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German Pages [258] Year 2013
PD Dr. Edmund Hermsen (15. Oktober 1952 bis 26. Mai 2006)
Florian Jeserich (Hg.)
Ägypten – Kindheit – Tod Gedenkschrift für Edmund Hermsen
2013 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. Umschlagabbildung: „Ägypten – Kindheit – Tod“. Illustration von Florian Jeserich & Stefan Armoneit © 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: xPrint s.r.o., Pribram Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20971-1
Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................................................. 7 Die Beiträge dieses Bandes im Kontext von Edmund Hermsens Leben und Werk Florian Jeserich
Teil I: Ägypten Ägypten als Mythos ........................................................................... 25 Die Ägypten-Rezeption in der europäischen Tradition Edmund Hermsen
Zauberhaftes Ägypten – Ägyptischer Zauber? ............................ 39 Überlegungen zur Verwendung des Magiebegriffs in der Ägyptologie Bernd-Christian Otto
Teil II: Kindheit Ariès’ „Entdeckung der Kindheit“ ................................................... 73 Kritik eines Schlagworts aus psychologischer Sicht Ralph Frenken
„Geliebte Kinder, die Welt braucht euch“ ..................................... 109 Wesen und Erziehung des Kindes in der Christlichen Wissenschaft Florian Jeserich
Sozialisation und Lebenszyklus ....................................................... 155 in der Biographie des Basler Arztes Felix Platter (1536–1614) Tilmann Walter
„Siehe, meine Freundin, du bist schön ...!“.................................... 195 Ein vermeintlich unsittliches Familienporträt von Ferdinand Bol Frauke Laarmann-Westdijk
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Teil III: Tod John the Evangelist Profiled ............................................................. 221 Miroir de la bonne mort Joseph B. Dallett
Die Figur des Todes in den Werken von Terry Pratchett ............. 237 Martin Zwiesele
Autorenverzeichnis............................................................................. 261
Einleitung Die Beiträge dieses Bandes im Kontext von Edmund Hermsens Leben und Werk Florian Jeserich
„Es ist zu Ende gekommen.“1 Dieser Band ist dem Andenken an Privatdozent Dr. Edmund Hermsen gewidmet. Die Autoren dieser Gedenkschrift würdigen mit ihren Beiträgen die akademische Leistung eines vielseitigen Gelehrten, der nicht nur dem Fach Religionswissenschaft innovative Anstöße zu geben vermochte; sie würdigen auch, untrennbar damit verknüpft, einen großen Lehrer, der auf unverwechselbare Art Generationen von Studentinnen und Studenten persönlich begleitet hat. Das vorliegende Buch geht auf eine Initiative Heidelberger Schülerinnen und Schüler Hermsens zurück, die sich im Juni 2008 trafen und zusammen mit Dr. Hartmut Rudolph, einem langjährigen und engen Freund des Verstorbenen, die Idee einer Gedenkschrift entwickelten. Edmund Hermsen (15. Oktober 1952 bis 26. Mai 2006) studierte von 1971 bis 1978 Religionswissenschaft, Ägyptologie, evangelische Theologie und Psychologie in Marburg. In seiner Studienzeit wurde er besonders von dem Marburger Religionsphänomenologen Kurt Goldammer (1916–1997) und dem Basler Ägyptologen Erik Hornung beeinflusst. Hermsens akademische Laufbahn begann im Jahre 1975 als wissenschaftliche Hilfskraft. Nach dem Abschluss seines Magisterstudiums2 lehrte er von 1979 bis 1997 im Fachgebiet Religionswissenschaft an der Philipps-Universität und prägte auf diese Weise den traditionsreichen Marburger Studiengang Religionswissenschaft über fast zwei Jahrzehnte mit. Zudem arbeitete er von 1985 bis 1988 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich der barocken Leichenpredigten 1 Spruch aus dem altägyptischen Zweiwegebuch, mit dem Edmund Hermsen sein Buch über das Jenseits abgeschlossen hat: E. Hermsen, Die zwei Wege des Jenseits. Das altägyptische Zweiwegebuch und seine Topographie, Freiburg im Breisgau, Göttingen 1991, 245. 2 Die Magisterarbeit wurde publiziert als: E. Hermsen, Lebensbaumsymbolik im Alten Ägypten (Arbeitsmaterialien zur Religionsgeschichte 5), Köln 1981.
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in der „Forschungsstelle für Personalschriften“ in Marburg, einer Arbeitsstelle der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Gleichzeitig mit der Publikation seiner philologisch ausgerichteten Doktorarbeit, in der er sich mit der Topographie des altägyptischen Zweiwegebuches beschäftigte, beendete er eine weitere für sein Leben entscheidende ‚Initiationszeremonie‘: 1991 schloss Hermsen eine zweijährige Ausbildung zum Gesprächspsychotherapeuten durch das von Carl Rogers begründete Institut für Personenzentrierte Psychologie in Heidelberg ab. 1993 lud ihn die University of California zu einem Studienaufenthalt nach Santa Barbara ein. Hermsen nahm Lehraufträge in Bremen (WS 1995/96, WS 1996/97), Bratislava (SS 1996) und – nach einer Vertretung des Lehrstuhls von Prof. Dr. Gregor Ahn für Vergleichende Religionswissenschaft – in Heidelberg (ab SS 2000) wahr. Von 1997–2001 war er Vorstandsmitglied der Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte. Im Juni 1999 habilitierte ihn der Fachbereich für Außereuropäische Sprachen und Kulturen der Philipps-Universität Marburg auf Grund der Arbeit Geschichte der Kindheit im religiösen Kontext. Psychohistorische Studien zur Religionspsychologie für das Fachgebiet Religionswissenschaft.3 Im Dezember 2001 erfolgte die Umhabilitation durch die Fakultät für Orientalistik und Altertumswissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, wo er seit seiner Antrittsvorlesung 2002 als Privatdozent lehrte. Bis zu seiner schweren Erkrankung hielt Hermsen zugleich als Dozent am C.G. Jung-Institut Zürich in Küsnacht (WS 2004/2005) Vorlesungen zu altägyptischen Todes- und Jenseitsvorstellungen sowie zur altägyptischen Bildsprache. Es war Edmund Hermsen nicht vergönnt, sein akademisches Wirken, das sich über mehr als ein Vierteljahrhundert erstreckte, mit einer Professur zu krönen. Dass er als Dozent einen so nachhaltigen Eindruck auf Student/inn/ en und Kolleg/inn/en hinterließ, wie dies die Beiträge in diesem Band illustrieren, ist seiner wissenschaftlichen Vielseitigkeit und Kreativität, seinem großen persönlichen Engagement und nicht zuletzt seiner Wesensart zuzuschreiben. In einer Zeit, in der finanzielle Mittel knapp sind, wissenschaftliche Lehre oft nur noch als lästige Pflichtübung empfunden wird und Hochschulpolitik und Instituts-Management die Aufmerksamkeit und die zeitlichen Ressour3 Durch den besonderen Einsatz von Dr. Tilmann Walter und Dr. Hartmut Rudolph konnte Hermsens Habilitationsschrift in überarbeiteter Form postum veröffentlicht werden: E. Hermsen, Faktor Religion. Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Köln u.a. 2006.
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cen vieler Hochschullehrer/innen in Beschlag nehmen, gelang es Hermsen immer wieder auf verblüffende Weise, ein intensives Lehrer-Schüler-Verhältnis zu etablieren und über Jahre hinweg zu pflegen. Dies ist schon allein an dem Umstand abzulesen, dass seine Seminare sich großer Beliebtheit seitens der Studentenschaft erfreuten und ein stetig wachsender ‚harter Kern‘ jedes seiner Lehrangebote mit Begeisterung nutzte. Natürlich kann dies auch auf das Spektrum der von ihm abgedeckten religionswissenschaftlichen Themenfelder zurückgeführt werden: In seiner Heidelberger Zeit bot Hermsen zum Beispiel Lehrveranstaltungen zu Hermann Hesse und Aldous Huxley (SS 2000), Religionen im Film (WS 2001/2002), C. G. Jung (SS 2002), Religion und Psychoanalyse (WS 2002/2003), zur religionshistorischen Bedeutung der Hippie-Bewegung (SS 2003, SS 2004) oder zur Kindheitsgeschichte als einem neuen Bereich der Religionswissenschaft (WS 2003/2004) an und arbeitete mit einem außergewöhnlichen Gespür für den Zeitgeist des 20. Jahrhunderts Themen der religiösen Gegenwartskultur auf. In vielen Studentinnen und Studenten setzte die kritische Auseinandersetzung mit Phänomenen der jüngeren Vergangenheit wissenschaftliche Reflexions- und persönliche Reifungsprozesse in Gang. Edmund Hermsen hatte ein besonderes Talent dafür, die Studentenzeit als eine eigene prägende Lebensphase zu sehen, und er verstand die wissenschaftliche Ausbildung junger Menschen immer auch als Biographieförderung bzw. als eine Form von Persönlichkeitsentwicklung. Ein Beispiel: Ich begegnete Edmund Hermsen zufällig in der Unteren Straße in Heidelberg, dort, wo sich, wie er mir erzählte, die Heidelberger Hippie-Szene in den 1970iger Jahren getroffen habe. Es war ein lauer Sommerabend. Vor dem studentisch belebten Café Hörnchen blieben wir schließlich stehen. Eine Unterhaltung über den Zusammenhang von Romantik und Religion hatte uns in ihren Bann gezogen. Plötzlich: „Kennen Sie eigentlich Der Goldene Topf von E.T.A. Hoffmann?“ Ich verneinte. „Den müssen Sie lesen.“ Wir verabschiedeten uns und noch am nächsten Tag – die Worte gingen mir nicht aus dem Kopf – kaufte ich mir die Reclam-Ausgabe des Textes, die mich fortan auf Spaziergängen begleitete. Die Geschichte des Studenten Anselmus, so weiß ich im Nachhinein, eröffnete mir ein Grundverständnis dafür, dass die Studienzeit auch, um die Worte Jungs zu benutzen, als eine Zeit der Individuation gesehen werden kann:4 „Lassen Sie dem Anselmus doch nur Raum und Zeit, 4 Zu einer jungianischen Deutung der reichen Romansymbolik vgl. A. Jaffé, Bilder und Symbole aus E.T.A. Hoffmanns Märchen ‚Der Goldene Topf‘, Hildesheim 21978.
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wertester Konkretor! Das ist ein kurioses Subjekt, (…).“5 Wenn diese Rückschau ‚romantisch‘ klingt, verfehlt sie ihren Grundton nicht. Bisweilen fühlte man sich in Hermsens Gegenwart wie in seinem eigenen Bildungsroman. Einem Missverständnis muss jedoch vorgebeugt werden: Edmund Hermsen verwechselte durchaus nicht die Rolle des „Führers“ mit der Rolle des akademischen „Lehrers“ – eine Trennung, die Max Weber in seiner Rede über „Wissenschaft als Beruf“ prägnant herausgestellt hat. „Aber nur als Lehrer sind wir auf das Katheder gestellt“, sagte er und fuhr wenig später fort: „Daß Wissenschaft heute ein fachlich betriebener ‚Beruf‘ ist im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge, und nicht eine Heilsgüter und Offenbarung spendende Gnadengabe von Sehern, Propheten oder ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn der Welt –, das freilich ist eine unentrinnbare Gegebenheit unserer historischen Situation, (…).“6 Obgleich dem grundsätzlich zuzustimmen ist – besonders im Hinblick auf Disziplinen wie Theologie oder Religionswissenschaft – sei angemerkt, dass Weber, teils noch einem positivistischen Wissenschaftsideal huldigend, zu unterschlagen scheint, dass alle Erkenntnis persönlich und jede wissenschaftliche Arbeit und Theorie unwillkürlich ein sinnstiftendes Potential entfaltet. Das Besondere an Edmund Hermsen als Lehrer war, dass er mit seinem psychologisch geübten und treffsicheren Blick immer auch sah, welche persönlichen Motive und welche biographischen Konstellationen die wissenschaftliche Fragestellung unterströmten, wie die Lebenslage von Forscher/inne/n mehr oder weniger stark die akademischen Interessen prägte oder gar die Thesen determinierte. So konnte mir der Hinweis auf den Studenten Anselmus dazu dienen, mein eigenes Interesse an den religiösen Motiven der Romantik zu reflektieren; und so konnte Hermsen etwa aufzeigen, auf welche Weise die eigenen Kindheitserfahrungen des in einem katholischen Milieu aufgewachsenen französischen Historikers Philippe Ariès (1914–1984) dessen berühmte Monographie L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime (Paris 1960) beeinflusst haben.7 Die Seriosität, Ernst5 E. T. A. Hoffmann, Der Goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit, Stuttgart 1999, 45. 6 M. Weber, „Wissenschaft als Beruf“ (1919), in: H. Baier; M. R. Lepsius; W. J. Mommsen; W. Schluchter; J. Winckelmann (Hg.), Max Weber Gesamtausgabe. Abteilung I. Schriften und Reden. Band 17, Tübingen 1992, 71–111, 101, 105. 7 Der autobiographische Hintergrund dieses Klassikers der Kindheitsforschung wird ausführlich analysiert in: E. Hermsen, „Ariès’ ‚Geschichte der Kindheit’ in ihrer mentalitätsgeschichtlichen und psychohistorischen Problematik“, in: L. Janus; F.
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haftigkeit und Genauigkeit, mit der Hermsen forschte, entsprang einer außerordentlichen Selbstreflexivität – oder, um Webers Worte nochmals aufzugreifen: der kritischen Selbstbesinnung. Der Inhalt von Hermsens wissenschaftlicher Arbeit wurde nicht primär von Gesichtspunkten bestimmt, die abseits seiner persönlichen Entwicklung lagen; vielmehr war ihm bewusst, dass er seine Themen in der Auseinandersetzung mit für ihn lebensbestimmenden Erfahrungen fand: Einen Schwerpunkt seiner Forschung bildeten Tod und Jenseits – der Tod seiner Großmutter war ein Schlüsselerlebnis seiner Kindheit und der Tod seines eigenen Kindes konfrontierte ihn wiederum ganz persönlich mit diesem Thema. Das Jenseits hat er nicht bloß im gewohnten Sinne religiöser Transzendenz verstanden, sondern er bezog das Jenseits des Bewussten und unserer vordergründigen Erfahrungen ein; so beschäftigte er sich mit den alternativen Weltsichten der Hippie-Bewegung oder den Utopien und Dystopien des Science Fiction und arbeitete sich gründlich – systematisch wie historisch – in die Psychoanalyse ein. In Anbetracht solcher Werke wie der psychoanalytischen Erkenntniskritik eines Devereux, From Anxiety to Method (1967)8, oder des Sammelbandes Writing Culture (1986)9, der den vorläufigen Höhepunkt der Repräsentationskrise in der Ethnographie markierte, wäre es methodologisch naiv, wollte man postulieren, die wissenschaftliche Arbeit sei völlig losgelöst von der Biographie des/der Forschenden und kulturelle, machtpolitische oder wissenschaftsstrategische Motive spielten keine Rolle im akademischen Betrieb. Die in diesem Sinne moderne Interpretation der akademischen Lehrerrolle durch Hermsen und die für ihn charakteristische Sensibilität für den inneren Zusammenhang zwischen Forscher/in und Forschung mögen dieses ungewöhnlich persönliche Vorwort zu einem wissenschaftlichen Band legitimieren.
Nyssen (Hg.), Psychogenetische Geschichte der Kindheit. Beiträge zur Psychohistorie der Eltern-Kind-Beziehung, Gießen 22002, 127–158, dort 135–145. 8 Vgl. G. Devereux, From Anxiety to Method in the Behavioral Sciences, The Hague u.a. 1967. Die deutsche Übersetzung erschien 1976 in Frankfurt a. M. unter dem Titel: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Zu Devereux vgl. auch die Hinweise bei: E. Hermsen, „‚Angst im Abendland’. Apokalyptische Vorstellungen der frühen Neuzeit. Ein psychohistorischer Beitrag zur europäischen Religionsgeschichte“, in: F. Nyssen; P. Jüngst (Hg.), Kritik der Psychohistorie. Anspruch und Grenzen eines psychologistischen Paradigmas, Gießen 2003, 263–288, dort 273–274; sowie: E. Hermsen, Faktor Religion…, 228. 9 Vgl. J. Clifford; G,. E. Marcus (Hg.), Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley 1986.
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Lassen Sie mich ein zweites Beispiel anführen, das dem ersten ähnelt und daher auf eine weitere Grundcharakteristik von Edmund Hermsens Lehrstil hindeutet. Nach einer anregenden Seminarsitzung suchte ich das Gespräch mit ihm. Ich ärgerte mich darüber, dass in der zeitgenössischen Religionswissenschaft zwar wiederholt betont wird, dass Religionen wie z.B. ‚das‘ Christentum keine monolithischen Blöcke seien, sondern heterogene soziale Phänomene, dass daraus aber – so mein damaliger Eindruck – keine radikale Konsequenz gezogen werde: Warum nicht die/den Einzelne/n zum Gegenstand religionswissenschaftlicher Analysen machen und sich darum bemühen, das nicht selten idiosynkratische religiöse Weltbild von Individuen und deren Handeln zu rekonstruieren? Ich war der Meinung, dass eine seriöse Religionsforschung, die das Ziel hat, etwas über reale Religion(en) auszusagen, nur auf der Basis einer vergleichenden Analyse vieler Einzelfälle gelingen könne. Hermsen hörte sich meine Argumente ruhig an, stellte hin und wieder eine Frage, nickte gelegentlich und sagte dann schließlich: „Lesen Sie doch mal Der Käse und die Würmer von Carlo Ginzburg“ und fügte noch ein paar erklärende Worte zur Mikrogeschichte an.10 Wieder ein wohlüberlegter Literaturtipp. Wieder kein kritischer Diskurs, in dem es darum ging, was er über meine Ideen dachte, sondern vielmehr ein Gespräch, in dem er viel zuhörte und zu ergründen versuchte, wohin ich wollte und was mich auf meinem akademischen Weg unterstützen könnte. Hermsen war kein Lehrer, der zu überzeugen beabsichtigte, eine Schule gründen wollte oder gar seinen Student/inn/en seine Meinung aufoktroyierte – obwohl er, das wurde immer wieder klar, eine klare Position vertrat. Zu seinem Seminar „Aspekte der Mythenforschung“, das er im SS 1995 in Marburg anbot, kommentierte Hermsen im Vorlesungsverzeichnis: „Zielvorstellung ist die Erarbeitung einer eigenen Position in der theoretischen Umgangsweise mit Mythen sowie die Anwendung in eigenen wissenschaftlichen Arbeiten.“11 Ein bemerkenswerter Satz. Es mag sein, dass das, was er im Hinblick auf den Marburger Religionshistoriker Hans-Jürgen Greschat festhielt, nämlich dass dieser Carl Rogers humanistische Psychologie als Lehr- und Forschungsmethode für sich entdeckt habe,12 auch auf ihn 10 C. Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Berlin 31996. 11 Vgl. den Eintrag zum SS 1995 im Archivordner der Lehrveranstaltungen der Marburger Religionswissenschaft unter: http://www.uni-marburg.de/fb03/ivk/religionswissenschaft/studium/archiv/ss95 (letzter Zugriff 16.01.2010). 12 Vgl. E. Hermsen, „Carl Rogers in Haight-Ashbury. Die Begegnung der religiösen Gegenkultur der Hippies mit der dritten Kraft der Psychotherapie”, in: R. Mahlke;
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selbst zutraf: Hermsen, der sich offenbar das Therapeuten-Ideal (Echtheit, Akzeptanz, Empathie) von Carl Rogers auf eine Weise zu eigen gemacht hatte, dass es zu einer auch auf andere Lebens- und Arbeitsbereiche positiv abstrahlenden Grundhaltung wurde, bemühte sich um eine personenzentrierte und nicht-direktive Hochschullehre, die stets zum Ziel hatte, die „verantwortliche Selbstlenkung“13 der Student/inn/en zu ermöglichen und zu fördern. Damit entzog sich Hermsen bis zu einem gewissen Grad auch dem akademischen Spiel („academic game“), gegen das sich schon Rogers in seiner Rede anlässlich des Zukunftskongresses „A.D. 2000“ in Haight-Ashbury mit den Worten wehrte: „[W]e talk to you, then you ask us the questions and we give you the answers (…) I don’t like it.“14 Eigenverantwortliches wissenschaftliches Arbeiten und (selbst)kritisches Denken waren nicht nur ausdrücklich erwünscht, sondern der Richtungspunkt von Hermsens hochschulpädagogischer Philosophie. In Hermsens Schriften gibt es ein wiederkehrendes Thema, bei dem er seinem verehrten Lehrer, Erik Hornung, behutsam, aber doch deutlich widersprach: Es geht um die Frage, ob die ägyptische Jenseitsvorstellung adäquat mit dem Begriff des Unbewussten gefasst werden könne. Während Hornung in seinem Artikel „Die Entdeckung des Unbewußten in Altägypten“ eine konzeptionelle Gleichsetzung durchaus nahe legt,15 vertrat Hermsen die Ansicht, dass zwar „bei der Rekonstruktion früherer Weltentwürfe und Weltmodelle die Kategorie des Unbewußten nicht vernachlässigt werden“16 dürfe, dass aber deshalb „die Entdeckung des Unbewußten nicht gleich dem früheren Mittleren Reich Altägyptens zugeschrieben werden“17 sollte. Vielmehr, so Hermsen, gäbe es „unüberschaubar viele kulturelle und unzählige individuelle Varianten des Unbewußten“, denn dass Unbewusste müsse, wenn man Freuds Theorie ernst nehme, vorhanden sein, „seitdem es bewußtes menschliches R. Pitzer-Reyl; J. Süss (Hg.), Living Faith. Lebendige Religiöse Wirklichkeit. Festschrift für Hans-Jürgen Greschat, Frankfurt am Main u.a. 1997, 307–329, 307. 13 Die Selbstlenkung oder Aktualisierungstendenz ist ein Grundprinzip der Gesprächspsychotherapie: C. Rogers, Das klientzentrierte Gespräch, München 1972, 71. 14 C. Rogers zitiert nach: E. Hermsen, „Carl Rogers in Haight-Ashbury …“, 326 Fußnote 81. 15 Vgl. E. Hornung, „Die Entdeckung des Unbewußten in Altägypten“, in: Gorgo 9, 1985, 57–68. 16 E. Hermsen, „Weltbilder entstehen im Kopf. Weltbildkonstruktion in der altägyptischen Religion nach Cassirer, Dux und Brunner-Traut“, in: D. Zeller (Hg.), Religion im Wandel der Kosmologien, Frankfurt a.M. u.a. 1999, 135–149, 136. 17 E. Hermsen, „Weltbilder entstehen im Kopf …“, 136 Fußnote 7.
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Leben gibt“.18 Man könnte bereits an dieser Stelle eine Brücke schlagen zur psychohistorischen Kindheitsforschung und zu Hermsens Skepsis gegenüber der prominenten These von Ariès, der von einer „Entdeckung der Kindheit“ ausging.19 Indes möchte ich zunächst auf den Lehrer-Schüler-Dialog eingehen, der diesen Band eröffnet. Edmund Hermsens Beitrag ist eine rezeptionsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Mythos Ägypten. Er zeigt, dass die europäische Tradition der Ägypten-Rezeption auf zwei unterschiedlichen Ägyptenbildern beruht – nämlich auf einem positiven hellenistischen einerseits und einem negativen israelitischen andererseits – und dass diese Ambivalenz bis heute die Perspektive bestimmt, mit der europäische Forscher/innen die ägyptische Religionsgeschichte untersuchen. Hermsen schreibt: „Das negative Ägyptenbild mit seinen Erscheinungen von Idolatrie, Tierkult, Magie und Aberglaube bezog man auf die ägyptische Volksreligion, das positive auf die Religion der Eingeweihten, die man sich als einen esoterischen oder ursprünglichen Monotheismus dachte.“ An dieser Aussage zeigt sich zweierlei: Zum einen klingt an, dass der künstlich als ‚Magie‘ ausgesonderte Aspekt der rituellen Praxis durchaus als integraler Bestandteil der ägyptischen Religion angesehen werden könnte. Zum anderen streift Hermsen hier ein komplexes Thema: Die Konstruktion einer Dichotomie zwischen ‚Magie‘ und ‚Religion‘, die sich im Wissenschaftsdiskurs bekanntermaßen in zahlreichen kontroversen Debatten niedergeschlagen hat. Obgleich Bernd-Christian Otto, ein ehemaliger Heidelberger Student von Edmund Hermsen, das bislang unveröffentlichte Manuskript von Hermsen bei der Abfassung seines Beitrags nicht kannte, kann sein Text, so man will, auch als Weiterentwicklung der von Hermsen nur beiläufig gestreiften Problematik gelesen werden. Auch wenn die ursprünglich polemische Gegenüberstellung von ‚Magie‘ und ‚Religion‘– die auch als Aspekt der von Hermsen herausgearbeiteten historischen Ambivalenz von Ägyptenbildern gesehen werden kann – inzwischen hinterfragt wird, möchte Otto noch einen Schritt weiter gehen und bei der Analyse altägyptischen Quellenmaterials ganz auf einen substanziellen Magiebegriff verzichten. Seine Rekonstruktion des ägyptologischen Magiediskurses gipfelt daher in einer Dekonstruktion: Tatsäch18 E. Hermsen, „Tod als Geburt. Das altägyptische Jenseits, das Unbewußte und der Flammensee“, in: International Journal of Prenatal and Perinatal Psychology and Medicine 8, 1996, 243–258, 248. 19 So betont es die deutsche Übersetzung bzw. Modifikation des französischen Originaltitels: P. Ariès, Die Entdeckung der Kindheit, München, Wien 21976.
