selbstverständlich im Einzelfall oft durch andere Zusammenhänge überdeckt wird. r)

Siehe voriges Kapitel. Kretschmer, Körperbau und Charakter, 13./14. Aufl. 1940, unterscheidet — i n Anlehnung an die Psychosen des manisch-depressiven Irreseins und der Schizophrenie — innerhalb der Gesundheitsbreite das z y k l o t h y m e und das s c h i z o t h y m e T e m p e r a m e n t (wobei unter „ T e m p e r a m e n t " ein sich aus der Affekterregbarkeit, der Stimmungslage, dem psychischen Tempo und dem Bewegungsausdruck ergebender Funktionstyp zu verstehen ist, der sich in den mannigfachsten Bereichen seelischen Lebens äußert). Zu den Zyklothymen gehören vorwiegend gesellige Menschen, die sich natürlich geben, deren Stimmungslage zwischen Heiterkeit und Schwermut harmonisch schwingt, die den realen Dingen des Lebens zugewendet sind und oft lebhafte Geschäftigkeit, oft auch behagliche Behäbigkeit zeigen. Die schizothymen Persönlichkeiten sind zu Gegensätzen geneigt, teils kalt, gefühlsstumpf oder affektlahm, teils brutal, leidenschaftlich oder übertrieben weich und zartfühlend; sie sind verschlossen, vielfach nach innen gekehrt, fügen sich nur schwer einem geselligen Kreis ein und sind in ihren Äußerungen jäh und unberechenbar. Zwischen diesen beiden Polen gibt es naturgemäß viele Varianten und Übergänge. Das Wesentlichste der Kreischmerschen Lehre liegt aber in der behaupteten biologischen „ A f f i n i t ä t " , die zwischen diesen Temperamentsformen und den Konstitutionstypen besteht: dem Körperbautyp des Pyknikers (des Gedrungenen, zum Dickenwachstum Neigenden) ist das zyklothyme Temperament, dem Athletiker (dem breitschultrigen, muskulösen Typ) und dem Leptosomen (dem schmalwüchsigen, zartknochigen, vielfach schwächlichem Konstitutionstyp) das schizothyme Temperament zugeordnet. Über die Physiognomie dieser Konstitutionstypen s. oben S. 171 Anm. 2. 8)

G r o ß - S e e l i g , Handbuch. 8. Aufl.

12

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

Daraus ergibt sich, daß die moderne Kriminalbiologie nur insofern Berührungspunkte mit der Lehre Lombrosos hat, als auch sie anerkennt, daß es „geborene Verbrecher" gibt, nämlich Menschen, die kraft ihrer angeborenen Anlagen von vornherein zur verbrecherischen Lebensform hinneigen; ferner darin, daß es auch nach der neuen kriminalbiologischen Auffassung zum Verständnis einer kriminellen Einzelpersönlichkeit und der biologischen Wurzel ihrer Verbrechen nötig ist, die erbbiologischen und körperlich - seelischen Zusammenhänge zu erkunden. Aber im Gegensatz zu Lombrosos Lehre betont die moderne Kriminalbiologie die große M a n n i g f a l t i g k e i t der Persönlichkeiten i n n e r h a l b der erwähnten „geborenen Verbrecher" und lehnt die Annahme e i n e s Verbrechertyps im Sinne einer anthropologisch-atavistischen Abart des Menschengeschlechtes, die einheitlich durch bestimmte körperliche und seelische Merkmale gekennzeichnet sei, scharf ab. Es erübrigt sich noch zum Schluß auf den Unterschied in den kriminalpolitischen Folgerungen hinzuweisen, der sich aus den beiden Verbrechensauffassungen ergibt. Auch der Verbrecher kraft angeborener Anlage ist für die moderne Kriminalbiologie kein Kranker, kein Abartiger 1 ), der für seine Taten nicht auch ethisch und rechtlich verantwortlich wäre. Darin liegt kein Widerspruch 2 ): Heute ist es uns mehr denn je zur tiefsten Einsicht geworden, daß j e d e r M e n s c h f ü r s e i n b i o l o g i s c h e s S o s e i n h a f t e t , gleichgültig, welche Entwicklungsursachen zu dieser körperlich-seelischen Eigenart führten. Wir haben erkannt, daß der G r o ß t e i l a l l e r D i s p o s i t i o n e n , die — ganz abgesehen von kriminellem Handeln — für unser Verhalten im Alltag und für unsere Leistungen maßgebend sind, auf den E r b a n l a g e n beruht, die von Vater- und Mutterseite auf uns gekommen sind und durch diese Verschmelzung zweier Erbmassen einen neuen, sich von allen übrigen Menschen unterscheidenden und daher einmaligen Anlagenkomplex, den G e n o t y p der Persönlichkeit, gebildet haben. Dies gilt auf der positivwertvollen Seite ebenso für hervorragende Verstandesleistungen kraft angeborener Intelligenz, wie für die durch künstlerische Anlagen bedingten Großtaten auf dem Gebiet des Kunstschaffens oder für den mutvollen soldatischen Einsatz, der z. B. aus der heroisch-kämpferischen Wesensart des nordischen Menschen entspringt. Wie in diesen Fällen J) Hingegen wird von psychiatrischer Seite allerdings ein weitgehender Zusammenhang zwischen GewohnheitsVerbrechertum und der „Psychopathie" gelehrt. Dies hängt jedoch mit der oft sehr weit gefaßten Begriffsbestimmung der Psychopathie zusammen. Wenn/z. B. Stumpft (Erbanlage und Verbrechen, Berlin 1935) im Anschluß an K. Schneider als Psychopathen alle „abnormen Persönlichkeiten bezeichnet, die an ihrer eigenen Charakterabnormität leiden und durch ihre Charakterabnormität die Volksgemeinschaft stören", so fällt darunter in der T a t jeder Gewohnheitsverbrecher, da dessen kriminogene Dispositionen sicherlich eine Charakterabnormität darstellen, durch die die Volksgemeinschaft gestört wird (vgl. hiezu die „Kriminalistischen Bemerkungen" Exners MschrKr. 27, S.336). Einhellig lehren jedoch auch die Psychiater, daß die P s y c h o p a t h e n (in diesem weiten Sinn) strafrechtlich v e r a n t w o r t l i c h bleiben. J) Vgl. zum folgenden: E. Seelig, Persönlichkeit und Verantwortung, MschrKr. 27, S. 34.

Verbrechen und Krankheit.

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das Verdienstvolle solcher Leistungen durch die Einsicht in ihre biologischen Ursachen keineswegs gemindert wird, so mindert es auch nicht die Verantwortlichkeit für s c h l e c h t e s Handeln, wenn wir als dessen letzte Triebfedern in vielen Fällen die angeborenen Anlagen erkennen. Dadurch, daß wir — im Gegensatz zu Lotnbroso — im geborenen Verbrecher nicht eine einheitlich bestimmte Abart des Menschengeschlechtes, sondern eine Gruppe v e r s c h i e d e n s t e r erbbedingter Persönlichkeitstypen sehen, bekommt auch die moderne kriminalbiologische Untersuchung des Verbrechers, die in der deutschen Strafrechtspflege in immer steigendem Maße verwendet wird, einen ganz anderen Sinn: es handelt sich nicht mehr darum, im Sinne liberalistischer Gedankengänge durch ein liebevolles Versenken in die Verbrecherseele — entsprechend dem Wort „tout comprendre c'est tout pardonner" — Entschuldigungsgründe für die Tat zu finden: wir suchen vielmehr d e n V e r b r e c h e r z u v e r s t e h e n , nicht um ihm zu verzeihen, sondern um ihn — gemessen an den Wertstrebungen der Volksgemeinschaft — r i c h t i g zu bewerten und ihn d a n a c h zu b e h a n d e l n 1 ) . Für diese Bewertung der Täterpersönlichkeit und der in ihr verankerten „kriminogenen" Dispositionen sind selbstverständlich auch jene Wesenszüge einzubeziehen, die auf angeborenen Anlagen beruhen, ja diese machen oft sogar den kriminogenen Kern der Persönlichkeit aus. Nicht der e i n z e l n e Verbrecher ist daher für unsere Auffassung ein Kranker, der nicht zur Verantwortung gezogen werden könnte, wohl aber ist d a s V e r b r e c h e r t u m a l s G a n z e s e i n e K r a n k h e i t im V o l k s l e b e n , gegen die sich der gesunde Volkskörper mit aller Kraft zur Wehr setzt. e) Tatbestandsdiagnostik und Registrierung unwillkürlicher Ausdrucksbewegungen. Es handelt sich hier um Methoden, die einen Einblick in die seelischen Abläufe des Vernommenen ermöglichen sollen und zwar unabhängig von seinem Willen, die Wahrheit zu sagen oder nicht. Die ältere dieser Methoden ist unter der Bezeichnung „Psychologische Tatbestandsdiagnostik" bekannt. Schon vor längerer Zeit haben mehrere Psychiater, namentlich Kräpelin, Bleuler, Jung, Ricklin u. a. die wichtige Beobachtung gemacht, daß die Menschen, namentlich psychisch nicht normale, verschieden assoziieren. Wenn man also eine Versuchsperson auffordert, auf beliebig oder nach gewissem System vorgesagte Worte sofort jenes Wort zu sagen, das ihr einfällt, so kann man hier wesentliche Unterschiede l ) Eine solche richtige Behandlung erfordert beim gefährlichen Rückfallsverbrecher oft sehr energische Maßnahmen und zwar außer empfindlicher Strafe auch sichernde Maßnahmen, wie z. B. Sicherungsverwahrung auf unbestimmte Zeit oder Kastration. Die strafrechtlichen Grundlagen hiefür wurden im Deutschen Reich durch das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. Nov. 1933 geschaffen. Die für eine sachgemäße Anwendung solcher Maßregeln erforderliche kriminalbiologische Untersuchung der Verbrecher wurde durch die Allgem. Verf. d. Reichsjustizm. vom 30. Nov. 1937 neu organisiert (vgl. Neureiter, Derkritninalbiologische Dienst in Deutschland, MschKr. 29, S.65; Kriminalbiologie, Berlin 1940). 12»

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II. Abschnitt. Die Vernehmung.

wahrnehmen. Sagen wir, es wird nach und nach mehreren Leuten das Wort „Licht" zugerufen, so sagt A : „Luft" (alliterierend); B: „finster" (Gegensatz); C: „Kerze" (gegenständlich); D: „schein" (zusammensetzend); E : „Goethe" (historisch); F : „Tag" (eigenschaftlich); G: „Zündholz" (kausal); H: „übermorgen" (zufällige Assoziation) usw. Auf diese Weise lassen sich die Menschen nach der Art ihrer Assoziation in gewisse Gruppen bringen und man kann daraus bei Geisteskranken mitunter auch diagnostische Anhaltspunkte finden. Diese Idee haben seinerzeit zwei Prager Schüler von H. Groß, Max Wertheimer und Julius Klein, für kriminalistische Zwecke aufgegriffen und eine Methode ausgearbeitet, durch die man aus gewissen Assoziationen, die jemand macht, auf die Kenntnis oder Gefühlsbetonung eines Tatbestandes schließt1). Ein einfaches Beispiel mag dies erläutern: es handle sich etwa um die Feststellung, ob jemand eine bestimmte Räumlichkeit kennt, in welchem ein Verbrechen begangen wurde. Nehmen wir an, daß in diesem Zimmer als auffallende Objekte waren: eine chinesische Uhr, ein Waffenbrett, eine Briefwaage auf einem Schreibtisch, ein roter Lehnstuhl und ein Bild, die Hinrichtung Andreas Hofers darstellend. Wenn man nun dem Betreffenden eine Reihe von etwa 90—100 Worten gleichgültiger Bedeutung und vermischt darunter die Worte: chinesisch — Waffen — Briefwaage — rot — Hinrichtung zuruft und er assoziiert auf diese Worte: Uhr — Brett — Schreibtisch — Armstuhl — Andreas Hofer — dann wäre es doch seltsam, wenn das Zufall und nicht Assoziation infolge Kenntnis der Einrichtung jenes Zimmers wäre. Auf diese Weise hätte also der leugnende Beschuldigte verraten, daß er jenes Zimmer kennt, und somit gegen seinen Willen eine Art „unbewußte Aussage" gemacht. Merkt aber die Versuchsperson, daß es sich um ein verfängliches Reizwort handelt, so wird sie mit der ihr zunächst einfallenden Vorstellung zurückhalten und nach einer übermäßig langen R e aktionszeit mit einem weither geholten oder überhaupt unverständlichen Assoziationswort antworten. Daher kommt es nicht bloß auf den Inhalt der Assoziationsworte an, sondern auch auf die Reaktionszeit, die zwischen Zuruf des Reizwortes und der Antwort der Versuchsperson verläuft. Diese Reaktionszeit muß mit einer Stoppuhr gemessen werden. Auf diese Methode wurden bald nach ihrer Bekanntgabe vielfach übertriebene Hoffnungen gesetzt und es entstand darüber eine umfangreiche Literatur4). Seither sind Jahrzehnte vergangen, ohne daß die l ) Wertheimer und Klein, Psychologische Tatbestandsdiagnostik, Archiv 15, S. 72. s ) Zusammenfassende Darstellungen finden sich bei O. Lippmann, Die Spuren interessebetonter Erlebnisse und ihre Symptome, Beiheft 1 der Zschr. f. angewandte Psychologie (1911) und dessen Sammelberichte ebenda Bd. 8 S. 549 (1914) und Bd. 1 1 S. 519 (1916); aus der großen Zahl von Einzelbeiträgen seien hervorgehoben: H. Groß, Zur psycholog. Tatbestandsdiagnostik, Archiv 19 S. 49; C. G. Jung, Die psychologische Diagnose des Tatbestandes, Halle 1906; derselbe. Zur psychologischen Tatbestandsdiagnostik (Das Tatbestandsexperiment im Sch'ivurgerichtsprozeß Näf), Archiv 100 S. 123. Von dieser Methode des Asso-

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Die Assoziationsmethode.

„psychologische Tatbestandsdiagnostik" in dieser Form in die kriminalistische Praxis in größerem Umfang Eingang gefunden hat. Die Methode versagt notwendig in dem Augenblick, in dem der Beschuldigte bereits aus früheren Vernehmungen die Kenntnis des Tatbestandes und zwar jener Umstände hat, auf die es bei dem Versuch ankommt; denn dann wird auch ein Unschuldiger mit „verdächtigen" Assoziationen reagieren. Auch die zufällige Geläufigkeit bestimmter Vorstellungen oder zufällige Assoziationsstörungen machen sich als Fehlerquellen bemerkbar. Eine praktische Verwertung ist daher nur in seltenen Fällen möglich, in denen schon im Zuge des ersten Angriffes ein psychologischer Sachverständiger zur Verfügung steht, der diese Methode beherrscht, und die zu Vernehmenden noch nicht durch vorausgegangene Verhöre ihre Unbefangenheit verloren haben. In solchen günstig gelagerten Fällen könnte der Befund des Sachverständigen richtunggebend für die weiteren Erhebungen und das kriminaltaktische Vorgehen sein. In der Tat ist es bereits in einigen Fällen vorgekommen, daß der durch diese Methode verdächtig Gewordene — nunmehr verhaftet — ein Geständnis ablegte. Gerade die Erkenntnis, daß die geschilderte Assoziationsmethode sich zur Anwendung in der Praxis wenig eignet, hat aber das begreifliche Bestreben nicht gemindert, zur Überführung leugnender oder überhaupt noch unbekannter Täter — in Fällen, in denen reale Beweismittel, wie Spuren u. a., zunächst nicht zur Verfügung stehen — dennoch „objektive" Methoden anzuwenden. Die R e g i s t r i e r u n g u n w i l l k ü r l i c h e r A u s d r u c k s b e w e g u n g e n kommt als jene Methode in Betracht, die vielleicht das, was man von der psychologischen Tatbestandsdiagnostik für die Praxis erhoffte, in absehbarer Zukunft, aber ebenfalls nur für bestimmt gelagerte Fälle zu verwirklichen vermag. Wenngleich vor übertriebenen Erwartungen nachdrücklichst gewarnt werden muß, ist eine Darstellung dieser Methode und ihre Kenntnis für den Kriminalisten doch schon deshalb erforderlich, weil die Methode in Amerika im Zuge erster polizeilicher Erhebungen öftere angewendet wird." Auf die m a n n i g f a c h e n u n w i l l k ü r l i c h e n A u s d r u c k s b e w e g u n g e n , die unsere seelischen Abläufe begleiten, wurde bereits bei Erörterung der Mimik 1 ) hingewiesen, die ja nur eine geringe Teilerscheinung a l l e r Ausdrucksbewegungen darstellt. Während die Erfassung und die Deutung der mimischen Bewegungen nur durch optische Wahrnehmung und subjektives Erfassen ihres Ausdrucksgehaltes erfolgt, ist es bei anderen Ausdrucksbewegungen, insbesondere den Veränderungen der Herztätigkeit (Puls, Blutdruck), der Brust und Bauchatmung, den unwillkürlichen Bewegungen des Kopfes, der Hände und Füße u. a. möglich, sie mittels verhältnismäßig einfacher technischer Apparaturen zierens auf zugerufene Reizworte ist das freie Assoziieren zu unterscheiden, das die Psychoanalyse verwendet, um daraus — meist recht willkürlich! — auf „verdrängte Komplexe" zu schließen (vgl. Freud, Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse, Archiv 26 S. 1). ») Oben S. 167f. 12**

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II. A b s c h n i t t . Die Vernehmung.

laufend in Form von Kurven zu registrieren und so für eine nachträgliche psychodiagnostische Auswertung festzuhalten. Von der Fachpsychologie wurden solche Versuche zu theoretischen Zwecken schon seit Jahrzehnten unternommen 1 ). Ihr Zweck war es, möglichst allgemein gültige Zusammenhänge zwischen bestimmten Erlebnissen (Lust, Unlust, Spannung, Lösung usw.) und bestimmten Veränderungen in den erwähnten Ausdrucksbewegungen zu ermitteln. Auch Benussi2), der als einer der ersten an eine Anwendung für die kriminalistische Praxis dachte, wollte hiefür ein von ihm gefundenes, allgemein gültiges Gesetz verwenden: das Benussische „Atmungssymptom der Lüge" besteht darin, daß der Quotient zwischen der Dauer der Inspiration und der Exspiration nach einer aufrichtigen Aussage abnimmt, hingegen nach einer lügenhaften Aussage zunimmt. Es werden daher in den Atmungskurven, die der Inspiration und Exspiration entsprechenden Strecken bei den ersten Atemzügen n a c h der Aussage gemessen, ebenso bei den letzten Atemzügen v o r der Aussage und es werden die sohin berechneten Quotienten miteinander verglichen. Die Erprobung dieser Methode für praktisch kriminalistische Zwecke3) hat gezeigt, daß n i c h t die U n a u f r i c h t i g k e i t als solche das Benussische Atmungssymptom bewirkt, sondern jene durch seine besondere Versuchsanordnung bedingte i n t e l l e k t u e l l e L e i s t u n g und u n l u s t b e t o n t e S p a n n u n g , die nach Beendigung der Aussage in einen Zustand der L ö s u n g übergeht. Daher geht das Symptom verloren, sobald die Versuchsperson etwa bloß mit „ j a " oder „nein" zu antworten braucht. Auch sind bei der Benussischen Versuchsanordnung die Zahl, Art und Reihenfolge der Aussagen genau vorgeschrieben. Dies läßt sich naturgemäß bei einer Vernehmung in der Praxis kaum durchführen; sobald aber die Versuchsperson frei antwortet, spielen sich einerseits unkontrollierbare seelische Abläufe ab, die in den Atmungskurven ebenfalls zum Ausdruck kommen, und anderseits bewirken die Sprechbewegungen derartige Störungen der Atmungskurven, daß schon dadurch die exakte Ermittlung des Benussischen Atmungssymptoms meist nicht möglich ist. Diese Erfahrungen bedeuten jedoch nicht, daß die Methode der Registrierung unwillkürlicher Ausdrucksbewegungen überhaupt unbrauchbar wäre4). Die angedeuteten Fehlerquellen fallen nämlich weg, V g l . die oben S. 167 A n m . 1 angegebene Literatur. V. Benussi, Die A t m u n g s s y m p t o m e der L ü g e , A r c h i v f. d. gesamte P s y c h o logie B d . 31 (1914)3) V g l . Schütz, Psychologische T a t b e s t a n d s a u f n a h m e n an Untersuchungsgefangenen, Archiv 76 S. 150; Seelig, Psychologische Tatbestandsdiagnostik durch Messung unbewußter Ausdrucksbewegungen, Archiv 77 S. 187; Schütz, E n t g e g n u n g auf die Arbeit von Seelig, A r c h i v 78 S. 180; O. Klemm, Über die A t m u n g s s y m p t o m e bei Untersuchungsgefangenen, in: A n g e w a n d t e Psychologie (Neue psychologische Studien, 5. B d . 1. Heft), München 1929. *) Eine umfassende Darstellung der theoretischen und methodischen Grundlagen des Verfahrens, der Untersuchungstechnik, der möglichen Fehlerquellen und der Aussichten für eine Verwertung in der Praxis findet sich im Bericht E. Seeligs, Die Registrierung unwillkürlicher Ausdrucksbewegungen als foren2)

Die Registrierung unwillkürlicher Ausdrucksbewegungen.

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wenn wir eine Versuchsanordnung wählen, bei der die Versuchsperson überhaupt nicht spricht, sondern sich ganz passiv zu verhalten hat. Freilich kann man dann nicht unmittelbar das Erlebnis der Aufrichtigkeit oder der Lüge ermitteln, wohl aber andere Erlebnisse, die — ähnlich wie bei der vorhin geschilderten „psychologischen Tatbestandsdiagnostik" — mittelbar die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Verantwortung des Vernommenen ergeben. Dies geschieht in der Weise, daß entweder die G e f ü h l s b e t o n u n g einer bestimmten Vorstellung oder das B e s t r e b e n , s i c h n i c h t z u v e r r a t e n , aus den Kurvenbildern ermittelt wird. Ein Beispiel möge dies erläutern: Ein Hochstapler, der sich unter verschiedenen Namen mit entsprechend verschiedenen Geburtsdaten herumtreibt, verweigert auf die Frage, in welchem Monat er wirklich geboren sei, die Auskunft. Der Vernommene hat nunmehr auf dem Stuhl der Registriereinrichtung Platz zu nehmen. Er weiß, daß seine Ausdrucksbewegungen kontrolliert werden, z. B. gleichzeitig seine Brustatmung, Bauchatmung, die unwillkürlichen Bewegungen seiner Hände und seiner Füße, wie dies in der von Seelig erprobten Versuchsanordnung der Fall ist (siehe Abb. 2). Nun werden vom Versuchsleiter alle Monate des Jahres in der üblichen Reihenfolge in Abständen von 5 Sekunden vorgesagt, was der Versuchsperson schon vorher angekündigt wird. Diese ist daher bestrebt, sich nicht zu verraten, d. h. beim Zuruf des kritischen Monates ihre Motorik vollkommen zu beherrschen. Aber gerade das verrät sie: die Versuchsperson sieht infolge der ihr bekannten Reihenfolge der Monate das kritische Wort näherkommen, jetzt e r h ö h t s i c h i h r S p a n n u n g s z u s t a n d , der bei Nennung des fraglichen Monates den Höhepunkt erreicht; ist dieses Wort vorbei, so ist für die Versuchsperson „die Gefahr vorüber", die Spannung geht in L ö s u n g über, der Vernommene „atmet auf" (wie bezeichnend ist doch diese volksübliche Ausdrucksweise für die Symptomatik der Atembewegung!). In den erhaltenen Kurvenbildern (siehe Abb. 3) drückt sich dieses Geschehen in der Weise aus, daß die Merkmale erhöhten Spannungszustandes der Muskulatur bis zur Nennung des kritischen Monates zunehmen, meist werden die Atembewegungen rascher, die Atemtiefe geringer und die Hand- und Fußkurven werden geradliniger, d. h. die sonst mitschwingenden Sekundärbewegungen des Körpers kommen infolge der Verkrampfung geringer zum Ausdruck. Sobald dem fraglichen Wort das nächste folgt (der genaue Zeitpunkt des Zurufes der einzelnen Monate muß natürlich in den Kurvenbildern elektromagnetisch vermerkt werden), ändern sich auch die Kurvenbilder: als Merkmale der Lösung werden die Atembewegungen langsamer und größer, insbesondere die Inspirationen verhältnismäßig länger, und in den Hand- und Fußkurven schwingen wieder sisch-psychodiagnostische Methode, Zschr. f. angew. Psychologie 28 S. 45 (1927). Ü b e r die Ausbaumöglichkeiten des Verfahrens vgl. auch E. Seelig, Die psychodiagnostische Registrierung und ihre Verwendung in der Kriminologie, Psychologie und Medizin 2 S. 210 (1927); Balla, Tatbestandsdiagnostische Methoden und ihre strafprozessuale Zulässigkeit, E m s d e t t e n 1936.

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A b b . 2: Psychodiagnostische Versuchsanordnung nach Seelig zur Registrierung unwillkürlicher Ausdrucksbewegungen: gleichzeitige Registrierung der Brust- und Bauchatmung und der Bewegung der Hände und Füße.

A b b . 3: Ausschnitt aus dem Kurvenbild: Feststellung des Geburtsmonates. Oben Zeitsignale (Zuruf der 12 Monate); Mitte: Brustatmung; unten: K u r v e der rechten Hand. Die Versuchsperson ist im Juni geboren.

A b b . 4: Beispiel einer „besonderen R e a k t i o n " bei Nennung des Vornamens der Geliebten (Anordnung der K u r v e n wie in A b b . 3).

Die Affektspannung im Kurvenbild.

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die Sekundärbewegungen des Körpers stark mit. Nur bei manchen Versuchspersonen ist außerdem bei Nennung des fraglichen Wortes, selbst eine besondere Reaktion, ein leichtes Zucken des Körpers oder eine Störung der Atmung zu beobachten, was sich in entsprechenden Veränderungen der Kurvenbilder zeigt und als Symptom der Affektbetonüng des zugerufenen Wortes zu werten ist (siehe Abb. 4). Wie wir gesehen haben, ist aber auch dann, wenn es der Versuchsperson durch Beherrschung ihrer Motorik gelingt, eine solche besondere Affektreaktion zu vermeiden, eben infolge dieses Bestrebens die Ermittlung des fraglichen Monates möglich. Diese hier angedeutete Versuchsanordnüng läßt sich naturgemäß in verschiedenster Weise abändern und der jeweiligen Fragestellung, auf die es ankommt, anpassen. Soll etwa festgestellt werden, ob der Vernommene eine bestimmte Person kennt, so wird der,Name dieser Person mit sechs anderen Namen auf einen Zettel geschrieben und dem Vernommenen gesagt, daß die auf diesem Zettel stehenden Namen in dieser Reihenfolge ihm vorgesagt werden würden (ohne daß der kritische Name dabei überhaupt erwähnt wird). Nun wird die Untersuchung in gleicher Weise, wie früher geschildert, durchgeführt: zeigen die Kurvenbilder jedesmal gerade v o r Nennung des fraglichen Namens die Symptome der Spannung, die nach seiner Nennung in Merkmale der Lösung übergehen, oder ist jedesmal bei Nennung des fraglichen Namens eine „besondere Reaktion" festzustellen, so kann dies wohl nur dadurch erklärt werden, daß der Versuchsperson dieser Name bekannt ist. Selbstverständlich ist dieser Rückschluß dann nicht erlaubt, wenn die Versuchsperson etwa schon vorher darüber vernommen wurde, ob sie die betreffende Person kennt; ebenso dann nicht, wenn nach dfer ganzen Situation oder infolge Zeitungsberichte dem Vernommenen — auch ohne daß er die betreffende Person persönlich kennt — doch ihr Name bekannt sein kann. Daher empfiehlt es sich, auch diese Methode in der Regel nur im Zuge der Erhebungen des e r s t e n A n g r i f f e s anzuwenden. Besonders aussichtsreich liegen jene Fälle, in denen innerhalb eines bestimmten Personenkreises der Täter herauszufinden ist, ohne daß über die Sache noch gesprochen wurde: ein solcher Fall wäre z. B. gegeben, wenn in einem Pensionat eine Uhr gestohlen wird und die allein in Betracht kommenden Personen dieser Uritersuchungsmethode zugeführt werden können, ohne daß vorher der Diebstahl bekannt wurde 1 ). Andere Anwendungsmöglichkeiten dieser Methode bestehen in der Feststellung der Simulation von Schwerhörigkeit und in der Ermittlung verschiedener psycho-physischer Dispositionen des Untersuchten, so insbesondere seiner Affekterregbarkeit und der Art, wie er die Affekte abreagiert. Wenn z. B. bei einem in Flüsterton erzählten Witz die Atmungskurven unterdrückte Lachbewegungen zeigen, so muß der Untersuchte den Witz gehört und verstanden haben und kann daher nicht schwerhörig sein. Oder: wenn im Nebenraum plötzlich drei Schüsse ertönen, bewirkt die Schreckreaktion und das Abreagieren des Schreckaffektes bei den Menschen je nach ihren Temperamentseigenschaften sehr verschiedene Veränderungen in den Kurven. Man kann auch der Versuchsperson kurze Kinofilme vorführen und aus der Art der Affektreaktion bei bestimmten

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I I . Abschnitt. Die Vernehmung.

Schwierigkeiten, die aber bei einem weiteren Ausbau des Verfahrens für die Praxis sicherlich behebbar sind, bietet zunächst die U n t e r s u c h u n g s t e c h n i k . Aus methodischen Gründen empfiehlt es sich nämlich nicht, bloß e i n e Art von Ausdrucksbewegungen zu registrieren, da bei dem einen Menschen seine seelischen Abläufe z. B. mehr in der Brustatmung, bei einem anderen mehr im Blutdruck, bei einem dritten mehr in den Händekurven zum Ausdruck kommen. Vielmehr müssen mehrere dieser Bewegungsarten g l e i c h z e i t i g registriert werden, wie z. B. in der oben in Abb. 2 wiedergegebenen Anordnung. Dadurch wird auch vermieden, daß die Aufmerksamkeit des Untersuchten sich einseitig auf eine bestimmte Bewegungsart hinwendet, was eine Fehlerquelle bedeuten würde. Allein die gleichzeitige Registrierung mehrerer Bewegungsarten mit gleichzeitiger Signalschreibung beim Setzen der einzelnen Reize ist technisch noch nicht restlos gelöst. Bei der Anordnung in Abb. 2 wird die Brust- und Bauchatmung mit je einem Lehmannschen Pneumographen erfaßt und mittels Schlauch- und Rohrleitungen auf Mareysche Kapseln mit 12 cm langen Schreibzeigern übertragen. In ähnlicherWeise werden auch die unwillkürlichen Bewegungen der Hände (bei im Oberarm gestützten Armen) und der Füße (bei in Sitzstellung gestützten Oberschenkeln) auf die Gummimembran von Pneumographen übertragen und diese Bewegungen auf weitere 4 Mareysche Kapseln weitergeleitet. Alle 6 Registrierkapseln sind auf einem Stativ übereinander angeordnet und schreiben, — da es sich um sehr empfindliche Reaktionen handelt — die Kurven auf berußtes Glanzpapier, das in Form einer langen Schleife über zwei große Trommeln eines Kymographen gespannt ist und mittels eines Uhrwerkantriebes möglichst gleichmäßig fortbewegt wird. Zur Kontrolle der Gleichmäßigkeit dieser Bewegung (die selbstverständlich eine Voraussetzung für eine richtige Auswertung der entstandenen Kurve ist) kann durch einen Jaquetschen Zeitschreiber gesorgt werden, der in Abständen von einer halben Sekunde auf dem Rußstreifen Zeichen anbringt. Schließlich ist noch ein elektromagnetischer Schreiber angebracht, der bei Schließung des Kontaktes durch den Versuchsleiter den Zeitpunkt der einzelnen Reize (Zuruf der Worte) vermerkt. Die Spitzen dieser 7 oder 8 Schreibvorrichtungen müssen in einer Geraden liegen und die ganze Einrichtung soll möglichst geräuschlos funktionieren. Eine solche Apparatur ist aber für eine umfangreichere Anwendung in der Praxis wenig geeignet, sie ist zu unhandlich und zu labil und die erforderliche Fixierung der großen berußten Papierschleife, die durch ein Fixierbad durchgezogen werden muß, macht das Verfahren reichlich umständlich. In der Tat haben die Amerikaner 1 ), von denen J. A. Larson Filmsituationen Schlüsse auf die Persönlichkeit des Untersuchten ziehen. Solche Versuche sind auch im Falle einer tatbestandsdiagnostischen Untersuchung empfehlenswert, u m dadurch die sonstige Reagibilität der Versuchsperson kennen zu lernen und die dabei gewonnenen Ergebnisse für die Beurteilung der fraglichen K u r v e n als Vergleichsbasis verwenden zu können. x) H. E. Burtt, T h e inspiration-expiration ratio during truth and falsehood. Journal of Exper. Psychology 4 S. 1 (121).; derselbe, Further technique for

Ausdrucksregistrierung in Amerika.

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in Berkeley (Kalifornien) das Verfahren als erster in der polizeilichen Praxis anwendete, auch viel einfachere und handlichere Geräte konstruiert. Die neueste Konstruktion 1 ) ist der „lie-detector", der in einer kleinen, kofferähnlichen Apparatur eine um den Oberarm zu wickelnde Recklinghausensche Manschette als B l u t d r u c k m e s s e r und einen Pneumographen für die Aufnahme der B r u s t a t m u n g und eine einfache Schreibvorrichtung enthält, bei der die zwei registrierten Kurven und die vermerkten Signale mittelst drei Federn farbig auf ein vorüberziehendes Millimeterpapier geschrieben werden. Der Antrieb der Papierrolle erfolgt elektromotorisch. Dieses Gerät ist allerdings sehr handlich, vermag aber auch nur z w e i Bewegungsarten gleichzeitig zu registrieren. Dies hängt damit zusammen, daß die Amerikaner methodisch vielfach auf das Benussische Atmungssymptom der Lüge zurückgriffen und dieses in Kombination mit den registrierten Blutdruckveränderungen verwenden. In m a n c h e n Fällen wird man gewiß auch auf diesem Wege zum Ziele gelangen, aber je mehr man das Verfahren methodisch vereinfacht, desto geringer ist seine Verläßlichkeit und der Umfang seiner Verwendbarkeit. Die Forschung wird daher noch weitere Vorarbeit leisten müssen, bevor eine allgemeinere Einführung in die Praxis der Polizeiuntersuchung empfohlen werden kann. Prozessual handelt es sich bei allen solchen Methoden nicht mehr um eine „Vernehmung", sondern um eine Untersuchung, die in die Hand eines biologisch-psychologisch ausgebildeten Kriminologen als S a c h v e r s t ä n d i g e n zu legen ist. Sein Bericht ist daher prozessual als Gutachten eines Sachverständigen zu verwerten, nicht aber als Protokoll einer Beschuldigten- oder Zeugenvernehmung. — \ •• ; 1 inspiration-expiration ratios. Journal of Exper. Psychology 4 S. 106 (1921); I . A. Larson, The cardio-pneumo-psychogram and its use in the study of the emotions, with practical application. Journal of Exper. Psychology 5 S. 323 (1922); derselbe, The Berkely lie-detector and other deception tests. Med.-Leg. Journ. 40 S. 14 (1923); derselbe, T h e cardio-pneumo-psychogram in deception. Journal of E x per. Psychology 6 S. 420 (1923); derselbe, L y i n g and its detection, Chicago 1932; Fred E. Inbau, Scientific Monthly XV S. 81 (1935); derselbe, Journal of the American Institute of Criminal L a w and Criminology 26 Nr. 2 (1935). 1 ) Vgl. Volwassen, Der Lügenentdecker — ein neues Beweisverfahren in U S A . , Kriminalistik n S. 79.

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I I I . A b s c h n i t t . Die A u f n a h m e des Augenscheines.

III. Abschnitt.

Die Aufnahme des Augenscheines. 1. Allgemeines. Nach der modernen Auffassung vom Beweise, die auf alle Realien den größten Wert legt, hat natürlich alles, was Augenschein heißt, hervorragende Bedeutung, da durch diesen die erheblichsten und am meisten überzeugenden Beweismittel geschaffen werden können. Deshalb ist der Begriff des Augenscheines möglichst weit auszudehnen, und es hat Voß1) gewiß recht, wenn er sagt: „Gegenstand des Augenscheines im Sinne des Gesetzes kann alles sein, was mit Sinnen wahrgenommen werden kann und von Bedeutung für die Untersuchung ist". Eine zusammenfassende Behandlung aller hier in Betracht kommenden Untersuchungen ist nicht möglich, da so viele Fragen der heutigen Beweislehre sich um Sachen und ihre Besichtigung drehen, daher zum weiteren Begriff des „Augenscheins" gehören und doch besondere Behandlung verlangen. Die Besprechung aller Spuren, aller Objekte, die Gegenstand chemischer, medizinischer, physikalischer usw. Untersuchung werden sollen, die ganze Identitätslehre, die Lehre von den Waffen, vom Diebstahle, von der Brandlegung, von der Urkundenfälschung und vieles andere geht zum mindesten v o m Augenschein aus und muß doch vermöge seines Umfanges besonders behandelt werden. E s soll also hier nur vom Lokalaugenschein 2 ) und jenen Besichtigungen und Feststellungen gesprochen werden, welche mit einem solchen unmittelbar zusammenhängen, also draußen, an Ort und Stelle, vorgenommen werden müssen. Alles andere wird gesondert behandelt.

2. Vorbereitung. Protokoll 3 )

Das über einen Lokalaugenschein ist auch ein Prüfstein für den U. Nirgends zeigt sich Geschicklichkeit, sicherer Blick, logisches Denken, energisches, zielbewußtes Vorgehen, oder aber Unbeholfenheit, verständnisloses Anschauen, ungeordnetes Auffassen, Unsicherheit und Zaghaftigkeit des U. besser und klarer als in der Abfassung eines Lokalaugenschein-Protokolles. Ein ungeschickter U. liefert nie einen guten Lokalbefund, ein guter U. zeigt sich dabei in seinem vollen Werte. „ Z u m Begriff der richterl. Augenscheinseinnahme usw.", Gerichtssaal 79 S. 432. In dieser ausgezeichneten Arbeit s. auch die ältere Literatur 2) V o n der neueren kriminologischen Literatur, die den Lokalaugenschein behandelt, seien hervorgehoben: Weingart, Kriminaltaktik, Berlin 1904 S. 5 8 f f . , A. Lichem, Die Kriminalpolizei, Graz 1935 S. 171 f f . ; Leibig, Kriminaltechnik, München 1937 S. i 2 5 f f . Vgl. auch Weinlich, Ü b e r einige technische Behelfe für Untersuchungsrichter, Archiv 1929 S. 212 und den Artikel „ A u g e n s c h e i n " im H w . d. Rechtswissenschaften (1926) und im H d K . 3) Vgl. Höpler, Die Protokollierung im Vorverfahren, A r c h i v 57 S. 198.

Die Vorbereitung des Augenscheines.

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Die Vornahme eines polizeilichen oder gerichtlichen Augenscheines erfordert aber auch eine Art Technik des Vorganges, welche nur durch Übung, gewissenhafte Vorbereitung und eine, mit allen Mitteln erzwungene vollkommene Ruhe ohne Voreingenommenheit erreicht werden kann. Vor allem sorge man mit Umsicht für gute Vorbereitung und Ordnung in den äußeren Verhältnissen. Der Natur der Sache nach wird ein Augenschein nur bei wichtigeren Fällen angeordnet, bei solchen treten aber Bedeutung der Sache, unerwartete Zwischenfälle, das Bewußtsein der großen Verantwortlichkeit, die Aufregung durch das oft Entsetzliche oder Traurige des Falles und zahllose andere Momente derart kräftig an den U. heran, daß es wahrlich nicht mehr nötig ist, sich kleine, äußerliche Schwierigkeiten in den Weg kommen zu lassen, um die ohnehin genugsam in Anspruch genommene Aufmerksamkeit des U. auf irgendwelche nebensächliche und doch auch wichtige Widerwärtigkeit abzulenken. Die Vorbereitungen werden vom U. der Großstadt in wesentlich anderem Umfange getroffen werden müssen als von seinem Kollegen in der Kleinstadt und auf dem flachen Lande. In der Großstadt steht ein mit allen modernen technischen Mitteln ausgerüsteter Polizeiapparat zur Verfügung. Der U. auf dem Lande muß selbst an alles denken, selbst alles vorbereiten und wird von den Sicherheitsorganen nur höchstens einen Hilfsdienst erwarten können, den er im einzelnen überwachen muß. Man sorge in erster Linie für einen willigen, flinken und findigen Schriftführer. Ist diesem die Sache langweilig und stellt er sich verdrossen an, so wird der U. unwillkürlich davon beeinflußt und unterläßt vielleicht manche genauere Erhebung, um seinen Gehilfen nicht noch unwilliger zu machen. Kommt der Mann mit dem Schreiben nicht vorwärts, so wird die beste Zeit überflüssig verwendet und es bemächtigt sich des eifrigsten U. Unlust und Ungeduld, je nach Anlage. Auch ist die für die auswärtige Amtshandlung zur Verfügung stehende Zeit meistens begrenzt und oft muß daher eine noch notwendige Erhebung fallen gelassen werden, bloß weil der Protokollführer nicht vorwärts kam. Endlich sei der Mann auch intelligent, um Andeutungen des U. rasch aufzugreifen, ihn zu unterstützen, auf manches sein Augenmerk zu richten, worauf er vom U. gelenkt wird, und um auch selbständig zu beobachten und den U. auf Dinge aufmerksam zu machen, die dieser übersehen hat: zwei Augen sehen weniger als vier. Ich erinnere mich dankbar meines Schriftführers, den ich als Erhebungsrichter eines großen und vielbeschäftigten Bezirksgerichtes durch fünf Jahre zur Seite hatte. Ich mußte mir den Mann, der nur die Volksschule besucht hatte, mit Mühe erziehen, habe aber dann seinem unverdrossenen Eifer, seiner treuen Anhänglichkeit, seinem untrüglichen Gedächtnis, seinen stets offenen Sinnen und seiner natürlichen Beobachtungsgabe wertvolle Wahrnehmungen zu danken gehabt und "manchen Erfolg großer Untersuchungen mußte ich unumwunden diesem einfachen, braven Menschen zuschreiben. Freilich hat man, namentlich bei kleineren Gerichten, oft kein

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III. Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

gutes Material, aber diese Rücksicht verdient der U., daß man ihm wenigstens das Beste auf auswärtige Amtshandlungen mitgibt, was man zu bieten vermag. Hat man nun einen brauchbaren Schriftführer, so teile man ihm die Sache v o l l k o m m e n mit, mache ihn auf alle Zwischenfälle und alle Möglichkeiten aufmerksam, überweise ihm auch gewisse kleinere Aufgaben zur selbständigen Beobachtung, auf die der U. voraussichtlich nicht sein Augenmerk wird richten können, kurz, man bespreche mit ihm den ganzen Plan, nach dem die Erhebungen geleitet werden sollen. Geheimtuerei vor dem Protokollführer ist lächerlich und nie von Nutzen. Verdient er kein Vertrauen, dann ist er ohnehin für sein Amt nicht zu verwenden und sofort zu entfernen, ist er aber vertrauenswürdig, dann kann man ihm auch früher dasjenige sagen, was er bei der Amtshandlung ohnedies zu sehen bekommt. Allerdings hatte ich es mir zum Grundsatze gemacht, dem Schriftführer meinen Plan nicht allzufrühe, etwa schon am Tage zuvor, mitzuteilen; ich tat dies immer erst unmittelbar vor der Amtshandlung, wenn ich wußte, daß er nunmehr nicht mehr von meiner Seite kam, bis die Amtshandlung begann. Das kostete am Tage der Exkursion allerdings früheres Aufstehen, hat sich aber oft gut gelohnt. Mag der Mann noch so vertrauenswürdig sein, die Zunge ist oft stärker als Kopf und Herz und eine kleine Plauderei kann viel Schaden bringen. — Man vergesse nicht, daß der Protokollführer von Gesetzes wegen nicht eine bloße Schreibmaschine, sondern ein Mitglied der Kommission ist, so daß er auch ein Recht darauf hat, mit seinem Kopfe anwesend zu sein. Dagegen dulde man selbstverständlich vorlautes Dreinreden des Schriftführers unter keinen Umständen, dadurch verliert das Ansehen des U., es entsteht Unordnung und in vielen Fällen kann durch ungeschicktes Herausplatzen des Schriftführers der Plan des U. vereitelt werden. Ich hatte stets mit meinem Schriftführer, der, wie erwähnt, ausnahmslos in die Sache und meine Absichten eingeweiht war, verabredet, daß er das, was er mir sagen wollte, auf seine Schreibunterlage schreibe. Wenn ich nun bemerkte, daß er, für Dritte unverfänglich, dort zu kritzeln begann, so hielt ich aus irgendeinem Grunde mit dem Diktieren inne, und wenn ich bemerkte, daß er fertig war, sah ich, neben ihm stehend und scheinbar den Faden zum Weiterdiktieren suchend, was da stand. Da waren oft wertvolle Dinge zu lesen, z. B . : „Sie haben vergessen, die Schreibtischlade durchsuchen zu lassen", oder: „Der Beschuldigte schaut so ängstlich nach dem Ofen", oder einmal gar: „Der Mann hat ein offenes Messer" — alles Dinge, die mir im Eifer der Arbeit entgangen waren. Einmal machte mich der Schriftführer auf einen nur schwer sichtbaren kleinen, braunen Fleck am Hemd eines wegen Mordverdachtes Eingelieferten aufmerksam; der Gendarm, der Gefangenenaufseher und ich hatten den Fleck übersehen, der später als von Menschenblut herrührend festgestellt wurde. Daß das Handwerkszeug in Ordnung sein muß, soll später besprochen werden, eben sowichtig sind aber auch andere äußere Momente. Man trachte

Die Zuziehung von Sicherheitsorganen. darnach, daß sich bei der Fahrgelegenheit keine Anstände ergeben, daß man für die Witterung gehörig vorgesorgt sei, weiters, daß im voraus die nötigen Gerichtszeugen, bei Exhumierungen der Totengräber, dann Agnoszierungszeugen usw. verständigt und zur Stelle seien. Dasselbe gilt von Sachverständigen, einem Gemeindeorgan usw. Von nicht genug zu schätzendem Werte ist es fast immer, wenn man von allem Anfange an ein Sicherheitsorgan (Wachtmeister, Polizeidiener, Gendarm usw.) bei sich hat. Wozu ein solcher Mann zu verwenden ist, welche Schwierigkeiten, Unannehmlichkeiten und Zeitverluste er ersparen kann, läßt sich nicht aufzählen: man denke nur an das Fernhalten von unberufenen Zusehern, Verhaftungen, Bewachung von Gegenständen oder Örtlichkeiten, rasch notwendige und in der Nähe durchzuführende Erhebungen, Verhinderung von Besprechungen unter Verdächtigen oder Zeugen, Vornahme von Haus- und Personsdurchsuchungen und was dergleichen zahllose und oft ausschlaggebende Dienstleistungen mehr sind. Ist der U. nicht selbst Photograph, sichere er sich einen solchen. Auch die Beistellung eines Polizeihundes wird gegebenenfalls zu veranlassen sein.

3. Ausrüstung. Die folgenden Ratschläge beziehen sich vorwiegend auf den U. auf dem Lande, der auf die Mitwirkung einer modern arbeitenden Polizei verzichten muß und daher auf sich selbst angewiesen ist. Wie bei allen Arbeiten, so hat auch bei der des U. das Handwerkszeug eine Bedeutung, die nicht hoch genug veranschlagt werden kann; es darf behauptet werden, daß mancher Erfolg, manches Mißlingen ausschließlich dem guten und vollständigen oder dem unbrauchbaren und mangelhaften Werkzeug des U. zuzuschreiben war. Wenn im folgenden einzelnes vielleicht kleinlich und überflüssig erscheinen mag, so wird doch die Erfahrung jeden dahin belehren, daß der Besitz einer geordnet erhaltenen und richtig versehenen „Kommissionstasche" nicht nur Bequemlichkeit bietet und Raschheit sichert, sondern auch oft die alleinige Ursache glücklichen Erfolges ist. Sie sei aus gutem Leder oder Segeltuch, jedenfalls v ö l l i g wasserdicht und sperrbar — ihr Inhalt ist kostbar oder kann es doch werden. Ihre Größenverhältnisse sind bezüglich Mindestlänge und Mindestbreite dadurch gegeben, daß der Strafakt darin Raum findet: also etwa 3 5 X 25 cm. Die Höhe des Kofferchens, also seine Dicke, wird dann durch den aufzunehmenden Inhalt gegeben. Ich rate aber, sich vorerst den im folgenden angegebenen Inhalt zusammenzustellen und darnach die Größe der anzufertigenden oder fertig zu kaufenden Tasche zu bestimmen. Die innere Einrichtung der Tasche ist so zusammenzustellen, daß sie den U., der oft weitab von jedem Verkehr zu arbeiten hat und rasch den richtigen Entschluß fassen muß, in die Lage versetzt, allen Situationen gegenüber gerüstet zu sein, ohne fürchten zu müssen, die Sicherung wichtiger Spuren zu vernachlässigen. Gewiß wird es selten vorkommen,

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III. Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

daß der U. alles Mitgenommene brauchen wird, allein es muß unbedingt vermieden werden, daß er nicht zur Hand hat, was er braucht. Von diesem Gesichtspunkt aus muß das Folgende beurteilt werden. Der Inhalt der Tasche ist am besten folgendermaßen zu gruppieren. Gruppe A: 1. Der Strafakt in einem mappenartigen Umschlag, die einzelnen Aktenstücke weder gefaltet noch gebrochen.

2. 3. 4. 5.

6. 7. 8. 9. 10.

Gruppe B: (ebenfalls in einem mappenartigen Umschlag) 10 Bogen gutes, weißes Schreibpapier, 5 Bogen liniertes und 5 Bogen rastriertes Schreibpapier, mehrere Löschblätter, 20 Blatt Maschinenschreibpapier; mehrere Briefumschläge verschiedener Größe; Kopierpapier (Indigopapier für Bleidurchschrift und Karbonpapier für Maschinendurchschläge); sämtliche gebräuchliche und etwa selbst angefertigte Formulare: Augenscheinsprotokolle, Protokolle für Zeugen-, Sachverständigenund Beschuldigten Vernehmungen, Strafbefehle, Vorladungen, Begräbnisscheine, Bestätigungen usw. G r u p p e C: (ebenfalls in einem mappenartigen Umschlag) Pauspapier und einige Blätter Zellit; besonders glattes, starkes, weißes Briefpapier 1 ); einige Bogen weißes Filtrierpapier; Packpapier verschiedener Stärke und feines Seidenpapier 8 ); wasser- und fettundurchlässiges Pergamentpapier (oder schon fertige Säckchen verschiedener Größe aus Zellit oder Oleatpapier3));

G r u p p e D: 1 1 . Skizzierblock mit Millimetereinteilung; 12. Miniaturausgaben des Strafgesetzes und der Strafprozeßordnung; 13. Geländekarte des Bezirkes in durchsichtiger Allwetterhülle. Gruppe E: 14. Schreibfedern verschiedener Art 4 ), Bleistifte, Tintenstifte und Farbstifte; 15. ein Fläschchen guter Tinte; Zur Sicherung kleiner pulverförmiger Spuren und zu ähnlichen Zwecken oft gut verwendbar. a ) Zum Verwahren sichergestellter. gebrechlicher Gegenstände aus Glas u. ä. ') Zur Sicherung feuchter oder fetter Gegenstände. :.-• 4) Auch für Aufnahme von Schriftproben, vgl., unten Abschnitt XV.

Die Kommissionstasche. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36.

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zwei Stück weiße Schulkreide; ein auseinanderklappbarer Meterstab und ein Maßband; Siegellack; Zirkel; Schrittzähler 1 ); ein Fläschchen arabischer Gummi; drei Pinsel verschiedener Stärke; ein Kompaß; ein kleines Kruzifix und zwei kleine Wachskerzen 2 ); Blechschachtel mit sturmsicheren Zündhölzern; eine kleine und eine große Lupe 3 ); Seife, Benzin (unter absolut sicherem Verschluß) und Handtuch. Glasgefäß mit einigen Sublimatpastillen 4 ); mehrere unten geschlossene Glasröhrchen mit Korkstöpseln; mehrere kleine Glasfläschchen mit Glasstöpseln; eine größere und eine kleinere Pinzette; eine kleine Bürste; eine Schere; feiner und starker Bindfaden; Schachtel mit Bonbons 5 ); das Amtssiegel. Gruppe F:

37. Photoapparat (in jederzeit aufnahmebereiten Zustand) samt Gelbfilter, Vorsatzlinsen für Nah- und Fernaufnahmen und Stativ 6 ); 38. Feldstecher. 1 ) In Sportgeschäften erhältlich (es gibt neue Konstruktionen in Taschenuhrformat, die man im Stiefel befestigt und einen einfachen, aber exakt arbeitenden Mechanismus enthalten, durch den die Zeiger bei der Erschütterung jedes Schrittes weiter bewegt werden). Mit Hilfe eines solchen Schrittmessers kann man durch Abgehen größerer Strecken diese messen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf etwas Wichtigeres richten als auf das Zählen der Schritte. 2 ) Für eine Beeidigung in Notfällen (z. B . Zeugenvernehmung Schwerkranker), falls der die Amtshandlung vornehmende U. hiezu berechtigt ist. ®) Die optische Industrie bringt unzählige Modelle in den Handel. Für die meisten Fälle genügen eine Lupe mit großem Durchmesser und schwacher Vergrößerung (als Ubersichtslupe zum Absuchen größerer Flächen) und eine Lupe mit kleinem Durchmesser und stärkerer (bis zehnfacher) Vergrößerung. Es gibt heute bereits solche Lupen mit einfacher elektrischer Beleuchtungseinrichtung, die durch eine Stabbatterie im Griff der Lupe gespeist wird und das Licht senkrecht auf den Beobachtungsgegenstand wirft. 4 ) Zu Desinfektionszwecken, nur auf ärztliche Verschreibung erhältlich (größte Vorsicht und Bezeichnung des Fläschchens mit „ G i f t ! " und Totenkopf ist unerläßlich). 6 ) Kinder am Lande, die oft wichtige Aussagen machen können, verkriechen sich häufig aus Scheu vor der Kommission und beginnen zu weinen, wenn man sie hervorholt. Hier tut ein Bonbon gute Wirkung und erspart viel Zeit; aus einem heulenden Kind wird durch dieses einfache Mittel oft ein tapfer erzählender verständiger Zeuge. Aber nur das Vertrauen des Kindes darf auf diese Weise gewonnen werden, keineswegs jedoch darf die süße Gabe als Belohnung dafür versprochen oder gegeben werden, daß das Kind in bestimmter Richtung aussage. ') Vgl. unten Abschnitt IV 8 und X I 3.

G r o ß - S e e l i g , Handbuch. 8. Aufl.

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III. Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

G r u p p e G: 39. Daktyloskopische Einrichtung zur Sicherstellung von Fingerspuren am Tatort (Dose mit Einstaubpulver, Einstaubpinsel und Abziehfolien)1); 40. Daktyloskopische Einrichtung zur Abnahme von Fingerabdrücken (Zinkplatte, Walze, Druckerschwärze, Abrollplatte, Fingerabdruckblätter2)) ; 41. Geräte zur Sicherung von Fußspuren (Zinkbüchse mit Gips, Pulverzerstäuber, Alkoholzerstäuber, Blechschüssel3)); 42. Dose mit Plastilin (oder ähnlicher Abformmasse); 43. Gummihandschuhe; 44. Werkzeugtasche (mit Kombinationszange und feinen Schraubenziehern)4); 45. Glasschneider; 46. Sperrhaken; 47. Absperrleine; 48. eine gut ausgerüstete Taschenapotheke5); 49. elektrische Taschenlampe (mit frischer Ersatzbatterie). Diese Aufzählung der nötigen Gegenstände und ihre Zusammenfassung in Gruppen erfolgte so, wie sich die Dinge am besten in die Kommissionstasche einfügen lassen und wie man sie im Bedarfsfalle übersichtlich zur Verfügung hat; es ist zweckmäßig, für die einzelnen Gruppen im Koffer eigene Abteilungen einbauen zu lassen. Bei sparsamer Raumeinteilung lassen sich alle diese Dinge in einer nicht allzu umfangreichen Tasche oder einem kleinen Koffer unterbringen. Es ist aber außerdem noch eine kleine Abteilung im Koffer vorzusehen, die l e e r bleibt und zur Mitnahme von sichergestellten kleineren Gegenstände dient. Ein wichtiger Grundsatz für die zweckmäßige Verwendung der Kommissionstasche ist: alles Verbrauchte s o f o r t nach Rückkehr ersetzen, nicht erst v o r der neuen A m t s h a n d l u n g e n z u s a m m e n suchen! Man bedenke, daß auswärtige Amtshandlungen nur bei wichtigen Fällen angeordnet werden, dann aber hat man vielerlei zu tun und anzuordnen und nicht erst Zeit nachzusehen, ob alle — später vielleicht so wichtigen — Kleinigkeiten in der Tasche in Ordnung sind. Die Kommissionstasche muß daher stets so bereit stehen, daß man bloß den Akt in die Tasche zu legen braucht und mit ihr forteilen kann; ein Herumsuchen im letzten Augenblick ist stets von Übel und vergessen wird dann gewiß etwas. Zu erwähnen sind noch vier Dinge, die der U., der sich auswärts befindet, bei sich haben soll, die aber nicht in die Kommissionstasche gehören: Siehe unten Abschnitt X I I . Siehe unten Abschnitt X I I . *) Siehe unten Abschnitt X I I I . *) Schwere Werkzeuge (Hammer, Stemmeisen usw.) sind im Bedarfsfalle regelmäßig an Ort und Stelle beschaffbar und würden die Kommissionstasche allzusehr belasten. 6) Für erste Hilfeleistungen aller Art. 2)

Was sonst Doch zur Ausrüstung gehört.

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1. eine verläßliche, richtig zeigende Taschenuhr; 2. ein sehr gutes, mehrklingiges, geschliffenes Taschenmesser, dessen Fehlen einen U. oft in die größte Verlegenheit versetzen kann; 3. eine verläßliche Verteidigungswaffe; 4. eine gute Füllfeder. Schließlich ist noch die Mitnahme einer Reiseschreibmaschine durch den Schriftführer zu empfehlen, für den Fall, daß nicht die Beschaffung einer Schreibmaschine an Ort und Stelle sicher möglich ist. Denn handgeschriebene Protokolle sind schon wegen ihrer schweren Lesbarkeit und des mit der Niederschrift verbundenen Zeitverlustes nach Möglichkeit zu vermeiden und auch die stenographische Aufnahme der Protokolle mit nachträglicher Übertragung in Maschinenschrift empfiehlt sich bei einem auswärtigen Augenschein nicht, weil spätere Ermittlungen im Laufe der Amtshandlung nicht ohne Schwierigkeit mit den bisherigen Feststellungen an der Hand des Protokolles überprüft werden können, wenn dieses nur im Stenogramm vorliegt. Die vorstehenden Richtlinien für die zweckmäßige Ausrüstung eines U. haben, wie bereits erwähnt, vorwiegend l ä n d l i c h e Verhältnisse im Auge. Die Gendarmerieposten sind vielfach auch mit ähnlich eingerichteten Tatorttaschen ausgerüstet1). Anders liegen die Verhältnisse in der G r o ß s t a d t . Hier steht wohl jedem U. — sei es im eigenen amtlichen Wirkungskreis, sei es als heranzuziehende Hilfseinrichtung — der wohlausgerüstete Apparat der Großstadtpolizei zur Verfügung, so daß sich die Mitnahme einer eigenen Kommissionstasche erübrigt. Diese Ausrüstung der Polizei ist nach ähnlichen Grundsätzen zusammengestellt, vielfach jedoch in der Weise spezialisiert, daß für die verschiedenen Arten von Untersuchungshandlungen eigene Kommissionstaschen und Tatortkoffer bestehen. In einzelnen Großstädten verfügt auch, damit in Mordfällen die Kommission besonders rasch und mit entsprechender Ausrüstung an Ort und Stelle sein kann, die Polizei über entsprechend eingerichtete Kraftwagen (sogenannte „Mordauto").

4. Vorgehen auf dem Tatorte. Ist die Kommission an Ort und Stelle angelangt, so ergeben sich gewisse Richtlinien, die für alle Fälle dieselben sind, ob es sich um Diebstahl, Raub, Mord, Brandlegung oder ein anderes Delikt handelt. Vor allem anderen mache man sich absolute Ruhe zur unausweichlichen Pflicht; mit ihr ist oft alles gewonnen, ohne sie alles verdorben. Ein Hin- und Herschießen, ein zielloses Angreifen und wieder Liegenlassen, ein zweckloses Herumfragen, Anordnen und Widerrufen macht vor allem auf sämtliche Beteiligte einen peinlichen Eindruck und bringt *) Wer als U. eine solche industriemäßig hergestellte Tasche zur Verfügung hat, vergleiche ihren Inhalt mit dem oben Empfohlenen, wodurch sich die allenfalls nötige Ergänzung, die dann leicht in einer kleineren Aktentasche untergebracht werden kann, von selbst ergibt.

13*

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I I I . Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

jegliches Vertrauen in die sichere Leitung der Erhebungen zum Schwinden. Ist das aber der Fall, so ist es um jede eifrige Unterstützung und genaue Aufmerksamkeit bei allen Anwesenden geschehen. Tritt aber sichere Ruhe und zielbewußte Tatkraft des U. zutage, so fügen sich alle gern und willig seinen Anordnungen, jeder tut sein Bestes und dann kann auch der Erfolg nicht ausbleiben. Hat man also den Tatort erreicht, so hüte man sich vor allem, gleich mit der Türe ins Haus zu fallen und sofort etwas zu veranlassen; viele Menschen verfallen in diesen Fehler, indem sie durch übereifriges Herumkommandieren ihre eigene innere Aufregung zu verbergen suchen. Das erste ist also: ruhige aufmerksame Beobachtung der Situation. Zunächst wird der U. vorsichtig aus einer Entfernung, die jedes Verwischen etwaiger Spuren unmöglich macht, sich darüber klar werden, was jetzt bei seiner Ankunft zu sehen ist. Hat er dies entsprechend festgehalten, so wird er jene Situation herzustellen trachten, die bei der ersten Entdeckung des behaupteten Verbrechens vorlag. Schreitet er auf diesem Wege ruhig und sicher stets weiter in die Vergangenheit, so muß er zu jenem Zeitpunkt gelangen, an dem das Verbrechen begangen, der Unfall geschehen ist. Immer wird aber der U. genau zu überlegen haben, ob die für einen bestimmten Zeitpunkt angenommene Situation auch möglich war, ob alle Einzelheiten mit dem Vorgestellten stimmen und nur wenn er dies bei einer Situation unbedingt annehmen kann, darf er von da aus weiter bauen. Welche Verwirrung angerichtet werden kann, wenn der U. diese Regel nicht befolgt, beweist folgender, im Jahre 1 9 1 5 in Mittelsteiermark vorgekommener Straffall: Ein 5ojähriger, kräftig gebauter Keuschler war in seinem einschichtig gelegenen Hause tot aufgefunden worden. Das Ergebnis des vorgenommenen Augenscheins war: Die Leiche lag in einer zum Selchen hergerichteten Abteilung des Dachbodens, der mittels einer schmalen, steilen Holztreppe vom Vorhaus zugänglich war. Die Leichenöffnung ergab eine aus einer Nähe von etwa 10 Schritten von einem Schrotgewehr herrührende Schußwunde an der l i n k e n Außenseite des Brustkorbes, die mit einer Zertrümmerung der linken Lunge und des Herzens verbunden war. Außerdem wurden am l i n k e n Ellbogen Verletzungen durch Schrotschuß und auf der r e c h t e n Schädelhälfte fünf lochartige, bis auf den Knochen reichende Wunden festgestellt, die von den Ärzten ohne nähere Untersuchung auch als Schußverletzungen bezeichnet wurden. Der der Täterschaft verdächtige Stiefsohn gab an, er habe seinen Stiefvater im ebenerdigen Wohnraum in Notwehr erschossen; als dieser mit einer Hacke auf ihn losgegangen sei, habe er das geladene Jagdgewehr von der Wand gerissen und einen Schuß abgegeben. Nach der Tat habe er aus Angst, entdeckt zu werden, die Leiche auf den Dachboden geschleppt. So war die Aktenlage, als die Vorerhebungen an die Staatsanwaltschaft einlangten. Die Unmöglichkeit der Situation war klar. Wie konnten rechts und links mit einem Schuß — und daß nur e i n Schuß gefallen war, war sicher — die festgestellten Verletzungen erfolgt sein? War es für eine Person überhaupt möglich, die Leiche des kräftigen Mannes auf den Dachboden zu schaffen? Warum waren weder in der Nähe der Leiche noch in dem als Tatort bezeichneten Wohnraum Schußspuren, weder dort noch auf der Stiege Blutspuren gefunden worden? Es wurde daher ein z w e i t e r Augenschein verfügt, dem auch der Beschuldigte zugezogen wurde und der die Sache vollkommen aufklärte. Zunächst wurde festgestellt, daß die etwa 75 kg

Erste Beobachtungen am Tatort.

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schwere Leiche unmöglich von einem wenn auch noch so kräftigen Mann über die schmale, steile Holztreppe in die Selchkammer hinaufgeschleift worden sein konnte. Es wurde daher der an die Selchkammer anschließende Dachboden genauestens durchsucht und da fand sich, daß eine Schrotmühle, die in der Ecke des Dachbodens stand, an einer Seite Metallspitzen enthielt, welche in ihrer Anordnung genau den festgestellten Schädelverletzungen entsprechen konnten. Es wurde nun ein Mann in der Größe des Getöteten angewiesen, an der Schrotmühle zu arbeiten. Dieser mußte sich hiebei derart stellen, daß er mit der linken rückwärtigen Körperseite dem Bodeneingang zugekehrt war. Verfolgte man nun die Richtung vom Bodeneingange zu dem an der Schrotmühle Arbeitenden in jener Höhe, in der bei der Leiche die Schrotverletzungen gefunden worden waren, gelangte man an der Wand zu 13 Einschußspuren, welche nach den angestellten Messungen genau zu jenen Schrotkörnern paßten, die auch im Körper des Getöteten gefunden worden waren und mit diesen auch einen Streukegel bildeten. Auf den Beschuldigten machte diese Feststellung einen solchen Eindruck, daß er ein Geständnis ablegte, seinen Stiefvater tatsächlich auf dem Boden in dem Augenblicke erschossen zu haben, als dieser an der Schrotmühle arbeitete. Die Gerichtsärzte änderten auf Grund des Ergebnisses dieses Lokalaugenscheines ihr Gutachten nunmehr dahin ab, daß sie es für wahrscheinlich erklärten, daß die Verletzungen am Schädel vom Auffallen auf die Schrotmühle herrühren.

Dieser Fall zeigt auch, wie sehr die Zuziehung des Beschuldigten zum Lokalaugenschein zur Klärung des Sachverhaltes beizutragen vermag. Der U. wird den Beschuldigten namentlich in allen den Fällen zuzuziehen haben, wo der Verdacht besteht, er sei mit dem Toten kurz vor dessen Tode beisammen gewesen. Der Beschuldigte wird an Ort und Stelle viel leichter in der Lage sein, seine Unschuld darzutun, andererseits wird bei einem richtig durchgeführten Augenschein dem wirklich Schuldigen viel deutlicher zum Bewußtsein kommen, daß sein Leugnen zwecklos ist. Der U. hat sich also zunächst zu orientieren; er frage sich, ob seine Vorstellung auch mit allen wahrgenommenen Einzelheiten stimmt und verbessere seine Auffassung der Sachlage, die er sich schon nach der Anzeige gemacht haben wird, und ändere hiernach seinen Plan. Die letztgenannten Erwägungen sind unleugbar von Wichtigkeit. Jedermann wird sofort, wenn er von einer Sache Kenntnis erhält, die sein Denken ausfüllt, wie es doch bei jedem U. der Fall ist, der zu einer wichtigen Lokalerhebung abgeordnet wird, sich die Sache selbst und ihre Umgebung in einer bestimmten, scharf umrissenen Form vorstellen. An dieser Vorstellung wird nun der U., während er auf dem Wege zum Tatorte ist, nicht bloß seine Gedanken über die Art des Vorganges knüpfen, sondern es werden auch seine Pläne darüber, wie die Sache anzupacken ist, auf die Vorstellung, die er sich über den Tatort gemacht hat, aufgebaut sein. Eine solche Vorstellung kann so fest werden, daß sie auch dann nicht oder nicht ganz verschwindet, wenn man den Ort selbst gesehen hat, was oft wirkliche Verwirrungen hervorbringen kann. Deshalb müssen an Ort und Stelle die früheren Vorstellungen korrigiert und die Pläne undAbsichten hiernach neu gestaltet werden. Man betrachte also die Örtlichkeit im ganzen und im einzelnen und suche das Geschehene, soweit man es eben weiß und kennt, mit ihr gewissermaßen in Einklang zu bringen. Die für ein solches aufmerksames Studium verwendete Zeit ist nie verloren.

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III. Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

Das nächste, was zu geschehen hat, wird sein, daß man sich klarlegt, von wem man über den Fall so viel Mitteilung bekommen kann, daß man fürs erste orientiert wird. Handelt es sich bei der Vornahme des Augenscheins um eine im Laufe des Verfahrens notwendig gewordene Erhebung, so weiß man ja ohnedies, worum es sich handelt; ist aber die e r s t e Erhebung bei einem bedeutenden Verbrechen (Mord, Brandlegung usw.) oder bei einem großen Unfälle (Eisenbahnunglück, schwerem Autounfall, Kesselexplosion, Einsturz usw.) zu machen, so wird wohl ein behördliches Organ, ein Wachtmeister, Gemeindevorsteher, oder aber ein unmittelbar an der Sache Beteiligter, z. B. Verwandter des Ermordeten, der durch den Brand oder den Unfall Verunglückte selbst oder ein technischer Fachmann da sein, an den man sich um die ersten Auskünfte wendet. Allerdings heißt es auch hier vorsichtig sein: man läßt sich durch den zunächst Beteiligten im Falle unterrichten, gewinnt eine oft nur zu feste Anschauung von der Sachlage und erst vieil später stellt es sich heraus, daß die befragte Auskunftsperson ein recht dringendes Interesse daran hatte, den U. falsch zu berichten, weil sie etwa der Täter selbst oder mit diesem irgendwie verbunden war. —- Wenn es nun auch nur Sache der Übung sein kann, hierin, d. h. beim Abfragen der ersten Auskünfte, das rechte Maß zu finden, mit Einzelheiten nicht die Zeit zu verlieren und Wichtiges nicht zu vergessen, so wird auch der Mindergeübte niemals weit fehlen, wenn er sich stets und immer den alten, goldenen Juristenspruch vor Augen hält: „Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando?" 1 ) „Wer, was, wo, womit, warum, wie und wann?" Auf dem Schreibtische in meiner Amtsstube, an dem zahlreiche junge Juristen nacheinander gesessen sind und in die Amtstätigkeit eingeführt wurden, stand seit je eine Tafel mit jener einfachen und doch alles erschöpfenden Weisheit, und oft hörte ich von den jungen Leuten, die dann selbständig arbeiten mußten, sie hätten niemals einen groben Fehler begangen, wenn sie sich jenen Satz vor Augen gehalten und immer wieder vorgesagt hätten („die sieben goldenen W des Kriminalisten"). Hat man also das erfahren, was rasch zu erfahren war, dann sei es das Nächste, daß man sich die Leute sortiere; man veranlasse, daß alle, die Auskunftspersonen sind oder sein könnten, sich nicht weit entfernen und stets zur Hand bleiben; kann man es tun, so wird es sich empfehlen, die Zeugen unter eine gewisse Bewachung zu stellen, d. h. zu verhindern, daß sich unnötiges Geschwätz unter den Zeugen entspinne. Es liegt nahe, daß namentlich ungebildete Leute, Weiber und Kinder nur „von dem Falle" miteinander sprechen, ihre gemachten Wahrnehmungen gegenseitig austauschen und schließlich keines mehr weiß, was sein ursprüngliches geistiges Eigentum ist, d. h. was es selbst geAngeblich vom Philosophen Joachim (t I79I).

Georg Daries in Frankfurt a./O.

Ursprüngliche und später hinzugekommene Spuren.

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sehen und gehört hat und was die anderen wahrgenommen und ihm mitgeteilt haben. Freilich können die Leute auch schon früher zusammen gesprochen und sich verabredet haben, aber jedenfalls ist die Zusammenkunft am Tatorte, die Anwesenheit des U. und die so erzeugte Zuspitzung der Sache am meisten dazu anregend, von ihr und nur von ihr zu sprechen. Wie gesagt, eine Überwachung der Leute und tunlichste Verhinderung von Besprechungen wird die besten Folgen haben. Während aller dieser Maßnahmen und sofort nach ihnen muß der U. Gelegenheit finden, dafür Sorge zu tragen, daß von den vorhandenen Spuren möglichst viel erhalten und möglichst wenig beschädigt werde; er wird also sofort feststellen lassen, ob z. B. die Leiche des Erschlagenen so liegt, wie sie von dem Erstdazugekommenen gefunden wurde, welche Fußspuren ursprünglich da waren, welche erst von Neugierigen usw. erzeugt wurden. Das Ausschließen von allem erst Dazugekommenen ist «in besonderer Teil der Tätigkeit des U., der um so wichtiger ist, als gerade in dieser Richtung verhängnisvolle Irrtümer nur zu leicht vorkommen können. Ich kenne Fälle, in denen der U. die Lage des Erschlagenen mit genauester Peinlichkeit beschrieben und scharfsinnige Schlüsse daran geknüpft hat, bis es sich bei der Verhandlung herausstellte, daß der Erschlagene vor Ankunft der Kommission von Unberufenen oftmals hin- und hergewendet und in eine andere Lage gebracht worden war. Ferner erinnere ich mich an einen Fall, in welchem im Prozesse eine auf dem Ermordeten gefundene Lodenjacke eine große Rolle gespielt hat, bis es sich zeigte, daß sie erst der Bürgermeister auf die Leiche gebreitet hatte, um den Vorübergehenden den grauenhaften Anblick des gespaltenen Schädels zu entziehen. In einem weiteren folgenschweren Fall — es handelte sich um Brandlegung — wurde eine Fußspur gemessen und beschrieben und (nach ihrer Größe, Zahl und Form der Nägel) zweifellos festgestellt, daß sie mit der Fußspur des Verdächtigen genau stimme. Sie rührte auch von ihm her, war aber nicht zur Zeit der Tat, sondern nach ihr entstanden, als der Gendarm den sofort der Tat Bezichtigten noch vor dem Eintreffen der Kommission an den Tatort geführt hatte! Bayard1) erzählte schon 1847 den unzählige Male nachzitierten Fall, in welchem der herbeigeholte Arzt in Blutlachen getreten war und in der Wohnung herumgehend Blutspuren erzeugt hat, die später verwirrend gewirkt haben. Ich kann es nicht unterlassen, hier noch eines Falles zu gedenken, der beweist, welche Folgen es haben kann, wenn zu einem Augenscheine2) Dinge hinzugenommen werden, die nur zufällig zu den fraglichen Objekten gekommen sind. Die Erzählung klingt unwahrscheinlich, ist aber buchstäblich wahr, allen Beteiligten in lebhafter Erinnerung und eben wegen des unglaublichenZusammentreffens derUmstände um so lehrreicher. Ann. d ' h y g . publ. 2 S. 2 1 9 (1847). ) I m folgenden Beispiel handelt es sich um einen Augenschein i m w e i t e r e n S i n n e (vgl. oben S. 188), nicht um einen L o k a l a u g e n s c h e i n , aber ähnliche Irrtümer können auch bei einem solchen vorkommen. 2

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III. Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

Eine Fabrikbesitzerin hatte abends ihr Geld geordnet, daraus fünf Banknotenpäckchen zu je tausend Gulden gemacht und diese, wie sie meinte, in ihre Kasse gelegt. A m nächsten Tage waren nur noch vier Päckchen vorhanden, obwohl die Kasse am Morgen ebenso wohl versperrt gefunden wurde, als sie es abends war. Die Frau meinte, ihre Magd müsse sich der Kasseschlüssel bemächtigt und in der Nacht die tausend Gulden aus der Kasse entwendet haben. Dies wäre um so leichter gewesen, als sich das Geschäftszimmer mit der Kasse ebenerdig, die Schlaf- und Wohnräume im ersten Stocke befanden. Die Magd wurde verhaftet, leugnete, und es konnte ihr Koffer erst nach den etwa eine Woche dauernden Erhebungen zustande gebracht werden. Dieser wurde im Amtszimmer des U . einer eingehenden Untersuchung unterzogen, der Inhalt, meist wertloses Gerümpel, mit dem der Koffer angefüllt war, wurde auf einem Tische ausgebreitet, genau besehen und es wurde zunächst nichts Verdächtiges vorgefunden. Erst beim E i n r ä u m e n der Sachen entdeckte man unter diesen eine Schleife aus Papier, auf welcher außer einigen Schriftzeichen g e d r u c k t war: ,,1000 fl. ä i fl." Es war eine jeher Schleifen, mit welchen die österreichisch-ungarische Bank die von ihr ausgegebenen Geldbeträge in runden Summen zusammenzuhalten pflegte (alsoz.B. , , i 0 o f l . ä i f l . " o d e r , , 5 o o fl. ä i o f l . " oder,,iooo fl. ä 5 fl."). Sofort wurde die Bestohlene befragt, ob das entwendete Paket Banknoten mit einer solchen Papierschleife versehen war. Sie erklärte, sie wechsle häufig Geld bei der österreichisch- ungarischen Bank ein, bekomme oft Geld in solchen Schleifen, benütze solche dann häufigundlängereZeit in ihrer Kassefürihr abgezähltes Geld,ob aber gerade das gestohlene Paket derart verwahrt war und eine Schleife hatte, wisse sie nicht mehr. Damit schien in der gefundenen Schleife ein schwerwiegendes Belastungsindiz gewonnen zu sein. Glücklicherweise entdeckte dann der U. auf der Schleife ein sehr klein und unscheinbar angebrachtes Datum „24/8" und nun wurde festgestellt, daß dieses Datum von dem Bankbeamten beigesetzt worden war, welcher jene tausend Gulden gezählt hatte, die in der Schleife waren. Die Beschuldigte war aber schon am 22. August verhaftet worden, und es schien somit unerklärlich, wie die Schleife unter ihre Sachen gekommen sein konnte. Endlich klärte sich der Hergang. Die Besichtigung der Sachen der Beschuldigten hatte im Bureau des U. am 1. September stattgefunden, und es war während dieser Arbeit der Amtsdiener erschienen, um dem U. das Monatsgehalt auszuzahlen. Er hatte nun ein von der Bank erhaltenes Paket mit 1000 fl. mitgebracht, hatte die verhängnisvolle Schleife entfernt und zufällig gerade auf jenen Tisch gelegt, auf dem sich die Sachen der Beschuldigten befanden! Der U. und der Schriftführer hatten dies nicht bemerkt und so war die Schleife zu einer großen Bedeutung gelangt. Nehmen wir nun an, daß zufällig das Datum, welches auf der Schleife war, um einige Tage älter gewesen wäre (was gerade so gut hätte sein können), so hätte jeglicher Grund entfallen müssen, um nach dem Herkommen der Schleife zu forschen, da nichts dagegen sprach, daß die Schleife von der Bank an die Fabrikantin gekommen war und bei dieser von der Beschuldigten mit den tausend Gulden gestohlen wurde. Auf diese Weise hätte somit das Einbeziehen eines zum Augenscheine nicht gehörigen Gegenstandes unter Umständen zur Verurteilung einer Unschuldigen führen können. Allerdings war in diesem Falle die verhaftete Magd doch die Täterin: sie hatte das Geld vom Tisch weggenommen, während die Frau auf eine Minute auf den Abort gegangen war.

5. Die Beschreibung selbst. Ist also mit Vorsicht festgestellt, was zum Augenscheine gehört und was nicht, dann handelt es sich um die Sicherung des wirklich zur Sache Gehörigen. Als oberster Grundsatz gelte unverbrüchlich: n i c h t s a u s der L a g e bringen oder beiseite s c h a f f e n , ja nicht einmal berühren, bis

Beschreibung und Sicherung des Vorhandenen.

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es im P r o t o k o l l e n i c h t g e n a u b e s c h r i e b e n , auf der L o k a l s k i z z e g e z e i c h n e t u n d w e n n möglich p h o t o g r a p h i e r t ist. Man vergesse nie, daß in den seltensten Fällen alles vom Anfange an klar und deutlich ist. Meistens hat der U. keine Kenntnis davon, wie sich die Sache gestalten wird, was wichtig erscheinen kann, was geleugnet wird und erst bewiesen werden muß; hierbei kann alles von Wichtigkeit sein, nichts ist so unbedeutend und klein, um nicht das Ausschlaggebende im Prozesse werden zu können. Die Lage eines Gegenstandes, einen Zoll rechts oder links, auf der Vorderseite oder Rückseite, ein bißchen Staub auf einer Sache, ein verwischbarer Spritzer, alles kann höchsten Wert erlangen. Man läßt sich so leicht verleiten, rasch nach einem Gegenstande zu greifen, der allem Anscheine nach wichtig ist, z. B. vom Täter zurückgelassen worden sein muß, man faßt danach — und erst später stellt es sich heraus, daß der Gegenstand an sich wenig Bedeutung hat, daß aber alles daran liegt, wenn man wissen könnte, wie er gelegen ist, und kein Mensch ist imstande, dies nachträglich mehr festzustellen. Ebenso ist der erste Griff unwillkürlich der nach den Händen des Ermordeten, um zu sehen, ob er in ihnen Haare oder Kleiderreste vom Täter hält; später aber stellt es sich heraus, daß eine Blutspur oder sonst eine Kleinigkeit, die auf den Händen war, viel wichtiger gewesen wäre, diese wurde aber durch das vorzeitige und übereilte Anfassen verwischt. Gerade die Befolgung dieser so wichtigen Regel, nichts vom Tatbestande zu ändern, bevor er nicht protokolliert und gezeichnet ist, fordert aber auch die Sicherung des Vorhandenen. Man schütze also wichtige Fußspuren durch Überdecken mit Kistchen oder (auf drei bis vier Steine gelegte) Brettchen; ebenso überbrücke man Blutspuren, weggeworfene oder verloren gegangene Gegenstände, namentlich wenn diese wegen vorgerückter Zeit etwa über Nacht im Freien bleiben müssen, keineswegs aber bringe man, um die Objekte zu bezeichnen, Marken an, die mit anderen verwechselt werden könnten (z. B. Fußspuren usw.). Hat man sich also orientiert, alles zu Beseitigende entfernt, alles Nötige gesichert, so gehe man an die Aufnahme des Protokolls. Es wird niemand behaupten, daß derartige Aktenstücke stilistische Musterblätter sein sollen, wohl aber ist eine gewisse grammatische Richtigkeit, Genauigkeit und logischer Aufbau unbedingt nötig. Vor allem ist dies für den Diktierenden selbst wichtig, da er nur dann verläßlich und vollständig arbeiten wird, wenn er alles, was er sagt, wirklich erst sagt, nachdem er sich von seiner Richtigkeit überzeugt hat; ferner, wenn er das, was er gerade beschreibt, erschöpfend behandelt und nicht so, daß es erst aus dem Zusammenhang mit Künftigem verstanden werden kann, und endlich, wenn er logisch vorgeht, d. h. nach dem Plane: vom Allgemeinen ins Besondere oder umgekehrt überzugehen und jedenfalls auf n i c h t s z u r ü c k z u k o m m e n , w a s schon a b g e t a n ist. Ebenso wichtig ist die Form für den Lesenden, der nur dann Klarheit erhält, wenn auch Stil und Logik ihr Recht bekommen haben. Wer viele Protokolle gelesen hat, weiß, wie wenig überzeugend schlecht abgefaßte

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III. Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

Augenscheinsaufnahmen wirken, und wie leicht man oft Wichtiges vernachlässigt, weil man das, was der U. sagen wollte, gar nicht oder nicht vollständig zu erfassen vermag. Es ist auch nicht übermäßig schwierig, sich eine bestimmte, im großen und ganzen gleichbleibende Hauptform zurechtzulegen, wenn man ähnlich vorgeht, wie es z. B. den vorschriftsmäßigen Formblättern für Obduktionsprotokolle entspricht. Unter allen Umständen wird man die Örtlichkeit im allgemeinen beschreiben und sagen, wie und auf welchem Wege man dahin gelangt ist; dann wird beschrieben, ob es sich um ein Haus, ein Feld, einen Wald usw. handelt, man g i b t die W e l t g e g e n d e n an 1 ) und beschreibt die Örtlichkeit genau, aber mit steter Rücksichtnahme darauf, was zur Sache gehört oder gehören kann. Was alles zu beschreiben ist, hängt natürlich in erster Linie von der Art des Deliktes ab: in allen Fällen wird zu beschreiben sein (wenn es sich nicht um Unfälle handelt): i . der eigentliche Tatort; 2. das „ w o h e r " des Täters; 3. sein „wohin"; 4. der Ort, von dem die Zeugen beobachtet haben, und 5. alle Punkte, wo sich sonst noch Spuren der Tat finden oder sich finden könnten und tatsächlich nicht gefunden wurden. Hierbei ist nicht zu vergessen, daß auch Negatives stets festzustellen ist, weil es einerseits auch zu positiven Annahmen führen kann, anderseits aber dem Leser die Beruhigung gibt, daß diese Frage nicht übersehen wurde. Führt man z. B. die Blutspuren auf, die im Zimmer des Ermordeten gefunden wurden, so genügt ihre Aufzählung allein noch nicht, es muß auch gesagt werden, daß z. B. im Waschgefäße k e i n blutiges Wasser gefunden wurde, daß man Abdrücke der blutigen Hände n i c h t fand usw. Wurde z. B. nach kompromittierenden Papieren vergeblich gesucht, so sage man ausdrücklich, daß im Ofen k e i n e Asche von verbranntem Papier war. Je nach der Art des Deliktes werden dann die entsprechenden besonderen Umstände zu beschreiben sein, die für die Sache von Bedeutung sind, also bei Brandstiftungen die Objekte, die besonderer Gefahr ausgesetzt waren, unter Umständen Höhenzüge, die das Hinzukommen gefährdenden Windes begünstigt oder verhindert haben usw. Ist die allgemeine Beschreibung erfolgt, so wird der Tatort selbst im einzelnen beschrieben, z. B. das Zimmer, in welchem der Erschlagene liegt, der Raum, in welchem der Einbruchsdiebstahl geschah, der Teil des Hauses, wo der Brand zum Ausbruche kam. Auch hier sei eine gewisse Ordnung eingehalten. Handelt es sich um einen geschlossenen Raum, ein Zimmer, so tut man am besten, wenn man eine Türe zum Ausgangspunkte wählt und so vorgeht, wie man liest, also, am Eingange gegen das Zimmer stehend, von links nach rechts. So wird man am Für den Fall, als der U. (unverantwortlicherweise!) keinen K o m p a ß bei sich habe, merke er: man legt die Taschenuhr flach vor sich, also so, daß das Zifferblatt gegen Himmel sieht, und dreht sie so lange, bis der k l e i n e Zeiger gegen die Sonne weist; dann wird der Winkel, der zwischen kleinem Zeiger und der „ Z w ö l f " des Zifferblattes liegt, halbiert und diese Halbierungslinie gibt die Südrichtung a n ; also z. B. um 10 Uhr ist Süden in der Richtung der „ E l f " ; um 4 Uhr in der Richtung der „ Z w e i " .

Reihenfolge der Beschreibung im einzelnen.

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leichtesten nichts vergessen. Man beschreibe zuerst Größe, Form, Höhe und sonstige Eigenschaften des Raumes, dann: links vom Eingange bis zur Ecke, dann linke Seitenwand, Wand gegenüber dem Eingange, rechte Seitenwand, dann den übrigen Teil der Wand rechts neben dem Eingange; schließlich die in der Mitte des Zimmers befindlichen Gegenstände. Im Laufe der Aufzählung der Objekte werden auch Fenster und Türen angegeben. Sodann beschreibt man alle Veränderungen, die an den Gegenständen usw. anläßlich der Tat vorgenommen wurden: Beschädigungen durch Stöße usw., Blutspuren, Orts- und Lageveränderungen von Gegenständen, Verletzungen an Fenstern und Türen usw., zuletzt folgt die genaue Beschreibung des corpus delicti: der erbrochenen Kasse des Getöteten usw. samt allen Einzelheiten, die besonders zu beschreiben sind. Hierbei wird Punkt für Punkt vorgegangen und alles der Reihe nach beschrieben, wie es wahrgenommen wurde. Ein Tuch z. B., das auf dem Boden liegt, wird vorerst nach dem Eindrucke beschrieben, den es gewährt; man sagt etwa: „neben der Leiche, 3 cm neben der linken Faust in der Richtung gegen den Kopf der Leiche, ein zusammengeballtes rotes Tuch, vielleicht in der Größe eines Sacktuches, ein Zipfel hervorragend; das Tuch wurde dann aufgehoben und es zeigte sich, daß es Halbseide und ein dreieckiges Halstuch ist, dessen Seiten je 43 cm lang und eingesäumt sind. Das Tuch trägt keine Merke und hat ungefähr in der Mitte ein kreuzergroßes Loch, sichtlich durch Alter und Gebrauch entstanden. Unter dem Tuche findet sich weder eine Blutspur noch sonst Bemerkenswertes. Das Tuch wurde von niemandem der Anwesenden (A, B, C, D) erkannt, und dürfte somit dem Getöteten nicht gehören". Nun kommen alle einzelnen wichtigen Momente daran, die zur Klärung der Sache dienen können; also Fußspuren, Spuren von Schüssen, von Werkzeugen, von Eindrücken irgendwelcher Art, die genaue Lage ausgeworfener Patronenhülsen, endlich alles, was vom Täter sonst noch verursacht oder zurückgelassen wurde. Bei allen diesen Aufnahmen mache man sich ebenfalls eine gewisse gleichmäßige Ordnung in den Unterabteilungen zur Pflicht. Hat man also in einer gewissen Richtung zu beschreiben angefangen, so halte man diese Richtung auch bei den Einzelheiten fest; hat man z. B. die Lage einer Leiche so zu beschreiben begonnen, daß man vom Kopfe zu den Füßen vorgegangen ist, so fange man auch wieder bei jenen Gegenständen und wichtigen Umständen an, welche sich in der Nähe des Kopfes befinden, und schreite gegen die Fußlage vor. Bei allen diesen Aufnahmen gebrauche man nach Tunüchkeit häufig den Maßstab und gebe alle Maße an; man weiß zu dieser Zeit niemals, was man davon später nötig hat. Es kann bei Tatbestandsaufnahmen in freiem Gelände von Wichtigkeit sein festzustellen, wo sich das, was von mehreren Zeugen mit verschiedenen Standpunkten wahrgenommen wurde, z. B. ein Lichtschein, ein Aufblitzen ereignet hat. Zur möglichst genauen Feststellung eines solchen Punktes ist am besten das Verfahren anzuwenden, das im Kriege

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I I I . Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

die Meßtrupps bei der Beobachtung anwandten. Man lasse sich von den Zeugen genau ihren Standpunkt bezeichnen, stelle diesen kartographisch genau fest und ziehe in der Richtung, in der sich das vom Zeugen Gesehene zutrug, je eine Gerade. Je mehr Zeugen für die gleiche Wahrnehmung vorhanden sind, desto mehr solcher Richtungslinien werden einzuzeichnen sein, die sich alle in einem Punkte, allenfalls in einem Fehlerdreieck, schneiden werden. Dort wird sich das beobachtete Ereignis (der Lichtschein, das Aufblitzen) zugetragen haben müssen. Haben Ci

A1

also z. B. die Zeugen A, B, C den Lichtschein in der Richtung A — A 1 , B — B 1 , C — C 1 beobachtet, so wird der Schein im oder um den Punkt L erzeugt worden sein (Abb. 5). Allerdings wird auch hier der U. mit Irrtümern rechnen müssen, denen die Zeugen aus natürlichen Gründen ausgesetzt sind. Besonders beim Schätzen von Entfernungen unterlaufen erfahrungsgemäß folgende Fehler 1 ): Zu kurz schätzt man bei grellem Sonnenlicht, namentlich wenn die Sonne im Rücken steht, bei reiner klarer Luft, wenn die Flächen gleichförmig oder leicht gewölbt sind oder wenn über Wasser geschätzt wird. Besonders wird aber die Entfernung unterschätzt, wenn durch eine kleine Bodenwelle ein Teil des vorliegenden Geländes verdeckt wird und nicht eingesehen werden kann. Zu weit hingegen schätzt man, wenn die Luft flimmert oder die Witterung trüb, neblig oder regnerisch ist; auch wenn *) Nach W. Grosse, Das Schätzen und Messen von Entfernungen im Felde, Kosmos 1916 H. 1. Will der U. selbst die Entfernung eines bestimmten Punktes im freien Gelände feststellen, so bediene er sich eines der Telemeter, die von der optischen Industrie erzeugt werden.

Vermeidung ungenauer Ausdrücke.

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man gegen die Sonne sieht, wenn in der Dämmerung oder in Wald geschätzt werden muß, oder das Objekt nur teilweise sichtbar ist. Mit Sorgfalt vermeide man beim Protokollieren ungenaue Ausdrücke, die nur für den Anwesenden eine Vorstellung vom wirklich Vorhandenen geben. Worte, wie: „ u n w e i t davon" — „ziemlich entfernt" — „ e t w a s weiter oben" — „mehr hinten" •— „ g a n z unten", sollen in einem gerichtlichen Protokolle unter keiner Bedingung vorkommen. Es ist begreiflich, daß der Diktierende solche Ausdrücke aufnimmt, weil er die Sachlage vor Augen hat und es ihm daher klar ist, was z. B. „in der Nähe" heißt; wer aber nur das Protokoll liest, kann verschiedene Vorstellungen davon bekommen. Wer darauf achtet, wird zugeben, daß es selten Augenscheinsprotokolle gibt, in denen solche Worte nicht vorkommen, und ebenso, daß er gerade wegen dieser Ausdrücke oft Schwierigkeiten in der Beurteilung des Falles begegnet ist. Ebenso sollten die Ausdrücke „rechts" und „links" nur dann vorkommen, wenn keine Zweifel entstehen können, z. B. „an der rechten Hand der Leiche", „am linken Flußufer"; andernfalls vermeide man diese Worte vollständig, denn selbst „vom Beschauer rechts" oder „links vom Eingange" kann Zweifel erregen, wenn nicht gesagt wird, wie der „Beschauer" steht oder ob man sich beim „Eingange" draußen oder drinnen befand. Wird aber dies alles umständlich beschrieben, so wird es schlecht verständlich oder zu schwerfällig. Eine Ausnahme hiervon liegt dann vor, wenn der Beschreibende in Bewegung gedacht wird — also, wie oben, wenn dieser eintretend erscheint und sagt: „links vom Eingang". Womöglich bleibe man bei der Weltgegend, die niemals Zweifel erregen und immer nachträglich nochmals bestimmt werden kann. Nur im Innenraume eines Gebäudes, namentlich in einem Zimmer, mag es unter Umständen bequemer sein, sich schon beschriebene Fixpunkte zu wählen und z. B. sagen: „In der Verbindungslinie zwischen dem Kopfe der Leiche und der nächsten Ofenecke, 60 cm von dieser entfernt, liegt . . . " ; hierbei wird die Distanz, wenn möglich, von dem b l e i b e n d e n Punkte genommen, also im vorliegenden Beispiele n i c h t : „In der Verbindungslinie zwischen dem Kopfe der Leiche und der nächsten Ofenecke, 80 cm vom K o p f e entfernt, liegt . . .". Die Leiche wird fortgeschafft und bei einer Nachmessung ist der Punkt nicht mehr leicht zu finden. Überhaupt muß die Richtungslinie, in der gemessen wurde, in den meisten Fällen angegeben werden. Es genügt also nicht zu sagen: „Vier Meter vom erwähnten Apfelbaum findet sich . . .", sondern es müßte heißen: „Vier Meter vom erwähnten Apfelbaum in der Richtung auf die nordwestliche Hausecke . . .". Bisweilen kann dies eine recht umständliche Beschreibung nötig machen; man lasse sich diese aber nicht verdrießen. Bei sehr wichtigen Punkten, bei denen es auf die genaue Lage wesentlich ankommt, wird man die Entfernung in zwei Richtungen bestimmen müssen. Dies wird z. B. nötig sein, wenn sich Blutspritzer auf der Wand vorfinden, die auf die Stellung des Täters und des Angegriffenen, Art des Blutes usw. Schlüsse zu ziehen gestatten. In solchen

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I I I . Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

Fällen, in denen stets eine Horizontalentfernung und eine Vertikalhöhe zu bestimmen sein wird, wähle man als erstere i m m e r den B o d e n , da eine Horizontale in der Höhe ohne Wasserwaage nicht gefunden werden kann. Die Senkrechte läßt sich aber mit einem Faden, an den ein Messer, Steinchen usw. gebunden wurde, leicht ermitteln. Handelt es sich also, wie oben erwähnt, um einen Blutstropfen auf der Wand, so konstruiere man zuerst ein „ L o t " (also Faden mit einem schweren kleinen Gegenstand), halte dieses Lot an den Blutflecken (natürlich ohne ihn zu berühren oder zu streifen) und messe die Höhe des Lotes und die Horizontalentfernung des Punktes, an welchem der Faden den Boden trifft. Eine stets notwendige und wichtige Ergänzung einer solchen Beschreibung bildet die photographische Aufnahme des Tatortes, die durch den hinzugezogenen Polizeiphotographen oder, falls ein solcher nicht zur Verfügung steht, durch den U. selbst zu erfolgen hat (siehe darüber unten Abschnitt IV 8 und X I 3). Die Bestimmung der auf dem Photo sichtbaren Größenausdehnungen und Entfernungen durch Messen am Tatort (in der oben dargestellten Weise), darf nur dann unterbleiben, wenn eine p h o t o g r a m m e t r i s c h e Aufnahme gemacht wird. Die Lage kleiner Details, die auf dem Photogramm nicht deutlich sichtbar sind (wie z. B. Blutspritzer), ist aber selbst in diesem Fall durch Messen zu bestimmen. Bevor man die Beschreibung eines geschlossenen Raumes beendet, überprüfe man, ob man nichts zur Sache Gehöriges übersehen und vergessen hat. Dazu genügt nicht ein rascher Blick, den man um sich wirft; da muß man jeden Gegenstand, der sich im Räume befindet, nochmals und eingehend ansehen, um sich zu überzeugen, daß man früher alles Wichtige betrachtet hat; man muß überlegen, ob die Sache jetzt, am Ende der ganzen Erhebungen und unter dem Eindrucke alles dessen, was man mittlerweile kennen gelernt hat, nicht anders aussieht als zu Anfang, und ob jetzt nicht manches wichtig wurde, was früher gleichgültig schien. Hat man jemanden, der an der Sache sicher nicht beteiligt war und der den fraglichen Raum von früher gut kennt, so wird man ihn schließlich heranziehen und mit ihm den Raum und die darin vorkommenden Gegenstände eingehend besehen und besprechen. Eine solche Auskunftsperson kann Veränderungen, die geschehen sind, viel leichter wahrnehmen, als der U., der den Raum heute zum ersten Male gesehen hat. Alles zu bemerken, was später von Wichtigkeit sein kann, ist unmöglich, denn selbst, wenn man sich entschlösse, Folianten zusammenzuschreiben, würde man noch immer nicht gewisse Umstände berühren, deren Bedeutung dermalen nur schwer eingesehen werden kann. So wurde es z. B. in einem Falle später wichtig, zu wissen, ob die Sonne zu einer gewissen Stunde in einem Räume eine gewisse Stelle traf; bloß um dies festzustellen, mußte der Augenschein an dem viele Stunden vom Gerichtssitze entfernten Orte wiederholt werden. Ein andermal

Auch Kleinigkeiten sind wichtig.

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wäre es entscheidend gewesen, wenn man gewußt hätte, ob im Zimmer des Tatortes etwas Sand verstreut war; niemand konnte dies mehr feststellen. Der Mangel solcher Feststellungen wird dem U. auch niemals vorgeworfen werden, da er nur durch einen Zufall auf ihre Erwähnung hätte verfallen können. Wohl aber wäre es ein großer Fehler, wenn Umstände übersehen würden, die allerdings an sich unbedeutend sind, von denen aber der U. schon zur Zeit der ersten Erhebung einsehen mußte, daß sie im vorliegenden Falle wichtig sein können. D e r a l t r ö m i s c h e J u r i s t e n s a t z : „ M i n i m a non c u r a t p r a e t o r " g i l t f ü r den U. n i c h t und seine Tätigkeit im Finden der schlagendsten Beweise spielt sich oft im kleinsten ab. Solche Fälle, in welchen irgendeine Kleinigkeit zum Drehpunkte des ganzen Prozesses geworden ist, hat jeder von uns erlebt und in hundert Kriminalromanen gelesen, und doch liegt oft der Hauptmangel einer Lokalerhebung im Übersehen von Kleinigkeiten, die bei größerer Aufmerksamkeit als maßgebend zu erkennen gewesen wären. Aus eigener Erfahrung will ich nur erwähnen, daß einmal alles davon abhing, ob eine Türklinke zur Zeit der Tat nicht geölt war und kreischte, ein andermal davon, ob eine halbverbrannte Zigarre in der Aschentasse oder daneben lag, ob ein in der Wand stekkender Nagel ein Spinnengewebe trug oder nicht, ob eine Petroleumlampe noch Öl im Bassin hatte (d. h. ob sie ausgelöscht worden war oder aus Ölmangel erloschen war), und in einem Mordprozesse wäre der Täter nie entdeckt worden, wenn es dem U. nicht eingefallen wäre, die oberste Kante einer etwa 2 y2 Meter hohen, also die Stubendecke nicht erreichenden Holzwand anzusehen, wobei er fand, daß eine Stelle dieser Oberkante staubfrei war, während sonst dicker Staub auflagerte. Der U. schloß natürlich, daß hier vor kurzer Zeit ein Mensch hinübergeklettert sein mußte, und so suchte und fand er den Täter unter den Bewohnern jener Zimmer, die vom Tatorte durch die genannte Bretterwand getrennt waren. In ähnlicher Weise ist vorzugehen, wenn eine Beschreibung im Freien vorzunehmen ist. Hier wird mitunter recht Betrübendes geleistet; beim Lesen eines solchen Protokolls sieht man oft auf das deutlichste, welche Mühe sich der U. bei Abfassung der Arbeit gegeben hat, wie schwer es ihm wurde, den Anfang, gewöhnlich den unglücklichsten, zu finden, wie hart er sich durch die Darstellung gewunden hat und wie er am Ende, das Unzulängliche seiner Leistung einsehend, durch allerlei Zusätze, Änderungen und Klarstellungen die Sache verbessern wollte, in Wahrheit aber das noch ungefähr Verständliche völlig unklar gemacht hat. Und doch ist die dabei zu leistende Arbeit im großen und ganzen nicht so schwierig, wenn sich der U. vor allem klar macht, um was es sich eigentlich handelt und was alles zu beschreiben ist; wenn er bedenkt, daß der Leser die Sachlage nicht vor Augen hat, sich diese also nicht so vorstellen kann wie der U., der alles gesehen hat; und wenn der U. nach einem gewissen Prinzipe vorgeht und nicht einmal da, einmal dort zu beschreiben beginnt. Hält er an diesem Grundsatz fest, so wird nicht

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III. Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

bloß die Darstellung eine verständliche und brauchbare, sondern der U. erleichtert sich auch selber die Arbeit recht wesentlich, es ergibt sich eines aus dem anderen und er hat nicht die Mühe, alle fünf Zeilen lang Nachträge und Hinweise machen zu müssen, durch die er sich nur selber Schwierigkeiten bereitet. Die einzuhaltende Reihenfolge wird sich aus der Natur des Falles ergeben, es wird der U. aber gut tun, sich vor dem eigentlichen Beginne der Arbeit klarzustellen, wie sich die Sache abwickeln wird, wenn er nach einem bestimmten Prinzipe vorgeht. Findet er hierbei Schwierigkeiten, so muß ein anderes Prinzip gewählt werden. Ein wichtiger, grundsätzlicher Unterschied besteht z. B. darin, ob der U. bei der Beschreibung subjektiv oder objektiv vorgeht: Subjektiv wird man vorgehen, wenn man die einzelnen Teile so beschreibt, wie sie sich dem herankommenden U. oder Täter nacheinander darbieten, also so, wie sie heute der U., von einem bestimmten Orte kommend, nacheinander wahrnimmt, oder wie sie der Täter beim Herannahen und beim Flüchten passiert hat. Diese Art der Beschreibung wird keineswegs immer dem örtlichen Fortschreiten gleich sein, da z. B. der Täter von einer Seite gekommen sein und sich nach derselben Seite, wenn auch auf einem anderen Wege, entfernt haben kann. Unter Umständen wird diese Art der Darstellung namentlich dann zu empfehlen sein, wenn man meint, daß so die Beweisführung am besten der Lokalerhebung anzupassen ist. Objektiv geht man vor, wenn man — ohne Rücksicht auf die Bewegung des U. bei der Aufnahme oder des Täters bei der Tat — so beschreibt, wie es sich nach den Örtlichkeiten zu empfehlen scheint, also so, daß man z. B. mit dem Hauptgebäude oder etwa im Osten anfängt und allmählich gegen die Nebengebäude, beziehungsweise gegen Westen vorschreitet, oder so, daß man sich irgend etwas Feststehendes, z. B. eine Straße, ein Haus wählt und von diesem Objekt nach einer, beziehungsweise zwei Seiten ausgeht (Straße, Fluß, Grenze). Wie gesagt: was am meisten zu empfehlen ist, muß im einzelnen Falle entschieden werden. Einen Anhaltspunkt wird man für diese Entscheidung auch finden, wenn man sich vorerst die Skizze (vgl. Abschnitt XI) gezeichnet hat, die man ja stets v o r dem Beschreiben aufnimmt; hat man diese vor sich, so wird man zumeist bald darüber im klaren sein, welches Prinzip sich hier am besten bewähren wird. Bevor man den Tatort verläßt, sorge man noch dafür, daß dieser auch später noch bewacht wird, falls man den Täter nicht schon hinter Schloß und Riegel hat. Denn durch eine solche unauffällige Bewachung des Tatortes gelingt es mitunter, den zurückkehrenden Täter zu erfassen. Ich weiß nicht, ob da Aberglaube der Verbrecher oder Aberglaube der Kriminalisten mitspielt, ob es Zufall oder Wahrheit ist, daß es den Täter (namentlich den Mörder) wie mit Teufelsgewalt an den Ort der Tat zurückzieht und ihn veranlaßt, so oft als möglich wieder dahin zurückzukommen und sich den Schauplatz seines Verbrechens an-

Rückkehr des Mörders an den Tatort.

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zusehen 1 ). Etwas ähnliches betrifft die Tatsache, daß in Paris Mörder sich häufig in der Morgue einfinden und ihre Opfer betrachten. Dieser Umstand ist der Pariser Polizei so gut bekannt, daß sie nach einem begangenen Morde regelmäßig verkleidete Polizisten in der Morgue aufstellt, welche die Besucher unauffällig, aber genau beobachten.

6. Die Umwelt der vorgefundenen Leiche. a) Das Wetter.2) Zu den Umwelttatsachen, die in Betracht zu ziehen sind, wenn eine Leiche gefunden wird, gehören vor allem die atmosphärischen Einflüsse, welche auf das Äußere und auch auf das Innere einer Leiche gewirkt haben können. Wie wichtig namentlich Temperatur, Regen, Nebel, Frost, Lage in der Sonne oder im Schatten usw. u. a. sein können, ist klar; trotzdem wird es oft im Protokoll als selbstverständlich nicht erwähnt. Man weiß den Tag, an welchem die Leiche gefunden wurde, da dies im Akte festgestellt ist, und hält es für überflüssig festzustellen, daß es im Januar kalt und im Juli warm ist. Es gibt aber auch abnorme Temperaturen, ferner Monate, in welchen die Temperatur nicht von selber klar ist, und außer der Temperatur sind noch eine Menge anderer Witterungsfragen von Bedeutung. Wenn man zu Anfang einer Untersuchung noch nicht weiß, um was es sich handelt und worauf es hinauslaufen wird, so kann man auch nicht sagen, ob Feststellungen von Wetter und Wärme nötig sein werden; in vielen Fällen hat man sich vielleicht sehr abgemüht, um die betreffenden Feststellungen zu liefern, und später frägt niemand darum. Aber überflüssiger, besser gesagt: später überflüssig werdender Tätigkeit muß man sich bei kriminalistischer Arbeit überhaupt oft aussetzen und ist solche geleistet worden, so kann doch mindestens nie ein Schaden entstehen. Wohl aber ist es oft von Übel gewesen, wenn eine solche Erhebung nicht geschah, und später nötig wurde. Dies kann namentlich dann arge Schwierigkeiten geben, wenn es sich um Wetter und Wärme für eine R e i h e von aufeinanderfolgenden Tagen handelt, wenn, wie es oft vorkommt, das Wetter bestimmter Stunden wichtig ist, und wenn seither längere Zeit vergangen ist. Ich erinnere mich mit Unlust an eine w o c h e n l a n g e Arbeit, die es einmal gekostet hat, um zu wissen, ob es an einem bestimmten Tage ') Über die in der ganzen W e l t verbreitete Ansicht, daß es den Verbrecher, insbesondere den Mörder, an den Ort seiner T a t zurückziehe, vgl. Wulffen, Verbrechen und Verbrecher, Berlin 1925 S. 23.") ff. A u c h in der schöngeistigen Literatur wird dieser Gedanke verwendet (z. B. Dostojewski, Schuld und Sühne); Ein Belegbeispiel aus der neuen Zeit bildet der Massenmörder Kürten, der sich nach mehreren seiner Mordtaten am nächsten T a g e wieder an den T a t o r t begab und hiebei zum Teil auch wiederum sexuell erregt wurde (Sanders, Der Massenmörder Peter Kürten, Archiv 90 S. 55). 2) V g l . Kaßner, Die Verwertung der Wetterbeobachtungen in Norddeutschland durch die Kriminalistik, Archiv 43 S. 154. Groß-Seelig,

Handbuch. 8. Aufl.

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I I I . A b s c h n i t t . Die A u f n a h m e des Augenscheines.

um 8 Uhr abends geregnet hat 1 ); dies war um so ärgerlicher, als der U. damals sehen m u ß t e , daß diese Frage wichtig werden wird, daß er diese damals natürlich leicht hätte klären können, und es doch nicht tat. — Freilich ist so etwas oft leicht nach Jahren festzustellen, wenn es sich um das Wetter in einer großen Stadt 2 ) mit meteorologischen Beobachtungen oder um andere Orte handelt, wo solche Aufzeichnungen gemacht werden — aber so ist das nicht überall und selbst in nächster Nähe einer solchen Station kann es anders gewesen sein (Gewitter, Strichregen, Wind in geschützter oder offener Lage). Daß das Wetter in vielfacher Weise Einfluß auf das Tun der Menschen ausübt 3 ), ist bekannt genug, aber viel Genaues wissen wir darüber nicht; wenn bei großer Kälte mehr Holz gestohlen wird, als sonst, wenn bei Hitze besonders viel Leute beim Baden verunglücken usw., so ist dies natürlich, aber sonstige sichere Korrelationen, namentlich begründbare, haben wir sehr wenige. Wir kennen z. B. den Einfluß des Wetters auf den Selbstmord nicht: es s c h e i n t nur, daß ihn trübes, unfreundliches Wetter n i c h t begünstigt, und über das Verhältnis von Wetter und sexuellen Momenten wissen wir gar nichts. Zweifellos wird unsere Stimmung durch das Wetter beeinflußt — aber wie äußert sich dies bei unserem Handeln? Geistig Arbeitende bestätigen, daß sie bei schlechtem Wetter leichter arbeiten als bei schönem; damit, daß schönes Wetter vom Arbeitstische fortlockt, ist das nicht erklärt. Ein erfahrener Kassenbeamter teilte mir mit, daß man sich bei schönem Wetter auffallend öfter und leichter verzählt oder verrechnet, als bei schlechtem — das sei bei allen Kassenbeamten eine altbekannte Tatsache, aber zu erklären ist es kaum 4 ). — Der Einfluß von Föhnwetter besonders auf nervöse Leute ist bekannt, Genaueres weiß man jedoch auch hier nicht 5 ). Es kann also nicht genug dazu geraten werden, in allen Fällen, in welchen auch nur die entfernte Möglichkeit vorliegt, daß Temperatur und Wetter von Bedeutung werden könnte, dies zu vermerken. Aber auch hier genügt es nicht, ein, zwei Leute darum zü fragen. Einerseits ') Der Fall h a t t e sich (im Wiederaufnahmeverfahren) dahin zugespitzt, daß der wegen Brandstiftung zu 18 Jahren Verurteilte zweifellos (seit 5 Jahren) unschuldig saß, wenn es a m T a g e des Brandes u m 8 Uhr geregnet hat, weil die Hauptbelastungszeugin damals auf dem Heimwege (und 200 Schritte vor ihrem Hause) eine halbe Stunde auf einem B a u m s t a m m e „ausgeruht" haben wollte. Über andere Fälle berichtete Roth, A r c h i v 49 S. 367 und Näcke, A r c h i v 53 S. 370. s ) Allerdings auch nicht immer; Kaßner a. a. O. macht darauf aufmerksam, wie es o f t in großen Städten in einer Straße regnet, und zwei Straßen weiter ist es trocken und sonnig. Ebenso schwierig sind Fragen nach dem W i n d e in einem bestimmten Stadtteil zu beantworten. 3) V g l . hiezu W. Hellpach, Die geopsychischen Erscheinungen, 4. A u f l . 1934. 4) Z u m Teil hängt dies wohl damit zusammen, daß die Menschen bei H i t z e rascher ermüden als bei kühler Temperatur, was schon auf Grund des allgemeinen Energiegesetzes erklärlich erscheint. «) I n Innsbruck (Tirol) z. B . steigt erfahrungsgemäß die Selbstmordkurve im Frühjahr, wenn das Föhnwetter einsetzt: hier wirken offenbar der a t m o s p h ä rische E i n f l u ß von außen und die endogene „Frühjahrskrise" zusammen. V g l . hiezu auch Odewald, Kriminalistik 13 S. 135.

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Das Wetter seit dem Zeitpunkt der Tat.

weiß man solche Dinge wirklich nur ausnahmsweise genau (ich bitte, sich rasch zu entsinnen, welches Wetter vorgestern war!) und anderseits legen die Leute einer solchen Frage — Wettergespräch — keine Bedeutung bei und antworten nur leichthin, ohne genau nachgedacht zu haben. Die Feststellungen müssen also durch eine größere Zahl von Leuten, denen man die Wichtigkeit der Frage klargemacht hat, und womöglich durch Leute geschehen, in deren Leben das Wetter deutlich eingreift; die besten Erfahrungen macht man da verhältnismäßig bei Landärzten, denen es nicht gleichgültig ist, bei welchem Wetter sie ihre beschwerlichen Wege verrichten, bei Schullehrern (wegen der zur Schule kommenden Kinder), katholischen Landgeistlichen (Versehgänge), bei Jägern und klugen Bauern. Wie weit man in den Bestimmungen zurückgehen muß, hängt von der Sachlage, und bei aufgefundenen Leichen von der Zeit ab, wann der Tod eingetreten sein kann; nimmt man also an, daß der Betreffende vor 5 Tagen gestorben ist, so muß das Wetter für die letzten 5 Tage festgestellt werden. b) Leichen im fließenden Wasser. In manchen Fällen z. B. bei unbekannten Leichen, die von Flüssen gebracht wurden, wird man sich auch eingehend um die Wasserstandsverhältnisse des fraglichen Flußlaufes kümmern müssen, um Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, wo die Leiche ins Wasser geraten sein kann, wo sie etwa angespült wurde, wie lange sie dort gelegen sein mag und wann sie vielleicht durch wieder steigendes Wasser weiter getragen wurde. An manchen Stellen größerer Flüsse, an welchen infolge besonderer Krümmungen des Stromes und anderer Verhältnisse öfters die Leichen von Selbstmördern usw. ans Land gespült werden, obwohl sie viele Meilen stromaufwärts ins Wasser gerieten, wissen die Anwohner in der Regel über die hierbei in Betracht kommenden Fragen genau Bescheid, da sie mit den angeschwemmten Leichen allerlei Schwierigkeiten und (wegen Bergung und Begräbnis) auch Kosten für die Gemeinde haben. Umständliche Erhebungen können nötig werden, wenn es sich um die Ermittlung des Ortes handelt, wo eine im fließenden Wasser fortgetragene Leiche in den Fluß geraten ist. Solche Arbeiten sind in der Regel recht mühsam und können nur unter günstigen Umständen zu positiven Ergebnissen führen. Ich erinnere mich z. B. an folgenden in mehrfacher Richtung lehrreichen Fall: In einem Flusse wurde der vollkommen nackte Leichnam eines Bauernmädchens gefunden; es war Hochsommerzeit und sofort war man mit der sicheren Annahme fertig, daß das Mädchen beim Baden ertrunken sein dürfte. Die trotzdem veranlaßte Obduktion ergab, daß die Ertrunkene im vierten Monate schwanger war, und jetzt wurde wieder ebenso rasch behauptet, daß sie sich aus diesem Grunde ertränkt habe. Nun trug die Leiche aber längs des ganzen Rückens und über das Gesäße auffallende parallele dunkelrote Streifen, wie sie nur als Reaktion der lebenden Haut entstehen. Hierdurch war klar, daß die Verstorbene über einen Gegenstand gestreift worden sein mußte, der in gleichen Abständen.

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I I I . Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

hervorragende Teile hatte, und daß sie in diesem. Zeitpunkte noch am Leben war. Man vermaß und zeichnete jene Streifen, ließ den Leichnam (behufs etwa nötiger neuer Vergleiche usw.) einstweilen nicht beerdigen, und unternahm eine Wanderung längs des Flusses in der Richtung, woher der Leichnam gekommen war. Ein fortwährendes genaues Besichtigen des Flußbettes und aller Gegenstände, die in und an diesem irgendwie auffällig waren, ließ an einer im Wasser liegenden Baumwurzel einen Kleiderfetzen und später mehrere solche entdecken. Mittlerweile hatte ein Gendarm die Identität der Verstorbenen konstatieren können und kam der erhebenden Kommission mit der Mutter der Ertrunkenen entgegen. E s war nun leicht, festzustellen, daß die aufgefundenen Fetzen von deren Kleidern herrührten, es war das Mädchen also keineswegs nackt ins Wasser gekommen und es sind erst im rasch strömenden und mit vielen Baumwurzeln u. dgl. versehenen Wasser die Kleider und die Wäsche vom Leichnam gerissen worden; Fußbekleidung hatte die Ertrunkene keine getragen, sie war barfuß gegangen 1 ). Nach langer mühsamer Wanderung, auf der noch Reste der Kleider und der Wäsche aufgefischt wurden, kam die Kommission an der Behausung der Verunglückten (etwa 1500 Schritte seitwärts vom Flusse) vorbei, ohne das Hindernis entdeckt zu haben, das jene striemenartigen Streifen am Körper des Mädchens erzeugt haben konnte. Mittlerweile hatte man von der Mutter der Toten erfahren, daß sie einen Geliebten hatte, der in einer Lohstampfe (mühlenartige Einrichtung zur Erzeugung von Gerberlohe) bedienstet sei. Die Lohstampfe liege noch etwas stromaufwärts. Nun war es wohl zu vermuten, daß die Kommission nicht weiter zu wandern hätte, als bis zur Lohstampfe, und in der Tat war unterhalb dieser das sogenannte Mühlfluder durch einen großen hölzernen Rechen durchquert, bei dem die Querstäbe einige Zoll über den Hauptbalken emporragten, während dieser etwa eine Spanne hoch vom Wasser überflutet wurde. Vorgenommene Messungen ergaben, daß die Entfernungen jener hervorragenden Querstäbe genau mit der Entfernung der kratzerartigen Streifen auf dem Rücken der Verunglückten stimmten. Zweifellos war also, daß diese o b e r dem Rechen ins Wasser geraten war, und daß dies nicht weit über diesem gewesen sein konnte, denn wie die Hautreaktionen bewiesen, hatte das Mädchen noch gelebt, als es über den Rechen geschwemmt wurde. Nahe ober diesem war aber die Lohstampfe, wo der Liebhaber des Mädchens wohnte, der auch der Vater des zu gewärtigenden Kindes war. E s wurde festgestellt, daß er vor zwei Tagen abends seine Geliebte zu sich bestellt und daß niemand seitdem das Mädchen lebend gesehen hatte. In der Mühle war der Bursche nicht mehr, er war und blieb seit dem Augenblicke verschwunden, in welchem er vernommen hatte, daß der Leichnam seiner Geliebten gefunden worden ist. E s war kaum zu zweifeln, daß er diese ins Wasser gestoßen hat, offenbar weil er für das zu erwartende Kind nicht sorgen wollte und eine andere zu heiraten beabsichtigte.

In ähnlicher Weise wie im vorliegenden Falle wird die Stelle, wo der Getötete ins Wasser gekommen ist, nicht selten durch andere Zufälligkeiten festzustellen sein: durch Verletzungen, anhaftende Körper, die nur an einer bestimmten Stelle vorkamen, und andere Umstände, die freilich nur durch genaue Beobachtung, Erhebung und Kombination festgestellt werden können. So wurde mir von einem Falle erzählt, in Fußbekleidung verliert eine Leiche durch die Gewalt des Wassers allein nicht leicht, ich glaube niemals; wenigstens habe ich dies nie wahrnehmen können, obwohl Wasserleichen in unseren scharfströmenden Gebirgswässern oft schaurige Fahrten über Gerolle und Baumstämme machen und hierbei mitunter ganze Extremitäten verlieren. Sind die Füße überhaupt erhalten und hatte die Leiche Schuhe oder Stiefel getragen, so waren diese niemals verloren, wenn auch der Körper sonst alle Kleider vollständig eingebüßt hat. Der Fuß schwillt an, das Leder schrumpft, und so sitzt die Fußbekleidung vollkommen fest.

Feststellungen an Wasserleichen.

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welchem sich an den Kleidern einer Wasserleiche Ölfarbe befand, die nur von einem meilenweit stromaufwärts gelegenen, frisch angestrichenen Brückengeländer herrühren konnte; dieser Umstand gab den Anhaltspunkt zur Ausforschung des Mörders. Interessant, wenn auch erfolglos auslaufend, war ein Fall, bei dem ein Amtsdiener offenbar durch ein fingiertes Stelldichein an einen bestimmten Ort bei einem Mühlgang gelockt und dann ins Wasser geworfen worden war. Allerdings konnte man nur den Ort feststellen, wo dies geschehen sein mußte: Der erwähnte Hühlgang führte zu einer großen Papierfabrik, deren Nachtwächter den Körper des Ermordeten auf dem Wasser dahertreibend erblickte. Der Nachtwächter mußte in der Papierfabrik jede Viertelstunde ausrufen, und wartete eben, bei einem Korridorfenster stehend und auf das Wasser blickend, bis die Fabrikuhr Viertel vor 10 Uhr schlagen werde, damit er rufen könne. E r sah also den Körper kommen und half ihn bergen; so konnte, allerdings nur durch den erzählten Zufall, festgestellt werden, daß der Körper punkt 9 Uhr 45 Min. bei der Papierfabrik angelangt war. Die Taschenuhr des Verunglückten stand natürlich und zeigte halb 10 Uhr. Nun begann eine Reihe von interessanten Experimenten, die zwei als Sachverständige berufene, intelligente Uhrmacher in Gegenwart des U. unternahmen. Der eine von ihnen, vorläufig befragt, hatte behauptet, eine gute Uhr (d. h. eine Uhr mit gut schließendem, sorgfältig gearbeitetem Gehäuse) müsse stundenlang im Wasser fortgehen, ohne stehen zu bleiben. Der zweite behauptete, es könne nur kurz dauern, wenn das Uhrgehäuse nicht etwa besonders „gedichtet", d. h. durch Kautschuk- oder Lederstreifen abgeschlossen sei. E s wurden nun verschiedene Uhren in ein Glas Wasser getaucht: es zeigte sich, daß fast immer nach wenigen Augenblicken die Uhr zum Stillestehen kam. Nur bei einer englischen Chronometer-Uhr und bei einer Bauernuhr dauerte es fast eine Viertelstunde. Die letztere hatte nämlich ein sogenanntes Übergehäuse (auch Strapaziergehäuse genannt) aus Pakfong, welches überdies innen mit Leder sorgfältig ausgefüttert war, und nur vorne ein pfenniggroßes Loch freiließ, um das Zifferblatt teilweise sehen zu können; außerdem war die Aufziehvorrichtung mit Fett wasserdicht gemacht worden. Wie erwähnt: diese Uhr und die englische widerstanden dem Eindringen von Wasser länger, alle anderen nur wenige Augenblicke. Schließlich wurde die bei dem Ertrunkenen gefundene Uhr auseinandergenommen, gereinigt, geölt, wieder in Gang gesetzt und so unter Wasser gebracht: auch diese Uhr blieb nach wenigen Sekunden stehen. E s war also zweifellos, daß ihr Besitzer wenige Sekunden vor halb 10 Uhr ins Wasser geraten ist (der Mann hatte nur einen sehr leichten Sommeranzug am Leibe, der dem Eindringen des Wassers keinen Widerstand leisten konnte). Die Leiche war daher 1 5 Minuten lang geschwommen. Nun wurde ein großer Sack mit Heu und so viel Sand ausgefüllt, daß er sowohl an Volumen als auch an spezifischem Gewichte mit einem menschlichen Körper Ähnlichkeit hatte. Dieser Sack wurde in den fraglichen Mühlgang geworfen und 1 5 Minuten lang schwimmen gelassen. Der Versuch war um so sicherer, als der Mühlgang durchaus senkrechte, mit Holz gezimmerte Ufer hat, so daß ein Hängenbleiben an Wurzeln oder seichteren Stellen sowohl bei einem menschlichen Körper als auch beim Versuchsobj ekte nicht vorkommen konnte. Die Strecke, welche das letztere in 1 5 Minuten durchschwömmen hatte, wurde von der Papierfabrik stromaufwärts aufgetragen 1 ) und nun konnte man vermuten, daß der Verunglückte ungefähr an dieser Stelle x ) Vorsichtsweise wäre von der so ermittelten Stelle aus noch ein Kontrollversuch vorzunehmen gewesen, da immerhin die Möglichkeit besteht, daß auch in einem ebenmäßigen Mühlgang die Strömung oberhalb eines bestimmten Punktes nicht völlig gleich ist der Strömung unterhalb dieses Punktes.

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III. Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

ins Wasser gekommen war. Genau an der so ermittelten Stelle fand sich allerdings nichts Auffälliges, wohl aber war wenige Schritte höher das Gras neben dem Wasser stark zertreten, so daß hier ein Kampf stattgefunden zu haben schien. Außerdem fand sich dort bei genauer Suche ein Rockknopf, der am Rocke der Leiche fehlte. Ohne jene experimentelle Ermittlung des wahrscheinlichen Tatortes und das dadurch ermöglichte genaue Absuchen dieser Stelle wäre aber dieser Knopf wohl nie gefunden worden! In Verbindung mit anderen Momenten durfte so mit Sicherheit angenommen werden, daß der Betreffende hier absichtlich ins Wasser geworfen worden war; der Täter konnte aber niemals festgestellt werden. c) Kleider und darin Befindliches.

Daß bei verdächtigen Leichen, gleichviel ob sie bekannt sind oder nicht, auch eine genaue Besichtigung und Beschreibung aller Kleidungsstücke unbedingt erfolgen muß, ist selbstverständlich. Ebenso, daß man Risse, Stiche und sonstige Zusammenhangstrennungen der Kleider, die mit einer Verletzung in Verbindung stehen oder von einem Kampfe herrühren können, genau verzeichnet und untersucht. Weiter: daß man bei Kleidern unbekannter Leichen nach der Schneiderfirma, an den Knöpfen nach der Finnaprägung, bei der Wäsche nach der Marke sucht usw. Selbstverständlich ist es endlich auch, daß man alle Taschen der Kleider nach dort befindlichen Gegenständen absucht. Hierher gehört auch der Staub in den Taschen, der u. a. über das Gewerbe usw. des Verstorbenen Aufschluß geben kann und der Sand, Schlamm usw. bei Wasserleichen. Werden Papiere bei faulen Leichen oder Wasserleichen gefunden, so ist zu erwägen, daß jene regelmäßig Unmengen verschiedener Bakterien enthalten, welche auch noch weiter die Zerstörung von Papier und Schrift bewirken. Sind letztere von Wichtigkeit, so rate ich, die Papiere zu reinigen, zu trocknen und dann beiderseits mit Zaponlack (feuergefährlich!) zu bestreichen. Er ist wasserhell, auch nach dem Trocknen weich und biegsam, wird nicht trübe und schützt zuverlässig vor Fäulnis und Bakterien. Ist ein Papier mit Zaponlack bestrichen, so wird Stoff und Schrift auf lange Zeit hinaus nicht schlechter; tut man dies nicht, so kann man böse Erfahrungen machen, da die Schrift völlig verschwinden oder das Papier zerfallen kann 1 ). Ist aber bei Auffindung der Leiche die Schrift bereits ganz oder teilweise zerstört, so kann sie unter Umständen auf photographischem oder chemischem Weg wieder sichtbar gemacht und rekonstruiert werden2). Eine Frage, welche bei bekannten und unbekannten Leichen von Bedeutung sein kann, ist die, ob die Kleider der Leiche wohl bestimmt die ihren sind. Daß man in dieser Richtung zu Zweifeln Anlaß haben kann, mag verschiedene Gründe haben: es kann sein, daß z. B. der Rock des Getöteten arg zerrissen wurde, als es zu Gegenwehr gekommen ist. Wünscht der Täter nun, daß dies nicht hervortrete und zu Erhebungen Anlaß gebe, so zieht er der Leiche einen anderen, unbeschädigten Rock *) Besser — weil nicht feuergefährlich und keine Salpetersäure enthaltend — ist Zellit, der sonst ebenso vorzüglich wirkt wie Zaponlack. 2) Siehe darüber unten Abschnitt XI, 9.

Schlüsse aus der Kleidung und ihrem Inhalt.

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an. Oder er zieht ihr, damit überhaupt nicht viel erhoben wird, die Kleider eines Bettlers an (die Kleider von Vogelscheuchen sollen hierzu benützt worden sein!): um die Leiche eines alten Trunkenboldes, der bettelnd herumzog und im Rausch ins Wasser fiel, kümmert man sich selten. Hat man hier Verdacht, so helfen ja meistens Vergleiche zwischen Kleidern und Physiognomie, namentlich aber den Händen; bei faulen Leichen oder älteren Wasserleichen versagt dies Mittel allerdings. Aber man erwäge wenigstens die Möglichkeit. Wichtig ist auch eine peinliche Untersuchung jener Stellen der Kleidung, an denen der Stoff mehrfach liegt: Rockkragen, Hosenbund und Hosenschlitz, die auch aufgetrennt werden müssen. So findet man unter Umständen Papiere, von denen sich jemand aus irgendeinem Grunde nicht trennen will, z. B. Briefe, Notizen, mitunter sogar seine echten Legitimationspapiere, die er vielleicht unter geänderten Verhältnissen wieder benützen wollte. Auch hier, im Aufbewahren von Papieren, zeigt sich das so charakteristische und für uns so wichtige Interesse der Menschen für ihre eigenen Angelegenheiten, das egozentrische Moment. Aus einer Reihe typischer hierher gehöriger Fälle seien zwei erwähnt. Ein Verhafteter hatte im Hutfutter einen Streifen zusammengefaltetes Zeitungspapier eingelegt, so wie man zu tun pflegt, wenn der Hut zu weit ist, um ihn passend zu machen. Dieser, von Fett und Schmutz triefende Papierstreifen enthielt u. a. einen kurzen Zeitungsbericht über einen vor mehreren Jahren zur Verhandlung gebrachten Straßenraub, der von zwei Männern verübt worden war. Der eine wurde laut Zeitungsbericht verhaftet und damals verurteilt; „sein Genosse ist entflohen", schloß der Zeitungsbericht, „und konnte bisher nicht zustande gebracht werden". Man war geneigt, das Ganze für bloßen Zufall zu halten, auch der Verhaftete erklärte unbefangen, er habe mit dem Täter (der verurteilt wurde) auf einer Schulbank gesessen, habe den Bericht zufällig in die Hände bekommen und zum Engermachen seines bei einem Trödler gekauften, also nicht passenden Hutes verwendet. Auch habe ihn das traurige Schicksal seines ehemaligen Mitschülers, der so tief gesunken sei, ergriffen. Für alle Fälle wurde aber Zeitungsbericht, Photographie und Personsbeschreibung des unbekannten Häftlings an das Gericht, welches jenen Raubanfall verhandelt hatte, gesendet, und der Mann war der „bisher nicht zustande gebrachte" zweite Räuber, der dann zugab, daß er sich den Bericht „aus Interesse für seinen Fall" aufbewahrt habe. Der zweite Fall machte im September 1903 die Runde durch alle Tagesblätter. In Paris wurde ein gewisser Lemot ermordet, die Polizei hatte keine Kenntnis, wer der Täter sei. Einige Wochen später fand ein Polizist im Jardin des plantes auf einer Bank einen Mann schlafend, dem eine Menge von Zeitungsausschnitten aus der Tasche gefallen war. Der Polizist las diese, alle betrafen den Fall Lemot, und als der Mann geweckt und befragt wurde, gestand er in der Schlaftrunkenheit sofort, daß er Lemots Mörder sei.

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I I I . A b s c h n i t t . Die A u f n a h m e des Augenscheines.

Allerdings handelte es sich in beiden Fällen um Lebende, aber sie sollen nur zeigen, wie wichtig Papiere sein können, die bei jemandem gefunden werden — sei er lebendig oder tot. d) Tiere an Leichen. Unter Umständen können Insekten (namentlich Ungeziefer), die sich am Körper oder in den Kleidern eines Toten finden, durch ihr Lebendig- oder Totsein Anhaltspunkte dafür geben, wann jener ins Wasser gekommen ist usw. Reubold1) hat anläßlich eines wichtigen Falles Versuche darüber gemacht, wie lange z. B. Flöhe unter Wasser aushalten und hat als Höchstzeit 16 Stunden gefunden. Ich glaube nicht, daß dies immer auf einen bestimmten Fall angewendet werden darf, wenigstens nicht dann, wenn die Flöhe noch leben. Sind sie tot, so ist nach Reubold wohl anzunehmen, daß mindestens 16 Stunden vergangen sind, seit der Körper ins Wasser kam. Leben sie noch, so kann auch viel mehr Zeit verflossen sein; wer öfter die Bergung von Leichen aus dem Wasser mitangesehen hat, wird wissen, welche Menge von L u f t aus den Kleidern entweicht, wenn der Körper gefaßt, gedrückt oder gewendet wird. Die aufsteigenden Blasen sind später allerdings Fäulnisgase, in der ersten Zeit aber bloß atmosphärische Luft, die durch die mit Wasser durchtränkten Kleider nicht leicht entweichen kann; wenn dann ein in den Kleidern eingeschlossener Floh an oder in einer solchen Luftblase sitzt, so kann er allerdings recht lange leben. Von Fliegen, Spinnen, Raupen sagt Reubold a. a. O., daß sie „viel eher" unterWasser sterben; wieviel eher, sagt er nicht, es ist dies aber bezüglich dieser Tiere für unsere Fälle gleichgültig. Von Ameisen erzählt eine Dame, Adele Fielde, die sich mit dem Totmartern dieser Tiere befaßt hat, daß sie unter Wasser bis zu 72 Stunden aushalten. Wann andere Parasiten, Läuse, Filzläuse usw. unter Wasser sterben, scheint meines Wissens noch nicht erhoben; ebenso nicht, wann, das heißt wie lange nach dem Tode eines Menschen, der freiliegt, ihn seine Parasiten (Flöhe, Läuse, Filzläuse usw.) verlassen. Dies zu wissen wäre u. U. nicht gleichgültig; gesagt wird ganz allgemein, daß dies geschieht, wenn der Körper erkaltet. Festzustellen, wie lange Eingeweidewürmer in den Leichen lebend bleiben, ist Sache der Obduktion und hier nicht zu besprechen. Wohl muß aber hier auf die in neuerer Zeit bekannt gewordene sogen. „Gräberfauna" hingewiesen werden, da aus den an (begrabenen und nicht begrabenen) Leichen nagenden Insekten und deren Larven wichtige Schlüsse auf die Todeszeit gezogen werden können 2 ). Zu Ende ') Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin 26 S. 393. 2) Vgl. v. Niezabitowsky, Experimentelle Beiträge zur Lehre v o n der Leichenfauna, Vierteljahrsschr. f. ger. Medizin, 3. F . 23 S. 44 (1902); Strauch, Die F a u n a der Leichen, Vierteljahrsschr. f. ger. Medizin, 43, 2. Suppl. S. 44 (1912); Haussner, Kriminalfälle und anderes aus der Literatur, A r c h i v 26 S. 221 (insbesondere S. 248ff.); Schneider, Leichen Zerstörung durch Madenfraß, A r c h i v 98 S. 2 1 7 ; Kratler, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 2. A u f l . S t u t t g a r t 1921 S. 68f. Ältere Literatur in dieser wichtigen F r a g e bei Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin 8. A u f l . S. 803; übrigens wurde die ganze Sache schon

Gräberfauna.

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geführt sind diese Untersuchungen allerdings noch lange nicht, da, wie ich glaube, immer noch die Jahreszeit des Todes und der verschiedene Wassergehalt der Leichen, der zwischen 50—60% schwankt, zu wenig berücksichtigt wird. Bekanntlich finden sich an Leichen, die im strengsten Winter begraben wurden, nur Maden einer Mücke (Phora) und eines Käfers (Rhinophagus), die also durch die Erde zu den Leichen gedrungen sein müssen; im Hochsommer kann eine Leiche, die an günstigem Orte lag, in wenigen Tagen bis auf Haut und Knochen von Insekten und Maden (nicht etwa von Raubtieren, Krähen usw.) aufgefressen worden sein 1 ). Dazwischen liegen alle möglichen Abstufungen von Temperatur und Häufigkeit der Fauna, so daß auch hierauf genaue Rücksicht genommen werden muß. Bedingungslos sind also die veröffentlichten Anhaltspunkte nicht hinzunehmen. — Hierher gehört auch noch die Erwähnung jener gefährlichen Fälle, in welchen Leichen durch Ratten, Asseln, Ameisen, im Wasser auch durch Flohkrebse benagt wurden, wobei man die Verletzung als Schwefelsäureverätzung usw. gedeutet hat 2 ). Die Feststellung, ob solche Benagungen stattgefunden haben, gehören natürlich in das rein medizinische Gebiet; hier sei nur darauf aufmerksam gemacht, daß in Fällen, in welchen eine solche Möglichkeit angenommen wird, s o f o r t festgestellt werden muß, ob sich am fraglichen Orte Ameisen, Schaben, Kellerasseln, Ratten, Flohkrebse usw. aufhalten. Macht man aber die Leute auf diese Annahme nur aufmerksam und läßt ihnen genügend Zeit, so besteht die Gefahr einer absichtlichen Spurenverwischung, denn Ameisen, Asseln usw. lassen sich überall anzüchten. Natürlich ist mit dem .Auffinden oder Nichtauffinden der genannten Tiere nicht viel bewiesen. Denken wir z. B. an Flohkrebse (Gammarus pulex), welche an im Wasser liegenden Leichen die merkwürdigsten, allen möglichen Vermutungen Raum gebenden Hautdefekte erzeugen können; zu finden sind sie fast in jedem Gewässer, aber wenn sie auch entdeckt werden, so müssen sie nicht gerade im vorliegenden Falle einen Hautdefekt erzeugt haben. Ebensogut kann aber auch eine Nachforschung nach ihnen am Tatorte vergeblich sein und trotzdem waren sie vielleicht in der Nacht oder so lange da, als sie der Leichengeruch angelockt hat. lange Zeit, bevor sie in der ausländischen Literatur (vgl. P. M6gnin, L a faune entomologique des T o m b e a u x , Paris 1894; derselbe, L a faune de cadavres, Paris 1894) eingehend behandelt wurde, in Deutschland in Betracht gezogen: Güntz, Der Leichnam eines Menschen in seinen physischen Verwandlungen, Leipzig 1827 und Krahmer, H a n d b . d. ger. Medizin, Halle a. d. S. 1851. *) O. Leers erzählt von einer Leiche, die (im August) 6 Wochen im Freien lag und v o l l s t ä n d i g skelettiert war. Ich sah die Leiche eines Erhängten, zu dem nur Insekten gelangen konnten, in e i n e r W o c h e bis auf H a u t und Knochen verzehrt. 2) V g l . Klingelhöffer in der Vierteljahrsschrift für ger. Med., 3. Folge, 15 S. 58 (1898); Hofmann-Haberda, Lehrb. d. gerichtl. Med., 10. A u f l . S. 419 (ein V a t e r saß 8 Jahre im Zuchthaus, weil man fälschlich angenommen hatte, daß er sein K i n d mit Schwefelsäure vergiftet habe); v. Horoszkiewicz, Kasuistischer Beitrag zur Lehre von der B e n a g u n g der Leichen durch Insekten, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 23 S. 235.

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III. Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

Ein verläßlicher Justizbeamter erzählte mir: er hatte einmal den Augenschein an der Leiche eines Ermordeten vorzunehmen, die auf einer allerdings sehr sumpfigen Wiese, aber einige hundert Schritte von einem kleinen Flusse entfernt lag und schon faul war. Die Kommission kam erst sehr spät abends hin und fand den Kadaver geradezu angefüllt mit den schönsten Solokrebsen 1 ); trotzdem versicherten die Leute, daß es noch nie jemandem eingefallen wäre, in dem Flüßchen nach Krebsen zu suchen „weil dort keine seien". Die Zerstörungen, welche die Krebse angerichtet hatten, wären am hellen Tage, wenn sie wieder abgezogen waren, kaum zu erklären gewesen 2 ).