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lich gebe es keine ‚altägyptische Magie‘; als Gedankenfigur trete diese ausschließlich als Artefakt der späteren, nachpharaonischen Rezeptionsgeschichte Ägyptens in Erscheinung – zu der also auch Ägyptolog/inn/en des 19. und 20. Jahrhunderts zu zählen seien.20 Die vorliegende Gedenkschrift, obzwar von Heidelberger Schülerinnen und Schülern initiiert, repräsentiert keine Schulrichtung. Das breite Spektrum von Beiträgen zu diesem Band, die aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven (Religionswissenschaft, Psychohistorie, Medizingeschichte, Kunstgeschichte) verfasst worden sind, vermitteln einen lebhaften Eindruck von der Vielfältigkeit Hermsens und führen vor Augen, wie verbindend und innovativ seine transdiziplinäre Arbeit war. Folglich ist es auch nicht leicht, die hier gesammelten Texte auf einen Begriff zu bringen bzw. den gemeinsamen Nenner von Hermsens Schriften zu finden.21 Am ehesten eignet sich dafür wahrscheinlich das interdisziplinäre und teils recht heterogene Projekt der Historischen Anthropologie. Geburt, Kindheit, Jugend, Tod, Jenseits – das waren Themen, die Hermsen in seinem Werk abzudecken vermochte und die, zumindest großenteils, ihren Niederschlag in der Gedenkschrift gefunden haben. Hermsen lehnte sich immer wieder an die Grundideen und das methodische Inventar Historischer Anthropologien an, schien sich aber nicht als Vertreter einer bestimmten Schulrichtung zu verstehen. So griff Hermsen in seiner Habilitationsschrift zwar mehrfach auf Werke Richard van Dülmens oder August Nitschkes zurück, verwendete diese aber eher als Zulieferquellen für die Rekonstruktion geschichtlicher Epochen, sprich: Er zitierte van Dülmen und Nitschke nicht als Theoretiker – ihre eher programmatischen Werke blei-
20 Auch E. Hermsen (Lebensbaumsymbolik …, 3) war sich der Problematik bewusst, dass bestimmte metasprachliche Begriffe nur schwer oder gar nicht auf das religionsgeschichtliche Material Altägyptens anwendbar sind. So stellte er zu Beginn seiner Magisterarbeit nicht nur heraus, dass „in Ägypten die direkte Bezeichnung ‚Lebensbaum’ nicht existiert“, sondern wies mit Rekurs auf C. J. Bleeker („Einige Bemerkungen zur religiösen Terminologie der alten Ägypter“, in: C. J. Bleeker, The Rainbow. A Collection of Studies in the Science of Religion, Leiden 1975, 76–90) darauf hin, dass es auch keine Belege für den Gebrauch von Wörtern wie ‚Religion’, ‚Frömmigkeit‘ oder ‚Glaube‘ gebe. Hermsen versuchte diesem Dilemma mit Hilfe einer Symboltheorie zu begegnen. 21 Ein Verzeichnis der Schriften befindet sich am Ende der postum publizierten Monographie: E. Hermsen, Faktor Religion …, 233–235.
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ben unerwähnt22 – sondern als Historiker. Wenn man den historisch-anthropologischen Ansatz Hermsens verorten will, so muss seine kritische Auseinandersetzung mit der Annales-Schule sowie mit der Arbeitsweise der nouvelle histoire in den Vordergrund gerückt werden:23 Hermsen verwies bspw. auf den einflussreichen Beitrag des französischen Historikers André Burguière sowie auf einen Aufsatz von Aaron J. Gurjewitsch,24 einem russischen Mediävisten, der auf die französische Schule von Lucien Febvre und Marc Bloch rekurriert und folglich eine „vordringliche Aufgabe der historischen Anthropologie“ darin sieht, „Weltanschauungen verschiedener Epochen und Kulturen zu erschließen.“25 Gurjewitsch, der eine „psychosoziologische Perspektive“26 einnehmen will, räumt auch dem Faktor Religion eine bedeutsame Rolle ein: In seinem Entwurf einer Historischen Anthropologie sollen u.a. auch „die Deutung der Stellung des Menschen im Kosmos“ oder „das Verhältnis zwischen Diesseits und Jenseits“ thematisiert werden27 – wobei es explizit nicht nur um die religiösen Vorstellungen der intellektuellen Elite gehen sollte, sondern auch um die „Eigentümlichkeiten der Volksreligiosität“28. Dieser eher an der 22 Weder verwies Hermsen auf die klassische Einführung von R. van Dülmen (Historische Anthropologie. Entwicklung – Probleme – Aufgaben, Köln u.a. 22001) noch rekurrierte er auf jene Werke Nitzschkes, in denen dieser die Historische Anthropologie mit den Naturwissenschaften ins Gespräch brachte und als eine Historische Verhaltensforschung modellierte. Zu nennen wäre hier bspw.: A. Nitschke, Historische Verhaltenforschung. Analysen gesellschaftlicher Verhaltensweisen. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 1981. 23 Mit dieser Richtung der Geschichtswissenschaft beschäftigte er sich z.B. in: E. Hermsen, „Ariès’ ‚Geschichte der Kindheit‘ …“, 129–134; E. Hermsen, Faktor Religion …, 19–22, 70, 231. Die Bedeutung der École des Annales für die Religionswissenschaft erläuterte er in einem Vortrag, den er 1995 auf der XXII. Tagung der DVRG in Bonn hielt: E. Hermsen, „Perspektiven zum Verstehen der altägyptischen Religion“, in: Discussions in Egyptology 34, 1996, 5–16, dort 8–10. 24 E. Hermsen (Faktor Religion…, 9 Fußnote 36) nennt: A. Burguière, „Historische Anthropologie“, in: J. Le Goff; R. Chartier; J. Revel (Hg.), Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt am Main 1994, 62–102; und: A. J. Gurjewitsch, „Die historische Anthropologie. Probleme der Sozial- und Kulturgeschichte“, in: A. J. Gurjewitsch, Stimmen des Mittelalters. Fragen von heute. Mentalitäten im Dialog, Frankfurt a.M., New York 1993, 7–40. 25 A. J. Gurjewitsch, „Die historische Anthropologie …“, 8. 26 A. J. Gurjewitsch, „Die historische Anthropologie …“, 32. 27 A. J. Gurjewitsch, „Die historische Anthropologie …“, 33–34. 28 A. J. Gurjewitsch, „Die historische Anthropologie …“, 35. Dabei ist zu bedenken, dass gerade in der Mediävistik eine erhöhte Sensibilität für die gesellschaftsprägende Kraft religiöser Weltbilder besteht. In einer vielleicht etwas zu verabsolutierenden Formulierung hat darauf auch G. Dressel (Historische Anthropologie.
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Mentalitätsgeschichte orientierte Ansatz, der sich besonders auch der Rekonstruktion und dem Vergleich (religiös geprägter) Welt- und Menschenbilder widmet, war auch für Hermsen kennzeichnend. Er selbst verstand sich primär als historisch arbeitender Religionswissenschaftler, der kreativ auf Methoden und Konzepte anderer Disziplinen zurückgriff, um religiöse Kosmologien und Erfahrungen im Wechselspiel und im soziokulturellen und (psycho)historischen Kontext rekonstruieren zu können. Kurz: Hermsen hat versucht, die Projekte von Burkhard Gladigow29, Peter Dinzelbacher30 und Benjamin BeitHallahmi31 zusammen zu denken – er wollte die europäische Religionsgeschichte unter mentalitätsgeschichtlichen bzw. psychohistorischen Gesichtspunkten aufarbeiten. Kindheit war insofern ein Schlüsselthema für Hermsen, als er davon ausging, dass sich an dieser lebensgeschichtlichen Schnittstelle das Grundproblem einer historisch-anthropologisch orientierten Religionsforschung am effektivsten lösen ließe: Der fragliche Zusammenhang von Mikroebene (persönlich erlebter und aktiv gestalteter Religiosität) und Makroebene (tradierte und institutionell verankerte Glaubensinhalte und -praktiken). „Die besondere Bedeutung der Kindheit liegt also in der Tatsache begründet“, argumentierte Hermsen, „daß in einem frühen und abhängigen Stadium des menschlichen Lebens die Überlieferung und Entwicklung aller Merkmale der Kultur und damit auch der spezifischen Religion des jeweiligen Kulturraumes erfolgen muß.“32 Neben die individualpsychologische Perspektive stellte Hermsen Eine Einführung, Wien u.a. 1996, 114) in Anschlauss an J. Le Goff hingewiesen: „Gerade im abendländischen Mittelalter scheint es keine Vorstellungen über Welt, Wirklichkeit und Leben außerhalb eines von der christlichen Religion geprägten Weltbildes gegeben zu haben.“ Demgemäß bestimmt er Religion bzw. Religiosität als ein wichtiges Themenfeld historisch-anthropologischer Forschung, wobei er auch auf die problematische Dichotomie zwischen Religion und Magie zu sprechen kommt sowie auf C. Ginzburgs Rekonstruktion der religiösen Weltauffassung eines norditalienischen Müllers (vgl. G. Dressel, Historische Anthropologie …, 114–116). 29 Programmatisch: B. Gladigow, „Europäische Religionsgeschichte“, in: H. G. Kippenberg; B. Luchesi (Hg.), Lokale Religionsgeschichte, Marburg 1995, 21–42. 30 P. Dinzelbacher (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993. 31 B. Beit-Hallahmi, „Psychology of Religion – what do we know?”, in: Archiv für Religionspsychologie 14, 1980, 228–236. 32 Kommentar zu seinem Seminar „Kindheitsgeschichte als neuer Forschungsbereich in der Religionswissenschaft“ (Heidelberg, WS 2003/2004). Online verfügbar unter: http://www.zegk.uni-heidelberg.de/religionswissenschaft/studium/kvv/kvv2003-ws.pdf (letzter Zugriff am 16.01.2011).
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deshalb die europäische Mentalitätsgeschichte, wissend, dass es zunächst darum gehen muss, die religiöse Mentalität und die spezifischen Sozialisationspraktiken einer Epoche zu erforschen, um auf dieser Grundlage individualreligiöse Ausdrucksformen verstehen und einordnen zu können.33 In dieser Hinsicht arbeitete Hermsen auch in seiner Habilitationsschrift nicht nur ein Desiderat der Kindheitsgeschichte auf, nämlich den darin oft fehlenden „Faktor Religion“, sondern stellte – aus umgekehrter Sicht – der Religionswissenschaft ein übergreifendes Strukturmodell zur Analyse individueller Religiosität im kultur- und psychohistorischen Kontext bereit. Hermsen hat einen Rahmen geschaffen. Es wird die Aufgabe zukünftiger Forscher/innen sein, den „Käse und die Würmer“ beizusteuern. Der Hinweis auf die Autobiographie des Basler Arztes Felix Platter (1536–1614) ist eine der Stellen, an der Hermsen die mentalitätsgeschichtliche Makroperspektive verlässt und exemplarisch das Leben und die psychohistorische Bedeutung eines Individuums herausstellt. Der Medizinhistoriker Tilmann Walter, der auf Edmund Hermsens persönlichen Wunsch hin dessen letztes Buch für die Drucklegung bearbeitet hat, untersucht in seinem Beitrag die Sozialisation Platters en detail. Indem er autobiographische Äußerungen Platters nicht umstandslos als Zeugnisse authentischer Erlebnisse versteht, sondern auch und vor allem als „literarische Ausdrucksformen gesuchter Selbstdarstellung, Selbsterforschung oder seelischer Selbstformung“, gelingt es Walter, eine Brücke zwischen dem berichteten individuellen Erleben eines historischen Akteurs und den größeren familiären, gesellschaftlichen und mentalitätshistorischen Zusammenhängen zu schlagen, in denen diese Aufzeichnungen entstanden sind und auf deren Basis ein Verstehen erst möglich wird. Eine Anregung Edmund Hermsens aufgreifend, bindet Walter seine Darstellung an Erik H. Eriksons Konzept des „Lebenszyklus“ als heuristisches Hilfsmittel zurück und diskutiert wichtige Lebensabschnitte Platters (Kindheit, Reifung, Ehe, beruflicher Erfolg, Ruhm und Nachruhm) im Lichte dieser Theorie.
33 So versuchte Hermsen z.B. die Position Eugen Drewermanns aus einem größeren religions- und psychohistorischen Kontext (Transpersonale Psychologie, analytische Psychologie, Hermann Hesse und Hippie-Bewegung) heraus zu verstehen: E. Hermsen, „Ein Paradigmenwechsel in der katholischen Kirche oder: Hat Drewermann zuviel Hermann Hesse gelesen?“, in: T. Schweer (Hg.), Drewermann und die Folgen. Vom Kleriker zum Ketzer? Stationen eines Konflikts, München 31992, 216–230.
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Auch die Beiträge von Ralph Frenken und Florian Jeserich knüpfen an Edmund Hermsens kindheitsgeschichtliche Überlegungen an. Frenken ist, wie auch Hermsen es war, sowohl wissenschaftlich als auch psychotherapeutisch tätig. Ariès’ umstrittene These von der „Entdeckung der Kindheit“ kritisiert Frenken aus psychologischer Sicht. Dazu stellt er dem von Hermsen aufgezeigten psychobiographischen Hintergrund dieser berühmten Zentralthese den Nachweis von methodologischen, semantischen und argumentativen Schwachstellen des Ariès’schen Entwurfs zur Seite. Der Autor greift auf aktuelle wahrnehmungspsychologische Theorien zurück, um die Plausibilität der Behauptung zu erschüttern, dass Erwachsene im Mittelalter die Kinder anders ,gesehen’ hätten. Darüber hinaus weist Frenken sowohl die unreflektierte Verwendung der Begriffe ,Entdeckung‘ und ,Kindheit‘ zurück, als auch jene Argumente Ariès’, die er auf der Grundlage seiner Interpretation von historischen Kinderporträts vorgebracht hat. Florian Jeserich, der in Heidelberg Religionswissenschaft studierte, greift eine implizite Aufforderung auf, die Hermsen in seiner Habilitationsschrift formulierte: „Die Geschichte der Kindheit im Rahmen der Religionswissenschaft zu erforschen, schließt hier den Anspruch mit ein, idealiter ein derartiges Projekt in allen Religionen durchzuführen.“ Während Hermsen besonders den starken Einfluss christlich geprägter Vorstellungskomplexe auf die Kindheiten und pädagogischen Praktiken in der europäischen Religions- und Mentalitätsgeschichte herausarbeitete, rekonstruiert Jeserich die von einer metaphysischen Anthropologie geprägten Kindheits- und Erziehungsvorstellungen der Neuengländerin Mary Baker Eddy (1821–1910), die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Religionsgemeinschaft Christian Science (Christliche Wissenschaft) gründete. Dabei versucht er zum einen, ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass diese Thematik häufig durch den vor allem in den USA geführten Sektendiskurs verzerrt wird; zum anderen stellt er Eddys Aussagen in den Kontext amerikanischer Debatten über die familiäre und schulische Erziehung ihrer Zeit. Schon früh inspiriert von der Bildsprache der altägyptischen Religion, die bereits Thema der Magisterarbeit war und der er seinen letzten Vortrag am C.G. Jung Institut widmete, beschäftigte sich Edmund Hermsen zeitlebens mit der medialen Vermittlung von Religion(en). Das illustrieren nicht nur seine Lehrveranstaltungen zum Internet als einer religionsgeschichtlichen Quelle (Marburg, WS 1996/1997) oder zum Thema „Religionen im Film“ (Heidelberg, WS 2001/2002), seine Artikel im Metzler Lexikon Religion, das der visuellen Seite von Religion besondere Aufmerksamkeit schenkt, sondern
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auch seine theoretischen Reflexionen. Als Höhepunkt seiner diesbezüglichen Überlegungen kann seine Kritik am Modell der Religionsästhetik angesehen werden, durch die Hermsen „zu einer zeichentheoretischen Begründung der Religionswissenschaft“ beitragen wollte.34 Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass neben Frenkens Arbeit, in der die historische Beweiskraft ikonographischer Darstellungen für die Kindheitsforschung zur Debatte gestellt wird, auch zwei kunsthistorische Studien Aufnahme in die Gedenkschrift gefunden haben. Frauke Laarmann-Westdijk, die u.a. Religionswissenschaft bei Edmund Hermsen in Marburg studierte, analysiert in ihrem Beitrag ein „vermeintlich unsittliches Familienporträt“ des niederländischen Malers Ferdinand Bol (1616–1680). Zwar werden auch für die Kindheitsgeschichte relevante Sachverhalte erörtert, etwa die Frage, ob der porträtierte Knabe als ein realer Sohn des abgebildeten Ehepaars zu betrachten oder aber eine Cupido-Darstellung sei. Ausgangspunkt der Diskussion ist aber der Umstand, dass Bol die Frau mit entblößter Brust porträtierte, was „nicht zum sittlichen Dekorum der gottesfürchtigen holländischen Hausfrau“ zu passen scheint. Ist Bols Gemälde also gemäß calvinistischen Moralvorstellungen als unsittlich einzustufen und ein Exemplum für schlechten Geschmack? Auf der Grundlage einer Fülle von zeitgeschichtlichen, kunsthistorischen und mythisch-religiösen Bezügen verneint die Autorin diese Frage und zeigt, wie inadäquat ein Urteil bleibt, das auf einer ahistorischen Konzeption von Ästhetik beruht. Im Mittelpunkt des Beitrags von Joseph B. Dallett (Ithaca, New York), der Edmund Hermsen mehrfach begegnet ist, steht eine Text-Bild-Komposition aus dem 17. Jahrhundert: Eine Koproduktion von David de la Vigne und Romeyn de Hooghe (1645–1708). Dabei sind im Kontext des vorliegenden Bandes nicht nur die möglichen mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhänge interessant,35 die aus einem Vergleich des Werkes von Ferdinand Bol und dem seines Zeitgenossen, des niederländischen Kupferstechers de Hooghe erwachsen könnten, sondern auch die indirekten Bezüge zu Hermsens Forschungsgebiet: Während Hermsen in seiner Dissertation die Jenseitstopographie des 34 Vgl. E. Hermsen, „Religiöse Zeichensysteme im Spannungsfeld anikonischer und ikonischer Darstellung. Neue Perspektiven zu einer zeichentheoretischen Begründung der Religionswissenschaft“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 55, 2003, 97–120. 35 Beide Künstler wirkten im sog. Goldenen Zeitalter (de gouden eeuw) der niederländischen Geschichte, das sich u.a. durch eine bislang ungekannte Blüte von Kunst und Kultur auszeichnete.
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altägyptischen Zweiwegebuches analysierte – also auch eine komplementäre Bild-Text-Komposition, die „vielfältige Fragen sowohl ikonographischer als auch textlicher Natur“36 aufwirft –, beschäftigt sich Dallett mit einem christlich-europäischen Buch über die Kunst des Sterbens: Miroir de la bonne mort (wahrscheinlich Amsterdam 1673). Der Autor geht in seinem Beitrag der Frage nach, welche Rolle de la Vigne und de Hooghe Johannes dem Evangelisten in einer ihrer Text-Bild-Serien (Bilder 6 bis 12) zuerkennen, wobei er das im Bildhintergrund befindliche Abendmahlgemälde in den Fokus seiner Betrachtung rückt und durch die Dialektik von Bildvordergrund (Krankenbett- bzw. Sterbeszene), Bildhintergrund (Abendmahlgemälde) und Text zur Beschreibung eines erstaunlichen Entwicklungsprozesses gelangt: Johannes wird schließlich zum ‚Sekretär’ ernannt, nimmt Jesu Testament auf und dient somit als Vorbild für den Sterbenden, der in strukturelle Analogie zu Jesus gesetzt wird und dazu ermuntert werden soll, ebenfalls seinen letzten Willen zu Protokoll zu geben und sich schlussendlich von seinen materiellen Besitztümern zu lösen. Was macht einen ‚guten Tod‘ aus? Dieser Frage geht auch der Heidelberger Religionswissenschaftler Martin Zwiesele nach. Allerdings wirft er weder einen Blick in das altägyptische Zweiwegebuch noch beschäftigt er sich mit der ars moriendi; vielmehr wendet er sich einem anderen Genre zu: der rezenten Fantasy-Literatur. So, wie Hermsen es als eine möglicherweise fruchtbare Arbeitshypothese ansah, „das ägyptische Jenseits als eine grandiose Projektionsfläche des Unbewußten“37 zu konzeptionalisieren, und so, wie er der modernen Science Fiction-Literatur implizit ein ähnliches Potential zuschrieb,38 so betrachtet auch Zwiesele Terry Pratchetts Scheibenwelt als eine „Gegenwelt“ (Fritz Stolz), in der sich menschliche Phantasien, Hoffnungen und Ängste in einem humoristischen Spiegel zeigen und existenzielle Topoi verhandelt und (neu) strukturiert werden können. Im Vordergrund aber steht der personifizierte Tod (TOD), den der Autor als „Gegenfigur“ bezeichnet, und dessen Ausgestaltung und Reifeprozess uns vor allem eines erkennen lassen: den unschätzbaren Wert und die Bedeutsamkeit eines menschlichen Lebens. Allen Autorinnen und Autoren, die zu diesem Band beigetragen haben, möchte ich meinen tiefen Dank für ihr großes Engagement und ihre fast 36 E. Hermsen, Die zwei Wege des Jenseits …, 5. 37 E. Hermsen, „Tod als Geburt …“, 248. 38 In diesem Zusammenhang verweist E. Hermsen („Regressus ad uterum …“, 362– 363) auf Stanisław Lems Roman Fiasko.
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unerschöpfliche Geduld aussprechen. Herrn Prof. Dr. theol. Dr. phil. Peter Antes (Leibniz-Universität Hannover) sind Herausgeber und Autoren für Ermunterung und Förderung dankbar, die er dem Projekt besonders in dessen Abschlussphase zuteil werden ließ. Bei der Konzeption und Umsetzung der Gedenkschrift wurde ich tatkräftig von ehemaligen Heidelberger Kommiliton/inn/en unterstützt: Mein besonderer Dank gilt Jürgen Kaufmann, Carolin Ott und Thorsten Reuter. Hartmut Rudolph war von Beginn an der größte Förderer der Idee – ohne ihn, ohne seinen unermüdlichen Einsatz, ohne seine Bedachtsamkeit und Überzeugungskraft hätte dieses Buch nie erscheinen können.