7. Aufsuchen verborgener Gegenstände. a) Das Suchen im Äußeren. Wenn man darauf aufmerksam machen wollte, wo sich überall verborgene Gegenstände, welche auf die Tat irgendwelchen Bezug haben, befinden können, so müßte man ein Verzeichnis aller jener Gegenstände anfertigen, welche sich unter Dach oder unter freiem Himmel befinden und genügend groß sind, um ein corpus delicti beherbergen zu können. Wer bloß Kisten und Truhen, Laden und Betten, Öfen und Schornsteine durchsucht, wird kaum Wichtiges finden; es muß eben alles angesehen werden, es gibt nur Weniges, worin nicht wichtige Gegenstände versteckt sein könnten. Aus meiner und meiner Freunde Erfahrung erwähne ich an Versteckorten nur: Vogelbauer, Roßhaar eines Sophas, Raum zwischen Bild und Schutzbrett, Höhlung eines alten Schlüssels, Krippe im Kuhstall, Topf mit siedender Suppe auf dem Herde (Inhalt: 28 Dukaten!), alte Stiefel, Gebetbuch, Hundehütte, Hohlräume in Acker- und Küchengeräten, Raum zwischen zwei (stehenden) Mühlsteinen, Weinfässer, Brillenfutteral, Medizinschachtel, alte Zeitungen, Schwarzwälder Uhr, Windeln eines Säuglings — einmal war sogar der gesuchte Verbrecher selber im Düngerhaufen Verborgen, an dessen Seite, gegen den Stall zu, man eine kleine Öffnung zum Zwecke der Luftzufuhr gelassen hatte! Beliebt als Versteckort sind auch die Pfandleihanstalten, Versatzämter usw. Wichtige Papiere, auch Papiergeld, werden zwischen einem eingerahmten Bilde und dem rückwärtigen Schutzbrette, andere Gegenstände z. B. im Roßhaar oder in den Federn von Betten und Polstern, aber auch in zahlreichen anderen Objekten versteckt und diese dann verpfändet — die gefährlichsten Dinge sind dadurch außer Haus und doch sicher verwahrt. Findet man daher das Gesuchte nicht, wohl aber Pfandscheine, so nehme man diese mit, löse die Pfandstücke aus und untersuche sie; die Mühe hat häufig Erfolg. Irrigerweise wird vielfach behauptet, daß Krebse kein Aas fressen! *) Über das Aussehen von Leichen wird gelehrt, es entspreche (im allgemeinen und bei gleicher Temperatur): 1 Woche an der L u f t = 2 Wochen im Wasser = 8 Wochen im Erdgrab. Vgl. H. Groß, Das Schicksal von Gruftleichen, Archiv 40 S. 239.

Die Hausdurchsuchung.

219

Bei allem Suchen im und außer Hause wird die Arbeit wesentlich erleichtert, wenn der Beschuldigte anwesend ist, da dessen Mienen, Augen und Bewegungen richtig beobachtet, oft ein untrügliches Zeichen dafür abgeben, ob man am falschen oder richtigen Orte sucht. Auf das Verhalten des Beschuldigten kann man darum nicht genug aufmerken! Ebenso lasse man auch Angehörige des Beschuldigten nicht aus den Augen, die oft, ohne gerade mitschuldig zu sein, vom Verstecke bedenklicher Sachen Kenntnis haben und sich oft noch ungeschickter benehmen, als der Täter selbst: auch ihre Mienen verraten oft das Wichtigste 1 ). Erschwert wird die Arbeit dadurch, daß die Dinge, nach denen man zu suchen hat, meistens klein und leicht zu verstecken sind: Geld, Pretiosen, Papiere, Gift, — das kann alles fast überall verborgen werden. b) Das Suchen im Inneren. Handelt es sich um die Auffindung umfangreicher Gegenstände und hat man feststellen können, daß sie in den leichter zugänglichen Behältnissen usw. des Hauses nicht zu finden sind, so muß sozusagen in der Substanz des Gebäudes gesucht werden, und da es schon nicht angeht, dieses zu demolieren, um ja gewiß sicher zu gehen, so müssen gewisse Kunstgriffe einfachster Art angewendet und die Augen offengehalten werden. Glaubt man, daß Sachen eingemauert wurden, so richte man sein Augenmerk nicht auf jene Stellen der Wände, die frei sichtbar sind, denn da wird nicht leicht etwas verborgen sein, es sei denn, daß man Grund zur Annahme hat, es sei dies vor so langer Zeit geschehen, daß der Verputz der Mauer längst trocknen und neue Tünche aufgetragen werden konnte. Meistens wird eine solche Einmauerung hinter Spiegeln, Bildern, Kästen oder in Kellern vorgenommen und am frischen oder nicht gleichmäßigen Verputze leicht kenntlich sein. Findet man auf diese Weise keine verdächtige Stelle und ist doch zu vermuten, daß eine Einmauerung stattgefunden hat, so erübrigt nichts anderes als das alte Mittel: die Wände a b z u k l o p f e n , um festzustellen, ob und wo ein dumpfer Ton wahrzunehmen ist, der auf eine Höhlung schließen läßt; diese Arbeit geht verhältnismäßig schneller vor sich, als man erwarten sollte. Nicht so einfach sind Forschungen nach Verstecken unter dem Fußboden. Da man diesen nicht durchwegs aufreißen kann, so muß 1 ) Auf diesen unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen des um das Versteck Wissenden beim Suchen nach dem versteckten Gegenstand beruht z. B. das bekannte Experiment der „Salontelepathen", die zum Vergnügen des Publikums einen kleinen Gegenstand in ihrer Abwesenheit verstecken lassen und nun, von einem Wissenden aus dem Publikum „geführt", den Gegenstand tatsächlich finden (sogenannte „Telepathie mit Kontakt"). Der „Führende" hat hiebei genau an den einzuschlagenden Weg zu denken und gibt dadurch dem ihn am Handgelenk haltenden „Telepathen" — ohne es zu wollen — bekannt, ob dieser sich beim Suchen richtig bewegt oder nicht.

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III. Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

man nach Kennzeichen suchen, die auf eine kürzlich vorgenommene Veränderung schließen lassen. Solche gibt es allerdings. Handelt es sich um einen gedielten Boden, so wird man lediglich die Nägelköpfe in den Dielen genau anzusehen haben; wenn nämlich die Dielen gelegt werden, so schlägt man die Nägel, mit denen die Bretter an den darunterliegenden sogenannten „Polstern" befestigt werden, möglichst tief hinein, damit die Köpfe der Nägel im Brett nicht nur völlig „versenkt" sind, sondern noch tiefer hineinkommen, als die Oberfläche des Bodens ist; so soll nämlich verhindert werden, daß man mit der Schuhsohle an den Nägelköpfen hängen bleibt. Wenn aber die Nägelköpfe so tief eingeschlagen sind, so sind sie begreiflicherweise schwer zu fassen und herauszuziehen, zumal dann, wenn die Fußböden öfter gewaschen werden, so daß die eindringende Feuchtigkeit das Einrosten der Nägel bewirkt hat. Sind die Nägel aber derart fest im Holze, so ist es unmöglich, sie herauszuziehen, ohne das Holz rings um die Nägel zu schädigen, und die Kennzeichen hiervon sind nicht mehr zu tilgen. Sieht man also das Holz um die Nägel eines Brettes der Diele gequetscht oder sonst beschädigt, so kann man annehmen, daß unter diesem Brette etwas verborgen ist. Wo derlei Beschädigungen nicht sichtbar sind, da kann man das Brett auch ruhig liegen lassen. Handelt es sich um Parketten, so muß, falls darunter wirklich etwas verborgen wurde, eine Tafel herausgenommen und dann wieder eingelegt worden sein. Um dies aber tun zu können, mußte die sogenannte „Feder" durchschnitten werden. Die Parkettentafeln haben nämlich an der Seite, also im Fleische des Brettes, eine Rinne, die sogenannte Nut, so daß in die beiden Rinnen zweier nebeneinander liegenden Parketten die „Feder", ein linealartiges Brettchen (so breit als zwei Nuten zusammen) eingeschoben werden kann, wodurch die einzelnen Parkettentafeln aneinander fest zusammenhalten. Werden nun diese „Federn" mit einem feinen Messer durchschnitten, mit einem dünnen Stemmeisen abgestoßen, oder mit einer hierzu geeigneten Säge (dem „Fuchsschwanz") durchsägt, so ist die Tafel von den sie umgebenden vier anderen Tafeln getrennt und es handelt sich nur darum, sie vom darunterliegenden „Blindboden" loszureißen, da jede Parkette mindestens an einer Seite durch in die Nut eingeschlagene, also oben nicht sichtbare, Nägel an der Unterlage befestigt ist. Da aber diese Nägel nur durch den dritten Teil der Parkettendichte gehen, so gelingt es meistens leicht, mittels eines starken Stemmeisens die abgelegte Parkette so loszureißen, daß nur ein starker Span von ihrer Unterseite am Blindboden hängen bleibt. Wird nun unter der losgelösten Tafel etwas verborgen und diese wieder an ihre vorige Stelle gebracht, so ist zwar mit dem Auge allein keine Veränderung wahrzunehmen, wohl aber durch Tasten, da die einzelne Parkette nicht mehr befestigt werden kann, sie könnte höchstens auf dem Blindboden angeleimt worden sein1). Wenn man sich also mit *) Das wird der Verbergende aber kaum tun, da er dann die Parkette im Bedarfsfälle auch nicht leicht losmachen kann.

Verstecke unter dem Fußboden und im Freien.

221

etwas gespreizten Beinen auf eine solche Parkette stellt und den Körper von einem Beine auf das andere wiegt, so wird man fast stets findep, daß diese auf etwas wackeliger Grundlage aufruht. Ebenso wird es möglich sein, die lose Parkette soweit hin- und herzuschieben, als es die Fuge zwischen ihr und ihrer Nachbarin gestattet. Jedenfalls wird man eine losgerissene Parkette fast immer mit Leichtigkeit entdecken können. Handelt es sich um den Erdboden in einem Keller, wo etwas vergraben worden sein soll (wohl der häufigste Fall), so läßt man über die ganze verdächtige Fläche reichlich und plötzlich Wasser ausgießen: d o r t , w o d a s W a s s e r r a s c h e r e i n s i n k t u n d wo g l e i c h z e i t i g L u f t b l a s e n a u f s t e i g e n , d o r t l i e g t die E r d e l o c k e r e r , d o r t ist v o r k u r z e m g e g r a b e n w o r d e n . Geradeso macht man es bei einem Boden, der mit Ziegeln 1 ), Steinplatten usw. gepflastert ist und der aufgerissen worden sein kann. Zwischen den Ziegeln, Steinplatten usw. eines Fußbodens sammelt sich im Laufe der Zeit eine Menge von Staub, Sand usw., welcher durch eindringende Feuchtigkeit, eigenes Gewicht und Eintreten zu einer festen, kittartigen Masse zu werden pflegt. Kommt also aufgeschüttetes Wasser auf solche alte Fugen, so kann es nur langsam eindringen, wie es eben nach und nach aufgesaugt wird. Sind die Steinplatten aber herausgenommen und wieder eingefügt worden, hat man die Fugen erst neuerlich dadurch ausgefüllt, daß man mit dem Besen Staub oder Sand hineingekehrt hat, so liegt dieser so locker, daß das aufgegossene Wasser dort schnell einsinkt und Luftblasen aufsteigen läßt. Ähnliche Nachforschungen im Freien vorzunehmen, ist unter allen Umständen schwierig. Abgesehen vom Polizeihund (s. später) kann man als technisches Hilfsmittel ein e l e k t r i s c h e s S u c h g e r ä t verwenden, wie es zuerst 1910 von Thietne konstruiert und seither verbessert wurde 2 ): ein Detektor mit Kopfhörer zeigt durch Verstärkung des Tones die Nähe von Fremdkörpern, besonders von Metallen, an. Der Apparat bewährt sich vor allem zur Auffindung verborgener Leichen (an denen sich meist irgend ein Metallteil, wie Goldzahn, Uhr u. ä., befindet) und versteckter Waffen. Aber auch ein sorgfältiges Aufmerken auf gewisse Vorgänge in der Natur kann manchesmal helfen. Verhältnismäßig viele Ermordete werden an wenig begangenen Stellen, namentlich oft im Walde, leichthin verscharrt. Eine große Anzahl von solch Vergrabenen wird aber von Füchsen vermöge ihres scharfen Geruches entdeckt und wieder ausgegraben. Ist die Leiche aber nicht mehr mit Erde bedeckt, so kann sie dann leicht mit Hilfe von Hunden und auch von Menschen allein gefunden werden. So wurden ') In Graz wurden im Jahre 1913 unter dem Ziegelboden eines Bodenabteils die gesamten Werkzeuge eines Banknotenfälschers vorgefunden. 2) B. Thieme, Die Auffindung vergrabener oder eingemauerter Teile, Kriminalistik 9, S. 28.

222

III. Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

z. B. in der Provinz Westpreußen im Sommer 1867 zwei Mordtaten entdeckt, weil die betreffenden Leichen von Füchsen ausgegraben worden waren. Liegt aber einmal eine Leiche frei, so sammeln sich stets Krähen, Raben usw., auf deren Gebaren gegebenen Falles zu achten ist. Die Leiche einer ermordeten Frau wurde einmal nur dadurch entdeckt, daß die Lehrer der umliegenden Schulen, vom Gendarmen ersucht, die Kinder beauftragt hatten, es zu melden, wenn sie irgendwo auffallend viele Krähen, Raben usw. versammelt sähen. Die Schulkinder, die ja von allen Richtungen zusammentreffen, hatten allerdings Gelegenheit zu solchen Beobachtungen und in der Tat erfolgte von einem der kleinen Beobachter eine Meldung, die zur Auffindung des Leichnams führte. Zum Schlüsse mögen hier noch zwei lehrreiche Durchsuchungserlebnisse mitgeteilt werden. Ein Wilddieb hatte einen Jäger angeschossen und war von diesem ungefähr erkannt worden, weshalb bei dem Verdächtigten eine Hausdurchsuchung, hauptsächlich nach dem Gewehre, vorgenommen wurde. Diese führte man mit aller Genauigkeit und Sorgfalt durch und wendete den Inhalt des Hauses von unterst zu oberst: keine Spur von Gewehr oder Schießbedarf, so daß die Amtshandlung für beendet erklärt wurde. Mittlerweile war ein starker Gewitterregen niedergegangen und die Gerichtskommission wartete dessen Ende am Orte ihrer Tätigkeit ab. Das fragliche Haus war so gebaut, wie hierzulande fast alle Bauernhäuser gebaut sind: mitten durch das ebenerdige Gebäude der gangartige Flur, in welchen vorne die Haustüre, rückwärts die Hoftüre führt, rechts und links münden die Türen der Küche und Wohnräume in diesen Flur. Haustor und Hoftüre sind, außer im Winter, tagsüber stets offen. In diesem Flur wartete nun damals die Gerichtskommission auf das Ende des Regens; dieser wurde immer heftiger und schlug endlich zur Haustüre herein. Man schloß deshalb diese Türe, und an der (bisher der Mauer zugekehrten) Innenseite der Haustüre hing frei und offen — Gewehr und Jagdtasche mit Pulver und Blei! 1 ) Ein ähnlicher Fall 2 ) betraf ebenfalls einen Wilddieb. In einer Gegend waren durch Jahre hindurch zahlreiche Wilddiebstähle vorgekommen, deren man den Glöckner einer kleinen Kirche verdächtigte. Es konnte ihm aber nie ein Beweis geliefert werden, da die sorgfältigsten Hausdurchsuchungen vergeblich blieben. Erst nach seinem Tode wurden seine Gewehre samt Schießbedarf unter dem Hochaltar der Kirche gefunden, wo früher allerdings niemand gesucht hatte. c) Das Suchen am Beschuldigten selbst. Eine Durchsuchung der Person ist so ziemlich das Peinlichste, was ein U. anzuordnen und vorzunehmen hat, es ist daher sehr begreiflich, wenn man sich aus Rücksicht, Zaghaftigkeit und anderen Gründen davon abhalten läßt 3 ). Es ist freilich richtig, daß jede Durchsuchung ein arger 2)

3)

Mitgeteilt von Landgerichtsrat v. Richter-Binnenthal. Mitgeteilt von Pfarrer Stelzl in Glein. Darüber, wie weit man diesfalls gehen darf, unterrichtet die gute Arbeit

Die Durchsuchung der Person.

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Eingriff in die persönliche Freiheit des Volksgenossen ist: deshalb überlege man es sich auch sorgfältig, bevor man zu einer solchen Maßregel schreitet, und ergreife sie nur im ä u ß e r s t e n Falle. Mußte man sich aber dazu entschließen, dann gehe man auch energisch vor und durchsuche den Beschuldigten so genau, als nur möglich. Handelt es sich einerseits um einen recht raffinierten Menschen und andererseits um sehr kleine Dinge, die leicht verborgen werden können, so wird die Zuziehung eines Arztes kaum zu umgehen sein, da auch in verschiedenen Körperhöhlen 1 ) gesucht werden muß. Personendurchsuchungen sind überhaupt häufig von Erfolg begleitet, da es jedem Menschen naheliegt, gefährliche oder bedenkliche Gegenstände bei sich zu tragen — wie man es häufig mit wertvollen Sachen macht — ; man glaubt sie hier am besten geschützt.

d) Vom Polizeihund. An dieser Stelle sollen auch einige Worte über den Polizeihund gesagt werden, der endlich modern geworden ist. Zuerst hat H. Groß schon im Jahre 1897 auf die Frage aufmerksam gemacht 2 ), worauf dann (1900) in Gent Polizeihunde in Verwendung gebracht wurden. Seither hat sich ihr Gebrauch in überraschender Weise ausgedehnt 3 ) und überall hat man die besten Erfahrungen damit gemacht, wenn man: von E. Beling, Die Vornahme von Untersuchungen am lebenden menschlichen Körper, Zeitschrift für die ges. Strafrechtsw. 15 S. 471 (auch gute Literaturangabe); Hulsebosch, Visitieren, Archiv 71 S. 215; Feisenberger, A r t . „ D u r c h s u c h u n g " im H d K . ; Leibig, Kriminaltechnik, 2. Aufl. 1937 S. i 7 7 f f . ') Ein Untersuchungsrichter des Landgerichtes in Wien fand einmal im Anus eines verhafteten Beschuldigten 8 Stück 1000 K - N o t e n , die in einem kleinen Papierröllchen verschnürt waren. 2) Im Gendarmerie-Jahrbuch 1897 (in Kommission bei L. W. Seidel & Sohn, Wien 1897) S. 210: „ E i n Gehilfe für den Gendarmen" von Hans Groß. 3) Aus der daraufhin bald anschwellenden Polizeihund-Literatur seien genannt: H. Groß, Leithunde bei Strafgerichtsuntersuchungen, Archiv 1 S. 263; Hellwig, Wert der Hunde bei Aufspüren von Leichen, Archiv 16 S. 359; Derselbe, Entdeckung eines Mordes durch einen Hund, Archiv 18, S. 216; Schneickert, Entdeckung durch Polizeihunde, Archiv 18 S. 267; H. Groß, Die Iserloher Dressuranstalt für Polizeihunde, Archiv 47 S. 232; K. Boas, Zur Bekämpfung des Hundegebells bei der Dressur von Polizeihunden, Archiv 60 S. 125; Graf Vitzthum, Kann die Verwendung von Privathunden zum Spurensuchen an Verbrechenstatorten verboten werden? Archiv 71 S. 320; P. Böttger, Die Polizeihundarbeit im Fall Seefeldt, Archiv 101 S. 251; zahlreiche Aufsätze in der Zeitschrift „ D e r Polizeihund" (Beilage der Zeitschrift „ D i e Polizei"), der „Zeitung des Vereins für deutsche Schäferhunde" und der „Zeitschrift für Hundeforschung" (Berlin seit 1931); ferner: R. Gersbach, Dressur und Führung des Polizeihundes, 8. Aufl. Berlin 1912; K. Lutz, Beiträge zur Psychologie, Abrichtung und Verwendung des Diensthundes, Würzburg 1920; Gerstlauer, Die Verwendung des Hundes im Kriminaldienst, Deutsche Juristenzeitung 1925 Nr. 12; M. Hagemann, Die Verwertung des Kriminalhundes, Kriminalarchiv der Deutschen Juristenzeitung 1926 Nr. 2; P. Böttger, Anweisung zum Abrichten von Suchhunden auf Grund praktischer Erfahrungen, 4. Aufl., Augsburg 1926; Krack, Die geruchsphysiologischen und psychologischen Voraussetzungen für die Verwendung des Hundes im Kriminaldienst, Kriminalistik 3 S. 79; J. Hansmann, Tätigkeit und Erfolge von Diensthunden bei der Kriminalpolizei, Kriminalistik 6 S. 128; P. Böttger, Hunde im Dienste der Kriminalpolizei, Kriminalistik 10 S. 121; K. Most und P. Böttger, Leitfaden für die Abrichtung des Hundes, 8. A u f l . ,

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I I I . A b s c h n i t t . D i e A u f n a h m e des A u g e n s c h e i n e s .

1. richtige Tiere ausgewählt hat, 2. sie in richtige Führung brachte und 3. nichts vom Polizeihund verlangte, was er naturgemäß nicht leisten kann. Im allgemeinen wird diese Neueinführung wohlwollend, in mancher Richtung fast dankbar aufgenommen, nur vereinzelt wurden in Blättern — sogar einem juristischen — boshafte Bemerkungen über die „prozessuale Stellung" des Polizeihundes vorgebracht. D a dies auch ernsthaft geschah, so sei doch betont, daß diese „Stellung" selbstverständlich nur die eines Instrumentes sein kann. Von den verschiedenen Personen, die bei der Aufklärung eines Falles mitarbeiten, unterstützt der eine seinen Gesichtssinn durch das Mikroskop, der zweite den Tastsinn durch die Waage, der dritte sein Gehör durch das Telephon oder das Stethoskop und der vierte ergänzt das mangelhafte menschliche Geruchsvermögen durch das viel entwickeltere des Hundes. Jeder sagt dann in seinem Bericht oder in seinem Gutachten, w a s er m i t H i l f e s e i n e s „ W e r k z e u g e s " w a h r g e n o m m e n h a t und Sache der freien Beweiswürdigung ist es stets, davon zu glauben, was erwiesen ist. Betrachtet man dann den Hund lediglich als W e r k z e u g und seinen Dresseur und Führer als polizeilichen Mitarbeiter, der im Gerichtsverfahren als Zeuge oder Sachverständiger 1 ) zu vernehmen ist, so hat die „Stellung des Polizeihundes" weder etwas Merkwürdiges noch etwas Schwieriges, es sind auch gar keine besonderen gesetzlichen Bestimmungen und Anweisungen hierfür nötig. In den meisten Fällen ist auch der Polizeihund überhaupt nicht ein eigenes Beweismittel besonderer Art, sondern nur ein Hilfsmittel der Polizei, durch das a n d e r e Beweismittel — z. B . der versteckte Ermordete, das Tatwerkzeug oder auch der Täter selbst, der dann vielleicht gesteht — ausfindig gemacht werden. Jedem Kriminalisten wäre zu raten, sich darüber zu unterrichten, w a s von der Hilfe des Polizeihundes erwartet werden kann. Namentlich Most hat sehr richtig betont, daß wir dabei besonders dann fehlgehen, wenn wir mit u n s e r e r Psychologie die natürlich ganz andere des Hundes begreifen wollen. Selbstverständlich soll nicht gesagt sein, daß sich jeder U. um Dressur und Führung des Polizeihundes kümmern soll — aber er muß wissen, was er verlangen kann. Sonst erwartet er einerseits Unsinniges und Unmögliches, anderseits beraubt er sich eines unersetzlichen Hilfsmittels, wenn er nicht weiß, daß der Hund etwas im Augenblick Wichtiges doch zu leisten vermag. Als Hunde eignen sich am besten möglichst reinrassige Tiere der drei Rassen: Deutscher Schäferhund, Dobermannpintscher und Airedaleterrier; auch Riesenschnauzer, Boxer und Rottweiler werden verwendet. Die Ausbildung der Hunde erfolgt heute in staatlichen Anstalten (für B e r l i n 1933 ;P. Böttger, H u n d e im D i e n s t e der K r i m i n a l p o l i z e i u n t e i bes. B e r ü c k s i c h t i g u n g d. M o r d f a l l e s Seefeldt, L e i p z i g 1 9 3 7 ; Hagemann, A r t . „ P o l i z e i h u n d e " im H d K . A m r i c h t i g s t e n w o h l als sog. „ s a c h v e r s t ä n d i g e r Z e u g e " .

Der Polizeihund.

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Preußen in der staatlichen Zucht- und Abrichtanstalt für Polizeihunde in Grünheide i. M.). Zur Verfolgung von Spuren am Tatort eignen sich nur Hunde, die als F ä h r t e n h u n d e besonders erzogen wurden. Davon zu unterscheiden sind die B e g l e i t h u n d e , die zum Schutze des Exekutivorgans und zum Aufstöbern verborgener Verbrecher, Leichen usw. verwendet werden und die „auf den Mann dressiert sind". Die Entwicklung des Polizeihundewesens brachte es mit sich, daß man nunmehr diese beiden Arbeiten streng trennt und als Fährtenhunde nur solche verwendet, die überhaupt nicht als Begleithunde ausgebildet wurden und nicht auf den Mann dressiert sind. Ein U., der einen Fährtenhund anspricht, muß sich vorerst darüber klar sein, ob der vorliegende Fall für eine aussichtsreiche Arbeit des Hundes geeignet ist, denn einer solchen sind selbstverständlich gewisse Grenzen gezogen und zwar einerseits durch B o d e n b e s c h a f f e n h e i t und W i t t e r u n g und anderseits durch die inzwischen verstrichene Z e i t (das Alter der Fährte) 1 ). Was die Bodenbeschaffenheit betrifft, so ist freies Gelände (Feld, Wiese, Wald, Acker, sandiger Boden, Schnee) am geeignetsten; ungünstiger hingegen sind meistens Straßen einer geschlossenen Ortschaft, besonders asphaltierte oder betonierte Straßen, und viel begangene Fußwege, mit Kies bestreute Gartenwege und Steinboden. Feuchte Witterung (Nebel, Schnee, auch Reif in der Zwischenzeit) sind günstig, ungünstig dagegen lange Trockenheit, heftiger Wind und dadurch bedingtes Staubtreiben, ferner zur Zeit der Entstehung der Spur schon vorhandener Reif, der inzwischen verschwunden ist, und Glatteis. Leichter Regen, der in der Zwischenzeit fällt, schadet der Fährte nicht. Eine besondere Schwierigkeit für die Arbeit des Hundes entsteht naturgemäß durch die K r e u z u n g der T ä t e r f ä h r t e mit der Fährte von Personen, die mit der Tat nichts zu tun haben. Diese Schwierigkeit ist um so größer, je geringer der Zeitabstand zwischen der Entstehung der beiden Spuren ist, da gut ausgebildete Hunde sich durch eine Spur, die wesentlich älter oder jünger ist als die einmal aufgenommene, nicht beirren lassen. Für die Verwertung der Hundearbeit folgt daraus, daß das Betreten des Tatortes durch dritte Personen möglichst rasch verhindert werden muß. Es ist daher der Tatort in m ö g l i c h s t w e i t e m U m f a n g bis zum Einlangen des Hundeführers a b z u s p e r r e n . Hingegen ist das Überdecken von Täterspuren mit Holz oder ähnlichem zu unterlassen, da dadurch auch neue Gerüche entstehen, die die Arbeit des Hundes erschweren können. Aus diesem Grund darf auch kein am Tatort zurückgelassenes Werkzeug oder Kleidungsstück, an welchem der Hund Witterung nehmen könnte, aus seiner Lage gebracht oder von Menschenhand angefaßt werden. Nach Ablauf von 48 Stunden ist auch unter sonst günstigen Verhältnissen kein Erfolg mehr zu erwarten. Nur an zurückgelassenen Gegenständen des Täters (z. B. Taschentuch) kann der Hund noch nach längerer Zeit Witterung nehmen, besonders wenn der betreffende Gegenstand in der Zwischenzeit mit Wasser benetzt und in einem reinen Glasgefäß aufbewahrt wird (doch darf er hierzu nur mit einer Pinzette, nicht mit der Hand berührt werden). Groß-Seelig,

H a n d b u c h . 8. A u f l .

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226

III. Abschnitt. Die Aufnahme des Augenscheines.

Ist der Hundeführer eingelangt, so ist die weitere Arbeit diesem zu überlassen. Es ist jedoch meist zweckmäßig, wenn der U. oder ein Kriminalbeamter dem Hundeführer in größerem Abstand folgt. Dem Hundeführer sind alle Erhebungsergebnisse mitzuteilen, die ihm für die Arbeit des Hundes einen Anhaltspunkt über die Ansatzmöglichkeiten zu geben vermögen. Hingegen empfiehlt es sich nicht, daß der U. seine bloßen Vermutungen über den wahrscheinlichen Weg, den der Täter genommen hat, dem Hundeführer vorher mitteilt. Die normale Aufgabe, die dem Hund in der Regel gestellt wird, ist, an einer Fußspur eines Täters Witterung zu nehmen und diese Spur zu verfolgen. Es gibt aber auch eine „umgekehrte Spurenverfolgung", wenn z. B. ein Landstreicher, der eines Einbruchs verdächtigt ist, aufgegriffen wird, der Hund an ihm seine Witterung nimmt, nun die Spur des Mannes zurückverfolgt und so auf das Versteck im Walde stößt, in welchem der Täter die Einbruchsbeute verborgen hat. Konnte der Hund auf dem Tatort an einem vom Täter stammenden Gegenstand Witterung nehmen und stößt er auf den Täter, so verbellt er diesen; verbellt er eine bestimmte Person nicht, so ist anzunehmen, daß der Gegenstand nicht von ihr stammt. Welche geradezu unersetzlichen Dienste der Polizeihund namentlich in freiem Gelände zu leisten vermag, zeigte der im Jahre 1912 in Wien durchgeführte Straffall gegen den Lustmörder Christian Voigt. In einem Gestrüpp einer abgelegenen Stelle des Wiener Praters war die Leiche eines Mädchens gefunden worden. Der Polizeihund nahm die Spur auf und fand in einer Entfernung von etwa 500 Schritten an einer schwer zugänglichen Stelle eine Schürze, auf der ein blutiger Handballenabdruck festgestellt werden konnte. Die Untersuchung ergab, daß die Schürze dem ermordeten Mädchen gehört hatte und daß der Abdruck von Christian Voigt herrührte. Es hatte also der Hund den Hauptbeweis für die Schuld des Täters herbeigeschafft. Dieser Fall lind viele andere aus neuerer Zeit 1 ) beweisen den t a t s ä c h l i c h e n p r a k t i s c h e n W e r t des Hundes für die Verbrechensaufklärung in den für die Verwendung des Hundes geeigneten Situationen. Dieser Wert ist unabhängig von der rein t h e o r e t i s c h e n , auch heute noch nicht ganz gelösten Streitfrage über die g e r u c h s p s y c h o l o g i s c h e n und p h y s i o l o g i s c h e n Grundlagen der Arbeit des Hundes. Von welchen Gerüchen wird der Hund bei seiner Arbeit geleitet? Diese Frage wird für die verschiedenen Aufgaben, die ihm gestellt werden, auch verschieden zu beantworten sein. Der Geruch, der von einem Menschen ausströmt, setzt sich aus dem Körpergeruch und aus dem Geruch der Kleidung zusammen. Der Körpergeruch, der sowohl von den physiologischen Funktionen (Schweißdrüsensekretion, Atmung, Verdauung, Menstruation usw.) als auch von der angewandten Körperpflege (Seife und sonstigen Toilettmitteln) abhängt, ist wiederum i n d i v i d u e l l und r e g i o n a l verx)

Siehe die oben S. 223 Anm. 3 angegebene Literatur.

227

Körpergeruch und Fährtengeruch.

schieden, d. h. nicht nur die verschiedenen Menschen haben ihre eigenen Gerüche, sondern auch die Gerüche der verschiedenen Körperstellen desselben Menschen sind verschieden, da auch jede Körperstelle ihren spezifischen (bei verschiedenen Menschen ähnlich wiederkehrenden) Eigengeruch hat 1 ). Der tatsächliche Geruch einer Körperstelle ist somit die Resultierende aus diesen beiden Komponenten. Bei der Ausarbeitung der Spur b e s c h u h t e r Füße (die für den Hund leichter ist als die Ausarbeitung von Spuren barfüßiger Menschen) verfolgt der Hund aber offenbar nicht den Körpergeruch des Spurenerzeugers, sondern den spezifischen F ä h r t e n g e r u c h , der durch die jeweilige Art der Fußbekleidung (Art des Leders, des Gerbstoffes, des Schuhputzmittels usw.) bedingt ist. Anders liegt aber der Fall, wenn der Hund an einem Gegenstand Witterung nimmt, der vom Täter herrührt, und diesen dann bei Gegenüberstellung verbellt; hier entscheidet in der Tat der Individualgeruch, den jeder Mensch hat. x) V g l . Löhner, Ü b e r menschliche Individual- und Regionalgerüche, Pflügers Archiv f. d. ges. Physiologie, 202, S. 25.' Bei länger währender Ablagerung von Hautsekret gesellt sich zum eigentlichen Körpergeruch noch der Zersetzungsgeruch des Sekretes.

15

Besonderer Teil

IV. Abschnitt.

Der Sachverständige und sonstige Hilfen des Untersuchungsführers. I. Allgemeines. Die wichtigste Hilfe, welche dem U. zur Seite steht, sind die Sachverständigen, welche oft die entscheidendste Erkenntnisquelle für das richterliche Urteil bilden. Freilich steht dem U., zumal auf dem Lande, häufig nicht der beste Sachverständige zur Verfügung, aber einerseits kann er in wichtigen Fällen auch einen Sachverständigen aus der nächsten Großstadt kommen lassen oder — je nach der Art des Gegenstandes — ihm das Untersuchungsmaterial senden und andererseits vergesse er nicht, daß bei geschickter Verwendung auch Sachverständige geringerer Qualität Gutes leisten können. Ich möchte fast behaupten, daß es mitunter weniger darauf ankommt, wer, sondern darauf: wie, was und w a n n gefragt wird. Vor allem muß sich der U. darüber klar sein, wen er zu befragen hat, d. h. welche Art von Sachverständigen auszuwählen ist; weiters muß er wissen, was ihm der Sachverständige sagen kann, d. h. wo dessen Wissen schon beginnt, wo es aber auch seine naturgemäßen Grenzen hat, und endlich, wann der Zeitpunkt des Fragens gekommen ist, d. h. in welchem Momente genügendes Material vorhanden und das Suchen von anderen Daten von Überfluß ist. Er wird z. B. vollkommen unterrichtet werden, wenn er in einem bestimmten Falle Mikroskopiker befragt, während Ärzte nicht imstande sind, den Fall zu klären; es werden Jäger, vielleicht recht einfache Leute, gute Antworten geben, während die gebildeten Waffentechniker den U. in diesem Falle im Stiche lassen. Da geht es nicht mit schablonenhaftem Arbeiten, jeder Fall will seine besondere Überlegung. Was die Grenzen des Wissens der Sachverständigen anlangt, so wird ein Zuvielverlangen den U. lächerlich machen, ein Zuwenigfragen ihn wichtiger Beweismittel berauben. Ein U. ließ einen Ofen abreißen und sandte ihn wohlverpackt an die Gerichtschemiker der Landeshauptstadt mit der Frage, ob darin Banknoten verbrannt wurden, und ein Kollegium von Richtern fragte anläßlich eines Falles, in welchem es zweifelhaft war, ob Wurstvergiftung oder Arsenvergiftung vorliege, ob nicht das Arsen „von s e l b s t " in der Leiche oder gar in der Wurst „ e n t s t a n d e n " sein könnte! — Es werden aber auch jedem U. Fälle bekannt sein, in welchen Fragen schon beantwortet wurden, die dem Laien unlösbar scheinen; was man mit Hilfe der Elektrizität, der Röntgenstrahlen, der äußersten Finessen der Photographie und Mikrophoto-

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

graphie, der ultravioletten und infraroten Strahlen, der Serodiagnostik und anderer Errungenschaften noch wird leisten können, ist einfach unabsehbar. Von der größten Bedeutung für die Wahrheitserforschung ebenso wie für die Verläßlichkeit der Grundlagen des Gutachtens ist die Frage der Abgrenzung der richterlichen Tätigkeit von der des Sachverständigen 1 ). Nur zu oft zeigt die Durchsicht von Untersuchungsakten, daß zwei Personen nebeneinander und ohne Rücksicht aufeinander die Untersuchung führten, der Richter und der Sachverständige. Daraus ergeben sich manche Unzukömmlichkeiten, die namentlich in Fällen von Untersuchungen über den Geisteszustand einer Person gar nicht selten sind: während die Verantwortung des Beschuldigten in der Tatfrage vom U. niedergelegt und durch entsprechende Erhebungen überprüft wird, überläßt der U. die Frage der Zurechnungsfähigkeit vollständig dem Sachverständigen 2 ). Dieser nimmt dann die ihm gegenüber gewählte Verantwortung mitunter ganz kritiklos hin, überprüft sie bestenfalls durch die ihm o h n e W a h r h e i t s p f l i c h t gemachten Mitteilungen Bekannter oder Verwandter des Beschuldigten und durch die Ergebnisse des objektiven Befundes, der in so manchem Falle recht mager ist. Demgegenüber muß festgehalten werden, daß nur der U. alle für die Untersuchung wichtigen Tatsachen festzustellen und ihre Richtigkeit durch entsprechende Erhebungen zu überprüfen hat. Es hat daher der U. den Beschuldigten über die änamnestischen Daten zu vernehmen und dessen Behauptungen z. B. über eigene Erkrankungen und Krankheits- oder Todesfälle in der Familie durch Zeugenvernehmung und Beischaffung von Urkunden zu überprüfen, wobei ein entsprechendes Einvernehmen mit dem Sachverständigen den Rahmen des zur Begutachtung Benötigten leicht umgrenzen wird. Ohne genügend gesicherte Grundlage sollte ein Sachverständiger niemals ein Gutachten abgeben 3 ). Nicht weniger wichtig ist die genaue Unterscheidung einer wenn auch vielleicht s a c h v e r s t ä n d i g e n Z e u g e n a u s s a g e und eines Sachverständigengutachtens. Der behandelnde Arzt z. B. wird in den meisten Fällen wichtige Umstände anzuführen wissen, allein er ist a l s Z e u g e über die von ihm wahrgenommenen T a t s a c h e n zu vernehmen, die gleich wie die anderen im Befund aufgezählten von den Sachverständigen im Gutachten zu werten sind. A m häufigsten werden durch eine Verquickung zwischen Zeugenaussage und Gutachten dort Fehler gemacht, wo es sich um den Trunkenheitsgrad einer Person durch einen Beobachter handelt. Der Zeuge hat %) Vgl. Häberlin, Über die Sachverständigen im deutschen Recht, Marburg 1911; Hellwig, Suggestivfragen und Sachverständige, Archiv 61 S. 108; HofmannHaberda, Lehrbuch der gerichtl. Medizin, Wien-Berlin, 1919, Urban u. Schwarzenberg, i . B d . S. 25; Mezger, Der psychiatrische Sachverständige, Tübingen 1918. s) Gegen diese Übung auch Seelig, Die Prüfung der Zurechnungsfähigkeit Geisteskranker durch den Richter, Graz 1920. a) Aus der Mißachtung dieses Satzes ergibt sich die so häufig festgestellte Unverläßlichkeit der „Privatgutachten"; vgl. Hofmann-Haberda a. a. O. und Dück, Über Privatgutachten, Archiv 71 S. 176.

Aktenmitteilung und Fragestellung.

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nur über die Tatsache Auskunft zu geben, was, wieviel der Beschuldigte getrunken, was er dabei gegessen hat, wie sein Benehmen, sein Gang, sein Sprechen war. Die so häufig von Zeugen — namentlich Kriminalbeamten und anderen Sicherheitsorganen — gemachte „Aussage", der Beschuldigte sei zwar angeheitert, nicht aber volltrunken gewesen, ist ein Gutachten, zu dessen Abgabe der Vernommene in den seltensten Fällen berufen ist, das sich aber gerade in der Trunkenheitsfrage in vollständiger Verkennung der oft auftauchenden Schwierigkeiten nahezu jedermann anmaßt. Von einer halbwegs nennenswerten Bedeutung können solche Gutachten nur dann sein, wenn der Zeuge den beobachteten Angetrunkenen halbwegs kennt und daher Angaben über sein Verhalten dem Alkohol gegenüber zu machen weiß. Bezüglich des Zeitpunktes, wann der Sachverständige gefragt werden soll, hüte man sich, überflüssige Zeit zu verlieren, man erhebe aber vorerst alle dem Sachverständigen mitzuteilenden Umstände. Es wird oft behauptet, den Sachverständigen kümmere außer dem Objekte gar nichts: man zeigt ihm z. B. die Wunde, und nun soll er nicht bloß deren Qualität, Zeit der Heilung und ihre Folgen, sondern auch Werkzeug, Stellung des Täters und Art der Zufügung kennen. Man vergesse nicht, welche Schwierigkeiten solche Fälle bringen und wie viele verschiedene Ursachen die gleiche Wirkung haben können. Wenn dem gewissenhaften Sachverständigen alle begleitenden Umstände bekannt sind, wenn er die Zeugenaussagen gelesen hat, das mutmaßliche Werkzeug sieht usw., so wird er deshalb nicht zu einem voreiligen Schluß kommen, er wird aber die Möglichkeit aller Erwägungen haben, wird sich ein Bild von dem Vorgange machen und dann sicherer, besser und, was sehr wichtig ist, weniger behaupten, als wenn ihm die genannte Hilfe vorenthalten wird. Und je weniger er b e h a u p t e t , desto besser für den U., der dann wenigstens nicht leicht irregeführt wird. Man vergesse nicht, daß trotz oder gerade wegen des großen Fortschrittes der Wissenschaft heute weniger sicher behauptet wird als früher. Man vergleiche Lehrbücher der gerichtlichen Medizin, die vor dreißig Jahren geschrieben wurden, mit den heutigen: man wird sehen, daß die Gelehrten früher bei der geringen ihnen zu Gebote stehenden Erfahrung allgemeine Grundsätze aufzustellen sich getrauten, die heute erschüttert dastehen, weil die bekannt gewordene größere Kasuistik Ausnahmen kennen gelehrt hat, die schließlich häufiger wurden, als die sogenannten regelmäßigen Fälle. Deshalb vertraue man auch nicht seinem eigenen, immerhin lückenhaften Wissen auf irgendwelchem Gebiete; man kennt die Ausnahmen nicht und frage deshalb den Erfahrenen. Man wird bei Befolgung dieser Regel zu überraschenden Erfahrungen gelangen, denn entgegen der häufigen Überzeugung: „Ich dachte, dies sei immer so" wird der Fachmann eine Reihe von Ausnahmen aufzuzählen wissen, in welchen es „nicht immer so" ist. Man scheue sich deshalb auch nicht, Sachverständige in scheinbar zweifellosen Dingen zu befragen und den Kreis seiner

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

Experten möglichst weit zu ziehen. Ich weiß, daß es U. gibt, die jahrelang außer mit Ärzten, Chemikern, Mikroskopikern und Büchsenmachern mit keinem Sachverständigen verkehrt haben, denen es nie eingefallen wäre, mit Handwerkern und Fachgelehrten verschiedenster Art in Verbindung zu treten. Und doch kann man in dieser Weise die wertvollsten Aufschlüsse erlangen. Ich gestehe, daß ich oft Sachverständige einvernommen habe, ohne im Anfang zu wissen, was sie mir eigentlich sagen sollten. Ich ließ Messerschmiede kommen und reichte ihnen das Messer, welches zu einem Morde gedient hatte, mit der Frage, ob sie mir i r g e n d etwas zu sagen wüßten. Und die Antwort war, daß solche Messer nur im nördlichen Böhmen erzeugt werden. Dieses Moment führte zur Entdeckung des Täters. Ein Drechsler machte darauf aufmerksam, daß ein vom Täter zurückgelassener Gegenstand von jemandem gedrechselt wurde, der ein Linkshänder sei. Der leugnende Verdächtige war aus einer fernen Stadt gekommen. Dort wurde nach einem linkshändigen Drechsler geforscht, und dieser erkannte den Verdächtigen als den Käufer jenes Gegenstandes. — Sprachforscher bestimmten die Nationalität des Schreibers eines Briefes und Astronomen berechneten jenen Tag im Frühjahr, welcher in seinen Beleuchtungseffekten am Abende einem gewissen Tage im Herbste entspricht. So konnte im F r ü h j a h r e ein Lokalaugenschein vorgenommen werden, um festzustellen, ob der Täter im H e r b s t e um eine gewisse Stunde, an einem gewissen Tage dies und jenes sehen konnte und mußte. — Ähnlich war das Eingreifen von Astronomen als Sachverständige in einem amerikanischen Prozesse. Ein Mann war (Frühjahr 1910 in Nebraska) verdächtigt, eine Explosion verursacht zu haben, da er zur fraglichen Zeit von zwei Zeuginnen mit einem Handkoffer gesehen wurde. Zufällig hatte ein Amateur die aus einer (eine halbe Stunde vom Tatort entfernten) Kirche gehenden Leute, darunter die zwei Zeuginnen photographiert: Astronomen berechneten nun aus einem Schatten, den ein Mann nach der Photographie auf eine Mauer geworfen hat, mit voller Bestimmtheit (auf wenige Minuten) die Zeit der Aufnahme. Hieraüs ergab sich im Vergleich zur Zeit der Explosion, daß der (schon zu 15 Jahren verurteilte) Mann unmöglich der Täter sein konnte, so daß er in der zweiten Verhandlung freigesprochen wurde. — Eine wichtige Rolle hat einmal ein Numismatiker als Sachverständiger gespielt, als am Tatorte eines Mordes eine Georgsmünze (Vorderseite: St. Georg, Rückseite: Schiff mit Christus und den Jüngern) gefunden wurde, und ein Zeuge bestätigen konnte, daß der Verdächtige eine Münze an der Uhr hatte, auf deren einen Seite ein Schiff dargestellt war (die andere Seite hatte der Zeuge nicht gesehen). Der Numismatiker bestätigte, daß diese Münze mit höchster Wahrscheinlichkeit eine St. Georgsmünze gewesen sein muß, da sonst ein Schiff nur auf wenigen, sehr seltenen Münzen erscheint, deren Besitz dem Verdächtigen nicht zuzutrauen ist. — Bei den großen Diebstählen auf den italienischen Bahnzügen, wobei Koffer und Kisten geleert und mit Steinen gefüllt wurden, um das frühere Gewicht herzustellen, wurden der Ort der Tat und dann die Täter da-

Heranziehung verschiedener Fachleute.

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durch entdeckt, daß Mineralogen sagen konnten, wo gerade die benutzten Steine (selten vorkommende Trachyte) genommen worden sein mußten. Solche Beispiele gibt es in endloser Reihe. Es ist selbstverständlich, daß auch viele derartige Versuche, von verschiedenen Fachleuten Brauchbares zu erlangen, erfolglos bleiben werden, gleichwohl lasse man sich dadurch weder von solchen Versuchen im allgemeinen noch auch von anfänglichen Mißerfolgen im besonderen Falle abschrecken. Beschränkt man sich darauf, mit den Sachverständigen eine genaue Beschreibung und Vermessung eines Werkzeuges aufzunehmen und festzustellen, daß sonst nichts festzustellen sei, so wird freilich selten Wertvolles zutage treten. Läßt man sich aber mit dem Fachmanne, besonders wenn er ein einfacher Handwerker ist, in längere, sachliche Erörterungen ein, erzählt man ihm den Fall und macht ihm klar, um was es sich handelt, so wird nach und nach manch Brauchbares zum Vorschein kommen. Bisweilen wird man e i n e R e i h e von Handwerkern usw. zu Rate ziehen müssen, wenn man glaubt, daß aus irgendeinem Vorgange, auf eine gewisse Geschicklichkeit, also auf ein gewisses Handwerk geschlossen werden kann. Es ist nämlich auffallend, wie wenig sich Angehörige bestimmter Berufe ihrer gewohnten Hantierungen entäußern können; diese liegen ihnen so zur Hand und sind ihnen so gar nichts Auffälliges, daß sie sich nicht fürchten, dadurch entdeckt zu werden. Sie meinen, die Sache sei auch jedem anderen gewöhnlich. So wird, wenn er etwas knüpfen muß, der Weber den Weberknoten schürzen, der Müller wird so binden, wie er seine Mehlsäcke eigenartig zuknüpft, der Matrose macht den Tauknoten, der Fischer den Fischerknopf, der Fleischer bindet so, wie er den Strick an den Hörnern des Schlachttieres befestigt, und der Zigeuner, der beim Einbrüche in ein Zimmer die anderen Türen zubindet, um nicht überrascht zu werden, knüpft auch den als Knebel benützten Stock eigentümlich in den benützten Strick ein 1 ). Selbstverständlich gibt es keine besonderen „Sachverständigen im Knotenfache", da bleibt nichts anderes übrig, als einen nach dem anderen, dem man Kenntnisse zutraut, zu befragen, bis man den Richtigen gefunden hat 2 ). Solche Fälle, in denen Fachleute wichtige Hinweise geben können, gibt es in verschie') Tardieu (Schmidt's Jahrbuch 1875, 2, 179) bringt einen Fall, in welchem ein sog. Artillerieknoten wichtig wurde, und Hofmann, Gerichtl. Medizin, einen Fall von Selbstmord einer Seidenknüpferin, die den Knoten genau so schlang, wie sie ihn bei den Schalfransen gemacht hatte. Zu merken ist aber, daß die Art und Form dieser Knoten nach Zeit und Ort stark wechselt; vgl. Mueller, Ein Beitrag zur kriminalistischen Bedeutung der Berufsknoten, Archiv 91 S. 175. •) A. Griffiths erzählt in „Mysteries of Police and crime" den interessanten Fall der „Madame Henri" (der sich nach den Daten etwa 1830 in Frankreich zugetragen haben muß). Es wurden Teile eines männlichen, menschlichen Körpers, in einem Sacke geborgen, im Fluß gefunden und ein Polizist zog aus dem Umstände, daß der Sack oben zugenäht war, den Schluß, daß eine Frau die Täterin war, denn ein Mann hätte den Sack zugebunden und zugeknüpft. Diese Wahrnehmung führte auf die „Madame Henri", sobald der Körper als der ihres Gatten agnosziert war.

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

denster Richtung; ein neugeborenes Kind war durch einen Stich ins Hinterhaupt (Grenze von Kopf und Rückenmark) getötet worden — „just so, wie man ein angeschossenes Rebhuhn federt", hatte der Bürgermeister, ein erfahrener Schütze, gesagt, und in der Tat: der Mörder — der Geliebte der Kindesmutter — war ein Jägerbursche. Und in dem vielbesprochenen Falle von dem 14jährigen Kindermädchen1), welches 6 Kinder getötet hat, wurde der Verdacht auf die Mörderin gelenkt, weil man nach dem gerichtlich-medizinischen Gutachten als Werkzeug eine spitze Hutnadel annehmen konnte, wie sie das Mädchen stets trug. Können die Sachverständigen dem U. aber auch viel sagen, so hüte man sich doch davor, von den Sachverständigen, besonders von den Ärzten, zuviel und namentlich zu Bestimmtes zu verlangen. Ich will hier nicht auseinandersetzen, wie lächerlich sich der U. bei dem Gerichtsarzte macht, wenn er törichte Fragen stellt oder Sachen bestimmt beantwortet haben will, welche nach Gewissen und Wissenschaft nicht sicher erledigt werden können. Nur daran möchte ich erinnern, daß der Arzt, ebenso wie jedermann, oft den Fragenden danach beurteilen wird, wie er sich zum Fache des Befragten stellt. Er wird vom U. nicht gediegenes medizinisches Wissen verlangen, aber er erwartet wenigstens, daß der U. nicht allzu ungereimt fragt. Es wird im Arzte so leicht die Erwägung wach, wie er dazu komme, mit allem Aufwände seines mühsam erworbenen Wissens zu antworten, wenn geradezu kindisch gefragt wird. Also abgesehen davon, daß man durch ungehörige Fragen dem Arzte alle Freude zu eifriger Arbeit nimmt, kann in der Sache selbst Unheil angerichtet werden, wenn der U. durchaus Fragen beantwortet haben will, die nicht beantwortet werden können. Ich möchte immer wiederholen, daß z. B. der Richter auf dem Lande nicht allzeit die gelehrten, vielerfahrenen und mit allen Hilfsmitteln ausgestatteten Gerichtsärzte der Hauptstadt zur Seite hat, er muß oft mit jungen, alten oder weniger geübten Ärzten arbeiten. Diese können die besten Praktiker und ein Segen am Krankenbette sein, aber Gerichtsärzte in des Wortes eigentlicher Bedeutung sind sie nicht. Wer viel mit Gerichtsärzten zu tun hatte, weiß erst, welch große Anforderungen an einen guten Gerichtsarzt gestellt werden, der ja nicht nur Fachmann auf allen Gebieten ärztlichen Wissens sein muß, sondern von allen diesen Gebieten das Schwierigste kennen und überall die besondere, kriminalistische Erfahrung haben soll. Es hieße geradezu die gerichtliche Medizin, diese Schlußbilanz aus allen Posten ärztlichen Wissens und Könnens, herabwürdigen, wollte man behaupten, daß jeder beliebige Landarzt, und wenn er als solcher der beste ist, als Gerichtsarzt vollkommen verläßlich sein kann. Gerade deshalb hüte sich der U., zuviel vom Arzte zu verlangen. Es liegt zu sehr in der menschlichen Natur, lieber zu sagen „so ist es" als „ich weiß es nicht", und es wird deshalb der ungeübte Arzt manchmal dem drängenden U. bestimmte Antworten geben, welche vor dem Forum der Wissenschaft nicht standhalten; ') Bihler in Zschr. f. Medizinalbeamte 1908 Nr. 18.

Sachverständige für Kriminologie.

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gerade der größten Lehrer auf dem Gebiete gerichtlicher Medizin hat es bedurft, bis man ungescheut das ehrliche Wort aussprach: „Dies wissen wir nicht und hundert anderes auch nicht, obwohl es die Wissenschaft vergangener Jahrzehnte bestimmt zu wissen vermeinte." Eine für den U. besonders praktische Einrichtung ist der kriminologische S a c h v e r s t ä n d i g e , wie er sich in den letzten Jahrzehnten in einzelnen Städten — regelmäßig im Anschluß an ein kriminalistisches Institut der Universität oder der Polizei — mit großem Erfolg entwickelt hat. Der „Sachverständige für Kriminologie" muß selbstverständlich naturwissenschaftlich und speziell eben kriminologisch ausgebildet sein und außer über ein umfangreiches t h e o r e t i s c h e s Wissen auf allen einschlägigen Grenzgebieten1) auch über eine jahrelange kriminalistische Erfahrung verfügen — das ist das Wesentliche, nicht aber, auf welcher Fakultät er sein Doktorat gemacht hat2)! Bei Heranziehung solcher Sachverständiger hat der U. den großen Vorteil, die — oft selbst schon schwierige — Vorfrage, welcher von den sonst in Betracht kommenden Sachverständigen im konkreten Fall der zuständige ist, nicht selbst entscheiden zu müssen: im kriminologischen Sachverständigen steht ihm das aus v e r s c h i e d e n e n Zweiggebieten v e r e i n i g t e Fachwissen mit spezieller A u s r i c h t u n g auf k r i m i n a l i s t i s c h e Fragen zur Verfügung und er kann sich darauf verlassen, daß der kriminologische Sachverständige selbst am besten die (natürlich auch ihm gesteckten) Grenzen seiner Zuständigkeit kennt und selbst die Überweisung der Untersuchung an einen anderen Spezialsachverständigen beantragen wird, wenn dies nötig sein sollte8). Zum Schluß sei noch des p s y c h o l o g i s c h e n 1

Sachverständigen

) Als solche kommen in Betracht: Erscheinungslehre des Verbrechens („Kriminalphänomenologie"), womöglich mit Einschluß der Kriminalbiologie und Kriminalsoziologie, Kriminaltaktik einschließlich der Aussagepsychologie und Vernehmungskunde, ferner Spurenlehre (insbesondere die Beherrschung aller mikroskopischen, iprkrophotographischen, lichtchemischen und sonstigen Methoden der Sicherung und Deutung von Spuren aller Art, wie Staubspuren, Werkzeugspuren, Schußspuren usw., dann Daktyloskopie, Fußspuren usw.), Schriftkunde und die Lehre von den sonstigen Methoden der Urkundenuntersuchung, Dechiffrierkunde, Signalementlehre. a ) Im Großdeutschen Reich bestehen gerichtlich beeidete „Sachverständige für Kriminologie" an den Kriminologischen Instituten der Universitäten Graz und Wien, die den Hechtsfakultäten angegliedert sind; ferner erstatten das „Kriminalwissenschaftliche I n s t i t u t " an der juristischen Fakultät Köln und das „Kriminaltechnische I n s t i t u t " des Reichskriminalpolizeiamtes in Berlin kriminalistische Gutachten. An manchen deutschen Universitäten mit gerichtlichmedizinischen Instituten beziehen neuestens auch diese die „naturwissenschaftliche Kriminalistik" in ihr Fachgebiet und in ihre Gutachtertätigkeit ein. Von ausländischen Instituten, die eine solche Gutachtertätigkeit ausüben, sind zu nennen: das „Institut de police scientifique" der Universität Lausanne, das „Kriminaltechnische I n s t i t u t " an der juristischen Fakultät der Universität Stockholm und das „ I n s t i t u t für wissenschaftliche Gerichtsexpertise" an der juristischen Fakultät der Universität Riga. Vgl. auch oben S. i 6 f . Die gegenwärtig in Europa auf kriminologischem Gebiet tatsächlich tätigen Sachverständigen sind somit von Haus aus teils Juristen, teils Ärzte, teils Chemiker usw. — aber naturwissenschaftlich geschulte K r i m i n o l o g e n müssen sie alle sein! 3 ) Z. B. Überweisung an den Botaniker, wenn es sich um eine schwierige Differentialdiagnose von im Staub gefundenen Pflanzenteilen handelt.

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

gedacht, der in der Rechtspflege der letzten Jahrzehnte hie und da verwendet wurde1). Ist aber die psychologische Beurteilung des Beschuldigten oder eines Zeugen nicht eigene Aufgabe des U. und später des erkennenden Richters, eine Aufgabe, die er nicht auf einen Sachverständigen abschieben darf? In der Tat ist jede, auch die einfachste Vernehmung — wissenschaftlich gesehen — eine psychologische Untersuchung und man könnte daher auf den Gedanken kommen, zur Durchführung der Vernehmung und zur Auswertung der Aussage einen Sachverständigen für Psychologie heranzuziehen. Nun ist es aber schon aus äußeren Gründen völlig ausgeschlossen, jedem U. bei allen seinen Vernehmungen, die ja den Hauptteil seiner Tätigkeit ausmachen, einen Sachverständigen beizustellen; deshalb muß eben der U. für die Durchschnittsfälle die nötigen psychologischen Kenntnisse schon selbst besitzen und dazu bedarf er ja auch der besonders eingehenden aussagepsychologischen Schulung2). Immerhin wird es aber in Ausnahmsfällen besonders schwierige und verantwortliche Situationen geben, deren richtige Beurteilung eine Sonderausbildung und langjährige Erfahrung auf psychologischem •Gebiet erfordern — etwa bei Aussagen eines besonders problematischen Jugendlichen in der Pubertätszeit, bei merkwürdigen seelischen Erscheinungen, z. B. im Stadium der Ermüdung, oder bei Verkehrsunfällen usw.3) — und in solchen Fällen kann ein Sachverständiger, der in Fragen der forensischen Psychologie besonders erfahren ist, wertvolle Dienste leisten. Wenn ein derart ausgebildeter k r i m i n o l o g i s c h e r Sachverständiger, von dem früher die Rede war, zur Verfügung steht, so ersetzt dieser den psychologischen Sachverständigen. Sonst muß für solche Fälle ein geeigneter Mann gefunden werden, der entweder Psychologe oder Psychiater sein kann, wesentlich ist aber auch hier stets, daß er in der für kriminalistische Zwecke a n g e w a n d t e n Psychologie ausgebildet und erfahren ist — ein s o n s t i g e r Vertreter der allgemeinen Fachpsychologie, mag er auch in diesem Fach noch so tüchtig sein, hat nicht die entsprechende Einstellung zu Fragen der kriminalistischen Praxis und könnte oft nur verwirrend wirken.

2. Die Verwendung der Gerichtsärzte. Von allen Sachverständigen, an welche der U. heranzutreten hat, sind, wie schon erwähnt, die wichtigsten und am häufigsten verwendeten die Gerichtsärzte, weshalb der U. gerade mit diesen auch sonst in Berührung treten sollte. E s ist scheinbar nicht unmittelbar zur Sache gehörig und trotzdem von größter Bedeutung, in welcher Beziehung der U. zu seinen Gerichtsärzten steht. Ist diese eine rein geschäftsmäßige, *) prozeß Archiv •) ')

K. Marbe, Der Psychologe als Gerichtsgutachter im Straf- und im Zivil1926; K. Marbe, Der Psychologe als gerichtlicher Sachverständiger, 86 S. 1, I i i und 208. Siehe darüber ausführlich oben S. 7off. Vgl. oben S. 81, 104, 114, n 6 , 122, i24ff., I 3 5 f f .

Enge Zusammenarbeit mit dem Gerichtsarzt.

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äußerliche, so wird auch die Behandlung der meisten und wichtigsten Fälle, in die Gerichtsärzte einzugreifen haben, eine rein geschäftsmäßige und äußerliche bleiben. Ist aber das Verhältnis zwischen U. und Gerichtsarzt ein näheres und, durch Interesse an der gemeinsamen Sache bedingt, ein freundschaftliches, so wird auch die Behandlung der Sache durch das gemeinsame, eifrige Zusammenwirken beider Faktoren günstig beeinflußt. Freilich muß vorausgesetzt werden, daß Gerichtsarzt und U. Interesse für ihr Amt haben, denn haben sie es nicht, so sind sie ebenso bedauernswert als unbrauchbar und mögen sich etwas anderem zuwenden. Haben sie aber regen Eifer für die Sache, so kann dieser durch enges Zusammenhalten verdoppelt und durch oftmaliges Besprechen eines Falles viel zu dessen Klärung beigetragen werden. Ich erinnere mich dankbar eines verstorbenen Freundes, der zugleich mit mir an einem großen Landgerichte diente, er als Bezirks- und Gerichtsarzt, ich als Erhebungsrichter. Wir arbeiteten fünf Jahre zusammen und haben viele Fälle ihrem Ende zugeführt. Viele davon wurden stundenweit entfernt vom Gerichtsort behandelt und keiner dieser vielen Wege wurde anders zurückgelegt, als unter Belehrungen meines Freundes über gerade anhängige Fälle, oder über die Möglichkeiten, welche sich vom gerichtsärztlichen Standpunkte aus bei dem Falle ergeben könnten, der heute Gegenstand der Amtshandlung sein sollte. Fälle, an denen er als Gerichtsarzt beteiligt war, wurden von uns als gemeinschaftliches Eigentum betrachtet, und wir waren gleichmäßig bestrebt, Klarheit in die Sache zu bringen. Es ist nicht möglich zu schildern, welche Anregung, Belehrung, auch für künftige Zeit, welche Erleichterung in der Arbeit und, ich darf sagen, welcher Erfolg diesem Zusammenwirken zu danken war. Ich behaupte: wo U. und Gerichtsarzt nicht im regsten, freundschaftlichen Verkehre sind, da ist von der Tätigkeit b e i d e r , namentlich aber des ersteren, nicht viel zu erwarten. Außer den geschilderten Vorteilen, welche der U. aus dem nahen Verkehre mit seinem Gerichtsarzte schöpfen wird, ist aber namentlich der zu nennen, daß der U. so am leichtesten erfährt, wann er den Rat des Arztes einholen soll — im natürlichen, freundschaftlichen Verkehr fragt es sich begreiflicherweise viel leichter als im offiziell feierlichen Amtswege. Ich glaube, daß in vielen Fällen der Sachverständige überhaupt nicht gefragt wird, obwohl er Wichtiges sagen könnte, nur, weil der U. nicht zu ermessen vermag, wieweit das Wissen und Können des Sachverständigen, namentlich des Arztes, reicht 1 ). Das ist aber im geschäflichen Verkehre schwer, im privaten so leicht festzustellen. Daß man heute vom U. eine nicht unbeträchtliche Menge medizinischer Kenntnisse verlangt, ist bekannt genug. Am meisten wird er hiervon an seinen eigenen Fällen und aus den Belehrungen der Gerichtsärzte erwerben — aber er muß schon auch selber einiges lernen. Falls er nicht die Möglichkeit hatte, eine gerichtlich-medizinische Vorlesung zu besuchen (was in erster Linie zu empfehleij ist), m u ß er wenigstens ein Lehrbuch der gerichtl. Medizin sorgfältig studieren. Geeignete Werke aus neuerer Zeit sind: Kratter, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 2. Aufl. 1921; Haberda, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, Berlin 1927 (ersetzte die älteren Auflagen des bereits erwähnten Lehrbuches

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

In Fällen, welche den Arzt berühren können, versäume man es niemals, ihn zu fragen, wenn auch die Sache so steht, daß sie scheinbar weit über der Grenze menschlichen Wissens liegt, namentlich, wenn z.B. viel Zeit über die Tat hinweggegangen ist. So machte z. B. Liman darauf aufmerksam, daß bei der schon schwarzgrünfaulen Leiche eines aufgefundenen Mannes noch aus dem Befunde des Herzens Herzschlag, also natürlicher Tod, festgestellt werden konnte; er erwähnt auch, daß die Knochen des Königs Dagobert, als sie 1200 Jahre nach seinem Tode in St.-Denis ausgegraben wurden, noch so erhalten waren, daß man jegliche Gewalttat, die etwa an ihm verübt worden wäre, noch hätte nachweisen können, und wieviel man aus dem Mageninhalte eines Toten noch bezüglich der Zeit des Todes sagen kann, beweisen die Forschungen über postmortale Verdauung1). Ich erinnere an die 6000 Schädel in der Krypta des Klosters St. Florian bei Enns in Oberösterreich2). Diese rühren aus einer (unbekannten) Schlacht zu Ende der Völkerwanderung her und sind so wohl erhalten, daß Geschichtsforscher aus den Verletzungen der Schädel die damals gebrauchten Waffen konstruieren konnten (z. B. hat ein Schädel die Verletzung durch einen Pfeil erhalten, welcher nur auf einer Seite eine Gräte gehabt haben kann). Die Finger altägyptischer Mumien hat man so weit hergerichtet, daß man gut vergleichbare Papillarabdrücke erhielt und an der Leiche des Königs Amenhotep (f 1300 v. d. Zw.) konnte man feststellen, daß er an Arteriosklerose gestorben ist. Wäre er umgebracht worden, so hätte man dies also nach mehr als 3000 Jahren auch noch ermitteln können. So behauptet Wood Jones3), daß sich an 5000 Jahre alten ägyptischen Leichen vitale Knochenverletzungen auch heute noch als solche erweisen lassen. Wenn auch selbstverständlich so ferne abgelegene Ereignisse dem U. nichts mehr zu tun geben können, so beweist das Angeführte nur, daß man wegen der Länge der verflossenen Zeit allein niemals sagen kann, es lasse sich nichts mehr beweisen. Wir behandeln nunmehr die Verwendung der Gerichtsärzte in verschiedenen besonderen Fällen. a) In e i g e n t l i c h g e r i c h t s ä r z t l i c h e n F ä l l e n . Zu diesen gehören die Fragen bei Obduktionen, Verletzungen, von Hofmann bzw. Hofmann-Haberda); F. Reuter, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, Berlin 1933; Pietrusky und Max de Crinis, Gerichtliche Medizin und gerichtliche Psychiatrie, Berlin 1938. Als Nachschlagewerk sehr zu empfehlen ist: Handwörterbuch der gerichtlichen Medizin und naturwissenschaftlichen Kriminalistik, herausgeg. von v. Neureiter, Pietrusky und Schütt, Berlin 1940, das durch die Mitarbeit zahlreicher Fachleute Großdeutschlands den neuesten Stand der Forschung mit eingehenden Literaturnachweisen wiedergibt. ') Z. B. von C. Ferrai, Vierteljahrsheft f. gerichtl. Medizin 1901 S. 240 und Zschr. f. Medizinalbeamte 1905 Nr. 23 (durch Fäulnis kann vorgeschrittenere Verdauung vorgetäuscht werden, als dies tatsächlich der Fall war); dann : Sorge, Die Verwertung des Mageninhaltes zur Bestimmung der Todeszeit, Zschr. f. Medizinalbeamte 1904 Nr. 12. a) Alfons Müller, Die Krypta in St. Florian, Linz 1883. a) Krit. med. Journal v. 28. März 1908.

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Erhebungen für den gerichtsärztlichen Befund.

Erkrankungen, Sittlichkeitsdelikten, über Altersschwäche, Fähigkeit zu bestimmten Handlungen, Verdacht von Simulation und zahllose andere Fragen, wie sie alle Tage vorkommen. Was und wie da zu fragen ist, lehrt die Praxis nach und nach von selbst, und wenn man noch im Verlaufe der Zeit das richtige Maß des zu Fragenden einzuhalten gelernt hat, so wird man auch wahrnehmen, daß man gerade durch die richtige Einschränkung das meiste vom Gerichtsarzt erreicht. Wie erwähnt, begnüge man sich mit einer vorsichtig, mehr allgemein und nicht bestimmt gegebenen Antwort des Arztes, man frage aber auch in jedem Falle, in welchem man nur entfernt annehmen kann, daß der Arzt mehr sehen kann als der Laie. Bescheidet man sich mit einer b e d i n g t e n Antwort des Arztes, so wird man sicher in vielen Fällen dem Arzte später, wenn es sich herausgestellt hat, daß die Frage in der Tat nicht bestimmt beantwortet werden konnte, Dank dafür wissen, daß er unbestimmt gesprochen hat. Namentlich dränge man den Arzt nicht im Einhalten der ihm gegebenen Fristen. Untersucht der Arzt den Verletzten und ist es nicht zweifellos, was er zu sagen hat, so bewillige man ihm eine zweite und dritte Untersuchung. Man ist weniger Irrtümern ausgesetzt, wenn man vorläufig kein Gutachten hat, als wenn der Arzt, gedrängt durch die Ungeduld des U., ein Gutachten abgegeben hat, das er anders gefaßt hätte, wenn ihm in angemessener Zeit der Verletzte ein zweites und drittes Mal vorgestellt worden wäre. Noch wichtiger ist dies bei Obduktionen; kann der Arzt nicht sofort sprechen, so lasse man sich von ihm angeben, welcher Erhebungen er bedarf, um das zu ergänzen, was ihn die Obduktion gelehrt hat. Ich wiederhole: es ist nicht wahr, daß der Arzt nur nach dem Befunde zu urteilen habe und ihn das Ergebnis der sonstigen Erhebungen nicht berühre 1 ); der Arzt sieht im Befunde der Obduktion nur das R e s u l t a t und in vielen Fällen nicht den W e g , auf welchem dies zustande gekommen ist. Die Zahl 6 kann ebensogut das Produkt von 2 X 3 , als die Summe von 3 + 3 oder die Differenz 8—2 oder y 36 usw. sein. In den meisten Fällen ist gerade die Art, wie etwas entstanden ist, für den Fall das Wichtigste, und dies kann vielleicht nur durch den Arzt, der die A k t e n k e n n t , ersehen werden. Deshalb braucht man noch nicht zu befürchten, daß der Arzt durch diese Kenntnis irregeführt werde, denn die Schlußsumme weiß er, und wenn er durch die in den Akten enthaltenen Angaben auf falschen Weg kommen könnte, so hat er im Befunde die stete Kontrolle; er wird auch vielleicht gerade den U. auf Unrichtigkeiten in den Zeugenprotokollen usw. aufmerksam machen können. Befund und Erhebungen gehören zusammen, eines ergänzt das andere, und wenn der Arzt weiß, daß ihn der U. nicht in törichter Weise zu apodiktischen Aussagen anhält, so wird er durch die Aktenkenntnis eher zu einem um so vorsichtigeren Ausspruche als zu leichtsinnigen und voreiligen Gutachten veranlaßt werden. Sehr zu empfehlen ist der Vorgang, nach der Aufnahme des Befundes mit der Abgabe des Gutachtens bis zur Durchführung *) Vgl. schon J. Regensburg 1852.

B.

Friedreich,

G r o ß - S e e l i g , Handbuch. 8. Aufl.

System

der gerichtlichen

Psychologie, IÖ

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

der nötigen Erhebungen zu warten; damit wird die immerhin mißliche Richtigstellung und Änderung voreiliger und daher verfehlter Gutachten am besten vermieden. Außer den genannten Fällen, in welchen der Arzt alle Tage vom U. in Anspruch genommen wird, gibt es aber noch etliche, in denen er Hilfe leisten kann, und von diesen sollen einige besprochen werden. b) B e i K o n s e r v i e r u n g v o n L e i c h e n t e i l e n . Es kann häufig vorkommen, daß ein aufgefundener Leichnam infolge stark vorgeschrittener Fäulnis nicht erkennbar ist und daß die Agnoszierung auch durch besondere Eigentümlichkeiten im Körperbau usw. oder auf besondere Habseligkeiten des Verstorbenen hin nicht durchzuführen ist. Die Agnoszierung kann aber unter Umständen doch von großer Wichtigkeit sein. Nehmen wir z. B. an, es handle sich darum, festzustellen, ob ein aufgefundener Leichnam identisch ist mit einem Manne, der vor zwei Wochen in einem Gasthause gesehen wurde und den dort zwar niemand gekannt hat, den die Zeugen aber nach seinen Gesichtszügen angeblich wiedererkennen. Wenn sie sich dann z. B. an seinen Anzug nicht erinnern, seine Uhr, Geldtasche usw. nicht gesehen haben, natürlich auch nicht angeben können, ob er etwa am Oberschenkel eine Narbe oder sonstige Kennzeichen hatte, an denen er erkannt werden würde, so bleiben die Gesichtszüge das einzige Mittel, um den Betreffenden zu agnoszieren. Sind diese durch die Fäulnis derart entstellt, daß sie kein Mensch mehr wieder zu erkennen vermag, so verlange man vom Gerichtsarzte, daß er das schon von Hof mann angegebene „Regenerationsverfahren" anwende. Dieser sagt 1 ): „Der Kopf wird abgeschnitten, das Gehirn entfernt und in der Hinterhaupts- und Seitengegend des Kopfes mehrere tiefe Einschnitte gemacht; dann wird das Objekt in fließendes reines Wasser gelegt. Nach zwölf Stunden ist die grüne Verfärbung der Gesichtshaut zum größten Teile verschwunden oder verblaßt und auch die emphysematische Schwellung wird bedeutend zurückgegangen sein; hierauf wird das Schädeldach wieder aufgesetzt, die Kopfhaut zugenäht und nun der ganze Kopf in konzentrierte alkoholische Sublimatlösung eingelegt, in welcher nach weiteren zwölf Stunden die grüne Färbung und das Fäulnisemphysem vollkommen zurückgeht, so daß schließlich das Gesicht die normalen Form Verhältnisse und jenes Aussehen bietet, wie wir es bei einbalsamierten frischen Leichen beobachten. Statt Sublimat kann man auch mit gleichem Erfolge Chlorzink verwenden. Selbstverständlich hat die Möglichkeit der Rekonstruktion des Gesichtes ihre Grenzen; insbesondere ist in den Fällen, wo bereits die Haare ausgegangen sind und Defekte in der Gesichtshaut sich zu bilden beginnen, in dieser Beziehung nichts mehr auszurichten." Ich glaube, daß dieses Verfahren um so wertvoller ist, als im gegebenen Falle dann der Kopf, der nun agnosziert ist, mindestens bis zur x ) v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 9. Aufl. S. 905; in Fällen geringerer Fäulnis genügt hingegen die Leichentoilette (unten S. 382).

Behandlung unkenntlicher Leichen.

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Hauptverhandlung aufbewahrt und hier den Zeugen neuerdings vorgewiesen werden kann 1 ). — Ich habe dieses Verfahren hier angegeben, da es nicht jedem Arzte auf dem Lande geläufig sein dürfte und oft notwendig werden kann. Hierbei ist auf folgendes aufmerksam zu machen. Wenn ein solches Verfahren an Orten angewendet werden muß, die keine Wasserleitung haben, dann bleibt nichts anderes übrig, als den Kopf in irgendeinem Bache, Flusse usw. (aber nur an einer Stelle, wo d u r c h die V e r u n r e i n i g u n g des W a s s e r s k e i n S c h a d e n angerichtet wird) auszuwässern. Hierbei muß aber vorgesorgt werden, daß das Objekt durch Wassertiere (Fische, Krebse, namentlich aber die kleinen Flohkrebse) nicht Schaden leidet. Diese könnten in e i n e r Nacht den größten Teil der Haut zerstören und alle Arbeit wäre umsonst. Es empfiehlt sich deshalb, eine entsprechend große Kiste zu wählen, in deren vier Seitenteilen mehrere große Löcher geschnitten werden; über diese nagelt man dann grobe Leinwand oder, noch besser, das Geflecht eines feinmaschigen Siebes, so daß das Wasser frei ein- und ausdringen kann und doch Tieren, auch sehr kleinen, der Zugang behindert ist. Außer Sublimat und Chlorzink werden heute zu Konservierungszwecken und zur Desinfizierung, um z. B. hochgradig faule Leichen vor der Obduktion geruchlos zu machen, Formalin (Formaldehyd), Alkohol und andere Konservierungsflüssigkeiten verwendet 2 ). Ebenso von Wichtigkeit ist die Aufbewahrung von Knochenteilen bei Verletzungen. Mitunter kann die Notwendigkeit und Möglichkeit solcher Aufbewahrungen selbst dann vorkommen, wenn der Verletzte am Leben geblieben ist und wenn einzelne Knochensplitter (am häufigsten noch vom Schädel und von Röhrenknochen) entweder durch den A k t der Verletzung selbst oder den Heilprozeß oder auf operativem Wege entfernt worden sind. Die Aufbewahrung solcher Knochenteile sowie a l l e r Fragmente, die vom lebenden Menschen abgenommen wurden, muß i m m e r vom Gerichtsarzt verlangt werden, da sie früher oder später zu wichtigen Beweismitteln werden können. Besonders häufig wird die Aufbewahrung solcher Knochenteile dann notwendig werden, wenn eine Knochenverletzung vorlag, die den Tod zur Folge hatte, also wohl zumeist bei Schädelverletzungen. I n d i e s e n F ä l l e n m u ß , was schon seit langem zu geschehen pflegt, die A u f b e w a h r u n g des b e s c h ä d i g t e n S c h ä d e l s v e r l a n g t w e r d e n . Ist er frei von Gewebe und präpariert, so ist die Beobachtung der Verletzungen ungleich leichter, als wenn noch blutige Haut- und Fleischteile daran hängen, die das Beobachtungsfeld beständig unklar machen. Den reinen, bloßen Schädel kann man so oft zur Hand nehmen als es nötig ist, man kann sorgfältig und genau messen und Proben auf das verwendete Instrument machen usw. Ferner können Beobachtungen bezüglich des etwa neu Bekanntgewor*) In einem andern Fall konservierte Hofmann einmal eine Nabelschnur, die deutlich Schnitte aufwies, und zeigte sie den Geschworenen vor, um die Behauptung der angeklagten Kindsmörderin, sie sei von einer Sturzgeburt überrascht worden, zu widerlegen. *) Vgl. H. Groß, Vorgehen bei Skelettfunden, Archiv 6 S. 330. 16*

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

denen gemacht werden, was zur Zeit der Obduktion, weil Einzelheiten nicht bekannt waren, nicht geschehen ist, und endlich kann der verletzte Schädel eine wichtige Rolle bei der Hauptverhandlung spielen und manchesmal für sich allein Schuld oder Unschuld beweisen. Auf zwei Umstände sei noch aufmerksam gemacht: In Universitätsstädten besorgt der Anatomiediener das Mazerieren und Herrichten der Knochen, welche in Bausch und Bogen in den Wasserkübeln und Trockenstätten liegen. Ist nun ein forensisch wichtiger Schädel zu präparieren, so bekommt ihn mitunter auch der Anatomiediener zur Bearbeitung. Dies darf der U. unter k e i n e r Bedingung gestatten, da Verluste von kleinen Knochensplittern, Zufügung von neuen Verletzungen, ja sogar Verlust des ganzen corpus delicti und, was das Ärgste sein könnte: Verwechslungen leicht möglich sind. Für Identität und Integrität eines corpus delicti ist der U. und der beeidigte Sachverständige verantwortlich, der Anatomiediener ist keine verpflichtete Amtsperson. Ein corpus delicti verliert aber jeden Anspruch auf Verläßlichkeit und Beweiskraft, wenn es aus den Händen der Amtspersonen gekommen ist. Der U. muß also verlangen, daß jede Manipulation mit einem solchen Schädel entweder von dem Sachverständigen selbst oder seinem Arbeiter u n t e r s e i n e r A u f s i c h t gemacht wird. Ein Abtun solcher Arbeiten mit anderen Objekten ist absolut unzulässig. Einen hierher gehörigen erstaunlichen Fall erzählt der Berliner Gerichtschemiker Jeserich1). Ein Mann war durch einen Messerstich getötet worden, wodurch die Hauptschlagader im Hals durchtrennt wurde. Das Messer blieb im Schlüsselbein stecken, die Spitze brach ab und blieb fest eingekeilt im Knochen. Dieser sollte für die Hauptverhandlung präpariert werden und um ihn möglichst schön zu machen, geriet der Gerichtsarzt (ich hoffe, es war das der Anatomiediener) auf den unbegreiflichen Einfall, den Knochen samt Messerspitze Chlordämpfen auszusetzen, ohne zu bedenken, daß der Stahl hierdurch angegriffen wird, so daß ein Zusammenpassen der Spitze mit dem vielleicht später gefundenen Messer mindestens wesentlich erschwert wurde. Der zweite Umstand betrifft die Art, wie präparierte Schädel wieder instand gesetzt werden dürfen 2 ). Es ist allerdings recht instruktiv, wenn alle Teile des etwa zertrümmerten Schädels sorgfältig zusammengesucht und zusammengesetzt werden, und wenn man einerseits die Überzeugung hat, daß kein Stückchen des Schädels mehr fehlt, und anderseits beobachten kann, wie, aus welcher Richtung, mit welchem Werkzeuge usw. die Verletzung zugefügt wurde. Ich erinnere mich des Effektes, welchen ein Gerichtsarzt einmal vor den Geschworenen erzielt hat, als er den anscheinend unverletzten Schädel des Erschlagenen, den er sorgfältig mit gummiertem Zigarettenpapier zusammengeklebt hatte, zuerst vor') Technik und Verbrechen, S. 57. F 1 *) Vgl .Puppe, Die kriminalist. Bedeutung der Rekonstruktion zertrümmerter Schädel, Vierteljahrsschrift f. ger. Med., 3. Folge, 1937. Bd. 2. Supplh., 1909.

Rekonstruktion z e r t r ü m m e r t e r Schädel.

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demonstrierte und dann mit einem leichten Drucke der Hand in unzählige Stückchen zerbrach, in die der Schädel durch den tötenden Schlag zertrümmert worden war. Dies ist die r i c h t i g e A r t , wie ein verletzter Schädel zu Demonstrationszwecken vereinigt werden darf, falsch ist es aber, wenn die Schädelstücke in solider Weise zusammengefügt werden, entweder durch Leim oder in mühsamer, oft auch störender Weise durch Drahtklammern. So habe ich einmal einen Schädel gesehen, der durch zahlreiche Schläge mit dem Öhr einer Axt in viele kleine Stücke zertrümmert worden war, und den der Anatomiediener mit großem Fleiße und bestem russischen Chromleim derart zusammengekittet hatte, daß man weder die Zertrümmerung selbst, noch den Verlauf der Sprünge wahrnehmen konnte. Und was das Übelste war, es war nicht möglich, die Sache wieder gut zu machen, da sich der Leim (wegen des Chroms) selbst nach langem Liegen im Wasser nicht löste. Wie gesagt, man verlange, d a ß die K n o c h e n s p l i t t e r l e d i g l i c h an die r i c h t i g e Stelle gelegt, und mit feinem gummierten Papier festg e h a l t e n werden. Unter Umständen könnte es wichtig sein, lange vergraben gewesene und deshalb morsch gewordene Knochen zu erhalten; waren die Verhältnisse der Zersetzung günstig (z. B. sehr kalkhaltiger Boden), so kann dies in verhältnismäßig kurzer Zeit die Knochen bröselig gemacht haben. Man könnte sich in einem solchen Falle des Verfahrens bedienen, welches auch zur Erhaltung sehr mürber Knochen vorweltlicher Tiere angewendet wird, indem man sie mit einer sehr dünnen Lösung von Alkohol und Harz tränkt. c) Bei G e i s t e s k r a n k e n . Wie aus dem Zwecke dieses Buches hervorgeht und wie auch wiederholt und ausdrücklich betont wurde, soll hier der U. nur darauf aufmerksam gemacht werden, wann er den Sachverständigen zu fragen hat und wo er die Belehrung findet, um das für seinen Zweck notwendige Wissen zu finden. Es soll daher das Folgende auch nicht etwa einen Auszug aus irgendeinem psychiatrischen Kompendium darstellen, es sollen nur die Anzeichen dargestellt werden, die den U. mahnen, den Arzt zu fragen. In der Psychiatrie hat sich eine Zweiteilung des Stoffes eingebürgert: Geisteskrankheiten (Psychosen) einerseits und Psychopathien und sonstige seelische Grenzzustände anderseits. Demgemäß wird in diesem Kapitel nur von den eigentlichen Geisteskrankheiten gesprochen, die —• wenn sie zur Zeit der Tat vorliegen — regelmäßig Zurechnungsunfähigkeit des Täters begründen, und im nächsten Kapitel werden jene Erscheinungen behandelt werden, welche die Verantwortlichkeit vor dem Strafgesetz mindern oder nur unter gewissen Voraussetzungen aufheben. In diesen Fällen wird auch die Frage, ob ein Psychiater zuzuziehen sei, für den U. verhältnismäßig schwierig zu beantworten sein. Eines muß aber auch hier und besonders hier festgehalten werden. Die psychiatrische Untersuchung hat keine Nebenuntersuchung zu sein,

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

die der A r z t führt und die den U. nichts mehr angeht, vielmehr ist die Arbeit des U. mit der Übergabe der Akten an die Sachverständigen keineswegs erledigt1), sondern er hat die Beweise zu sammeln und aufzunehmen, die der Begutachtung durch die Ärzte als Grundlage zu dienen haben; es ist daher insbesondere die Sammlung der anamnestischen Daten auss c h l i e ß l i c h Sache des U.2). Ich gehe sogar weiter: dort, wo dem U. keine forensisch geübten, fachlich ausgebildeten Ärzte zur Verfügung stehen, sollte er es niemals verabsäumen, bei der Untersuchung und insbesondere bei der Intelligenzpriifung anwesend zu sein; er vermeidet zumindest, daß der Beschuldigte den Ärzten gegenüber sich dümmer stellt, als er es ist. Folgender Straffall möge meine Behauptung rechtfertigen: Ein Ochsenknecht, dessen Intelligenz gewiß nicht schlechter war als der Durchschnitt seiner Berufsgenossen es erwarten läßt, wurde der Intelligenzprüfung unterzogen. Der Arzt stellte Fragen aus Kopfrechnen, Geographie und Geschichte; er sollte u. a. die Namen aller europäischen Herrscher nennen. Das Prüfungsergebnis war natürlich ein klägliches. Da fragte ich ihn: wie er die Ochsen einspanne, wie er die Furchen ziehe, welche Landarbeit zu den verschiedenen Jahreszeiten zu verrichten sei usw. Und sieh! Der Mann wurde gesprächig, erzählte mit Eifer von allen seinen Arbeiten, klärte seine Behauptungen genauer auf und brachte gar bald — die Gerichtsärzte zum Schweigen, die nach den in verschiedenen Lehrbüchern gegebenen Beispielen ohne jede Rücksicht auf Berufsbildung und -tätigkeit ausschließlich nach der S c h u l bildung gefragt hatten. Ähnliche Fehler werden jedem Kriminalisten beim Lesen mancher Fragen der üblichen Intelligenzprüfung aufgefallen sein. Ich halte eine solche überhaupt pro foro criminali für unbrauchbar, sofern sie nicht von einem erfahrenen Gerichtsarzt vorgenommen wird, der jede Simulation geistiger Defekte sofort zu durchschauen vermag. Die Intelligenzprüfung (einschließlich der psychotechnischen Methoden der Prüfung des Kombinationsvermögens, der Aufmerksamkeitskonzentration usw.) mag vielleicht dort Berechtigung haben, wo der Geprüfte ein Interesse daran hat, nicht dümmer zu erscheinen als er ist, also z. B. bei der Untersuchung zwecks Kuratelsverhängung. Hat aber der zu Untersuchende ein Interesse daran, möglichst schwachsinnig zu erscheinen, dann liegt das Prüfungsergebnis eigentlich in seiner Hand. Die für den U. wichtigste Frage ist die, in welchen Fällen er verpflichtet ist, einen Beschuldigten oder einen besonders wichtigen Zeugen den Psychiatern vorzustellen. Es ist selbstverständlich, daß ein Tobsüchtiger, ein offenkundig Blödsinniger, ein ausgesprochen Melancholischer usw. den Gerichtsärzten überwiesen wird, dies hat man vor hundert Jahren auch getan; die Entwickelung der medizinischen und kriminolo*) Vgl. hierzu E. Mezger, Der psychiatrische Sachverständige im Prozeß, Tübingen 1918; E. Seelig, Die Prüfung der Zurechnungsfähigkeit Geisteskranker durch den Richter, Graz 1920. *) Vgl. oben S. 232.

Die Untersuchung des Geisteszustandes.

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gischen Wissenschaft verlangt aber heute, daß man sein Augenmerk auch auf solche Geisteskranke richte, die nicht für jeden Laien als solche zu erkennen sind. Nur durch die äußerste Sorgfalt und strengste Gewissenhaftigkeit können wir einen Teil jener entsetzlichen Sünden früherer Zeiten wieder gutmachen, in denen unzählige arme Geisteskranke für ihre vermeintliche Bosheit und besondere Verworfenheit oft in der grausamsten Weise bestraft wurden; umgekehrt sind aber auch die Zeiten einer jüngeren Vergangenheit vorüber, in denen ein wirklicher Verbrecher hoffen konnte, auf dem Umweg über den Psychiater aus den Maschen des Strafgesetzes zu schlüpfen. Man könnte bei genauer Betrachtung dieser schwierigen und bedenklichen Verhältnisse fast zu der Überzeugung kommen, daß ein Gutteil der Beschuldigten und so mancher Zeuge, der wichtig ist und mit seiner Aussage vereinzelt dasteht, auf seinen Geisteszustand untersucht -werden sollte. Nur Zweckmäßigkeitsgründe, die Notwendigkeit, Zeit und Geld zu sparen, halten uns davon ab, daß wir eine solche obligatorische Untersuchung einführen. Können wir dies aber schon nicht tun, so erfordert Wissenschaft und Gewissen, daß wir wenigstens nicht engherzig vorgehen, wenn uns ein Zweifel, auch der leiseste, darüber aufsteigt, ob ein Beschuldigter zurechnungsfähig ist oder nicht, daß wir auf alle Momente achten, welche einen Menschen in geistiger Beziehung verdächtig machen, und daß wir uns nicht abschrecken lassen, einen Beschuldigten nochmals den Psychiatern vorzuführen, obwohl früher einige andere ihn für gesund erklärt haben. Treten wir der Sache näher, so werden wir vor allem finden, daß auch hier der U. in gewissem, nicht unbedeutendem Grade sachverständig sein muß. Er soll wenigstens soweit unterrichtet sein, daß er, ohne allzu grobe Fehler zu begehen, weiß, w a n n er den Psychiater zu fragen hat. Es steht ihm also doch eine gewisse Vorentscheidung zu, welche immerhin erst den Stein ins Rollen bringt. Hat der U. die Psychiater herangezogen, so ist die Verantwortung mit auf ihre Schultern übertragen. Um aber die hierbei einzuhaltende Grenze zu finden und nicht allzuviele überflüssige Untersuchungen zu veranlassen, wird er gezwungen sein, sich ein gewisses Maß Von Kenntnissen zu erwerben. Daß dies nicht leicht ist, soll gerne zugestanden werden, aber das Amt des U. ist überhaupt nicht leicht und seine Schwierigkeit besteht darin, daß er sich viele, ihm anfänglich fremde Kenntnisse erwerben muß. Der Wege, wie sich der U. die nötigen Kenntnisse, die er in diesem Falle braucht, aneignen soll, gibt es mehrere. Vor allem ist es nötig, daß er ein Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie genau studiert; so sauer dies auch anfangs gehen mag, findet man sich nach einiger Zeit doch hinein, namentlich, wenn man sich der Anleitung von Seite eines Sachverständigen erfreut, der die in Betracht kommenden Werke angibt 1 ) und über die größten Schwierigkeiten beim Verständnisse hinweg*) Als solche Werke seien (in chronologischer Reihenfolge der letzten Auflagen) genannt: Krafft-Ebbing, Gerichtliche Psychiatrie, Stuttgart 1903

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I V . A b s c h n i t t . Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

hilft. Das Erlernte bliebe aber totes Material, ließe man es dabei bewenden; ist es dem U. mit seinem Berufe ernst, so bleibt nichts anderes übrig, a l s s i c h auf die S c h u l b a n k z u s e t z e n u n d e i n i g e S e m e s t e r l a n g V o r l e s u n g e n ü b e r G e i s t e s k r a n k h e i t e n z u h ö r e n 1 ) . Nur wenn man am lebenden Objekte die einzelnen Fälle demonstriert sieht und erklärt hört, ist man imstande, das aus den Büchern Gelernte wirklich in der Praxis mit Nutzen zu verwerten und namentlich die beschriebenen Erscheinungen auf das richtige Maß zu bringen. Auch die besten Lehrbücher vermögen es nicht, dem Leser ein Verständnis dafür beizubringen, w e l c h e n G r a d e i n e r E r s c h e i n u n g der V e r f a s s e r m e i n t . Hört man von „wirrem Blick", „ungeordneten Reden", „langsamem Besinnen" und hundert anderen ähnlichen Ausdrücken, so wird der Laie regelmäßig hierunter zuviel oder zuwenig verstehen, d. h. er wird entweder ein unbedeutendes, konfuses Schauen, wie es auch bei normalen Menschen vorkommen kann, schon als verdächtigen „wirren Blick" auffassen, oder aber er wird vermeinen, daß zu diesem Begriffe ein entsetzliches Augenrollen usw. gehört, und wird manchen wirklich psychopathischen „wirren Blick" noch als normal ansehen. Was diesfalls richtig ist, das kann ihm nur der Irrenarzt am lebenden Materiale zeigen, nicht im Buche sagen. Das Lehrreichste für den U. sind seine eigenen Fälle, bei denen er sieht, wie der Arzt den Patienten untersucht, wo er sich auf manches aufmerksam machen lassen kann und dann das Elaborat der Sachverständigen zur Einsicht bekommt. Wenn der U. dies nur so benutzt, daß er die letzten Zeilen der mühevollen Arbeit durchsieht, nur prüft, ob dort steht: „geisteskrank im Sinne des Gesetzes" oder nicht, und diese Worte mit Rotstift unterstreicht, dann wird er freilich weder aus diesem Gutachten noch aus tausend anderen Nutzen ziehen. Wie leicht könnte er aber daraus lernen! Das Gutachten behandelt einen Fall, den der U. vom Anfange an in der Hand hatte, er erhielt den Patienten als „gesund", er sah die ersten Spuren des Zweifels in sich entstehen, er weiß, was er selbst über die Sache im allgemeinen und über jedes einzelne Symptom gedacht hat. Nun bekommt er das eingehende Gutachten der Sachverständigen, worin er das von ihm selbst als Laie Gesehene fach(zu seiner Zeit bahnbrechend); A. Cramer, Gerichtliche Psychiartie, Jena 1908 (als Unterrichtsbuch hervorragend geeignet, wenn auch heute in klinisch-psychiatrischer R i c h t u n g überholt); Weygandt, Forense Psychiatrie, Sammlung Göschen I. B d . 1908, II. B d . 1922; Hübner, Lehrbuch der forensischen Psychiatrie für Juristen und Ärzte, Bonn 1914; Raecke, Gerichtliche Psychiatrie, Berlin 1 9 1 9 ; R. Michel, Lehrbuch der forensischen Psychiatrie, Berlin 1931 (als Unterrichtsbuch ohne Literaturangaben g u t verwendbar); Hoche, Gerichtliche Psychiatrie, Berlin 1934 (ausführliches H a n d b u c h ) ; Pietrusky und Max de Crinis, Gerichtliche Medizin und gerichtliche Psychiatrie, Berlin 1938 (ein kurzgefaßtes Lehrbuch). x) Zu diesem Zwecke werden an einigen Universitäten eigene Vorlesungen über gerichtliche Psychiatrie f ü r J u r i s t e n gelesen; besonders lehrreich sind solche Veranstaltungen, wenn sie v o n einem Psychiater und einem Strafrechtler g e m e i n s a m gehalten und nach der Vorweisung jedes kriminellen Geisteskranken die medizinischen u n d die rechtlichen Folgerungen besprochen werden. Solche Lehrveranstaltungen g a b es an der Grazer Rechtsfakultät schon im Jahre 1917.

Anzeichen f ü r geistige Erkrankung.

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männisch geschildert und erklärt findet und daran seine eigene Auffassung korrigieren kann. Bleiben ihm einzelne Momente unklar und zweifelhaft, so hat er die Möglichkeit, sich Aufklärung und Belehrung vom Sachverständigen zu verschaffen und ist so in die Lage versetzt, daß er an einigen Fällen seiner Praxis erlernt, wie er die Sache in Zukunft anzupacken hat. Freilich ist da vorausgesetzt, daß er den Patienten beobachtet, das Gutachten sorgfältig studiert, den Sachverständigen um Erklärungen ersucht und einschlägige Fälle aus der Literatur nachgelesen hat. Bedeutende Fachmänner haben versucht, dem U. die Beurteilung der Frage, wann er den Psychiater zu fragen habe, dadurch zu erleichtern, daß sie jene Kennzeichen aufzählen, die jeder Laie beobachten kann und die den Verdacht einer Psychose rege machen. Als solche Anzeichen, bei denen der U. den Arzt zu Rate ziehen sollte, sind zu nennen 1 ): 1. erbliche Belastung — wenn es also bekannt wird, daß Eltern oder sonstige Verwandte (auch Kinder) des Verdächtigen geisteskrank oder hochgradig trunksüchtig waren oder durch Selbstmord endeten; 2. Schädlichkeiten, die das Gehirn betreffen (Kopfverletzungen, schwere Krankheiten mit Gehirnaffektionen usw.); 3. Neurosen (Epilepsie, hochgradige Hypochondrie, Hysterie usw.); 4. schwerer Alkoholismus; 5. gewisse körperliche Krankheitserscheinungen (Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Schwindel, Krämpfe, Lähmungen, Zitterzustände); 6. Halluzinationen (z. B. Hören von Stimmen); 7. Wahnideen, an denen der Verdächtige unkorrigierbar festhält; 8. besonders geringe Intelligenz; 9. typische Periodizität gewisser psychischer Erscheinungen (z. B. depressiver Verstimmungen); 10. sonderbare Schreibweise. Schon v. Kraft-Ebbing*) hob hervor, daß die Tat eines Wahnsinnigen ganz gut ein Motiv haben kann wie die Tat eines geistig Gesunden. Auch die Frage, ob die Tat im Leben des Täters isoliert dasteht, ist für sich allein nicht entscheidend, da dies auch bei geistig Gesunden vorkommt; umgekehrt ist vorausgegangene Überlegung, List, kluge Berechnung mit Geisteskrankheit keineswegs unverträglich, ebenso nicht Strafbarkeitsbewußtsein und Reue nach der Tat oder scheinbar „ganz verständiges Sprechen". Auch im Wahnsinn findet sich Methode und Logik. Nebenumstände, die mit dem Zweck der Tat in keinem unmittelbar verständlichem Zusammenhang stehen: z. B. besondere Grausamkeit, überflüssige Zerstörungen usw. sind stets zu beachten. Ferner ist der objektive Tatbestand besonders dann mit aller Genauigkeit festzustellen, wenn Selbstanzeige eines verschlossenen, melancholischen Menschen vorliegt, da auch falsche Selbstanzeigen vorkommen. Umstände, die den Verdacht einer geistigen Störung erregen können, sind es auch, wenn Verbrechen gegen geliebte Angehörige, Freunde, das Staatsoberhaupt usw. begangen *) Vgl. hierzu kranker durch den lichen Handlungen 2) Grundzüge

auch Seelig, Die P r ü f u n g der Zurechnungsfähigkeit GeistesRichter, Graz 1920 S. 36f. und Zingerle, Die gemeingefährder Geisteskranken, Graz 1924 S. 2 5 f f . der Kriminalpsychologie für Juristen, S t u t t g a r t 1882.

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

oder geplant wurden, ohne daß ein Grund vorliegt; wenn der Täter seine Handlung selbst möglichst arg darzustellen sucht, wenn er eine gewisse Apathie gegen sonst ergreifende Vorgänge zeigt, wenn er auffallend gereizt und heftig, redselig oder schweigsam ist, oder wenn er behauptet, von der Tat selbst nichts zu wissen (in solchen Fällen ist nicht zu vergessen, daß bei transitorischem Irresein eine vorübergehende Aufhellung des Bewußtseins mit vollkommenem klaren Sprechen mitten in wirklicher Bewußtlosigkeit eingeschoben sein kann). Verdächtige Umstände sind weiters : tiefgehende, unmotivierte Änderung imWesen und Charakter, plötzlich auftretende Neigung zum Trinken, Vagabundieren oder geschlechtlichem Exzeß, Abnahme des Gedächtnisses, rasche geistige Ermüdung, Nachlässigkeit im Berufe, feindliches, mißtrauisches, gereiztes Benehmen, unbegründete Eifersucht, Klagen, von allen Menschen verfolgt oder bedroht zu werden, ebenso Klagen, von sonderbaren Gedanken geplagt zu werden, plötzlich auftretende übertriebene Religiosität, selbst ausgesprochene Befürchtungen, daß etwas Schreckliches passieren werde, mit vagen Andeutungen des bevorstehenden Unglückes, Bedrohung der Umgebung und Selbstmordversuche. Zu beachten ist auch, ob die Altersperiode, in der sich der Beschuldigte befindet, besonders zur Tat disponiert, z . B . bei gewissen Unzuchtsdelikten im beginnenden Greisenalter, oder Verleumdungen und eingebildeten Verbrechen zur Zeit der Pubertätsentwicklung; weiters bei Frauen, ob Schwangerschaft, Menstruation, Klimakterium vorlag1). Besonders möchte ich auf die oben erwähnte „sonderbare Schreibweise" aufmerksam machen2). Diese hat deshalb für den U. besondere Bedeutung, weil er sie oft leichter beobachten wird als der Irrenarzt und jedenfalls eher eine Abnormität in der Schreibweise als etwa im Gesichtsausdrucke wird entdecken können. Der U. hat soviel zu lesen, was geistig Gesunde geschrieben haben, daß er hierin große Übung erhält und etwas vom Gewöhnlichen Abweichendes als erster wird wahrnehmen können. Gewisse Arten von Geisteskranken schreiben überhaupt gerne, namentlich aber dann, wenn sie menschenscheu geworden sind, weil sie durch einen Brief, eine Eingabe persönlichen Verkehr ersetzen können. Freilich kommen manche Leute mit Verfolgungswahn auch persönlich zu Gericht, weil sie sich da noch am sichersten wähnen; jeder Kriminalist hat seine unglücklichen „Stammnarren", welche von Zeit zu Zeit um ihren Prozeß, ihre Erbschaft, die Bestrafung ihrer Feinde usw. fragen kommen, mitunter wollen solche Leute aber um keinen Preis zu Gericht gehen, weil sie befürchten, eingesperrt, betrogen oder geköpft zu werden. Diese ziehen es dann vor, schriftliche Beschwerden einzureichen. Solche Anzeigen über eingebildete, nie begangene Ver*) Siehe unten S. 276 f. *) Vgl. A. Erlenmeyer, Die Schrift, Grundzüge ihrer Physiologie und Patho* logie, Stuttgart 1879; Köster, Die Schrift der Geisteskranken, Leipzig 1903; Kraepelin, Psychiatrie, 8. Aufl. I. Bd. Leipzig 1909 S. 423ff.;Preyer, Psychologie des Schreibens, Leipzig 1912 S. 205ff.; Unger, Geisteskrankheit und Handschrift, Zschr. f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie 152 S. 570 (1935).

Schriftstücke Geisteskranker.

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brechen laufen bei allen Gerichten ein und haben schon oft unangenehme Verwirrungen angerichtet, wenn man sich, verleitet durch den scheinbar vernünftigen Inhalt, zu raschen Amtshandlungen entschlossen hat. Da man nun, namentlich wenn die Sache recht dringlich gemacht wurde, nicht immer Psychiater zur Hand hat, denen man die Anzeige zur Prüfung vorlegen kann, so muß man selbst zusehen und selbst sich einigen Blick für solche Schreibereien erwerben. Eingaben von Narren gibt es in allen Registraturen und jeder etwas geübte Registrator wird solche zu finden wissen; solche E i n g a b e n lese der j u n g e U. mit A u f m e r k s a m k e i t und suche das Charakteristische in ihnen zu finden. Es kann nicht erschöpfend beschrieben werden, worin das Eigentümliche und Unterscheidende dieser Schriftstücke gelegen ist, es muß herauseftipfunden werden; nur einzelne Merkmale kann man nennen. Vor allem ist es wesentlich, daß diese Eingaben meist langatmig sind und immer wieder auf dasselbe Moment zurückgreifen; mitunter kommen Übertreibungen vor, welche sofort das Unwahrscheinliche der Anzeige hervortreten lassen (z. B. Anzeiger liege mit gespaltenem Schädel da, oder er sei seit einem Vierteljahre eingesperrt und bekomme täglich nur ein Stück Brot usw.). Häufig ist der Satzbau verwickelt, unverständlich und geschraubt, häufig aber auch abgerissen und nur aus kurzen Sätzen bestehend, nie aber natürlich. Am auffallendsten ist der Umstand, daß sich der Geisteskranke, der gerne schreibt, fast immer absonderlich gebildeter Worte, oft von großer Länge, bedient, die ihn sofort verraten. Aus solchen Schriftstücken, die mir zu Gebote standen, erwähne ich nur beispielsweise: „Fortwährende Beobachtetwerdens-Fatalität" — „ich bitte um Untersuchungs-Gefälligkeit" — „diese großartigen Grobheitsauftürmungen" — „mein Ochse litt an einem eingetretenen KlauennagelVerschwärungsgeschwür" — „der Richter hat mir schon mit meinen Feinden ein Einverständnisgesicht" usw. Freilich kommen derart auffallende Wortbildungen nicht immer vor. Hingegen finden sich bei schweren geistigen Störungen, die mit einem Zerfall der Persönlichkeit einhergehen (z. B. Schizophrenie, progressive Paralyse, Altersblödsinn u. a.) oft typische Veränderungen des Schriftbildes selbst: die Schrift wird auffallend klein oder übermäßig groß, Buchstaben werden ausgelassen oder auch öfters hintereinander wiederholt und schließlich tritt eine Ataxie der Schreibbewegungen ein, die zu Buchstabenverzerrungen und Zeilen Verstrickung führt1). Aber noch eines: nicht alles was ein Geisteskranker sagt oder schreibt, ist unwahr, so manche A n z e i g e , auch eines n o t o r i s c h V e r r ü c k t e n v e r d i e n t eine Erhebung 2 ). Es kommt oft vor, daß die Leute den Umstand, daß einer geisteskrank ist, zu ihrem Vorteile ausnützen und annehmen: „Dem Narren glaubt man ohnehin nicht"; ist dies der Fall, so wird der Unglückliche wirklich vogelfrei und der Ausbeutung, Quälerei und Mißhandlung schlechter oder boshafter %)

Vgl. unten Abschnitt X V . Wallner, Strafanzeigen psychisch abnormer Personen, Archiv 35 S. 249.

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I V . A b s c h n i t t . Der Sachverständige und sonstige H i l f e n usw.

Menschen preisgegeben, zumal wenn die Leute wahrnehmen, daß wiederholte Anzeigen des Irrsinnigen keinen Glauben fanden. Der U. hat unbedingt die Pflicht, über jede Anzeige eines Geisteskranken doch jedesmal erheben zu lassen, ob nicht diesmal wirklich etwas Wahres an der Sache ist, wenn sich das angezeigte Leid auch schon wiederholt als ein eingebildetes herausgestellt hat. Die Erfahrung lehrt, daß der Großteil der Wahnideen auf realer Grundlage beruht; namentlich bei Querulantenwahnsinn ist festzustellen, daß dem Erkrankten zumindest einmal wirklich Unrecht geschah. Ich erinnere mich übrigens eines Falles, in welchem ein verrückter, alter Bauer unzählige Eingaben bei Gericht gemacht hatte, in welchen er behauptete, daß „seine Feinde" ihm vor dem Hause oder auf seinen Wegen Fanggruben, Fallen und sonstige Vorrichtungen errichten, durch die er getötet oder verletzt werden sollte; viele dieser Eingaben waren mit recht anschaulichen Zeichnungen über die behaupteten Maschinen usw. versehen. Diese Eingaben waren auch in der Bevölkerung bekannt und einmal machten sich die Dorfburschen den rohen Faschingsscherz, vor der Haustür des Narren richtig eine mit Mistjauche gefüllte Fallgrube zu errichten; der Arme stürzte hinein und wäre beinahe darin ertrunken. Bezeichnenderweise zeigte er den Vorfall zwar an, stellte ihn aber viel harmloser dar, als er nach den Erhebungen tatsächlich gewesen ist. Es kommt auch häufig vor, daß Geisteskranke als Zeugen namhaft gemacht werden; sie sind, soweit das Gesetz ihre Vernehmung zuläßt, nicht kurzweg von der Hand zu weisen und können oft gute Dienste leisten. Man hat wiederholt die Beobachtung gemacht 1 ), daß Geisteskranke, namentlich gewisse Arten, vortreffliche Beobachter sind und daß sie sich durch Nebenrücksichten weniger hindern lassen, die Wahrheit zu sagen, als geistig Gesunde; sie haben auch oft mehr Gelegenheit etwas zu sehen, da man sich vor dem „Narren" nicht scheut, manches zu tun, was man vor anderen sorgfältig verbirgt. Daß der Verwertung der Aussage eines Geisteskranken eine besondere sorgfältige Untersuchung ihres Zustandes vorausgehen muß, ist wohl selbstverständlich. In unseren Bergländern haben wir oft Gelegenheit, die Verläßlichkeit und gute Beobachtung von Kretins wahrzunehmen, die mitunter nur durch Zeichen, aber richtig, das Erlebte darstellen. Gerade vor diesen „geniert" man sich am wenigsten und begeht in ihrer Gegenwart häufig recht bedenkliche Dinge. Bezeichnend ist hierfür die oft beobachtete Tatsache, daß die Leute kein Bedenken tragen, sich in Gegenwart eines Kretins des anderen Geschlechtes zu entblößen, die Notdurft zu verrichten, ja sogar den Geschlechtsakt zu vollziehen — er wird wie ein Tier gewertet, und erlebt so mehr wie ein Vollsinniger. Der U. wird sich namentlich dann zu bemühen haben, von dem „Narren" oder dem „Dorftröttel" Auskunft zu erhalten, wenn dieser das Opfer eines Verbrechens geworden ist. l ) V g l . Cramer, Über Zeugnisfähigkeit abnormer Personen, A l l g . Zschr. f. Psychiatrie 65 H e f t 3.

Psychische Grenzfälle.

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Geistig Abnorme wirken mitunter auch suggestiv auf ihre Umgebung: ebenso wie die Befriedigung gewisser körperlicher Bedürfnisse (Essen, Trinken, Schlafen, Rauchen, Husten, Gähnen, Urinieren usw.) zur Nachahmung reizt1), so können auch Handlungen von Geisteskranken bei geistig normalen Leuten den Trieb zur Nachahmung erwecken (sog. „induziertes Irresein"). Im erhöhten Maße sehen wir dies bei der Übertragung hysterischer und epileptischer Anfälle und bei den epidemisch auftretenden „Massenpsychosen", wie sie namentlich in früherer Zeit so häufig waren. Aber auch die Nachahmung einer einzelnen Handlung eines Geisteskranken kann häufig vorkommen, namentlich bei jüngeren Leuten, die sich längere Zeit in der Gesellschaft des Kranken befunden haben. Die früher viel erörterte Frage des sogenannten „moralischen Schwachsinns" (moral insanity)2) und der „Manien" (Kleptomanie, Pyromanie usw.) sind mit dem Fortschritt der psychiatrischen Erkenntnis in allgemeinere Problemstellungen aufgegangen: es handelt sich hierbei nicht um eigene Geisteskrankheiten, sondern um Teilersclieinungen aus dem Symptomenkomplex sonstiger Psychosen, Psychopathien oder sexueller Perversionen3). d) Bei P s y c h o p a t h e n , P e r v e r s i o n e n und p s y c h i s c h e n Grenzfällen. Zwischen dem Gebiet der eigentlichen Geisteskrankheiten und dem voller Gesundheit liegt das weite Gebiet der „psychischen Grenzfälle". Wir verstehen darunter von der Norm abweichende psychische Erscheinungen, die nicht Ausfluß einer Geisteskrankheit im engeren Sinn sind. Handelt es sich dabei um D a u e r z u s t ä n d e , die auf angeborenen Dispositionen beruhen, so nennen wir ihre Träger abnorme Persönl i c h k e i t e n oder P s y c h o p a t h e n ; so erklärt sich die in der Psychiatrie heute übliche Zweiteilung in „Psychosen" (eigentliche Geisteskrankheiten) und „Psychopathien". Zeigt sich die Abweichung von der Norm in einer sexuellen Disposition, die nicht auf das natürliche Ziel des Geschlechtstriebes, den Koitus zwischen Mann und Frau, gerichtet ist, so sprechen wir von Perversion. Die Begriffe Psychopathie und Perversion kreuzen sich: viele Perversionen entwickeln sich auf dem Boden einer allgemeinen Psychopathie, es gibt aber auch sexuell Perverse, die — abgesehen von ihrer geschlechtlichen Abwegigkeit — nicht als Psychopathen angesehen werden können. Ähnliches gilt vom chronischen Alkoholismus, der häufig, aber nicht immer, Teilerscheinung einer Psychopathie ist. Zu den „psychischen Grenzfällen" gehören aber auch v o r x) Über Suggestion im allgemeinen siehe oben S. 106 ff.; vgl. auch H. Groß, Kriminalpsychologie, 2. Aufl., Leipzig 1905 S. 664 (Angabe der älteren Literatur). 2) Vgl. Berzi, Über die sog. Moral insanity und ihre forensische Bedeutung, Archiv 30 S. 123. 8) Uber scheinbare Pyromanie s. unten im Kapitel „Heimweh" S.289f., über „Kleptomanie" von Warenhausdiebinnen unten S. 277 (Einfluß weiblicher Geschlechtsfunktionen), von Fetischisten unten S. 268 (sexuell Perverse).

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

ü b e r g e h e n d e psychisch-abnorme Erscheinungen sonst gesunder Menschen, z. B. im Zustand der Schlaftrunkenheit u. ä. In allen diesen Fällen liegt keineswegs immer Zurechnungsunfähigkeit für die daraus entsprungenen kriminellen Handlungen vor. Oft ist zwar die ethisch-rechtliche Verantwortlichkeit gemindert, dafür aber die soziale Gefährlichkeit erhöht (sogenannte „vermindert Zurechnungsfähige", bei deren Besträfung der Richter die zusätzliche Anordnung sichernder Maßregeln 1 ) in Erwägung ziehen wird). In manchen Fällen wird die Verantwortung nur für bestimmte Verhaltungsweisen oder für Handlungen in einem bestimmten Augenblick auszuschließen sein (sogenannte „relative Zurechnungsfähigkeit"). Gerade in diesen schwierigen Fällen ist die Heranziehung eines psychiatrisch u n d kriminalbiologisch geschulten Sachverständigen besonders wichtig. Zur verständnisvollen Heranziehung eines solchen Sachverständigen bedarf aber der U. selbst gewisser Vorkenntnisse und deshalb seien im folgenden einige Hinweise, aber keineswegs eine erschöpfende Darstellung der hierher gehörenden Erscheinungen gegeben. Wir beginnen mit den Psychopathien und zwar mit deren wichtigsten, der Epilepsie und der Hysterie; über die pathologische Lügesucht der psychisch-abnormen Schwindler wurde schon oben in anderem Zusammenhang 2 ) gesprochen. 1. Epileptiker. Die Fallsucht (Epilepsie) hat ihren Namen von ihrem Hauptsymptom: dem Anfall, bei dem der Kranke zu Boden stürzt. Über die nähere Erscheinungsform dieses epileptischen Anfalles, der vom hysterischen Anfall 3 ) zu unterscheiden ist und öfters auch simuliert wird, und über Hilfeleistung im Amtszimmer wird — um Wiederholungen zu vermeiden — im Kapitel über das Vortäuschen von Krankheiten gesprochen werden 4 ). V o r , w ä h r e n d und n a c h dem Anfall besteht regelmäßig ein psychischer „Dämmerzustand"; manche Epileptiker erleben aber solche Dämmerzustände auch an S t e l l e eines Anfalles, gewissermaßen als dessen „Äquivalent", und gerade solche Zustände sind oft nicht leicht erkennbar. Die Epilepsie besteht aber nicht nur in diesen Anfällen oder deren Äquivalenten, sondern bedeutet auch eine Anomalie der Persönlichkeit überhaupt: fast jeder Epileptiker ist reizbar, lügt oder frömmelt. Hier bestehen fließende Übergänge zur Gesundheit, denn es gibt auch Menschen, die nicht an eigentlicher Epilepsie leiden, aber eine biologisch verwandte Charakterartung aufweisen (epileptoide Persönlichkeiten). Ein Epileptiker k a n n zurechnungsfähig sein, muß es *) Im Deutschen Reich eingeführt durch das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher vom 24. Nov. 1933, RGBl. 1 S. 995. Komm. Ausgabe von L. Schäfer, O. Wagner und J. Schafheutie, Berlin 1934. Auf die Problematik dieser Lösung wies schon vorher Wilmanns, Die sog. verminderte Zurechnungsfähigkeit, Berlin 1927, hin. a) S. 155 ff.; über Psychopathen überhaupt vgl. S. 156 Anm. 2 und 178 Anm. 1. s) Siehe unten S. 257. 4) VI. Abschnitt, 3b.

Epileptiker als Beschuldigte und Zeugen.

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aber nicht sein. Unzurechnungsfähig ist der Epileptiker während des Anfalles; aber auch vorher und nachher oder während eines Anfalläquivalentes kann sein Zustand ein derartiger gewesen sein, daß eine Verantwortlichkeit vor dem Gesetz ausgeschlossen erscheint. Es wird daher immer auf die Feststellung Gewicht zu legen sein, ob der Beschuldigte um die Tatzeit an einem Anfall gelitten hat oder unter dem Eindruck eines kommenden oder vorhergegangenen Anfalles gestanden ist, wobei naturgemäß bei einem Affektdelikt die Zurechnung eher auszuschließen sein wird als z. B. bei einem Eigentumsdelikt mit nachfolgender Verwertung der angeeigneten Gegenstände. Häufig kommt es auch vor, daß der Epileptiker in der Erwartung eines Anfalles zum Alkohol greift, so daß bei der bekannten Intoleranz der Epileptiker gegen Alkohol nur allzuleicht eine Berauschung eintreten kann; jedoch auch ein solcher „pathologischer Rauschzustand" schließt zwar die Verantwortlichkeit für die in ihm begangenen Handlungen aus, ist aber selbst dann keineswegs unverschuldet, wenn der Betreffende aus Erfahrung weiß, daß er schon bei kleinen Mengen Alkohol abnorm reagiert. So viel über die Stellung des Epileptikers als B e s c h u l d i g t e n , woraus sich ergibt, daß in allen Fällen, in welchem bei einem solchen Epilepsie vorliegt oder auch nur vorliegen kann, unbedingt der Arzt gefragt werden muß. Die Entscheidung über die Verantwortlichkeit steht aber selbstverständlich dem Richter zu, der sich unter Anleitung des ärztlichen Gutachtens darüber selbst ein Urteil zu bilden hat. Besonderer Beachtung bedarf aber der Epileptiker auch als Zeuge, denn als solcher muß er fast ausnahmslos abgelehnt werden1). Der Grund hierfür liegt darin, daß der Epileptiker, wie erwähnt, stets leicht lügt, daß er häufig Erinnerungslücken aufweist, die er falsch ausfüllt, und daß er, besonders nach einem Anfall, äußerst suggestibel ist; außerdem hat ein solcher Kranker oft Sinnestäuschungen und Halluzinationen, er kommt rasch in seiner Intelligenz herunter, verträgt keinen Alkohol und ist infolge seines Zustandes oft in der Lage, verheimlichen und lügen zu müssen, so daß seinen Aussagen kaum zu trauen ist. Auch die Neigung zu Gewalttätigkeiten, die Epileptiker in der Regel aufweisen, veranlaßt sie zu Lügen, durch die sie den Hergang ihres gewalttätigen Auftretens zu beschönigen suchen. Wenn daher Verdacht besteht, daß ein Zeuge an Epilepsie leidet, so ist er unbedingt der gerichtsärztlichen Untersuchung zuzuführen. 2. Hysterie. Es darf behauptet werden, daß unter allen Psychopathien keine leichter den U. zu Irrungen verführen, keine ihm so viele Schwierigkeiten bereiten kann als die Hysterie. Sie ist viel verbreiteter, als man 1 ) Vgl. — außer der allgemeinen forensisch-psychiatrischen Literatur —• speziell: Gudden, Über eine gewisse Form v o n Erinnerungslücken und deren Ersatz bei epileptischen D ä m m e r z u s t ä n d e n , Archiv 27 S. 346; Margulies, Suggestibilität i m postepileptischen Zustande, Archiv 28 S. 73; Gottlob, Zur Eidesund Zeugnisfähigkeit der Epileptiker, Allg. Zschr. für Psychiatrie Bd. 53 H e f t 5.

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

annimmt, kündigt sich in ihren leichten Formen kaum ausdrücklich an und tritt selbst bei ausgesprochenen Fällen oft wechselnd und nicht allgemein kenntlich auf, so daß Fehlgriffe, Irrtümer und formelle Ungerechtigkeiten in unabsehbarer Menge entstanden sind, die auf Rechnung der Hysterischen zu setzen sind. Der alte Satz: Quävis hysterica mendax ist in gewisser Hinsicht vollkommen wahr, und wenn Leute, die durch diese Kranken besonders viel zu leiden gehabt haben, die Hysterie als „die Psychose der Kanaille" bezeichneten, so ist das weder schön noch medizinisch richtig, aber begreiflich. Fragen wir nach dem Wesen dieser Krankheit, so werden wir vor allem sagen, ihr Name, der sich vom griechischen Namen des Uterus ableitet, ist zwar nicht richtig, da es sich ja nicht um eine Gebärmuttererkrankung handelt; aber es ist nicht zu leugnen, daß in vielen Fällen bei der Hysterie das sexuelle Moment eine wichtige Rolle spielt, so daß der alte Name doch eine gewisse Symbolbedeutung zu haben scheint. Warum die Hysterische — bei Frauen ist Hysterie häufiger als bei Männern — für den U. so viele Gefahren birgt, wird klar, wenn wir die ausgezeichnete Schilderung Cramers1) vornehmen, worin er als wichtigste, psychische Stigmata der Hysterie nennt: „Reizbarkeit im Affekt, Beeinträchtigungsideen, Stimmungsschwankungen und mangelnde Reproduktionstreue" — also genau alles, was einen Menschen zu einem in hohem Grade gefährlichen Zeugen und zu einem unerträglichen, immer wieder klagenden „Beschädigten", dem niemand etwas getan hat, machen muß. Als für die Hysterische besonders kennzeichnend möchte ich ihr so ausgesprochen egozentrisches Wesen anführen, das ihre gesamte Persönlichkeit durchdringt und sie alles nur von ihrem Standpunkte aus und auf sie zurückbezogen empfinden läßt. Eine hysterische Frau fühlt sich überall als Mittelpunkt, um den sich alles dreht, auch wenn sich in Wahrheit niemand um sie kümmert; sie fühlt alle Blicke auf sich gerichtet — entweder mißachtend oder heimlich bewundernd — , wird sie auf der Straße von einem Bekannten nicht beachtet, so hat er „absichtlich weggesehen", umgekehrt erblickt sie in einem harmlos freundlichen Verhalten eines Mannes schon den Versuch einer sexuellen Annäherung. Je mehr sich aber die Wirklichkeit von diesem eingebildeten Im-Mittelpunkt-Stehen entfernt, desto mehr wird versucht, ihr künstlich nachzuhelfen. Seelig2) berichtet z. B. von einem 20jährigen häßlichen Mädchen, das mit einem kleinen Sprachfehler und leichten Degenerationsmerkmalen behaftet ist, sich jedoch gewählt ausdrückt und gute Intelligenz zeigt; sie wurde in zahlreichen anonymen Briefen, die bei den verschiedensten Behörden einlangten, aller möglichen Attentatspläne beschuldigt, die sie im Verein mit jungen Männern gegen hochgestellte Persönlichkeiten plane (in einem der Schreiben wird sie als „schmächtig mit rotem, silberschimmernden Seidenkleid und lockigem Bubenkopf" x)

Im oben zitierten Lehrbuch „Gerichtl. Psychiatrie", 4. Aufl. S. 350. *) Persönlichkeit und Aussage. Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft I I I S. 107.

Falsche Anzeigen von Hysterikerinnen.

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beschrieben). Schließlich stellte sich heraus, daß jene Attentatspläne frei erfunden und alle anonymen Briefe von niemandem anderen geschrieben waren als von ihr selbst. Sie handelte offenbar aus dem ihr selbst nicht bewußten Trieb, zum Gegenstand sensationeller Untersuchungen zu werden, bei denen sie eine der nüchternen Wirklichkeit völlig entgegengesetzte, interessante Rolle spielen würde. In schweren Fällen von Hysterie kommt es infolge der hochgradigen Suggestibilität auch zu körperlich sich auswirkenden Autosuggestionen1), nämlich zu eingebildeten Leiden mit allen (dem Patienten bekannten!) körperlichen Symptomen; den Grenzfall bildet die „hysterische Schwangerschaft" mit Übelkeiten, Ausbleiben der Menstruation und schließlich sogar Anschwellen des Leibes. Hysterikerinnen sind häufig gefährliche Anzeiger. Vor allem bringen sie oft unwahre Anschuldigungen vor, die teils auf mangelhafter Wahrnehmung, teils auf Suggestibilität, teils darauf beruhen, daß sich die Hysterische gegen nicht vorgekommene Beeinträchtigungen wehren zu müssen glaubt. Charakteristisch sind diese falschen Beschuldigungen dadurch, daß sie häufig spät, oft sinnlos spät, vorgebracht werden, z. B. sie sei schwanger infolge einer von X. vor einem Jahre an ihr begangenen Notzucht. Diese Neigung zu falschen Beschuldigungen ist besonders auch dadurch bedenklich, daß Hysterische mit Vorliebe von Männern, die beruflich mit ihnen zu tun hatten, irgendeinen Angriff, besonders sexueller Natur, behaupten. Bezeichnenderweise wird bei solchen Anlässen gewöhnlich irgend etwas Korrektes als etwas Strafbares ausgelegt: eine notwendige vom Arzt vorgenommene Untersuchung als Notzucht, eine vom U. sachlich gestellte Frage als unsittlicher Antrag. Daher sei die jungen Ärzten gegebene Lehre, mit Hysterikerinnen nie allein zu verkehren, auch dem U. dringend wiederholt. Manche Hysteriker bekommen bei hochgradiger Erregung auch krampfartige Anfälle, bei denen sie schreien und dann zu Boden stürzen. Diese Anfälle sind von epileptischen oft schwer zu unterscheiden. Ein Hauptkennzeichen liegt darin, daß sich der Epileptiker beim Hinstürzen meist verletzt oder in die Zunge beißt, während dies der Hysteriker bei seinen Anfällen vermeidet. Das letztere tut aber der Simulant auch, und so kann eine echte hysterische Attacke für simulierte Epilepsie gehalten werden2). Zu bemerken ist endlich noch der Zusammenhang, der oft zwischen Hysterie und manch anderen psychischen Grenzzuständen besteht, namentlich mit Somnambulismus, Hypnotismus (Medien sind meist hysterisch), abergläubischen Vorgängen ärgster Art, Beleidigungen und Diebstählen auf sexueller Grundlage (namentlich zur Menstruationszeit) und vielen anderen. *) Über diesen Begriff siehe oben S. 107. Vgl. VI. Abschnitt (im 2. Band).

a)

Groß-Seelig,

Handbuch. 8. Aufl.

17

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

3. Sexuell Perverse. E i n e sexuelle N e i g u n g ist pervers, w e n n sie nicht auf das natürliche E n d z i e l des Geschlechtstriebes, den K o i t u s zwischen M a n n u n d F r a u , gerichtet ist. D i e A b w e g i g k e i t k a n n in der A r t des O b j e k t e s (Personen gleichen Geschlechtes, Tiere u. a.) oder in der A r t der angestrebten H a n d l u n g bestehen, die d a n n e n t w e d e r E r s a t z h a n d l u n g a n Stelle d e s K o i t u s oder a b e r eine den K o i t u s begleitende N e b e n h a n d l u n g ist, d u r c h die erst die v o l l e B e f r i e d i g u n g des Triebes, des Orgasmus, erreicht w i r d . D i e aus solchen N e i g u n g e n entspringenden H a n d l u n g e n werden als „ P e r v e r s i t ä t e n " , die d a z u v e r a n l a g t e n Menschen als „ P e r v e r s e " u n d die N e i g u n g selbst als „ P e r v e r s i o n " bezeichnet. D i e L i t e r a t u r ist u n a b s e h b a r g r o ß 1 ) . a)

Homosexualität2).

Sie ist zuerst z u besprechen, da sie einen H a u p t t y p u s bildet, sehr h ä u f i g v o r k o m m t u n d d e m S t r a f r i c h t e r a m meisten z u t u n gibt. B e z ü g l i c h der N a t u r d e r H o m o s e x u a l i t ä t d ü r f t e richtig jene A u f fassung sein, die in i h r w e d e r eine Geisteskrankheit noch ein L a s t e r , sondern eine angeborene E i g e n t ü m l i c h k e i t des Geschlechtstriebes sieht. M a n k a n n sich eine lange K e t t e v o n E n t w i c k l u n g e n vorstellen, die m i t d e m geschlechtlich normalen Menschen beginnt u n d ü b e r den leicht ') Von Arbeiten, die zur allgemeinen Einführung des U. dienen können, seien außer den einschlägigen Kapiteln in den Lehrbüchern der allgemeinen und der gerichtlichen Psychiatrie (s. oben S. 247 Anm. 1) genannt: H. Gräf: Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe, Archiv 34 S. 45; E. Wulften: Der Sexualverbrecher, Berlin 1910; derselbe: Das Weib als Sexualverbrecherin, Berlin 1923; Krafft-Ebbing, Psychopathia sexualis, 16. Aufl., Stuttgart 1924. Als Vorstudium ist jedoch die Beschäftigung mit der (literarisch allerdings sehr spärlich behandelten) allgemeinen Psychologie des Geschlechtslebens zu empfehlen (vgl. Allers, Psychologie des Geschlechtslebens, in: Handbuch der vergleichenden Psychologie III, Abt. 4, München 1924; Seelig, Die Ambivalenz der Gefühle im Zuge des Sexuallebens, Zschr. f. angew. Psychologie 36 S. 138). Hingegen sind infolge ihres übertriebenen Pansexualismus bedenklich die zahlreichen Publikationen der psychoanalytischen Schule (vgl. oben S. 70 Anm.), ebenso infolge der einseitigen Überbetonung des Minderwertigkeitsgefühls diejenigen der individualpsychologischen Schule und — wegen ihres vielfach tendenziösen Charakters — die Veröffentlichungen vieler anderer, fast durchwegs jüdischer Autoren (Hirschfeld, Marcuse, Moll, Bloch, Havelock Ellis usw.; hingegen sachlich und mit ausführlichen Literaturnachweisen: A. Kronfeld, Sexualpsychopathologie, Leipzig 1923). Aus der Literatur, die e i n z e l n e Perversionen behandelt, werden wichtige Arbeiten im folgenden bei dem betreffenden Abschnitt angeführt. a) Casper, Über Notzucht und Päderastie, Vierteljahrschrift f. ger. Medizin, 1852; Moll, Die konträre Sexualempfindung, Berlin 1891; Krafft-Ebbing, Der Konträrsexuale vor dem Strafrichter, Wien 1894; Knapp, Ein Beitrag zur Frage der Homosexualität, MschrKr. 5 (1908) S.537; Gaupp, Das Problem der Homosexualität, Klinische Wochenschr. r922 Nr. 21; Placzek, Homosexualität und Recht, Leipzig 1925; Kronfeld, Artikel „Homosexualität" im Handwörterbuch der Sexualwissenschaft 1926; Klare, Homosexualität und Strafrecht, Hamburg 1937; Sirüder, Beitrag zur Homosexuellenfrage, Kriminalistik 11 S. 217; BürgerPrinz, Betrachtungen über einen Homose^ualitätsprozeß, MschrKr. 29 (1938) S. 333; derselbe, Gedanken zum Problem der Homosexualität, MschrKr. 30 (1939) S. 430.

Typen von Homosexuellen.

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weibischen bzw. leicht männlichen Charakter zum femininen Mann oder zum maskulinen Weib und von da zum ausgesprochenen Zwitter führt. Irgendwo in dieser Reihe steht der Homosexuelle, der nur vom eigenen Geschlecht angezogen wird 1 ). Das alles gilt aber nur für die Fälle „echter" Homosexualität aus a n g e b o r e n e r Veranlagung. Die Existenz solcher geborener Homosexueller wurde von der individualpsychologischen Schule zu Unrecht bestritten, wohl aber sind sie unter all denen, die wegen homosexueller Handlungen mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten, weitaus in der Minderheit. Die Mehrzahl bilden Menschen, die ursprünglich geschlechtlich durchaus normal, nämlich heterosexuell veranlagt sind: da sind zunächst viele, die in jungen Jahren von einem älteren Homosexuellen verführt wurden, wiewohl sie vorher bereits heterosexuellen Verkehr hatten, und infolge Gewöhnung und schließlich Fixierung ihres Triebes auf diese Art der Befriedigung nur schwer von dieser erworbenen Neigung loskommen. Eine weitere Gruppe bilden Jugendliche und Erwachsene, die — ebenfalls normal veranlagt — in äußere Lebensumstände kommen, durch die sie vom anderen Geschlecht abgesperrt sind (Jugendpensionate, Klöster, Schiffsmannschaftenu.a.) 2 ). Wieder andere — vielfach als „Bisexuelle" bezeichnet — suchen nur zeitweise homosexuellen Verkehr bei sonst heterosexueller Einstellung; hiebei handelt es sich zum Teil um Schwankungen eines noch nicht voll entwickelten Geschlechtstriebes in der Nachpubertätszeit oder um eine Übersättigung und dadurch Abstumpfung gegenüber den Reizen des normalen Geschlechtslebens. Eine weitere, allerdings ziffernmäßig kleine Gruppe bilden Menschen, die trotz seelisch heterosexueller Einstellung aus einer Art Scheu vor dem anderen Geschlecht, die sich zu einer neurasthenischen Angst steigern kann, zu masturbatorischer und schließlich homosexueller Betätigung gelangen. Schließlich gibt es in den Großstädten eine nicht zu unterschätzende Zahl von Burschen, die sich der homosexuellen Prostitution ergeben, d. h. trotz meist normalgeschlechtlicher Einstellung lediglich des Erwerbes willen sich an homo*) Eine Schwierigkeit für diesen Erklärungsversuch besteht jedoch darin, daß ein Hann, der homosexuellen Verkehr als a k t i v e r Partner anstrebt, sich seelisch keineswegs in die Rolle des Weibes versetzt. Das machen nur manche p a s s i v e Homosexuelle, die sich dementsprechend auch benehmen (z. B. schminken, lange Haare tragen u. ä.). Auch die sogenannte homosexuelle Körperkonstitution (relativ große Hüftenbreite gegenüber der Schulterbreite, stark entwickelte Brüste, mangelnde Brustbehaarung, weibliche Schamhaargrenze usw.) findet sich nur bei relativ wenigen Homosexuellen. Umgekehrt gibt es Männer mit — körperlich oder seelisch — deutlichem femininen Einschlag, die dennoch rein heterosexuell eingestellt sind. Unter den Homosexuellen aus angeborener Neigung finden sich zum Teil auch Menschen mit künstlerischer Veranlagung (Musiker, Maler, auch Dichter — Oskar Wilde!); ferner sind gewisse Berufe häufiger vertreten (Friseure, Kellner, Artisten). Im übrigen zeigt sich Homosexualität unabhängig von sozialer Schichte und Bildung. *) In diesen Fällen endet meist die homosexuelle Betätigung mit der Versetzung in andere Lebensverhältnisse, doch kann auch unter Umständen hiedurch eine darüber hinaus dauernde homosexuelle Einstellung erworben werden. Allerdings ist in einem solchen Fall meist irgendeine Prädisposition zu dieser späteren Umstellung anlagemäßig vorhanden. 17*

2Ö0

I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

sexuelle Männer heranmachen und ihnen zu Willen sind. Eine besonders gefährliche Abart dieser Leute sind jene, die sich nicht mit dem freiwillig geleisteten Entgelt begnügen, sondern es auf hohe Schweigegelder abgesehen haben, die sie ihrem Opfer unter Drohung mit Bekanntmachung und Strafanzeige abnötigen1). Mit diesen mannigfachen verschiedenen Arten muß der U. rechnen, wenn er Erhebungen wegen homosexueller Betätigung zu führen hat. Hierbei ist es für den U. vor allem wichtig, die typischen Erscheinungsformen der Homosexualität zu kennen. Der männliche Homosexuelle (im Volksmund als „Urning", „warmer Bruder" oder auch bloß „Warmer" bezeichnet) sucht seine Partner — sofern sie ihm nicht durch Zufall oder durch Freunde zugeführt werden — vielfach auf der Straße (z. B. in bestimmten Parkanlagen, in denen sich die Homosexuellen zu treffen pflegen), in gewissen Gaststätten (die meist der Polizei als solche bekannt sind) oder auch durch die Zeitung. In der Nachkriegszeit erreichte in Berlin die homosexuelle Wochenschrift „Die Freundschaft" eine Auflage von 20000, obwohl sie recht teuer war. Aber auch Inserate in gewöhnlichen Tageszeitungen, die ihren wahren Sinn — dem Gleichgesinnten wohl erkenntlich — versteckt andeuten, dienen diesem Zweck2). Mitunter führen Homosexuelle ein einsames» zurückgezogenes Leben, wobei es vorkommt, daß sie über ihren homosexuellen Verkehr mit großer Genauigkeit Aufzeichnungen führen, oft unter Verwendung von bestimmten Abkürzungen oder Pseudonymen3). Andere wiederum frönen ihrer Leidenschaft innerhalb homosexueller Zirkel, die sich in Großstädten bilden. Oft sind solche verdächtige Zusammenkünfte der Polizei durch längere Zeit bekannt, bevor es gelingt, den Nachweis eines strafbaren Tatbestandes zu führen. Strafbar sind im Deutschen Reich jetzt 4 ) alle „unzüchtigen" Handlungen zwischen Männern. Unter diesen kommt die — in Erinnerung an die altgriechische Knabenliebe — als P ä d e r a s t i e bezeichnete Form des homosexuellen Verkehres (Coitus per anum, Afterverkehr) entgegen einer verbreiteten Um diesem Erpresserunwesen zu steuern, wurde im Deutschen Reich durch die Strafprozeßnovelle vom 28. Juni 1935, R G B l . I 844, der Staatsanwalt ermächtigt, von der Verfolgung des Tatbestandes, mit dessen Offenbarung gedroht wurde, abzusehen (§ 154b StPO.). *) Vgl. die von Nücke gesammelten Inserate, Archiv 8 S. 339. Als verdächtige Stichworte werden Chiffren wie „Uranus", „Freundschaft", „entre nous" verwendet, oft in Verbindung mit dem Angebot als „Reisebegleiter" oder Gesellschafter „ohne Vergütung" oder dem Suchen eines „gleichgesinnten" Freundes. *) In einem Fall, in welchem ein homosexueller Geschäftsmann von einem seiner Partner, einem Tapeziererlehrling, ermordet worden war, wurde die zuerst rätselhaft erschienene T a t dadurch aufgeklärt, daß man aus verschleierten Eintragungen in den Geschäftsbüchern des Ermordeten vollen Aufschluß über seinen gleichgeschlechtlichen Verkehr erhielt (Müller, Geschäftsbücher verraten einen Mörder, Kriminalistik 5 S. 209). 4) Durch die Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935, die den § 175 S t G B , neu faßte, wurde die Beschränkung auf b e i s c h l a f ä h n l i c h e Handlungen, die nach der früheren Fassung allein strafbar waren; fallen gelassen. Hierdurch ist die Erbringung des Nachweises des strafbaren Tatbestandes wesentlich erleichtert.

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Die Behandlung der Homosexualität.