Ägypten als Mythos Die Ägypten-Rezeption in der europäischen Tradition Edmund Hermsen
Ägypten ist von Anfang an im kulturellen Gedächtnis Europas präsent gewesen und bildet einen Teil des abendländischen Selbstverständnisses. Die europäische Identität beruht auf den zwei spannungsreichen religiösen und kulturellen Fundamenten von Griechenland und Israel. Beide Kulturen entwickelten in der Auseinandersetzung mit Ägypten jeweils eigene und entgegengesetzte Ägyptenbilder, die sowohl für das hellenistische als auch für das israelitische Selbstverständnis von zentraler Bedeutung geworden sind. Diese gegensätzliche Ägyptenrezeption hat in das europäische Geschichtsbewußtsein Einzug gehalten und prägt in ihrer Ambivalenz bis heute den Blick auf Ägypten. Während Griechen und Römer Alter und Größe der zivilisatorischen Leistungen Altägyptens bewunderten, kodifizierten die Israeliten im 2. Buch Moses (Exodus) Ägypten als despotischen Fronstaat mit den religiösen Verirrungen der Idolatrie, der Magie und des Totenkultes. So lautet die Verheißung Jahwes aus dem brennenden Dornbusch an Moses: „Ich habe das Elend meines Volkes, das in Ägypten ist, wohl gesehen, und ihr Schreien über ihre Treiber habe ich gehört; ja, ich kenne seine Leiden. Darum bin ich herabgestiegen, um es aus der Gewalt der Ägypter zu befreien und es aus diesem Land herauszuführen, in ein schönes und geräumiges Land, in ein Land, das von Milch und Honig fließt.“ (Exodus 3, 7–8)
Völlig entgegengesetzt klingt die Unterweisung des Hermes Trismegistos an Asklepios im Corpus Hermeticum, einer Sammlung von Schriften aus dem Zeitraum zwischen dem 1. Jh. v.Chr. und dem 4. Jh. n.Chr.: „Oder weißt du nicht, Asklepios, daß Ägypten das Abbild des Himmels ist oder, was der Wahrheit mehr entspricht, daß hierher all das, was es im Himmel an Lenkung und Aktivität gibt, übertragen und herabgeführt wurde? Und
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wenn man es noch richtiger sagen soll, ist unser Land der Tempel der ganzen Welt.“ (Asclepius 24)
Im Anschluß daran folgt eine apokalyptische Vision, die den Untergang der ägyptischen Religion beschwört: „Denn die Götter werden von der Erde zum Himmel zurückkehren, und Ägypten wird verlassen werden, und das Land, das Sitz von Religionen war, wird der Anwesenheit der göttlichen Wesen beraubt und aufgegeben werden. O Ägypten, Ägypten, allein die Erzählungen über deine religiösen Gebräuche werden übrig bleiben, und sie werden deinen Nachkommen unglaubwürdig erscheinen, und allein Worte, in Steine gehauen, die von deinen frommen Taten berichten, werden übrig bleiben.“ (Asclepius 25)
Das ist realhistorisch gesehen genau die Situation, die der europäischen Rezeption Ägyptens zugrundeliegt, welche hier nicht in ihrem gesamten Spektrum, sondern konzentriert auf den religionsgeschichtlichen Transfer skizziert werden soll. Diese Vorgehensweise ist inhaltlich insofern notwendig, als überhaupt die Begegnung Europas mit Ägypten ganz im Gefolge der Religion steht. Das von den Griechen und Römern gerühmte Alter und die Kulturkonstanz des alten Ägypten sind in der Tat beeindruckend: um 3000 v.Chr. betritt nach einer langen Vorgeschichte das pharaonische Ägypten mit der „Reichseinigung“ die Weltbühne und endet nach 30 Dynastien mit dem Tod Kleopatras (VII.) 30 v.Chr. als römische Provinz. Im Verlauf des 4. nachchristlichen Jahrhunderts geriet die Hieroglyphenschrift in Vergessenheit. Die letzte Inschrift aus dem Jahr 394 n.Chr. stammt aus dem Isis-Tempel von Philae bei Assuan, in dem noch bis ins 6. Jahrhundert der Isiskult ausgeübt werden konnte, obwohl ganz Ägypten schon christianisiert war. Erst die Entzifferung der Hieroglyphenschrift durch Champollion (1822) im frühen 19. Jh. überwand den kognitiven Hiatus, der ca. 1500 Jahre lang die altägyptischen Texte unverständlich bleiben ließ. Das hatte für diesen Zeitraum zur Konsequenz, daß die Rezeption Ägyptens nur über die Bibel und die Schriften der Kirchenväter sowie über die Texte der antiken Autoren erfolgen konnte. Ein direkter Zugang zu den sprachlichen Quellen Altägyptens war nicht möglich, weshalb sich die mythologischen Konstrukte Ägyptens in Europa bis zur Geburt einer exakten Ägyptologie hartnäckig behaupten konnten. Was Europa von jeher am meisten fasziniert hat, sind die religiösen Monumente Ägyptens: Pyramiden, Tempel und unterirdische Grabanlagen,
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in denen schon Griechen und Römer ganz wie moderne Touristen ihre Graffiti hinterlassen haben. Der Zivilisationsprozeß der Moderne brachte die „Entzauberung der Welt“ mit sich, ohne transzendenten Rückzugspol sind die Menschen dem „Ungeheuer Welt“ (P. Sloterdijk) ausgeliefert und haben dennoch eine „Sehnsucht nach Sinn“ (P. Berger). In scharfem Kontrast dazu steht die Welt des alten Ägypten: nicht ein demokratischer Individualismus sondern eine Art „Gottmensch“ an der Spitze der Machtpyramide prägt die Gesellschaftsform. Im Gegensatz zur Verweltlichung und Entzauberung der Religion durch die Moderne weist das alte Ägypten ein magisches Weltbild auf, in dem alles miteinander verknüpft und voneinander abhängig ist, und in dem eine Vielzahl von Göttern die Welt durchdringt. Der Sinnbezug erfaßt in Ägypten so gut wie alle Objekte, Gestaltungen und Lebensformen und generiert aus westlich-ästhetischer Perspektive ein „Gesamtkunstwerk“, das bis heute in künstlerischen Produktionen aller Art verarbeitet wird. Somit scheint ein Geheimnis und ein Zauber vom alten Ägypten auszugehen, der bei Ausstellungen und im Tourismus sogar ein Massenpublikum anspricht. Der Rezeptionsprozeß Ägyptens in den Medien, wobei raffiniert auf die Differenz zur Moderne und zur christlichen Religiosität abgezielt wird, verläuft dabei oft über die Stichwörter: „göttergleiche Herrscher“, „tiergestaltige Gottheiten“ und „geheimnisvoller Totenkult“. In der Begegnung Europas mit Ägypten sind grundsätzlich zwei Phasen zu unterscheiden: (a) die Antike, in der die direkte Auseinandersetzung mit einer noch lebenden Kultur stattgefunden hat, und (b) das nachantike Europa, in dem das pharaonische Ägypten als gelebte Kultur bereits untergegangen ist.
Die Antike In der bewundernden Sicht der Griechen ist Ägypten das Land der Wissenschaften, des verborgenen Wissens und der Künste, besonders aber das der Erkenntnis und Verehrung der Götter in geheimnisvollen Kulten. Die unterschiedliche Bewertung von Leben und Tod, von Diesseits und Jenseits und in Verbindung damit der Wunsch nach Unsterblichkeit in Ägypten fielen den Griechen wie den modernen Besuchern des Landes sofort ins Auge. Herodot (484–425 v.Chr.), der um 450 v.Chr. Ägypten besuchte, war von der Größe und dem Alter alles Ägyptischen überwältigt, so daß man bei ihm geradezu von einer Ägyptozentrik sprechen kann. Mit dem zweiten Buch sei-
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ner Historien legte Herodot die erste Ethnographie und Religionsgeschichte Ägyptens vor, die neben eigener Anschauung mithilfe ägyptischer Informanten zustande kam. Ägypten stellt sich für ihn als die „Heimat der Götter“ dar, hier erhielten die Götter zum erstenmal individuelle Namen. Deshalb seien die griechischen Gottheiten nicht nur mit den ägyptischen identisch, sondern leiten sich sogar von ihnen ab. Auch die Kunst des Tempelbaus enstamme dem Nilland. Die Götterverehrung der Ägypter entspreche dem Alter ihrer Zivilisation, die ebenso alt sei wie das Menschengeschlecht. Selbst Platon (um 428–ca. 347 v.Chr.), der gleichfalls Ägypten bereiste, zeigte sich durch die Dauer und Beständigkeit sowie die Gültigkeit der überlieferten Normen der ägyptischen Kultur beeindruckt. Den Fortbestand der Güter dieser Kultur führte Platon auf eine Stiftung des ägyptischen Weisheitsgottes Thot zurück. (Phaidros 274) Die berühmten Ägyptenreisenden der Antike, Herodot, Diodor und Strabo (letztere im 1. Jh. v.Chr.), waren vor allem von dem zu jener Zeit besonders lebendigen Tierkult Ägyptens fasziniert. Da die Griechen und die Römer von der Identität ihrer Göttergestalten mit den ägyptischen überzeugt waren, wirkten die Tiergestalt der ägyptischen Götter und die Verehrung von heiligen Tieren um so befremdlicher auf sie. Noch im 2. Jh. n.Chr. läßt Lukian in seinem Drama Momos einen ägyptischen Gott spöttisch anreden: „Du aber, hundsgesichtiger und in Leinen gekleideter Ägypter, wer bist du eigentlich mein Bester? Wie kommst du Wauwau dazu, ein Gott sein zu wollen?“ (Deorum concilium 10–11). Diese Befremdung über „hundsköpfige Götter“ (Goethe) sollte in Europa noch lange nachwirken. Im 1. Jh. n.Chr. berichtet Plutarch, Priester des Apollo-Heiligtums in Delphi, über die Isis-Osiris-Mysterien, die sich nach einer Änderung des religiösen Bewußtseins über das ganze römische Imperium bis zum germanischen Siedlungsgebiet hin verbreiten sollten. Die Religion der Isis und ihres Kreises trat aus ihren Bindungen an die ägyptische Kultur heraus und fügte sich in die Form der hellenistschen Mysterien ein. Dabei tat die Adaption osirianischer Totenfeiern in das Mysterienfest der Lebenden dem dahinterstehenden Jenseitsglauben keinen Abbruch, hatte doch gerade der Glaube an eine heilvolle Weiterexistenz nach dem Tod den Griechen und Römern gefehlt. Isis in ihrer gräkoägyptischen Gestalt trägt universalistische Züge und offenbart sich in ihren Aretalogien als allumfassende Gottheit, die alle anderen Gottheiten in sich vereint. Zudem wird Isis bei den antiken Autoren zu einer Erdgöttin und zu einer Verkörperung der Natur und sollte als Alma
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Mater Isis in Europa nach dem Ende ihrer kultischen Verehrung noch eine große Rolle spielen. War die Religion Ägyptens besonders durch die Isis- und Osiris-Mysterien in der europäischen Antike überaus mächtig gewesen, so bleiben es die ägyptische Magie und Hermetik im nachantiken Europa. Die Hermetik ist eine auf die Gestalt des ägyptischen Gottes Thot als Hermes Trismegistos zurückgeführte Geheimlehre, die im schon angeführten Corpus Hermeticum als Textsammlung vorliegt. In der Spätantike gab es in vielen ägyptischen Tempeln hermetisch orientierte Kreise, die auch die alte Verehrung des Imhotep (als Asklepios) weiterführten. Der Hermetismus als Religion fiel als Offenbarungsglaube zwar aus der Struktur ägyptischer Religion heraus, aber es kann inzwischen als sicher gelten, daß bedeutende Elemente dieser Religion der Hermetik zugrunde liegen. Thot als Hermes Trismegistos wird in den hermetischen Schriften als Herr der höheren Wissenschaften, auch als der Meister von Alchemie, Astrologie, Magie und Medizin bezeichnet. Insofern umfaßt die Hermetik außer der altägyptischen Weisheit jegliche Art der Geheimwissenschaften. Die letzte Schrift, die sich ausdrücklich auf Hermes Trismegistos als den Autor zurückführt, die berühmte alchemistische Tabula Smaragdina, konnte inzwischen auf einen ägyptischen Ursprung zurückgeführt werden. Den Rahmen der Hermetik bildet die Lehre der Entsprechung von Makro- und Mikrokosmos im Zusammenhang mit der Vorstellung einer göttlichen All-Einheit. Mit dem Untergang der Antike und dem Sieg des Christentums setzte sich die israelitische Konstruktion der „Mosaischen Unterscheidung“, in der es um „wahr“ und „unwahr“ im Bereich der Religion geht, endgültig durch. Die Mosaische Unterscheidung schuf einen neuen Typ von monotheistischer Religion, der alles, was ihm vorausgeht und außerhalb seiner selbst liegt, als „Heidentum“ ausgrenzt. Das „religiös Unwahre“ oder das „Heidnische“ war für die Mosaische Unterscheidung mit dem Begriff der Idolatrie synonym. Die Unterscheidung in ihrer normativen Ausprägung symbolisiert sich in Gesetzen, die die Verdammung der Idolatrie an oberste Stelle setzen. Der Untergang der ägyptischen Götter war somit besiegelt: Ägyptisches konnte sich nur noch in Unterströmen in der „dämonenumwitterten Nachtseite Europas“ (A. Assmann) weiterentwickeln. Dabei hatte das Christentum längst ägyptisches Erbe aufgenommen, nicht zuletzt in Maria, der „Mutter Gottes“, die eindeutig der Isis nachgebildet worden war.
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Das nachantike Europa Im Mittelalter gab es kaum noch verläßliche Kenntnisse altägyptischer Religion und Kultur, da das Ägyptenbild lediglich über die Bibel rezipiert werden konnte. In der 2. Hälfte des 1. Jahrtausends waren sowohl die Namen der Pyramidenerbauer, als auch Bestimmung und Zweck der Pyramiden vergessen. Aufgrund biblischer Überlieferung hielt man die Pyramiden für die Kornkammern des Pharaos, die auf den Rat von Josef, dem „Ernährer“, hin erbaut worden waren. Die islamischen Gelehrten des Mittelalters, besonders aber der Universalhistoriker Al-Maqrizi (1364–1442), bündelten verschiedene religiöse Traditionen und überlieferten die Geschichte von einem König Saurid, der vor der Sintflut regiert und in einem Traum das Weltende vorhergesehen habe. Davon beunruhigt, habe Saurid die Pyramiden von Giza errichten lassen, in ihnen nicht nur seinen Leichnam bestatten lassen, sondern auch unermeßliche Schätze verborgen und das gesamte Wissen seiner Zeit sowie die Weissagen für die Zukunft der Menschheit darin aufzeichnen lassen. Das bildet im Prinzip auch die Grundlage der modernen Pyramidologie. Besonders mit der Cheopspyramide als letztem erhaltenen antiken Weltwunder verbinden sich seit dem islamischen Mittelalter bis heute Legenden über verborgene, noch unentdeckte Schatzkammern, geheimes Wissen und Zukunftsprophezeiungen für die Menschheit. Dabei gab es im Islam durchaus auch ganz andere Auffassungen über die Pyramiden, wie das bekannte Zitat von Umara el Jamani erkennen läßt: „Ihr meine Freunde, es gibt kein Bauwerk unter dem Himmel, das an Vollendung den beiden Pyramiden Ägyptens gliche! Das sind die Bauten, die sogar die Zeit fürchtet, und es fürchtet doch alles in der sichtbaren Welt die Zeit.“ Im christlichen Mittelalter gab es aber noch die lange Zeit übersehene Unterströmung der Alchemie, die Ägyptisches in seiner hermetischen Tradition weitertransportierte. Die Entwicklung der Alchemie begann im ägyptischen Alexandrien und ist ohne den hellenistischen Einfluß nicht zu denken. Das Zwitterwesen der Alchemie drückt sich deutlich in der umstrittenen Etymologie des Wortes aus. Plausibel scheint mir eine Interferenz von dem griechisch chéein „gießen“ und ägyptisch km oder kmt „schwarz“ oder „das Schwarze“. Die Ägypter nannten ihr Fruchtland das „schwarze Land“ (kmt), und die Alchemie wird bekanntlich als „schwarze Kunst“ bezeichnet. Trotz des nicht zu verkennenden hellenistischen Einflusses werden in den meisten alchemistischen Schriften Ägypten als Ursprungsland und Hermes Trismegistos als Urheber oder Überbringer dieser hermetischen Wissenschaft der Transmutation angesehen.
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Schon in ihren Anfängen zerfiel die Alchemie in zwei Richtungen: 1) in eine exoterische, die sich auf die Verwandlung auf der stofflichen Ebene, beispielsweise die Goldherstellung, konzentrierte und schließlich in der empirischen Naturwissenschaft der Chemie mündete; und 2) in eine esoterische, in der das große Werk (opus magnum) die Metamorphose des ganzen Menschen bewirken sollte. Dabei nahm der „Stein der Weisen“ (lapis philosophorum), auch als „Allheilmittel“ gedacht, für beide Richtungen eine Mittlerposition ein, indem er sowohl für die Veredelung auf materieller als auch auf religiöser und geistiger Ebene verantwortlich war. Die Geschichte der abendländischen Alchemie im Mittelalter beginnt mit der Rezeption der arabischsprachigen Literatur, die seit dem 12. Jahrhundert antikes und hermetisches Gedankengut über Spanien nach Europa vermittelte. Die frühesten Arbeiten europäischer Alchemisten stammen von dem englischen Mönch Roger Bacon (um 1219–um 1292) und dem Philosophen Albertus Magnus (um 1200–1280), die beide an die Verwandlung minderer Metalle in Gold glaubten. In der Renaissance erlebten die Geheimwissenschaften der Theurgie, der Magie, der Astrologie und der Alchemie sowie der Neuplatonismus, die Gnosis, die Kabbala und die Hermetik eine neue Blütezeit, was zu einer intensiven Beschäftigung mit Ägypten führte. Der Zugang zu Ägypten führte dabei in erster Linie über die antiken Autoren, wozu der Humanismus mit der Kenntnis klassischer Sprachen die Tür geöffnet hatte. Neuaufgefundene Handschriften wurden als die Wiederentdeckung altägyptischer Weisheit begrüßt. Das traf vor allem auf das Corpus Hermeticum zu, das 1460 von Cosimo de Medici erworben und sogleich von Marsilio Ficino übersetzt wurde, der dafür seine Platon-Übersetzung unterbrechen mußte. Mit der Wiederauffindung der Hieroglyphica des Horapollon (4. Jh. n.Chr.) glaubte man den Schlüssel zu den Hieroglyphen in der Hand zu haben. Tatsächlich verzögerten die allegorischen und symbolischen Deutungen der Hieroglyphen durch Horapollon lange die Entzifferung der altägyptischen Schrift. In der Renaissance hielt man die Hieroglyphen für eine Urschrift, die alle Dinge und Begriffe unmittelbar wiedergab. Für Ficino und andere Autoren der Renaissance, die die hermetische Philosophie als ägyptische Weisheit und Theologie konstruierten, waren Hermes Trismegistos und seine Schriften so alt und ehrwürdig wie Moses. Für diese hermetische Richtung der Renaissance galten Ägypten wieder als Ursprungsort der Religion und Weisheit und das Corpus Hermeticum als Kodifikation einer prisca theologia oder Ur-Theologie. Hermes Trismegistos wurde im 16. Jahrhundert auch innerhalb der Kirchen zu einer Integrationsfigur, in der
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sich völlig legitim antike Religiosität und Christentum miteinander verbinden und versöhnen ließen, soll er doch mit seinen Lehren das Christentum vorweggenommen haben. Hermetik und Alchemie bildeten auch den Hintergrund der Rosenkreuzer-Bewegung im 17. Jahrhundert. Aus Unzufriedenheit mit der lutherischen Orthodoxie und den ausgebliebenen Folgen der Reformation veröffentlichte der evangelische Theologe Johann Valentin Andreae (1586–1654) 1614 anonym die Fama Fraternitatis, die die „Allgemeine und GeneralReformation der gantzen weiten Welt“ zum Ziel hatte. Zu diesem Zweck erfand Andreae die Gestalt des Christian Rosencreutz und den Geheimorden der Rosenkreuzer, der bereits im alten Ägypten entstanden sein sollte. Nach der Fama wird Ch. Rosencreutz im Alter von 5 Jahren ins Kloster gegeben, reist mit 15 Jahren nach Jersusalem und gelangt schließlich über Damaskus nach Ägypten. Dort wird er mit der hermetischen Lehre der Einheit von Makro- und Mikrokosmos bekannt. Von Ägypten kommt Ch. Rosencreutz nach Europa mit dem Vorsatz zurück, die Einheit von Theologie und Philosophie sowie aller anderen Wissenschaften und Geheimlehren wiederherzustellen. Zur Verwirklichung dieses Vorhabens gründet er einen geheimen Orden, der unerkannt in der Welt wirken soll. 1615 erschien dann die Confessio Fraternitatis, in der die Lebensdaten von Christian Rosencreutz genannt werden. 1378 geboren, soll er im Alter von 106 Jahren 1484 verstorben sein. Sein verborgenes Grabmal, eine Nachbildung des Alls, soll nach 120 Jahren entdeckt werden, somit wird das Jahr 1604 zu dem Jahr, in dem die Rosenkreuzer an die Öffentlichkeit treten. Wie in der Fama wird gleichfalls in der Confessio zum Eintritt in den Orden der Rosenkreuzer aufgerufen. 1616 wird abschließend die Chymische Hochzeit: Christiani Rosencreutz. Anno 1459 gedruckt, die man vollständig der esoterischen Alchemie zurechnen kann. Diese drei Manifeste bilden den Kern des Rosenkreuzer-Mythos, der zunächst lediglich als literarische Fiktion existiert. Allerdings scheint Andreae, dessen Absicht eher eine Art hermetisches Christentum gewesen ist, über die Jahrhunderte hinweg viele Menschen angesprochen zu haben. Schon zu seiner Zeit hatten die Rosenkreuzer-Schriften einen spektakulären Erfolg und riefen zahlreiche Zu- und Kampfschriften hervor. Später kam es dann auch zu tatsächlichen Gründungen von RosenkreuzerBruderschaften, wobei die meisten der heute bekannten Gemeinschaften erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden. Die Rosenkreuzerbewegung, die geistesgeschichtlich einen enormen Einfluß nahm, bereitete die Entstehung der noch stärker verbreiteten Freimaurerei mit vor, die sich um 1700 in London konstituierte und die ägyptischen
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Mysterienrituale zum integralen Bestandteil ihrer eigenen Einweihungszeremonien machte. Für die Freimaurerei war Ägypten die Wiege der Geheimwissenschaften und Mysterien. Als ein Beispiel sei der Traktat Über die Mysterien der Aegyptier (1784) genannt, der von dem Freimaurer Ignaz von Born, Meister vom Stuhl der Loge Zur Wahren Eintracht in Wien, der auch Mozart und Haydn angehörten, verfaßt wurde. Durch diese Schrift wurde Mozarts und Schikaneders Oper Die Zauberflöte (1791) inspiriert. Borns Traktat stützte sich in bezug auf ägyptische Religion und Kultur auf Diodor und bei der Darstellung der ägyptischen Mysterien auf Jamblichos’ († um 330 n.Chr.) De mysteriis Aegyptiorum. Die Freimaurer verbreiteten zudem das Motiv der Pyramiden als Prüfungs- und Einweihungsstätten, wie es exemplarisch im Roman Sethos (1731) des Freimaurers Abbé Jean Terrasson (1670– 1750) entfaltet wird. Terrasson bezieht sich im Vorwort seines Buches ausdrücklich auf Herodot, Diodor und Plutarch. Der Held des Romans, Sethos, empfängt seine Einweihung in der großen Pyramide, in der ihm seine Initiation durch folgende Inschrift angekündigt wird: „Wer diesen Weg allein geht, und ohne hinter sich zu sehen, der wird gereinigt werden durch das Feuer, durch das Wasser und durch die Luft, und wenn er den Schrecken des Todes überwinden kann, wird er aus dem Schoss der Erde wieder herausgehen, und das Licht wiedersehen, und er wird das Recht haben, seine Seele zu der Offenbarung der Geheimnisse der grossen Göttin Isis gefasst zu machen.“ (Staehelin, 893)
Neben der Tradition, die Freimaurerei auf ägyptische Mysterien zurückzuführen, verläuft eine weitere Verbindung zu Ägypten über die Alchemie. Schon in der Zeit der Entstehung der ersten englischen Grossloge spielte die Alchemie eine große Rolle und findet auch in die frühe Freimaurerei Eingang. Wie schon die Rosenkreuzerbewegung zeichnet sich auch die Freimaurerei in Verbindung mit der Hermetik durch die Ideale der Humanität und Toleranz aus. Nicht nur die Freimaurer, sondern auch die communis opinio der wissenschaftlichen Welt im 18. Jahrhundert gingen davon aus, daß die altägyptische Religion eine Mysterienreligion war. Das negative Ägyptenbild mit seinen Erscheinungen von Idolatrie, Tierkult, Magie und Aberglaube bezog man auf die ägyptische Volksreligion, das positive auf die Religion der Eingeweihten, die man sich als einen esoterischen oder ursprünglichen Monotheismus dachte. Der Gegenstand des esoterischen Monotheismus bzw. der „ägyptischen Mysterien“ wurde als „Natur“ bestimmt, idealiter in der Gestalt der Isis
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verkörpert. In der Idee der Natur als Gottheit eines ursprünglichen, nicht offenbarten Monotheismus, der sich in der ägyptischen Religion hinter einem Schleier von Symbolen und Mysterien verbirgt, trafen sich der hermetische und der wissenschaftliche Diskurs. Genährt wurde diese Rezeption Ägyptens durch die antike Theorie der ägyptischen Religion, die die Wahrheit als ein Geheimnis auffaßt, die in dieser Welt nur in Bildern, Mythen, Allegorien und Rätseln zu haben ist. „Die Wahrheit kam nicht nackt in die Welt, sondern sie kam in den Sinnbildern und Abbildern. Die Welt wird sie auf keine andere Weise erhalten“, lautet diese Einsicht im gnostischen Philippus-Evangelium. Es passt zum Jahrhundert der Aufklärung, daß die eingeweihten Ägypter ohne jede Offenbarung und nur von der Vernunft geleitet zu demselben Gottesbegriff wie Baruch Spinoza (1632–1677) gelangt sein sollen. Aber auch das negative Ägyptenbild wirkte sich insoweit aus, als Kritiker meinten, daß die Geheimniskrämerei der ägyptischen Priester nicht der Wahrheit, sondern in Wirklichkeit diesen selbst und den Interessen des Staates gedient hätte. Die „doppelte Lehre“, die eine für das Volk, die andere für die Eingeweihten, verband sich für die Kritiker mit dem Vorwurf des Priesterbetrugs, der äußerst durchsichtig aus dem Antiklerikalismus des 18. Jahrhunderts abzuleiten ist und auch auf das Christentum angewendet werden konnte. Neben diesen innereuropäischen Entwicklungen setzte auf der anderen Seite mit dem 17. Jahrhundert eine große Reisetätigkeit von Europa nach Ägypten ein. Ende des 18. Jahrhunderts lockte Ägypten immer mehr Besucher an, unter ihnen befand sich Vivant Denon, der später Napoleon auf seiner Ägyptenexpedition begleitete. Auf Denons Rat hin ernannte Napoleon zwei Kommissionen von Wissenschaftlern, die alle Bauwerke Ägyptens vermessen und zeichnen sollten. Das Ergebnis wurde als Description de l’Egypte von 1809 bis 1822 in Paris in 9 Text- und 11 Bildbänden veröffentlicht. Zusammen mit der Entzifferung der Hieroglyphen (1822) sind damit die Grundlagen der modernen Ägyptologie geschaffen worden. In ganz Europa erwachte nun das Interesse an Ägypten. Diese „Ägyptomanie“ zog nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Plünderer und Schatzsucher in Scharen nach Ägypten. Obwohl man nun dazu in der Lage war, altägyptische Texte zu lesen, blieb das Bild der ägyptischen Religion in der Ägyptologie des 19. Jahrhunderts eindeutig abhängig und geprägt von den bisherigen Ägyptenbildern. Um die Ägypter vom Vorwurf des primitiven Götzendienstes reinzuwaschen, versuchte die Ägyptologie sie als Träger einer frühen Stufe der Hochreligionen, ja sogar eines monotheistischen Glaubens darzustellen: die verwirrende Anzahl der
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Gottheiten sei „vordergründig“ und unwesentlich gegenüber dem „monotheistischen“ Kern. Grundlage der ägyptischen Religion sei die Einheit eines höchsten Wesens, aus dem alle anderen hervorgegangen seien. Diese vielen Götter sind nur die Aspekte des Einen, der nach dem großen Entdecker Mariette als einziger, unsterblicher, ungeschaffener, unsichtbarer und verborgener Gott an der Spitze des Pantheons nur „für die Eingeweihten“ erkennbar ist. Obwohl schon der Ägyptologe Maspero 1888 verkündet, daß ihn das Studium der ägyptischen religiösen Texte zur Aufgabe seiner früheren Meinung über den ägyptischen Monotheismus geführt habe, beeinflußt diese Debatte, zusammengefaßt unter dem Stichwort „Der Eine und die Vielen“, in verschiedenen Varianten und Differenzierungen die Ägyptologie bis heute. Die moderne Ägyptologie des 20. Jahrhunderts konnte durch zum Teil aufsehenerregende Ausgrabungen, wie beispielsweise die Entdeckung des Tutanchamun-Grabes (1922), aber auch durch mühsame Detailarbeit an den Text- und Bildquellen viele der Rätsel der ägyptischen Kultur und Religion lösen und Vorurteile revidieren. Die Ägypter haben beispielsweise nicht geglaubt, daß ihre Götter wirklich eine Tiergestalt oder wie in der typischen Mischgestalt einen Menschenleib mit einem Tierkopf besitzen. Die Mischgestalt ist als ein Ideogramm zu lesen, wobei der Kopf das Attribut des Gottes wiedergibt. Die wahre Gestalt der Götter gilt als „geheimnisvoll“ und „verborgen“. Das Göttliche hält nur vorübergehend Einzug in Bilder und heilige Tiere, um die Welt in Gang zu halten. Erst im Jenseits können Menschen in der Gegenwart der Götter leben. Neben der eindrucksvollen Grabarchitektur der Pyramiden und Felsengräber, die zunächst nur für den Pharao als Mittler zwischen Göttern und Menschen vorgesehen war, setzte das Fortleben nach dem Tod die Unsterblichkeit des Körpers in der Form der Mumie voraus. Der Totenkult und die Jenseitsexistenz werden aber erst nach Kenntnis der Totenliteratur wie der Pyramiden- und Sargtexte sowie von Totenbuch und Unterweltsbüchern verständlich. Im 20. Jahrhundert ist die religiöse Welt Ägyptens in allen Medien präsent gewesen. Vor allem in der Literatur, im Bereich historischer Romane sogar als Bestseller, aber auch im Comic, Film, Fernsehen und in der Werbung wird der Mythos Ägypten verkaufsträchtig vermarktet. Die eingangs genannten entgegengesetzten Ägyptenbilder haben dabei immer noch nichts von ihrer Aktualität verloren. Das negative Bild Ägyptens wird beispielsweise nach wie vor im christlichen Religionsunterricht, in Predigten oder Bibelverfilmungen tradiert, das positive in seiner hermetischen Ausrichtung erlebt seit längerem in der „Esoterik-Szene“ eine Renaissance. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Wissenschaft der Ägyptologie, die einer-
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seits ein Produkt dieses Rezeptionsprozesses ist, und andererseits die Beschäftigung mit Ägypten auch außerhalb der Universitäten perpetuiert. Ägypten beschäftigt nach wie vor die Phantasie der Menschen, so daß es weiterhin ein Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses in Europa bilden wird, auch im 3. Jahrtausend nach der Geburt eines Religionsstifters, dessen weltweit siegreiche Religion im Verlauf ihrer Ausbreitung auch zum Untergang der altägyptischen Religion beigetragen hat. Die historisch-kritische und religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem alten Ägypten kann, wie ich aus persönlicher Erfahrung weiß, die Augen für die Begrenztheiten der jüdischchristlichen Tradition öffnen und die altägyptische Welt als eine andersartige und alternative Möglichkeit des Menschseins deutlich sichtbar machen.
Verwendete Literatur J. Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München 1996. J. Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, Darmstadt 1998. H. Biedermann, Handlexikon der magischen Künste, München 1976. C. Colpe; J. Holzhausen (Hg.), Das Corpus Hermeticum Deutsch. Übersetzung, Darstellung und Kommentierung in drei Teilen. Teil 1: Die griechischen Traktate und der lateinische ,Asclepius‘. Übers. und eing. von J. Holzhausen, Stuttgart, Bad Cannstatt 1997. T. DuQuesne, „Egypt’s Image in the European Enlightment“, in: Seshat 3, 1999, 28–43. M. Giebel, Das Geheimnis der Mysterien. Antike Kulte in Griechenland, Rom und Ägypten, München 1993. R. Edighoffer, Die Rosenkreuzer, München 1995. B. D. Haage, Alchemie im Mittelalter. Ideen und Bilder – von Zosimos bis Paracelsus, Zürich 1996. E. Hornung, Der Eine und die Vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen, Darmstadt 1971. E. Hornung (Hg.), Zum Bild Ägyptens im Mittelalter und in der Renaissance, Freiburg, in der Schweiz, Göttingen 1990. E. Hornung, Esoterisches Ägypten, München 1999. L. Kákosy, „Hermes and Egypt“, in: A. B. Lloyd (Hg.), Studies in Pharaonic Religion and Society in Honour of J. Gwyn Griffths, London 1992, 258–261. K. Koch, Geschichte der ägyptischen Religion. Von den Pyramiden bis zu den Mysterien der Isis, Stuttgart 1993. S. Morenz, Die Begegnung Europas mit Ägypten. Mit einem Beitrag von Martin Kaiser über Herodots Begegnung mit Ägypten, Zürich 1969.
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R. Stadelmann, Die ägyptischen Pyramiden. Vom Ziegelbau zum Weltwunder, Mainz 2 1991. E. Staehelin, „Zum Motiv der Pyramiden als Prüfungs- und Einweihungsstätten“, in: S. Israelit-Groll (Hg.), Studies in Egyptology Presented to Miriam Lichtheim. Vol. II, Jerusalem 1990, 889–932. E. Staehelin; B. Jaeger (Hg.), Ägypten-Bilder. Akten des ‚Symposiums zur Ägypten-Rezeption‘, Augst bei Basel, vom 9.-11. September 1993, Freiburg in der Schweiz, Göttingen 1997. J. Vercoutter, Ägypten – Entdeckung einer alten Welt, Ravensburg 1990.
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Zauberhaftes Ägypten – Ägyptischer Zauber? Überlegungen zur Verwendung des Magiebegriffs in der Ägyptologie Bernd-Christian Otto
Einleitung In meiner Dissertation habe ich versucht, Grundzüge der abendländischeuropäischen Rezeptionsgeschichte des Magiebegriffs zu rekonstruieren.1 Ziel war unter Anderem, ein differenziertes Verständnis der vielfältigen hermeneutischen Problematiken zu generieren, die sich im Zuge der akademischen Rezeption des Magiebegriffs gezeigt haben. Hierzu wurde vorgeschlagen, den Begriff Magie nicht mehr im Sinne einer religions- beziehungsweise kulturwissenschaftlichen Sachkategorie zu verwenden, sondern konsequent zu historisieren. Die im Zuge der Arbeit vorgenommene Rekonstruktion der Begriffsgeschichte von Magie zielte insofern nicht mehr auf die Suche nach adäquaten Definitionen oder gar phänomenologischen Wesenskernen des Begriffs ab, sondern suchte vielmehr dessen Bedeutungsvielfalt und Heterogenität im Kultur- und Zeitvergleich aufzeigen. Dadurch konnten gleichzeitig historisch fundierte Erklärungsmuster für die Problematik des akademischen Magiediskurses generiert werden. Aufgrund dieser methodologischen Ausrichtung – sowie nicht zuletzt aufgrund der Geschichte des Magiebegriffs selbst – wurde hierbei vorwiegend Quellenmaterial aus dem griechisch-hellenistischen, römisch-lateinischen und christlich-europäischen Kulturraum untersucht. Im Folgenden soll diese ausschließlich philologisch-historiographische Herangehensweise an den Magiebegriff in einer etwas verlagerten religionsgeschichtlichen Konstellation umgesetzt werden: es geht um die Rezeption des Magiebegriffs in einer religionswissenschaftlichen Nachbardisziplin – der Ägyptologie –, und die Verwendung des Begriffs zur Kennzeichnung und Interpretation altägyptischen Text- und Quellenmaterials durch die Protago1 Vgl. B.-C. Otto, Magie. Rezeptions- und diskursgeschichtliche Analysen. Von der Antike bis zur Neuzeit (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 57), Berlin 2011.
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nisten dieser Disziplin. Dadurch muss auch die Frage erörtert werden, wie die altägyptische Sprache und Kultur im Kontext der Geschichte des Magiebegriffs selbst zu verorten ist (deren Ursprung liegt bekanntermaßen in der Rezeption der persischen Priesterbezeichnung maguš durch griechische Autoren des sechsten und fünften Jahrhunderts vor Christus). Schließlich ist zu überlegen, welche Implikationen das typischerweise als magisch klassifizierte altägyptische Quellen- und Textmaterial eigentlich in sich birgt. Die entscheidende Frage lautet hier: lassen sich zur ägyptologischen Rezeption eines hochproblematischen Begriffs, dessen akademische Verwendung schon immer zu fragwürdigen, weithin ethnozentrischen (Be-) Deutungsmustern geführt hat, Alternativen finden?2
Zur ägyptologischen Rezeption des Magiebegriffs Der Magiebegriff wurde seit der Anfangszeit der Ägyptologie im 19. Jahrhunderts (ausgehend vom Rosette-Fund, der hier als konstitutiv für die Genese der akademischen Disziplin angesehen wird) von der überwiegenden Mehrheit der Ägyptologen als substanzielles, terminologisches Abstraktum zur Kennzeichnung bestimmter Aspekte altägyptischen Quellenmaterials aufgegriffen. Dass dies bis heute mehr oder weniger selbstverständlich geschieht – prägnant noch in einer kürzlich erschienen Aufsatzsammlung zu Adolf Erman beobachtbar –,3 2 Edmund Hermsen hat meine Magisterarbeit, die sich bereits mit diesem Themenkomplex auseinandergesetzt hat, als Zweitgutachter betreut. Ich hoffe, mit dem folgenden Versuch zu seinem wissenschaftlichen Andenken beizutragen. 3 So schreibt Jan Assmann in seinem darin befindlichen Aufsatz „Adolf Erman und die Forschung zur ägyptischen Religion“: „Selbst in Kochs monumentaler Darstellung wird die Magie nur auf knapp 15 Seiten im Zusammenhang des Hellenismus behandelt. Dabei hat die ägyptische Sprache zwar kein Wort für „Religion“, aber ein Wort für „Magie“ und ein reich entfaltetes Begriffsfeld für magische Handlungen und Wirkungen. Die ägyptische Magie und ihr Verhältnis zur Religion gelten als ein großes Problem; immer wieder wird betont, dass wir uns von dem Vorurteil frei machen müssen, dieses Verhältnis als Gegensatz zu denken. Das Problem ist aber nicht die Magie, sondern die Religion. Wo fängt sie an, wo hört sie auf, was gehört dazu, was hat mit ihr nichts zu tun? Die Magie bildet das Zentrum eine Praxis und Vorstellungswelt, die weiter ausgreift, aber wie weit? Zweck der ägyptischen Magie war, die Welt in Ganz zu halten und das Böse abzuwehren. Beides erforderte die Artikulation der Welt in Form ansprechbarer Gestalten, auf die im Rahmen des Ritus in abwehrender oder in Ganz haltender Weise eingewirkt werden konnte.“ J. Assmann, „Adolf Erman und die Forschung zur ägyptischen Religion“, in: B. U.
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ist vor dem Hintergrund der in den letzten Jahrzehnten eher kritisch ablaufenden theoretischen Debatte um den Magiebegriff durchaus irritierend. 1979 hat Hans G. Kippenberg diese bis dato vorwiegend im englischsprachigen Raum ablaufende Auseinandersetzung – die zum Teil in radikalen Verzichtsforderungen gegenüber einem akademischen, substanziell gefassten Magiebegriff gemündet hatte –4 für den deutschsprachigen Raum hervorragend aufgearbeitet.5 Es würde in diesem Rahmen zu weit führen, jene Debatte, in welcher die damals zunehmend erkannte Ethnozentrismus-Problematik radikal am Magiebegriff durchexerziert worden ist, ausführlicher zu skizzieren. Gleichwohl lassen sich wesentliche Kritikpunkte benennen, auf die immer wieder hingewiesen worden ist: moniert wurde a) das Bestehen zahlreicher uneinheitlicher, sich zum Teil widersprechender Magiedefinitionen; b) das Problem der prinzipiellen Falsifizierbarkeit all dieser Definitionen; c) die fehlende Trennschärfe des Magiebegriffs zu seinen üblichen terminologischen Antipolen Wissenschaft und Religion; d) die tendenziell abwertende, ethnozentrische und verzerrende Gestalt des Magiebegriffs selbst.6 Gerade in jüngerer Zeit ist Magie daher von einer nicht unbedeutenden Riege von Forschern als wissenschaftssprachlicher Terminus verworfen7 und in einigen rezenten Zusammenstellungen religionswissen-
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Schipper (Hg.), Ägyptologie als Wissenschaft: Adolf Erman (1854–1937) in seiner Zeit, Berlin 2006, 106 f. Vgl. exemplarisch A. R. Radcliffe-Brown, Structure and Function in Primitive Society, Glencoe 1952, 138; O. Pettersson, „Magie – Religion. Einige Randbemerkungen zu einem alten Problem“ (urspr. 1957), in: L. Petzoldt (Hg.), Magie und Religion. Beiträge zu einer Theorie der Magie, Darmstadt 1978, 323 f.; E. E. EvansPritchard, Theories of Primitive Religion, Oxford 1965, 26–42, 110 f.; D. Pocock, „Foreword“, in: M. Mauss, A General Theory of Magic. Translated from the French by Robert Brain, London 1972, 1–6, 2; J. D. Y. Peel, „Was heißt ,fremde Glaubenssysteme verstehen‘?“ (urspr. 1969), in: H. G. Kippenberg; B. Luchesi (Hg.), Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, Frankfurt am Main 21995, 150–173; vgl. in Anlehnung an Peel auch B. Barnes, „Glaubenssysteme im Vergleich. Falsche Anschauungen oder Anomalien?“ (urspr. 1973), in: H. G. Kippenberg; B. Luchesi, Magie ...., 213–234; wichtig für die Debatte auch P. Winch, „Was heißt ‚eine primitive Gesellschaft verstehen‘?“ (urspr. 1964), in: H. G. Kippenberg; B. Luchesi, Magie ..., 73–119. Vgl. H. G. Kippenberg, „Einleitung. Zur Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens“, in: H. G. Kippenberg; B. Luchesi, Magie ..., 9–51. Vgl. zur akademischen Definitions- und Problemgeschichte insgesamt B.-C. Otto, Magie ..., Kapitel 2–5. Vgl. etwa J. Z. Smith, „Trading Places“, in: M. W. Meyer; P. Mirecki (Hg.), Ancient Magic and Ritual Power. Conference on ,Magic in the Ancient World‘, held in August 1992 at the University of Kansas (Religions in the Graeco-Roman World 129), Lei-
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schaftlicher Grundbegriffe nicht mehr aufgegriffen worden.8 Der akademische Magiediskurs erscheint hier mit Blick auf seine interdisziplinäre Breite allerdings sehr uneinheitlich. Insbesondere in religionshistorisch arbeitenden Nachbardisziplinen der Religionswissenschaft wird der Begriff häufig bis heute als adäquate Kategorie zur Kennzeichnung bestimmter Quellentypen angesehen und mitunter ohne ausreichende theoretische Klärung – das heißt auch: unter Vernachlässigung der kritischen Debatte der Religionswissenschaft – fortlaufend verwendet. In diese Entwicklung ist auch der ägyptologische Magiediskurs einzuordnen, der die oben skizzierten kritischen Positionen in der Magiedebatte bis dato kaum rezipiert hat. Dies war nicht von vornherein zu erwarten gewesen; gerade im Kontext des Magiebegriffs hat sich der ägyptologische Diskurs häufig an akademischen Referenzdiskursen orientiert und hierbei etwa gängige Theoriemodelle der Religionswissenschaft aufgegriffen, wie an einigen Fallbeispielen illustriert sei. Wenn der berühmte Ägypten-Pionier Heinrich Brugsch 1891 schreibt: „[Magische Texte] haben kaum einen anderen Wert als den, welchen sie den Studien der Schrift und Sprache darbieten“,9 spiegelt er exakt jene im Wissenschaftsdiskurs des ausgehenden 19. Jahrhundert verbreitete Magiepolemik wieder, die auch bei anderen akademischen Protagonisten dieser Zeit – etwa bei Edward B. Tylor und James G. Frazer – zu beobden 1995; H. G. Kippenberg, „Magie“, in: H. Cancik; B. Gladigow; K.-H. Kohl (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Band IV. Kultbild-Rolle, Stuttgart 1998, 85–98, der gar von einem „Zerfall der Kategorie“ spricht (S. 86); W. J. Hanegraaff, „Magic I. Introduction“, in: W. J. Hanegraaff (Hg.), Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. Edited by Wouter J. Hanegraaff. In Collaboration with Antoine Faivre, Roelof van den Broek, Jean-Pierre Brach. II: I–Z, Leiden 2005, 716–719; Randall Styers, der sicherlich radikalste Autor, kennzeichnet akademische Magietheoritiker sogar selbst als Magier – „culling diverse forms of behavior, modes of knowledge, social practices, and habits from an indiscreminate range of cultural systems and historical epochs and transmogrifying them into a unified phenomenon“; R. Styers, Religion, Magic and Science in the Modern World, Oxford 2004, 223. 8 Vgl. hierzu etwa die Zusammenstellungen religionswissenschaftlicher Grundbegriffe bei: M. C. Taylor (Hg.), Critical Terms for Religious Studies, Chicago 1998; W. Braun, R. T. McCutcheon (Hg.), Guide to the Study of Religion, London 2000. Auch der neue Ritualtheorie-Band von Kreinath, Snoek und Stausberg verzichtet bewusst auf ein eigenes Lemma magic: J. Kreinath; J. A. M. Snoek; M. Stausberg (Hg), Theorizing Rituals, 2 Bände (Studies in the history of religions 114(1/2)), Leiden 2006/2007. 9 H. Brugsch, Die Aegyptologie. Abriss der Entzifferungen und Forschungen auf dem Gebiete der aegyptischen Schrift, Sprache und Alterthumskunde, Leipzig 1891, 77.
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achten ist.10 Ernest A. Wallis Budge – der 1899 die erste eigenständige Abhandlung zum Topos Magie im alten Ägypten vorgelegt hat –, kann auf vergleichbare Weise die seiner Ansicht nach hochwertige altägyptische Religion gegen jene „gross and childish superstition“ (Magie) ausspielen und zur Erklärung der historischen Kontinuität (von ihm) als magisch klassifizierter altägyptischer Quellen Tylors survival-Theorem aufgreifen.11 Auch Adolf Erman ist hier einzureihen; 1905 schreibt er: „Die Zauberei ist ein wilder Auswuchs der Religion; die Gewalten, die über des Menschen Schicksal schalten, übernimmt sie zu zwingen [...] und neben der edlen Pflanze der Religion wuchert das tolle Unkraut der Zauberei empor“12 und orientiert sich hier offenkundig an James G. Frazers Unterscheidung von bittender Religion und zwingender Magie –13 jenem Unterscheidungskriterium, das übrigens bis heute das (mit Abstand) meistrezipierte Denkmuster im ägyptologischen Magiediskurs darstellt.14 Analog zur ägyptologischen Rezeption von Tylors survival-Konzeption und Frazers Gegenüberstellung von bittenden (Religion) und zwingenden (Magie) Umgangsformen mit transzendenten Wesenheiten ist auch die evolutionistische 10 Vgl. die zahlreichen, ähnlich abwertenden Passagen bei E. B. Tylor, Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, 2 Bände, Hildesheim 2005/06 (reprint: Leipzig 1873) und J. G. Frazer, The Golden Bough. A Study in Comparative Religion, 2 Bände, London 1890 (bis 1915 bekanntermaßen auf 14 Bände angeschwollen). 11 Vgl. E. A. Wallis Budge, Egyptian Magic, New York 1958 (reprint London 1901), u.a XIII. 12 Vgl. A Erman, Die Religion der Ägypter. Ihr Werden und Vergehen in vier Jahrtausenden, Berlin 1905, 295. 13 Vgl. J. G. Frazer, Der goldene Zweig. Eine Studie über Magie und Religion, Köln 21968, 74: „Es ist wohl wahr, dass die Magie sich oft mit Geistern beschäftigt, die persönlich handelnde Wesen sind, wie die Religion sie annimmt. Aber überall da, wo sie dies in der üblichen Form tut, behandelt sie diese Wesen in derselben Weise, wie sie mit leblosen Dingen umgeht, d.h. sie zwingt und fesselt, anstatt zu versöhnen und sich geneigt zu machen, wie die Religion es tun würde.“ 14 Vgl. neben Erman exemplarisch A. Moret, „La magie dans l’Égypte ancienne“, in: H. Parmentier (Hg.), Conférences faites au Musée Guimet (Annales du Musée Guimet: Bibliothèque de vulgarisation 20), Paris 1906, 241–281; H. Kees, Totenglauben und Jenseitsvorstellungen der alten Ägypter. Grundlagen und Entwicklung bis zum Ende des Mittleren Reiches. Mit 7 Abbildungen. Zweite, neubearbeitete Auflage, Berlin 21956, 71; S. Morenz, Gott und Mensch im alten Ägypten, Heidelberg 1965, 140 f.; H. Brunner, Grundzüge der altägyptischen Religion, Darmstadt 1983, 98 f.; L. Kákosy, Zauberei im alten Ägypten, Leipzig 1989, u.a. 38; E. Hornung, Geist der Pharaonenzeit, Zürich 1989, 63.