Volksmeinung verhältnismäßig selten vor 1 ). Die häufigeren Erscheinungen sind Masturbation des einen durch den andern, wechselseitige Masturbation und coitus in os, der mitunter auch wechselseitig ausgeführt wird. Homosexualität unter Frauen (nach der auf der Insel Lesbos lebenden altgriechischen Dichterin Sappho als „lesbische Liebe" bezeichnet) kommt ebenfalls sowohl aus angeborener Veranlagung als auch infolge Angewöhnung (z. B. unter Prostituierten) vor, ist aber nach dem Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches nicht strafbar 2 ). Auch angeborene Homosexualität begründet keineswegs Zurechnungsunfähigkeit für daraus entspringende strafbare Handlungen, denn der Homosexuelle wird nicht wegen seiner abwegigen Veranlagung, sondern wegen deren Betätigung bestraft. Da aber sowohl für die Strafbemessung als auch für die Anordnung sichernder Maßnahmen die Feststellung des im Einzelfall vorliegenden Typs der Homosexualität wichtig ist, wird auch schon der U. in allen nicht völlig klar liegenden Fällen die Zuziehung eines Arztes oder kriminalbiologischen Sachverständigen zu veranlassen haben. Schwierig ist besonders die Frage nach der künftigen Gefährlichkeit eines Homosexuellen, der selbst gegen seine Neigung anzukämpfen sucht, zu beantworten, da sie mit der noch nicht gelösten Frage der medizinischen Heilbarkeit von der angeborenen Triebrichtung zusammenhängt. Die radikalste Maßnahme, die K a s t r a t i o n , durch die in den meisten (wenn auch nicht allen) Fällen der Geschlechtstrieb überhaupt auf ein sozial ungefährliches Minimum herabgesetzt wird, ist als s t r a f r i c h t e r l i c h e Maßnahme bei Verurteilung wegen Homosexualität im Deutschen Reich n i c h t zulässig, wohl aber unter gewissen Voraussetzungen bei E i n w i l l i g u n g des Homosexuellen 3 ). Die seit Jahren von einzelnen Ärzten vorgenommenen Versuche, durch Entfernung der eigenen Keimdrüsen und Transplantation e i n e r Keimdrüse eines normal empfindenden Mannes eine Befreiung von der homosexuellen Triebrichtung (ohne Beseitigung der Geschlechtsfähigkeit) zu erzielen, haben bisher keineswegs sichere Ergebnisse gezeitigt. Mitunter führt aber auch eine p s y c h o t h e r a p e u t i s c h e Behandlung zum Ziel 4 ). *) Hingabe zum Afterverkehr (als p a s s i v e r Partner) ist der einzige Fall, in welchem sich m i t u n t e r die Vornahme des unzüchtigen Aktes durch eine g e r i c h t s ä r z t l i c h e Untersuchung nachweisen läßt (Erweiterung des Afters, Verstreichung der radialen Falten, allenfalls — bei frischer Tat — Spermaspuren); hingegen erzeugt die aktive Päderastie keine beweisenden Veränderungen am Geschlechtsteil. 2) Wohl aber innerhalb des Gebietes des Großdeutschen Reiches in der Ostmark und im Sudetenland. 3) Gemäß § 14 Absatz 2 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (in der Fassung der Novelle vom 26. Juni 1935, R G B l . S. 773) ist die freiwillige Kastration zulässig, wenn sie erforderlich ist, um den zu Kastrierenden von einem entarteten Geschlechtstrieb zu befreien, der die Begehung weiterer Verfehlungen im Sinne der §§ 175 bis 178, 183, 223 bis 226 S t G B , befürchten läßt; dies muß durch ein amts- oder gerichtsärztliches Gutachten festgestellt sein. 4) Böhme, Psychotherapie und Kastration, München 1935; Kapp, Weitere Gesichtspunkte zur Frage der Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher, D, Ztschr. f. d. ges. gerichtl. Medizin 26 S. 402. Die psychotherapeutische Be17**

2Ö2

IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

ß) S a d i s m u s 1 ) . Von allen Perversen sind entschieden am gefährlichsten die — nach dem Marquis de Sade2) — als „Sadisten" bezeichneten. Sie finden nur dann geschlechtlichen Genuß oder dessen Erhöhung, wenn sie dem Gegenstand ihrer Lust irgendwie Schmerz zufügen können: durch Stechen, Schneiden, Peitschen, Würgen usw. Daß bei allen diesen Vorgängen durch Zufall, Ungeschicklichkeit, große Erregung oder auch Absicht das Opfer getötet werden kann und so die Form eines echten „Lustmordes" auftritt, ist begreiflich. Hingegen liegt kein eigentlicher Lustmord vor, wenn die Tötung durch eine Gewaltanwendung erfolgte, durch die ein normaler Geschlechtsverkehr erzwungen werden soll (Notzucht mit tödlichem Ausgang), ohne daß die Tötungshandlung selbst die geschlechtliche Befriedigung herbeiführt oder steigert. Bei manchen Sadisten tritt die Mißhandlung auch an Stelle des Geschlechtsaktes, so daß ihnen jene allein Orgasmus erzeugt. Solche sadistische Neigungen verbergen sich oft unter scheinbar nichtsexuellen Zwecken (z. B. grausame Züchtigung von Kindern durch Eltern oder Erzieher; im Mittelalter: Folterjustiz, Flagellantensekten). Die furchtbarste kriminelle Erscheinungsform der sadistischen Perversion sind die — zwar nicht häufig, aber doch immer wieder auftretenden — M a s s e n m ö r d e r auf rein sexueller Grundlage, von denen in der Zeit seit Beendigung des Weltkrieges in Deutschland die Fälle Haarmann 3 ) und Kürten 4 ) eine traurige Berühmtheit erlangten®). Vereinzelt handlung Homosexueller mittels Suggestion wurde schon vor Jahrzehnten durch v. Schrenck-Notzing, Die Suggestionstherapie bei krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes, Stuttgart 1892, begründet. l) Laurent (deutsch von Dolorosa), Sadismus und Masochismus, Berlin 1904; Schiedermair, Fälle von Sadismus, Archiv 24 S. 12; Nücke, Zur Psychologie der sadistischen Messerstecher, Archiv 35 S. 343; Asnaurow, Algolagnie und Verbrechen, Archiv 38 S. 289 und die einschlägigen Abschnitte in der oben S. 258 verzeichneten Literatur. a) Französischer Schriftsteller (1740—1814); sein Hauptwerk ist der Roman ,,Les crimes de l'amour" (1800). 3) Mitgeteilt in Archiv 76 S. 661. *) Vgl. Sanders, Der Massenmörder Peter Kürten, Archiv 90 S. 55; Gennat, Die Düsseldorfer Sexualverbrechen, Kriminalistik 4 S. 2, 27, 49 und 79; derselbe, Der Kürtenprozeß, Kriminalistik 5 S. 108 und 130. Gerade der Fall Kürten ergab wichtige Einblicke in die Psychologie des reinen Lustmörders: in sexueller Erregung suchte sich Kürten seine Opfer auf der Straße, ohne nach Alter oder Geschlecht zu fragen, und es trat bei ihm sexuelle Befriedigung meist erst ein, wenn er das aus den zerschnittenen Adern strömende Blut „rauschen" hörte; in anderen Fällen erreichte er den Orgasmus trotz vorausgegangener Koitusversuche erst durch Würgen des Opfers oder durch Hammerschläge auf dessen Kopf. Bei dem einen Opfer aber, das er vorher kannte (ein Mädchen, mit dem er ausgegangen war), versuchte er ernstlich, sich zu beherrschen und mit dem Mädchen, das sehr zärtlich zu ihm war, einen normalen Geschlechtsverkehr zu vollziehen; erst als er dabei nicht zur Entspannung gelangen konnte, erlag er auch da seiner furchtbaren sadistischen Neigung und tötete das Mädchen durch Würgen und Stechen. e) Keine eigentlichen Lustmörder waren hingegen die Massenmörder Denke und Seefeld (vgl.Pollke, Der Massenmörder Denke und der Fall Trautmann, Archiv 95 S. 8; Pfreimbter, Das Rätsel des Seefeldprozesses, Archiv 99 S. 1). Denke tötete seine Opfer aus kannibalistischer Neigung, da er es hauptsächlich auf das Fleisch

Lustmörder und Flagellanten.

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gibt es „Mädchenstecher" in allen Großstädten. Meist fallen ihnen Prostituierte zum Opfer1). In harmloseren Fällen begnügen sich solche Sadisten mit dem Zufügen leichterer Verletzungen, bei denen sie aber doch Blut sehen können. V o r Jahren w a r in Wien ein junger Mann unter dem Verdachte des versuchten Raubmordes verhaftet worden, weil er einer Prostituierten während des Geschlechtsverkehrs mehrere Stiche versetzt hatte. Die Untersuchung ergab rein sadistische Grundlage. Der Mann hatte die Stiche mit einem gewöhnlichen Taschenmesser zugefügt, indem er die Messerklinge derart zwischen den Fingern hielt, daß nur ein e t w a 3 cm langes Stück herausragte, so daß auch die Stiche nur ganz oberflächlich ausfielen.

Eine andere Erscheinungsform des Sadismus, die häufig vorkommt, aber von geringerer Gefährlichkeit ist, besteht in dem sogenannten „modernen Flagellantentum": sadistisch veranlagte Männer wie Frauen suchen sich Partner, die nicht bloß in die an ihnen ausgeübten Mißhandlungen einwilligen, sondern sie zu ihrer eigenen sexuellen Befriedigung sogar suchen. Diese — ebenfalls perverse — Neigung bezeichnet man als „Masochismus"; wir behandeln darum das Flagellantenunwesen unserer Zeit im Zusammenhang mit dieser Perversion. y) M a s o c h i s m u s 2 ) . Diese ebenso seltsame wie häufige Perversion besteht in der Neigung, sich vom Partner mißhandeln zu lassen, um überhaupt sexuell erregt zu werden oder den vollen Genuß des Geschlechtsaktes zu erlangen; sie bildet somit das Gegenstück zum oben behandelten Sadismus. Beide Perversionen werden auch unter der Bezeichnung „Algolagnie" zusammengefaßt und der Sadismus als aktive und der Masochismus als passive Form der Algolagnie bezeichnet. Die häufigste Erscheinungsform ist die des vorhin erwähnten seiner 31 Opfer abgesehen hatte, das er größtenteils einpökelte und verzehrte. Außerdem stellte er aus der gegerbten H a u t seiner Opfer Hosenträger und Schnürsenkel her. Seefeld hinwiederum, der mindestens 12 Knaben durch Verabreichen eines von ihm selbst bereiteten Giftes tötete, war ein Homosexueller, der auch mit anderen Knaben, die sich freiwillig mit ihm einließen, Verkehr h a t t e ; jenen K n a b e n hingegen, bei denen er Widerstand oder allenfalls eine Anzeige fürchtete, gab er das G i f t in Form eines Pfefferminzzuckers und befriedigte sich an ihnen während des zuerst eintretenden schlafähnlichen Zustandes voller Bewußtlosigkeit. E r verließ regelmäßig sein Opfer, bevor der Tod eintrat. 1 ) Mitunter wird die W a h l des Opfers auch durch besondere Neigungen des Täters bestimmt, zumal wenn die sadistische Neigung mit anderen Perversionen kompliziert ist. Einen solchen Fall, bei welchem ein pädophil, fetischistisch und sadistisch veranlagter Friseur ein 6jähriges Mädchen tötete, berichtet Kleinschmidt, Ein Fall von Sexualmord, Kriminalistik 2 S. 2 (über Fetischismus und Pädophilie siehe die folgenden Abschnitte). 2) Siehe die Literatur zu Sadismus oben S. 262 A n m . 1 ; aus der zahlreichen Kasuistik vgl. z. B. Ertel, Ein „ S k l a v e " , Archiv 25 S. 104; Stresse, Zur Kasuistik sexualpathologischer Kriminalfälle, Kriminalistik 4 S. 280; Hauke, Masochisten, Kriminalistik 10 S. 217. Die Bezeichnung Masochismus bürgerte sich in Erinnerung an den Schriftsteller und Grazer Privatdozenten für Geschichte Leopold v. Sacher-Masoch ein, der in seinen Romanen (u. a. Venus im Pelz, 1870) entsprechend veranlagte Menschen schilderte.

IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

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„modernen Flagellantentums": sadistisch und masochistisch veranlagte Personen beiderlei Geschlechts finden sich zu Prozeduren zusammen, die in ihrer äußeren Aufmachung tatsächlich oft an das mittelalterliche Flagellantenwesen erinnern. Als Mißhandlungsform wird meistens das Peitschen, insbesondere mit Birkenruten, gewählt und zwar meist in wehrlosem, d. h. gefesseltem Zustand. Diesem Zweck dient oft ein reichhaltiges Instrumentarium von Folterwerkzeugen. Zu großem Teil vollzieht sich das alles im Rahmen der Prostitution der Großstädte und entwickelte sich historisch zuerst in England, wo die 1836 in London verstorbene Mrs. Therese Berkley ein Bordell betrieb, in welchem ein pferdeähnlicher Apparat (das Berkley horse) zur Züchtigung von Männern durch Dirnen diente. Von England aus drangen diese Praktiken in die Bordelle der kontinentalen Großstädte ein, doch erinnert die unter den Masochisten auch heute noch gebrauchte Bezeichnung „englische Erziehung" an den geschichtlichen Ursprung. In den Jahren nach der Jahrhundertwende wurde in Berlin das Etablissement der „Gräfin Strachwitz" (einer Dirne, die eine Scheinehe mit einem Grafen Strachwitz eingegangen war) weithin bekannt; sie wurde 1909 ermordet, das Instrumentarium ihrer „Massageanstalt", das aus einer großen Zahl von Peitschen, Ruten, Stiefeln mit Sporen, Hundeketten usw. bestand, wurde dem Berliner Polizeimuseum einverleibt. Seither hat sich die Deckbezeichnung als „Masseuse" für Inhaberinnen derartiger Lokale in den Kreisen der Prostituierten eingebürgert. Gewisse Tageszeitungen der Großstädte brachten seither zahlreiche Reklameanzeigen solcher Massagesalons, in denen „individuelle Behandlung" durch „energische" Assistentinnen usw. in Aussicht gestellt wurde. Gegen solche Inserate, die somit in kaum verhüllter Form der Vermittlung unzüchtigen Verkehrs dienen, ist mit aller Schärfe einzuschreiten. Die in solchen Etablissements tätigen Mädchen sind jedoch meistens keineswegs selbst sadistisch veranlagt, sondern vollziehen die Mißhandlungen nur um des Erwerbes willen an masochistisch veranlagten Männern. Darum suchen sich viele Masochisten lieber außerhalb der Prostitution eine entsprechend veranlagte Partnerin, wobei wiederum das Zeitungsinserat zur Vermittlung solcher Bekanntschaften eine große Rolle spielt. Auch hierfür werden — ähnlich wie bei den Inseraten der Homosexuellen1) — gewisse Stichworte verwendet, die die Art des gesuchten Verkehrs recht deutlich erkennen lassen (es wird z. B. eine „strenge Erziehung" oder eine „energische Dame" mit „ergänzendem Charakter" gesucht oder es werden Chiffren wie „Birke", „Domina", „Wanda" u. ä. verwendet). Der Masochismus tritt nicht selten in einer bloß phantasiemäßigen Form auf, bei der es nicht zu wirklichen Mißhandlungen kommt, sondern die Steigerung der geschlechtlichen Befriedigung schon durch die Vorstellung von Qualen, die dem Betreffenden von seinem Partner zugefügt werden, erreicht wird. Oft findet man bei solchen Masochisten auch 1

) Siehe oben S. 260.

Masochismus und Selbstfesselung.

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Bilder von Exekutionen oder mittelalterlichen Folterungen oder auch selbst angefertigte Zeichnungen, die das phantasiemäßige Ausmalen entsprechender Situationen unterstützen sollen. Gefährlicher ist es schon, wenn zur Veranschaulichung der masochistischen Vorstellungen äußere Vorrichtungen, insbesondere Fesselungen oder gespielte Szenen verwendet werden, bei denen sich die Partnerin mit entsprechenden Werkzeugen bewaffnet und sich scheinbar zur Vornahme der Mißhandlung anschickt. Hierbei kann es ungewollt zu schweren Unfällen kommen. Eine sich hier anreihende besondere Gruppe pervers Veranlagter, die verhältnismäßig häufig sind, bilden Menschen, die für die Befriedigung ihrer masochistischen Neigung ohne Partner auszukommen suchen und ihre Phantasie durch Selbstfesselung, Drosselungsvorrichtungen u. ä. zu unterstützen suchen. Die kriminalistische Bedeutung dieser Gruppe liegt darin, daß bei solchen Prozeduren nicht selten ein tödlicher Unfall eintritt und der U., der zur aufgefundenen Leiche gerufen wird, vor der schwierigen Entscheidung steht, ob ein verbrecherisches Verschulden vorliegt oder nicht. Aus der großen Zahl hierher gehöriger Vorfälle1) sei ein bisher noch nicht veröffentlichter Fall näher dargestellt, der durch die Kombination mehrfacher perverser Neigungen in einem Menschen von erhöhtem sexualpsychologischem Interesse ist: Am 15. März 1928 wurde in Graz der diensthabende Polizeikommissär von der Direktion des städtischen Versorgungshauses telefonisch verständigt, daß der katholische Anstaltspfarrer Leopold J. in seiner Wohnung in erdrosseltem Zustand tot aufgefunden worden sei und zweifellos Mord vorliege. Die daraufhin alarmierte Mordkommission fand den 47 jährigen Anstaltspfarrer, der sich außerordentlicher Beliebtheit erfreute und einen stets makellosen Lebenswandel bekundet hatte, beim Hingang zu seinem Studierzimmer in Frauenkleidern auf dem Boden liegend tot an (Abb. 6). Neben der Leiche lagen 2 Ketten, eine weitere Kette war noch um die Fessel des rechten Fußes geschlungen. Wie die Erhebungen ergaben, hatte der Mesner im Verein mit der alten Tante des Pfarrers, die ihm die Wirtschaft fährte, am Nachmittage die Tür des Studierzimmers mit Gewalt erbrochen, weil der Pfarrer zu der vorgesehenen Einsegnung nicht erschienen war und trotz mehrmaligem Klopfen nicht öffnete. Sie hatten den Pfarrer beim Türstock stehend mit leicht vorgeneigtem Oberkörper vorgefunden und wahrgenommen, daß er am Türstock an einer Kette, die er um den Hals geschlungen hatte, leblos hing. Mit Hilfe anderer Anstaltsbewohner hatten sie den Körper vom Haken, an welchem die Kette befestigt war, losgemacht und ihn von den um den Hals und um die Mitte geschlungenen Ketten befreit. Die Tür war von innen mit einem Riegel verschlossen gewesen, die Fenster des Studierzimmers waren mit Vorhängen dicht verhangen. Es stellte sich heraus, daß Pfarrer J. sich jeden Nachmittag von 13 bis 15 Uhr in seinen Wohnräumen — angeblich um ungestört Siesta zu halten — einsperrte, die Fenster verhängte und auch das Telefon ablegte, so daß er auch nicht angerufen werden konnte. Niemals ist eine fremde Person männlichen oder weiblichen Geschlechts zu ihm *) In der Literatur sind u. a. mitgeteilt worden: Ziemke, Über zufälliges Erhängen und seine Beziehungen zu sexuellen Perversitäten, Archiv 78 S. 262; Weimann, Selbstfesselung und Selbstknebelung, Archiv 85 S. 70; Fritz, Ein Fall von Selbstfesselung, Archiv 89 S. 147; Otto, Zwei „Unglücksfälle", Kriminalistik 4 S. 177; Beumelburg, Tödlicher Unfall als Folge perverser Neigung, Kriminalistik 4 S. 252; Seinsche, Tödlicher Unfall als Folge perverser Neigung, Kriminalistik 8 S. 252.

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

gekommen, wohl aber pflegte er geselligen Verkehr mit der Famiüe des Anstaltsdirektors, dessen 18jährige Tochter bei ihm auch Nachhilfestunden in Mathematik n a h m ; dabei h a t er sich stets vollkommen korrekt verhalten. In einem vertraulichen Gespräch mit dem befreundeten Anstaltsdirektor hat er einmal bei seiner priesterlichen Ehre versichert, daß er nie in seinem Leben mit einer Frau verkehrt habe. Die Durchsuchung seiner E f f e k t e n brachte die Lösung des Rätsels: es fanden sich 30 Damenkleider und Frauenwäsche aller A r t in entsprechend großer Menge, wie insbesondere Spitzenhosen, Busenhalter usw., alles für die Größe des Pfarrers passend. Ferner zwei Schach-

A b b . 6. teln mit verschiedenen Perücken, 1 P a a r künstliche Mammae, 1 Schachtel mit Monatsbinden und 2 dazu passende Gürtel, 1 Schachtel Schminke, dann Seidenbänder, unechte Perlenketten und Ohrgehänge und auch einige Präservativs. Außerdem fand sich ein B a n d der „ S t u d i e n über die Geschlechtsverhältnisse des Menschen" von Mantegazza, die „ P s y c h o p a t h i a sexualis" v o n K r a f f t - E b b i n g , 2 Bände der Fuchsschen Sittengeschichte und 2 Bücher über „Schönheitspflege der D a m e n " . F a s t noch aufschlußreicher war die Durchsuchung der an das Studierzimmer anschließenden Dunkelkammer, in der sich Platten und Kopien von Lichtbildern fanden, die offenbar v o m Pfarrer J. mittels Selbstauslöser aufgenommen worden waren 1 ). Sie gaben durchwegs den Pfarrer in Frauenkleidung (teilweise nur in Unterwäsche) in den verschiedensten sexuell betonten Stellungen wieder, wobei insbesondere das Entblößen des männlichen *) Die Lichtbilder sind der Sammlung des Kriminologischen Institutes der Universität Graz einverleibt.

Fetischismus.

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Geschlechtsteiles bei gleichzeitiger Verkleidung als Frau wiederkehrt. Einige Bilder stellen auch den Pfarrer beim Gebrauch des Nachtgeschirrs dar und zwar ebenfalls in Frauenkleidung. Die Kommission stellte ferner fest, daß ein großer Wandspiegel so angebracht war, daß ein Mensch von der Stelle aus, wo Pfarrer J. hängend gefunden worden war, sich darin sehen konnte. Da ein Betreten der Pfarrerswohnung durch dritte Personen vollkommen ausgeschlossen werden konnte, war ein fremdes Verschulden mit Sicherheit zu verneinen. Es handelte sich vielmehr um einen Unfall infolge der Prozeduren, die Pfarrer J. zur Befriedigung seiner perversen Neigungen täglich nach Tisch vorzunehmen pflegte. Hierbei hat er offenbar in merkwürdiger Verbindung von Masochismus, Transvestitismus 1 ) und narzißtischer Ichspaltung und Selbstbespiegelung einerseits sich in die Rolle des gefesselten und sexuell mißbrauchten Weibes hineingedacht und anderseits gleichzeitig die korrespondierenden erotischen Gefühle des Mannes erlebt und dabei besonders in der lustbetonten Form von Ekel- und Schamgefühlen 8 ) Befriedigung gefunden. Bemerkenswert ist, daß Pfarrer J. in seinem sonstigen Leben sich stets als hochgebildeter, kultivierter Mann von großer künstlerischer, insbesondere musikalischer Begabung gezeigt hatte. Körperlich war er nach den vorliegenden Beschreibungen ein großer, dunkelhaariger Pykniker mit weichen, vielleicht etwas femininen Gesichtszügen. Irgend eine homosexuelle Komponente war nicht feststellbar.

Als „symbolischer Masochismus" wird eine Abart bezeichnet, bei der an die Stelle von (wirklichen oder phantasiemäßig vorgestellten) körperlichen Mißhandlungen bloß Demütigungen verschiedenster Art treten: der so Veranlagte findet z. B. Befriedigung darin, von der „Herrin"' beschimpft oder als Hund (mit den üblichen Kommandorufen) behandelt zu werden, oder ihre Füße küssen zu müssen u. ä. Diese Form ist an sich weniger gefährlich, kann aber mitunter indirekt durch das sich daraus herausbildende Abhängigkeitsverhältnis (sexuelle Hörigkeit)3) kriminelle Bedeutung erlangen. d) F e t i s c h i s m u s 4 ) . Unter dieser auf Binet5) zurückgehenden Bezeichnung versteht man die sexuelle Neigung, durch Gegenstände bestimmter Art erregt zu werden, die dadurch für den so Veranlagten zum „Fetisch" werden. In einem weiteren Sinn spricht man von Fetischismus auch dann, wenn sich die erogene Wirkung nicht auf eigentliche Gegenstände, sondern Körperteile (Füße, Haare, besonders auch Zöpfe), Gerüche (z. B. PetroSiehe darüber im übernächsten Abschnitt. Über diese „Ambivalenz" der Gefühle innerhalb des Sexualerlebens siehe unten S. 271 und 274t. 3) Vgl. unten S. 276 Anm. 1. 4) Vgl. die sexuologische Literatur oben S. 258 Anm. 1; Einzelfälle aus neuerer Zeit: Karsten, Diebstahl aus Fetischismus, Archiv 23 S. 365; Näcke, Das Zopfabschneiden, Archiv 23 S.365; Boas, Ein periodischer Kleider-und Perückenfetischist, Archiv 39 S. 12; Hahn, Ein merkwürdiger Fall von Diebstahl aus GegenstandsFetischismus, Archiv 60, S. 5; Sent, Fetischismus, Archiv 60, S. 99; Boas, Über Hephephilie, Archiv 61 S. 1; Welsch, Ein Fall von Diebstahl aus GegenstandsFetischismus, Archiv 62 S. 371; Boas, Beiträge zur Psychopathologie der Fetischisten, Archiv 64 S. 71; Schuppe, Ein interessanter Fall von Fetischismus, Kriminalistik 4, S. 60. 6) Binet, Du fetichisme dans l'amour, Revue philosophique 1887. 2)

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

leum) oder auf die Vornahme bestimmter Handlungen (Wühlen im Haar u. a.) fixiert. Unter den Gegenständen werden bestimmte Teile der Frauenkleidung (Schürzen, herausgeschnittene Stoffteile, Taschentücher, Strumpfbandgürtel u. ä.) besonders bevorzugt. Psychologisch ist hierbei zwischen zwei Formen des Fetischismus zu unterscheiden, die man auch als „uneigentlichen" (oder „kleinen") und als „eigentlichen" (oder „großen") Fetischismus bezeichnet hat. Bei der ersten Form ist der betreffende Fetisch nur Bedingung für die sexuelle Erregung, das Sexualziel selbst bleibt aber normal, somit letzten Endes auf Koitus gerichtet. Hier wird das weibliche Sexualobjekt wegen seines bestimmt gearteten Körperteils (z. B. bestimmte Haarfarbe, schöne Beine, mitunter aber auch an sich negativ wertige Merkmale, wie etwa Klumpfuß) begehrt, oder der Fetischist verlangt, daß sein Sexualobjekt, damit es auf ihn erregend wirke, bestimmte Kleidungsstücke anlege (z. B. Pelz)1). Beim e i g e n t l i c h e n Fetischismus hingegen wird der betreffende Gegenstand selbst zum Sexualobjekt. Das Sexualziel ist darauf gerichtet, den Fetisch zu besitzen, ihn streicheln, küssen, mitunter auch zur Masturbation benützen zu können. Gerade diese Form wird kriminell dadurch von großer Bedeutung, daß solche Fetischisten meist leidenschaftliche Sammler der betreffenden Gegenstände sind und sich mit allen Mitteln, insbesondere auch durch Diebstahl, in ihren Besitz zu setzen suchen. Hierher gehören die Schuhsammler, Taschentuchsammler, Zopfabschneider, Rockaufschlitzer (die sich meist im Gedränge an Frauen heranmachen und mit großer Fertigkeit ein Stück Stoff aus dem Rock herausschneiden) u. ä. 2 ). Der kriminelle Tatbestand besteht somit meist in Diebstahl, mitunter aber auch in boshafter Sachbeschädigung oder Beleidigung. Wenn sich solche Fetischisten meist auch damit verantworten, daß sie bei Wegnahme des Gegenstandes einem „unwiderstehlichen Drang" gehorchen, so ist es doch verfehlt, diese Neigung als eine besondere Form der „Kleptomanie" im Sinne einer Krankheit anzusprechen, die die Verantwortlichkeit des Täters aufhöbe. Vielmehr wird im Einzelfall durch die psychiatrische Untersuchung zu prüfen sein, ob die fetischistische Neigung Ausfluß einer Geisteskrankheit oder einer Psychopathie ist. x ) Das Gegenstück zu dieser Form des Fetischismus bilden Fälle, in denen der Anblick bestimmter Gegenstände (z. B . Brillen, Mieder) oder auch bestimmte Gerüche die sexuelle Erregung beseitigen, so daß dadurch eine Ernüchterung eintritt; man sprach in solchen Fällen auch von „negativem Fetischismus" oder horror sexualis partialis. a ) Ein seltener Fall von Fetischismus auf homosexueller Grundlage spielte sich im Jahre 1 9 1 9 in Wien ab. Ein 37 Jahre alter Zuckerbäckergehilfe wurde beim Taschendiebstahl eines zusammengelegten Plüschhutes ertappt. In seiner Wohnung fand man 8 Plüschhüte und 38 Gürtel von Männerkleidern, die er alle gestohlen, aber säuberlich zusammengelegt aufgehoben hatte. E r gab an, durch einen derartigen Diebstahl um so größere sexuelle Befriedigung zu finden, je schwieriger die Entwendung sei. Als Kind hatte er mit Vorliebe mit Puppen gespielt. Versuche zu normalem Geschlechtsverkehr waren mißlungen.

Besudelung und Leichenschändung.

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f) S a l i r o m a n i e . Diese ganz eigentümliche Neigung besteht darin, daß manche Menschen, fast nur männlichen Geschlechtes, die unwiderstehliche Sucht besitzen, gewisse Gegenstände, namentlich neue, schöne Frauenkleider am Leibe der Trägerin, durch Begießen mit Säure, Tinte und ähnlichem zu beschmutzen — eine Art sachlicher Sadismus. Wollen wir uns diesen seltsamen Trieb erklären, so haben wir auch hier, wie in allen ähnlichen Fällen, die normale Parallele zum abnormalen Vorgehen zu suchen; wir finden sie in gewissen Formen und Anzeichen kindlicher Zerstörungssucht: Zerkratzen und Beschmieren glatter, frischgetünchter Mauerflächen, Zerschlagen von Telegraphenisolatoren, Ruinieren von Abbildungen auf tiefer hängenden Plakaten (höchst charakteristisch ist das Augenausstechen bei lebensgroßen Abbildungen von Modefiguren usw.), ja auch das Laternenzerschlagen durch Studenten gehört hierher. Daß die eigentliche Saliromanie sexuellen Ursprunges ist, beweist das Geständnis mancher Saliromanen, wonach sie beim Begießen von Kleidern (ich wiederhole: stets am Körper einer Frau) Orgasmus empfinden, den viele von ihnen beim normalen Geschlechtsgenuß nicht erreichen 1 ). t) N e k r o p h i l i e . Mitunter werden auch Leichen sexuell mißbraucht 2 ). Gleichwohl ist es fraglich, ob es eine Nekrophilie im eigentlichen Sinne, d. h. eine speziell auf Leichen gerichtete sexuelle Neigung gibt; eine solche Perversion könnte als Unterart des bereits oben behandelten Fetischismus angesprochen werden3). Bei den bekannt gewordenen Fällen von Leichenschändungen auf sexueller Grundlage handelt es sich jedoch meist entweder um sexuelle Akte im Anschluß an einen Lustmord (hier wird somit der sexuelle Mißbrauch des Opfers lediglich über dessen Tod hinaus fortgesetzt und der Täter ist mehr sadistisch als nekrophil veranlagt); oder der sexuelle Mißbrauch der Leiche stellt sich als Abirren des Geschlechtstriebes auf psychopathischer Grundlage, meist mangels Gelegenheit zu normalem Geschlechtsverkehr, dar und die Leiche spielt daher nur die Rolle eines Ersatzobjektes. rj) S o d o m i e . Geschlechtsverkehr mit Tieren kommt zwar nicht häufig, aber immer wieder vor. Meist handelt es sich um Knechte oder Hirten, die mit den von ihnen betreuten Tieren (Kühe, Ziegen) verkehren; aber es Vgl. namentlich van Waveren, Ein Fall von Saliromanie, Archiv 36 S. 71; Boas, Ein Fall von Saliromanie, Archiv 40 S. 208; aber auch auf nichtsexueller Grundlage kommen triebhafte Besudelungen vor (Liebermann v. Sonnenberg, Zwei Fälle von Besudelung, Archiv 43 S. 281). a) Einzelfälle: Kulmbach, Ein Fall von Leichenschändung, Archiv 16 S. 289; Hauck und Schütz, Ein Fall von Leichenschändung, Archiv 77 S. 195. 8) An Fetischismus erinnert auch ein Fall, in welchem das Beschädigen einer bestimmten Art von G r a b p f l a n z e n mit fleischigen Blättern (echeveria metallica) auf den Täter, einen unbestraften 45 jährigen Bankbeamten, sexuell erregend wirkte (Gebhardt, Grabschändungen aus sexuellen Gründen, Kriminalistik 11 S. 63).

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

gibt auch Frauen, die sich mangels eines normalen Geschlechtsverkehrs durch ihren Hund befriedigen lassen. Alle diese Fälle erwachsen meist auf dem Boden einer allgemein-psychopathischen, regelmäßig leicht schwachsinnigen Persönlichkeitsartung. Nur in seltensten Fällen dürfte dabei echte Z o o p h i l i e , d . h . eine ausschließlich auf Tiere gerichtete sexuelle Neigung vorliegen (zu H. Groß sagte einmal ein kräftiger junger Bauernbursch: „ I c h kann nicht dafür — die älteste Geiß ist mir lieber als das schönste Mädel"). Eine mehr der Algolagnie 1 ) als der Zoophilie verwandte Perversion ist der sogenannte T i e r s a d i s m u s : grausame Züchtigungen von Pferden und Hunden wirken auf manche Menschen sexuell erregend, wobei sich der Betreffende entweder in den züchtigenden Herren oder aber auch in das Schmerz leidende Tier einfühlt. Entsprechende Handlungen sind als Tierquälereien zu bestrafen 2 ).

9) D i e

Transvestiten.

So werden Leute bezeichnet, welche eine oft kaum zu bemeisternde Neigung haben, die Rolle des anderen Geschlechtes zu übernehmen, dessen Kleider zu tragen und Beschäftigungen zu üben usw. Sofern solche Verkleidungen lediglich der Ausübung eines homosexuellen Triebes dienen (s. oben), ist ihre Erklärung einfach. Aber erfahrungsgemäß tritt der Verkleidungsdrang auch bei normal gerichtetem Geschlechtstrieb auf und gerade solche Leute nennt man Transvestiten. Oft suchen sie durch Herrichtungen an ihrem Körper den Eindruck des anderen Geschlechts noch zu erhöhen 3 ). Falls feststeht, daß sie zu keiner strafbaren Handlung neigen 4 ), ist es bloß Sache der Polizei, aus Gründen der Ordnung die notwendigen Maßnahmen zu treffen; manche Polizeibehörden haben solchen harmlosen Transvestiten auch Erlaubnisscheine zur Tragung der andersgeschlechtlichen Kleidung ausgestellt, doch kann dies wegen der Möglichkeit eines Mißbrauchs mitunter nicht ungefährlich sein. Sexualbiologisch ist diese eigentümliche Neigung noch keineswegs geklärt; vielfach handelt es sich um allgemein-psychopathisch veranlagte, überschwengliche Menschen, die in der phantasiemäßig übernommenen Rolle des anderen Geschlechtes ihre „zweite Natur" und ihr Glück sehen. ') Siehe oben unter Sadismus und Masochismus. 2) Besonders schwere Fälle von Tiersadismus schildert Kattolinsky, Der Tierstecher in Schleswig-Holstein, Kriminalistik n S. 124. ' s) Vgl. H. Groß, Zur Frage der Selbstkastration, Archiv 43 S. 339; W. Weimann, Über die eigenartige künstliche Veränderung der Brüste bei einem Transvestiten, Archiv 87 S. 243; Bürger-Prinz u. Weigel, Über den Transvestitismus bei Männern, MschKr. 21 S. 125. *) Außer zum Zweck homosexueller Betätigung werden Verkleidungen auch zu anderen kriminellen Zwecken vorgenommen, so zur Ausübung eines Betruges oder um eine Identifizierung zu erschweren. Vgl. Leibig, Die Frau als Ehemann, Kriminalistik 9 S. 131; Faulhaber, Eine Frau verbüßt in Männerkleidung eine Gefängnisstrafe für ihren Ehemann, Kriminalistik 11 S. 14.

Die Ambivalenztheorie.

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i) D i e E x h i b i t i o n i s t e n 1 ) . Der Trieb, sich vor Personen des anderen Geschlechts zu entblößen, kommt einerseits als Symptom verschiedener Geisteskrankheiten und Psychopathien vor — häufig finden wir ihn bei Epileptikern, aber auch bei Paralytikern, Paranoikern, senil Dementen und chronischen Alkoholikern — , anderseits tritt er aber auch bei sonst scheinbar Gesunden auf. Auch innerhalb der normalen Formen unseres Kultur- und Geschlechtslebens finden wir Handlungen, denen ähnliche Triebrichtungen zugrunde liegen, z. B. schon in der Dekoltierung von Frauen auf Bällen. Eine Erklärung des eigenartigen Erlebnisablaufes, der zu solchen Triebrichtungen führt, finden wir in der Ambivalenztheorie 2 ): im Zuge des sexuellen Erlebens treten bestimmte Gefühle (darunter besonders das Schamgefühl und das Ekelgefühl), die sonst als Unlustgefühle erlebt werden, gewissermaßen mit positiven Vorzeichen, d. h. als Lustgefühle auf. Auch im normalen Geschlechtsleben wird die durch das angeborene Schamgefühl bedingte Scheu vor der ersten Entblößung gegenüber dem Sexualpartner nicht bloß „überwunden", sondern — sobald die sexuelle Erlebnisreihe entsprechend fortgeschritten i s t — wird das Bewußtsein der Nacktheit mit Lustbetonung erlebt3). Das Schamgefühl gehört somit zu den „ambivalenten" (doppelwertigen) Gefühlen, die sowohl als Unlustals auch als Lustgefühle vorkommen. So gesehen erscheint der E x hibitionismus als eine (meist auf dem Boden eines sexuellen Schwächezustandes erwachsende) besondere Steigerung der Ambivalenz des Schamgefühles: meist sind es durch Alter und Alkoholmißbrauch Impotente, denen die Entblößung ihres Geschlechtsteiles vor Frauen oder Mädchen als Ersatz des normalen Sexualzieles dient. Sie suchen sich dabei meist vorzustellen, daß die Person, vor der sie sich entblößen, durch ihren Anblick sexuell erregt werde, ein Gedanke, der für den Exhibitionisten selbst wiederum erregend ist. Die soziale Gefährlichkeit des Treibens der Exhibitionisten ergibt sich schon aus dem Umstand, daß sie sich mit Vorliebe in der Nähe von Mädchenschulen herumtreiben, weil sie bei den unerfahrenen Schulmädchen einerseits sich eine größere Wirkung erhoffen und anderseits die Möglichkeit einer Anzeige für geringer halten. Meist suchen sich die Exhibitionisten, sobald sie gefaßt werden, *) Mönkemöller, Der Exhibitionismus vor dem gerichtlichen Forum, Archiv 53 S. 34; v. Behr, Zwei atypische Exhibitionsfälle, Kriminalistik 4 S. 158; Moerchen, Verhütung des Rückfalles in exhibitionistische Handlungen, Kriminalistik 8 S. 183; Gummersbach, Exhibition und Exhibitionismus, Kriminalistik 9 S. 52. s) Vgl. Seelig, Die Ambivalenz des Gefühlslebens im Zuge des Sexualerlebens, Zeitschr. f. angew. Psychologie 36 S. 138. Durch diese Erklärung wird die Annahme eines besonderen „Zeigetriebes" entbehrlich, der sich nach der psychoanalytischen Lehre als „Partialtrieb der Libido" schon beim Kind finde und sich beim Exhibitionisten in einem späteren Entwicklungsalter fixiere. a) Bezeichnenderweise tritt vielfach bei erfolgter Ernüchterung nach dem Geschlechtsakt eine neuerliche „Umkehrung des Vorzeichens" ein: nun „schämt" man sich wiederum voreinander, d.h. das vom Nacktheitsbewußtsein ausgelöste Gefühl wird wieder als Unlustgefühl erlebt.

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I V . A b s c h n i t t . Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

damit zu verantworten, daß sie einem augenblicklichen Impuls gehorcht hätten, ohne recht zu wissen, was sie tun. Dies ist aber nur in Ausnahmefällen glaubhaft, z. B. wenn die exhibitionistische Handlung innerhalb eines nachweisbaren epileptischen Dämmerzustandes vorgenommen wurde. Als Ausrede erscheint aber eine solche Verantwortung besonders dann, wenn der Täter schon zu Hause besondere Vorrichtungen an seiner Kleidung angebracht hat, um sich im gegebenen Augenblick (z. B. durch Auseinanderschlagen des Mantels) rasch entblößen zu können 1 ). Eine von manchen Seiten vorgeschlagene Schutzkleidung für immer wieder rückfällige Exhibitionisten, die eine Entblößung technisch unmöglich machen soll, hat daher nur für die Fälle einen Sinn, in denen tatsächlich der ernstliche Vorsatz hesteht, solche Handlungen zu unterlassen, und die Rückfälle — ohne Schutzkleidung — wirklich nur eine Reaktion des Augenblicks sind. Bei anderen Exhibitionisten ist hingegen eine solche Maßnahme wirkungslos, denn sie gehen dann einfach im gegebenen Fall ohne die anbefohlene Schutzkleidung aus. *) D i e P ä d o p h i l e n 8 ) . Ähnlich wie sich die Exhibitionisten meist infolge eines neurotischen Schwächezustandes mit einem sexuellen Ersatzziel begnügen, so erwächst auf dem Boden physischer oder psychischer Impotenz bei manchen Männern3) auch die Neigung, sich mit unreifen Mädchen — oft sogar mit kleinen Kindern 4 ) — abzugeben. In der Praxis begegnen wir hauptsächlich zwei Gruppen solcher „Pädophilen": Greise, bei denen sich über die Zeit ihrer Potenz hinaus eine sexuelle Begehrlichkeit erhalten hat, zu deren Befriedigung sie spielerische Ersatzhandlungen suchen; dann aber auch junge Leute, oft erst im Nachpubertätsalter stehend, die sich an erwachsene Mädchen noch nicht herantrauen, während ihr jäh erwachter Geschlechtstrieb bereits nach körperlicher Befriedigung drängt. Bei dieser zweiten — kleineren — Gruppe geht eine solche Neigung häufig mit leichtem Schwachsinn Hand in Hand. Aber auch bei sexualneurotischen (besonders bei infantilen) Männern der mittleren Altersstufe entwickeln sich mitunter pädophile Neigungen. Die äußeren Tathandlungen sind in allen diesen Fällen gleich: meist begnügen sich die Täter mit dem Betasten des Geschlechtsteiles des Mädchens oder Einführen des Fingers, mitunter stellen sie auch das Verlangen, daß das Kind ihren eigenen Geschlechtsteil angreife u. ä. Mitunter werden sogar Vorrichtungen am Körper selbst zur Erhöhung der vermeintlichen W i r k u n g vorgenommen; so befestigte z. B. ein Exhibitionist eine kleine Glühbirne unter seiner Vorhaut. *) Vgl. außer der oben S. 258 A n m . 1 angeführten Literatur A. G. Heß, Kinderschändung, Leipzig 1934. 3) A u c h bei Frauen kommen analoge v o n Knaben) vor, aber bedeutend seltener.

Handlungen

*) Nicht hieher gehört die bei Urningen s. darüber oben unter Homosexualität.

(sexueller

anzutreffende

Die

Mißbrauch

„Knabenliebe";

Kinderschändung und

Blutschande.

273

Die Tat des Pädophilen ist nach § 176 Nr. 3 StGB. 1 ) strafbar; die Frage der Zurechnungsfähigkeit ist — besonders bei bisher unbescholtenen Greisen — sorgfältig zu prüfen. A) S o n s t i g e g e s c h l e c h t l i c h e A b w e g i g k e i t e n . Außerhalb der eigentlichen Perversionen kommen noch mannigfache geschlechtliche Betätigungen vor, die den Normen widerstreiten, die Natur oder Kultur unserem Geschlechtsleben gezogen haben und die teils in unmittelbarer, teils nur in mittelbarer Beziehung zur Kriminalität stehen. Wir sprechen darum in weiterem Sinn von geschlechtlichen Abwegigkeiten. Hierher gehören vor allem I n z e s t h a n d l u n g e n , d . h . geschlechtlicher Verkehr mit nahen Verwandten2). Der besonders schwere Fall des Beischlafes zwischen Aszendenten und Deszendenten (die Blutschande im engeren Sinn) kommt erfahrungsgemäß sogar häufiger vor als der Verkehr zwischen Geschwistern. Meist sind es sexuell übererregbare, vielfach trunksüchtige Männer, die sich, wenn die Frau krankheitshalber in einem anderen Raum schläft oder aus einem sonstigen Grund abwesend ist, an ihrer eigenen Tochter vergreifen8). Als auslösendes Moment spielen dabei exogene Umstände, vor allem das Schlafen im gemeinsamen Raum, mitunter sogar in einem Bett, eine entscheidende Rolle, doch dürfen darüber die in der Persönlichkeit des Täters gelegenen Voraussetzungen, vor allem die sexuelle Unbeherrschtheit, der Mangel an sittlichen Hemmungen und oft auch ein leichterer Grad von Schwachsinn (der aber keineswegs die Verantwortlichkeit aufhebt) nicht übersehen werden. Besonders sind halbwüchsige Mädchen nach erreichter Pubertät unter solchen Umständen derartigen Angriffen ausgesetzt — schon daraus ist die große Gefährlichkeit solcher Tathandlungen zu erkennen. Mitunter setzt sich ein solcher Inzestverkehr durch Jahre fort, bevor er — meist infolge Anzeige der Frau, die Verdacht geschöpft hat, oder späterer Selbstanzeige des Mädchens — entdeckt wird4). Zu den von Recht und Kultur verbotenen Äußerungen des Geschlechtslebens gehört ferner der erzwungene Beischlaf in allen seinen Spielformen, angefangen von der Ausnützung eines seelischen oder wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses bis zur N o t z u c h t durch rohe Gewalt6). Das Sexualziel ist hier keineswegs pervers, da es ja auf Beischlaf mit einer erwachsenen Person des anderen Geschlechts gerichtet ist, aber der W e g zur Erreichung dieses Zieles zeigt in allen diesen Fällen «in gemeinsames Merkmal: der Täter setzt sich über das Fehlen der ') I n der O s t m a r k : „ S c h ä n d u n g " n a c h § 128 S t G . a) N e u e r e L i t e r a t u r : v. Hentig u n d Viernstein, U n t e r s u c h u n g e n über den I n z e s t , Heidelberg 1 9 2 5 ; Többen, Ü b e r den I n z e s t , L e i p z i g 1 9 2 5 ; Eber, D i e B l u t s c h a n d e , L e i p z i g 1936. ') A u c h Stief- u n d Z i e h t ö c h t e r werden o f t d a s O p f e r eines solchen sexuellen M i ß b r a u c h e s ; im B e w u ß t s e i n des T ä t e r s spielen diese U n t e r s c h i e d e meist nur e i n e geringe Rolle, a b e r die strafrechtliche B e h a n d l u n g ist v e r s c h i e d e n (§ 1 7 3 A b s . x u n d 2, § 1 7 4 N r . 1 S t G B . ) . *) V g l . a u c h den o b e n S . 34 in a n d e r e m Z u s a m m e n h a n g m i t g e t e i l t e n Fall. *) V g l . Nordkausen, Artikel „ N o t z u c h t " im H d K . G r o ß - S e e l i g , Handbuch. 8. Aufl.

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

freien Einwilligung des Sexualpartners hinweg. Während für den normal empfindenden Mann unserer Kultur das Wissen um die freie Hingabe der Partnerin Voraussetzung für das eigene vollwertige Erleben des Geschlechtsaktes ist, stört den Notzüchter der Mangel dieser Voraussetzung nicht. Es sind dies darum meist auch Menschen von sehr primitiver seelischer Struktur1). Beim gewalttätigen Notzüchter finden wir zum Teil sogar eine Umkehrung des normalen Erlebnisablaufes: die körperliche Überwältigung des Opfers, seine Hilfeschreie, seine Wehrlosigkeit in gefesseltem Zustand steigern mitunter erst recht die sexuelle Erregung des Täters. In diesen Fällen kommt somit noch ein sadistischer Zug hinzu. Von einem solchen gewaltsamen Brechen des äußeren und inneren Widerstrebens des Sexualobjektes wohl zu unterscheiden ist aber die Überwindung jenes natürlichen Widerstandes, den die meisten Frauen gegen den ersten Verkehr mit einem neuen Sexualpartner zeigen. Dieser Widerstand erklärt sich aus der uns schon bekannten2) Ambivalenz der Sexualgefühle: die Vorstellung des Sexualzieles wird auch bei darauf gerichteter Triebregung zunächst mit Unlustbetonung erlebt und erst bei fortgeschrittenem Ablauf der sexuellen Erlebnisreihe geht diese Unlustbetonung unmittelbar in eine entsprechende Lustbetonung über. Eine nur auf Überwindung dieser anfänglichen Hemmungen gerichtete Gewalt3) gehört zu den Normalerscheinungen unseres Geschlechtslebens und hat mit Notzucht nichts zu tun. In Einzelfällen kann es freilich zu zweifelhaften Übergangsformen kommen, die eine ebenso schwierige wie verantwortungsvolle Aufgabe für die psychologische Beurteilung durch den U. darstellen4). Besonders gegenüber Notzuchtsanzeigen von ') I m Jahre 1934 konnte Seelig im Kriminalbiologischen Seminar einen 19jährigen, leicht debilen, aber sonst gesunden, kräftigen Bauernburschen demonstrieren, der wegen Notzucht und Brandlegung verurteilt war. E r wurde v o n den Dorfmädchen nicht recht ernst genommen und hatte noch keinen Verkehr gehabt. Auf ein bestimmtes Mädchen h a t t e er es schon seit längerem abgesehen, doch wagte er es nicht, zu ihr „fensterin" zu gehen, da er fürchtete, daß sie die männlichen Hausbewohner zu Hilfe rufen würde. D a k a m er auf den Gedanken, ein benachbartes Wirtschaftsgebäude anzuzünden, damit alle Männer bei der Löschungsarbeit beschäftigt seien. E r führte den P l a n in der N a c h t aus und drang, als die Löschungsarbeiten mitten im Gange waren, in die K a m m e r des Mädchens. Dieses war aber — wie auch die meisten übrigen Frauen — mit den Männern zur Brandstätte geeilt. In höchster sexueller Erregung suchte er in allen Räumen des Bauernhauses nach irgendeinem weiblichen Wesen. Schließlich traf er in einer K a m m e r eine 56jährige schwächliche Frau an, die im B e t t geblieben war. E r stürzte sich sofort auf sie und vergewaltigte sie. Bei der Untersuchung gab er an, es sei ihm in diesen Augenblicken alles gleich gewesen, er habe nur gewußt, heute müsse er ein Mädchen haben. a ) Oben S. 271; vgl. Seelig, Die Ambivalenz der Gefühle im Zuge des Sexualerlebens, Zschr. f. ängew. Psychologie 36 S. 138. ®) Die altrömischen Juristen sprachen v o n einer „ n i c h t unwillkommenen G e w a l t " (vis haud ingrata). 4) Vielfach werden äußere Umstände heranzuziehen sein: bei ernstlicher A b w e h r seitens einer halbwegs kräftigen, jungen Frau gelingt einem A l l e i n t ä t e r der Vollzug des Beischlafes nicht, falls er nicht den Widerstand durch besondere Mittel (Betäuben durch Schläge auf den K o p f , Würgen, Fesseln, Knebeln) vorher bricht. A u c h strafbarer N o t z u c h t s v e r s u c h wird in der Regel nur anzunehmen sein, wenn der ernstliche Widerstand der Frau, die er nicht bezwingen konnte, durch laute Hilfeschreie, Spuren der Gewaltanwendung an K ö r p e r und

N o t z u c h t und andere sexuelle A b w e g i g k e i t e n .

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Hysterikerinnen ist, wie schon in anderem Zusammenhang betont wurde1), Vorsicht geboten und auch auf die Möglichkeit fingierter Verbrechen ist zu achten2). Weitere sexuelle Abwegigkeiten kommen bei Sexualneurotikern in den verschiedensten Formen vor. So begnügen sich manche Männer als Ersatzziel mit dem Z u s e h e n bei geschlechtlichen Handlungen anderer, wobei sie meist selbst masturbieren; um sich solche Gelegenheiten zu verschaffen, lauern sie z. B. Liebespärchen in öffentlichen Anlagen auf. Andere wiederum finden Befriedigung darin, jungen Mädchen unzüchtige Bilder zu zeigen. Als „Voyeurs" bezeichnet man Männer, die zu ihrer sexuellen Erregung Frauen bei der Verrichtung ihrer Notdurft zusehen; oft schleichen sie sich zu diesem Zweck in öffentliche Bedürfnisanstalten ein. Hier wird somit das sonst mit Unlustbetonung auftretende Ekelgefühl als Lustgefühl erlebt — wiederum ein Sonderfall der schon behandelten Ambivalenz des sexuellen Gefühlslebens. Bei besonderer Steigerung dieser ambivalenten Form des Ekelgefühls kann es zu den abstoßendsten Verirrungen kommen (Urintrinken u. ä.). Auf demselben Prinzip der Ambivalenz des Ekelgefühls beruhen aber auch die viel häufiger vorkommenden Abwegigkeiten im Rahmen des sonst normalen sexuellen Verkehrs zwischen den beiden Geschlechtern, so die verhältnismäßig oft vorkommende F e l l a t i o (Mundverkehr, Coitus in os der Frau) und der vom Mann geübte C u n n i l i n g u s (Berühren des weiblichen Geschlechtsteils mit der Zunge). Soweit solche Praktiken sich nur im Rahmen des „Vorspiels" auf dem Wege zum normalen Beischlaf bewegen, sind sie nicht als pervers im engeren Sinn anzusprechen, wohl aber darin, wenn sie zum Endziel werden und dadurch an die Stelle des Beischlafes treten3). Eine weitere Steigerungsform solcher Betätigungen ist der „Triolenverkehr", d. i. die Vornahme unzüchtiger Handlungen zu dritt (eines Mannes mit zwei Frauen oder einer Frau mit zwei Männern). Die kriminologische Bedeutung aller dieser hier genannten Abwegigkeiten kann sehr verschieden sein: zum Teil werden unmittelbar dadurch strafbare Tatbestände gesetzt (so kann in den Handlungen eines „Voyeurs" Kleidern usw. erkennbar ist. Ähnliche Beweisregeln verwendete schon das alte deutsche R e c h t ; doch ist die Tatsituation in j e d e m Einzelfall unter Berücksichtigung der Persönlichkeiten des Täters und des Opfers besonders zu prüfen. Wesentlich anders liegen die Fälle, in denen z w e i T ä t e r (z. B . entlassene Sträflinge) übereinkommen, die nächste Frau, die ihnen im W a l d e begegnet, zu überfallen und zu notzüchtigen. In einem solchen (ebenfalls v o n Seelig im Kriminalbiologischen Seminar demonstrierten) Fall konnten beide Sträflinge an d e m Opfer hintereinander den Beischlaf vollziehen, indem die Frau jeweilig v o n d e m anderen niedergehalten wurde. A u c h hier war das Opfer eine alte Frau, was aber die T ä t e r in der D u n k e l h e i t des Waldes nicht b e m e r k t hatten. J)

Oben S. 257. Siehe darüber oben S. 34. ®) Dies wird bei öfters geübter Fellatio dann der F a l l sein, wenn dabei regelmäßig Samenerguß eintritt. Wie wenig diese F o r m des sexuellen Verkehrs dem ursprünglichen deutschen Geschlechtsempfinden entspricht, ist aus ihrer volkstümlichen Bezeichnung („französisch machen") zu erkennen. Fellatio und Cunnilingus werden o f t auch gleichzeitig ausgeübt (,,soixante-neuf" nach dem Bild der Zahl 69). a)

18*

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

der Tatbestand der öffentlichen Erregung eines geschlechtlichen Ärgernisses oder etwa auch der Beleidigung gelegen sein); zum Teil liegt ein an sich strafloses Geschehen vor, so vor allem dann, wenn sich derartige Dinge zwischen erwachsenen Personen beiderlei Geschlechts in geschlossenem Raum mit gegenseitigem Einverständnis abspielen. Aber auch dann kann die gewohnheitsmäßige Befriedigung solcher perverser Neigungen einerseits zur Abstumpfung gegenüber normalen Geschlechtsreizen und anderseits zu einem gesteigerten sexuellen Reizhunger führen, der — besonders bei plötzlicher Nichtbefriedigung — die verschiedensten kriminellen Entladungen zur Folge haben kann1). Auf diese Weise ist die Gewöhnung an solche Perversitäten mitunter mittelbar kriminogen.

4. Einfluß weiblicher Geschlechtsfunktionen2). Wir meinen darunter die Menstruation (besonders die erste), das Klimakterium, die Schwangerschaft, die Geburt und die Laktationszeit, Zustände, deren wichtiger Einfluß auf die weibliche Psyche — namentlich, wenn diese nicht robust ist — noch immer weit unterschätzt wird. Wir müssen daran festhalten, daß bei jeder Beschuldigten und bei jeder halbwegs wichtigen Zeugin der Gerichtsarzt beizuziehen ist, wenn sich die Betreffende in einem der fraglichen Zustände befunden hat (zur Zeit >) Aus der umfangreichen Kasuistik der kriminologischen Literatur sind hiefür besonders zwei Fälle lehrreich: Wulften (Der Sexualverbrecher S. 472) berichtet von einem 21jährigen Buchhalter, der an Fellatio (Coitus in os) und Triolenverkehr — meist mit Prostituierten — gewöhnt, schließlich dazu gelangte, an einer Hamburger Prostituierten mit einem mitgebrachten Rasiermesser einen Lustmordversuch zu begehen. Horch (Tötung zweier Kinder, Archiv 73 S. 18) stellt ausführlich den Werdegang und die furchtbare Mordtat eines 38jährigen Gastwirtes dar, der seine 16jährige Tochter und seinen i5jährigen Sohn durch Messerstiche im Schlaf tötete, während er zur beabsichtigten Tötung des dritten Kindes und des geplanten Selbstmordes nicht mehr die Kraft hatte. Die Tat war die Reaktion darauf, daß sich seine moralisch minderwertige Frau, der er in sexueller Hörigkeit ergeben war, endgültig von ihm abwandte und zu ihrem Freund zog; mit diesem und seiner Frau hatte der Gastwirt durch lange Zeit triolistischen Verkehr gepflogen; hiebei mußte der Freund in seiner Gegenwart mit seiner Frau verkehren, worauf er selbst bei seiner Frau Cunnilingus ausübte. a) G. Simmel, Zur Psychologie der Frauen, Berlin 1890; v. Krafft-Ebbing, Psychosis menstrualis, Stuttgart 1902; Wollenberg, Die forensisch-psychiatrische Bedeutung des Menstruationsvorganges, MschrKr. 2 S. 36; Bischoff, Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden, Archiv 29 S. 109; Weinberg, Über den Einfluß der Geschlechtsfunktionen auf die weibliche Kriminalität, Juristischpsychiatrische Grenzfragen Bd. V I Heft 1; Boas, Menstruation und Warenhausdiebstahl, Ztschr. f. Psychotherapie u. med. Psychologie 1909 S. 300; Boas, Über einen Mord und Suicidversuch in der Menstruation, Archiv 35 S. 226; v. Jaworski, Über Erscheinungen und Störungen während der Menstruation, Wiener klinische Wochenschr. 1910 Nr. 40; Jassny, Zur Psychologie der Verbrecherin, Archiv 42 S. 90; Boas, Zur forensischen Bedeutung und Behandlung der mit psychischen Störungen einhergehenden Menstruationszustände, Archiv 53 S. 324; Wulffen, Das Weib als Sexualverbrecherin, Berlin 1923; Jolly, Menstruation und Psychose, Archiv f. Psychiatrie u. Nervenkr. 55 H. 3; Zingerle, Zur psychologischen Genese sexueller Perversionen (Kleptomanie mit sexuellem Orgasmus), Jahrb. f. Psychiatrie 19; H. Sellheim, Gemüts Verstimmungen der Frau, Stuttgart 1930; Sellheim, Wechseljahre der Frau, Stuttgart 1932; Hagemann, Artikel „Weibliche Kriminalität" im H d K .

Delikte von Frauen auf sexueller Grundlage.

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der Tat, der Vernehmung und der Wahrnehmung). Wer einige Erfahrung hat, wird es ja merken, wenn eine Vernommene in der Hoffnung ist oder eben menstruiert, und wird die Vermutung durch Bejahung einer direkten Frage bestätigt, so verschiebe man jede Vernehmung, wenn sie nicht sehr dringend ist. Zum mindesten muß die Vernehmung in einem solchen Falle nach einigen Tagen (bei Menstruation, sonst entsprechend länger) wiederholt werden. Man wird staunen, um wie viel klarer, einfacher, richtiger und versöhnlicher die Frau nun spricht im Vergleiche zu ihrem Gehaben während der Menstruation. Das geht bis zu Kleinigkeiten herab: ich rate z. B., Ehrenbeleidigungsverhandlungen zwischen Frauen ja nicht 4 (oder 8 oder 12) Wochen nach der Beleidigung oder nach der erfolgten Anzeige anzuordnen — die sanftesten und gutmütigsten Frauen haben um diese kritische Zeit oft den Teufel im Leibe und sind unversöhnlich. Die meisten Ehrenbeleidigungen werden nämlich von Frauen zur Zeit ihrer Menstruation begangen oder zu dieser Zeit von Frauen angezeigt. Findet nun die Verhandlung nach 4 Wochen oder dem vielfachen dieser Zeit statt, so ist die Täterin oder die „Beleidigte" wieder in der fraglichen unguten und fast pathologischen Stimmung. Der U. sollte auch bei jeder Einlieferung einer Frau wegen einer Gewalttat oder eines Affektdeliktes feststellen lassen, ob der Häftling nicht gerade in der Menstruation sei. Es k a n n dies von Belang sein. Mitunter können auch Vermögensdelikte durch verborgene sexuelle Vorgänge bedingt sein. An eine solche Möglichkeit wird besonders dann zu denken sein, wenn die Tat sonst psychologisch kaum zu erklären ist: Das ist z. B. der Fall, wenn eine Frau, die in guten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen lebt, immer wieder W a r e n h a u s d i e b s t ä h l e begeht und der darüber unglückliche Ehegatte das gestohlene Gut sofort an das Warenhaus zurücksendet. Eine solche scheinbare „Kleptomanie" erklärt sich mitunter daraus, daß das Spiel mit der Gefahr, bei der Wegnahme erwischt zu werden, bei manchen Frauen eine sexuelle Erregung auszulösen vermag; gefördert wird ein solcher Vorgang durch die leichte Nervenerregung, in die Frauen schon durch die Warenhaussituation als solche (Ausgebreitetliegen so vieler begehrenswerter Dinge und das bunte Menschengetriebe des kaufenden Publikums) geraten1). 5. Alkohol und andere Rauschgifte.

Die Literatur über die so wichtige Frage des Alkoholismus ist eine überreiche2) und hat namentlich in Verbindung mit der ebenfalls so x) Das Problem des Warenhausdiebstahls wurde von Dubuisson, Les voleuses des grands magasins, Arch. d'anthropologie crim. 16 S. 1 (1901) aufgerollt; vgl. (außer der oben angeführten Literatur) noch: Laquer, Der Warenhausdiebstahl, Halle 1907; Raimann, Über Warenhausdiebinnen, MschrKr. 13 S. 300; Drendel, Art. „Warenhausdiebstahl" in H d K . a) Hoppe, Alkohol und Kriminalität in allen ihren Beziehungen, Wiesbaden 1906; Kraepelin, Psychiatrie, I I (Klinische Psychiatrie, I. Teil), 8. Aufl., Leipzig 1910 (Neuauflage 1927); Boas, Alkohol und Verbrechen nach neueren Statistiken, Archiv 29 S. 66; Hoppe, Trunkenheit und Zurechnungsfähigkeit, Archiv 30 S. 163; Boas, Alkohol und Verbrechen, Archiv 32 S. 155; Fehlinger, Ist Alkoholismus

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wichtigen Frage der Degeneration eingehende Erörterung gefunden. Ob der Alkoholismus tatsächlich zur Degeneration führt, ist zweifelhaft. Wir sehen zwar, daß Alkoholisten verkommen und ihre Nachkommen auch, es ist aber doch zu erwägen, ob nicht umgekehrt vorhandene Psychopathie und Degeneration zum Alkoholismus treibt: der gar nicht psychopathische Mensch wird eben nicht chronischer Alkoholiker, selbst nicht in solchen Lebensverhältnissen, in denen Kummer und Sorge den Degenerierten dazu triebe 1 ). Dieser Zusammenhang des chronischen Alkoholismus mit erblicher Psychopathie begründet es auch, daß das deutsche Sterilisationsgesetz die schweren Fälle der Trunksucht (die selbst natürlich nicht vererbbar ist) den Erbkrankheiten gleichsetzt2). Für den U. ist es wesentlich, die Wirkungen und Begleiterscheinungen des Alkoholmißbrauches zu kennen. C h r o n i s c h e r Alkoholismus geht meist mit einer Steigerung der Affekterregbarkeit Hand in Hand: die Reizschwelle, die zur Auslösung von Affektausbrüchen genügt, nimmt ab und die Intensität der ausgelösten Affekte steigt. Dadurch erlangt die Trunksucht mannigfache kriminogene Bedeutung. Sie ist in der Regel eines der Merkmale, die den Verbrechertyp des „aggressiven Gewalttäters" kennzeichnen 3 ). Andauernde Trunksucht kann schließlich zu den pathologischen Zuständen des Delirium tremens und des sogenannten Eifersuchtswahns führen. „Wenn einer Fragen über eheliche Untreue seiner Frau ungescheut, etwa auch vor Zeugen sofort behauptet und ungescheut Beweise dieser Untreue bringt, so ist er fast immer chronischer Alkoholist"4). Am Aussehen erkennt man nicht jeden Trinker, wohl aber — wenn er Aussagen macht — an der eigentümlichen, gekränkten, weinerlichen Art der Darstellung, deren Glaubwürdigkeit stets zu bezweifeln ist. eine Ursache der Entartung? Archiv 41 S. 302; Gruber, Der Alkoholismus, Leipzig 1920; Dresel, Die Ursache der Trunkensucht und ihre Bekämpfung durch die Trinkerfürsorge in Heidelberg, Berlin 1921; Meggendorfer, Intoxikationspsychosen, in: Handbuch der Geisteskrankheiten, hgg. v. Bumke, Bd. 7, 1928; J. Lange, Heilbehandlung von Alkoholikern, Berlin 1929; R. Wlassak, Grundriß der Alkoholfrage, Leipzig 1929; Ostmann, Über sogenannte Kriminalität der Alkoholkranken, MschrKr. 19 S. 351; Jahrreiß, Artikel „Alkoholismus" im HdK.; Pohlisch, Soziale und persönliche Bedingungen des chronischen Alkoholismus, Leipzig 1933. Hans Groß, Anmerkung zum Aufsatz Fehlingers, Archiv 41 S. 306. 2 ) Gült-Rüdin-Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. 7. 1933 nebst Ausführungsverordnungen, München 1936. Ob ein Fall von Alkoholismus „schwer" ist, entscheidet sich somit nicht nach dem durchschnittlichen Alkoholkonsum, sondern danach, ob nach der Gesamtpersönlichkeit des Trunksüchtigen und der Minderwertigkeit seiner Sippe der ständige Alkoholmißbrauch a l s A n z e i c h e n e i n e r p s y c h o p a t h i s c h e n D e g e n e r a t i o n anzusehen ist; denn dann ist zu erwarten, daß auch die Nachkommen des Alkoholikers an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden. Vgl. Pause, Was ist schwerer Alkoholismus im Sinne des Gesetzes? Der Erbarzt 1934 S. 19; Meggendorfer, Was ist schwerer Alkoholismus? Deutsche med. Wochenschr. 1935; Trunk, Allzugroßes Zögern bei Unfruchtbarmachung wegen schweren Alkoholismus, Der Erbarzt 1935 S. 41. ») Seelig, Das Typenproblem in der Kriminalbiologie, Journal für Psychologie und Neurologie 42 S. 515. ') H. Pfister, Strafrechtlich-psychiatrische Gutachten, Stuttgart 1902.

Alkoholismus und akute Trunkenheit.

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Die psychischen Wirkungen der a k u t e n Alkoholvergiftung, des Rausches, wurden schon in anderem Zusammenhang erörtert 1 }. Die Fälle, in denen ein Verbrechen in einer die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Volltrunkenheit begangen wird, sind selten und auch dann bleibt in der Regel eine strafrechtliche Haftung bestehen 2 ). Die leichteren Trunkenheitsgrade aber, die bei Deliktsbegehungen häufiger vorkommen, bedeuten keineswegs einen mildernden, sondern in der Regel einen erschwerenden Umstand. Das gilt besonders für die fahrlässige Gefährdung des Lebens der Mitmenschen durch trunkene Wagenlenker oder andere Verkehrsteilnehmer. Auch bei Zeugen sind in gewissen Fällen ganz leichte Alkoholvergiftungen von Bedeutung, da durch sie der U. arg irre geführt werden kann 3 ). Darum ist es für den U. von größter Wichtigkeit, das Vorliegen eines Rauschzustandes und seinen Grad zu erkennen. Ein objektives Kennzeichen der Trunkenheit und ihres Grades wurde seinerzeit von H. Gudde in der P u p i l l e n r e a k t i o n bei Lichteinfall erblickt, die bei Rauschzuständen auch noch durch einige Stunden herabgesetzt ist4). Eine allgemeine klinische Untersuchung, bei der aber außer der Pupillenreaktion auch ein allfälliger T r e m o r oder eine A t a x i e der B e w e g u n g e n , besonders beim Gehen, Schreiben, Aufheben kleiner Gegenstände usw., der A l k o h o l g e r u c h d e r A t e m l u f t und anderes festzustellen sein wird, vermag auch heute noch wesentliche Anhaltspunkte zu bieten. Daneben wird jedoch die Feststellung des A l k o h o l g e h a l t e s d e s B l u t e s von entscheidender Bedeutung sein. Hierzu dient die Widmarksche Methode der Blutalkoholprobe, die — anfänglich umstritten — bei richtiger Durchführung und Auswertung des Ergebnisses vorzügliche Dienste leistet und heute allgemein eingeführt ist. Uber den Untersuchungsgang, dessen Einzelheiten in das Gebiet der gerichtlichen Medizin fallen, hat der U. soweit orientiert zu sein, daß er die möglichen Fehlerquellen und die Bedeutung des medizinischen Befundes richtig zu würdigen vermag 5 ). *) Oben S. 115 und 128. Wegen schuldhafter Herbeiführung des Rauschzustandes nach § 330 a R S t G B . (im Strafrecht der Ostmark: Übertretung der Trunkenheit nach § 523 STG.) oder auch wegen vorsätzlicher Begehung, falls der Täter den Vorsatz in nüchternem Zustand faßt und sich zwecks Tatausführung betrinkt (sog. actio libera in causa); auch können bei Zurechnungsunfähigkeit sichernde Maßnahmen (Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt) nach § 42 c R S t G B . angeordnet werden. Bei der Prüfung der Zurechnungsfähigkeit ist auch auf die Möglichkeit eines sog. „ p a t h o l o g i s c h e n R a u s c h z u s t a n d e s " Bedacht zu nehmen, der bei manchen Psychopathen schon durch verhältnismäßig kleine Alkoholmengen ausgelöst werden kann; vgl. Bonhäffer, Akute Geisteskrankheiten der Gewohnheitstrinker, Jena 1901; Mönhemöller, Der pathologische Rauschzustand und seine forensische Bedeutung, Archiv 59 S. 120 und S. 193. 8) Vgl. oben S. 116. 4) Neurologisches Zentralblatt 1900 Nr. 23; hierzu H. Groß, Eine Probe für den Bewußtseinszustand beim Rausch, Archiv 6 S. 207. 5 ) Widmark, Die theoretischen Grundlagen und die praktische Verwendbarkeit der gerichtlich-medizinischen Alkoholbestimmung, Berlin 1932; Jungmichel, Alkoholbestimmung im Blut, Berlin 1933; Müller-Heß und Wiethold, Über die Widmark sehe Methode der Alkoholbestimmung im Blut und ihre praktische Bedeutung für die Kriminalpolizei, Kriminalistik 7 S. 1; Elbel, Die a)

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I V . A b s c h n i t t . D e r S a c h v e r s t ä n d i g e und sonstige Hilfen usw.