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Interpretation und Strukturierung altägyptischen Quellenmaterials durch Ägyptologen des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Die Rezeption evolutionistischer Geschichtsdeutungsmodelle erfolgte in der Ägyptologie – wiederum aufgrund der Spezifika des altägyptischen Materials – gleichwohl als Umkehrung der Frazerschen Abfolge Magie – Religion – Wissenschaft und mündete stattdessen häufig in Dekadenzkonstruktionen (von Religion zu Magie), insbesondere im Hinblick auf das Neue Reich. Prägnant schreibt hierzu etwa Günther Roeder: „alle Völker, mit denen der ägyptische Staat jeweilig in Verbindung stand, lieferten ihnen Glaubensvorstellungen und Zauberhandlungen aus ihrem eigenen Besitz. Je länger, desto tiefer sank freilich die Höhenlage dieser Religiosität, und schließlich blieb nur noch ein hohles Schema ohne innere Überzeugungskraft in der Hand von Quacksalbern übrig, die gutgläubige Kunden um ihr Geld betrogen“.15 Vergleichbare Dekandenz-Konstruktionen sind von zahlreichen Ägyptologen bis in jüngere Zeit vertreten worden;16 Erst Robert Kriech Ritner hat in seiner Studie The Mechanics of Ancient Egyptian Magical Practice diese nach wie vor an einem monolithischen Gegensatzpaar Magie – Religion orientierten Vorstellungsmuster (zumindest teilweise) durchbrochen – Ritner sieht allenfalls ein quantitatives Übergewicht bestimmter archäologischer Quellenbefunde in der ägyptischen Spätzeit und keine qualitative Entwicklung altägyptischer Religionsgeschichte mehr.17 Auch die neueren ägyptologischen Forschungsarbeiten zum Topos Magie im alten Ägypten – zu nennen sind hier insbesondere Geraldine Pinchs Magic in Ancient Egypt, Yvan Koenigs Magie et magiciens dans l’Égypte ancienne, Peter Eschweilers Bildzauber im alten Ägypten sowie Robert K. Ritners bereits genannte Studie The Mechanics of Ancient Egyptian Magical Practice –18 versu15 G. Roeder, Die Ägyptische Religion in Text und Bild, Band IV: Der Ausklang der ägyptischen Religion mit Reformation, Zauberei und Jenseitsglauben (Die Bibliothek der alten Welt 381), Zürich 1961, 115. 16 Vgl. exemplarisch É. Drioton, „Religion et magie. Un avertissement aux chercheurs de formules“, in: Revue de l’Égypte Ancienne 2, 1928, 52–54; J. H. Breasted, The Dawn of Conscience, New York 1968 (reprint 1934), 223 f.; L. Kàkosy, „Die weltanschauliche Krise des neuen Reiches“, in: Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde 100(1), 1974, 35–41, v.a. 39; L. Kàkosy, „Heka“, in: W. Helck (Hg.), Lexikon der Ägyptologie. 2. Band: Erntefest – Hordjedef, Wiesbaden 1977, 1108–10, 1110; E. Hornung, Geist der Pharaonenzeit, 58. 17 Vgl. R. K. Ritner, The Mechanics of Ancient Egyptian Magical Practice (Studies in ancient Oriental civilization 54), Chicago 1993, v.a. 243–247. 18 Vgl. G. Pinch, Magic in Ancient Egypt, London 1994; Y. Koenig, Magie et magiciens dans l'Égypte ancienne (Bibliothèque de l'Egypte anciennce), Paris 1994; P. Eschwei-
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chen der interdisziplinären Theoriedebatte zum Teil durch explizite Rezeptions- und mitunter kritische Diskussionsprozesse gerecht zu werden.19 Gleichwohl halten auch diese Entwürfe trotz aller terminologischen Schwierigkeiten an einem – dann meist an impliziten (nicht minder problematischen) Vorverständnissen orientierten – substanziellen Magiebegriff fest. Der französische Ägyptologe Yvan Koenig formuliert für ein im Jahr 2000 abgehaltenes Kolloquium noch den Leitgedanken La magie en Egypte: à la recherche d‘une definition20 und scheint hierbei wiederum jeden dekonstruktivistischen Habitus vermissen zu lassen. Selbige Beobachtung gilt auch für Hans W. Fischer-Elferts 2005 herausgegebenes Reclam-Bändchen mit dem Titel Altägyptische Zaubersprüche,21 das (wie alle anderen Entwürfe) die Frage unbeantwortet lässt, weshalb man die darin befindlichen Texte unter der Kategorie Zauber (Magie)22 und nicht unter dem übergeordneten, möglicherweise wertfreieren und das gewählte Material ohne Weiteres umfassenden Begriff Religion abbilden sollte. Wilfried Gutekunst hat bereits in den 1980er Jahren zwei kritische Artikel zur Problematik des ägyptologischen Magiebegriffs verfasst, in denen er systematisch und überzeugend nachweist, dass keine der bestehenden Magiedefinitionen sinnvoll im Kontext altägyptischen Quellenmaterials applizierbar ist.23 Dennoch wurde in der Ägyptologie – dies sei als erster Befund festgehalten – die Vorstellung eines konkreten, substanziellen Gegenstandbereichs Magie im alten Ägypten bis heute kaum in Frage gestellt.
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ler, Bildzauber im alten Ägypten. Die Verwendung von Bildern und Gegenständen in magischen Handlungen nach den Texten des Mittleren und Neuen Reiches (Orbis Biblicus et Orientalis 137), Göttingen 1994; R. K. Ritner, The Mechanics.... Vgl. exemplarisch G. Pinch, Magic ..., 12–17; R. K. Ritner, The Mechanics..., 1–13. Vgl. Y. Koenig; Y. Berlandini (Hg.), La magie en Égypte. À la recherche d'une definition. Actes du colloque organisé par le Musée du Louvre les 29 et 30 septembre 2000 (Louvre, conférences et colloques), Paris 2002. Vgl. H.-W. Fischer-Elfert, Altägyptische Zaubersprüche. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Hans-W. Fischer-Elfert. Mit Beiträgen von Tonio Sebastian Richter, Stuttgart 2005. H.-W. Fischer-Elfert, Altägypische Zaubersprüche ..., 9, verwendet die beiden Begriffe, wie im akademischen Diskurs meist üblich, synonym. Vgl. W. Gutekunst, „Wie ‚magisch‘ ist die ‚Magie‘ im alten Ägypten? Einige theoretische Bemerkungen zur Magie-Problematik“, in: A. Roccati; A. Siliotti (Hg.), La Magia in Egitto ai Tempi dei Faraoni. atti convegno internazionale di studi, Milano, 29–31 ottobre 1985 (Operazione magia), Mailand 1987, 77–98. W. Gutekunst, „Zauber“, in: W. Helck (Hg.), Lexikon der Ägyptologie. 6. Band: Stele-Zypresse, Wiesbaden 1986, 1320–1355.
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Mehr noch: das gerade in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten stark angestiegene Rezeptionsniveau des Magiebegriffs in der Ägyptologie – hinsichtlich dieser Entwicklung ist sie neben andere Nachbardisziplinen der Religionswissenschaft zu stellen –24 macht darauf aufmerksam, dass ägyptologische Magieforschung gerade heute forciert wird, das heißt: populär ist. Die Ägyptologie orientiert sich hierbei (und partizipiert in gleichem Maße) an der großen Beliebtheit des Magiebegriffs im jüngeren außerwissenschaftlichen Diskurs, welche nicht zuletzt durch den weltweit und mit großem Abstand meistgelesenen Text der letzten beiden Dekaden – Joanne K. Rowlings Harry-Potter-Heptalogie – illustriert wird.25 Aufgrund der überwiegend positiven Gestalt des Magiebegriffs im rezenten Öffentlichkeitsdiskurs – erkennbar etwa auch an seiner üppigen Rezeption in der Sportberichterstattung (man denke, um eines von vielen Beispielen zu nennen, an Magic Johnson) oder seiner Funktionalisierung im Produktmarketing (hier sei beispielsweise auf Googles Mobiltelefon HTC Magic verwiesen) – nimmt es daher nicht wunder, dass auch die Ägyptologie nunmehr von der großen Anziehungskraft des Magiebegriffs profitieren kann. Dies hat nicht nur dazu geführt, dass Magie/Magic auf zahlreichen Titelseiten jüngerer (teilweise freilich populärwissenschaftlicher) Ägypten-Monographien zu finden ist und hier offenkundig eine Auflagensteigerung erreichen soll.26 Zugleich ist die ursprünglich polemische Gegenüberstellung von (hochwertiger) Religion und (minderwertiger, areligiöser) Magie in der neueren ägyptologischen Forschung durchbrochen worden, was durchaus als Fortschritt gegenüber den eingangs genannten Zitaten zu werten ist. Magie erscheint nun mitunter als 24 Etwa neben die klassischen Altertumswissenschaften, die gerade in den letzten beiden Jahrzehnten eine außerordentlich fruchtbare, sich in einer Vielzahl von Publikationen äußernde Magiedebatte vorweisen können; vgl. hierzu ausführlicher B.-C. Otto, „Towards historicizing ‚magic‘ in Antiquity“, erscheint in Numen. International Review for the History of Religions. 25 Die offizielle Pressemappe des Hamburger Carlsen-Verlags nennt derzeit (Stand: Juli 2009) „mehr als 400 Millionen“ verkaufte Buchexemplare weltweit; online abrufbar unter: http://www.carlsen.de/uploads/Presse/Harry_Potter_Pressemappe. pdf (Zugriff: 17.10.2009). 26 Vgl. exemplarisch die folgenden, englischsprachigen Publikationen: A. R. David, Cult of the Sun. Myth and Magic in Ancient Egypt, London 1980; C. H. Roehrig, Mummies and Magic. An Introduction to Egyptian Funerary Beliefs, Boston 1988; S. D’Auria; P. Lacovara; C. H. Roehrig (Hg.), Mummies and Magic. The Funerary Arts of Ancient Egypt, Boston 1988; C. El Mahdy, Mummies, Myth and Magic in Ancient Egypt, London 1989; R. H. Wilkinson, Symbol & Magic in Egyptian Art, London 1994; D. Pickering, Ancient Egypt. From Mummies and Magic to the Nile and Nevertiti, London 2007.
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integraler, wenn nicht wertvoller Bestandteil altägyptischer Religion, fraglich sei lediglich, wo die Grenzen zwischen diesen Begriffen zu ziehen seien.27 Im vorliegenden Beitrag soll gegenüber der fortlaufenden Verwendung eines substanziellen Magiebegriffs in der Ägyptologie eine kritische, ja, radikale Position eingenommen werden. Denn dass dieser bis heute bei der Interpretation altägyptischen Quellenmaterials eine wichtige Rolle spielt, ist aller Wahrscheinlichkeit nach als Folge unzureichender interdisziplinärer Vernetzung zwischen der Religionswissenschaft und ihren Nachbardisziplinen – in diesem Fall der Ägyptologie – einzuordnen. Insbesondere die von Kippenberg aufgearbeitete Rationalitätsdebatte sowie alle daran angelehnten kritischen Positionen zum Magiebegriff scheinen in der Ägyptologie bislang nicht rezipiert worden und folglich unbekannt (oder unerwünscht) zu sein – ein Desiderat, auf das der vorliegende Beitrag reagieren will. Aus Sicht der vieldiskutierten Ethnozentrismus-Problematik drängt sich der Eindruck auf, dass Ägyptologen bis heute einen weithin arbiträren Gegenstandsbereich Magie im alten Ägypten konstruieren und dadurch altägyptisches Quellenmaterial missverständlich an- und einordnen.28 Dadurch – so die wichtigste Implikation der Ethnozentrismus-Problematik – wird ein modernes Denkmuster auf das Quellenmaterial projiziert, welches dem altägyptischen Selbstverständnis nicht gerecht wird, sondern lediglich moderne Begriffsstrukturen (sowie, damit einher gehend, viel jüngere geistesgeschichtliche Entwicklungen) in historischen Kontexten perpetuiert. Im Folgenden soll die Verwendung eines substanziellen Magiebegriffs in der Ägyptologie daher grundlegend in Frage gestellt werden – unter der Prämisse, dass der Magiebegriff im alten Ägypten selbst nicht verwendet worden ist (da er bis zur Spätzeit gar nicht existierte), dass er aus Sicht der jüngeren theoretischen Debatte als substanzieller, wissenschaftssprachlicher Begriff ungeeignet ist – und es insofern (auch, und gerade, jenseits der Begriffe) schlicht keine altägyptische Magie gab. Michel Foucault hat die Fragwürdigkeit der Existenz von tatsächlichen Gegenständen diskursiv verhandelter Begriffen mit den folgenden, prägnanten Worten umschrieben: „man möchte sich gänzlich der ‚Dinge‘ enthalten; sie ‚ent-gegenwärtigen‘; ihre reiche, schwere und unmittelbare Fülle verbannen, aus der man gewöhnlich das Ur-Gesetz eines Diskur27 Vgl. neben dem eingangs erwähnten Assmann-Zitat auch R. K. Ritner, The Mechanics ..., 14 ff. sowie 236 ff. 28 Vgl. zur Ethnozentrismus-Problematik ausführlicher G. Ahn, „Eurozentrismen als Erkenntnisbarrieren in der Religionswissenschaft“, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 5, 1997, 41–58.
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ses macht“;29 im Folgenden sollen seine Worte im Kontext des Topos’ Magie im alten Ägypten beherzigt werden.
Zur ägyptologischen Konstruktion altägyptischer Magie Die ägyptologische Konstruktion altägyptischer Magie erscheint – wenn man die binnendisziplinäre Debatte zu überschauen versucht – keinesfalls einheitlich; die Vielfalt ägyptologischer Magie-Konstruktionen kann hier daher nur angedeutet werden. Insbesondere finden sich, wie oben bereits angesprochen, gegenüber den abwertenden Religion-Magie-Konstruktionen aus der Anfangszeit der Ägyptologie in neuerer Zeit zunehmend Publikationen, in denen Magie so fundamental im Kontext altägyptischer Religion verankert wird, dass die Begriffe nahezu austauschbar erscheinen. Prägnant findet sich diese Perspektive etwa in den Monographien von Christian Jacq (Le monde magique de l’Égypte ancienne; 1983) und Robert/Bob Brier (Ancient Egyptian Magic; 1980) verarbeitet; Christian Jacq etabliert Magie als zentrale, rituelle Grundkraft des institutionalisierten Tempel-, Pharaonen-, Götter- und Totenkults –30 wohlgemerkt allesamt Bereiche, die in anderen ägyptologischen Publikationen gemeinhin unter dem Begriff Religion (!) gefasst werden. Er schreibt etwa: „In the course of my studies I had, like all Egyptiologists, come across magic. Many ‚scholars‘ have tried to weed it out of Egyptian religion as a defect inconsistent with the grandeur of the metaphysical ideas found in the great texts. But magic is stubborn. It is present everywhere in Egypt, in the turn of a story thought of as ,literature‘, as much as in the interiors of tombs and on the walls of temples“,31 und bezeichnet folgerichtig altägyptische Priester, Ärzte, den Pharao, sogar einzelne Götter als Magier (magicians).32 Eine größtenteils vergleichbare Perspektive – die also nun, anders als frühere Entwürfe, einen positiv konnotierten Magiebegriff im Kontext der altägyptischen Kultur anwendet – findet sich auch bei Bob Brier, der etwa den
29 M. Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, 72. 30 Vgl. (im Folgenden nach der englischen Übersetzung) C. Jacq, Egyptian Magic, Wiltshire 1985, u.a. 1 ff.; vgl. gleichlautend Rosalie Davids Vorwort: R. David, „Introduction“, in: C. Jacq, Egyptian Magic, ix–xiv, v.a. x–xii 31 C. Jacq, Egyptian Magic, 2. 32 Vgl. zu Priestern C. Jacq, Egyptian Magic, 24–41; zu Ärzten: 106-124; zum Pharao: 9 f.; zu Göttern: 73–87.
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ägyptischen Pharao zum „mächtigsten aller Magier“ stilisiert.33 Auch in Geraldine Pinchs Magic in Ancient Egypt fragt man sich, welcher Bereich altägyptischer Religion eigentlich nicht wesentlich durch Magie charakterisiert sei – eine Frage, die auch die Lektüre von Ritners The Mechanics of Ancient Egyptian Magical Practice aufwirft, der gegen Ende seiner Analyse kaum zufällig den fragwürdigen Vorschlag unterbreitet, magic schlicht als „techniques of Egyptian religion“ aufzufassen.34 Selbst das eingangs erwähnte Assmann-Zitat („Das Problem ist aber nicht die Magie, sondern die Religion. Wo fängt sie an, wo hört sie auf, was gehört dazu, was hat mit ihr nichts zu tun? Die Magie bildet das Zentrum einer Praxis und Vorstellungswelt, die weiter ausgreift, aber wie weit?“)35 lässt sich im Rahmen dieser in den letzten Jahrzehnten zunehmend beliebten Magie-liegt-im-Zentrum-altägyptischer-Religion-Denkfigur deuten. Offenbar fanden – gegenüber den eingangs erwähnten, abwertenden Zitaten – in der Ägyptologie interpretative Verlagerungen statt, die hier nur angedeutet werden können. Im Folgenden soll daher versucht werden, anhand einiger neuerer, möglichst repräsentativer Entwürfe zu rekonstruieren, wodurch altägyptische Magie aus Sicht rezenter Ägyptologen gekennzeichnet ist. Dies soll anhand zweier Publikationen geschehen, die für andere stehen mögen – zum einen geht es um Ritners The Mechanics of Ancient Egyptian Magical Practice, zum anderen um den genannten Band Altägyptische Zaubersprüche von Fischer-Elfert. Ritners Studie stellt sicherlich die methodisch fundierteste Untersuchung zum Konstrukt altägyptische Magie in der jüngeren Ägyptologie dar und wird in der Fachwelt entsprechend geachtet. Fischer-Elferts Büchlein bietet wiederum die neueste Zusammenstellung bestimmter, als magisch klassifizierter altägyptischer Quellen im deutschsprachigen Raum und spiegelt – auch aufgrund der darin befindlichen ausführlichen Einleitung – rezente Forschungspositionen der deutschsprachigen Debatte wieder. Beiden Entwürfen ist zudem gemein, dass sie nicht mehr ausgehend von einer der klassischen Magiedefinitionen argumentieren, sondern explizit vorgeben, kontextorientiert zu arbeiten – das heißt: die altägyptische Terminologie und Quellensituation selbst als wesentlichen Referenz- und Interpretationsrahmen zu vereinnahmen.
33 Vgl. (deutsche Übersetzung) R. Brier, Zauber und Magie im alten Ägypten. Geheimes Wissen und Totenkult im Pharaonenreich, Frankfurt am Main 1991, 51 f. 34 R. K. Ritner, The Mechanics ..., 249. 35 J. Assmann, „Adolf Erman ...“, 106 f.
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Durch die folgende exemplarische Rekapitulation des jüngeren ägyptologischen Magiediskurses erübrigt sich die Diskussion etwa der zahlreichen binnendisziplinären Frazer-Rezeptionen, die sowohl aus religionswissenschaftlicher als auch ägyptologischer Sicht als veraltet gelten können. Interessanter ist, wie rezente Forscher mit der Problematik gescheiterter Definitionen umgehen, und – dies ist entscheidend – dennoch versuchen, am Magiebegriff im Kontext altägyptischen Quellenmaterials festzuhalten. Es wird sich zeigen, dass auch diese Entwürfe weiterhin durch eine ethnozentrische Forschungsperspektive gekennzeichnet sind – welche also auch dann bestehen bleibt, wenn implizite Vorverständnisse von Magie den Platz von Definitionen eingenommen haben. Zunächst sei auf Ritners Monographie The Mechanics of Ancient Egyptian Magical Practice eingegangen. Ritner unterteilt seine Studie in sechs Kapitel; zunächst setzt er sich eingehend mit den wichtigsten akademischen Magiedefinitionen auseinander, und kommt hierbei zu einem relativ vernichtenden Fazit, welches kaum zufällig in der Rezeption zweier Verzichtsforderungen mündet.36 Interessant angesichts dieser zunächst stark dekonstruktive Züge aufweisenden Rekapitulation der theoretischen Magiedebatte ist die darauf folgende Begründung einer Weiterverwendung des Magiebegriffs im Kontext altägyptischen Materials („Is there any rationale for maintaining the concept ‚magic‘ in Egyptology, and can it be distinguished from religion? The answer to the first question must be yes, and the answer to the second forms the substance of this study“).37 Jene Weiterverwendung sieht er in Anlehnung an das mittelägyptische , k3(w) beziehungsweise , k3 (Heka) legitimiert: der Magiebegriff könne deshalb als Verstehenskategorie bei der Untersuchung altägyptischer Quellen verwendet werden, weil die alten Ägypter selbst einen entsprechenden Begriff verwendet (sowie entsprechend übersetzt) hätten.38 Ritner rekurriert hier unter Anderem auf koptische Übersetzungen des Novum Testamentum Graece, namentlich auf die in der Apostelgeschichte befindliche Passage über den Samaritaner Simon,39 sowie die Tatsache, dass die spätantiken ägyptischen Übersetzer das koptische Hik – eine Ableitung des mittelägyptischen Heka – mit dem griechischen μαγεíα gleichgesetzt hät36 Vgl. R. K. Ritner, The Mechanics..., 13 Fußnote 51. 37 R. K. Ritner, The Mechanics ..., 13. 38 Vgl. R. K. Ritner, The Mechanics ..., 14: „If magic is to be retained as acategory in the study of Egyptian thought, it is because the Egyptians themselves gave a name to a practice which they – not others – identified with the Western concept of magic: Hik.“ 39 Vgl. R. K. Ritner, The Mechanics ..., 14 – in Anlehnung an Apg. 8,9–25.
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ten.40 Ausgehend von diesem in der Tat interessanten, gleichwohl (aus ägyptischer Sicht) sehr späten Befund – auf den unten noch ausführlicher eingegangen wird – glaubt Ritner Heka schließlich als terminologischen Ausgangspunkt zur Rekonstruktion und Interpretation altägyptischer Magie vereinnahmen zu können. Nach einer Rekonstruktion der wichtigsten Notationen und Implikationen von Heka – der Begriff bezeichnet in erster Linie eine altägyptische Gottheit, fungiert im alten Ägypten jedoch auch als abstrakter Signifikant spezifischer, mythologisch hergeleiteter und rituell evozierbarer Kräfte – skizziert Ritner in vier Einzelkapiteln schließlich sein Verständnis von altägyptischer Magie. Zunächst geht er hierbei auf die altägyptische Terminologie, insbesondere im Kontext des rituellen Sprechakts (um den Begriff 3h w, Sprüche), ein ˘ (Kapitel 2),41 daraufhin auf die Verwendung des Speichels sowie weiterer Körpersubstanzen und -bewegungen im Kontext ritueller Performanz (Kapitel 3),42 dann auf die rituelle Verwendung von Bildern, Keramiken, Figurinen und weiterer Ritualmittel (Kapitel 4),43 schließlich auf die Frage nach den Bezeichnungen und Funktionen der verschiedenen rituellen Spezialisten (Kapitel 5), die Ritner mit Magie assoziiert.44 In einem abschließenden, sechsten Kapitel werden die Befunde im Zuge einer nochmaligen, vertiefenden Diskussion der Begriffe Magie und Religion und ihrer Verwendung im altägyptischen Kontext rekapituliert;45 Ritner kommt hierbei, wie oben bereits angesprochen, zu dem Fazit, magic als „techniques of Egyptian Religion“ anzusehen, also eine Art Unterordnung der ritualpraktisch ausgerichteten Kategorie Magie unter die allgemeiner gefasste Kategorie Religion im alten Ägypten vorzunehmen.46 Auf die zahlreichen Detailanalysen und Einzelaspekte von Ritners Untersuchung kann hier nicht eingegangen werden; gleichwohl lässt sich an der gedanklichen Ausrichtung und inhaltlichen Strukturierung der Arbeit ablesen, wodurch Ritners implizites – also nicht definitorisch expliziertes, gleich40 Vgl. zur Passage G. W. Horner (Hg.), The Coptic Version of the New Testament in the Southern Dialect Otherwise called Sahidic and Thebaic with critical apparatus, literal English translation, register of fragments and estimate of the version. Vol. 6: The Acts of the Apostels, Oxford 1922, 164 f. 41 R. K. Ritner, The Mechanics ..., 29 ff. 42 R. K. Ritner, The Mechanics ..., 73 ff. 43 R. K. Ritner, The Mechanics ..., 111 ff. 44 R. K. Ritner, The Mechanics ..., 191 ff. 45 R. K. Ritner, The Mechanics ..., 235 ff. 46 R. K. Ritner, The Mechanics ..., 249.