Die Widmarksehe Methode beruht auf der Erkenntnis, daß nur der v o m B l u t r e s o r b i e r t e Alkohol auf das Zentralnervensystem wirkt und die Trunkenheit verursacht. Hierbei kommt es nicht auf die im Blut enthaltene absolute Alkoholmenge, sondern auf den r e l a t i v e n Alkoholgehalt des Blutes an und gerade dieser wird durch das Widmark sehe Verfahren bestimmt. Es genügt hierfür schon eine kleine Menge Blutes (etwa 0,3 ccm), die nach Einstich in das Ohrläppchen mittels drei oder vier Kapillaren (kleinen, s-förmig gekrümmten Glasröhrchen) aufgefangen wird. Zweckmäßiger ist jedoch die Entnahme einer größeren Blutmenge mittels der Kollerschen Venüle. Der weitere Untersuchungsgang wird in den Laboratorien der gerichtlich-medizinischen Institute oder ähnlicher hiefür eingerichteter Anstalten durchgeführt. Die genau gewogene Blutmenge wird bei 6o° C durch zwei Stunden destilliert und der dabei entweichende Alkohol von einer ebenfalls genau bestimmten Menge Kaliumbichromatschwefelsäure aufgenommen und reduziert. Hierauf wird unter Zusatz von Jodkali und Stärke (zur Blaufärbung) mit einer Natriumthiosulfatlösung so lange titriert, bis die Farbe in Weiß umschlägt. Die hiebei verbrauchte Menge Natriumthiosulfat wird gleichfalls genau festgestellt. Diesen Vorgang wiederholt man mit drei oder vier Blutproben und zwischendurch viermal ohne solche („Leerversuche"). Der sich aus einer Versuchsreihe ergebende Unterschied zwischen der verbrauchten Menge Thiosulfat bei den Leerversuchen und bei den Blutversuchen ist proportional der in der Blutprobe enthaltenen Alkoholmenge. Hieraus wird die Alkoholkonzentration des Blutes nach einer Formel errechnet, die den Alkoholgehalt pro Mille angibt 1 ). Die Einwände, die anfänglich von vielen Seiten gegen die Widmarksche Blutalkoholbestimmung zur Feststellung der Trunkenheit erhoben wurden, bezogen sich teils auf die Möglichkeit technischer Fehler des Verfahrens, teils auf die Auswertbarkeit des Ergebnisses. Zur Verhütung t e c h n i s c h e r F e h l e r m ö g l i c h k e i t e n sind von den meisten Polizeiverwaltungen genaue Anweisungen mit Antragsformularen herausgegeben worden2). Besonders wichtig ist hiebei, daß die übliche Desinwissenschaftlichen Grundlagen der B e u r t e i l u n g v o n B l u t a l k o h o l b e f u n d e n , Leipzig 1937; Guldberg, Ü b e r A l k o h o l b e s t i m m u n g e n bei gerichtsärztlichen Obduktionen, Dtsch. Z. gerichtl. Med. 30, 101 (1938); K. Böhmer, Die E i n w i r k u n g einiger A r z n e i m i t t e l auf den V e r l a u f der B l u t a l k o h o l k u r v e , Dtsch. Z. gerichtl. Med. 30, 205 (1938); Buhtz, D e r Verkehrsunfall, S t u t t g a r t 1938; Weyrich, Technische A b ä n d e r u n g e n u n d Fehlerquellen der W i d m a r k s c h e n Methode f ü r die q u a n t i t a t i v e A l k o h o l b e s t i m m u n g im B l u t , A b d e r h a l d e n s H a n d b u c h d e r biologischen A r b e i t s m e t h o d e n A b t . I V Teil 12, 1507 (1938); Mueller, B e h a u p t e t e und wirkliche Fehlerquellen bei der B l u t a l k o h o l b e s t i m m u n g , Kriminalistik 12 S. 8 1 ; Sigmund, Die T r u n k e n h e i t a m Steuer. E r f a h r u n g e n als S a c h v e r s t ä n d i g e r mit der W i d m a r k s c h e n Methode zur B e s t i m m u n g des Blutalkoholgehaltes a l s Beweismittel, Ä r z t l . S a c h v e r s t . - Z t g . 1939 Nr. 4 S. 43; Walcher, Gerichtlichmedizinische und kriminalistische B l u t u n t e r s u c h u n g , Berlin 1939. Die B e d e u t u n g des Pro-Mille-Alkoholgehaltes i m B l u t f ü r den Grad d e r s u b j e k t i v e n T r u n k e n h e i t ist oben S. I 2 9 f f . dargestellt. 2) I n D e u t s c h l a n d erfolgte eine einheitliche R e g e l u n g durch den R u n d e r l a ß des Reichst. ^ u. Chef d. D. Polizei v o m 19. 7. 1938, durch den der R u n d e r l a ß v o m 25. 9. 1936 für P r e u ß e n g e ä n d e r t u n d erweitert wurde.

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Die B l u t a l k o h o l p r o b e und ihre A u s w e r t u n g .

fektion der Haut vor der Blutentnahme nur mittels Sublimatlösung, keinesfalls aber mittels Alkohol oder anderer flüchtiger Stoffe erfolgt. In der Tat haben sich anfänglich wiederholt Fälle ereignet, in denen durch Verwendung solcher Desinfektionsmittel ein übermäßig großer Alkoholgehalt des Blutes vorgetäuscht wurde, ein Fehler, der bei richtigem Arbeiten nicht vorkommen kann. Der früher erwähnten Kollerschen Venüle ist zu diesem Zweck eine Watte in Sublimatlösung bereits beigegeben. Selbstverständlich muß auch der Gutachter die volle Verantwortung dafür übernehmen, daß eine fehlerhafte Reinigung der verwendeten Gefäße und eine Verwechslung der Proben während der Versuchsreihen ausgeschlossen ist. Die schließliche A u s w e r t u n g des E r g e b n i s s e s bedarf gleichfalls bestimmter Überlegungen. Vor allem ist der Z e i t p u n k t der Blutentnahme von größter Wichtigkeit und zwar einerseits im Verhältnis zum Zeitpunkt des Alkoholgenusses und anderseits im Verhältnis zum Zeitpunkt des kritischen Ereignisses (Tat, Unfall). Denn es braucht eine gewisse Zeit (meist 1 % Stunden), bis der zuletzt genossene Alkohol vollständig vom Blut resorbiert ist, und von da an nimmt die Alkoholkonzentration des Blutes durch Verbrennung

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1

2

3

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5

6

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Stunden

Abb. 7. Beispiel einer Blutalkoholkurve bei einmaligem größeren Alkoholgenuß.

und Ausscheidung in stetem Maße ab (Abb. 7). Deshalb wird vielfach auch empfohlen, zwar die allgemeine körperliche Untersuchung auf Symptome der Trunkenheit sofort nach dem Ereignis, aber die Blutentnahme erst 1 y2 Stunden nach Beendigung des Alkoholgenusses vorzunehmen. Da jedoch der genaue Zeitpunkt des letzten Alkoholgenusses objektiv kaum je feststellbar ist, kommt man zu aufschlußreicheren Ergebnissen, wenn eine erste Blutentnahme sofort und zwei weitere Blutentnahmen in Abständen von je einer Stunde durchgeführt werden. Aus den Ergebnissen kann man dann den tatsächlichen Verlauf der Blutalkoholkurve im konkreten Fall rekonstruieren und so die Angaben über den Zeitpunkt des letzten Alkoholgenusses kontrollieren. Auch ist dadurch sicherer festzustellen, welche Höhe die Blutalkoholkurve im Zeitpunkt des Ereignisses erreicht hatte. Hiebei ist zu beobachten, daß der jähe Anstieg der Kurve in den ersten 1 y2 Stunden (wie in Abb. 7) nur

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

nach der ersten Alkoholzufuhr zu beobachten ist, während bei fortgesetztem Alkoholkonsum durch mehrere Stunden selbstverständlich auch die Blutalkoholkurve durch längere Zeit nahe ihrem Höhepunkt verweilt. Keinen stichhaltigen Einwand gegen die Methode bedeutet schließlich der Umstand, daß der Resorptions- und Verbrennungsprozeß (und somit der Blutalkoholgehalt) durch Art und Umfang der N a h r u n g s z u f u h r (vor, während und nach dem Alkoholgenuß) beeinflußt ist und auch durch bestimmte M e d i k a m e n t e geändert werden kann. Hierin liegt vielmehr ein besonderer Wert der Blutalkoholuntersuchung: denn da eben nur der r e s o r b i e r t e Alkohol wirksam wird, tritt bei langsamerer Resorption naturgemäß auch die Trunkenheitswirkung verlangsamt und dadurch abgeschwächt ein und so wird eine Fehlerquelle ausgeschaltet. Wer z. B. bei starker Nahrungszufuhr mehr Alkohol „verträgt", hat eben auch eine geringere Blutalkoholkonzentration! Nur zwei Möglichkeiten kommen dabei als Fehlerquellen in Betracht: eine heimliche (d.h. dem Gutachter nicht bekannt gewordene) medikamentöse Beeinflussung der Blutalkoholkurve in der Zwischenzeit (z. B. durch eine Insulineinspritzung, durch die möglicherweise der Blutalkoholgehalt gesenkt wird 1 )) und umgekehrt eine medikamentöse Beeinflussung der physiologischen und psychischen Trunkenheitswirkungen vor dem Ereignis, die keine Verringerung der Alkoholresorption zur Folge hat und dadurch im Blutalkoholgehalt nicht zum Ausdruck kommt. Eine solche letztere Möglichkeit kommt praktisch nur bei Koffeinzufuhr, also bei Genuß starken K a f f e e s in Frage, durch den aber nur für eine vorübergehende Zeitspanne (etwa 15 bis 30 Minuten nach dem Genuß) die durch den Alkohol bedingten Ermüdungserscheinungen und die Bewegungsunsicherheit verringert werden können; die Blutalkoholkurve ändert sich dabei nicht. Wird daher von einem beschuldigten Kraftfahrer gegen das Ergebnis der Blutalkoholbestimmung eingewendet, daß er zur Zeit des Ereignisses infolge Kaffeegenusses ernüchtert war, so wird der U. nachzuforschen haben, wie stark der Kaffee war und w a n n der Kaffeegenuß stattfand. Andere Medikamente (größere Dosen Aspirin, Barbitursäurepräparate u. ä.) können zwar umgekehrt physiologische Wirkungen hervorrufen, die den Rauschwirkungen durch Alkohol ähnlich sind, sie ergeben aber bei der Widmarkschen Blutuntersuchung keinen positiven Befund, so daß auch in diesem Falle die Blutalkoholbestimmung den tatsächlichen Verhältnissen entspricht2). Auf alle solche Möglichkeiten, denen der U. bei der Führung der Erhebungen nachzugehen hat, wird er auch den begutachtenden Arzt aufmerksam zu machen haben. Einer größeren praktischen Anwendung eines solchen Tricks, um das Ergebnis der Blutalkoholbestimmung zugunsten des Täters zu beeinflussen, steht entgegen, daß Insulin ohne Rezept [nicht abgegeben werden darf und seine Einspritzung bei Nicht-Zuckerkranken keineswegs ungefährlich ist. 2) In einem hierher gehörigen Fall hat es allerdings verwirrend gewirkt, daß der Täter, der unter Alkoholwirkung stand, außerdem zur Linderung von Magenschmerzen eine übermäßige Dosis von Somnintabletten eingenommen hatte (siehe Buhtz a. a. O.).

Morphium und Kokain.

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Unter besonderen Umständen kann es sich empfehlen, außer der Blutalkoholbestimmung auch den Alkoholgehalt im U r i n feststellen zu lassen, was früher öfters gehandhabt wurde 1 ). Die Urinprobe ist in der ersten Zeit nach dem Alkoholgenuß nicht so empfindlich wie die Alkoholprobe, während nach Ablauf mehrerer Stunden, wenn die Blutalkoholkurve schon wesentlich gesunken ist, der Urin noch eine höhere Alkoholkonzentration aufweist. Auch bei T o t e n ist es zweckmäßig, sowohl die Blutalkoholbestimmung mit der Widmarksehen Methode, als auch die Bestimmung des Urinalkoholgehaltes durchführen zu lassen (bei über vier Tage alten Leichen ist infolge der Fäulnisprodukte die Blutalkoholbestimmung nicht mehr verläßlich). Im Anschluß an den Alkoholismus ist noch kurz der sonstigen Rauschgiftsucht zu gedenken 2 ). In unseren Gegenden sind es hauptsächlich die M o r p h i n i s t e n und K o k a i n i s t e n , die sich an den regelmäßigen Genuß von Rauschgiften (meist in Form von Einspritzungen, bei Kokain auch in Form des Schnupfens) gewöhnen. Ein oder das andere Mal genommen wirkt Morphium (das wichtigste im Opium enthaltene Alkaloid) schmerzstillend und beruhigend und dadurch ist es für die Medizin von unschätzbarem Wert. Unlustempfindungen verschwinden und es entsteht ein mehr passiver Zustand mit allgemeinem Wohlbefinden und schließlich Schlafbedürfnis. Hingegen wirkt Kokain anregend und belebend und es entsteht ein mehr aktiver Zustand gehobener Stimmung. Deshalb wird Kokain mitunter auch von Verbrechern vor der Tatbegehung genommen, um sich Mut zu machen. Andere Rauschgifte (Haschisch, Meskalin) spielen in Europa kaum eine Rolle, was wohl auch rassisch bedingt sein mag. Überhaupt scheint — ähnlich wie beim Alkohol — die G e w ö h n u n g an solche Rauschgifte, also das Entstehen einer Rauschgiftsucht, an eine schon vorliegende Anlage gebunden zu sein, wobei freilich Verführung und zufälliges Kennenlernen der angenehmen Giftwirkung oft eine entscheidende auslösende Rolle spielt. Ständiger Rauschgiftmißbrauch durch längere Zeit hat sowohl bei Morphinisten als auch bei Kokainisten einen allgemeinen körperlich-seelischen Verfall zur Folge, der meist auch mit einem Abbau sittlicher Hemmungen einhergeht. Die Wertstrebungen engen sich auf eine egozentrische EinLiebessny, Methodik und Apparatur zum Nachweis von Alkohol im Harn, Klinische Wochenschr. 1928, II S. 1959, hat ein relativ einfaches Verfahren angegeben. 2) Hahn, Die Morphiumerkrankungen, Heidelberg 1927; Gaupp, Die Gefahren der Rauschgifte für das deutsche Volk, Berlin 1928; Joel, Die Behandlung der Giftsuchten, Leipzig 1928; Meggendorfer, Intoxikationspsychosen, in: Handbuch der Geisteskrankheiten, hgg. von Bumhe, 7. Bd., Berlin 1928; Nebe, Kriminalpolizei und Rauschgifte, Kriminalistik 3 S. 59 u. 81; Bohnhoeffer und Schwarz, Zur Frage des chronischen Kokainmißbrauches, D. Med. Wochenschr. 1930 I S. 1043; Pohlisch, Die Verbreitung des chronischen Opiatmißbrauches in Deutschland, Berlin 1931; Siegert, Der Mißbrauch von Rauschgiften in der Strafrechtsreform, MschrKr. 23 S. 344; Staehelin, Über Entstehung und Behandlung der Süchte, Schweiz. Med. Wochenschr. 1932 II S. 893; Jahrreiß und Thomas, Artikel „ R a u s c h g i f t e " im H d K .

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

Stellung ein, die sich oft nur auf das rücksichtslose Begehren des Rauschgiftes konzentriert. In diesen V e r ä n d e r u n g e n d e r P e r s ö n l i c h k e i t liegt auch die kriminogene Bedeutung der Rauschgiftsucht. Kokainisten zeigen ferner — im Gegensatz zu Morphinisten — eine Steigerung ihres sexuellen Verlangens bei gleichzeitiger Abnahme der Potenz, wodurch es auch zu geschlechtlichen Verirrungen kommen kann. Im fortgeschrittenen Stadium des Kokainismus können schließlich ausgesprochen psychotische Erscheinungen auftreten, so besonders halluzinatorische Empfindungen (Fühlen von Fremdkörpern, Hören von Stimmen). Während bei Gewöhnung an Kokain der plötzliche Entzug des Giftes nicht so fühlbar ist, hat bei Morphinisten eine plötzlich erzwungene Abstinenz besondere Erscheinungen zur Folge (Unruhe, Schlaflosigkeit, Erbrechen, Schweißausbrüche u . a . ) ; die Entwöhnung ist daher in ärztlich geleiteten Entziehungsanstalten durchzuführen. Wenn eine kriminelle Tat unter Rauschgiftwirkung begangen wurde oder sonst mit der Gewöhnung an Rauschgiftsucht in Zusammenhang steht, so kann im Deutschen Reich das G e r i c h t unter gewissen Voraussetzungen eine solche Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt a n o r d n e n 1 ) . Daher wird schon der U. die Unterlagen für eine solche allfällige Entscheidung dadurch zu beschaffen haben, daß er genaue Erhebungen über Dauer und Umfang der Rauschgiftsucht anstellt und die eingetretenen Veränderungen der Persönlichkeit des Rauschgiftsüchtigen durch eine kriminalbiologische und allenfalls psychiatrische Untersuchung feststellen läßt. 6. Landstreicher. Die Landstreicher bieten uns ein ebenso interessantes als schwieriges Problem. Ein Teil von ihnen ist n u r Landstreicher und wird nie Verbrecher, ein Teil ist aber nur so lange bloß Landstreicher, als sich keine Gelegenheit zu einem Verbrechen bietet 2 ). Aber auch der erste Teil kostet der Allgemeinheit durch Nichtstun, Betteln und Strafen ein überraschend großes Stück Geld, von dem Schaden, den der zweite Teil anrichtet, gar nicht zu reden. Gleichwohl hat es mit dem Abstrafen seine Schwierigkeiten: wenn es einen Unverbesserlichen gibt, so ist es der Landstreicher und doch ist sein Delikt derart, daß man ihn nicht sofort lebenslang einsperren kann. Wer die Lebensläufe solcher Landstreicher untersucht hat, kennt dieses trostlose Hin und Her zwischen Landstraße, Haft, Krankenhaus, wieder Landstraße, Arbeitshaus, oft mit dem Ende in irgendeinem Siechen- oder Altersheim, und kennt diese schier endlosen Strafregisterauszüge von 40, 50 und mehr Abstrafungen: Bettel, Vagabundage, verbotene Rückkehr, zwischendurch kleinere Diebstähle (Mit*) § 42 c S T G . in der Fassung des Gewohnheitsverbrechergesetzes von 1933. U m g e k e h r t gleiten auch manche a k t i v e Berufsverbrecher (z. B. E i n brecher) mit zunehmendem Lebensalter zu einer mehr passiven Form des L a n d streichertums (mit kleiner Gelegenheitskriminalität) ab (Seelig, Baumgärtner, Polligkeit in den weiter unten genannten Arbeiten). 2)

Vagabunden und Unstete.

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gehenlassen von Gebrauchsgegenständen aus der Herberge) und schwerer geahndete Gewalttätigkeitsdelikte, besonders Widersetzlichkeit gegen behördliche Organe, die den oft Trunkenen von der Landstraße aufgriffen. Die strafrechtliche Reaktion in der Form der kurzfristigen Haftstrafe bietet vielen Stromern oft nur eine angenehm empfundene Unterkunft auf bestimmte Zeit und auch das wegen seiner Langfristigkeit und des Arbeitszwanges gefürchtete Arbeitshaus 1 ) versagte für sich allein schon deshalb, weil nur ein verschwindend kleiner Teil der Landstreicher durch diese Maßnahme erfaßt wird. Die psychiatrische und kriminologische Forschung2) hat schon seit langem den großen Anteil von Psychopathen unter den Nichtseßhaften festgestellt und viel Klarheit geschaffen, aber zu raten wußte sie auch nicht. Erst der vom Lande Bayern mit bemerkenswerter Tatkraft unternommene neue Lösungsversuch3) verspricht dem alten Problem Herr zu werden: durch die Errichtung von Wanderhöfen und Zentralisierung aller einschlägigen Maßnahmen in e i n e r Stelle, bei der alle Aufgegriffenen einer ersten Untersuchung und Sichtung unterzogen werden, ist die größte Gewähr dafür geboten, daß in der Tat die j e w e i l s z w e c k m ä ß i g s t e weitere Behandlung in die Wege geleitet wird. Ein besonderer „Landesverband für Wanderdienst" wurde mit der Durchführung dieser Aufgaben betraut und konnte alsbald über sichtbare Erfolge berichten4). Der biologische Begriff des Landstreichers ist ein außerordentlich weiter und wissenschaftlich abgegrenzt durch das Moment des ruhelosen Herumstreichens, des nirgends Bleibenkönnens, des fortwährend Abwechslungsuchens. Ob der Mann Geld hat oder nicht, ob er arbeitet oder nicht, ist für den biologischen Begriff gleichgültig, natürlich nicht für den soziologischen und strafrechtlichen. Der Wohlhabende, Gebildete, der ruhelos herumzieht — meistens „wegen seiner Gesundheit" — , der im Winter im Süden, im Sommer im Norden ist und die vornehmen Gasthöfe, Pensionen, allenfalls auch Sanatorien existenzfähig machen hilft, der Globetrotter, ist biologisch genommen ein Landstreicher, und hätte er *) Vgl. Seelig, Das Arbeitshaus im Land Österreich, Graz 1938. 2 ) Wilmanns, Die Psychosen der Landstreicher, Zentralbl. f. Nervenheilkunde u. Psychiatrie 1902, 12; H. Ostwald, Das Leben der Wanderarmen, Archiv 13 S. 297; Wilmans, Zur Psychopathologie des Landstreichers, Leipzig 1906; Bonhoeffer, Ein Beitrag zur Kenntnis des großstädtischen Bettler- und Vagabundentums, Ztschr. f. d. ges. Strafrechtsw. 21 S. 1; Sturm, Die Landstreicherei, Breslau 1909; Rotering, Das Landstreichertum im früheren Mittelalter, MschrKr. 1 S. 223; Rotering, Das Landstreichertum seit den Kreuzzügen, MschrKr. 1 S. 572; Seige, Das Landstreichertum. Seine Ursachen und seine Bekämpfung, Archiv 50 S. 97; Kraepelin, Psychiatrie IV, 8. Aufl., Leipzig 1915; Räcke, Über krankhaften Wandertrieb und seine Beziehung zur unerlaubten Entfernung, Vierteljahresschr. f. ger. Medizin 1919 Heft 2. 3 ) Sieverts, Neuordnung des Wanderwesens in Bayern, MschrKr. 27 S. 434. 4) Vgl. das ausführliche Werk: Der nichtseßhafte Mensch. Ein Beitrag zur Neugestaltung der Raum- und Menschenordnung im Großdeutschen Reich, hgg. vom Bayerischen Landesverband für Wanderdienst München in Zusammenarbeit mit dem bayerischen Staatsministerium des Inneren, München 1938, mit wertvollen Beiträgen von Polligkeit, Ritter, Baumgärtner, Villinger, Stumpf,, Schultze, Eisenhart, A. Seidler u. a.

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

kein Geld, so wäre er es auch strafrechtlich; ehrlich arbeiten und auf einem Platz bleiben, würde er unter keinen Umständen. Ist bei diesem das Geld dasjenige, was sein Landstreichertum nach außen verschleiert, so ist es bei einer anderen Gruppe die Arbeit oder vielmehr dasjenige, was „ A r b e i t " genannt wird. Diese Gruppe ist sehr groß; zu ihr gehören alle die Leute, welche Jahrmärkte, Spielbudenplätze, wandernde Zirkusse und Produktionsgelegenheiten bevölkern, die als Hausierer, Musikanten, Athleten, Zauberer, Pferdehändler und Gott weiß was herumziehen; ja auch in den höchsten Künstlerkreisen kommen rphelose Leute vor, die hieher gehören. Sie alle verdienen sich ehrlich ihr Brot. Wirkliche Arbeit ist es allerdings nicht, was sie ernährt, aber es ist oft schwer und anstrengend und sehr oft lebensgefährlich, was sie treiben; das gibt ihrem Leben Reiz und die Möglichkeit, rastlos herumzuziehen und nirgends dauernd bleiben zu müssen. Ein außerordentlich belehrendes Beispiel hiefür bietet eine Selbstdarstellung von Robert Thomas1), seiner Natur nach ein echter Landstreicher, der sich doch rechtschaffen als Tierbändiger, Karusseltreiber, Schaubudenführer usw. fortbrachte. Dabei ist besonders darauf zu achten, warum er seine unzähligen Stellungen verlassen h a t : irgendein Scheingrund, in Wirklichkeit Trieb zur Abwechslung, und er zieht weiter, um unter oft schweren Leistungen (Tierbändigen, Zelt- und Budenaufschlagen usw.) sein Brot wo anders zu verdienen. Der Ruhelose, der g a r k e i n e Arbeit leistet und auf der Landstraße verkommt, bedeutet einen Schritt weiter in der Degeneration; das ist jener echte Landstreicher im engeren Sinn, dessen Behandlung uns, wie eben geschildert wurde, eine schwierige Aufgabe stellt, die nur durch Zusammenwirken aller zuständigen Stellen gelöst werden kann. Der „Wandertrieb", der diese Leute niemals seßhaft werden läßt, kennzeichnet sie als „haltlose Psychopathen", aber keineswegs als zurechnungsunfähige Geisteskranke 2 ). Eine Landstreichergruppe von besonderer rassischer Eigenart bilden die Zigeuner (siehe darüber Abschnitt V I I I ) .

7. Die Degenerierten. Die Degenerierten bilden unter den geistig Minderwertigen, Neurasthenischen, Psychopathen, endogen Nervösen keine besondere Klasse n e b e n den bisher behandelten Gruppen: auch der Epileptiker, die Hysterische, der Landstreicher, der Exhibitionist und unzählige andere dieser Art sind meist degeneriert und, weil sie es sind, hat sich eine der genannten Erkrankungen oder Neigungen bei ihnen entwickelt. 1 ) Hgg. von Julius Haarhaus: Unter Kunden, Komödianten und wilden Tieren, Berlin 1905. 2) Die ältere Manien-Lehre, die in solchen hervortretenden Triebrichtungen besondere Geisteskrankheiten sah (beim Wandertrieb: „Poriomanie"), ist von der Psychiatrie seit langem aufgegeben. Wohl aber kommen sinnloses Davonlaufen in einem A r t Dämmerzustand und ähnliche Zwangshandlungen (sogenannte „Eugues") innerhalb des Symptomenkomplexes verschiedener beginnender Geisteskrankheiten vor.

Degenerierte.

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Es gibt aber doch eine unabsehbar große Gruppe von Menschen, die zwar degeneriert sind, bei welchen sich aber Epilepsie, Hysterie usw. nicht entwickelt hat, sie bleiben ihr Leben lang Nur-Degenerierte, ohne sich als krank oder abartig in einer der genannten Formen zu erweisen. Trotzdem sind sie nicht als völlig gesund anzusehen; auf dem Boden ihres psychopathischen Wesens, ihrer meist großen Haltlosigkeit, zum Teil auch Übererregbarkeit schießt allerlei Seltsames, Unsoziales, strafrechtlich oft nicht recht zu Fassendes auf und so geben die Degenerierten dem Kriminalisten außerordentlich viel und durchwegs schwierige Arbeit. Zur Prüfung ihrer Verantwortlichkeit als Beschuldigte und ihrer Glaubwürdigkeit als Zeugen, sowie zur Entscheidung über die Anordnung sichernder Maßnahmen 1 ) hat der U. alle Umstände, die für die Beurteilung ihrer Persönlichkeit wichtig sein können (erbliche Belastung, Bewährung im Leben usw.) genau zu erheben und einen kriminalbiologisch und psychiatrisch geschulten Gerichtsarzt beizuziehen, wofür die oben entwickelten Grundsätze gelten 2 ).

8. Schlaftrunkenheit. Die Erscheinungen der Schlaftrunkenheit sind erst in neuerer Zeit vom kriminologischen Standpunkt aus näher beobachtet worden3). Solche oft schwer zu beweisende Vorgänge werden allerdings einem bekannten, gut beleumundeten Menschen, nicht aber einem Verbrecher oder Beschuldigten geglaubt, in dessen Leben sie sich aber gerade so gut ereignen können. Deshalb ist das Sammeln beglaubigter Fälle wichtig, aus denen ersehen werden kann, was in dieser Richtung tatsächlich vorkommt. 1)

Z. B . E i n w e i s u n g in eine Heil- u n d P f l e g e a n s t a i t n a c h S t r a f v e r b ü ß u n g . S. 2 5 3 f f . ; L i t e r a t u r siehe o b e n S. 247 A n m . 1 ( L e h r b ü c h e r der gerichtlichen P s y c h i a t r i e ) u n d S. 156 A n m . 2 (über p s y c h o p a t h i s c h e P e r s ö n l i c h k e i t e n ) ; ferner H. Groß, D i e D e g e n e r a t i o n u n d das S t r a f r e c h t , G e s a m m . k r i m i n a l i s t i s c h e A u f s ä t z e , 2. B d . S. 1 ; H. Groß, D e g e n e r a t i o n u n d D e p o r t a t i o n , e b e n d a S. 70; Svenson, P s y c h o p a t h i s c h e V e r b r e c h e r , A r c h i v 37 S. 209; Schubert, D i e a n g e b o r e n e G e i s t e s s c h w ä c h e u n d ihre forensische B e d e u t u n g , A r c h i v 46 S. 1 6 6 ; Voß, Z u r forensischen K a s u i s t i k des sog. n e u r a s t h e n i s c h e n Irreseins, A r c h i v 59 S. 133. 3) Mackowitz, E i n B e i t r a g zur K a s u i s t i k der S c h l a f t r u n k e n h e i t , A r c h i v 13 S. 1 6 1 ; H. Groß, Z u r F r a g e der S c h l a f t r u n k e n h e i t , A r c h i v 14 S. 189; Siefert, Z u r F r a g e der S c h l a f t r u n k e n h e i t , A r c h i v 16 S. 242; Sieber, Z u r F r a g e der Schlaft r u n k e n h e i t , A r c h i v 21 S. 1 1 0 ; II. Groß, E i n F a l l v o n S c h l a f t r u n k e n h e i t , A r c h i v 22 S. 278; Przeworski, E i n F a l l v o n S c h l a f t r u n k e n h e i t , A r c h i v 25 S. 99; Näcke, G e f ä h r l i c h e T r ä u m e , A r c h i v 27 S. 370; Hellwig, S c h l a f t r u n k e n h e i t , A r c h i v 30 S. 183; Hellwig, S c h l a f t r u n k e n e V e r b r e c h e r , A r c h i v 31 S. 93; Przeworski, Ein F a l l v o n S c h l a f t r u n k e n h e i t , A r c h i v 31 S. 1 5 9 ; Näcke, V e r b r e c h e n in der S c h l a f t r u n k e n h e i t , A r c h i v 42 S. 368; Weber, E i n F a l l v o n S c h l a f t r u n k e n h e i t , A r c h i v 56 S. 230. E i n e n v i e l u m s t r i t t e n e n F a l l einer schweren B l u t t a t in S c h l a f t r u n k e n h e i t (oder e p i l e p t i s c h e m D ä m m e r z u s t a n d ? ) bildet die T a t des 1 9 j ä h r i g e n K o n d i t o r gehilfen F r a n z H o l z a p f e l in der N a c h t v o m 9. A p r i l 1873, der drei P e r s o n e n niederschoß, v g l . hiezu Sello, D i e I r r t ü m e r der S t r a f j u s t i z , B e r l i n 1 9 1 1 (S. 106). A u s der p s y c h i a t r i s c h e n L i t e r a t u r sind h e r v o r z u h e b e n : v. Krafft-Ebbing, Die transitorischen S t ö r u n g e n des S e l b s t b e w u ß t s e i n s , E r l a n g e n 1868; H. Gudden; D i e p h y s i o l o g i s c h e n und p a t h o l o g i s c h e S c h l a f t r u n k e n h e i t , A r c h i v f ü r P s y c h i a t r i e 40 H e f t 3; Hübner, D i e kriminalistische B e d e u t u n g des Schlafes, A r c h i v 81 S. 86. 2)

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I V . A b s c h n i t t . Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

Im allgemeinen ist zu sagen, daß sich Angriffe von Seite Schlaftrunkener meistens gegen zunächst stehende Objekte richten, insbesondere gegen plötzlich nahende Menschen, wobei oft Kräfte entwickelt werden, die im wachen Zustand nicht aufgeboten würden. Solche Fälle ereignen sich in der Regel bei jüngeren Leuten, wenn eine große geistige oder körperliche Anstrengung vorausgegangen ist und sie aus dem ersten tiefen Schlaf aufgeschreckt werden. Erst wenn das Unheil bereits angerichtet ist, kommt dann der Täter zur vollen Orientierung und erkennt, was er angerichtet hat. Häufig kommt es auch vor, daß Schlaftrunkene, ohne voll zu erwachen, verständige Antworten geben und auch situationsgemäße Handlungen ausführen, dann weiterschlafen und am nächsten Tage ohne jede Erinnerung an den Vorfall erwachen. Über die Tiefe des Schlafes im Laufe einer Nacht — eine Frage, die für den Kriminalisten in mehrfacher Beziehung wichtig werden kann — wurden bereits von älteren Physiologen (Kohlschütter, Mönninghoff, Priesbergen, Pick) und seither wiederholt Erhebungen angestellt; danach erlangt im Durchschnitt die Schlaftiefe in der zweiten Stunde ihren Höhepunkt, sinkt dann zuerst rasch, später langsamer ab, erreicht ihr Minimum um die fünfte und sechste Stunde und steigt dann morgens vor dem Aufwachen nochmals wesentlich an. Graphisch dargestellt sieht dies etwa so aus:

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Abb. 8. Typischer Verlauf der Schlaftiefe.

Freilich wird sich dies jeweils danach ändern, wann der Betreffende eingeschlafen ist; wenn dies etwa schon um 8 Uhr abends oder umgekehrt erst nach Mitternacht der Fall war, wird sich die größte Tiefe des Schlafes gegen io Uhr, bzw. gegen 2 Uhr morgens einstellen. Unter den im obigen Kurvenbild angenommenen Verhältnissen wird aber ein in Schlaftrunkenheit verübter Angriff in der Regel gegen 12 Uhr und mitunter auch gegen 5 Uhr morgens geschehen. Auch der Traum kann dabei von Einfluß sein; sehr lebhafte Träume können im wachen Zustande fortwirken, so daß der Betreffende das Geträumte für wirklich Erlebtes hält. Hiedurch sind manche unwahre Anzeigen, vielleicht auch mitunter ein falscher Eid erklärlich1). Kriminologisch bedeutungsvoll ist mitunter auch der Zustand v o r dem Einschlafen, besonders bei einem Ermüdeten, der vom Schlaf übermannt wird. In solchen Fällen kann es vorkommen, daß der Betreffende die gewohnte Tätigkeit noch im Halbschlaf eine Zeitlang fortsetzt, freilich *) V g l . oben S. IOO und n 6 f .

289

Kurzschlußhandlungen.

oft mit bedenklichem Schlußeffekt: der Lokomotivführer überfährt endlich eine Station, die schlafende, aber noch auf und ab gehende Schildwache schießt zuletzt, der vom Schlaf übermannte Kutscher lenkt die Pferde noch eine lange Strecke auf dem Heimweg ganz korrekt, bis er sie zuletzt in den Graben führt u. ä.

9. Heimweh. Auch das Heimweh spielt als Ursache von Verbrechen eine viel größere Rolle, als gewöhnlich angenommen wird 1 ). Das Wort Heimweh, die Nostalgia, ist erst seit dem 17. Jahrhundert bekannt, der deutsche Ausdruck wurde aus dem „Schweizer Dialekt" übernommen, es begann aber bald eine umfangreiche Literatur über die Frage. Es wird angenommen, daß das Heimweh zumeist bei jüngeren Leuten entsteht, die aus einer Gegend mit ausgesprochenem Charakter stammen: Gebirge, weite Ebene, Küstenländer usw., zumal wenn die Gegend, in die sie verpflanzt wurden, eine ganz andere ist. Gewiß ist aber die Gegend nicht die einzige Ursache, sondern auch die menschliche Umgebung; bei den Truppen aller Völker gilt es als Grundsatz, die Soldaten, die aus einer Gegend stammen, beisammen, in derselben Abteilung, zu belassen, weil sie dann weniger an Heimweh leiden. Von Lappen, die man zur Schaustellung nach Frankreich gebracht hatte, wird berichtet, daß sie an Heimweh starben, als ihre Renntiere eingegangen waren. Bei Menschen, die melancholisch veranlagt sind, kann das Heimweh den Charakter einer Krankheit erreichen; sie äußert sich nicht bloß in Depressionszuständen, sondern ist oft auch objektiv nachweisbar (Verdauungsstörungen, Abmagerung, Fieber usw.) und kann zum Tode führen, während alle Beschwerden verschwinden, wenn der Kranke rechtzeitig heimgebracht werden kann. Begreiflicherweise führen die aufgetretenen Leiden im Gegenfalle zu einer gedrückten, unglücklichen, verzweifelten Stimmung, die sich mitunter sozusagen im Wege einer Explosion, also durch Selbstmord, Brandlegung, Mord usw. Luft und erhoffte Erleichterung zu verschaffen sucht. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn der Depressionszustand nicht mit auffälligen körperlichen Begleiterscheinungen verbunden ist. In der Regel ist solchen Tätern der Grund ihres Handelns nicht völlig klar, deshalb reden sie sich auch nur selten geradezu auf Heimweh aus, höchstens sagen sie, es sei ihnen „so schwer zu Mute gewesen", sie seien „unglücklich" gewesen usw. Wenn es hiebei zu einer Brandlegung kommt ') V g l . die ausführliche Monographie: Jaspers, Heimweh und Verbrechen, Archiv 35 S. 1 (mit vollständiger Literaturangabe bis 1909); ferner: Rokitansky, Zweimalige Brandlegung aus Heimweh, A r c h i v 38 S. 138; Boas, Z u m K a p i t e l „ H e i m w e h und Verbrechen", A r c h i v 39 S. 24; Pönitz, Psychologie und P s y c h o pathologie der F a h n e n f l u c h t im Kriege, A r c h i v 68 S. 260; Thumme, Beitrag zur Kasuistik und B e d e u t u n g der Heimwehdelikte, Ztschr. f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie 28 H e f t x (1915); Rosen, Kasuistischer Beitrag zur Frage der forens.-psych. Beurteilung der Heimwehverbrechen, A l l g . Ztschr. f. Psychiatrie u. psych.-ger. Medizin 70 H e f t 6. Groß-Seelig,

Handbuch. 8. Aufl.

19

290

I V . A b s c h n i t t . Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

— was bei jugendlichen Knechten, die zum erstenmal auf einem fremden Dienstplatz sind, verhältnismäßig häufig ist1) — , so verleitet die scheinbare Motivlosigkeit solcher Verbrechen nur allzuleicht dazu, von „Pyromanie" zu sprechen2). Tatsächlich liegt aber nur eine „Kurzschlußhandlung" eines primitiv reagierenden Menschen vor8). Zur Klärung solcher Fälle ist eine kriminalbiologische und allenfalls psychiatrische Untersuchung des Täters unerläßlich.

10. Reflektoides Handeln. Von Bedeutung ist auch die Lehre vom reflektoiden Handeln, jenes Tuns, welches zwischen die eigentlichen Reflexbewegungen und das vollbewußte Tun einzureihen ist und zutage tritt, wenn gewissermaßen nur im Unterbewußtsein überlegt und dadurch eine bestehende Gewohnheit, Übung usw. falsch angewendet wird4). Es unterscheidet sich von der eigentlichen Reflexbewegung dadurch, daß ein Willensimpuls doch vorhanden ist, so daß Reiz und Körperbewegung nicht in unmittelbarer Verbindung stehen. Als Beispiel sei der Fall angeführt, in welchem der Handwerker mit seinem Lehrjungen arbeitet und gewöhnt ist, diesem einen leichten Klaps mit der Hand zu versetzen, wenn sich dieser träge oder ungeschickt benimmt. Einmal hat der Meister bei der Arbeit ein stechendes Werkzeug in der Hand, der Lehrjunge erweist sich unanstellig und der Meister versetzt ihm einen gefährlichen Stich. Hier haben zwei Gewohnheiten reflektoid gewirkt und eine falsche Analogie erzeugt: der Mann ist gewohnt, dem Jungen erforderlichenfalles mit der flachen Hand Eins zu versetzen, er ist aber auch gewohnt, mit dem Werkzeug bei der Arbeit stechende Bewegungen zu machen. Die Ungeschicklichkeit des Jungens löst die Notwendigkeit einer Aktion aus, es entsteht im Unterbewußtsein eine Mischvorstellung von Schlagen und Stechen und die letztere wird am unrichtigen Objekt ausgeübt. Daß hiebei stets Straflosigkeit vorliege, wird nicht behauptet, dies hängt vom ganzen Hergange ab, aber das reflektoide Moment muß zur Erklärung des Vorfalles herangezogen werden5). *) V o n 5 jugendlichen Brandlegern, die Seelig untersuchte, waren 3, deren T a t e n als versteckte „Heimwehverbrechen'* anzusprechen waren (Seelig, Anlage, U m w e l t und Persönlichkeit bei jugendlichen Schwerverbrechern Österreichs, Mitteil, der Kriminalbiol. Gesellschaft 4 S. 113, und: Jugendliche Brandleger, Vierteljahrsschr. f. Jugendkunde 3 S. 160). 2) Siehe auch A b s c h n i t t X X im 2. B d . 3) V g l . Kretschmer, Medizinische Psychologie, 5. Aufl., Leipzig 1939 S. 1 8 4 f f . *) Berze, U n b e w u ß t e Bewegungen und Strafrecht, Archiv 1 S. 93; H. Groß, Reflexoide Handlungen und Strafrecht, Archiv 2 S. 140; H. Groß, Zur Frage des reflektoiden Handelns, A r c h i v 3 S. 350; H. Groß, Zur Frage des reflektoiden Handelns, A r c h i v 7 S. 155; Pollak, E i n Fall reflexoiden Handelns, A r c h i v 8 S. 198; Näcke, Merkwürdiger Fall von reflexoiden Handeln, Archiv 18 S. 355; H. Groß, Zur F r a g e des reflektoiden Handelns, A r c h i v 23 S. 371. 5) I n neuerer Zeit wurde eine schärfere Trennung der einzelnen A r t e n menschlicher Körperbewegungen wiederholt versucht; vielfach wird zwischen Organbewegungen (z. B . Herzschlag, A t m u n g usw.), echten Reflexb e w e g u n g e n (z. B . Schließen der A u g e n bei E i n t r i t t eines Fremdkörpers), a u t o m a t i s i e r t e n B e w e g u n g e n (bei denen der Verlauf der Bewegung durch

Suggestion durch die Masse.

291

11. Verbrechen der Masse. Das Wort von dem Tun der Masse, ihren Verbrechen, der moralischen Ansteckung u. ä. hatte vor Jahren eine unabsehbare Literatur hervorgerufen1). Der Mensch handelt als Einzelner tatsächlich anders als in der Masse, der Ruhigste wird zur Bestie, wenn er hundertweise auftritt2) und auch dann, wenn wir noch von keiner Masse reden können, wenn es sich etwa um ein halbes Dutzend Menschen handelt, stellen sie öfters Dinge an, die der Einzelne nie getan, die er geradezu verabscheut hätte — wenn er allein gewesen wäre. Die Summe der Verbrechen einer Masse ist somit größer als die Summe der Verbrechen, zu denen ihre Mitglieder einzeln fähig wären. Wird aber dadurch die Verantwortung des Einzelnen aufgehoben oder auch nur gemindert? Von wem wurde dieses Plus an verbrecherischem Geschehen begangen? Diese merkwürdige Frage, zu der wir im ganzen Strafrecht kein Gegenstück finden, wurde von den zahlreichen Leuten, die darüber geschrieben haben, verschieden beantwortet. Zwischen der Meinung Napoleons I., der erklärt hat, was die Menge tut, verpflichtet niemanden, und der Ansicht vieler anderer, die sagen, die Menge hat keine besondere Seele, was sie tut, verantworten die, welche die Menge bilden, gibt es eine Reihe von Zwischenansichten, welche sich bald so, bald anders zu helfen suchen. Legen wir uns die Frage zurecht, so werden wir vorerst uns am leichtesten helfen, wenn wir die Erscheinung in das breite Gebiet der eingefahrene Bewegungsbahnen gegeben ist, so beim Gehen, Schreiben u. ä.), A u s d r u c k s b e w e g u n g e n (siehe darüber oben S. \6yi.), t r i e b h a f t e m oder i m p u l s i v e n H a n d e l n (zu denen auch die sogenannten Primitivreaktionen, insbesondere die „Kurzschlußhandlungen" gehören) und W i l l e n s h a n d l u n g e n im engeren Sinn, die mit Überlegung ausgeführt werden, unterschieden. Vgl. z. B. Wimmer, Über die Bestrafung triebhaften Handelns, Ztschr. f. d. ges. Strafrechtsw. 47 S. 101, der auch zur Gro/?schen Lehre vom reflektoiden Handeln kritisch Stellung nimmt. Über Primitivreaktionen vgl. Kretschmer, Medizinische Psychologie, 5. Aufl., Leipzig 1939 S. 182ff. und oben S. 289 f. (Heimwehverbrechen). Auch beim triebhaften Handeln liegen w i l l k ü r l i c h e Körperbewegungen (wenn auch ohne Überlegung) vor, für die der Mensch im allgemeinen strafrechtlich haftet (vgl. Mezger, Strafrecht, München 1931 S. 106). *) G. Tarde, Les lois de Limitation, Paris 1890; S. Sighele, Psychologie des Auflaufes und der Massenverbrechen, deutsch von Kurella, Dresden 1897; Bechterew, Die Suggestion und ihre soziale Bedeutung, deutsche Übersetzung, Leipzig 1900; Beck, Die Nachahmung und ihre Bedeutung für Psychologie und Völkerkunde, Leipzig 1904; A. Vigouroux und P. Juquelier, La contagion mentale, Paris 1904; Weygaridt, Beitrag zur Lehre von den psychischen Epidemien, Halle 1905; Puglia, Criminalità colletiva, Archivo di psych. 1907 S. 229; Sturm, Massensuggestion, Archiv 42 S. 361 ; Le Bon, Psychologie der Massen, deutsche Übersetzung nach der 12. Aufl., Leipzig 1908; Kraus, Masse und Strafrecht, MschrKr. 6 S. 24; Zaitzeff, Die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit bei Massenverbrechen, Halle 1912; Stelzner, Aktuelle Massensuggestion, Archiv für Psychologie und Nervenkrankheiten 55 Heft 2 (1915); Moede, Experimentelle Massenpsychologie, Leipzig 1920. a) So konnte sich selbst Richard Wagner als 17-Jähriger einer solchen Massensuggestionswirkung nicht entziehen: unter dem geistigen Einfluß der Pariser Julirevolution nahm er in Leipzig innerhalb eines Schwarmes junger Leute an der Plünderung eines Hauses teil. E r selbst weist darauf hin, wie ihn „das rein Dämonische solcher Volkswutanfälle wie einen Tollen in seinen Strudel mithineinzog" (Richard Wagner, Mein Leben S. 53f.). 19*

292

I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

Suggestion verlegen, wobei wir freilich annehmen müssen, daß es nicht bloß eine Suggestion durch Worte, sondern auch durch wahrgenommene Handlungen gibt 1 ). Im Grunde ist der psychologische Vorgang einer solchen Massensuggestion derselbe wie bei einer einfachen Suggestion, nur kommt noch die gegenseitige Rückwirkung dazu und angefangen muß der Vorgang im kleinen haben. Sagen wir, eine Volksmenge hat ein Gebäude zerstört. Das geschah nicht plötzlich ; einer hat vielleicht einen Stein aufgehoben — zwei andere machen ihm das nach — das suggeriert mehrere andere, die zu schreien und zu hetzen beginnen — hiedurch werden viele angesteckt, einer beginnt mit den aufgehobenen Steinen zu werfen, und jetzt fängt die frühere Reihe von Suggestionen von neuem an und immer weiter von neuem, bis das Gebäude kaput ist. Wer ist schuld daran? Wir können uns nur helfen, wenn wir einerseits grundsätzlich jeden dafür verantwortlich machen, was er erweislich getan hat, müssen aber andrerseits auch jedem, der nicht selbst als Rädelsführer angefangen hat, die Tatsache der Suggestion als mildernd anrechnen.

12. Hypnose und Wachsuggestion. Seit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Hypnose leidenschaftliche Diskussionen und ein unübersehbares Schrifttum entstand 2 ), mußte der Hypnotismus — wie Forel einmal voraussagte — „wie jede neue Wahrheit die drei Stadien der Negation, des Kampfes und der Annahme durchmachen". Das letzte Stadium der Annahme aber muß bei allem Neuen selbst wiederum drei Stadien durchmachen: das des schüchternen Entgegenkommens, das der maßlosen Übertreibung und das der richtigen Einschätzung. Es will uns scheinen, daß wir in der Hypnoseforschung nunmehr bei dieser letzten Phase der richtigen Einschätzung angelangt seien : auch hinsichtlich der Bedeutung der Hypnose für das Strafrecht haben sich in neuerer Zeit durch mehrere eingehende Untersuchungen und Beobachtungen die Ansichten geklärt 3 ). !

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Suggeriert werden in solchen Fällen die in den Handlungen der anderen zum Ausdruck kommenden S t r e b u n g e n , also Trieb- und Willenserlebnisse, die schließlich im Zuseher solcher Handlungen selbst anklingen und bald zu seinen eigenen Erlebnissen werden (sogenannte Strebungssuggestion nach Seelig, vgl. oben S. 107). 2) Vgl. die Literatur bis 1890 bei M. Dessoir, Bibliographie des modernen Hypnotismus, Berlin 1890; v. Lilienthal, Der Hypnotismus und das Strafrecht, Berlin 1887; Forel, Der Hypnotismus, Stuttgart 1889 (7. Aufl. 1918); du Prel, D a s hypnotische Verbrechen und seine Entdeckung, 1889; Wundt, Hypnotismus und Suggestion, Leipzig 1892; Lipps, Zur Suggestion und Hypnose, Leipzig 1892; Bernheim, Neue Studien über Hypnotismus, Suggestion und Psychotherapie, deutsche Übersetzung Wien 1892; v. Schrenck-Notzing, Über Suggestion und suggestive Zustände, München 1893; Liébeault, Kriminelle hypnotische Suggestionen, Ztschr. f. Hypnotismus 1895 H e f t 7 — 9 ; v. Schrenck-Notzing, Der Prozeß Czynski, Stuttgart 1895; Liégeois, Suggestions hypnotiques criminelles, dangers et rèmedes, Revue de l'hypnotisme 1897 S. 98; v. Schrenck-Notzing, Die gerichtlich-medizinische Bedeutung der Suggestion, Archiv 5 S. 1 (1900), mit ausführlichem Literaturverzeichnis. 3) Vgl. Jung, Psychologie der unbewußten Prozesse, 2. Aufl., Zürich 1918;

Die Hypnose.

293

Über das W e s e n der H y p n o s e haben die Ansichten im Laufe der Zeit vielfach gewechselt. Während die ältere, sogenannte Pariser Schule (Charcot) in der Hypnose einen künstlich erzeugten k r a n k h a f t e n Zustand erblickte, suchte die Schule von Nancy (LUbeault, Bernheim) die Hypnose lediglich durch einen Zustand hochgradiger S u g g e s t i b i l i t ä t zu erklären. Da in der Tat die Suggestion beim Zustandekommen der Hypnose und innerhalb der hypnotischen Erscheinungen eine wesentliche Rolle spielt, wurde alsbald diese Ansicht herrschend und es wurden die Ausdrücke „Hypnose" und „Suggestion" vielfach als gleichbedeutend verwendet (Forel). Und doch sind diese beiden Begriffe scharf auseinanderzuhalten, denn sie liegen gewissermaßen auf verschiedenen Ebenen: Hypnose bedeutet einen psychophysischen Z u s t a n d , Suggestion aber einen E r l e b n i s a b l a u f , der vielfach als Mittel zur Herbeiführung jenes Zustandes verwendet wird und innerhalb des hypnotischen Zustandes besonders leicht zustande kommt. Aber S u g g e s t i o n e n erleben wir auch außerhalb jeder Hypnose im A l l t a g und die besondere Bedeutung, die der Suggestion in diesem weiteren Sinn für das Zustandekommen von Aussagen zukommt, wurde bereits oben ausführlich behandelt 1 ). Die h y p n o t i s c h e Suggestion bedeutet daher einen seltenen Sonderfall der viel allgemeiner vorkommenden Suggestion. Der psychophysische Zustand der Hypnose ist als ein A u s n a h m s z u s t a n d anzusehen, der häufig mit äußerlich erkennbaren körperlichen Erscheinungen (schlafähnlicher Zustand, Muskelstarre u. a.) verbunden ist und in welchem der psychische Ablauf weitgehende Veränderung gegenüber dem Seelenleben im Normalzustand zeigt: das Wahrnehmungsvermögen kann teils gesteigert, teils auf bestimmte Bewußtseinsinhalte eingeschränkt sein2), das Persönlichkeitsbewußtsein kann fehlen oder durch ein fremdes Ichbewußtsein ersetzt sein, die Kritikfähigkeit ist meist ausgeschaltet, die Erinnerungsfähigkeit kann ebenfalls auf bestimmte Inhalte eingeengt oder auch auf tiefere Bewußtseinsschichten, die sonst nicht reproduzierbar sind, erweitert sein; vor allem aber ist Scholz, Bedeutung des Hypnotismus für Strafrecht und Strafprozeß, Deutsche Strafrechtszeitung 1918 S. 281; Wagner-Jauregg, Hypnose und Telepathie im Verbrechen, Wiener Mediz. Wochenschr. 1919 Nr. 27, 28; Höppler, Ein Fall von Notzucht an einer Hypnotisierten, Ärztl. Sachverst.-Ztg. 27 Nr. 4; v. SchrenckNotzing, Die Wachsuggestion auf der öffentlichen Schaubühne, Archiv 72 S. 81 (1920); Wagner-Jauregg, Vorgetäuschter Mordversuch in der Posthypnose, Deutsche Strafrechts-Ztg. 8 S. 51 (1921); Kwaß, Die strafrechtliche Bedeutung der Hypnose, 1923; Ivers, Die Hypnose im Strafrecht, Leipzig 1927; Lucas, Der Hypnotismus in seinen Beziehungen zum deutschen Strafrecht und Strafprozeß 1930; Feisenberger, Vorkastner und Lange, Hypnotismus und Verbrechen (Versammlungsbericht), MschrKr. 21 S. 349; L. Mayer, Die Technik der H y p nose, München 1933; Feisenberger, Artikel „ H y p n o s e " im H d K . (1933); L. Mayer, Das Verbrechen in Hypnose, München 1937. Oben S. 106ff.; daselbst wurden auch die verschiedenen Arten der Suggestion (Fremdsuggestion, Autosuggestion; ferner: Empfindungssuggestion, Urteilssuggestion, Gefühlssuggestion und Strebungssuggestion) behandelt. Über die SuggestionsWirkung der Masse s. oben S. 291. 2) Daher läßt sich z. B. auch Schmerzunempfindlichkeit suggerieren, so daß bei Operationen die Hypnose mitunter eine Narkose in gewissem Umfang zu ersetzen vermag;

2g4

IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

auch das Willensleben weitgehendst verändert, indem der Hypnotisierte einerseits über Hemmungen, die ihm sonst zu Gebote stehen, nicht oder nicht in demselben Maße verfügt, anderseits bestimmte Willensimpulse nicht zu erleben vermag (was sich nach außen hin als Lähmung, Nichtaussprechenkönnen bestimmter Worte u. ä. kundtut) und umgekehrt den Befehlen des Hypnotiseurs „willenlos" gehorcht (richtiger: das will, was der Befehl ihm aufgibt). Ferner treten vielfach die körperlichseelischen Zusammenhänge verstärkt in Erscheinung, indem sich die den suggerierten Vorstellungen entsprechenden körperlichen Begleiterscheinungen (z. B. Schwitzen bei suggerierter Wärmeempfindung) ebenfalls einstellen1). Damit es zu einem solchen Zustand kommt, ist zweierlei nötig: eine entsprechende D i s p o s i t i o n des „Mediums" (suggestible und zur Hysterie neigende Menschen sind hiezu vor allem geeignet, nicht hingegen ausgesprochene Geisteskranke) und die A u s l ö s u n g des Zustandes durch das „Hypnotisieren" seitens des anderen, der mit der Technik der Hypnose vertraut ist. Die Hypnose hat daher nichts Mystisches an sich, es handelt sich auch um keine übersinnliche „Kraft" des Hypnotiseurs, sondern nur darum, daß er mit entsprechendem psychologischem Verständnis und Beherrschung der äußeren Technik die Herbeiführung des Zustandes veranlaßt, zu dem die Versuchsperson veranlagt 2 ) ist. Die dadurch entstehende seelische Bindung zwischen Hypnotiseur und Versuchsperson wird als Rapport bezeichnet. Ist die Hypnose so weit vorgeschritten, daß n u r mehr der Hypnotiseur auf die Versuchsperson Einfluß nehmen kann, spricht man von Isolierrapport. Auch die Lösung der Hypnose ist dann regelmäßig nurmehr durch den Hypnotiseur möglich. Über die T e c h n i k der H y p n o s e muß der U. soweit unterrichtet sein, um bei Verdacht einer mißbräuchlich vorgenommenen Hypnose sachgemäße Erhebungen führen zu können. Zum Einschläfern kann man sich verschiedener äußerer Mittel bedienen: Fixierenlassen eines glitzernden Gegenstandes, streichende Handbewegungen des Hypnotiseurs über Stirn und Gesicht der Versuchsperson (sogenannte Mesmerische Striche) und mündliche Einreden (sogenannte Verbalsuggestion), besonders das Einreden, daß die Versuchsperson ermüde, sich immer mehr müder fühle usw. Es können auch mehrere dieser Methoden miteinander verbunden Daher kann man z. B. auch „Brandwunden" (nämlich ähnliche Gewebeveränderungen) durch die in der Hypnose gegebene Vorstellung erzeugen, ein Metallgegenstand, mit dem die Versuchsperson berührt wird, sei glühend; auch lassen sich auf diese Weise die körperlichen Symptome suggerierter Krankheiten (z. B. Erbrechen) hervorrufen und der Ablauf der Menstruation beeinflussen. Auch die „Stigmatisierungen" der Heiligen beruhen auf dem gleichen Vorgang. 2 ) Bei den Hypnoseversuchen, die oft auf Schaubühnen zur Belustigung des Publikums gezeigt wurden, suchen sich die „Experimentalpsychologen" die d i s p o n i e r t e n Personen meist durch Vorversuche heraus: sie fordern z. B. alle Zuseher auf, die Hände zu falten, und erklären, daß beim Kommando „Drei" die Hände nicht mehr auseinandergebracht werden können. Dann zählt der Experimentator „Eins, zwei . . . drei" — und einige wenige im Publikum bringen die Hände tatsächlich nicht mehr auseinander. Nur mit d i e s e n Personen macht er dann die weiteren Versuche.

Posthypnose und Wachsuggestion.

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werden. Hat ein Hypnotiseur eine Versuchsperson bereits öfters hypnotisiert, so ist das Versetzen in die Hypnose wesentlich erleichtert: oft genügt dann ein bloßes festes Ansehen seitens des Hypnotiseurs oder der Zuruf bestimmter Worte. Schließlich können die seelischen Erscheinungen der Hypnose auch auf die Zeit n a c h Erweckung aus dem schlafähnlichen Zustand ausgedehnt werden (sogenannte Posthypnose) und bei entsprechend disponierten Personen gelingt auch ihre Herbeiführung ohne Versetzung in einen schlafähnlichen Zustand (sogenannte W a c h s u g g e s t i o n ) . Gerade diese beiden Formen des hypnotischen Zustandes, Posthypnose und Wachsuggestion, sind kriminologisch am wichtigsten, weil die Versuchsperson hiebei die Augen geöffnet hat, aufrecht geht und sich zunächst unauffällig benimmt, so daß der Unerfahrene ihr keineswegs ansieht, daß sie sich in Hypnose befindet. Für die strafrechtliche Beurteilung sind aber diese Zustände der schlafähnlichen Hypnose gleichzusetzen1). Die Posthypnose kann auch erst von einem bestimmten Zeitpunkt an wirksam werden, wenn nämlich der Hypnotiseur in der Hypnose den Befehl gibt, daß die Versuchsperson erst zu einer gewissen Stunde eine bestimmte Handlung auszuführen habe; mitunter kann zwischen Erwecken aus der Hypnose und Ausführung des posthypnotischen Befehls ein Zeitraum von Tagen liegen. In der Regel besteht bei der Versuchsperson nach Lösung der Hypnose keine Erinnerung an ihre Erlebnisse in der Hypnose. Auch kann eine etwaige solche Erinnerung durch besonderen Befehl des Hypnotiseurs ausgeschaltet werden, wovon in den Fällen verbrecherischer Hypnose meist Gebrauch gemacht wird. Dennoch ist es erfahrenen Gerichtsärzten mit entsprechender Hypnosepraxis schon wiederholt gelungen, auch in solchen Fällen durch eine neue Hypnose die Erinnerung an die Vorgänge in der ersten Hypnose wiederzuerwecken. Um dieser Möglichkeit vorzubeugen, haben manche Verbrecher auch versucht, die Suggestion zu geben, daß die Versuchsperson durch niemanden anderen mehr hypnotisiert werden könne. Aber selbst dann ist die Möglichkeit der Aufklärung nicht völlig beseitigt: wenn eine solche Versuchsperson durch längere Zeit der Einflußsphäre ihres Hypnotiseurs entzogen ist, gelingt bei vorsichtigem, geduldigem Vorgehen des Gerichtsarztes es in der Regel doch, eine neue Hypnose herbeizuführen und dadurch den früheren Rapport langsam zu lösen. Fassen wir nun die möglichen Fälle zusammen, in welchen die Hypnose für den Kriminalisten Bedeutung erlangt, so ist zu sagen: 1. Ein Hypnotisierter kann O p f e r eines verbrecherischen Angriffes sein. Auch dies ist in mehrfacher Weise möglich: der Hypnotisierte kann z. B. zur Hergabe von Geld oder Ausfolgung von Wertgegenständen bestimmt werden, was — wenn ein entsprechender Tiefengrad der Hypnose erreicht ist, der die eigene Willensmotivation ausschließt—einer r ) Der Ausdruck „Wachsuggestion" führt daher leicht irre, da es sich nicht um eine Unterart der allgemeinen Suggestion handelt, die im Alltag häufig vorkommt, sondern um eine Unterart der Hypnose.

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

Gewaltanwendung gleichkommt. Es liegt dann strafrechtlich Raub oder Erpressung vor. Ebenso können an einer in tiefer Hypnose befindlichen Frau der Beischlaf ausgeübt oder andere unzüchtige Handlungen vorgenommen werden; hier wird in der Regel Notzucht bzw. Schändung vorliegen. Auch die Einleitung des künstlichen Abortus gegen den Willen der Frau ist in der Tiefenhypnose möglich. 2. Ein Hypnotisierter kann als W e r k z e u g zur Begehung von Verbrechen benützt werden, die somit von dem Hypnotiseur als mittelbarem Täter begangen werden. Wieweit dies möglich ist, war lange Zeit sehr bestritten. Dies erklärt sich wohl daraus, daß eine einheitliche Grenze für die Wirksamkeit posthypnotischer Befehle (um die es sich wohl meistens handelt) nicht gezogen werden kann. Häufig sind im Zustand der Posthypnose die wichtigsten Hemmungen, über die der Hypnotisierte im Normalzustand verfügt, nicht völlig aufgehoben. Es bleibt ein „Persönlichkeitsrest" bestehen. Er wird daher harmlose Befehle, z. B. ein Glas Wasser zu trinken, jemanden zu begrüßen usw. ohne weiteres ausführen, dagegen bei bedenklichen Befehlen, deren Ausführung mit den Wertvorstellungen seiner Persönlichkeit in Widerspruch steht, also z. B. jemanden zu töten u. ä., unsicher werden und schließlich versagen 1 ). Aber in Grenzfällen, in denen durch wiederholtes Hypnotisieren eine weitgehende Hörigkeit des „Werkzeugs" gegenüber seinem Hypnotiseur besteht, kann es auch — wie der weiter unten mitgeteilte Fall der Frau E. beweist — zu anbefohlenen persönlichkeitsfremden Ausführungshandlungen kommen, zu denen der Betreffende sonst niemals fähig wäre. Nur wenn das Vorliegen eines solchen Falles einwandfrei nachgewiesen werden kann, ist die Verantwortlichkeit des Ausführenden aufgehoben. 3. Die a n g e b l i c h e Hypnose kann als A u s r e d e benützt werden, um die Verantwortung für eigenes Handeln abzulehnen: Frauen, die auf das „Zureden" eines Mannes sich schließlich freiwillig zum Geschlechtsverkehr hingaben, oder weibliche Angestellte, die anvertrautes Geld ihrem Freund aushändigten, versuchten dann wiederholt, sich damit zu verantworten, daß sie unter hypnotischem Einfluß gestanden seien. Im Jahre 1919 ereignete sich in Wien folgender Fall: Eine jugendliche Zeugin, die in Gegenwart ihres als Privatanklägers auftretenden Dienstgebers eine falsche Aussage (die den Angeklagten belastete) ablegte, redete sich bei 1 ) Besonders lehrreich war hierfür ein Fall, der Ende 1920 in Wien spielte. Einer der nur zu zahlreichen Laienhypnotiseure hatte das dringende Bedürfnis, dem bekannten Psychiater Prof. Dr. Wagner-Jauregg beweisen zu wollen, daß Verbrechen durch Hypnotisierte möglich seien. Zu diesem Zwecke suggerierte Wagner-Jauregg er seinem Medium, einem hysterischen 18jährigen Mädchen, sei am Tode des Verehrers schuld und soll daher getötet werden. Das Mädchen müsse zu Wagner-Jauregg in die Ordination gehen, diesem einen vom Hypnotiseur geschriebenen Brief übergeben und den Arzt mittels des gleichfalls vom Hypnotiseur beigestellten Revolvers töten. Den Revolver hatte der Täter derart hergerichtet, daß ein Abschuß nicht möglich war, und außerdem hatte er dem Mädchen in der Hypnose die Versicherung gegeben, daß die Waffe ungefährlich sei. Das Mädchen begab sich tatsächlich zu Wagner-Jauregg, überreichte ihm den Brief, zog, während der Arzt scheinbar las, den Revolver aus der Tasche, ließ ihn jedoch fallen, als ein Blick des Professors es getroffen hatte.

Hypnose und Verbrechen.

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einer neuerlichen Vernehmung darauf aus, daß ihr Dienstgeber (ein berufsmäßiger „Telepath") sie bei der Verhandlung derart angesehen habe, daß sie "unter einem hypno tischen Zwang gestanden sei; später gestand sie, daß dies nicht der Fall gewesen sei. 4. Durch u n g e s c h i c k t e s Hypnotisieren können allerlei gesundheitliche Schädigungen der Versuchsperson entstehen, wodurch der Tatbestand der Körperverletzung gegeben sein kann. Wenn trotz dieser mehrfachen Möglichkeiten die praktischen Gefahren einer mißbräuchlichen Verwendung der Hypnose erfahrungsgemäß nicht allzu groß sind, so erklärt sich dies daraus, daß das Zusammentreffen eines g e e i g n e t e n Objektes mit einem V e r b r e c h e r , der gleichzeitig ein g e s c h i c k t e r H y p n o t i s e u r ist, eben selten vorkommt. Daher sind die einschlägigen Fälle nicht sehr häufig und spielen gegenüber der großen Zahl von Strafsachen, die täglich unsere Gerichte beschäftigen, eine geringe Rolle. W e n n aber die erwähnten Umstände zusammentreffen, dann kann es zu Verbrechen schwerster Art kommen, deren Aufklärung durch den suggerierten Erinnerungsverlust und sonstige Sicherungen, die ein solcher Hypnotiseur verwendet, zu den schwierigsten Aufgaben eines U. gehört. Um da zu einem Erfolg zu kommen, ist oft monatelanges Zusammenarbeiten des U. mit einem in Hypnosesachen erfahrenen Gerichtsarzt erforderlich. Ein Fall, an dem die Gefährlichkeit solcher Verbrechen, die raffinierte Taktik des Täters als Hypnotiseurs und die schließlich doch zum Erfolg führenden Methoden der Aufklärungsarbeit studiert werden können, bilden die Verbrechen, die der ehemalige Bankbeamte F. Walter — zuerst allein und später zusammen mit einem Komplicen — durch fast 7 Jahre bis 1934 an der jungen Ehefrau E. verübte 1 ). Walter, der sich als A r z t ausgab, verstand es, die einfache Frau, die einer gesunden Bauernfamilie entstammte, mit ihrem Mann in glücklichster Ehe lebte und sich allerdings als besonders leicht hypnotisierbar erwies, durch zahlreiche Hypnosen so sehr in seine Gewalt zu bekommen, daß er sie beliebig als Opfer und Werkzeug seiner verbrecherischen Pläne benützen konnte. Nicht bloß, daß er sie selbst wiederholt geschlechtlich mißbrauchte und sie schließlich anderen Männern zur Verfügung stellte, suggerierte er ihr Krankheitssymptome, die eine stets neue Konsultation des „ A r z t e s " gegenüber dem Ehegatten der E. rechtfertigte. Auf diese Weise ließ er sich im Laufe der Zeit gegen 3000 Mark „ H o n o r a r " bezahlen. Außerdem verwendete er die Frau zum Vertrieb von Abtreibungswerkzeugen. Und als kein Geld mehr vorhanden war und ihm das Ehepaar lästig wurde, versuchte er den Mann dadurch beiseite zu schaffen, daß er Frau E. zu 6 Mordversuchen an ihrem Mann verwendete: in der Posthypnose t a t sie zweimal ihrem Mann Pulver, die ihr Walter gegeben hatte, in den Kaffee, zweimal setzte sie ihm Giftpilze vor und zweimal beschädigte sie sein Motorrad vor Antritt der F a h r t derart, daß leicht ein tödlicher Unfall hätte eintreten können. Schließlich bestimmte Walter Frau E. zu mehreren Selbstmordversuchen, wiewohl sie außerhalb der posthypnotischen Zustände niemals lebensüberdrüssig war. F ü r alle diese Vorgänge fehlte ihr jede Erinnerung. Erst als auf Anzeige des Ehemanns, dem das eigenartig verwirrte und unsichere Benehmen seiner Frau auffiel, die Kriminalpolizei Ludwig Mayer als Hypnosesachverständigen zuzog, gelang es diesem in monatelanger Kleinarbeit, die bestehenden hypnotischen Bindungen 1)

Vgl. L. Mayer,

Das Verbrechen in Hypnose, 1937.

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

zu Walter zu lösen und den Großteil der Vorgänge durch Frau E. in Tiefenhypnose reproduzieren zu lassen. Der objektive Wahrheitswert, der ihren in der Hypnose gemachten Angaben zukam, wurde einwandfrei dadurch erhärtet, daß viele Vorgänge, die sie erzählte und die bisher überhaupt nicht bekannt waren, durch polizeiliche Erhebungen an Ort und Stelle bestätigt wurden. Beispielsweise sei erwähnt, daß Frau E. in der Hypnose die Korrespondenz mit den weiblichen K u n d e n des Walter, die Abtreibungsmittel von ihm bezogen hatten, reproduzieren konnte, worauf die polizeilichen Nachforschungen ergaben, daß die betreffenden Frauen tatsächlich schwanger waren und die entsprechenden Eingriffe vorgenommen hatten, bzw. an deren Folgen zum Teil gestorben waren. A u c h konnten auf Grund der Angaben, die Frau E. in Hypnose machte, die Männer ausgeforscht werden, denen Frau E. durch Walter zugeführt worden war und die dies auch bestätigten, während Walter — der sich aufs Leugnen verlegte — Frau E . überhaupt nicht kennen wollte. Die Aufklärungsarbeit war freilich besonders dadurch erschwert, da Walter Frau E. nicht bloß den Erinnerungsverlust an alle Vorgänge suggeriert, sondern darüber hinaus durch ein kompliziertes System von Sperrworten ihr eingegeben hatte, daß beim Denken dieser Worte bestimmte Vorstellungsreihen ihr zu entfallen haben. Diese Bindungen konnten erst gelöst werden, als der Sachverständige durch zahlreiche Hypnotisierungen zu Frau E. selbst einen so weit gehenden Rapport hergestellt hatte, daß er ihr entsprechende Gegenbefehle mit Erfolg geben konnte 1 ). Auf Grund dieses Ergebnisses erhob die Staatsanwaltschaft Anklage und nach 3 wöchiger Verhandlungsdauer wurde a m 13. Juni 1936 Walter v o m Landgericht Heidelberg zu 10 Jahren Zuchthaus und 5 Jahren Ehrverlust, sein Komplice zu 4 Jahren Zuchthaus und 3 Jahren Ehrverlust verurteilt.

Aus diesem Fall können wir auch die richtige Lösung der oft aufgeworfenen Frage entnehmen, ob und inwieweit die H y p n o s e zur Wahrheitserforschung im S t r a f v e r f a h r e n verwendet werden kann. Es wurde einmal die Ansicht vertreten, ein leugnender Beschuldigter könnte vielleicht durch Hypnose gezwungen werden, die Wahrheit zu sagen, und er müsse sich die Hypnose als Durchsuchung seiner Seele ebenso gefallen lassen wie eine Durchsuchung seines Körpers. Dies ist jedoch aus dem Grunde abzulehnen, weil der Beweiswert eines derart zustande gekommenen „Geständnisses" außerordentlich gering wäre. Eine ganz andere Frage ist jedoch die, ob im Falle des Verdachtes, daß einem Vernommenen durch eine mißbräuchliche Hypnose die Erinnerung an bestimmte Vorgänge genommen worden sei, versucht werden kann und soll, diesen Erinnerungsverlust durch eine neuerliche Hypnose zu beseitigen. Hier ist es Pflicht des U., m i t H i l f e e i n e s in H y p n o s e s a c h e n e r f a h r e n e n G e r i c h t s a r z t e s u n d n u r d u r c h d i e s e n zu versuchen, im Wege neuer Hypnose dem Vernommenen das Erinnerungsvermögen wiederzugeben. In dem oben dargestellten Fall wären die zahlreichen schweren Verbrechen des Täters ohne dieses Mittel niemals aufgeklärt worden. Selbstverständlich ist jedoch auch in einem solchen Fall das, was der Vernommene in der Hypnose angibt, prozessual n i c h t als A u s s a g e vor Gericht oder gar als Zeugenaussage zu werten, vielmehr hat der ärztliche Sachverständige über diese ihm gemachten Angaben in seinem Befund zu berichten und sich über ihre Glaubwürdigkeit in Die hiebei angewendeten Methoden sind von L. Mayer a. a. O. ausführlich dargestellt.

Farbenblinde.

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seinem Gutachten auszusprechen. Prozessual erscheinen daher diese Angaben als T e i l e e i n e s S a c h v e r s t ä n d i g e n b e f u n d e s . Ihr praktischer Beweiswert wird aber in der Regel davon abhängen, ob es gelingt, diese Angaben durch weitere o b j e k t i v e Erhebungen zu überprüfen und zu erhärten. In solchen Fällen wirken die in der Hypnose gemachten Angaben oft r i c h t u n g g e b e n d für die weitere Erhebungsarbeit, die oft nur durch diese Hinweise zur einwandfreien Überführung des Täters führt. Auf diese Weise hat die einem Vernommenen durch Hypnose wiedergegebene Erinnerung in der Kette eines solchen Indizienbeweises eine zwar mittelbare, aber gleichwohl ausschlaggebende Bedeutung. e) B e i

Farbenblindheit.

Die Farbenblindheit ist verbreiteter und wichtiger als man gewöhnlich annimmt. Seitdem 1777 Josef Huddart in einem Schreiben 1 ) an Josef Pristley zuerst von dieser Anomalie Erwähnung gemacht, und John Dalton sich um 1794 eingehender damit befaßt hat, wurde die Sache nicht mehr vergessen und namentlich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist sie Gegenstand umfassender Erhebungen und Studien geworden 2 ) . Wie viele Menschen als farbenblind in höherem und minderem Grade anzusehen sind, wird sich nie sicher feststellen lassen; die Prozentangaben in den Arbeiten von Wilson, Seebeck, Young, Helmholtz, Maxwell, Favre, Feris, Stilling, Blaschko, Holmgren und anderen wechseln zwischen 3,25% bis 8 % , als Mittelwert dürften etwa 5 % anzunehmen sein, so daß durchschnittlich jeder 20. Mensch „farbenblind" ist, d. h. eine mangelhafte Empfindungsfähigkeit für Farben besitzt. Hierbei konnte man feststellen, daß Farbenblindheit unter Männern weitaus häufiger ist als unter Frauen und daß ihre am öftesten vorkommende Form die der Verkennung von Rot oder Grün ist. Seit Holmgren unterscheidet man: I. Totale Farbenblindheit, bei der der Betreffende nur hell und dunkel (dies aber dafür besonders scharf) unterscheidet; er sieht also angeblich z. B. nur Grau in Grau, oder Rot in R o t ; wie er wirklich sieht, ist natürlich nicht zu sagen, da wir uns mangels der betreffenden Begriffe nicht verständigen können. Die totale Farbenblindheit ist sehr selten und durch Lichtscheu, Augenzittern und Schwachsichtigkeit schon äußerlich kenntlich. II. Partielle Farbenblindheit: 1. typische, bei welcher J)

bestimmte

Philosophical transactions 1777 p. 260. Vgl. Hering, Zur Lehre v o m Lichtsinn, 2. Aufl., Wien 1878; Holmgren, Die Farbenblindheit, Leipzig 1878; Magnus, Die Farbenblindheit, Breslau 1878; Kolbe, Geometrische Darstellung der Farbenblindheit, Petersburg 1881; Nagel, Tafeln zur Diagnostik der Farbenblindheit, Wiesbaden 1898; E. IV. Scripture, A safetest for Color Vision, Y a l e psychol. Laborat 8, p. 1 (1900); Westhoff, Farbensinn und Seemannsberuf, Ärztl. Sachverst.-Ztg. 1907 Nr. 15; v. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, 3. Aufl., Hamburg 1909. Neuere Arbeiten: H. Köllner, Die Störungen des Farbensinnes, Berlin 1912; Stilling, Über das Sehen Farbenblinder, Leipzig 1913. 2)

300

I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

Farben nicht unterschieden werden; zumeist a) Rotblindheit, b) Grünblindheit, c) Gelbblaublindheit; 2. unvollständige Farbenblindheit, bei welcher entweder alle, oder nur gewisse Farben weniger deutlich und sicher unterschieden werden können. Die Farbenblindheit ist meist ererbt (die Vererbung erfolgt in der Regel geschlechtsgebunden), doch kann sie auch durch Schädigungen der optischen Bahn von der Retina bis zur Hirnrinde erworben sein. Die Störungen des Farbensinnes können für uns mehrfach wichtig werden, wobei vor allem zu merken ist, daß Farbenblindheit von den damit Behafteten nur in wenigen Fällen selbst bekannt gegeben wird. Meistens wissen es die Leute nicht, daß sie farbenblind sind — vielleicht wegen der schon erwähnten größeren Empfindlichkeit für hell und dunkel, die ihnen manche Farbenunterscheidungen zu ersetzen vermag — , und wenn sie es wissen, so scheuen sie sich seltsamerweise, es zu sagen, als ob es sich um ein arges Gebrechen handelte. Vor allem kann Farbenblindheit für den U. in allen jenen Fällen Bedeutung haben, in welchen es sich um das Wahrnehmen von farbigen Signalen handelt, wenn durch deren Verkennung ein Unfall entstanden ist (im Straßenverkehr, Bahn-, Schiffs- und Bergwerksbetrieb). Weiters aber auch dann, wenn es sich bei Kleidern usw. um irgendeine Farbenbestimmung von Wichtigkeit handelt, z. B. Agnoszierung von Personen („der Mann mit dem grünen Rocke" usw.), endlich beim Erkennen von Blutspuren; ein Farbenblinder wird Blut auf grünem Hintergrunde (auf Gras, grünen oder gelben Kleidungsstücken) nur schwer wahrnehmen. Kommt dem U. also der geringste Verdacht, daß er es mit einem Farbenblinden zu tun hat, und ist die Bestimmung der richtigen Farbe einigermaßen wichtig, so wird er den betreffenden Zeugen usw. unbedingt dem Gerichtsarzte zur Prüfung zuzuweisen haben. — f) B e i F r a g e n d e r

Linkshändigkeit.

Die Frage der Linkshändigkeit 1 ) kann für den U. oft von Wichtigkeit werden. Ob etwas von einem „Linken" geschnitzt, gedrechselt, gehobelt, geschmiedet, genäht usw. wurde, kann der betreffende Fachmann in der Regel mit Bestimmtheit angeben. Dies vermag unter Umständen zur Vgl. Liersch, Die linke Hand, Berlin 1893; Alsberg, Rechts- und Linkshändigkeit, H a m b u r g 1894; Baldmin, Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse, Berlin 1898; Lueddeckens, Rechts- und Linkshändigkeit, Leipzig 1900; van Bierfliet, L'homme droit et l'homme gauche, Gent 1901; Cunningham, Right-handedness and left-brainedness, Journ. of Anthropol. 32 p. 273 (1902); Rollett, L'homme droit et l'homme gauche, Arch. d'anthr. crim. 1902; Weber, Ursachen und Folgen der Rechtshändigkeit, Halle 1905; Jackson, Ambidesterity, London 1905; Audenio, L'homme droit, l'homme gauche et l'homme ambidextre (VI. Congr. intern, d'anthr. crim. Turin 1906), Arch. di psichiatria 38 p. 23; Molison, Rechts und links in der Primatenreihe, Korr.-Bl. der deutschen Gesellschaft f. Anthropol. 9/12 H. 1 (1908); Gaupp, Über die Rechtshändigkeit des Menschen, Jena 1909; Näcke, Neueres über Linkshändigkeit, Archiv 34 S. 356; Bardeleben, Über bilaterale Asymetrie, Anatom. Anzeiger 34, Ergänz.-Bd. S. 2 (1909); E. Stier, Untersuchung über Linkshändigkeit, Jena 1 9 1 1 ; Brüning, Ermittlung der Linkshändigkeit, Münch. Mediz. Wochen-

Die „ L i n k e n '

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Feststellung des Täters zu führen 1 ). Ebenso läßt sich aus der ärztlichen Untersuchung eines Individuums häufig sagen, ob er ein „ R e c h t e r " oder „Linker" ist — allerdings wird von Moser2) behauptet, daß die allgemeine Annahme: bei Rechtshändigen sei der rechte Arm stärker als der linke, nur in etwas mehr als der Hälfte der von ihm Untersuchten zutraf. E s darf also aus den Maßen des Armumfanges kein voreiliger Schluß auf Rechts- und Linkshändigkeit gezogen werden. Im allgemeinen sind 2 — 4 % der Menschen linkshändig. Stier hat 5000 Soldaten untersucht und gefunden, daß 5 , 1 % „ L i n k e " waren; hievon sei die Eigenschaft in 5 0 % der Fälle ererbt gewesen. In den Berliner Gemeindeschulen wurden 5 , 1 % Buben und nur 2 , 9 % Mädchen als „ L i n k e " gefunden; Vererbung, die sich allerdings schwer feststellen läßt, fand sich hier in 1 6 % der Fälle. Hingegen läßt sich nach Siemens eine Erblichkeit nicht nachweisen. Von Verbrechern behauptet Lombroso, daß unter den Männern 1 4 % , unter den Frauen 2 2 % linkshändig seien; bestätigt hat das sonst niemand. In allen Fällen, in welchen die Frage, ob eine Körperverletzung von einem Linkshändigen zugefügt wurde, wichtig werden kann 3 ), muß stets der Gerichtsarzt befragt werden — Vorsicht bleibt aber bei den diesfälligen Schlüssen stets geraten. Man vergesse auch nicht, daß es sog. Ambidexter gibt, bei welchen beide Hände gleich oder nahezu gleich ausgebildet sind. D a ß dies auch angelernt sein kann, beweisen z. B. Chirurgen, Fechter, Bildhauer usw., die absichtlich im Interesse ihrer Tätigkeit auch den linken Arm ausgebildet haben. Auch gibt es Rechtshänder, die nur eine bestimmte Tätigkeit (z. B. Bleistiftspitzen oder Tennisspielen) — diese aber dann immer — mit der linken Hand ausführen. Auch Änderungen im Laufe des Lebens können vorkommen. So war ein Verletzter der Katastrophe von Courrieres (10. März 1906) früher ein „ R e c h t e r " ; als er endlich wieder essen lernte, war und blieb er ein „Linker"! Kriegsbeschädigte, die den rechten Arm verloren haben, erwarben alsbald oft die gleiche Geschicklichkeit mit der Linken. schrift 1911 Nr. 49; Sarasin, Über Rechts- und Linkshändigkeit in der Prä^ historie und die Rechtshändigkeit in der historischen Zeit, Verh. d. Naturf.-Ges. 24 S. 112 (1918); Beeley, Left-handedness, Amer. Journ. of Physiol. a. Anthropol. 2, p. 389 (1919); Siemens, Über Linkshändigkeit, Arch. f. pathol. Anatomie u. Physiol. 252 S. 1 (1924); Bethe, Zur Statistik der Links- und Rechtshändigkeit und der Vorherrschaft einer Hemisphäre, Dtsch. Med. Wschr. 51 S. 681 (1925); Kobler, Der Weg des Menschen vom Links- zum Rechtshänder, Wien 1932. — Kein Erklärungsversuch befriedigt völlig — immerhin dürfte die regelmäßige Rechtshändigkeit schon damit im Zusammenhang stehen, daß die linke Hirnhälfte größer ist und ihr ein häufigerer Gebrauch der rechten Gliedmaßen entspricht. Mit der dadurch bedingten Asymmetrie des menschlichen Körpers hängt auch das in anderem Zusammenhang erwähnte Umherirren im Kreise (vgl. oben S. 94) zusammen. *) Vgl. oben S. 234. 2) Moser, Über Maßverhältnisse des rechten und linken Armes, Ärztl. Sachverst.-Ztg. 1906 Nr. 2. 3) Vgl. Buder, Stichverletzung durch einen Linkshänder, Ärztl. Sachverst.Ztg. 1908 Nr. 11.

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

Unter Umständen kann es wichtig sein, objektiv festzustellen, ob einer ein Rechtser oder Linkser ist, wenn Verdacht besteht, daß er aus irgendeinem Grunde das Wahre nicht gelten lassen will. Brüning1) schlägt vor: Man läßt die Person mit der einen Hand einen Kreis auf sich zu, mit der anderen Hand einen Kreis von sich fort im beschleunigten Tempo schlagen, ein bekanntlich bei Kindern beliebtes Spiel. Es zeigt sich nun, daß bei Rechtshändern die linke Hand bald den Bewegungen der rechten, und bei Linkshändern die rechte Hand denen der linken folgt.

3. Die Verwendung der Mikroskopiker, Chemiker und Physiker. So weit vorgeschritten heute auch die Konstruktion der Mikroskope ist und so viel die Wissenschaft mit diesem bewunderungswürdigen Kunstwerke zu leisten vermag, so selten wird das Können des Mikroskopikers vom U. ausgenützt. Untersuchungen von Blut und Giften, Feststellung von Samenflecken und Vergleiche von Haaren, das ist in der Regel so ziemlich alles, was der Mikroskopiker für den U. zu tun hat. Andere Untersuchungen kommen nur ausnahmsweise vor, trotzdem es unzählige Fälle gibt, in denen der Mikroskopiker dem U. die wichtigsten Aufschlüsse bieten und vielleicht in manche unlösbare Untersuchung Klarheit bringen könnte. Der Grund, warum dies so selten geschieht, liegt nur darin, daß der U. nicht weiß, was ihm der Mikroskopiker zu sagen vermag und daß der letztere, sofern er nicht kriminologisch geschult ist, nicht weiß, was der U. von ihm brauchen könnte. Die Folge davon ist, daß beide aneinander fremd vorübergehen, obwohl sie in vielen wichtigen Fällen Hand in Hand miteinander arbeiten sollten. Dieses Fremdbleiben geht sogar so weit, daß in den vielen Werken über Mikroskope und deren Verwendung alles Mögliche über ihre vielen Leistungen enthalten ist, nur nicht über die auf dem Gebiete der Strafrechtspflege. Man sehe einmal, was der Mikroskopiker auf dem Gebiete aller Naturwissenschaften leistet! Man darf vielleicht sagen, das Mikroskop hat neue Disziplinen überhaupt erst möglich gemacht: Bakteriologie, Untersuchung von Wasser, Luft, Boden, Nahrungsmitteln, Feststellung der Natur vieler Krankheiten, Kenntnis der Tiere, Pflanzen und Steine und viele andere der wichtigsten Aufklärungen wären ohne Mikroskop nie möglich geworden. Daß das aber so wurde, hat seinen Grund allein darin, daß der naturwissenschaftliche Forscher wußte, was ihm das Mikroskop leisten kann; er forderte von ihm und bekam die geforderte Leistung, ebenso wie der U. sie bekommen würde, wenn er sie vom M i k r o s k o p i k e r zu v e r l a n g e n wüßte. Denn daß die beiden einander so selten finden, ist die Schuld des U., nicht des Mikroskopikers, der keine Verpflichtung hat, jenen zu fragen, was er etwa von ihm brauchen könnte. Will man daran gehen, diesem Übelstande abzuhelfen, so erübrigt nichts anderes, als aus der Praxis eine möglichst ») a. a. O.

Mikroskopische und chemische Methoden.

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große Anzahl von Fällen zu sammeln, in denen es dem U. eingefallen ist, die Hilfe des Mikroskopikers anzurufen und in denen ihm auch solche geworden ist. Erst wenn eine Menge von solchen Beispielen gesammelt sein wird, kann es möglich werden, diese in einem System zu vereinigen, und so dem U. zu zeigen, wo ihm der Mikroskopiker helfen kann. Ein wesentlicher Fortschritt in dieser Richtung ist allerdings in letzter Zeit dort zu erkennen, wo kriminologische oder kriminaltechnische Institute oder „Sachverständige für Kriminologie" bestehen, die die notwendige naturwissenschaftliche Technik, insbesondere die Mikroskopie, beherrschen und speziell auf kriminologische Fragestellungen ausgerichtet sind1). Im allgemeinen kann man sagen, daß der Mikroskopiker überall da Nutzen schaffen kann, wo genaueres Sehen nötig ist als es mit freiem Auge möglich ist; weiters dort, wo es auf die Feststellung der Zusammensetzung eines Gegenstandes ankommt, ohne daß er zerstört werden darf, was der Chemiker in den meisten Fällen tun muß; und endlich dort, wo es sich um die Unterscheidung der physikalischen (nicht der chemischen) Bestandteile eines Körpers handelt, wenn also die m e c h a n i s c h e Zergliederung und nicht die chemische Trennung gewünscht wird (z. B. Bestimmung eines Gemenges, von dem man wissen will, aus welchen pulverisierten Körpern es besteht, nicht aus welchen Elementen es zusammengestellt ist). Oft werden aber die Fragen, die der U. zu stellen hat, nur durch V e r e i n i g u n g von mikroskopischen und chemischen Untersuchungsmethoden zu lösen sein. Deshalb werden in den erwähnten kriminologischen Instituten, ebenso wie in den gerichtlich-medizinischen und medizinisch-chemischen Instituten die Arbeitsweisen der Mikroskopie und Chemie gepflegt. Bei manchen Untersuchungsmethoden, wie besonders bei der „Mikrochemie" ist eine scharfe Trennung überhaupt nicht möglich. Andere Fragen — wie z. B. die Feststellung der Ursache eines Betriebsunfalles, des Versagens einer Maschine, der Explosion eines Kessels usw. (und damit die Lösung der Frage nach dem allfälligen Verschulden) — erfordern mitunter wiederum die Verbindung mikroskopischer Untersuchungen (z. B. Metallprüfung) mit allgemeineren Untersuchungsmethoden der P h y s i k und physikalischen T e c h n i k . Hier können oft Institute der technischen Hochschulen (Materialprüfungsund technische Untersuchungsanstalten) wertvolle Sachverständigenhilfe leisten 2 ). Im nachstehenden soll nun eine kleine Zahl von Beispielen angeführt werden, in denen der U. vom Mikroskopiker, Chemiker oder Physiker Hilfe erwarten kann3). Es ist zu bemerken, daß selbstverständlich diese !) V g l . oben S. i 6 f . Die W a h l des Sachverständigen kann in solchen Fällen schwierig sein; wo kriminologische Institute zur V e r f ü g u n g stehen, pflegen diese — sofern sie nicht selbst zuständig sind — die Ü b e r t r a g u n g der Untersuchung an den geeigneten Sachverständigen oder das zuständige Institut in die W e g e zu leiten. s) V g l . Popp, Die Mikroskopie im Dienste der Kriminaluntersuchung, Archiv 70 S. 149; Loock, Chemie und Photographie bei Kriminalforschungen, Düsseldorf 1909; Dennstedt, Die Chemie in der Rechtspflege, Leipzig 1910; 2)

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

Beispiele nicht im entferntesten eine auch nur ungefähr vollständige Reihe der möglichen Fälle darstellen sollen, doch soll dadurch eine Anregung dazu geboten werden, in dieser Richtung weiterzuarbeiten und den Sachverständigen zum Nutzen der Strafrechtspflege überall da anzurufen, wo er helfen kann. Eine wesentliche'Unterscheidung zwischen der Untersuchung mit der Lupe und mit dem Mikroskope wird im folgenden nicht gemacht werden, weil der einzelne Fall lehren muß, ob mit Lupe oder Mikroskop oder mit beiden zu arbeiten ist 1 ). Der früher bestandene Unterschied in den Methoden, daß das Mikroskop nur im durchfallenden Licht arbeiten konnte, daher auf dünne, durchsichtige Gegenstände beschränkt war, während die Lupe die Arbeit mit auffallendem Licht gestattet, daher auch bei undurchsichtigen Gegenständen anwendbar ist, erscheint durch die modernen, auch für auffallendes Licht verwendbaren Mikroskope2) verwischt. Die bedeutend erhöhte Vergrößerungsfähigkeit des Mikroskopes gegenüber der Lupe, die Beweglichkeit des modernen Mikroskopes, die durch Ölimmersion erhöhte Deutlichkeit des mikroskopischen Bildes bei starken Vergrößerungen, die Möglichkeit der Verbindung des Mikroskopes mit der Photographie (Mikrophotographie), durch die das Mikrobild auf der Mattscheibe bequem besichtigt und schließlich durch die Aufnahme festgehalten werden kann, die Verwendung von polarisiertem Licht, die Möglichkeit der Spektralanalyse usf. verdrängen die Lupe allmählich und schränken sie im wesentlichen auf das Gebiet des AbTimm, Beiträge zum mikrochemischen Spurennachweis, Archiv 81 S. 26; R. Jeserich, Chemie und Photographie im Dienste der Verbrechensaufklärung, Berlin 1930; Brüning, Artikel „Mikroskopische Untersuchungen" im H d K . Arbeiten, die einzelne Untersuchungsgebiete betreffen, werden bei den einschlägigen Abschnitten angeführt werden. Über Einrichtung und Arbeitsweise des Mikroskopes unterrichtet nachstehende Literatur: Hanausek, Lehrbuch der technischen Mikroskopie, 1901; Kaiser, Die Technik des modernen Mikroskops, Wien 1901; Böhm-Oppel, Taschenbuch der mikroskopischen Technik, 8. Aufl. 1919; P. Mayer, Einführung in die Mikroskopie, 2. Aufl. 1922; Hager-Tobler, Das Mikroskop und seine Anwendung, Berlin 1932; Peterfi, Mikrophotographie (in: Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, herausgegeben von Hay und v. Rohr, V I . Band), Wien 1933. Auf speziale Gebiete ausgerichtet, aber für das Studium auch der allgemeinen Mikroskopie v o n besonderer Bedeutung sind: F. v. Höhnel, Die Mikroskopie der technisch verwendbaren Faserstoffe, 2. Aufl. 1905; Szimonovicz, Lehrbuch der Histologie und der mikroskopischen Anatomie, 3. Aufl. 1915; Schaffer, Lehrbuch der Histologie und der Histogenese nebst Bemerkungen über Histotechnik und das Mikroskop, 2. Aufl. 1922. 2) Vgl. Kalmus, Die Epimikroskopie und ihre Anwendbarkeit in der gerichtlichen Medizin, Archiv 40 S. 232. Bei Verwendung schwacher Objektive, die einen größeren Abstand v o m O b j e k t haben, ist das Mikroskopieren bei schrägseitlich auffallendem Licht ohne weiteres möglich; mit solchen schwachen Vergrößerungen arbeitet der Kriminologe z. B. bei der Untersuchung der Tintenstruktur von Schriftzügen, der Spuren von Werkzeugen, der Abschußspuren von Geschossen und Patronenhülsen u. a. Sind aber starke Vergrößerungen erforderlich (z. B. für die Untersuchung der Oberflächenstruktur von Metallen, für den Nachweis feinster, verstreuter Graphitpartikelchen bei ausradierten Bleistiftschriften u. ä.) muß das Objektiv an den Gegenstand unmittelbar herangebracht werden; dann erfolgt die Auflichtbeleuchtung mit einem „Opakilluminator", durch den der Strahlengang der Lichtquelle durch das Objektiv selbst auf das O b j e k t geleitet wird.

Exkremente am Tatort.

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suchens von Spuren und auf gewisse Spezialfälle ein, in denen nur eine schwache Vergrößerung tunlich ist (z. B. in der Daktyloskopie die vergleichende Betrachtung der Papillarlinienmuster vonFingerabdrücken — hier würde die große optische Auflösung desMikroskopes die Erfassung der Linienzeichnung als solche nur erschweren!)

a) Bei Blutspuren. Über die Tätigkeit des Sachverständigen bei den so wichtigen Blutspuren wird des Zusammenhanges und der Übersicht wegen an späterer Stelle (Abschnitt XIV „Blutspuren") gehandelt werden 1 ).

b) Bei Exkrementen, Urin, Speichel, Sperma, Milch usw. Durch die Untersuchung von menschlichen Exkrementen 2 ) können oft wertvolle Klarstellungen gewonnen werden. Gerade hier ist der überraschende Fortschritt der gerichtlichen Medizin zu bewundern und bezeichnend ist es z. B., wie seinerzeit Casper-Liman in den ersten Auflagen seines Lehrbuches erklärte, daß die Untersuchung menschlicher Exkremente nie oder fast nie von Wichtigkeit sein kann, während diesen Fragen in den späteren Auflagen desselben Lehrbuches die größte Wichtigkeit beigemessen wird. Denn man kann Kotmassen von Sachverständigen darauf untersuchen lassen, aus welcher Art Nahrung sie stammen und das Präzipitinverfahren macht es zu bestimmen möglich, ob sogar alte, eingetrocknete Kotflecken gerade von Menschen herstammen. Die praktische Bedeutung solcher Untersuchungen ergibt sich aus mehreren Fällen der Kriminalgeschichte. Unterhalb einer kleinen Stadt wurde von einem dort vorbeifließenden Flusse die Leiche eines ermordeten Mädchens angeschwemmt, an dem kurz vor dem Tode ein Notzuchtsakt verübt worden sein mußte. Die gerichtliche Obduktion der Ermordeten wurde sehr sorgfältig durchgeführt und auch die Fäkalmassen in den Gedärmen wurden einer Untersuchung unterzogen. Diese ergab, daß sich in diesen die Kerne frischer Feigen vorfanden. Nun gab es damals in dem bewußten Städtchen frische Feigen nur in dem Garten ') Über Bestimmung der Blutgruppe vgl. unten S. 391 ff. a ) Vgl. Möller, Die forense Bedeutung der Exkremente, Wiener klinische Rundschau 1897 Nr. 1 1 ; van Ledden-Hülsebosch, Makro- und mikroskopische Diagnostik der menschlichen Exkremente, Berlin 1899; Netolitzky, Die Vegetabilien in den Fäces, Wien 1906; v. Oefele, Technik der chemischen Untersuchung des menschlichen Kotes, Leipzig 1908; Schmidt und J. Strasburger, Die Fäces des Menschen, 3. Aufl. 1 9 1 0 ; A. Hellwig, Die Bedeutung des Grumus merdae für den Praktiker, Archiv 23 S. 188; A. Hellwig, Weiteres über den Grumus merdae, MschrKr. 2 S. 639; van Ledden-Hulsebosch, Die Bedeutung von am Tatort hinterlassenen Fäkalmassen, Archiv 74 S. 2 7 3 ; Hazirn Asada und Mataichiro Kominami, Die Untersuchung von Schmutzflecken, die von Fäzes stammen, Archiv für Kriminologie 76 S. 1 4 5 ; Kraft, Neues zur Kotuntersuchung in Kriminalfällen, Archiv 84 S. 2 1 1 ; K. Reuter, Naturwissenschaftlich-kriminalistische Untersuchungen menschlicher Ausscheidungen (in: HdB. d. biol. Arbeitsmethoden, hrsgg. v. Abderhalden, Abt. I V , Teil 12), Berlin 1932. G r o ß - S e e l i g , Handbuch. 8. Aufl.

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

eines einzigen Hauses, die Spur war gefunden und es ergab die weitere Untersuchung, daß ein Mann, der in jenem Hause wohnte, das Mädchen an sich gelockt, ihm Feigen aus dem Garten gegeben, das Mädchen genotzüchtigt und dann getötet hatte. Das Verdauungsstadium der Feigen entsprach auch genau der Zeit vom Verzehren der Feigen bis zur Tötung des Mädchens1). In einem anderen Falle2) war eine alte Frau getötet worden und man fand auf dem Tatorte Fäkalien, die Spulwürmer enthielten. Man ließ den Kot von 6 Männern, welche der Tat verdächtig waren, untersuchen und fand nur bei einem (und zwar wiederholt bei verschiedenen Untersuchungen) Spulwürmer im Kot. Er war auch der Täter und wurde verurteilt. Da Verbrecher nicht selten—zum Teil aus Aberglauben8)—am' Orte der Tat ihren Stuhl absetzen, kann in solchen Fällen die Verwahrung und Untersuchung dieses corpus delicti unter Umständen von Wichtigkeit sein. Auch noch in anderer Richtung kann es klärend sein, wenn sfch der U. um Exkremente kümmert. Schon Möller erinnerte, daß es zweckmäßig wäre, bei jedem ob eines Verbrechens Eingelieferten, den ersten in der Haft abgesetzten Stuhl zur allfälligen mikroskopischen Untersuchung aufzubewahren. Wenn eine solche Registratur auch in ihrer Allgemeinheit nicht durchzuführen ist, so läßt es sich nicht in Abrede stellen, daß dieser Vorgang für einzelne Fälle zu empfehlen wäre. Wenn z. B. bei einem wichtigen Verbrechen der Verdächtigte sehr bald nach der Tat verhaftet wird, und wenn man wahrnimmt, daß sein letzter Aufenthalt, seine zuletzt genossene Nahrung usw. von Bedeutung sein kann, so wird sich die Aufbewahrung seines ersten Stuhles in der Haft allerdings empfehlen. Urin und Urinspuren können mehrfach wichtig werden. So läßt sich schon bei im Freien abgesetzten Urin aus Lage und Form der Spur entnehmen, ob sie von einem Mann oder einer Frau herrührt. Genaueres läßt sich natürlich noch sagen, wenn Urin chemisch und serologisch untersucht wird und z. B. seine pathologischen Bestandteile oder gruppenspezifische Eigenschaften auf einen bestimmten Menschen hinweisen oder ihn ausschließen4). Ebenso wichtig kann Speichel und sonstiger Auswurf (insbesondere Erbrochenes) werden, wenn er entweder solche Eigenschaften erkennen läßt oder Spuren enthält, die auf den Aufenthalt, die Beschäftigung usw. des Betreffenden schließen lassen5). ') Vgl. „Procès du Frère Léotade, accusé du double crime de viol et d'assassinat, sur la personne de Cécile Combettes", Leipzig 1851. •) Lacassagne, Affaire de la Vilette, Arch. d'anthropologie criminelle 1902 p. 33. a) Siehe unten I X . Abschnitt. *) Lahaye, Une analyse d'urine au service de la justice, Annal, de méd. leg. 7 S. 659; Holzer, Art. „Urin u. Urinflecken" im HGerMed. •) Z. B. Blei-, Schwefel-, Kohlenstaub, Eisenspuren, Staub aus Glas- oder Steinschleifereien usw. Vgl. Mueller, Über den Nachweis eingetrockneten Speichels in Tüchern, D. Zschr. f. d. ges. gerichtl. Medizin 11 S. 211 ; K. Reuter a. a. O.; Holzer, Art. „Speichel u. Speichelflecken" im HGerMed.

Spuren von Urin, Speichel und Sperma.

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Auch die Frauenmilch und ihr chemisch-mikroskopischer Gehalt kann Bedeutung haben1), namentlich in der Richtung einer stattgehabten Geburt, der Lebensfähigkeit des geborenen Kindes usw. Die Frage nach Spermaflecken und deren Auswertung2) hat ihre größte Bedeutung bei den verschiedenen Geschlechtsverbrechen, kann aber auch sonst wichtig werden. Die Tätigkeit des Kriminalisten wird sich namentlich darauf richten, daß Samenflecken aufgesucht, vor Schädigungen geschützt, verwahrt und b a l d , so unbeschädigt als möglich, dem Sachverständigen übergeben werden. Die Stellen, wo sich Spermaflecken finden können, brauchen nicht besonders genannt zu werden: hauptsächlich sind es die betreffenden Stellen der Kleider und der Wäsche des Verdächtigten und seines Opfers bzw. Partners. Kurze Zeit nach der Tat oder bei Getöteten auch noch später können sich solche Spuren auch am Körper, z. B. an der Geschlechtsgegend des Opfers, namentlich in den Schamhaaren finden. Das Gleiche gilt von der Sicherung der Spuren einer geschlechtlichen Erkrankung. Diese Stellen aufzusuchen, ist natürlich vor allem Sache des Arztes. Bezüglich der Verwahrung verdächtiger Wäsche und Kleider sei lediglich bemerkt, daß man bezüglich des Mitnehmens nicht wählerisch sein darf — man nimmt, was verdächtig ist oder es werden kann. Gerade auch in diesen Fällen zeigt sich die Wichtigkeit eines Objektes häufig erst später, wenn es zum „Mitnehmen" längst zu spät ist. Im übrigen befasse man sich mit einem verdächtigen Wäschestück usw. nur so weit, daß man die Stelle findet, an welcher Samenflecken vorhanden sein können: diese Stellen werden beim Zusammenlegen oder Rollen s t e t s nach innen gebracht, damit sie soviel als möglich vor Beschädigungen bewahrt werden3). Die zusammengelegten oder gerollten Stücke müssen in einer Schachtel oder Kiste verpackt sein, nachdem sie durch verläßlich reines Papier geschützt wurden (gegen Druck, Pressen, Nässe, sogar feuchte Luft). Mit der Übergabe an die Sachverständigen beeile man sich. Ihnen ist auch das Protokoll über den Fund und die Verwahrung der Objekte zu übergeben, in welchem peinlich genau der Hergang ge*) Hertsch, Die Frauenmilch und ihre kriminelle Bedeutung, Arch. f. Gynäkologie 92. Bd. 1. Heft; K. Reuter a. a. O. •) H. Käthe, Der Spermanachweis, Blätter f. gerichtl. Medizin 3 S. 161; Quadflieg, Die Methoden des Spermanachweises und ihr Wert für den Gerichtsarzt, Blätter f. gerichtl. Medizin 65 S. 39; Baecchi, Über eine Methode zur direkten Untersuchung der Spermatozoen auf Zeugflecken, Viertjschr. f. gerichtl. Medizin 3. F., 43, S. 191; Krainskaja-Ignatowa, Über die Gruppeneigenschaften des Spermas, D. Zschr. f. d. ges. gerichtl. Medizin 13 S. 441; E. Ziemke, Über Spermakristalle, D. Zschr. f. d. ges. gerichtl. Medizin 18 S. 367; Niederland,. Bedeutung und Nachweis von Samenspuren in der Kriminalistik, Kriminalistik 5 S. 100; Schwärzlicher, Die Methoden der forensischen Spermauntersuchung (in: Hdb. d. biolog. Arbeitsmethoden, hrsgg. v. Abclerhalden, Abt. IV, Teil 12, 2. Hälfte), Berlin 1931; K. Reuters,, a. O.; Holzer, Art. „Spermaund Spermaflecken" im HGerMed. Das Wichtigste enthält jedes Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. ') Vgl. Dennstedi, Chemie in der Rechtspflege S. 258; er macht auch darauf aufmerksam (S. 171), daß man zum Verpacken chemisch wichtiger Dinge n i e m a l s Zeitungspapier nehmen darf, da durch das Blei der Lettern und Bestandteile der Druckerschwärze verhängnisvolle Irrtümer entstehen können. 20*

IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

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schildert werden muß. Dann wissen die Sachverständigen, ob und wieweit das Untersuchungsmaterial verwertbar ist. Bei der Frage der mikroskopischen Untersuchung von Sperma darf nicht übersehen werden, daß es auch Samen ohne Samenfäden gibt (Folge von Erkrankungen), so daß ein rücksichtlich der Samenfäden ergebnisloser Befund nicht notwendig gegen das Vorliegen eines Sittlichkeitsattentates spricht. c) Bei Haaren. x

Auch aus Haaren, die unter den verschiedensten Umständen gefunden werden, läßt sich oft viel mehr entnehmen, als man für gewöhnlich annimmt. Natürlich ist es auch hier nicht Sache des U., selbst die betreffenden Untersuchungen anzustellen, wohl aber ist er verpflichtet, in allen Fällen, in denen nur die Möglichkeit vorliegt, daß ein Haar aufgefunden werden kann, das für die Sache von Bedeutung sein könnte, nach diesen Objekten zu forschen, aufgefundene Objekte unter allen Umständen besonders sorgfältig zu verwahren, und sie dem Mikroskopiker, der ein gerichtlich-medizinischer oder ein kriminologischer Sachverständiger sein kann, zu übergeben. Mitunter lassen sich in den verschiedensten Richtungen Schlüsse ziehen, welche von nicht zu unterschätzender Bedeutung sein können. Es würde dem Zweck dieses Buches widerstreiten, wollte hier alles wiedergegeben werden, was die Forschung festgestellt hat 1 ); ich möchte aber doch darauf aufmerksam ') Ä l t e r e g r u n d l e g e n d e L i t e r a t u r : Pfaff, Das menschliche Haar in seiner physiologischen und forensischen Bedeutung, Leipzig 1869; Oesterlen, Das menschliche Haar und seine gerichtsärztliche Bedeutung, Tübingen 1874; Waldeyer, Atlas der menschlichen und tierischen Haare, Lahr 1884. N e u e r e w i c h t i g e A r b e i t e n : Möller, Mikroskopische Beschreibung der Tierhaare, Archiv 2 S. 177; Hildebrand, Die Untersuchung der Haare (in: Hdb. d. gerichtsärztl. und polizeiärztl. Technik, hrsgg. von Lochte), Wiesbaden 1914; Litterscheidt und Lambardt, Die Erkennung der Haare unserer Haussäugetiere und einiger Wildarten, Hamm i. W. 1921; Köttnitz, Erkennungsmerkmale der Haare heimischer Wildarten, Jahrbuch f. Jagdkunde 6 S. 1 (1922); Meijere, Haare (in: Hdb. d. vergl. Anatomie der Wirbeltiere Bd. 1), Berlin 1931; Schwarzacher, Die Methoden der forensischen Haaruntersuchung (in: Hdb. d. biol. Arbeitsmethoden, hrsgg. von Abderhalden, Abt. IV, Teil 12, 2. Hälfte), Berlin 1931; Boller, Vorschlag einer neuen forensischen Haaruntersuchungsmethode. Die Mikrofluoreszenz von Haaren, Archiv 100 S. 9, 207 und 264; Brummund, Die Haare der jagdbaren Wildarten Deutschlands mit besonderer Berücksichtigung der Kutikula, Archiv 100 S. 153; Lochte, Atlas der menschlichen und tierischen Haare, Leipzig 1938. E i n z e l f r a g e n b e h a n d e l n : Marx, Ein Beitrag zur Identitätsfrage bei der forensischen Haaruntersuchung, Archiv 23 S. 75; Böttger, Über Haarverletzungen und über die postmortalen Veränderungen der Haare in forensischer Beziehung, Archiv 44 S. 209; Lochte, Über Verletzungen der Haare bei Naheschüssen mit rauchschwachem Pulver, Viertjschr. f. gerichtl. Medizin, 3. F., 41, II. Suppl., S. 99 (1911); Höfer, Die Farbe des menschlichen Haares in forensischer Beziehung, Archiv 66 S. 1; Mezger-Heeß, Die zuverlässige Unterscheidung von Menschen- und Tierhaaren, Archiv 87 S. 252; A. Schröder, Ist die Unterscheidung von Menschen- und Tierhaaren durch Untersuchung der Kutikula möglich? D. Zschr. f. d. ges. gerichtl. Medizin 15 S. 127 (1930); Piedeliivre und Zibouni, Ist aus den Haaren einer Leiche der Hitzegrad festzustellen, dem sie ausgesetzt war? Archiv 93 S. 136; Milissinos und Dirobert, Verkohlung der menschlichen und tierischen Haare, Archiv 99 S. 28. — Das Wichtigste enthalten auch die einschlägigen Abschnitte der Lehrbücher für gerichtliche Medizin.

Sicherstellung von Haaren.

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machen, in welcher Hinsicht der Mikroskopiker dem U. helfen kann, wenn dieser ihm Haare übergibt. Vor allem ist die hohe Absorptionsfähigkeit der menschlichen Haare nicht zu übersehen, da diese gasförmige Stoffe, Gerüche usw. mit großer Gier aufnehmen und eine Zeitlang festhalten. Dies kann von Wichtigkeit sein, wenn es sich um die Frage handelt, ob ein Mensch, gleichviel ob er zur Zeit der Beantwortung der Frage lebt oder tot ist, an einem Orte gewesen ist, der mit irgendeinem gasförmigen Körper, Gerüche usw. geschwängert war, eine Feststellung, welche häufig maßgebend für den ganzen Fall sein kann. Allerdings haften derlei Gerüche nicht sehr lange an den Haaren, es muß also die Untersuchung entweder sofort vorgenommen werden können, oder es muß, wenn dies nicht möglich ist, dafür gesorgt werden, daß das Objekt (welches selbstverständlich aus einer möglichst großen Quantität von Haaren bestehen soll) in geschützter Weise aufbewahrt werde. Der U. hat also dafür zu sorgen, daß die Haare in ein a b s o l u t reines, verhältnismäßig möglichst kleines und luftdicht zu verschließendes Gefäß gebracht werden. Daß das Gefäß rein sein muß, wie bei allen ähnlichen Fällen, versteht sich von selbst; daß es verhältnismäßig klein sein soll, ergibt sich daraus, daß kein überflüssiger Luftraum vorhanden sein darf, an den die Haare das Aufgenommene abgeben. Der Verschluß verhindere das Entweichen des fraglichen Stoffes. Man wird also gegebenen Falles möglichst viel von den zu untersuchenden Haaren mit v o l l k o m m e n gereinigten Händen oder besser einer ausgeglühten Pinzette nehmen und in ein weithalsiges Glas mit eingeriebenem Stöpsel, in ein Blechgefäß, im Notfalle auch nach und nach in eine gewöhnliche Flasche bringen. Glas- oder Korkstöpsel, beziehungsweise die Innenwand des Blechdeckels, soll mit reinem Fett leicht bestrichen werden, welches sowohl den Verschluß dichter macht als auch die entweichenden Gerüche usw. heftig an sich zieht und festhält, so daß dann dieses Fett mit ein Untersuchungsobjekt abgeben kann. Auch hier mache es der U. so, wie es ein Sachverständiger tun muß, d. h. er beschreibe mit peinlicher Genauigkeit, wie er bei Verwahrung des Objektes vorgegangen ist. Diese Art seines Vorgehens kann dann vom Sachverständigen geprüft werden, und dieser mag dann erklären, ob hierbei irgendetwas vorgefallen ist, was die Sicherheit seiner (des Sachverständigen) Untersuchung in Frage ziehen könnte, oder aber, daß durch das Vorgehen des U. sicher nichts Unrichtiges geschehen sein kann. Dann ist der U. gegen den so häufigen Einwand geschützt: „Ja, wer weiß, wie das der U. gemacht hat!" Sind die Haare in einer Blechbüchse verwahrt und hat man Gelegenheit dazu, so kann man den Deckel verlöten lassen, was der ungeschickteste Klempner in jedem Dorfe zuwege bringt. Man hat dabei nur darauf zu achten, daß er nicht die Büchse und so ihren Inhalt erhitzt. Schließlich wird das Objekt dem Sachverständigen übergeben, wobei man ihm alle Einzelheiten auf das genaueste mitteilt; seine Sache ist es dann, fest-

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

zustellen, ob die Haare z. B. Rauch, Parfüm, giftige Dämpfe, charakteristische Gerüche usw. aufgenommen und festgehalten haben. Eine weitere wichtige Aufgabe des Sachverständigen besteht darin, Haare, die an verdächtigen Stellen gefunden wurden, darauf hin zu prüfen, ob sie von einem bestimmten Individuum herrühren oder nicht. Der gewöhnliche hierher gehörige Fall ist der, wo in der Hand des Ermordeten Haare gefunden wurden, die er in verzweifelter Gegenwehr dem Täter aus Bart und Kopfhaar gerissen hat. Daß solche Haare in der Hand des Getöteten gefunden werden, ist häufiger als man meint, es würde noch häufiger sein, wenn man die Hände solcher Opfer genauer untersuchen würde. Es darf nicht mehr vorkommen, daß der erste beste Polizeidiener oder Totenbeschauer plump und oberflächlich die Hand des Toten mustert, vielleicht sogar gewohnheitsmäßig abwischt oder sonst ungeschickt anfaßt. Fingerdicke Haarbüschel hätte er freilich wahrnehmen müssen, aber solche pflegen die Toten nicht in der Hand zu haben und einzelne Haare gehen bei solchem Vorgehen zuverlässig verloren. Die Untersuchung der Hände soll daher nur von der berufenen Seite und auf das Sorgfältigste geschehen. Die Verwahrung des etwa Gefundenen muß s o f o r t und pedantisch sorgfältig, am besten in reinem zusammengelegten Papiere (welches wieder einen zweiten Umschlag bekommt) geschehen. Auf dem ersten Umschlag wird auch bemerkt, und zwar abermals s o f o r t , wo, wie und durch wen das Haar gefunden wurde. Es genügt nicht, zu sagen: „Haar, gefunden in der rechten Hand des N. N." — es muß ausdrücklich die Lage des Haares, z. B. „zwischen Daumen und Zeigefinger", oder „schräg über die Handfläche von der Zeigefingerwurzel gegen den inneren Ballen zu", dazugesetzt werden. Am besten wird dies allerdings erreicht, wenn eine, wenn auch noch so primitive Zeichnung angefertigt wird; eine solche läßt sich erreichen, wenn der U. seine eigene Hand mit ausgespreizten Fingern fest auf einen Bogen Papier legt, und mit einem Bleistifte rings um die Konturen fährt. Ob die Finger der Leiche eingezogen waren oder nicht, ist für diesen Fall gleichgültig, nötig ist nur, daß man den Umriß einer Hand hat, auf dem dann mit einem einzigen Bleistiftstrich die Lage und Länge des Haares angedeutet wird; eine Zeichnung, wie die a b s i c h t l i c h p r i m i t i v s t entworfene Abb. 9, kann jeder machen und doch gibt sie die Lage des Haares besser an, als es lange Beschreibungen zu geben vermöchten. Bei einer solchen primitiven Zeichnung muß allerdings angegeben werden, ob sie die rechte oder linke Hand darstellen soll (die Skizze Abb. 9 könnte an sich ebensogut die linke Hand von innen als die rechte von außen wiedergeben). Für die Aufklärung des Tatbestandes k a n n es von Wichtigkeit sein, zu wissen, wo die Spitze, wo die Wurzel des Haares gelegen war. Diesen Umstand kann man in zweifacher Weise feststellen. Darf nach Lage des Falles das betreffende Haar nicht viel berührt werden (z. B. um daran klebendes Blut nicht zu verwischen), so bleibt nichts übrig, als das Haar auf ein Blatt Papier zu legen und mit zwei darüber geklebten Papierstreifen zu fixieren (Abb. 10). Diese Papierstreifen dürfen aber nicht durch-

H a a r s p i t z e und W u r z e l .

wegs mit Klebestoff bestrichen werden, sondern es darf dies nur an den Enden geschehen, so daß das Haar selbst nicht mit Klebestoff verunreinigt wird; sodann fertigt man dazu noch einmal die Skizze wie früher an und bezeichnet die Enden des Haares auf dem Papier selbst und auf der Skizze mit den gleichen Buchstaben, so daß kein Zweifel darüber entstehen kann, wie das Haar in natura gelegen ist. Braucht man mit dem Haare nicht schonend umzugehen, z. B. wenn es in den Händen eines Erwürgten oder einer Wasserleiche gefunden wurde, so kann man gleich selber bestimmen, wo die Wurzel und wo die Spitze des Haares

rechte Hand

Abb. 9. Darstellung der Lage eines Haares »[in der Hand eines Getöteten (absichtlich'primitiv gezeichnet).

Abb. 10. Fixierung eines gefundenen Haares.

Abb. 11. Untersuchung eines Haares auf Wurzel und Spitze.

ist, und zwar nach dem Verfahren der Friseure, die beim Anfertigen einer Perücke oder eines falschen Zopfes jedesmal die zu benützenden Haare so legen müssen, daß Wurzel bei Wurzel, Spitze bei Spitze liegt. Man faßt hiebei das Haar mit der Spitze des Zeigefingers und des Daumens (Abb. 11) so, daß das Haar senkrecht steht (selbstverständlich hat man sich gemerkt, aus welcher Lage man das Haar von der Leiche weggenommen hat). Nun hält man den Zeigefinger ruhig und bewegt die Daumenspitze an der Zeigefingerspitze auf dem Haare sachte auf und ab; in der Richtung, in der das Haar wandert, liegt dessen Wurzel. Bewegt

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

sich also bei der angenommenen Lage das Haar nach abwärts, so ist die Wurzel unten, steigt es nach aufwärts, so ist die Wurzel oben; man b e k o m m t also s t e t s z u l e t z t die S p i t z e zwischen die F i n g e r . Jedes Haar besitzt nämlich auf seiner äußersten Schichte, dem Oberhäutchen (Kutikula), mikroskopisch kleine, dachziegelartig geordnete Hornschüppchen (wie beim Tannenzapfen angeordnet), die von der Wurzel gegen die Spitze gerichtet sind; daher kann das Haar, das sich zwischen den zwei sich aufeinander bewegenden Fingern befindet, nur jene Bewegungen mitmachen, bei welchen das Haar in der Richtung zur Wurzel weiter geschoben wird, während in der Richtung zur Spitze eine Weiterbewegung des Haares durch die Schuppen der Kutikula, die wie Widerhaken wirken, verhindert wird. Es muß sich daher die Wurzel stets vom Finger e n t f e r n e n . Hat man also in der angegebenen Weise festgestellt, auf welcher Seite die Spitze bzw. die Wurzel des Haares liegt, so wird dies auf der Skizze vermerkt (also bei Abb. 9 oder 10 statt a und b die Bezeichnung Sp. und Wrzl. gesetzt) und es ist diese Frage für alle Zeit sichergestellt. Werden mehrere Haare gefunden, so geht man mit jedem von ihnen in der bezeichneten Weise vor, verwahrt jedes abgesondert (wenn nicht etwa mehrere durch Blut u. ä. fest miteinander zusammengeklebt sind) und bezeichnet jedes für sich und s o f o r t . Auch hier sei namentlich der Anfänger abermals davor gewarnt, sich zu denken, das merke er sich ohnehin alles im Gedächtnisse, es sei nicht notwendig, alles zu bezeichnen und zu beschreiben: man merkt sich's eben nicht, zumal nicht für längere Zeit, und besonders dann nicht, wenn die bei jedem wichtigen Falle immer vorkommende Aufregung die vielen zutage tretenden Eindrücke durcheinander bringt und Verwechslungen begünstigt. Im mikroskopischen Aufbau eines Haarschaftes unterscheidet man außer dem erwähnten Oberhäutchen, der Kutikula, noch die Rindenschicht und die Markschicht. Die Rindenschicht, die beim Menschenhaar den Großteil des Haarschaftes ausmacht, besteht aus verhornten Faserzellen, die parallel zur Länge des Haares verlaufen; im mikroskopischen Bild erscheint die Rindenschicht als ungegliedertes, fein gestricheltes Gebilde von gelblicher oder weißlichbrauner Farbe. Die Markschicht, die jedoch beim Menschenhaar oft ganz fehlt, besteht hingegen aus perlschnurartig aneinandergereihten Zellen, den Markzellen, die ein- oder mehrreihig nebeneinanderliegen. Während bei den Tierhaaren die innere Markschicht oft den halben Durchmesser des Haares oder mehr füllt, ja bei manchen Tierarten, wie z. B. beim Hasen, die Rindenschicht fast völlig verdrängt, besteht beim Menschenhaar die Markschicht — sofern eine solche nicht überhaupt fehlt — nur aus einer Zellenreihe, die noch dazu meist unterbrochen ist. Bei starker Vergrößerung sind im mikroskopischen Bild schließlich noch die Pigmentkörner zu beobachten, die fein verstreut sowohl in der Marksubstanz als auch in den Rindenschicht vorkommen und die Farbe des Haares bedingen. Bei ergrauten Haaren finden sich nicht selten Lufteinschlüsse zwischen den Faserzellen der Rindenschicht. Die Haarwurzel und die Haarspitze sind immer marklos.

Haare als Tatspuren.

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Eine wichtige Rolle kann die Untersuchung von Haaren bei verschiedenen Geschlechtsverbrechen spielen. Die Lehrbücher weisen regelmäßig auf zwei Fälle hin, wo es sich um Unzucht mit Tieren handelte. In dem einen wurde am Geschlechtsteil eines Mannes, der im Verdachte stand, sich an einer Stute vergangen zu haben, zwischen Vorhaut und Eichel ein Pferdehaar gefunden 1 ), während bei dem anderen Falle eine Magd beschuldigt wurde, daß sie sich von einem großen Hunde habe brauchen lassen. Bei Untersuchung ihrer Schamhaare wurde darunter ein schwarzes Hundehaar gefunden. Ähnliches kann bei Notzucht vorkommen, da es sehr gut möglich ist, daß bei einem, zumal stürmischen Geschlechtsakt, ausfallende Schamhaare der einen Person unter die festgewachsenen Schamhaare der anderen Person gelangen und hier — bei der mangelhaften Reinlichkeit mancher Leute — oft längere Zeit verbleiben. Es würde sich in derartigen Fällen stets empfehlen, nach fremden Haaren (und zwar bei beiden Personen, dem Beschuldigten und der Beschädigten) suchen zu lassen und im Auffindungsfalle solcher Objekte diese der Untersuchung durch Sachverständige zuzuführen. Wichtig ist übrigens auch jedes Haar, welches im Laufe einer Untersuchung gegen einen u n b e k a n n t e n Täter aufgefunden wird, wenn es zweifellos dem Täter angehört hat. Die Untersuchung eines solchen Haares ergibt oft Anhaltspunkte für die Fahndung. P f a f f 2 ) führt einen instruktiven, hierher gehörigen Fall an. Ein Mann wurde, offenbar infolge Verwechslung, in finsterer Nacht von einem Unbekannten schwer verletzt. Der Täter, von dem man nicht die mindeste Personsbeschreibung hatte, verlor auf der Flucht seine Mütze, die zu Gericht gebracht wurde. In ihr klebten zwei Haare, die dem Gerichtsarzte zur mikroskopischen Untersuchung gegeben wurden. Pf äff fand, daß die Haare grau waren, aber in ihrer Marksubstanz noch zahlreiche, pechschwarze Pigmentzellen hatten, woraus sich ergab, daß sie von einem nicht mehr jungen Schwarzkopfe herrühren, der schon die ersten ergrauten Haare aufweist. Nach der Schnittfläche zu urteilen, die noch scharf war 3 ), mußte das Haar des Täters wenige Tage vor der Tat verschnitten worden sein. Endlich fand man die Haarwurzeln beträchtlich atrophiert, woraus zu schließen war, daß diese Haare, die in ihrer Epithelialschicht mehrere von Schweiß herrührende warzenförmige Hervorragungen zeigten, wahrscheinlich an dem Rande einer beginnenden Glatze eines jedenfalls zur Korpulenz neigenden (weil am Kopfe stark schwitzenden) Mannes gewachsen waren. Der Mikroskopiker gab also ein brauchbares Signalement des Täters dahin: „Er ist ein kräftiger, zur ') Ich glaube zuerst erwähnt von Kutter in der Vierteljschr. f. ger. Medizin, neue Folge, Bd. 2 S. 160 (1865). 8) a. a. O. *) J. Pincus, Zur Diagnose des ersten Stadiums der Alopecie, Virchows Archiv 37 S. 18 (1866), macht darauf aufmerksam, daß jeder Mensch außer den normalen Haaren mit gewöhnlich verschnittener Spitze auch solche mit feiner Spitze hat, die nachwachsen und entweder lang werden, oder auch früh wieder ausfallen (dies ist zu beachten, wenn man aus dem Nicht-Verschnittensein einen Schluß ziehen will).

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

Korpulenz neigender Mann in mittleren Jahren, mit schwarzen und graumelierten, neuerdings kurz verschnittenenHaaren und beginnender Glatze.'' Ähnliche Feststellungen werden sich in zahlreichen Fällen machen lassen, man muß sich nur die damit verbundene Mühe nicht verdrießen lassen und die Kosten nicht scheuen. Daß irgendein Beschuldigter auf der Flucht oder schon im Handgemenge seine Kopfbedeckung verloren hat, die dann auch zu Gericht gebracht wurde, kommt nicht selten vor, aber wie oft hat man wohl die Kopfbedeckung nach den innen etwa klebenden Haaren durchsucht und wie oft hat man sie dann einem geschickten Mikroskopiker übergeben? Ebenso wichtig kann eine solche Untersuchung werden, wenn an einer aufgefundenen L e i c h e die Identität ob vorgeschrittener Fäulnis nicht mehr festgestellt, nicht einmal mehr deren Alter, Körperbeschaffenheit usw. erkannt werden kann. Liegt der Verdacht einer Gewalttat auch nur entfernt vor, so sollte es niemals verabsäumt werden, von den Haaren der Leiche einige mitzunehmen und dem Mikroskopiker zu übergeben, damit festgestellt wird, was festgestellt werden kann. Selten lehrreich in dieser Hinsicht ist der von Mäs1) bearbeitete Straffall, in welchem zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten Stücke einer Leiche gefunden worden und aus den mit Haaren bewachsenen Stücken Schlüsse auf das Haupthaar des Ermordeten gezogen und zur raschen Identifizierung der Leiche Wege gewiesen wurden, noch bevor der Kopf, der Unterleib und die Arme aufgefunden waren. Fragen wir im allgemeinen, was uns der Sachverständige Unterscheidendes von den Haaren sagen kann, so erfahren wir, daß er vor allem vollkommen sicher haarähnliche P f l a n z e n f a s e r n von Haaren und ebenso T i e r h a a r e von Menschenhaaren unterscheiden kann2). Unter den Tierhaaren ist weiters die Unterscheidung der einzelnen T i e r s p e z i e s oft sehr wichtig, besonders bei Untersuchungen wegen Wilddiebstahls. Unterscheidende Merkmale sind meist schon Farbe, Länge und Dicke des Haares, insbesondere die Verteilung des Dickenmaximums und -minimums innerhalb der Länge des Haärschäftes (z. B. größte Dicke in der oberen Haarhälfte); ferner im mikroskopischen Bild: die Ausdehnung des Markes und die Form und Lagerung der einzelnen Markzellen sowie die Verteilung der Markschicht im Haarschaft; schließlich die Zeichnung der Kutikulaschuppen8). Infolge der Vielfalt der sich dar*) Mäs, Identifizierung von zerstückelt an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten aufgefundenen Leichenteilen des als verschwunden gemeldeten Kontorboten Müller, Archiv 63 S. 289, und hiezu Horch, Archiv 65 S. 165. a) Nur bei einzelnen Haaren kann diese Unterscheidung mitunter schwierig sein, da es manche Wollhaare von Tieren sowie Tast- und Spürhaare z. B. an der Schnauze, den Ohröffnungen und den Pfoten des Hundes gibt, die marklos sind und menschlichen Haaren sehr ähnlich sehen. 8) Um diese sichtbar zu machen, hat Schröder a. a. O. ein sinnreiches, verhältnismäßig einfaches Verfahren angegeben: das Haar wird auf die aufgequellte Gelatinschicht einer unbelichteten, ausfixierten Photoplatte gepreßt; nach seiner Entfernung hat sich die Kutikulazeichnung mit allen mikroskopischen Feinheiten auf der Gelatinschichte abgeformt und kann im Mikroskop bei verschiedener Beleuchtung bequem beobachtet werden.

Schlüsse aus dem mikroskopischen Haarbefund.,

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aus ergebenden Kombinationen von makroskopischen und mikroskopischen Merkmalen kann den meisten Tierspezies eine bestimmte Merkmalsgruppe zugeordnet werden, wobei jedoch auch innerhalb der selben Tierspezies zwischen den Haaren des Winterfelles und des Sommerfelles sowie zwischen Wollhaaren und Grannenhaaren oft große Unterschiede bestehen. Haare gewisser verwandter Tierarten (z. B. Hase und Kaninchen) lassen sich in manchen Fällen nicht sicher unterscheiden. Innerhalb der M e n s c h e n h a a r e haben die an den v e r s c h i e d e n e n K ö r p e r t e i l e n vorkommenden Haare (männliche und weibliche Kopfhaare, Augenbrauen, Augenwimpern, Nasenhaare, Härchen im Ohr, Kinnhaare, Schnurrbarthaare, Achselhöhlenhaare, Haare auf dem Handrücken, Vorderarm, Oberarm, Schulter, Brust, Herzgrube und Nabelgegend des Mannes, männliche und weibliche Schamhaare, Haare vom Gesäß und vom After, vom Ober- und Unterschenkel und vom Fuß) ebenfalls unterscheidende Merkmale (vor allem hinsichtlich Länge, Dicke, Form und anhaftenden Substanzen), so daß man gegebenenfalls vom Sachverständigen die Angabe verlangen kann, auf welcher Stelle eines männlichen oder weiblichen Körpers das betreffende Haar gewachsen ist. Ebenso, nur in weiteren Grenzen, kann der Sachverständige das A l t e r einer Person bestimmen, von der ihm Haare vorgelegt werden. A m günstigsten ist es, wenn ihm die Haare mit den Wurzeln gegeben werden können, da sich die Haarwurzeln um so leichter in Ätzkalilauge lösen, je jünger die betreffende Person ist. Werden die Haarwurzeln kleiner Kinder sofort gelöst, so widerstehen die Wurzeln der Haare alter Leute der Lösung durch Ätzkalilauge oft stundenlang. Sind mehrere Haare von der gleichen Person der Untersuchung übergeben worden, so kann man die Versuche genauer machen und namentlich die mittlere Zeitdauer feststellen, die zur Lösung der Haarwurzeln nötig war, dann wird untersucht, von welchen Leuten, deren Alter bekannt ist, die Haarwurzeln gleiche Zeit zur Lösung beanspruchen und so wird man die Altersgrenze ziemlich annähernd feststellen können. Allerdings gibt es noch andere Mittel zur Feststellung des Alters, z. B. die Verminderung der Pigmentzellen in der Marksubstanz und die in ihr entstehenden Lücken, welche z. B. bestimmte Schlüsse ziehen lassen, ob ein weißes Haar von einem jungen, früh ergrauten, oder von einem wirklich greisenhaften Manne herrührt. Schamhaare von sehr jungen Mädchen endigen in eine feine Spitze, die von älteren Frauen enden keulenförmig; Achselhaare sind bei beiden Geschlechtern in der Jugend dünn und erreichen bei zunehmendem Alter einen Durchmesser von 0,15 mm und darüber — kurz, der Mikroskopiker hat auch außer der Haarwurzellösung durch Ätzkalilauge andere Kennzeichen, um über das Alter der betreffenden Person wenigstens ungefähr ins Klare zu kommen. Wie wir weiters an dem eben erzählten Beispiele von Pf äff gesehen haben, kann der Gerichtsarzt auch noch anderweitige somatische Eigenschaften — wenigstens in gewissen Fällen — mit größerer oder geringerer Sicherheit angeben. Unter Umständen wird er sogar über die Behandlung der Haare (Gebrauch von

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

gewissen Pomaden, Haarfärbemitteln usw.) etwas sagen können1), was vielleicht nicht unwichtige Anhaltspunkte zu geben vermag. Ebenso kann er aus dem Aussehen der Haare entnehmen, ob diese a u s g e f a l l e n , a u s g e r i s s e n , a b g e s c h n i t t e n oder a b g e q u e t s c h t usw. 2 ) sind, was für einen bestimmten Fall von entscheidender Wichtigkeit sein kann. So ist z. B. häufig bei Kopfwunden aus dem Befunde der durchtrennten Haare besser auf das verwendete Werkzeug zu schließen, als aus dem Befunde der Verletzung selbst. Man unterlasse es daher niemals, auch die Haare dem Gerichtsarzte zur mikroskopischen Untersuchung zu geben, wenn es sich um Kopfverletzungen handelt, bei denen das verwendete Werkzeug unbekannt ist3). Auch hat der U. den Gerichtsarzt sofort zu befragen, wenn bei der Obduktion, Exhumierung usw. an den Haaren der Leiche irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt wird. So kommt es vor, daß bei Arsen- und Quecksilbervergiftungen, dann bei manchen Vergiftungen mit narkotischen Mitteln, die Blutzersetzung bewirkt haben, die Haare, besonders die Schamhaare, sehr leicht ausgezogen werden können. Für die Bestimmung der T o d e s z e i t und sonstige Zeitbestimmungen kann die WTachstumsgeschwindigkeit der Haare wichtig werden; es wurde erhoben, daß Barthaare in der Stunde um 0,021 mm, somit im Tag um 0,5 mm wachsen; Kopfhaare wachsen in 10 Tagen 2—5 mm. Eine Eigenschaft der Haare ist noch wichtig: sie widerstehen der F ä u l n i s überaus lange. Bei Mumien ist dies selbstverständlich, da sich Haare wohl erhalten müssen, wenn die Verhältnisse der Erhaltung so günstig waren, daß auch die leicht zugrunde gehenden Körperteile: Muskeln, Gewebe, Haut usw. nicht verwest sind. Aber oft werden auch Leichen unter recht ungünstigen Erhaltungsverhältnissen gefunden, an denen die Haare noch überraschend gut erhalten sind. Handelt es sich also um die Frage, ob eine Leiche noch exhumiert werden soll, oder ob wegen Länge der Zeit keine Aussicht vorhanden ist, Wichtiges zu finden, so entschließe man sich immer dann f ü r die Exhumierung, wenn zu erwarten ist, daß die Untersuchung der Haare der Leiche irgendwelchen Aufschluß (z. B. für den Identitätsnachweis usw.) ergeben könnte. Ist die Zeit seit dem Tode des Betreffenden nicht zu lange, so kann man bei einigermaßen günstigen Verhältnissen des Beerdigungsbodens immer eher annehmen, daß die Haare erhalten sein werden, als das Gegenteil. Hierbei ist zu merken, daß die Haare junger Personen eher verwesen als die alter Leute, daß sich dunkle Haare besser erhalten als blonde und F ü r die Unterscheidung naturfarbener und gefärbter Haare eignet sich besonders die Untersuchung der Haare im Ultraviolett-Fluoreszenzmikroskop (vgl. Boller a. a. O.). 2 ) Siehe namentlich Röltger a. a. O. und Lochte, Über Haarverletzungen durch Überfahren, Vierteljschr. f. gerichtl. Medizin, 3. F., 43, 1. Suppl. ( 1 9 1 3 ) . 3 ) Auch Haare in der Nähe von Einschußstellen können aufschlußreich sein, z. B. durch Veränderungen, die auf einen Nahschuß schließen lassen; vgl. Lochte a. a. O. (oben S. 308 Anm. 1).

Fäulnis verändert die Haarfarbe.