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wohl Quellenauswahl, -strukturierung und -interpretation maßgeblich bedingendes – Magieverständnis gekennzeichnet ist. Hier sei zuallererst auf seine Orientierung am Begriff Heka verwiesen, in der er freilich in einer langen Tradition ägyptologischer Übersetzer und Interpreten steht – seit der Anfangszeit der Ägyptologie ist Heka üblicherweise mit Zauber/Magie (beziehungsweise engl. magic/sorcery, franz. magie/sorcellerie usw.) übersetzt worden. Das Bedeutungsspektrum des ägyptischen Begriffs ist gleichwohl komplex und umfasst im Wesentlichen drei semantische Notationen: zunächst eine Gottheit, die im altägyptischen Pantheon in ganz spezifischer Weise lokalisiert ist; darüber hinaus ein abstraktes Konzept, das hier zunächst als Kraft/Macht aufgefasst sei und eng mit jener Gottheit in Verbindung steht (worauf die zum Teil identische Schreibweise hindeutet); schließlich eine individuelle Personenbezeichnung; alle drei Verwendungsformen finden sich bereits in Texten des Alten Reichs und reichen bis in römische Zeit hinein.47 Um Ritners Deutung des Heka-Begriffs einordnen zu können, ist dieser etwas detaillierter zu skizzieren. Bereits als Signifikant der Gottheit ist Heka vielschichtig denotiert; so tritt Heka insbesondere in den Sargtexten als zentrale transzendente Figur auf, welche vom Einen – vor allen anderen Göttern – erschaffen worden sei (von Letzteren wird entsprechend Respekt eingefordert) und sich für die Schöpfung der Welt selbst verantwortlich zeigt.48 Im Rahmen dieser herausragenden Bedeutung wird Heka auch als Gefährte (etwa während der täglichen Fahrt der Sonnenbarke)49 beziehungsweise mächtiges Attribut des Re dargestellt und tritt hierbei als beschützende, sowie – im Kontext der Abwehr von Widersachern Res – zerstörerische Potenz in Erscheinung.50 Aufgrund der Sonderstellung Hekas kann Re anderen Göttern drasti47 Vgl. R. K. Ritner, The Mechanics ..., 15. 48 Vgl. hierzu besonders Spruch 261 und 648 der Sargtexte: R. O. Faulkner (Hg.), The Ancient Egyptian Coffin Texts. 1: Spells 1–354, Warminster 1973, 199–201 beziehungsweise R. O. Faulkner (Hg.), The Ancient Egyptian Coffin Texts. 2: Spells 355– 787, Warminster 1977, 223 f. (Faulkner übersetzt Heka immer mit magic); zu beiden Passagen auch R. K. Ritner, The Mechanics ..., 17 f. Vgl. zu Heka im Schöpfungskontext auch Spruch 472 der Pyramidentexte. 49 Vgl. hierzu H. Te Velde, „The God Heka in Egyptian Theology“, in: Jaarbericht van het Vooraziatisch-Egyptische Genootschap, „Ex Oriente Lux“ 21, 1970, 175–86, v.a. Bilder XXVI–XXVIII. 50 Vgl. exemplarisch Spruch 539 der Pyramidentexte: K. Sethe (Hg), Übersetzung und Kommentar zu den altägyptischen Pyramidentexten. Band 5: Spruch 507–582 (§§ 1102–1565), Hamburg 21962, 246; vgl. auch die siebte Stunde des Unterweltsbuchs (Amduat) – Re besiegt hier Apophis mit Hilfe Hekas: E. Hornung (Hg.),
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sche Strafen androhen, sollten diese sich seinem Willen widersetzen.51 In diesem Zusammenhang werden auch identifikatorische Formeln genannt, die der Verstorbene/Pharao auf seiner postmortalen Reise gegenüber etwaigen Widersachern zu rezitieren habe.52 Es sind unter anderem diese drohenden, zwingenden Umgangsformen, die den ägyptologischen Diskurs im Kontext von Heka häufig zu magiologischen (Frazerianischen) Deutungen verleitet haben.53 Heka als Abstraktum hat darüber hinaus einen recht substanziellen Charakter – es wird beispielsweise gegessen oder befindet sich im Leib (beziehungsweise Mund),54 sowohl im menschlichen wie im göttlichen Kontext. Heka kann in diesem Zusammenhang auch verloren werden, worauf mehrere Passagen in den Sargtexten hindeuten55 und weist folgerichtig Parallelen zu
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Das Amduat. Die Schrift des verborgenen Raums. Herausgegeben nach Texten aus den Gräbern des Neuen Reichs. 1: Text (Ägyptologische Abhandlungen 7), Wiesbaden 1963, 117 f. Auch in Spruch 1130 der Sargtexte wird das Bezwingen Apophis’ mit Hilfe Hekas genannt; vgl. hierzu vor allem E. Hermsen, Die zwei Wege des Jenseits. Das altägyptische Zweiwegebuch und seine Topographie (Orbis biblicus et orientalis 112), Göttingen 1991, 227–234. Vgl. hierzu besonders Spruch 539 der Pyramidentexte nach K. Sethe, Übersetzung und Kommentar ..., 246: „N ist ein Genosse des Gottes, ein Sohn des Gottes, N ist ein Sohn des Re, der von ihm geliebt ist, N ist dem Re erzeugt worden, N ist dem Re empfangen worden, N ist dem Re geboren worden. Dieses Heka ist an ihm, der im Leibe des N [der Re] war. [...] Jeder Gott, der ihm nicht eine Treppe schlagen wird dem N, wenn er aufsteigt und sich wie Schu erhebt zum Himmel, der soll keinen pAq-Kuchen haben, der soll keinen Schattenschirm haben, der soll [...]“; Sethe übersetzt Heka mit Zauber, der Begriff wurde hier daher daher zurück (und kursiv) gesetzt. Vgl. K. Sethe, Übersetzung und Kommentar ..., 246: „Nicht ist es N, der dies zu euch gesagt hat, Ihr Götter, Heka ist es, der dies zu euch gesagt hat, Ihr Götter [...]“; Sethe übersetzt Heka wieder mit Zauber. Vgl. hierzu etwa H. Kees (Totenglauben und Jenseitsvorstellungen ..., 71), der Pyr. 539 ganz Frazerianisch deutet: „Zum Schluß kommt dann noch ein anderes Mittel, das zeigt, wie die Magie in den Totenglauben Eintritt fand, die direkte Bedrohung der Götter unter der Maske eines besonders zauberreichen Gottes.“ Vgl. hierzu exemplarisch Sprüche 393a–414c der Pyramidentexte (der sog. Kannibalenhymnus) sowie Sprüche 33–37, 239 und 304 der Sargtexte; hierzu ausführlicher auch P. Eschweiler, Bildzauber ..., 233 f. Vgl. Sprüche 349 und 350 der Sargtexte; vgl. auch Spruch 31 des Totenbuchs nach E. Hornung (Hg.), Das Totenbuch der Ägypter (Die Bibliothek der alten Welt), Zürich 1979, 98 f.: „Spruch, um das Krokodil zu vertreiben, das herankommt, um Heka des NN von ihm fortzunehmen im Totenreich. Zurück du, kehr um! Zurück du, Krokodil! Nahe mir nicht, denn ich lebe von meinem Heka [...] Wie der Him-
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den Postmortalitätsanteilen ba und ka auf.56 Wichtig für das Verständnis des Abstraktums Heka ist zudem, dass es auch im diesseitig-menschlichen Kontext angewendet werden kann; der Begriff steht dann in enger Verbindung zum Verb iri (machen) sowie insbesondere zum rituellen Sprechakt – etwa im Kontext der Begriffe 3h w (wirkmächtige Sprüche), d (Sprechen), mdw (Worte) ˘ oder r3w (Sprüche).57 Die besondere Bedeutung des rituellen Sprechakts im Kontext von Heka lässt sich auch an der häufigen Nennung des Abstraktums im Zusammenhang mit der Gottheit Thot erkennen, welche im altägyptischen Kontext u.a. mit Sprache und Schriftgelehrtheit in Verbindung gebracht wird.58 Heka verkörpert in einer Reihe theologisch-mythologischer Texte des alten und mittleren Reichs also eine schöpferische, beschützende oder auch zerstörerische Kraft und personifiziert diese Attribute in einer eigenständigen Gottheit. Interessant ist im altägyptischen Kontext insofern die konkrete Personifizierung von göttlicher Potenz, von sprichwörtlicher, vielseitig einsetzbarer Schöpfungskraft, welche – diese Analogie mag helfen – im jüdisch-christlichen Schöpfungsverständnis eher verborgen ist und (etwa im Genesis-Bericht) nur vage im Wort Gottes fassbar wird.59 Es ist die Notation der Kraft, die es dem Ägypter erlaubt hat, den Begriff auch im menschlichen, rituellen Kontext zu instrumentalisieren (übrigens wird Heka zum Teil auch als Kraft/force übersetzt; in der Tat fungiert der Begriff als Synonym weiterer altägyptischer Begriffe für Kraft –
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mel seine Stunden (Sterne) umschließt, wie mein Heka seine Geräte umschließt, so umschließt mein Mund Heka, der in ihm ist. [...] O du mit geknüpftem Rückgrat, dessen Auge gegen mein Heka hier gerichtet ist – nimm ihn nicht fort, du Krokodil, das von Heka lebt!“; auch Hornung übersetzt Heka immer mit Zauber, der Begriff wurde daher wieder zurück (und kursiv) gesetzt. Vgl. die sogenannte Ba-Theologie im Buch von der Himmelskuh: E. Hornung (Hg.), Der ägyptische Mythos von der Himmelskuh. Eine Ätiologie des Unvollkommenen (Orbis Biblicus et Orientalis 46), Freiburg 1982, 46 f.; vgl. auch Spruch 261 der Sargtexte sowie eine Passage im Papyrus Bremner-Rind: R. O. Faulkner, The Papyrus BremnerRind (British Museum No. 10188) (Bibliotheca Aegyptiaca 3), Brüssel 1933, 61; zu weiteren Belegen vgl. R. K. Ritner, The Mechanics ..., 24. Vgl. zur vielschichtigen Terminologie um den Sprechakt ausführlicher R. K. Ritner, The Mechanics ..., 30 ff., zu iri 68 f. Thot wird beispielsweise im Papyrus Bremner-Rind (Z. 33, 17/18) als groß an Heka (mnḫ ḥk3) gekennzeichnet; vgl. hierzu (sowie zu weiteren Beispielen) R. K. Ritner, The Mechanics ..., 35 f. Vgl. 1. Mose 1 f.
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etwa p ty).60 In einem Text aus der zehnten Dynastie wird Heka explizit als göttliches Geschenk an den Menschen markiert, seine apotropäische Anwendung durch den Menschen als legitim dargestellt.61 Unter dieser Voraussetzung konnte Heka sowohl im institutionalisierten Tempelkult als auch im privaten, individuellen Rahmen rituell ‚eingesetzt‘ werden.62 Überspitzt könnte man also formulieren, dass (funktional ganz unterschiedlich verortete) altägyptische Ritualspezialisten im Kontext von Heka glaubten, selbst mit göttlicher Schöpfungskraft operieren beziehungsweise diese rituell manifestieren zu können. Erik Hornung bündelt diese fundamentale Kraft-Vorstellung in der verblüffenden Aussage, dass Heka als „Atomenergie der frühen Menschheit“ fungiert habe.63 Die Problematik um eine Deutung und Übersetzung von Heka im Kontext von Magie sei nun von mehreren Seiten aufgezogen. Zunächst ist zu fragen, weshalb Heka überhaupt übersetzt wird; das Bedeutungsspektrum des Begriffs hat sich ja bereits in dieser kurzen (und nur grundlegende Aspekte wiedergebenden)64 Zusammenstellung als recht komplex erwiesen. Andere, vergleichbar komplexe ägyptische Termini werden in der ägyptologischen Analyse – und hier nach allgemeinem Konsens – ja bewusst stehen gelassen, mit dem Hinweis, dass diese mit modernen Begriffen nicht adäquat übersetzbar seien (dies ist etwa für die Postmortalitätsanteile ka und ba zu konstatieren).65 Heka ist allerdings schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts als god of magic gekennzeichnet 60 Vgl. etwa Spruch 940 der Pyramidentexte; ausführlicher R. K. Ritner, The Mechanics ..., 25. 61 Vgl. zum Text Instruktionen für König Merikare M. Lichtheim, Ancient Egyptian Literature. A Book of Readings. 1: The Old and Middle Kingdoms, Berkeley 1973, 106 f.; vgl. auch R. K. Ritner, The Mechanics ..., 20. 62 Dies sei betont, um etwaigen Durkheimianern bei der Interpretation altägyptischer Quellen eine Absage zu erteilen; vgl. hierzu auch R. K. Ritner, The Mechanics ..., 189 f.: „As neither terminology nor technique seperate public from private ritual sorcery, so a comparison of the potential efficacy of the two practices yields no discernible distinction. […] Within Egypt, private no less than public rites were believed to manipulate the genuine force of heka“ (Kursivsetzung Ritner); Ritners Verwendung des Begriffs sorcery wird hier freilich ebenfalls kritisch gesehen. 63 E. Hornung, Der Eine und die Vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen, Darmstadt 1971, 205. 64 Vgl. zu Heka ausführlicher R. K. Ritner, The Mechanics ..., 14 ff.; sowie insgesamt H. Te Velde, „The God Heka ...“. 65 Vgl. hierzu exemplarisch J. Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001, bes. Kapitel 4 („Der Tod als Dissoziation: Die Person des Toten und ihre Konstituenten“), 116–159
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worden,66 was zu einer mittlerweile disziplingeschichtlich verankerten und meist kaum hinterfragten Übersetzungspraxis im Kontext von Zauber/Magie geführt hat. Doch welche hermeneutischen – das heißt: verständnisgenerierenden – Vorteile hat die Übersetzung von Heka mit Magie, anstatt den Begriff, dann analog etwa zu ka und ba, in seiner semiotischen Fassung stehen zu lassen oder zumindest wertfreier mit Kraft/Macht zu übersetzen? Hier wird argumentiert, dass dieses Vorgehen keine Vorteile aufweist; stattdessen wird ein sowohl im außerwissenschaftlichen wie akademischen Diskurs hochproblematischer Begriff im Kontext altägyptischen Text- und Quellenmaterials appliziert, der unweigerlich spezifische – überhaupt erst im Zuge der nachpharaonischen, abendländischen Religions- und Kulturgeschichte entstandenen – Wertungs- und Denkmuster transportiert. Dies lässt sich bereits hinsichtlich der akademischen Neigung erkennen, die bloße Vorstellung konkreter, rituell evozierter Kräfte als magisch zu bezeichnen, welche offenbar hinter der impliziten Gleichsetzung von Kraft (Heka) und Magie steht. Freilich hat auch im Kontext der Geschichte des Magiebegriffs der (rituelle) Kraft-Topos eine bedeutende Rolle gespielt; er ist aber (abgesehen von der impliziten Gegenüberstellung zu modernen, naturwissenschaftlichen Kausalitätsvorstellungen)67 im interreligiösen Kontext weithin überdeterminiert – denn dass religiöse Kultpraktiken (nach Ansicht ihrer Praktizierenden) keine Kraft beziehungsweise efficacy aufweisen würden (um einen Begriff aus der neueren ritualtheoretischen Debatte aufzugreifen), wäre allenfalls aus Sicht eines verinnerlichten, tendenziell aritualistischen, christlich-protestantischen Religionsverständnisses plausibel und bereits im Kontext des katholischen Transsubstantiations- oder Sakra66 Vgl. bereits A. H. Gardiner, „Some Personifications. I. ‚Heka‘ The God of Magic“, in: Proceedings of the Society of Biblical Archaeology 37, 1915, 253–262; schon in diesem Aufsatz hat Gardiner allerdings eine starre Dichotomisierung von Religion und Magie verworfen: „That Magic should have been regarded as an attribute of a deity, and a fortiori as itself a deity, destroys at one blow the theories of those who discern a fundamental distinction between what is religious and what is magical.“ (S. 262) 67 R. K. Ritner (The Mechanics ..., 69) weist übrigens verblüffende argumentative Inkonsistenzen auf, wenn er gegen Ende des 3. Kapitels – im Rahmen eines Zwischenfazits zum Magiebegriff („A definition of magic“) – plötzlich doch eine substanzielle Magiedefinition vorschlägt: „For the purpose of this study, any activity which seeks to obtain its goal by methods outside the simple laws of cause and effect will be considered ‚magical‘ in the Western sence.“ Inwieweit im Grunde alle Aspekte altägyptischer Religion unter diesen Magiebegriff fallen, thematisiert Ritner nicht.
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mentsverständnisses fragwürdig (ganz zu schweigen von etablierten Formen graeco-römischer oder altorientalischer Ritualpraxis, um nur diese zu nennen – verlässt man den westlichen Kulturraum, erscheint die Unterscheidung noch willkürlicher). Auch der ägyptologische Reflex, die im Kontext von Heka (nun der Gottheit) beobachtbaren – durch dessen herausragende Kraft/Macht begründeten – göttlichen Bedrohungs- beziehungsweise Zwangsszenarien als magisch zu titulieren, illustriert vielmehr die Applikation eines (aus ägyptischer Sicht) sehr späten, wiederum christozentrischen Religionsbegriffs, der – gleichsam normativ – nur friedvolle, unterwürfige Umgangsformen mit Gott/Göttern als adäquat (religiös) erachtet; die potentielle Eigenlogik altägyptischer Theologie wird hierdurch aber verstellt. Denn dass Protagonisten des altägyptischen Pantheons anderen, untergeordneten (im Kontext einer Kraft-Vorstellung also schwächeren) Göttern drohen können – was der ägyptische Ritualspezialist (auch und vor allem der ry- b, der oberste Vorlesepriester) durch die rituelle Identifikation mit Heka glaubte nachvollziehen zu können –,68 galt im altägyptischen Kontext offenbar als legitime Form des zwischenmenschlichen wie -göttlichen Umgangs. Entsprechende Textmuster separat (das heißt nicht mehr unter dem Religionsbegriff, sondern) unter dem Magiebegriff zu fassen, stellt daher eine arbiträre, dem ägyptischen Verständnis fremde Differenzierung zweier, (nur) scheinbar wesensunterschiedener Arten von Transzendenzbezug dar. So kann ein zweiter Zugang zur Problematik der Übersetzung und Interpretation von Heka im Kontext von Magie/Zauber über den Religionsbegriff selbst etabliert werden. Ritner macht in seiner Studie in vielerlei Hinsicht darauf aufmerksam, dass all das, was er unter Magie fasst, eigentlich (auch) als konzeptioneller Bestandteil altägyptischer Religion aufgefasst werden kann. Dies ist von zahlreichen Implikationen des von ihm gewählten altägyptischen Materials selbst ableitbar: Heka ist nicht umsonst als Mitglied des ägyptischen Pantheons identifiziert worden, welches üblicherweise unter dem Religionsbegriff abgebildet wird – genauso wie das Gros der mythologisch-theologischen Texte zur Gottheit, etwa die Pyramidentexte des alten Reichs, die Sargtexte des mittleren Reichs, sowie die weiteren, hier zum Teil genannten Texte 68 Vgl. zu ritualpraktischen Götteridentifikationen und -drohungen im Kontext des altägyptischen Tempelkults M. Gutekunst, „Zauber“, 1341 Fußnote 46. Vgl. auch die Beispiele und Diskussion bei J. F. Quack, „Das Pavianshaar und die Taten des Thot (pBrooklyn 47.218.48+85 3, 1–6)“, in: Studien zur altägyptischen Kultur 23, 1996, 305–333, 309 f. Ausführlicher auch J. F. Quack, „La magie au temple“, in: Y. Koenig; Y. Berlandini, La magie en Égypte ..., 41–68.
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und Textgattungen, in denen Heka auftaucht. Der rituelle Sprechakt, der als wesentliches Charakteristikum der menschlichen Instrumentalisierung von Heka aufscheint, stellt tatsächlich den kultischen Kern des institutionalisierten Tempel- und Götterkultes im alten Ägypten dar; nicht umsonst wird der ry- b, der oberste Vorlesepriester, als eine der höchsten Autoritäten im Kontext von Heka genannt.69 Insofern ist es kaum zufällig auch der institutionalisierte Tempel- und Götterkult – wieder drängt sich der Begriff Religion auf –, in dem Heka die entscheidende theologische wie ritualpraktische Rolle spielt, etwa im Kontext des zyklischen (täglichen), rituell nachvollzogenen Schöpfungsakts.70 Heka durchdringt wesentliche Bereiche dessen, was üblicherweise als altägyptische Religion verstanden wird, in so fundamentaler Weise, dass eine Applikation des Magiebegriffs (der, ob man will oder nicht, die Problematik seiner Abgrenzung zum Religionsbegriff immer in sich trägt) fragwürdig erscheint. Das Problem einer ägyptologischen Verwendung des Magiebegriffs im Kontext altägyptischen Quellenmaterials rührt daher nicht nur von der Problematik des Magiebegriffs selbst her, sondern auch von ungeklärten, tatsächlich unnötigen Annahmen gegenüber dem Religionsbegriff. Offensichtlich spricht man diesem im ägyptologischen Diskurs bis heute die Fähigkeit ab, die Vorstellung konkreter, deifizierter, rituell evozierter Kräfte oder auch die Vorstellung einer besonderen Wirkmächtigkeit rituellen Sprechens abbilden zu können. Doch ist dies gerechtfertigt? Was spricht dagegen, diese und andere Aspekte als wichtige Charakteristika altägyptischer Religion aufzufassen und auf den Magiebegriff im altägyptischen Kontext zu verzichten? Fasst man den Religionsbegriff als möglichst wertfreies, kontextoffenes, heuristisches Fenster zur Fruchtbarmachung religionswissenschaftlichen Quellenmaterials – etwa im Kontext der primären Notation des Transzendenzbezugs, die im altägyptischen Kontext ausreichend erscheint –,71 sollte dem nichts im 69 Vgl. ausführlicher R. K. Ritner, The Mechanics ..., 220 ff. 70 Vgl. R. K. Ritner, The Mechanics ..., 18; vgl. auch die zahlreichen Befunde zur eigenständigen, kultischen Verehrung Hekas: R. K. Ritner, The Mechanics ..., 26 ff. 71 Hier wird der Auffassung Gregor Ahns gefolgt, der im Kontext der Problematik des Religionsbegriffs festhält, dass dieser trotz seiner gleichfalls ethnozentrischen Implikationen im interkulturellen Kontext weiterhin als – eben möglichst wertfreie, gegenstandsoffene, und anpassungsfähige – Verstehenskategorie fungieren könne: G. Ahn, „Religion I. Religionsgeschichtlich“, in: G. Krause; G. Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie. Band 28: Pürstinger-Religionsphilosophie, New York 1997, 513–522, v.a. 520. Die Notation des Transzendenzbezugs, die bis heute im Kontext akademischer Religionsdefinitionen aufgegriffen wird (vgl. zuletzt M.
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Wege stehen. Dass der Religionsbegriff in der Ägyptologie bis heute nicht als adäquat erachtet wird, die genannten Bereiche abbilden zu können, deutet vielmehr darauf hin, dass im ägyptologischen Diskurs nach wie vor ein zu eng gefasstes, verzerrendes Verständnis von Religion vorherrschend ist. Diese Problematik lässt sich auf alle weiteren Gegenstandsbereiche, die Ritner als magisch identifiziert, übertragen. Wenn in Kapitel 3 vorwiegend Speichel, Spucken und weitere – im altägyptischen Kontext wichtige – rituelle Funktionalisierungen von Körperflüssigkeiten und -attributen als magisch identifiziert werden (dann übrigens auch unabhängig vom Heka-Begriff ), scheint Ritner zu suggerieren, dass die Verwendung von körpereigenen Ritualmitteln wiederum nicht als integraler Aspekt altägyptischer Religion angesehen werden könne; gleichwohl führt er hierbei (erneut) zahlreiche mythologisch-theologische Quellentexte an, aus denen die Arbitrarität einer Unterscheidung von Religion und Magie im Kontext oraler Ritualsegmente gerade hervorgeht. Dies gilt auch für die Verwendung weiterer materieller Ritualmittel, die Ritner in Kapitel 4 behandelt, etwa die Verwendung von Bildern, Statuen oder Keramiken (wiederum sowohl im Kontext des institutionalisierten Kultes als auch im Rahmen privater, individueller Ritualpraktiken und -ziele) – auch das Gros des Materials, das Ritner hier anführt, stammt aus Bereichen (etwa den Pharaonengräbern), die man gemeinhin unter altägyptischer Religion fasst. Zudem kommt hier ein weiteres implizites Denkmuster zum Tragen: die instinktive Zuordnung schadenbringender Ritualpraktiken zum Magiebegriff, offenbar ausgehend von der (wiederum unbegründeten) Überzeugung, dass die Funktionalisierung von Gottesmacht zum Schaden Anderer nicht ebenfalls als Aspekt von Religion aufgefasst werden könne. Zugegeben: der akademische Diskurs scheut sich bis heute davor, letzteren Aspekt – also die Durchführung von Ritualpraktiken zum Schaden Anderer – als integralen Aspekt von Religion anzusehen. Schadenbringende Ritualmotivationen werden geradezu instinktiv vom Religionsbegriff ferngehalten (nun in impliziter oder expliziter Fortführung Durkheimscher Setzungen) und meist unter der wenig aussagekräftigen Chiffre Schadenzauber konzeptionalisiert. An dieser Stelle kann nicht auf die zahlreichen Beispiele aus der graecorömischen oder jüdisch-christlichen Religionsgeschichte eingegangen werden, Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen Eine Theorie der Religionen, München 2007, 113), erscheint im altägyptischen Kontext in der Tat als ausreichend, um nicht nur die wesentlichen Bestandteile des ägyptischen Tempel-, Pharaonen-, Götter- und Totenkults abzubilden, sondern auch und gerade das typischerweise als magisch klassifizierte Material.
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welche die unter bestimmten Umständen als legitim angesehene Funktionalisierung von Gottesmacht zum Schaden Anderer veranschaulichen mögen.72 Entscheidend ist, dass ein solches Vorgehen im altägyptischen (auch und gerade pharaonisch-politischen) Kontext ein geradezu übliches Denk- und Handlungsmuster darstellte.73 Dieses wiederum unter Magie zu fassen und dadurch in implizite oder explizite Opposition zu altägyptischer Religion, zu Königs-, Tempel- und Götterkult zu stellen, führt daher ebenfalls – analog zu den obigen Befunden – zu einer künstlichen, verzerrenden Sichtweise auf das altägyptische Quellenmaterial und Selbstverständnis. So lassen sich auch ohne eine differenzierte Analyse des ägyptischen Materials selbst eine Reihe von grundlegenden Schwierigkeiten in Ritners Studie identifizieren, die seine Applikation zweier unterschiedlicher Begriffe für Transzendenzbezug im alten Ägypten – Religion und Magie – mit sich bringt. Anstatt den Bereich altägyptischer Religion schlicht so (weit) zu fassen, dass dieser Formen der rituellen Identifikation mit Gottheiten, die Nutzbarmachung einer quasi-göttlichen, rituell evozierbaren Kraft (Heka), die Vorstellung einer besonderen Wirkmächtigkeit rituellen Sprechens, oder auch die Funktionalisierung von Gottesmacht zum Schaden Anderer gleichermaßen umfasst, wird mit Magie ein zweiter, gleichwohl hochproblematischer Begriff zur Kennzeichnung und Deutung des altägyptischen Materials appliziert. Ritner argumentiert, hierdurch einen Erkenntnisgewinn, einen fruchtbaren Zugang Quellenmaterial 72 Allein der biblische Befund spricht eine deutliche Sprache: vgl. im alttestamentarischen Kontext – neben dem Wettstreit Mose/Aarons mit den ägyptischen Priestern in Ex 7,9 ff., der ja (für das ägyptische Volk!) eine offenkundig schadenbringende Funktionalisierung der Macht JHWHs zum Brechen des pharaonischen Willens impliziert – auch (exemplarisch) die Todesflüche Elias gegen die Gesandten des jüdischen Königs Ahasja (2. Kön. 1,9–10) und Elischas gegen die 42 Kinder, die sich über seinen Kahlkopf lustig gemacht hatten (2. Kön. 2,23–25); vgl. im neutestamentarischen Kontext etwa die Blendung des vermeintlichen Pseudopropheten und mágos Barjesus in Apg 13,10–11 oder die drastische Tötung des Bauernpaares Hananias und Saphira in Apg 5,1–11, die einen Teil des Verkaufserlöses ihres Ackers den Aposteln vorenthalten hatten. Auch im graeco-römischen Kontext sind rituelle Verfluchungspraktiken etwa im Kriegsfall sicherlich die Regel gewesen, wie bereits Homer (vgl. u.a. Ilias, 1. Gesang, 35 f.) und Herodot (vgl. u.a. Historien 7, 188 f.) veranschaulichen. 73 Vgl. zum Ritual des Zerschlagens der roten Töpfe (und Spruch 244 der Pyramidentexte) ausführlicher R. K. Ritner, The Mechanics ..., 144 f.; zu Papyrus Rollin: 192 f.; zur Amada-Stele: 13 bzw. 187. Vgl. exemplarisch auch die Defixionsfiguren zur Schädigung der Feinde Ägyptens aus der 12. Dynastie, erläutert bei H.-W. FischerElfert, Altägyptische Zaubersprüche ..., 79–81 bzw. 151.
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selbst zu ermöglichen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: die Verwendung des Magiebegriffs führt zu einer arbiträren, verzerrenden Anordnung des altägyptischen Materials, zu einer – gleichsam normativen – Scheidung der Quellen, wodurch unweigerlich abendländische, dem Material selbst fremde, und daher hochproblematische Wertungsmuster im altägyptischen Kontext aktualisiert und perpetuiert werden. So hat sich eine wichtige Erkenntnis hinsichtlich der ägyptologischen Verwendung des Magiebegriffs ergeben: um das bis dato als magisch klassifizierte altägyptische Material sinnvoller und wertfreier deuten und einordnen zu können, muss auch und gerade der Religionsbegriff der Ägyptologie konzeptionell erweitert, insbesondere von seinem christozentrischen Wertungs- und Bedeutungsballast befreit werden. Ein vergleichbares Urteil lässt sich über Fischer-Elferts 2005 erschienenen Reclam-Band Altägyptische Zaubersprüche fällen. Fischer-Elfert geht in seiner Einleitung wiederum explizit – und zum Teil sehr kritisch – auf die theoretische Debatte ein: „Die überwiegend in Ethnologie/Anthropologie und Religionswissenschaft im gesamten 20. Jahrhundert geführte Debatte über das Verhältnis der vermeintlich nebeneinander agierenden Größen – und damit meist zugleich ihrer angeblich unterschiedlichen Repräsentanten – ist zumindest in der Ägyptologie an einem Punkt angelangt, der eine künstliche Trennung in ‚altägyptische Religion‘ versus oder plus ‚altägyptische Magie‘ zu einem wissenschaftshistorischen Anachronismus macht“.74 Gleichwohl suggeriert er zuvor nicht nur die substanzielle Gegenüberstellung von Magie und Medizin, einschließlich konkret abzugrenzender Ritualspezialisten und Textkorpora,75 sondern daraufhin auch die Gegenüberstellung von „Interaktion zwischen Mensch und Dämon bzw. personifiziertem Übel“ (Magie) und „Interaktion zwischen König/ Mensch und Göttern“ (Religion),76 die tatsächlich eine verblüffende Rückprojektion einer (im ägyptischen Kontext außerordentlich fragwürdigen) Denkfigur des christlich-theologischen Diskurses darstellt.77 Letztere Gegenüberstellung wird zudem noch im selben Absatz mit dem Zusatz verwässert, „Natürlich spielen zahllose Götter in der Magie eine wesentliche Rolle, aber die überwiegende Zahl der direkten Adressaten und Opponenten von Magier und seinem Patienten sind Dämonen. […] Götter treten dabei eher als Helfer des Magiers 74 75 76 77
H.-W. Fischer-Elfert, Altägyptische Zaubersprüche ..., 14. H.-W. Fischer-Elfert, Altägyptische Zaubersprüche ..., 10–14 H.-W. Fischer-Elfert, Altägyptische Zaubersprüche ..., 15. Vgl. zum Topos der dämonischen Magie ausführlicher B.-C. Otto, Magie ..., v.a. Kapitel 8.
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in Aktion“.78 Im darauf folgenden Abschnitt schreibt Fischer-Elfert schließlich, dass „alle drei Felder, Medizin – Magie – Religion“ durch ein grundlegendes rituelles Element, das Einkreisungsritual („eine der zentralen Techniken altägyptischer Magie“) vereint und insofern rituell kaum voneinander abgrenzbar seien.79 In den weiteren Abschnitten der Einleitung wird der altägyptische Ritualspezialist (ob Pharao, Priester, Arzt, oder privater Dienstleister) schließlich durchweg – angesichts der vorherigen Grenzziehungen wiederum irritierend – als Magier/Zauberer bezeichnet. Auch bei Fischer-Elfert ist also – wie bei Ritner – ein implizites Festhalten an klassischen Dichotomien (im Grunde der Frazerschen Trias Magie – Religion – Wissenschaft) beobachtbar, welches aufgrund der expliziten Zurückweisung bestehender Definitions- und Theoriemodelle unverständlich und offenkundig an impliziten Vorverständnissen orientiert erscheint. Auch Fischer-Elfert verzichtet nicht auf einen substanziellen Magiebegriff im alten Ägypten und fasst diesen – wiederum in Anlehnung an Heka („Salopp formuliert, ohne hekaw ‚läuft nach ägyptischem Denken gar nichts‘. Hekaw ist diejenige Potenz und Macht, die zugleich sämtliche der sog. offiziellen Tempelrituale […] überhaupt erst möglich macht“) –80 außerordentlich weit; wiederum wird Heka/Magie zu einem Fundament altägyptischer Religion stilisiert. So trifft auf seine Quellenauswahl dieselbe Kritik zu, die bereits im Kontext von Ritners The Mechanics of Ancient Egyptian Magical Practice formuliert worden ist: der von Fischer-Elfert als Zaubersprüche gekennzeichnete Textkorpus stellt eine arbiträre Zusammenstellung altägyptischen Quellenmaterials dar, das nicht stringent von anderen Aspekten altägyptischer Religion abgegrenzt und abgrenzbar ist. Alle von ihm aufgeführten und in thematischen Unterkapiteln zusammengefassten Texte – die wichtigsten Themen seien genannt: „Schutz von Leib und Seele“ (Kap. A.I), „Schutz vor gefährlichen Tieren“ (Kap. A.II), „Schutz in Krisenzeiten“ (Kap. A.III), „Schaden- und Vernichtungszauber“ (Kap. A.V), „Schutz des Hauses“ (Kap. A.VI), „Zauber und Medizin in Transfer“ (Kap. A.VIII), „Divination“ (Kap. A.IX), „Orakeldekrete und -anfragen; öffentlich praktizierter Exorzismus“ (Kap. A.X) – lassen sich ohne hermeneutische Abstriche unter dem Religionsbegriff abbilden, wie es in ägyptologischen Einzeluntersuchungen zu diesen Texten ja durchaus geschieht. FischerElferts Konzeptionalisierung dieser Texte unter dem Begriff Zauber/Magie 78 H.-W. Fischer-Elfert, Altägyptische Zaubersprüche ..., 15–16. 79 H.-W. Fischer-Elfert, Altägyptische Zaubersprüche ..., 16. 80 H.-W. Fischer-Elfert, Altägyptische Zaubersprüche ..., 10.
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evoziert keinen interpretativen Vorteil, sondern blockiert vielmehr die Möglichkeit, (endlich) eine einheitliche, möglichst wertfreie Darstellung und Deutung der vielfältigen Aspekte und Implikationen von Transzendenzbezug im alten Ägypten zu erstellen und veraltete, ethnozentrische Dichotomien wie Magie – Religion oder Magie – Wissenschaft zu den Akten zu legen.
Hik und μαγεα Bis dato wurde die ägyptologische Rezeption des Magiebegriffs vor dem Hintergrund der jüngeren, kritischen Magiedebatte in der Religionswissenschaft rekapituliert und grundlegend in Frage gestellt. Wie ist aber Ritners Verweis auf einen rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen dem ägyptischen Heka-Begriff und dem Magiebegriff (unter Anderem) des Novum Testamentum Graece einzuordnen? Rechtfertigt die Übersetzung des koptischen Hik mit dem griechischen μαγεα im Rahmen der Schilderung des Samaritaners Simon in Apg 8,9f tatsächlich die Verwendung eines substanziellen Magiebegriffs in der Ägyptologie? Diese Frage – sowie darüber hinaus eine kurze Einordnung der Position Ägyptens in der antiken Rezeptionsgeschichte des Magiebegriffs – soll im folgenden, abschließenden Abschnitt besprochen werden. Die Implikationen der koptisch-griechischen Übersetzung können relativ schnell abgehandelt werden; der griechische Magiebegriff taucht im Novum Testamentum Graece insgesamt sieben mal auf und verteilt sich hier auf drei (kurze) Passagen. Neben der bekannten, gleichwohl positiv konnotierten Nennung der μγι π νατλν (Magier aus dem Osten) in Mt 2,1f81 finden sich zwei weitere Passagen in der Apostelgeschichte, in denen der Magiebegriff zur pejorativen Kennzeichnung fremdreligiöser Ritualpraktiken und -spezialisten funktionalisiert wird – eine Applikation des Begriffs, die im 81 Bekanntermaßen hat die nachbiblische Rezeption der Passage im (irreführenden) Topos der heiligen drei Könige gemündet; vgl. zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Topos’ u.a. M. Becker-Huberti, Die heiligen drei Könige. Geschichten, Legenden und Bräuche, Köln 2005. Zur ausufernden akademischen Diskussion um die Passage vgl. etwa K. von Stuckrad, Das Ringen um die Astrologie. Jüdische und christliche Beiträge zum antiken Zeitverständnis (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 49), Berlin 2000, 555–567, Fußnote 76. Luther hat die im Matthäus-Evangelium genannten Magier schließlich frei mit Weise aus dem Morgenland übersetzt.
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graeco-römischen Sprachraum der Zeitenwende hinreichend etabliert und geradezu üblich ist.82 Im Kontext der von Ritner angeführten neutestamentarischen Schilderung des Samaritaners Simon wird etwa erwähnt, dass dieser das Volk der Samaritaner mittels μαγεα verführt habe, welches ihn verehrt und sogar als Kraft Gottes (δναμις τ θε) bezeichnet habe.83 Der griechische Magiebegriff denotiert hier offenbar nicht näher explizierte, außeralltäglich-mirakulöse Fähigkeiten des Simon, die in der Passage schließlich explizit den Zeichen und großen Taten (σημεα κα δυνμεις)84 der Apostel gegenüber gestellt und dadurch als minderwertig gekennzeichnet werden. Simon erkennt selbst die mirakulöse Überlegenheit der Apostel und bietet diesen schließlich Geld an, um den heiligen Geist empfangen und weitergeben zu dürfen. Als Höhepunkt der Passage beschimpft Petrus Simon, verweist auf sein unreines Herz und darauf, dass Gottes Gabe nicht mit Geld zu erlangen sei.85 Die später kontrovers diskutierte – für ihre Wirkungsgeschichte erstaunlich kurze – Passage über die Figur des Simon Magus86 illustriert im Wesentlichen die Überlegenheit des apostolischen Wirkens gegenüber den Fähigkeiten fremdreligiöser Ritualspezialisten.87 Hintergrund ist hier freilich die (arbiträre, rein apologetische) innerbiblische Gegenüberstellung der Begriffe σημεν/signum (Zeichen) beziehungsweise θαμα/miraculum (Wunder) auf der einen und μαγεα/magia (sowie einer Reihe griechisch-lateinischer Synonyma) auf der anderen Seite. Jene Gegenüberstellung fußt in analog strukturierten alttestamentarischen Argumentations- und Begriffsstrukturen88 und 82 Vgl. hierzu ausführlicher B.-C. Otto, Magie ..., v.a. Kapitel 6-8. 83 Vgl Apg 8,9–10 nach Luther 1984: „Es war aber ein Mann mit Namen Simon, der zuvor in der Stadt Zauberei [NT Graece: μαγεων; Vulgata: Simon qui ante fuerat in civitate magus] trieb und das Volk von Samaria in seinen Bann zog, weil er vorgab, er wäre etwas Großes. Und alle hingen ihm an, Klein und Groß, und sprachen: Dieser ist die Kraft Gottes [NT Graece: δναμις τ θε; Vulgata: virtus dei] die die Große genannt wird Sie hingen ihm aber an, weil er sie lange Zeit mit seiner Zauberei [NT Graece: μαγεαις; Vulgata: magicis] in seinen Bann gezogen hatte.“ 84 Apg 8,13 nach Luther 1984; NT Graece: σημεα κα δυνμεις; Vulgata: signa et virtutes maximas. 85 Apg 8,20 f. 86 Vgl. dazu u.a. A. Ferreiro, Simon Magus in patristic, medieval and early modern traditions (Studies in the history of Christian traditions 125), Leiden 2005. 87 Analog zu lesen ist die Kennzeichnung des Juden Barjesus/Elymas als Magier und Pseudoprophet (NT Graece: µγν ψευδπρφτην; Vulgata: magum pseudoprophetam) in Apg 13,6 f. 88 Hierzu ausführlicher G. Veltri, Magie und Halakha. Ansätze zu einem empirischen Wissenschaftsbegriff im spätantiken und frühmittelalterlichen Judentum (Texte und
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hat in der jüdisch-christlichen Texttradition (bis heute) die Unterscheidung eigener, vermeintlich authentischer mirakulöser Ereignisse/Fähigkeiten (Wunder/Zeichen) von fremden, als minderwertig deklarierten mirakulösen Ereignisse/Fähigkeiten (Magie) erlaubt. Die Merkwürdigkeit dieses Sprachspiels, das auch und gerade in der frühchristlichen, nachbiblischen Literatur vielfach aufgegriffen worden ist – etwa im Kontext der Auseinandersetzungen um die mirakulösen Fähigkeiten Jesu Christi auf der einen und des pythagoreischen Philosophen Apollonios’ von Tyana auf der anderen Seite –,89 sind im akademischen Diskurs hinreichend aufgezeigt worden.90 Entscheidend an dieser Stelle ist, dass der Magiebegriff der Apostelgeschichte keinen trennscharfen, wertfreien, durch eine konkrete Bezeichnungsfunktion gekennzeichneten Terminus darstellt, sondern ausschließlich als polemische Chiffre für – variabel festzulegende – unorthodoxe, nicht-christliche, häretische Personen, Vorstellungen und Praktiken fungiert. Weshalb haben die koptischen Übersetzer des Novum Testamentum Graece aber das koptische Hik als adäquaten Äquivalenzbegriff zum griechischen μαγεα angesehen? Zwei Gründe sind hierfür denkbar. Zum einen ist anzunehmen, dass – ausgehend von der im frühchristlichen Kontext üblichen Gleichsetzung der transzendenten Protagonisten polytheistischer Fremdreligionen mit dem negativ konnotierten, einem satanischen Gegenreich Gottes
Studien zum Antiken Judentum 62), Tübingen 1997; M. Becker, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum. Studien zum Phänomen und seiner Überlieferung im Horizont von Magie und Dämonismus (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 2(144)), Tübingen 2002. Vgl. auch B.-C. Otto, Magie.., Kapitel 8.1.1. 89 Vgl. hierzu etwa die Schriften von Kelsos (Αληθς Λγς, Wahre Lehre), Hierokles (Λγς φιλαλθης, Wahrheitsliebhaber) und Porphyrios (κατ ριστιανων λγι, Gegen die Christen) sowie die entsprechenden, christlich-apologetischen Gegenschriften von Origines (Contra Celsum, Gegen Kelsos) und Eusebios (Contra Hieroclem, Gegen Hierokles); zur Auseinandersetzung zwischen Kelsos und Origines ausführlicher K. Pichler, Streit um das Christentum. Der Angriff des Kelsos und die Antwort des Origenes (Regensburger Studien zur Theologie 23), Frankfurt a. Main 1980, sowie E. V. Gallagher, Divine man or magician? Celsus and Origen on Jesus (Dissertation series/Society of Biblical Literature 64), Chicago 1982. 90 Vgl. hervorragend H. Remus, Pagan-Christian Conflict over Miracle in the Second Century (Patristic monograph series 10), Cambridge 1983. Zu den wechselseitigen Magievorwürfen der mittleren Kaiserzeit insgesamt B.-C. Otto, Magie ..., Kapitel 8.1.3.
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zugeordneten Zwischenwesen δαμων (daemon) –,91 Heka aus Sicht koptischer Christen eben (nur noch) einen solchen Dämon darstellte, analog zu zahlreichen weiteren Figuren des altägyptischen Pantheons. Die polemische Funktionalisierung des Magie- sowie des Dämonenbegriffs zur Abwertung des ‚heidnischen‘ Tempel- und Götterkultes, die sich bereits prägnant im frühchristlichen Schriftenkorpus zeigt, ist im spätantiken, christianisierten Ägypten analog beobachtbar.92 In der Denkfigur, dass alle nicht-christlichen Götter Dämonen93 und diese für Magie zuständig seien beziehungsweise jene sogar erfunden und die Menschen gelehrt hätten94 (Magie markiert hier entsprechend eine polemische Chiffre für nicht-christliche Glaubensvorstellungen und Ritualpraktiken – und kennzeichnet so etwa auch die graeco-römische Opfer- und Divinationspraxis) mag eine argumentative Wurzel der Gleichsetzung von Hik und mageía durch die koptischen Übersetzer des Neuen Testaments liegen. Ein zweiter, denkbarer Hintergrund liefe über die Denotation einer göttlich legitimierten, durch menschliche (Ritual-)Praxis evozierbaren Schöpfungskraft, die dem Abstraktum Heka und dadurch möglicherweise auch seiner koptischen Ableitung zukommt. Dass ein Mensch Zugang zur Schöpferkraft Gottes – möglicherweise gar durch Formen der rituellen Identifikation – erlangen könne, muss dem koptischen Christen sicherlich fremd und angesichts der im christlich-monotheistischen Kontext verborgenen, dem Menschen entrückten, weithin unzugänglichen Schöpfungskraft häretisch, wenn nicht blasphemisch vorgekommen sein. Kein anderer Begriff war freilich besser geeignet, diese polemische, grundsätzlich negative Deutung und Bewertung eines fremdreligiösen Konzepts abzubilden als: Magie.
91 Hierzu einführend P. Habermehl, „Dämon“, in: C. Auffarth; J. Bernard; H. Mohr (Hg.), Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien. Band 2: Haar – OshoBewegung, Stuttgart 1999, 203–207; vgl. auch P. Brown, „Sorcery, Demons and the Rise of Christianity. From Late Antiquity into the Middle Ages“, in: P. Brown, Religion and Society in the Age of Saint Augustine, London 1972, 119–146. 92 R. K. Ritner (The Mechanics ..., 14 f.) führt hierzu selbst Beispiele an. 93 Vgl. zu dieser Gleichsetzung exemplarisch Laktanz, Epitome Divinarum Institutionum, 23; Augustinus, De Civitate Dei, 1, 29; 8, 24; 9, 23; 19, 23 – der biblische Referenzrahmen ist hier zum Teil der 1. Korintherbrief. 94 Vgl. exemplarisch Origines, Contra Celsum, u.a. 2, 51; Tertullian, Apologeticum, u.a. 22–23; Tertullian, De Anima, 57, 2; Laktanz, Divinae Institutiones, 2, 16, 1–4; Augustinus, De Civitate Dei, u.a. 8, 20; 10, 9; 21, 6: Augustinus, De Doctrina Christiana, 2, XX, 30, 74.
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So kann die Gleichsetzung des koptischen Hik mit dem griechischen mageía eine interessante, interreligiöse Deutungsverzerrung illustrieren; Ritners Überzeugung, die Passage als Rechtfertigung einer ägyptologischen Verwendung des Magiebegriffs vereinnahmen zu können, beruht aber auf einer Fehleinschätzung. Er weist selbst auf die Problematik hin: „it must not be forgotten that this equation entailed the adaption of native terminology to accommodate a Roman category further transformed by Christian belief. The resultant changes in religious meaning and social significance could hardly have been greater. […] Magia and its Coptic synonym must be understood primarily as terms of disparagement, denoting unaccepted and thus ,sub-religious‘ practices in which unorthodox gods are made demons and unorthodox worship made crime“;95 gleichwohl leitet Ritner aus dieser kritischen Einschätzung wiederum nicht die entscheidende Einsicht ab: die Passage als reine Polemik und eben nicht als Rechtfertigungsmöglichkeit einer Verwendung des Magiebegriffs in der Ägyptologie zu interpretieren. Tatsächlich illustriert die koptische Übersetzung des Neuen Testaments eine verzerrende, spätantike Übersetzungspraxis, im Zuge derer die etymologische Verbindung zwischen dem koptischen Hik und dem mittelägyptischen Heka gleichsam gekappt wurde. Die in der Ägyptologie bis heute beobachtbare Neigung, an der Vorstellung eines substanziellen Gegenstandsbereichs Magie im alten Ägypten festzuhalten, rührt möglicherweise auch daher, dass die verschiedenen historischen Ägyptomanien – hier ist nicht nur an neuere Phasen besonderer Ägypten-Faszination, etwa an die Frühe Neuzeit oder das 18. und 19. Jahrhundert zu denken, sondern auch und gerade an die Mystifizierung Ägyptens in der graeco-römischen Antike –96 immer wieder mit der Denkfigur ägyptischer Magie gespielt haben, sei es in polemischer oder identifikatorischer Weise. Gegenüber den polemischen Darstellungen Ägyptens als Mutterland der Magie, die bereits durch den alttestamentarischen Exodus-Bericht und spätere Allusionen ins diskursive Gedächtnis des Abendlands eingespeist worden sind,97 ist hier gerade auch an 95 R. K. Ritner, The Mechanics ..., 236. 96 Vgl. hierzu – neben dem Beitrag Edmund Hermsens in diesem Band – u.a. J. S. Curl, Egyptomania. The Egyptian Revival. A Recurring Theme in the History of Taste, Manchester 1994; W. Seipel (Hg.), Ägyptomanie. Europäische Ägyptenimagination von der Antike bis heute (Schriften des Kunsthistorischen Museums 3), Wien 2000; J. Assmann, Weisheit und Mysterium. Das Bild der Griechen von Ägypten, München 2000; zum Teil auch E. Hornung, Das esoterische Ägypten. Das geheime Wissen der Ägypter und sein Einfluss auf das Abendland, München 1999. 97 Die im Exodus-Bericht (vgl. Ex 7,9-10) mit den mirakulösen Taten Mose/Aarons konkurrierenden ägyptischen Priester (!) werden im hebräischen Tanach mit dem
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identifikatorische, das heißt positiv konnotierte Rezeptionen des Magiebegriffs im (anachronistisch-)ägyptischen Kontext zu denken. Die antiken Texte werfen in diesem Zusammenhang übrigens weniger Material ab, als häufig angenommen wird – positiv konnotierte Rezeptionen des Magiebegriffs sind im Kontext des überlieferten graeco-römischen Textkorpus’ (abgesehen von zehn Nennungen in den Papyri Graecae Magicae, die eigenständig zu lesen sind) äußerst selten.98 Beispielsweise weist das bis zur Redatierung durch Isaac Casaubon im Jahr 161499 als authentische, ägyptische Quelle gehandelte Corpus Hermeticum keinen Magiebegriff auf,100 die (dann positiv konnotierte) Deutung und Vereinnahmung des Textes im Kontext des (nun lateinischen) Magiebegriffs, die bis in den rezenten akademischen Diskurs hineinreicht,101 fand erst in der Frühen Neuzeit – durch Marsilio Ficino und Epigonen – statt.102
Begriff məkhaššəf îm gekennzeichnet (vgl. Ex 7,11), der in der Septuaginta mit einem Synonym des griechischen Magiebegriffs – der Personenbezeichnung φαρμκυς –, in der Vulgata mit maleficos (wörtl. Übeltäter), von Luther schließlich mit Zauberer übersetzt wird (analog – allerdings im Genus etwas different – ist die Übersetzungsfolge des berühmten Ex 22,17: „Eine Zauberin sollst du nicht am Leben lassen“; Luther 1984). Zu Bedeutungsgehalt und Problematik des hebräischen Abstraktums kšp vgl. auch M. Becker, Wunder und Wundertäter ..., 88 ff., der in der „Außenabgrenzung fremdreligiöser Praxis“ seine wesentliche Funktion sieht. Alle biblischen Sprachschichten weisen hier also polemische Devianzbegriffe auf, die das (in diesem Kontext abwertende!) Bild von Ägypten als Mutterland der Magie festgeschrieben haben – ungedenk der Identität (bzw. Überlegenheit!) der mirakulösen Taten Mose/Aarons sowie der Tatsache, dass tatsächlich ja Priester, also etablierte, institutionalisierte Protagonisten ägyptischer Religion genannt werden. Diese Zusammenhänge seien hier nur angedeutet – ausführlicher B.-C. Otto, Magie ..., Kapitel 8.1.1. 98 Ausführlicher hierzu B.-C. Otto, Magie ..., Kapitel 9.1. 99 Vgl. J. Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998, 123. 100 Selbiges gilt für die Tabula Smaragdina und den lateinischen Asclepius; hier wird davon ausgegangen, dass die Verfasser dieser Texte den Magiebegriff nicht verwendet haben, weil dieser nach ihrem Verständnis unpassend und zudem negativ konnotiert war. 101 Vgl. zur (üblichen) magiologischen Deutung des Corpus Hermeticum im Wissenschaftsdiskurs, einschließlich hervorragender Problematisierung, B. P. Copenhaver, „Hermes Trismegistus, Proclus, and the Question of a Philosophy of Magic in the Renaissance“, in: I. Merkel; A. G. Debus (Hg.), Hermeticism and the Renaissance. Intellectual History and the Occult in Early Modern Europe, Washington 1988, 79–110. 102 Ausführlicher B.-C. Otto, Magie ..., Kapitel 10.