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daß die Haupthaare von allen die widerstandsfähigsten sind; Schanihaare verwesen zuerst. Wichtig ist aber, daß Haare, die mit faulenden Substanzen zusammenkommen, oft die Farbe nicht unwesentlich ändern, zum mindesten können sie dadurch heller oder dunkler werden. So machte Casper-Liman auf einen Fall aufmerksam, in welchem sich die Haare eines vor 11 Jahren Begrabenen so verändert hatten, daß ihn seine Verwandten nicht agnosziert hätten, wenn nicht seine falschen Zähne jeden Zweifel ausgeschlossen hätten1). Diese Farbeveränderung der Haare, die man auch an Leichen bei historischen Ausgrabungen fand, ist Gegenstand vielfacher Untersuchungen geworden2); darauf hat auch der U. zu achten, wenn auch seine Arbeiten sich nicht auf Funde aus jahrhundertealten Gräbern beziehen. So hat Virchow gefunden, daß sehr alte Haare regelmäßig fuchsig-rötlich oder bräunlich werden, obwohl anzunehmen ist, daß sie im Leben dunkel, vielleicht schwarz waren. Ebenso hatten schon Moser und Chevalier gefunden, daß weiße Haare im Laufe der Zeit unter Umständen bräunlich werden. Oesterlen hat weiße Pudelhaare in faulenden Substanzen liegen lassen und sie dann dauerhaft braun befunden. Damit stimmen auch die interessanten Feststellungen Röttgers überein, der Haare aus frühmittelalterlichen Grüften und von 5 Moorleichen untersucht und sie zumeist fuchsrot, aber auch dunkel gefunden hat. Auch durch Hitze werden die Haare, z. B. bei Bränden, rötlich3). Jedenfalls halte sich der U. vor Augen, daß Haare, die an einer Leiche „fuchsig", „rötlich" oder ähnlich erscheinen, im Leben ganz anders (auch schwarz oder weiß) gewesen sein können, wenn die Haare mit faulenden Substanzen beisammen waren, was ja bei einer Leiche regelmäßig der Fall sein wird. — Soviel aber auch die Wissenschaft mit Hilfe des Mikroskopes bei Untersuchung von Haaren zu leisten vermag, so darf der praktische Jurist dann nicht zuviel erwarten, wenn es sich um den Nachweis der I d e n t i t ä t handelt, d. h. darum, ob einzelne gefundene Haare von einem bestimmten Menschen herrühren. Zweifellos kann die Sache werden, wenn die Frage verneinend erledigt wird, und da dies meistens zum Beweise der Unschuld eines Menschen dienen wird, so feiert die Wissenschaft gerade hierin ihre erfreulichsten Triumphe. Denn daß z. B. eine Anzahl straffer, blonder Haare in der Hand des Ermordeten nicht von J)

Casper-Liman, Handbuch d. gerichtl. Medizin, 6. Auf., 2. Bd., S. 106. Vgl. Virchow, Die Kopfhaare in prähistorischen Gräbern, in: Verhandlungen der Berliner anthropol. Gesellschaft, 1897; Perrin de la Touche, Cheveux noirset cheveux roux, Annal. d'hyg. publ. et de m6d. lig., 4. S6r., 2, p. 483 (1904); Wachholz, Über Veränderung der Haarfarbe, Archiv 19 S. 257. *) Bei 140 0 werden die Haare zuerst gelblich, bei weiter steigender Temperatur bräunlich und beginnen bei 260° zu verkohlen. Daneben bilden sich von 1500 an im Inneren des Haares Blasen, die immer stärker anwachsen und von 2000 an zu platzen beginnen, und das Haar wird brüchig. Von 3000 an schreitet der Verkohlungsprozeß weiter vor, bis das Haar eine schwärzliche, in Pulver zerfallende Masse bildet. Tierhaare bleiben bis 2000 so weit unverändert, daß ihre Unterscheidung möglich ist; bei höherer Temperatur verläuft der Verkohlungsprozeß gleich dem bei Menschenhaaren. Vgl. Piddeliivre-Zebouni und M£llissinos-D6robert a. a. O. 2)

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

einem schwarzen Krauskopfe, der etwa der Tat verdächtig schien, herrühren kann, vermag der Sachverständige mit voller Sicherheit zu sagen, und die Frage kann in dieser einen Richtung als erledigt erachtet werden. In anderen Fällen ist aber auch ein solcher negativer Schluß nicht sicher zu ziehen, weil oft derselbe Mensch Haare verschiedener Farbe und Dicke besitzt, so daß auch Haare abweichender Beschaffenheit von ihm stammen können1). Noch viel unsicherer ist die Sache, wenn im p o s i t i v e n Fall Identität von Haaren behauptet wird: es kann der Zufall bei diesem viel leichter mitspielen2) als bei jenem, und was der Zufall zu leisten vermag, weiß jeder, wir Kriminalisten leider am besten! Vor mehreren Jahren wurde eine alte Frau, die sich mit dem Verpfänden und Auslösen verpfändeter Sachen befaßte, erschlagen. In der Hand der Leiche fanden sich drei Haare, welche die Frau in verzweifelter Gegenwehr ihrem Gegner ausgerissen haben mußte. Verdächtigt wurde der eigene Sohn der Getöteten und die drei bei der Leiche gefundenen Haare und Proben vom Haupthaare des verhafteten Sohnes wurden den Sachverständigen übergeben. Diese, zufällig beide wissenschaftliche Größen mit Namen europäischen Rufes, griffen die Sache mit größtem Eifer und allen den reichen Mitteln ihrer Wissenschaft an und demonstrierten den ausführlich ausgearbeiteten Befund. Die drei Haare, die in der Hand der Leiche gefunden wurden, waren 6—7 cm lang, sahen dunkelbraun aus, waren ausgerissen (Wurzel erhalten) und dürften einem Manne im Alter von zwanzig bis vierzig Jahren angehört haben. Unter dem Mikroskope sahen zwei der Haare braun aus, das dritte war aber, für den Fachmann und den Laien gleich äuffallend, abwechselnd braun und schwarz. Knapp ober der Wurzel war ') Überhaupt hat fast jeder Mensch auf dem Kopie einige, von den anderen wesentlich verschiedene Haare; z. B. besitzen Blonde oft einige tiefschwarze, dickere Haare. Ich kenne eine Dame, die reiches, gewelltes und weiches Haar hat; nur an einer, etwa pfenniggroßen Stelle, wo sich eine, von einer früh erhaltenen Verletzung herrührende Narbe befindet, ist das Haar straff, rauh anzufühlen und wesentlich lichter. Niemand würde glauben, daß ein Haar von der Narbenstelle und die Haare des übrigen Kopfes von derselben Person stammen. Auch die Dicke der Kopfhaare eines Menschen ist oft verschieden; vgl. Matsura, Die Dickenschwankungen des Kopfhaares beim gesunden und kranken Menschen, Archiv für Dermatologie und Syphilis 62 (1902). Noch unterschiedlicher ist die Haarfarbe der verschiedenen Körperteile des Menschen; sagt man z. B. „der Mann war blond", so wird man bei genauerem Zusehen etwa wahrnehmen: Kopfhaar: aschblond; Augenbrauen: dunkelblond; Schnurrbart: rot; Mücke: strohgelb (letztere ist stets heller als der Schnurrbart). Man wird also z. B. nie sicher aus vorliegenden Kopfhaaren auf die Farbe der Augenbrauen schließen können usw. Sehr aufschlußreiche Feststellungen über das Verhältnis der Haarfarbe der verschiedenen Körperstellen zueinander machte Rothe, Untersuchungen über die Behaarung der Frauen, Doktordissertation, Berlin 1893. 2) Wie lange man dies schon weiß, bezeugt der oft zitierte Mordfall an der Frau von Mazel, von dem der „alte Pitaval" (François Gayot de Pitaval, Causes célèbres et intéressantes, Paris 1734; deutsche Ausgaben Leipzig 1747—1768 und Jena 1792—1795) erzählt. In der Hand der Leiche hat man 3 Haare gefunden und „Sachverständige" (i. e. drei Perückenmacher) wurden befragt, ob die Haare vom Kopf des Beschuldigten stammen. Die Befragten erklärten, drei Haare seien viel zu wenig, da gäbe es allzureiche Zufälle. Das war schon 1689! —

Das Haar als Identifizierungsmittel.

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es braun, nach etwa 1 % c m wurde es schwarz, dann wieder braun und etwa 1 % cm v o m Ende war es wieder schwarz — ein Befund, der nach Versicherung der Sachverständigen ungewöhnlich ist und als „sehr selten" zu bezeichnen war 1 ). Nun wurden die Haare des Verdächtigten an verschiedenen Stellen des Kopfes abgeschnitten (knapp an der Wurzel); der Verdächtige war neunundzwanzig Jahre alt, die Haare 6 — 7 cm lang, dunkelbraun und mikroskopisch gemessen, ungefähr von gleicher Dicke wie die gefundenen drei Haare; die Haare wurden gezählt und eines nach dem anderen unterm Mikroskope angesehen. E t w a zwei Drittel der Haare erwiesen sich als braun, ein Drittel zeigte aber denselben Befund, wie bei dem obenerwähnten braun und schwarz gestreiften Haare. Und doch war der Sohn, trotz des auffallenden Zusammenstimmens des von so erfahrenen Mikroskopikern als „sehr selten" bezeichneten Befundes, nicht der Mörder seiner Mutter, und als später der wirkliche Mörder der alten Frau gefunden wurde, so ergab sich der merkwürdige Zufall, daß dieser auch derart gestreifte Haare trug und daß überhaupt seine Haare mit jenen des Sohnes der Ermordeten auffallend übereinstimmten. Wie erwähnt, zeigt dieser Fall, daß selbst die Übereinstimmung seltener Kennzeichen noch immer nicht die Identität der fraglichen Haare beweist 2 ). Einen ähnlichen Fall erzählt Loock: Bei einem Manne, der verdächtigt war, ein Mädchen genotzüchtigt und ermordet zu haben, fanden sich unter seinen dunklen Schamhaaren einige lose, helle, pigmentlose Haare. Die Ermordete hatte auffallenderweise dunkle u n d helle, pigmentlose Schamhaare, als man aber den Verdächtigten genauer untersuchte, zeigte es sich, daß er denselben seltenen Befund aufwies, so daß die losen hellen Haare ebensogut von ihm selber als von der Ermordeten herrühren konnten 3 ). Das Haar ist somit kein so günstiges Identifizierungsmittel wie z. B. die Papillarlinienzeichnung der Finger, die — wie in einem späteren Abschnitt darzulegen sein wird — niemals bei zwei Menschen in gleicher Weise wiederkehren: Haare verschiedener Menschen k ö n n e n hingegen völlig gleichartig sein. Ein positiver Identitätsschluß aus Haaren kann daher stets nur mit großer Wahrscheinlichkeit, niemals aber mit voller Sicherheit gezogen werden.

d) Bei sonstigen medizinischen Fällen. Außer bei den bisher behandelten oft vorkommenden Fragestellungen wird der U. noch in zahlreichen anderen Fällen mikroskopische Untersuchungen anordnen, die sich an eine Obduktion oder eine gerichtsärztNach Perrin de la Touche a. a. O. werden Haare nach schweren K r a n k heiten öfter heller und nach voller Gesundung wieder so wie früher; aber dann erscheint bloß e i n hellerer bandförmiger Streifen zwischen zwei dunkleren Partien. a) Marx a. a. O. 3) Loock, Chemie und Photographie bei Kriminalforschungen, Düsseldorf 1909, 2. Bd., S. 26.

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I V . A b s c h n i t t . Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

liehe Untersuchung anschließen werden. Handelt es sich z. B. um die Erhebung, ob sich ein Mensch in einer bestimmten staubigen, rauchigen oder sonst geschwängerten Atmosphäre, oder aber in einer nicht gerade aus reinem Wasser bestehenden Flüssigkeit befunden hat, so wird die mikroskopische Untersuchung des Inhaltes der Luftwege (oft auch der Haare, s. oben) fast immer zuverlässige Aufklärung geben können (bei Lebenden kann der Auswurf, bei Toten der durch die Obduktion gewonnene Inhalt der Luftwege untersucht werden). Ebenso wird oft die mikroskopische Untersuchung des (erbrochenen oder bei der Obduktion entnommenen) Mageninhaltes mehr Aufschluß geben können als die chemische Untersuchung, wenn es sich z. B. um die Feststellung der Speisen handelt, die der Betreffende gegessen hat, oder wenn der Verdacht der Vergiftung durch gewisse organische, namentlich Pflanzengifte vorliegt, weil letztere chemisch oft nicht leicht nachweisbar sind. Ich bin davon überzeugt, daß eine große Anzahl von Giftmorden aufgedeckt würde, wenn man den Mageninhalt mancher „rätselhaft" oder an „Selbstmord" verstorbenen Personen m i k r o s k o p i s c h untersuchen ließe. Wenn wir überlegen, welche große Menge von giftigen Pflanzen überall frei wachsen, wie bekannt deren Eigenschaften sind und bei wie wenigen Giftpflanzen die Alkaloide genau bekannt sind, so müssen wir zur Überzeugung kommen, daß Giftpflanzen viel öfter zu verbrecherischen Zwecken verwendet werden, als wir hiervon amtliche Kenntnis erlangen1). Der Botaniker des Altertums D i o s k o r i d e s v o n A n a z a r b o s schloß seine einige hundert Pflanzenarten enthaltende Botanik mit den Worten: „Es wachsen noch viele andere Pflanzen auf Feldern und Wäldern, an Hecken und Zäunen — aber niemand weiß sie zu nennen, und ich kenne sie auch nicht." Und ähnlich geht es uns nach zweitausend Jahren mit vielen Pflanzengiften. Nur um einige Beispiele von heimischen Giftpflanzen anzuführen, seien erwähnt: Wasserschierling (Cicuta virosa), Tollkirsche (Atropa belladonna), Bilsenkraut (Hyosciamus niger), Stechapfel (Datura stramonium), Hundspetersilie (Aethusa cinapium), Rebendolde (Oenanthe crocata), Mutterkorn (Seeale cornutum), Schwarze Nieswurz (Helleborus niger), Sebenbaum (Juniperus Sabina), die giftigen Pilze usw. Alle diese Pflanzen sind häufig und überall zu finden, so daß man von jeder auf einem einzigen Nachmittag-Spaziergange so viel finden könnte, um mehrere Menschen damit töten zu können. Der mikroskopische Nachweis wird zumeist nicht schwierig sein. Ist die Pflanze als Ganzes gegeben worden, z. B. als Beimengung zu einem Gemüse oder als Speise selbst (giftige Schwämme), so ist die Auffindung im Magen, Darme, im Erbrochenen usw. in der Regel leicht. Wurde aber ein Absud gemacht, so wird es trotzdem noch möglich sein, daß irgendein größerer Pflanzenbestandteil, selbst beim Durchseihen, W. Mitlacher, Toxikologisch oder forensisch wichtige Pflanzen und vegetab. Droguen, Berlin 1904, weist auf die großen Schwierigkeiten im exakten Nachweis von P f l a n z e n g i f t e n beim gewöhnlichen chemischen, pathologischen, anatomischen oder physiologischen Untersuchungsvorgang hin.

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Mikroskopischer und chemischer Giftnachweis.

mitgekommen ist und gefunden wird. Die meisten Giftpflanzen haben ein so charakteristisches Aussehen, daß ein kleiner Teil, eine Blattspitze, ein Rindenfragment genügen wird, um vom Mikroskopiker und Botaniker erkannt zu werden. Solche Restchen können sich in den Mundwinkeln des Vergifteten, in seinem Sacktuch, auf seinem Kopfpolster, seiner Bettdecke usw. finden, man muß nur danach suchen1). Eine andere mikroskopische Methode, mit der es gelingt, Vergiftungen durch Narkotika nachzuweisen, besteht in der Beobachtung der Kristallisationsvorgänge, die sich bei Abkühlung und Erwärmung um den Schmelzpunkt abspielen. Als Untersuchungsobjekt genügen hiefür einige cm3 Rückenmarksflüssigkeit, die durch die Untersuchung nicht zerstört wird — ein weiterer Vorteil gegenüber chemischen Methoden. Viele Narkotika, insbesondere die sonst oft schwer nachweisbaren Schlafmittel (Veronal u. a.) lassen sich auf diese Weise durch die Höhe des Schmelzpunktes und die charakteristische Eigenart des Kristallisationsvorganges erkennen2). Selbstverständlich wird aber in einem Großteil der Fälle, in denen der Verdacht einer Vergiftung zu überprüfen ist und in denen eine mikroskopische Untersuchung nicht anwendbar ist oder nicht zum Ziele führt, nach wie vor die c h e m i s c h e Untersuchung des Mageninhaltes oder von Leichenteilen zu veranlassen sein. Im allgemeinen kann man sogar sagen, daß der Chemiker vom U. zu wenig verwendet wird und daß in vielen Fällen, die ungeklärt geblieben sind, das Ergebnis hätte anders sein können, wenn man den Chemiker gefragt hätte. Der Chemiker muß nicht nur dann herangezogen werden, wenn schon irgend etwas Auffallendes, etwa ein gefundenes Arsenik, Phosphorgeruch oder ähnliches auf Vergiftung hindeutet, sondern auch in allen Fällen, in denen ein plötzlicher Tod durch die Obduktion nicht zweifellos aufgeklärt wird, sowie in Fällen, in denen eine längere Krankheit, die nicht natürlich erscheint, zum Tode führt, sofern auch nur mit der — vielleicht entfernten — Möglichkeit einer strafbaren Handlung zu rechnen ist. Die Frage nach Mühe und Kosten muß freilich beiseite bleiben, denn schließlich ist auch die Kehrseite der Sache wichtig: oft bleibt ein Todesfall unaufgeklärt, der Verdacht, daß eine verbrecherische Hand im Spiele war, haftet, falls eine entsprechende Untersuchung nicht durchgeführt wird, Jahr um Jahr auf einen Unschuldigen3). Dies zu verhüten, ist aber ebenso Pflicht des U., wie es seine Pflicht ist, den Schuldigen der Strafe zuzuführen. Die Wichtigkeit solcher Untersuchungen erhellt besonders aus der großen Mannig') Vgl. A. Meyer, Die Grundlagen und Methoden für die mikroskopische Untersuchung von Pflanzenpulver, Jena 1901; L. Koch, Die mikroskopische Analyse der Drogenpulver, Berlin 1901—1908. 2) Diese Methode wurde insbesondere durch den Pharmakologen Kofler ausgebaut. Vgl. Kofler, Mikroskopische Methoden in der Mikrochemie, Wien und Leipzig 1936; Fischer, Der toxikologische Nachweis von Schlafmitteln, Archiv der Pharmazie 277 S. 305 (1939). 3) Emmert, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, Leipzig 1900, erzählt mehrere solche Beispiele.

Groß- S eeliff , Handbuch. 8. Aufl.

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

faltigkeit von Vergiftungsmöglichkeiten, denn nicht bloß Giftmorde oder Giftmordversuche kommen hier in Frage, sondern auch fahrlässig durch fremde Schuld oder durch eigene Unvorsichtigkeit herbeigeführte Vergiftungen, so durch Leuchtgas, Schwefelwasserstoff in Kanälen, aus Öfen ausströmendes Kohlenoxydgas, Wurstgift oder andere verdorbene Lebensmittel, Pilze, Verwendung von Kochgeschirr mit ausspringender bleihaltiger Glasur usw.1). Aber nicht jeder Chemiker, sondern nur ein erfahrener Gerichtschemiker oder Vertreter des Faches der „medizinischen Chemie" ist mit solchen verantwortungsvollen Untersuchungen zu betrauen. Freilich erfordert jeder verdächtige Todesfall auch eingehende Erh e b u n g e n durch den U., denn es geht nicht an, den Chemiker einfach zu fragen, ob in einem Magen „Gift" vorhanden ist, ohne ihm die Richtung anzugeben, in der gesucht werden solle. Hat er diesfalls keinen Anhaltspunkt, so wird die Untersuchung überaus mühsam und kostspielig; kennt der Chemiker aber alles, was durch den U. erhoben werden konnte, so arbeitet er leicht, rasch und sicher. Bezüglich der Frage, was der U. den Chemiker fragen darf, sei er nicht ängstlich, besonders nicht in Betreff der Zeit. Daß noch nach langer Zeit gewisse Gifte, namentlich Arsen, nachgewiesen werden können2), ist bekannt, aber auch bei organischen Giften ist die Frist, nach der ihre Beibringung noch nachgewiesen werden kann, keineswegs immer so kurz, als man gemeiniglich annimmt; so wurde experimentell erprobt, daß Morphium, welches Eingeweiden beigemengt wurde, noch nach achtzehn Monaten nachweisbar war, obwohl das Versuchsobjekt in einer der Fäulnis günstigen Weise vergraben gewesen ist. Man entscheide also n i e m a l s selbst, ob zu viel Zeit seit dem Tode des angeblichen Opfers vergangen ist, sondern überlasse die Erwägung dieser Frage stets dem erfahrenen Sachverständigen. Weiters scheue sich der U. auch nicht, unter gewissen Umständen die Frage aufzuwerfen, ob das Gift nur durch den Mund in den Körper gekommen sein kann und ob nicht auch eine andere Beibringungsart möglich ist, namentlich dürch eine schon bestehende oder eine ad hoc beigebrachte Wunde. Allerdings nur in einem Romane Wurde erzählt, daß in einem deutschen Kriegslazarett (1871) durch eine eifersüchtige Dame, die sich als „Krankenpflegerin" verwenden ließ, Eiter aus der *) Näheres über Vergiftungen, ihre Anzeichen und ihren Nachweis siehe im 3. Band dieses Werkes, Abschnitt X V I I . Eine umfassende, übersichtliche Darstellung der Methoden gibt H. Lieb, Der gerichtlich-chemische Nachweis von Giften, in Abderhaldens Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden A b t . IV, Teil 12 (mit genauen Literaturnachweisen); als Einzelerscheinung: Reuter-LiebWeyrich, Gifte und Vergiftungen in der gerichtl. Medizin, Berlin 1938. *) So erwähnt Prölß (Friedreichs Blätter f. gerichtl. Medizin 52 S. 425), daß einmal in den Dielenritzen und im Holze eines Fußbodens, auf dem ein Arsenvergifteter erbrochen hatte, Arsen noch gefunden wurde, obwohl der Fußboden seither 40 mal gescheuert worden war. — Phosphor ließ sich einmal 6 Wochen nach dem Tode nachweisen (Elmers in der Vierteljahrschrift f. gerichtl. Medizin 25 S. 25); Strychnin nach 11 Jahren.

Giftverabreichung auf ungewöhnlichen Wegen.

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Wunde eines nach Eitervergiftung eben Verstorbenen in die Wunde eines nicht besonders schwer Verletzten gebracht wurde, um diesen zu töten. Wie gesagt, dies wird nur in einem Roman erzählt, aber möglich ist die Sache. Ebenso möglich sind Tötungen durch Stiche mit vergifteten Nadeln, im Vorübergehen zugefügt und ob ihrer scheinbaren Geringfügigkeit wenig beachtet. In überseeischen Ländern spielen auch Tötungen durch vorsätzlich veranlaßte Skorpionenstiche und Schlangenbisse eine Rolle 1 ). Im Sommer 1910 wurde in Kansas City der Arzt B . C. Hyde verurteilt, weil festgestellt wurde, daß er seinem Oheim, dem Millionär T h . Swope, Typhusbakterien in einer Medizin beigebracht hatte. Aber auch Tötungen durch Einführung des Giftes in den Mastdarm oder in die Scheide kommen vor. Im Jahre 1786 wurde vom steirischen Bannrichter der 68 Jahre alte Bauer Bartholomäus Rainer zum Tode verurteilt, der sechsmal verheiratet war; fünf seiner Frauen hatte er nach seinem eigenen Geständnis durch Gift getötet und zwar seine beiden letzten Frauen dadurch, daß er ihnen beim Vollzug des Beischlafes eine in Papier gehüllte Menge weißen Arseniks in die Scheide schob 8 ). e) Bei Schriftenfälschungen. Bei Urkundenfälschungen aller Art können mikroskopische und chemische Untersuchungen, die von speziell kriminologisch geschulten Sachverständigen angewendet werden, oft wertvolle Aufklärungen geben, so besonders bei Fragen der Gleichheit oder Verschiedenheit des verwendeten Schreibmittels (Tinte, Tintenblei, Blei, Farbstift usw.), des Alters der Tinte, der zeitlichen Reihenfolge bei Kreuzungen von Schriftzeichen, der Identität der verwendeten Schreibmaschine, der Rekonstruktion ausradierter oder überkleckster Schriftzeichen usw. Diese Methoden werden im X I X . Abschnitt näher dargestellt. Auch die Methoden der Papieruntersuchung werden dort behandelt werden, weil die Untersuchung des Papiers häufig als wichtiger Teil der Urkundenuntersuchung vorzunehmen ist. Doch können natürlich Papieruntersuchungen auch in anderen Fällen wichtig werden, z. B . bei Papierresten, die am Tatort gefunden werden, bei anonymen Schriften, Erpresserbriefen u. a. f) Bei der Untersuchung von Stoffen, Fäden usw. Eine mikroskopische Untersuchung kann notwendig sein, wenn es sich um die Identität von Tuch, Baumwolle, Leinwand, Kunstseide, Zellwolle und von Fäden aus einem dieser oder ähnlicher Stoffe handelt. ') Abels, Morde durch Skorpionenstiche und Schlangenbisse, Archiv 51 S. 260. I m Kriminalmuseum des Kriminologischen Institutes der Universität Graz befindet sich das Alkoholpräparat einer Kreuzotter, die ein Landmädchen ihrem bisherigen Geliebten, als er sich von ihr abwandte, aus Rache ins B e t t gelegt hatte. 2) Byloff, Fünffacher Giftmord, A r c h i v 79 S. 220; v g l . auch Sticket, giftungen-vom Mastdarm und von der Scheide aus, Archiv x S. 290.

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

Es ist selbstverständlich, daß man in solchen Fällen vorerst die Meinung und den Rat des betreffenden Händlers oder Fabrikanten hören wird, wenn es sich z. B. darum handelt, ob ein Stück Leinwand aus dieser oder jener Weberei stammt, usw. Ist die Sache aber von größerer Wichtigkeit, so wird man es nicht beim Gutachten des Schnittwarenhändlers usw. bewenden lassen, sondern wird den gelehrten Mikroskopiker fragen, der aus der Zahl der Fäden, die auf einen Quadratzentimeter kommen, aus ihrer Stärke, aus der Art der Drehung die Feinheit des Stoffes beurteilen, dann bei den einzelnen Fäden ihre Zusammensetzung aus Baumwolle, Leinen, Schafwolle, Seide usw. untersuchen und endlich unter Berücksichtigung sonstiger Nebenmomente sagen wird, ob der aufgefundene Fetzen von diesem Kleidungsstücke stammt; ob das fragliche Sacktuch aus einem bestimmten Dutzend von Sacktüchern entnommen ist; ob die Zwirnfäden, mit denen ein corpus delicti genäht wurde, gleich jenen sind, mit denen eine Naht am Rocke des Verdächtigen angefertigt ist, u. ä. In Verbindung mit der mikroskopischen Untersuchung bedient sich hiebei der Sachverständige vielfach auch chemischer Methoden1). Die Fälle, in denen eine solche Untersuchung angezeigt ist, sind zahlreicher, als man meint. Es wird nur notwendig sein, daß man immer dann, wenn es sich um die Identität von Stoffen usw. handelt, sich nicht damit zufrieden gibt, daß der betreffende Körper schon dem Ansehen nach ..zweifellos" derselbe ist, wie das Vergleichsobjekt, sondern daß man jedesmal erst den Sachverständigen fragt, bevor man endgültig urteilt. Wer hierüber Versuche macht, wird zur Überzeugung kommen, daß man vieles für verschieden hält, was gleichartig ist, und daß manches vollkommen gleich aussieht, was es doch nicht ist. Die Identität von Fäden (Bindfaden, Zwirn usw.) ist oft von Wichtigkeit und vom Mikroskopiker zum mindesten mit großer Wahrscheinlichkeit zu beweisen2). Es darf nicht übersehen werden, daß er für seine Zwecke nur verschwindend kleine Endchen braucht, die häufig als Untersuchungsobjekte vorliegen, wenn am Tatorte irgendein Gegenstand zurückgeblieben ist. Aus eigener Praxis erinnere ich mich daran, daß Fäden wichtige Anhaltspunkte gegeben haben: Der Faden, mit dem der Saum einer Schürze genäht worden war, die bei einem Einbrüche zurückgelassen wurde; die Schürze selbst war vom selben blauen Leinenstoffe, wie unzählige andere blaue Männerschürzen, der Faden aus dem Saume war aber zweifellos derselbe, der als einziges Nähmaterial im Hause desVerdächtigten gefunden wurde.Weiter: Der Faden, mit welchem das Schulheft eines Knaben genäht war, diente zur Feststellung der Höhnel, Die Mikroskopie der technisch verwendeten Faserstoffe, 2. Aufl., Wien 1905; Loock, Chemie und Photographie bei Kriminalforschungen, Düsseldorf 1909; Gistl, Artikel „Faserstoffe" in: Hwb. d. ger. Medizin u. naturwissensch. Kriminalistik, Berlin 1940; für die Beurteilung von Stoffen vgl. auch die warenkundliche Literatur, so Reuff, Stoffkunde und Warenuntersuchung, 4. A u f l . , Stuttgart 1923. 2) Vgl. Loock a. a. O.; Beck, Untersuchungen zur Feststellung der Gleichartigkeit von Bindfäden, Archiv 102 S. 209.

Untersuchung von Stoffen und Fäden.

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Identität der Leiche des Kindes. An diesem war ein Lustmord verübt worden, die Leiche wurde entkleidet im Walde unter Reisig fast verwest gefunden: die Schulbücher des Knaben fehlten, nur in einiger Entfernung von der Leiche, verhältnismäßig gut erhalten, fand sich ein Schulheft 5 der Umschlag und die beschriebenen Seiten waren weggerissen, jedes Kennzeichen fehlte. Nur die Mutter des verschwundenen Knaben wußte, mit welchem Zwirn sie das letzte Schreibheft ihres Kindes genäht hatte und brachte davon zu Gericht; die mikroskopische Untersuchung bewies die Identität. Ein Faden, mit welchem Zunderstreifen zusammengenäht waren 1 ), konnte mit einem Faden aus der Pelzmütze des Beschuldigten verglichen werden und diente zu seiner Überführung. Ein winziges Flöckchen Faden war an einem Stemmeisen (dort, wo die Klinge im Heft stak) hängen geblieben. Die Mikroskopiker konnten sagen, daß diese Flocke mit großer Wahrscheinlichkeit vom obern Rand der Tasche jenes Rockes herrühren müsse, welchen der Verdächtigte am Tage der Tat am Leibe getragen hat. In allen diesen und ähnlichen Fällen wird durch die Untersuchung des Sachverständigen allerdings zumeist nur die vollkommene G l e i c h a r t i g k e i t des Materials (z. B. Beschaffenheit und Zahl der Fasern, gleicher Farbstoff usw.) festgestellt werden und selbstverständlich existieren anderswo auch noch gleichartige Fäden, die etwa aus derselben Erzeugungsserie der Fabrik stammen. Diese theoretische Möglichkeit ist in solchen Fällen ein beliebter Einwand des Verteidigers — Sache des Richters aber ist es, aus dem Zusammenhalt aller übrigen Umstände des Einzelfalles zu beurteilen, inwieweit eine solche Möglichkeit p r a k t i s c h in Frage kommt. Darüberhinaus kann aber m i t u n t e r bei Durchtrennung von Stricken, Bindfäden u. ä. der Sachverständige auch den unmittelbaren Beweis der Zusammengehörigkeit der beiden vorhandenen Enden erbringen: dann, aber nuf dann ist nicht bloß Gleichartigkeit, sondern (im eigentlichen Sinn) Identität des Fadens erwiesen. In anderen Fällen kommt es nicht auf die Identität des Materials {die etwa ohnedies feststeht), sondern auf die Art der Durchtrennung an: ob z. B. der Faden zerrissen oder zerschnitten wurde. So konnte z. B. der objektive Hergang eines Perlendiebstahles dadurch geklärt werden, daß eine im Kriminologischen Institut der Universität Graz durchgeführte mikroskopische Untersuchung der beiden Enden der durchtrennten Perlenschnur ergab, daß die eine Trennungsfläche durch Riß, dagegen die andere Trennungsfläche durch Schnitt entstanden war. Dies ist nur aus der Form der Enden der mikroskopisch feinen Seidenfasern bei etwa 5oofacher Vergrößerung zu erkennen: bei Durchtrennung durch scharfen Schnitt erscheinen die Faserenden meist kolbenförmig verdickt und zeigen schräge, unregelmäßig gekerbte Trennungsflächen — offenbar die Folge der seitlich einwirkenden Kraft der keilförmigen Messerschneide l ) Ausführlich ist der Fall unten im 3. Band Abschnitt X X (Brandlegung) •dargestellt. 21**

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

(Abb. 12). Bei Durchtrennung durch Riß verlaufen hingegen die Faserenden dünn und brechen mit einer rechtwinkeligen glatten Trennungsfläche ab (Abb. 13) —• der Mikrobefund ist also gerade entgegengesetzt dem, was der Laie zunächst vermutet.

Abb. 1 2 : Faserenden einer Perlenschnur (durch S c h n i t t durchtrennt)

Abb. 1 3 : Faserenden einer Perlenschnur (durch R i ß durchtrennt)

Abgeschnittene und abgerissene Fasern.

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Die Perlenschnur, um die es sich im obigen Fall handelte, ein alter, wertvoller Familienbesitz, war auf einer Soiree von einer Dame getragen worden; weil sie riß, wurde sie bis zum Ende des Festes in einem Schrank verwahrt. A m anderen Morgen fehlten 76 von den insgesamt 397 Perlen. Durch den mitgeteilten Befund wurde klargestellt, daß die Diebin während der Zeit der Aufbewahrung des Schmuckes von dem einen Ende der tatsächlich gerissenen Perlenschnur ein Stück mit 76 Perlen abgeschnitten hatte 1 ). Viel Aufklärung kann man vom Mikroskopiker auch in jenen Fällen erwarten, in welchen Märke aus der Wäsche ausgetrennt wurde. Diese Austrennung müßte mit besonderer Sorgfalt und großem Geschicke gemacht worden sein, wenn der Mikroskopiker nicht sagen könnte, d a ß hier eine Austrennung stattgefunden hat; in den meisten Fällen wird er aber mehr sagen und herausbringen können, welcher Buchstabe usw. früher da war. Von Bedeutung kann seine Auskunft sein, wenn es sich darum handelt, festzustellen, ob die ausgetrennte Märke gleichartig ist jener Märke, die sich auf einem anderen Wäschestücke befindet (z. B. aus demselben Dutzend). In einem solchen Falle wird der Mikroskopiker nach kleinen Spuren jenes Fadens forschen, mit dem die ausgetrennte Märke gemacht war; solche Fadenrestchen wird er fast immer, besonders aber dann finden, wenn das Wäschestück mit der alten Märke wiederholt gewaschen und geplättet wurde, so daß Stoff und Märke ineinander verfilzt wurden. Wird dann das gefundene Fadenrestchen mit einem Faden aus der Märke des Vergleichsobjektes mikroskopisch verglichen, so kann die Gleichheit oder Verschiedenheit sicher nachgewiesen werden 2 ). In allerdings nicht häufigen Fällen kann auch die mikroskopische Untersuchung von Federn wichtige Beweismittel herbeischaffen 3 ). g) Bei der Untersuchung von Verunreinigungen. Ich möchte fast sagen, daß solche Untersuchungen diejenigen sind, bei welchen sich die Kunst des Mikroskopikers und Chemikers so recht eigentlich zeigen kann, indem er oft das Wichtigste an Beweis aus dem Kleinsten und Unscheinbarsten zuwege bringen kann. Aber auch der U. kann in solchen Fällen seine Geschicklichkeit dartun, wenn er das betreffende corpus delicti gefunden und sorgsam im gegenwärtigen Zustand erhalten hat, ohne daß Verunreinigungen usw. abgestreift wurden, wenn er überhaupt sein Augenmerk auf solche Minima gerichtet hat und wenn er es versteht, aus dem vom Sachverständigen Gebotenen brauchL) Ausführlich dargestellt ist der Fall bei Lenz und Seelig, Aus der Gutachtertätigkeit des Grazer Kriminologischen Universitätsinstitutes im Jahre 1924, Archiv 78 S. 24. Vgl. auch den übereinstimmenden Befund bei Bennstedt und Voigtländer, Der Nachweis von Schriftfälschungen, Blut, Sperma usw. unter besonderer Berücksichtigung der Photographie, Braunschweig 1906. 2) W a r die Märke mit r o t e n Fäden hergestellt, so kann häufig auch die Photographie (Grünfilteraufnahme) helfen, da auch die letzten Restchen von Rotgefärbtem in dem Photogramm deutlich zum Vorschein kommen. ') Kochel, Der mikroskopische B a u der Vogelfeder und seine Bedeutung für die Kriminalistik, Vierteljahrschrift f. ger. Medizin, 3. Folge, 37, 2. Suppl. {1909).

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

bare Schlüsse zu ziehen. Es kommt immer auf das alte heraus: die ganze Geschicklichkeit des U. besteht im richtigen Wahrnehmen, Verbinden und Verwerten. Greifen wir einzelne Beispiele darüber heraus, wie Verunreinigungen durch ihre Untersuchung von Wert werden können. 1. S p u r e n an W a f f e n und Werkzeugen. Die Untersuchung von Waffen u. ä. kann — abgesehen von der üblichen Untersuchung auf Blut — auch in anderer Richtung von Bedeutung sein, wenn z. B. eine Waffe bei der Reinigung oder beim Fortschaffen mit irgend etwas Bezeichnendem beschmutzt worden ist. So wurde mir ein Fall mitgeteilt, in welchem einem Menschen, der schimpfend und betrunken, bei einem Gastgarten vorbeigekommen ist, von einem der dort anwesenden Dragoner der Schädel durch einen Säbelhieb gespalten worden war. Über Verlangen des U. wurden am nächsten Morgen allen Dragonern der Garnison, die am Abende zuvor „Erlaubnis über die Retraite" gehabt hatten, die Säbel abgenommen und einer mikroskopischen Untersuchung auf B l u t s p u r e n unterzogen. Auf keinem Säbel fand sich die mindeste Spur von Blut, wohl aber hatte ein Säbel in der scharfgeschliffenen Schneide eine haarfeine Scharte und in dieser war ein kleines, nur unter stärkerer Vergrößerung wahrnehmbares Teilchen eines Grashalmes. Da die Untersuchung sehr bald vorgenommen wurde und das Grasstückchen in der Säbelscharte durch die Säbelscheide vor dem Vertrocknen ziemlich geschützt war, so konnte nachgewiesen werden, daß das Grasfragment noch nicht lange auf dem Säbel geklebt haben konnte, weil es sich frisch erhalten hatte. Der Dragoner, dem der Säbel gehörte, hatte also, wie er es dann auch gestand, nach dem geführten Hiebe den Säbel im taufeuchten Grase vom Blute gereinigt und dann mit einem Tuche abgewischt, wobei aber das Grasfragment, das hiebei in die Scharte gekommen war, nicht entfernt wurde. Dieser Fall ist auch insoferne instruktiv, als er zeigt, wie die Untersuchung eines Gegenstandes nicht auf das einzige, vermutete Objekt, hier Blütspureri, beschränkt werden darf, sondern sich auf alles erstrecken muß, was auffallend oder nicht gewöhnlich an der Sache ist. In dieser Richtung kann der Sachverständige aber nur dann ersprießlich wirken, wenn er den Sachverhalt in allen seinen kleinsten Einzelheiten kennt und vom U. so genau als möglich über den ganzen Hergang unterrichtet wurde. Hätte der Sachverständige in unserem Falle lediglich die Weisung gehabt, nach Blut auf den Säbeln zu suchen, so wäre seine Aufgabe erfüllt gewesen, wenn er einfach negativen Bericht erstattet hätte. So war er aber mit dem Hergange vertraut und er konnte beim .ersten Anblicke des Grasfragmentes sofort annehmen, wie es dahin gekommen sein mußte und daß es von Wichtigkeit sein werde. In ähnlicher Weise können Spuren von Erde, Staub, Fasern, festgetrocknete Flüssigkeiten usw. wichtige Anhaltspunkte geben. Selbstverständlich wird es den U. nicht der Verpflichtung entheben, die mikroskopische Untersuchung zu veranlassen, weil er selbst auf der

Unscheinbare Spuren an Werkzeugen.

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fraglichen Waffe usw. nichts Auffallendes sieht, denn erstens kann darauf eine schwere Menge von wichtigen Dingen durch das Mikroskop entdeckt werden, welche mit freiem Auge nicht wahrnehmbar sind, und zweitens weiß jeder Sachverständige, daß er die Waffe, das Werkzeug usw. zu zerlegen hat und gerade an den Verbindungsstellen nach verdächtigen Substanzen suchen muß. Es kann z. B. ein Beil auf das sorgfältigste gereinigt worden sein, so daß selbst mit bewaffnetem Auge nichts Auffallendes zu entdecken ist; werden aber Stiel und Klinge voneinander getrennt, so kann sich im Öhr der Klinge und an der Außenseite des Stieles, dort, wo er im Öhr steckte, wichtiges Material vorfinden; unter Umständen wird der Sachverständige vielleicht sogar das Holz des Stieles zerspalten und in den Spaltflächen das durch feine Sprünge eingedrungene Blut suchen. Als weitere hierher gehörige Beispiele dienen die vielen Fälle, in welchen boshafte Beschädigungen von Bäumen, Nutzpflanzen usw. dadurch entdeckt wurden, daß Spuren (Holzrestchen, Haare, Nadeln, Fasern usw.) von den betreffenden Pflanzen auf Werkzeugen gefunden wurden. Von Wichtigkeit war einmal auch der durch das Mikroskop gelieferte Nachweis, daß an einem brechstangenartigen Stemmeisen Spuren von Ziegelmehl zu entdecken waren. Dieses Eisen hatte, etwa 10—12 cm von der Schneide weg, eine durch Rost entstandene rauhe Stelle, an der ein roter Fleck wahrzunehmen war. Unter dem Mikroskop erwies sich dieser als eine Spur fest an- und eingedrückten Ziegelstaubes, so daß die fragliche rauhe Stelle des Stemmeisens mit großer Kraft auf einen Ziegel gedrückt worden sein mußte. Nun war bei einem Einbruchdiebstahl offenbar mit einem ähnlichen Werkzeuge an der Mauer gearbeitet und herumgehebelt worden und es war anzunehmen, daß der fragliche Fleck entstand, als das Stemmeisen mit der Schneide eingeführt und dann auf einen Ziegel stark niedergedrückt wurde. Da nun das Stemmeisen sonst in fortwährendem natürlichen Gebrauche gewesen war, das Ziegelmehl also nicht lange daran haften konnte, so war die Verwendung des Eisens bei dem Diebstahle ziemlich sicher. Oft kann man auch bei Werkzeugen zur Holzbearbeitung feststellen, ob sie zu einer bestimmten Arbeit verwendet wurden; z. B. kann aus den Sägespänen in den Zähnen einer Säge erschlossen werden, w e l c h e s H o l z gesägt wurde. So konnte einmal durch mikroskopische Untersuchung erwiesen werden, daß gewisse Sägespänespuren in einer Säge nicht von Kirschbaumholz, sondern von Nadelholz herrühren, obwohl die zur Verfügung stehende Menge mit freiem Auge kaum sichtbar war 1 ). 2. S t a u b u n d S c h m u t z . Wenn Liebig sagte, S c h m u t z sei ein Gegenstand, der sich irgendwo befindet, wohin er nicht gehört, so können wir auch sagen: S t a u b ist die l ) Umgekehrt kann aus den Spuren auf dem bearbeiteten Holz usw. geschlossen werden, ob ein bestimmtes Werkzeug, das zur Untersuchung vorliegt, verwendet wurde; hierüber siehe unten Abschnitt X I I I .

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

U m g e b u n g im k l e i n e n : jeder staubige Gegenstand ist mit einer Sammlung von winzigen Proben von Körpern bedeckt, die sich im engeren oder weiteren Umkreise um ihn befinden oder befunden haben. Weder Schmutz noch Staub ist ein besonderer Körper, sondern es besteht j e n e r aus kleinen Körpern, mit denen ein Gegenstand in Berührung gekommen ist und die durch irgendein Bindemittel (Feuchtigkeit, Fett usw.) an ihm festgehalten werden, d i e s e r aus kleinen, zerriebenen Körpern, die sich auf ihn niedergelassen haben. Wenn nun auch der Staub unter Umständen durch Wind oder Luftzug aus größerer Ferne herbeigebracht worden sein kann, so wird er doch meistens aus der nächsten Umgebung stammen, so daß man bei Kenntnis der Bestandteile des Staubes auf einem Gegenstande ungefähr sagen kann, welche Substanzen sich u m ihn herum befunden haben. Der Staub auf einem Blatte inmitten der einsamen Steppe wird kaum viel anderes enthalten, als gepulverte Erde und Sand sowie feine Pflanzenbestandteile; der Staub in einem gefüllten Ballsaale wird größtenteils aus fein zerriebenen Fasern herstammen, die von den Kleidern der Tanzenden abgewetzt wurden; der Staub in einer Maschinenwerkstätte ist zumeist feines Metallpulver, und im Staube auf den Büchern der Gelehrtenstube wird nebst erdigen Bestandteilen, die man an den Stiefeln hereinbrachte, hauptsächlich fein zerriebenes Papier zu entdecken sein. Fassen wir die Beispiele enger, so werden wir zu dem Schlüsse kommen, daß selbstverständlich der Arbeitsrock des Schlossers anderen Staub enthalten wird, als der des Müllers, daß der Staub, der in der Tasche eines Schulknaben angesammelt wird, sich wesentlich unterscheidet von dem Staube in der Tasche eines Apothekers und daß man im Klingenfalz des Taschenmessers eines Lebemannes anderen Staub finden wird als im Taschenmesser eines Landstreichers. Das sind a l l e s Beispiele aus der Praxis; in allen diesen Fällen wurde der Natur der Sache nach nicht auf einen bestimmten Körper, einen gewissen Bestandteil gesucht, sondern lediglich der Staub gesammelt und mikroskopisch geprüft, jedesmal ergab sich zum mindesten ein Anhaltspunkt zu weiteren Forschungen 1 ). So wurde einmal auf dem Tatorte ein Arbeitsrock gefunden, der äußerlich keinen Anhaltspunkt für die Person des Besitzers bot. Der Rock l) Vgl. über Staub- und Schmutzuntersuchungen: Giesecke, Über den Staub in den Kleidungsstücken und seine Bedeutung für die Kriminaluntersuchung, Archiv 75 S. 14; Brüning, Beiträge zur Überführung von Verbrechern durch den Nachweis von Leitelementen an ihrem Körper und an ihrer Kleidung, Archiv 75 S. 266; Rockel, Über den Wert der Untersuchung von Fingernagelschmutz, Archiv 82 S. 209; Karsten, Eine Spezialstaubsaugerkonstruktion für kriminalistische Zwecke, Archiv 89 S. 159; Locard, Södermann und Heindl, Beiträge zur kriminalistischen Staubuntersuchung, Archiv 92 S. 148 und 234; 93 S. 63 und 141; Mezger, Heeß, Letters und Mühlschlegel, Ein neues Staubfilter für Kriminalistische Zwecke, Archiv 93 S. 205; Brüning und Miermeister, Zur Bedeutung der kriminalistischen Leitelemente, Archiv 94 S. 195; Bottema und Moolenaar, Über den Nachweis von Spuren von Zinn, Archiv 101 S. 57; Buhtz und Schwarzacher, Die Methodik der Kleiderstaubuntersuchung in: Handb. der biol. Arbeitsmethoden (hgg. von Abderhalden) Teil 12, 2. Hälfte, Berlin 1932; Klauer, Artikel „Staub" in: Handwörterbuch der ger. Medizin u. naturw. Kriminalistik, Berlin 1940.

Die Untersuchung des Staubes.

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wurde nun in einen gut geklebten Sack aus starkem weichen Papier gebracht und das ganze so lange und so stark mit Stäben geklopft, als es das Papier gestattete, ohne zu reißen. Dann blieb der Pack eine Zeitlang ruhig liegen, der Sack wurde geöffnet, der Staub, der sich auf dem Papier unter dem Rocke fand, sorgfältig gesammelt und dem Mikroskopiker übergeben. Die Untersuchung ergab, daß der Staub, der reichlich aus dem Rocke herausgefallen war, hauptsächlich aus fein zerriebener Holzfaser bestand, so daß man annehmen durfte, der Rock gehöre einem Schreiner, Zimmermann, Sägemüller usw. Da sich aber im Staub auch viel pulverisierte Gallerte, d. h. Leim gefunden hatte, mit dem Zimmermann und Sägemüller nicht arbeiten, so mußte der Rock, wie es auch richtig der Fall war, einem Schreiner gehört haben. Besonders wichtig ist in solchen Fällen der Staub, der sich in überraschend kurzer Zeit und in großer Menge in jeder Kleidertasche sammelt, besonders wenn das betreffende Kleidungsstück nicht zu oft gebürstet und geklopft wird. Solcher Staub erzählt in seiner Zusammensetzung die Geschichte des betreffenden Menschen für die Zeit, als er das Kleidungsstück getragen hat. In erster Linie besteht das feine Gemengsei allerdings aus zerriebener Faser jenes Stoffes, aus dem die Tasche verfertigt ist. Dann kommt hinzu: Staub aus der Atmosphäre, in der sich der Träger des Rockes bewegt, und der entweder unmittelbar in die Tasche fällt, oder durch den Stoff hindurch in diese eindringt; Staub, der von den in die Tasche gesteckten Gegenständen abfällt, z. B. Brotfragmente, Tabakstaub, der aus dem Tabakbeutel fällt; zerriebene Papierteile, abgeriebenes Metall, Holz usw.; endlich Staub, der an der Hand haftete, die wiederholt in die Tasche gegriffen hat, eine Sammlung, die in den meisten Fällen zum mindesten einen Bestandteil erhalten wird, der auf die Eigenschaft, das Gewerbe, die Beschäftigung des Trägers schließen läßt. Fast ebenso wichtig sind jene Wollkonglomerate, die sich in jedem längere Zeit getragenen Rocke zwischen Stoff und Unterfutter ober dem untersten Rocksaume finden. Sie bestehen zumeist aüs abgeriebenen Stoffteilen, aber auch gemengt mit anderem Staub und Fasern, die durch den Stoff, zumeist durch die Taschen eingedrungen sind. Zu beachten ist auch jener Staub, der sich im Klingenfalz eines Taschenmessers findet, d. h. in jener Spalte zwischen den Heftschalen eines Taschenmessers, in welcher die Klinge beim Zumachen des Messers einfällt. Wer sein noch so reinlich gehaltenes Taschenmesser hierauf untersucht, wird staunen über die reiche Menge von Staub und größeren Bestandteilen, die sich da angesammelt haben. Dieser Staub ist mikroskopisch meistens bestimmbar und gibt fast unfehlbar an, wo sich das Messer befunden hat und was damit geschehen ist. Ähnliche Anzeichen sind bei allen Gegenständen zu finden, die beständig oder fast beständig herumgetragen werden, z. B. in den Lederfalten an der Außenseite von Brief- oder Geldtaschen, am Schließrande des äußeren Deckels einer Taschenuhr und auf ihrem inneren Deckel (der doch gerade „Staubmantel" heißt), endlich aber auch an Uhrenanhängseln, die mit Erhaben-

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IV. Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

heiten versehen sind, an denen sich allerlei Staub, vor Abwetzen geschützt, ansammeln kann. So wurde einmal auf dem Tatorte ein abgerissenes Uhranhängsel (ein sog. Glücksschweinchen aus Bronze) gefunden, das auf einen Anstreicher als Besitzer schließen ließ, der auch die Tat verübt hatte. Die mikroskopische Untersuchung hatte nämlich ergeben, daß in den Unebenheiten des Schweinchens verschiedene Ölfarbenrestchen angetrocknet waren. Die Nützlichkeit solcher Untersuchungen kann sich in allen Fällen ergeben, in denen es sich um die Feststellung der Person eines Menschen handelt, der solche Gegenstände bei sich hat. Die Sicherung des Staubes, der an Kleidern oder anderen Gegenständen haftet, erfolgt einfach und zweckmäßig in der oben beschriebenen Weise durch Ausklopfen des Gegenstandes in einem Papiersack oder allenfalls über einem — entsprechend großen — ausgebreiteten schwarzen Papier, das vorher peinlich sauber von jedem Staub gereinigt wurde. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird der Staub, allenfalls nach Bestandteilen getrennt, in Glasröhrchen verwahrt. In jüngster Zeit wurden auch besonders konstruierte kleine Staubsauger für die Sicherung des Staubes empfohlen1), bei denen sich der gewonnene Staub in einem Filtersack sammelt, der aus Filtrierpapier oder einer besonderen luft-, aber nicht staubdurchlässigen Masse bestehen muß. Ein Nachteil dieser Methode ist, daß bei öfterer Verwendung des Staubsaugers an den Innenteilen des Apparates kleine Staubteilchen aus der vorausgegangenen Untersuchung haften bleiben und Verwirrung stiften können. Daher, ist bei Verwendung solcher Apparate auf die sorgfältige Säuberung aller Innenbestandteile unmittelbar vor jeder Verwendung besonders zu achten. Als Objekt der Untersuchung für den Mikroskopiker sei noch der Schmutz unter den Fingernägeln, sei es des Subjektes oder des Objektes der Tat, erwähnt; dieser Schmutz erzählt oft genau die Geschichte der letztverflossenen Zeit, da er sich aus allem zusammensetzt, womit der Betreffende zuletzt in Berührung gewesen ist. Handelt es sich um die Untersuchung bei einem Lebenden, so wird man selbstverständlich gut tun, sich dieses Schmutzes so b a l d als m ö g l i c h zu versichern und nicht erst darüber Zeit hinweggehen zu lassen. Bei der Verwertung der in solchen Staub- und Schmutzspuren vom Mikroskopiker festgestellten Einzelbestandteile wird zwischen drei Gruppen von Befunden zu unterscheiden sein: i . a l l g e m e i n anzutreffende Befunde, die — weil sie überall vorkommen — keinen besonderen Rückschluß zulassen; 2. Befunde, die auf eine b e s t i m m t e B e s c h ä f t i g u n g oder auf eine s o n s t i g e b e s t i m m t e U m w e l t des Spurenträgers schließen lassen; 3. Spuren des T a t g e s c h e h e n s selbst, somit Befunde, die auf die unmittelbare Täterschaft des Spurenträgers schließen lassen. E s bedarf großer kriminalistischer Erfahrung, um im einzelnen unterscheiden zu können, zu welcher Gruppe ein gefundener Bestandteil einer Staub- oder Schmutzspur gehört. So kommen z. B . Stoffasern jeden Materials und in den verschiedensten Farben fast in !) Vgl. die oben S. 3 3 0 Anm. 1 angeführte Literatur.

Verunreinigungsspuren auf Kleidern.

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allen Staubspuren in Kleidertaschen, Frisierkämmen und auch im Fingernagelschmutz vor, was sich dadurch erklärt, daß der menschliche Körper mit Textilstoffen verschiedenster Art ständig in Berührung ist. Abgescheuerte Faserteilchen wirbeln aber auch im Staub der Luft und legen sich dadurch an den verschiedensten Gegenständen an. So findet man z. B . in fast jeder Staubprobe aus einem Frisierkamm unter anderem auch rot gefärbte Faserteilchen und es wäre daher ein Fehlschluß, wollte man deshalb einen aufgefundenen Kamm einem bestimmten Verdächtigen zuschreiben, etwa deshalb, weil er ein rotes Halstuch trägt 1 ). Hingegen können z. B. — wie in den oben erwähnten Fällen — Holzstaub, Eisenstaub u. ä. als charakteristisch für bestimmte Beschäftigungen angesehen "werden, und solche außergewöhnliche Bestandteile, die somit als Befunde der zweiten Gruppe zu werten sind, werden auch als „Leitelemente" bezeichnet. Nach solchen zu fahnden, ist daher in erster Linie Aufgabe des untersuchenden Mikroskopikers. Als Beispiel einer Staubspur der dritten Gruppe, die somit einen unmittelbaren Rückschluß auf die Beteiligung an der Tat zuließ, sei schließlich ein von Brüning8) berichteter Fall angeführt: Bei der Erbrechung eines Geldschranks wurde die zwischen der Doppelwandung befindliche Asche auf den Zimmerboden verstreut; bei einem der Tat Verdächtigen fand sich an seinen Stiefeln in der Furche zwischen Sohle und Oberleder ein heller Staub, dessen mikroskopische Untersuchung die gleichen Aschenbestandteile (Kieselskelette verbrannter Pflanzenzellen) ergab. 3. F l e c k e a u f K l e i d e r n usw. Auch hier beschränkt sich in der Praxis die mikroskopische Untersuchung vielfach noch auf das Entdecken von Blut- und Spermaflecken, obwohl auch da wertvolle Aufschlüsse in anderer Richtung gegeben werden können. Handelt es sich um ein wichtigeres Verbrechen, so sollte kein einziger Fleck auf den Kleidern des Verdächtigen unberücksichtigt bleiben. Vorgefaßten Meinungen: z. B. der wahrgenommene Fleck sei wer weiß wie alt, oder er könne unmöglich mit dem Verbrechen in Zusammenhang stehen oder das von den Sachverständigen Gefundene könne keinen Aufschluß geben usw., ist nie Gehör zu geben. Ob der Fleck wirklich so alt ist, kann auf das bloße Ansehen hin nicht entschieden werden, dem bewaffneten Auge des Sachverständigen wird die Sache vielleicht anders erscheinen als dem oberflächlichen Blicke des U. Ebenso kann die Frage, ob der gefundene Fleck mit dem Verbrechen im Zusammenhange steht oder nicht, im voraus nicht beantwortet werden, dies ergibt sich vielleicht erst, nachdem die Natur des Fleckes durch den Mikroskopiker oder Chemiker aufgeklärt wurde; vielleicht ersieht man dies aber auch nicht sofort, sondern erst im weiteren Laufe der Erhebungen. Es braucht aber auch der Fleck mit der Tat in keinem unmittelbaren Zusammenhange zu stehen, und es kann doch die bloße Kenntnis des U., woraus der Fleck besteht, von wichtigen Folgen sein. So hatte sich in einem Mordprozeß *) I n ähnlichem Sinn auch Rockel a. a. O . a. a. O.

2)

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

auf dem Beinkleide des Verdächtigen ein großer, eigentümlicher Fleck gefunden, der den Stoff an der fraglichen Stelle steif und unschmiegsam gemacht hatte. Der Mikroskopiker, der die Hose auf Blutspuren zu untersuchen hatte, unternahm es auch, diesen Fleck unter einem mit dem Mikroskope anzusehen, und stellte fest, daß er aus einer Mischung von Asche, fein geraspeltem Holz und Tischlerleim, also aus jenem Kitte bestand, mit dem die Schreiner die Spalten und sonstigen Unebenheiten des Holzes auszufüllen pflegen. Mit der Tat konnte dieser Fleck augenscheinlich nicht im Zusammenhange stehen, da eingehende Erhebungen an Ort und Stelle sicher ergaben, daß dortselbst derartiger Kitt in frischem Zustande und in der nötigen Menge nicht vorhanden war. Trotzdem befragte der U. den Verdächtigen um das Herkommen des Kittfleckes, und es gab dieser, wenn auch langsam und zögernd, eine wahrscheinliche Erklärung dafür. Seine Angaben wurden aber doch auf ihre Richtigkeit geprüft, die Erhebungen über diese Frage verzögerten sich, und da sich die sonstigen Beweise gegen den Mann nicht mehrten, so sollte er eben enthaftet werden, als die Feststellung eintraf, daß seine Erklärung über die Entstehung des Kittfleckes falsch sei. Man mußte annehmen, daß er doch ein schlechtes Gewissen habe, weil er den Fleck, dessen Entstehung er vielleicht wirklich nicht wußte, für nicht harmlos hielt, und deshalb zu einer Erfindung griff. E r wurde nicht enthaftet und später der Tat überführt. Einen überaus interessanten Fall erzählt Popp1). Durch die Untersuchung eines neben der Leiche einer Ermordeten gefundenen Sacktuches wurde in Verbindung mit der Untersuchung der Kleider und des Messers des Beschuldigten dessen Täterschaft geradezu lückenlos erbracht; insbesondere hatten die im Sacktuch gefundenen Blut-, Fett-, Nasenschleim und Schmutzflecke, in denen sich Schnupftabak und Kohlenstaub fand, wesentlich zum Beweise beigetragen, daß das Taschentuch dem Beschuldigten gehörte. Überhaupt gilt von Flecken auf Kleidern dasselbe, was oben von Schmutz und Staub gesagt wurde: auch sie fanden ihre Entstehung fast immer dort, wo sich der Träger der Kleider befunden hat, und durch jene Materien, mit denen dieser in Berührung gekommen ist. Allerdings hat man sich vor Irreführungen zu hüten, da der Beschuldigte auch altgekaufte oder fremde Kleider getragen haben kann; auch können ja die Flecken bei einem Transporte, beim Flickschneider usw. auf die Kleider gekommen sein —; das sind aber doch Ausnahmefälle, deren Vorliegen ja festgestellt werden kann. In vielen Strafprozessen besteht die Arbeit des U. in nichts anderem als in der Feststellung des Umstandes, wo sich der Beschuldigte in einem bestimmten Zeiträume befunden hat, und so ist es vielleicht möglich, durch Schmutzflecken und ihre Bestimmung wenigstens einzelne Etappen auf dem Wege festzustellen, den der Verdächtige gemacht haben muß. ') Popp, Die Mikroskopie im Dienste der Kriminaluntersuchung, Archiv 70 S. 149; vgl. auch Goroncy, Beitrag zur Fleckdiagnose in Wäschestoffen, Kriminalistik 1 S. 204.

Straßenkotspuren auf Schuhen.

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Die nähere Wahl zwischen den Untersuchungsmethoden, die heute zur Bestimmung von Flecken auf Kleidern zu Gebote stehen (mikroskopische, chemische, mikrochemische Untersuchung, Prüfung im gefilterten Uviollicht usw.), ist am zweckmäßigsten einem kriminologisch geschulten Sachverständigen zu überlassen, der alle diese Methoden beherrscht1). 4. E r d s p u r e n auf der B e s c h u h u n g . Der Kot an den Stiefeln oder ihre sonstige Beschmutzung kann uns oft mehr darüber sagen, wo der Träger der Stiefel zuletzt war, als es langwierige Erhebungen festzustellen vermögen. Es kann dies von Wert sein bei tot Aufgefundenen und bei Lebenden, die einer Tat verdächtigt sind, wenn man bei ersteren wissen will, woher sie gekommen sind, wo sie sich zuletzt aufgehalten haben, oder wenn es sich bei letzteren um die Feststellung handelt, ob sie auf dem Tatorte gewesen sind. Selbstverständlich wird eine solche Erhebung fast aussichtslos sein, wenn der Boden gar nichts abgibt, oder wenn er allerorts gleich ist, z. B. gleichmäßiger Lehmboden auf Meilen im Umkreise, oder Pflaster mit etwas Straßenkot in einer Stadt usw. Unter allen Umständen die Untersuchung in derlei Fällen zu unterlassen, wäre aber auch nicht zu raten, da immerhin durch die Untersuchung des Kotes an den Schuhen unerwartete Momente klargelegt werden können, die wenigstens die Richtung angeben, in welcher die weiteren Erhebungen zu pflegen sind. Nehmen wir den Fall, in dem ein Mann tot in einer Stadt gefunden worden ist; es wäre z. B. vorauszusetzen, daß er nicht aus der Stadt herausgekommen ist, so daß er wahrscheinlich nichts anderes als Stadtstraßenkot an den Stiefeln haben wird, der in der ganzen Stadt gleich sein dürfte. Wäre es nun von großer Wichtigkeit, festzustellen, wo der Mann zuletzt war, z. B. ob er in der Nähe des Fundortes oder weit davon getötet worden ist, so wird man doch gut tun, wenn man auf alle Fälle die Stiefel des Mannes dem Sachverständigen übergibt, damit er die Bestandteile des Kotes an ihnen untersucht. Es ist ja möglich, daß sich darin Bestandteile finden, die bestimmte Schlüsse zulassen, z. B. Stallmist, pflanzliche Bestandteile, die nur aus bestimmten Stadtteilen herrühren können, etwa von Früchten von Alleebäumen usw., weiters mineralische Bestandteile, die von einer Pflasterung stammen, die nur in einem bestimmten Stadtteile gebräuchlich ist, Kalkstaub und Ziegelmehl, was schließen ließe, daß der Mann auf einem Neubaue war usw. Leichter und mit mehr Aussicht auf Erfolg gestaltet sich die Sache, wenn es sich um Verhältnisse auf dem Lande handelt, da dort die Bodenbeschaffenheit eine verschiedenere ist, auch die Wohnräume in den Gebäuden nicht überall gedielt sind und auf den Fußböden daselbst häufig charakteristische Gegenstände liegen bleiben. In dieser Richtung sind zwei Fälle bekannt, die einander sehr ähnlich sind und die beide zu positiven Resultaten geführt hatten. In dem einen handelte es sich um die Überführung eines Menschen, der in einer Mühle einen Raub x

) V g l . oben S.

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.

vollbracht haben sollte, in dem anderen um den Nachweis, daß der Verdächtigte eine große Summe gestohlenen Geldes in einem hohlen Weidenbaum knapp am Flußufer versteckt habe. In beiden Fällen wurde der Kot an den Stiefeln untersucht und ergab beide Male zwei voneinander getrennte Schichten von Kot, im ersten Falle waren diese durch Mehl, im zweiten durch feinen Flußsand getrennt. Im ersten Falle war der Mann also mit kotigen Stiefeln auf den mit verstreutem Mehle bedeckten Boden der Mühle und dann wieder in Kot getreten, im zweiten Falle war er ebenfalls zuerst in Kot, dann in den feinen Flußsand am Ufer und dann auch wieder in Kot getreten. In beiden Fällen war an einzelnen Bröckchen (allerdings nur an sehr wenigen) die Schichtung und der Einschluß von Mehl, beziehungsweise Sand, so deutlich, daß ein Zweifel über die Entstehung unmöglich aufkommen konnte. Einen dritten Fall teilt Prof. Jeserich1) mit, in welchem im Sande, der an Stiefeln eines Getöteten haftete, Diatomeen gefunden wurden, wodurch der Ort, an dem der Mann gewesen sein mußte, sicher bestimmt werden konnte. Popp schildert einen Straffall, in dem aus dem Kot auf der Beschuhung nachgewiesen wurde, daß der Beschuldigte auf dem Tatort und nicht dort, wo er behauptete, gewesen war2).

h) Bei der Identifikation von Waffen. Eine besondere Verwendung der Mikroskopie für kriminalistische Zwecke wurde durch die Entdeckung möglich, daß beim Schießen aus Feuerwaffen (Gewehren, Pistolen) auf der verwendeten Munition Spuren entstehen, die durch die individuelle Beschaffenheit der Waffe bedingt sind. Es sind dies teils Spuren auf dem Projektil, die von der Innenwand des Laufes herrühren, teils Spuren auf der im Lauf zurückbleibenden oder allenfalls automatisch ausgeworfenen Patronenhülse. Der Waffensachverständige, der bloß mit freiem Auge oder höchstens mit Lupe zu arbeiten pflegt, vermag aus solchen Spuren freilich nur die A r t der verwendeten Waffe, also z . B . die Zahl und Breite der Züge des Laufes, die Art der Auswerfevorrichtung bei automatischen Pistolen u. ä., und dadurch im günstigsten Falle die M o d e l l t y p e der verwendeten Waffe festzustellen. Durch die vergleichende m i k r o s k o p i s c h e Untersuchung der f e i n s t e n D e t a i l s dieser Spuren kann aber auch die Frage entschieden werden, ob eine bes t i m m t e Waffe diej enige ist, aus der der Schuß abgefeuert wurde. Denn die mikroskopisch-feinen Merkmale jener Spuren hängen nicht von der Waffentype, sondern von der konkreten Beschaffenheit der einzelnen Waffe ab. Die näheren Grundlagen und die Technik dieser Untersuchungsmethode, für die somit nicht der Waffensachverständige, sondern der kriminologisch geschulte Mikroskopiker zuständig ist, werden im Abschnitt über die Waffen behandelt werden3). *) Oktoberheft 1896 der „Allgem. Photographen-Zeitung". 2 ) Popp, Die Mikroskopie im Dienste der Kriminaluntersuchung, Archiv 70 S. 149; vgl. auch Specht, Vergleichende Erduntersuchungen in der forensischen Praxis, Kriminalistik 10 S. 1 1 2 ; Gistl, Art. „Erdspuren an Stiefeln und Kleidern" im Hwb. d. ger. Medizin u. naturw. Kriminalistik, Berlin 1940. *) Unten X . Abschnitt, 1 h; dortselbst auch die einschlägige Literatur.

Unsichtbare Strahlen.

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i) Bei Untersuchungen mit besonderen Strahlen (Ultraviolett, Infrarot, Kathoden- und Röntgenstrahlen). In das Gebiet der Physik und der Chemie führen gewisse neuere optische und photographische Untersuchungsmethoden, die in der modernen Kriminalistisk eine vielfache Anwendung gefunden haben und einen wesentlichen Fortschritt bedeuten; gemeinsam ist ihnen die Verwendung von Strahlen, die außerhalb des Bereiches des sichtbaren Lichtes liegen, das uns die Sonne und die üblichen künstlichen Lichtquellen spenden. Da diese Untersuchungsmethoden zum Teil auch bereits in die Praxis der Polizeibehörden Eingang gefunden haben und hier von entsprechend geschulten Beamten gehandhabt werden, muß sich jeder U. mit den Grundlagen und bis zu einem gewissen Grad auch mit der Technik dieser Methoden vertraut machen. Darum sei hier das Wesentliche dargestellt. Zu warnen ist jedoch vor einer dilettantischen Anwendung solcher Methoden durch nicht entsprechend Ausgebildete, da in solchen Fällen nur zu leicht Fehlschlüsse Zustandekommen. In allen nicht ganz einfach liegenden Fällen ist daher ein kriminologisch geschulter Sachverständiger heranzuziehen, der diese Methoden beherrscht. Das (sichtbare) Licht umfaßt Strahlen, die durch Ätherschwingungen mit einer Wellenlänge von (rund) 400 bis 700 Millionstel Millimeter (Milli-Mikron = mju) gebildet werden. Bekanntlich ist das dem menschlichen Auge als w e i ß erscheinende Licht ein Gemisch solcher Strahlen verschiedener Wellenlänge, während Strahlen e i n e r bestimmten Wellenlänge (sogenanntes monochromes Licht) vom menschlichen Auge als F a r b e empfunden werden. Zerlegt man weißes Licht (z. B. durch ein Prisma) in seine monochromen Bestandteile, so entsteht das „Farbenspektrum", das auf der einen Seite mit Violett (Wellenlänge rund 400 m/i) beginnt, woran sich Blau, Grün, Gelb, Orange und Rot reihen, das mit einer Wellenlänge von rund 700 m/i das andere Ende des Spektrums bildet. Strahlen, die jenseits dieser Grenzen liegen, deren Wellenlänge also weniger als 400 m/j oder mehr als 700 m/j beträgt, werden vom Menschen nicht mehr als Licht wahrgenommen, sie existieren aber in der Außenwelt, denn sowohl die Sonne als auch die meisten künstlichen Lichtquellen senden Strahlen aus, die über den Bereich von 400 bis 700 m/u Wellenlänge nach unten oder nach oben hinausreichen (sogenanntes unsichtbares Licht). Die Strahlen von w e n i g e r a l s 400 m ^ W e l l e n l ä n g e , die also jenseits der Violettgrenze des Farbenspektrums liegen, werden als u l t r a v i o l e t t e Strahlen (UV-Strahlen, Uviollicht) bezeichnet, während sich für die Strahlen von m e h r a l s 700 m[i W e l l e n l ä n g e , die somit über die Rotgrenze des Farbenspektrums hinausreichen, der Ausdruck I n f r a r o t eingebürgert hat (Abbildung 14). 1. Die Verwendung von u l t r a v i o l e t t e n Strahlen zu diagnostischen Zwecken hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten nicht bloß in der Kriminalistik, sondern in fast allen angewandten Naturwissenschaften überhaupt, so in der Medizin, der Lebensmittelchemie, der Pharmazie und Pharmakognosie, in der Botanik und vor allem in der Technik und G r o ß - S e e l i g , Handbuch. 8. Aufl.

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I V . Abschnitt. Der Sachverständige und sonstige Hilfen usw.