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Auch Jamblichs De mysteriis, ein spätantiker Text, der vorgibt, mit der Stimme des ägyptischen Priesters Anebo auf einen Brief des Neuplatonikers Porphyrios zu antworten (und der ebenfalls – analog zum Corpus Hermeticum – noch im rezenten akademischen Diskurs im Kontext von Magie interpretiert wird), ist differenzierter einzuordnen. Jamblich verwendet den Magiebegriff an keiner einzigen Stelle identifikatorisch, sondern verwendet ihn ausschließlich – wie das synonym verwendete γητεα (goēteía) – in Abgrenzung zum positiv gesetzten, ritualpraktisch-neuplatonischen Modell der Theurgie (θεα ργα beziehungsweise θευργα).103 Diese ist – analog zur gesamten neuplatonisch-plotinischen Philosophie – auf den Aufstieg der menschlichen Seele (ψυ) zu einem letzten, göttlichen Prinzip ausgerichtet und wird textimmanent explizit von der (etwa schadenbringenden) Funktionalisierung der Götter zu menschlichen Zwecken104 oder minderwertigen, übrigens auch mit (schlechten) Dämonen operierenden Ritualpraktikern (γτες) abgesetzt.105 Die magiologische Vereinnahmung der Theurgie beginnt gleichwohl schon – zunächst negativ konnotiert – im Zuge ihrer Rezeption bei dem spätantiken Kirchenvater Augustinus von Hippo;106 in der Frühen Neuzeit wird der Text schließlich – wiederum von Marsilio Ficino – auch einem positiv konnotierten Magiebegriff zugeordnet und hierbei mit dem kreativen Zusatz aegyptiorum versehen. Wichtig ist, dass diese unterschiedlich zu kontextualisierenden historischen Zuordnungen des Textes zum Magiebegriff verzerrend sind und der Terminologie und argumentativen Stoßrichtung von De mysteriis selbst nicht gerecht werden. Diese Texte seien nur exemplarisch genannt; entscheidend an dieser Stelle ist, dass die – aus Sicht des pharaonischen Ägyptens ja meist sehr viel späteren – historischen Zuordnungen Ägyptens zum Magiebegriff keinen klar umgrenzten Gegenstandsbereich abbilden, sondern vielmehr ein literarisches Motiv der abendländisch-europäischen Rezeptionsgeschichte des Magiebegriffs selbst markieren. Die altägyptische Kultur wird hierbei im Rahmen entsprechender Ab- und Aufwertungs- beziehungsweise Aus- und Eingrenzungsstrategien schablonenartig vereinnahmt, kaum aber differenzierter beschrieben – dies ist im Kontext der Geschichte des Magiebegriffs auch anderen Kulturen wider103 Ausführlicher F. W. Cremer, Die chaldäischen Orakel und Jamblich de mysteriis (Beiträge zur klassischen Philologie 26), Meisenheim am Glan 1969, 21 ff. 104 Vgl. etwa Jamblich, De Mysteriis, 4, 1–7. 105 Vgl. u.a. Jamblich, De Mysteriis, 3, 31, 176 ff. 106 Vgl. Augustinus, De Civitate Dei, 10, 9.
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fahren.107 Die ägyptologische Analyse, der erst seit dem 19. Jahrhundert ein philologisch fundierter Zugang zu authentischem Quellenmaterial zur Verfügung steht, sollte sich daher auch von den Suggestionen vormaliger Magiediskurse frei machen. Sie tragen zum Verständnis altägyptischer Kultur nichts bei, sondern stellen vielmehr anachronistische Zerrbilder einer wahlweise minderwertigen, überkommenen Religiosität (Magie) oder einer untergegangenen, ursprünglichen Wahrheit (Magie) dar.
107 Vgl. etwa Helena Petrovna Blavatsky’s magiologische Vereinnahmung des alten Indiens im späten 19. Jahrhundert; ausführlicher B.-C. Otto, Magie ..., Kapitel 11.3.
Ariès’ „Entdeckung der Kindheit“ Kritik eines Schlagworts aus psychologischer Sicht Ralph Frenken
Philippe Ariès veröffentlichte 1960 seine Untersuchung zur Geschichte der Kindheit unter dem Titel L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime, die erst 1975 in einer deutschen Ausgabe vorlag.1 In diesem Buch vertrat Ariès seine Auffassung von der Entdeckung der Kindheit. Dieses Schlagwort erlangte einiges Aufsehen und machte seinen Verfasser berühmt.2 In einer neueren kindheitshistorischen Arbeit ist von seinen „Myriaden von Nachfolgern“ die Rede.3 Auch wenn diese Formulierung lediglich eine pointierte Übertreibung darstellt und eine Reihe kritischer Einwände gegen Ariès’ Ansatz bereits erhoben wurden, ist seine Arbeit doch oftmals wenig reflektiert als „Heilige Schrift“ der Geschichte der Kindheit angesehen worden.4 Ariès hat dadurch 1 P. Ariès, Geschichte der Kindheit, München 61984. Die deutsche Ausgabe trägt den Titel Geschichte der Kindheit, der vom Originaltitel stark abweicht. Der Titel der englischen Ausgabe des Buches von Ariès aus dem Jahre 1965 lautet Centuries of Childhood. Zwischen 1960 und 1970 war im angelsächsischen Sprachraum die Untersuchung von Kindheit unter der Bezeichnung History of Childhood aufgekommen. 2 Vgl. zur Wirkungsgeschichte von Ariès’ Buch E. Hermsen, „Ariès’ ‚Geschichte der Kindheit‘ in ihrer mentalitätsgeschichtlichen und psychohistorischen Problematik“, in: F. Nyssen; L. Janus (Hg.), Psychogenetische Geschichte der Kindheit. Beiträge zur Psychohistorie der Eltern-Kind-Beziehung. Gießen 1997, 127–158; und E. Hermsen, Faktor Religion. Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln u.a. 2006, 8–29. 3 A. Classen, „Philippe Ariès and the Consequences. History of Childhood, Family Relations, and Personal Emotions. Where do we stand today?“, in: A. Classen (Hg.), Childhood in the Middle Ages. The Results of a Paradigm Shift in the History of Mentality, Berlin u.a. 2005, 3 f. 4 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion ..., 16. Kritisch zu Ariès: L. deMause, „Evolution der Kindheit“, in: L. deMause (Hg.), Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Frankfurt am Main 61989, 18; K. Arnold, Kindheit und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance. Beiträge und Texte zur Geschichte der Kindheit. Paderborn, München 1980, 11 ff.; D. Alexandre-Bidon; D. Lett, Children in the Middle Ages. Fifth – Fifteenth Centuries, Notre Dame 1997, 1 ff.; R. Frenken, Kindheit und Autobiographie vom 14. bis 17. Jahrhundert. Psychohistorische Rekonst-
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eine enorme Bedeutung auf dem Gebiet der Kindheitsgeschichte erlangt. Der vorliegende Artikel soll aus Sicht eines Psychologen zeigen, warum dies eher als grandiose Überschätzung anzusehen ist. Aufgrund ihrer Konstruktion wirken nämlich die Ariès’schen Ausführungen bereits ohne die Berücksichtigung empirischer Befunde aus der Kindheitsgeschichte wenig überzeugend. Aspekte der berühmten These von der angeblichen „Entdeckung der Kindheit“ werden zunächst auf theoretischer Ebene untersucht und anschließend mit empirischen Befunden konfrontiert. DeMause und später Hermsen haben bereits darauf hingewiesen, dass Ariès keineswegs der erste war, der über kindheitshistorische Themen arbeitete.5 Den enormen Erfolg des Buches in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts erklärt Hermsen damit, dass der politisch eindeutig reaktionäre Ariès eine Art „rückwärtsgewandter, konservativer Sozialutopie“ anbot und damit offensichtlich den Nerv der Zeit getroffen hatte.6 Ariès’ Thesen wurden verkannt als vermeintlich „kritische Position gegen die dominante fortschrittsund wachstumsorientierte Ideologie der politischen und ökonomischen Eliten“7 – und das, obwohl seine Ansichten ausgesprochen unklar und vage formuliert waren. Ariès ist somit das Kunststück gelungen, als Rechtsaußen Beifall, Lob und positiv getönte Rezeption auch von der politischen Linken eingeheimst zu haben.8 Es liegt außerhalb des Rahmens des vorliegenden Artikels, diese Zusammenhänge weiter aufzuklären. Auch sollen die persönlichen und biographischen Bezüge von Ariès’ Person zu seinem Werk weitgehend außer Betracht bleiben. Hermsen hat dazu bereits einiges zusammengetragen.9 Stattdessen wird die Auseinandersetzung mit den gravierenden wissenschaftlichen Schwächen von Ariès’ Arbeit gesucht. Es ist nämlich zu befürchten, dass gerade sein impressionistischer Stil die Intellektuellen der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts dazu verführt hat, sein Buch als willkomme-
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ruktionen, Kiel 1999, 4–11; W. F. MacLehose, ‚A Tender Age‘. Cultural Anxieties over the Child in the Twelfth and Thirteenth Centuries, New York 2008, xiii äußert sich einerseits wenig kritisch zu Ariès Verkürzungen (vgl. auch xv, Fußnote 12), berücksichtigt andererseits erst gar nicht dessen verwirrende Aussagen. L. deMause, „Evolution der Kindheit“, 19; E. Hermsen, „Ariés‘ ‚Geschichte der Kindheit‘ ...“, 127. E. Hermsen, „Ariés‘ ‚Geschichte der Kindheit‘ ...“, 128, in der Flexion angepasst. E. Hermsen, „Ariés‘ ‚Geschichte der Kindheit‘ ...“, 128. Ariès sagt von sich selbst: „Ich bin ein Rechter, ein richtiger Reaktionär“ (zitiert nach E. Hermsen, „Ariés‘ ‚Geschichte der Kindheit‘ ...“, 140). E. Hermsen, „Ariés‘ ‚Geschichte der Kindheit‘ ...“, 135–145; E. Hermsen, Faktor Religion..., 16–24.
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nes Vehikel ihrer projizierten politischen Wünsche zu verwenden, ohne die weitreichenden Aussagen dieses Werkes methodisch oder empirisch ausreichend geprüft zu haben. Ariès’ zentrale Thesen sind derart unklar konzipiert, dass es zu einer echten empirischen Widerlegung gar nicht kommen kann, weil seine formalen – man wagt kaum zu sagen „theoretischen“ – Ausführungen lediglich auf semantischer Undeutlichkeit beruhen. So ist Richter vollkommen zuzustimmen, wenn er im Zusammenhang mit der Verwendung des Begriffs Kindheit in der kindheitshistorischen Diskussion von einer Begriffsverwirrung spricht, an der Ariès seinen Anteil habe.10 Und daher ist es auch nicht zu rechtfertigen, dass Classen die Ariès’schen Ausführungen mit dem von dem Wissenschaftsphilosophen Thomas S. Kuhn geprägten Begriff „Paradigma“ adelt.11 Classen spricht auch von einem „Paradigmenwechsel“ in der Zeit nach Ariès. Diese Sichtweise teile ich nicht, weil man den Ariès’schen Darlegungen keineswegs den Status eines Paradigmas zubilligen kann. Außerdem war man in der Zeit nach Ariès’ Publikation weder auf so etwas wie eine wissenschaftliche Anomalie gestoßen, noch gab es „Krisen“ auf dem Gebiet der Geschichte der Kindheit. Also fehlen wesentliche Merkmale, die Kuhn als zentral für einen Paradigmenwechsel erachtet.12 Kuhn war generell skeptisch, ob Teile der Sozialwissenschaften überhaupt so weit fortgeschritten seien, dass sinnvoller Weise von Paradigmata gesprochen werden könne.13 Ariès selbst hatte mit seiner Arbeit auch keine wissenschaftliche Revolution ausgelöst, denn tatsächlich wurde seinen Thesen schon früh und empirisch fundiert widersprochen.14 Ariès’ Ansammlung von Thesen ist jedenfalls weit davon entfernt, eine wissenschaftliche Theorie oder gar ein Paradigma zu liefern, und der vorliegende Artikel soll zeigen, warum es bei der Auseinandersetzung mit Ariès vor allem um das Aufzeigen logischer Unstimmigkeiten, semantischer Unschärfe und empirischer Unbedarftheit geht. Ariès mag zahlreiche wissenschaftliche
10 Vgl. D. Richter, Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt am Main 1987, 19; vgl. auch L. deMause, „Evolution der Kindheit“, 18. 11 A. Classen, „Philippe Ariès and the Consequences...“, 3 ff. 12 Vgl. T. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1976, 79 ff. 13 Vgl. T. Kuhn, Die Struktur..., 30. 14 Vor allem durch L. DeMause, „Evolution der Kindheit“ (Erstveröffentlichung 1974).
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Nachfolger gefunden haben, aber Gefolgschaft ist sicher keine hinreichende Bedingung für wissenschaftliche Qualität. Durch die assoziativ anmutenden Formulierungen seiner Aussagen bereitet Ariès jedem erhebliche Schwierigkeiten, der sich damit begrifflich oder empirisch ernsthaft auseinandersetzen will. Ariès kontaminiert nämlich auf wenigen Seiten (implizit) psychologische, semantische und ikonographische Argumentationslinien auf kaum entwirrbare Weise und häufig unter Vernachlässigung logischer Stringenz. Und gerade weil er seine Auffassungen nirgends klar formuliert, kann man diesen auch nur schwer direkt widersprechen. Die deutlichste Stelle ist wohl die folgende: „Mit den hellenistischen Themen verschwand auch die Kindheit aus der Ikonographie, und wie schon die archaischen Epochen vor dem Hellenismus, so weigerte sich auch die Romanik, der Kindheit spezifische Merkmale zuzugestehen. Wir haben darin nicht nur eine schlichte Koinzidenz zu sehen. Wir gehen von einer Vorstellungswelt aus, die keine Kindheit kennt. Die Literaturhistoriker (Monsignore Clavé) haben dasselbe in Bezug auf das Epos festgestellt, worin Wunderkinder sich mit der Bravour und der physischen Kraft von Helden schlagen. Das bedeutet zweifellos, dass die Menschen des 10. und 11. Jahrhunderts dem Bild der Kindheit keine Beachtung schenkten, dass es für sie kein Interesse, ja nicht einmal Realität besaß. Das legt den Gedanken nahe, dass die Kindheit nicht nur in der ästhetischen Darstellung, sondern auch in der Lebenswirklichkeit nur eine Übergangszeit war, die schnell vorüberging und die man ebenso schnell vergaß.“15
Diese und ähnliche Stellen werden gewöhnlich als die Behauptung von Ariès interpretiert, dass die Menschen des 10. und 11. Jahrhunderts den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen wahrnehmungsmäßig nicht feststellten bzw. feststellen konnten. Aus der Darstellung des Kindes als in den Proportionen unveränderter, lediglich verkleinerter Erwachsener in der Ikonographie des frühen und hohen Mittelalters folgert Ariès, dass die mittelalterlichen Menschen die Kinder anders gesehen hätten16 – und mit „sehen“ ist hier offensichtlich nicht der übertragene, sondern der übliche, auf die visuelle Wahrnehmung abzielende Sinn gemeint. Ariès formuliert entsprechend, dass lediglich die antiken Griechen das Kind realistisch dargestellt hätten und dass 15 P. Ariès, Geschichte der Kindheit, 93. 16 Vgl. P. Ariès, Geschichte der Kindheit, 92.
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in späteren Epochen „die Kindheit aus der Ikonographie“ verschwand.17 Nach Ariès werde erst im 17. Jahrhundert Kindheit wieder „entdeckt“, wobei er diverse Datierungen nebeneinander herlaufen lässt.18 Da er Aussagen zur Wahrnehmungspsychologie (historischer Subjekte) macht, sollen seine Annahmen zunächst unter Bezugnahme auf psychologische Theorien überprüft werden. Danach wird eine auf die Ariès’sche Semantik bezogene Kritik formuliert und anschließend werden empirische Argumente zu den ikonographischen Behauptungen von Ariès entwickelt, basierend auf den Eigentümlichkeiten romanischer Kunstwerke.
Zur psychologischen Plausibilität der These von der „Entdeckung der Kindheit“ Ariès’ Auffassung vom Nicht-Wahrnehmen der körperlichen Proportionen eines Kindes ist eine anspruchsvolle Aussage, und wäre – träfe sie denn zu – eine geradezu spektakuläre Entdeckung. Diese These steht vom empirischen Überprüfungsgrad her gesehen allerdings auf tönernen Füßen. Ariès verlangt unausgesprochen die Akzeptanz einer äußerst unplausiblen Annahme über die visuelle Wahrnehmungsorganisation historischer Subjekte. Der Versuch, menschliche Wahrnehmung auf derart umfassende Weise zu historisieren, basiert nicht auf der expliziten Anlehnung an irgendeine psychologische Wahrnehmungstheorie. Auch eine Auseinandersetzung mit Psychologien 17 P. Ariès, Geschichte der Kindheit, 93. 18 P. Ariès, Geschichte der Kindheit, 92 und 83, wo er behauptet, dass erst im 17. Jahrhundert „das Wort ,Kindheit‘ auf seine moderne Bedeutung hin eingeschränkt wurde“. Auch das ist empirisch falsch. In der deutschsprachigen mystischen Literatur des 13. und 14. Jahrhunderts werden die Worte ‚Kind‘ und ‚Kindheit‘ praktisch ohne Einschränkung so verwendet, wie wir das heute noch tun. Vgl. R. Frenken, Kindheit und Mystik im Mittelalter, Frankfurt am Main 2002, 36, 113 ff., 160, 174 ff., 203 f., 222 ff. (zu kommentierten Wahrnehmungserlebnissen eines Kindes als Wahrnehmungsobjekt!), 231, 233, 237, 264. Vgl. zur Kritik an Ariès hinsichtlich der verwendeten Konzepte auch: L. deMause, „Evolution der Kindheit“, 18, hinsichtlich der empirischen Brauchbarkeit der Begriffsverwendung von Ariès: I. Hardach-Pinke; G. Hardach (Hg.), Deutsche Kindheiten 1700–1900. Autobiographische Zeugnisse, Frankfurt am Main 1992, 10, hinsichtlich der klassisch lateinischen Begriffe zur Kindheit: L. Demaitre, „The Idea of Childhood and Child Care in Medical Writings of the Middle Ages“, in: The Journal of Psychohistory 4(4), 1977, 465. Vgl. generell zu Ariès’ Buch: A. Wilson, „The Infancy of the History of Childhood. An Appraisal of Philippe Ariès“, in: History and Theory 19(2), 1980, 132–153.
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anderer Gegenstandsbereiche fehlt völlig. Entsprechend merkte Hermsen zu Ariès an, dass dieser nicht einmal den Versuch unternommen habe, so etwas wie eine Psychologie des Kindes zu betreiben.19 Gleichwohl psychologisiert Ariès unentwegt über den gesamten Verlauf seines Buches und schreibt über seinen eigenen Ansatz: „Wenn man als Historiker geboren wird, betreibt man auf eine Weise Psychologie, die zweifellos nicht die der modernen Psychologen ist, sich aber doch mit ihr trifft und sie ergänzt.“20
Ariès geht zwar davon aus, seine Herangehensweise träfe sich mit (irgendeiner?) Psychologie, übersieht dabei aber, welche gravierenden Aussagen er zum Gebiet der Wahrnehmung – einem zentralen Thema der Psychologie – geäußert hat. Die psychologische Naivität der Selbstcharakterisierung, er sei „als Historiker geboren“, bleibt im vorliegenden Artikel, anders als der wichtige Punkt einer umfassenden Historisierung basaler Wahrnehmungsfähigkeiten, undiskutiert. Dieser Aspekt des Ariès’schen Wirkens bedarf natürlich einer psychologischen Betrachtung, die im Folgenden ausgeführt werden soll.21 Der Biologe Ernst Mayr liefert ein anschauliches Beispiel, an dem die mangelnde Plausibilität der Ariès’schen Überlegung demonstriert werden kann. Zur Klärung des modernen biologischen Artbegriffs verweist Mayr auf eine Ethnie auf Papua-Neuguinea, deren Angehörige 136 verschiedene Namen für die Vögel in ihrer Umgebung haben. Nach der modernen Taxonomie existieren 137 Vogelarten in ihrer Umgebung. Die Angehörigen dieser ethnischen Gruppe verwechseln zwei Arten miteinander. Mayr schreibt hierzu, dass diese Übereinstimmung natürlich nicht zufällig zustande komme, sondern auf der Tatsache beruhe, dass sowohl die Eingeborenen als auch die Taxonomen „sich mit den selben, nicht willkürlichen Diskontinuitäten der Natur befaßten.“22 An derartigen Beispielen kann man sich klar machen, wie wenig konstruiert bestimmte Wahrnehmungskategorien sind. Die sprachlichen Ordnungsstrukturen von Angehörigen der Ethnie und Taxonomen reflektieren nicht etwa eine geteilte kulturelle Übereinkunft, sondern basieren auf dem Zusammenspiel von Diskontinuitäten in der physischen Welt (worauf Mayr hinweist) und gleichzeitig 19 Vgl. E. Hermsen, „Ariés‘ ‚Geschichte der Kindheit‘ ...“, 131. 20 P. Ariès, Geschichte der Kindheit, 50 (Vorwort). 21 Vgl. hierzu R. Frenken, Kindheit und Autobiographie ..., 4–19. 22 E. Mayr, Artbegriff und Evolution, Berlin 1967, 26.
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auf der basalen Wahrnehmungsstruktur der menschlichen Spezies, die in bestimmten Aspekten nicht oder nur wenig kulturell überformt werden kann (was Mayr nicht ausführt). Für das „Ariès’sche Wahrnehmungsproblem“ bleibt festzuhalten, dass die biologischen Eigenheiten des Kindes mit einer Reihe von äußeren Auffälligkeiten verknüpft sind. Im Laufe der Pubertät entwickeln sich Körperproportionen, Behaarung, sekundäre Geschlechtsmerkmale sowie weitere physische Aspekte und führen zu einer ausgeprägten Diskontinuität zwischen der Gestalt des Kindes und der des Erwachsenen im visuellen Vergleich – auch wenn sich fließende Übergänge während der Reifung ergeben. Natürlich müssen nicht alle Taxonomien in den verschiedenen Kulturen derart ähnlich sein, wie die Einteilung der Vögel. Dies hängt damit zusammen, dass häufig nicht nur visuelle Diskriminierungen, sondern ganz andere Aspekte die Taxonomie bestimmen. Die sehr unterschiedlichen Wissensbestände verschiedener Kulturen führen häufig zu untereinander stark divergierenden Einteilungen der physischen und der sozialen Welt.23 An obigem Beispiel soll allerdings demonstriert werden, dass „rein“ visuelle Diskriminationsfähigkeiten zu Taxonomien führen können, die sehr ähnlich oder identisch sind – ein Phänomen, das ohne Annahmen über eine prinzipiell ausgeprägt ähnliche Wahrnehmungsorganisation der Subjekte aller Kulturen als ungeheurer Zufall angesehen werden müsste oder völlig unplausible diffusionistische Erklärungen erfordern würde. Es kann nun auch der Fall eintreten, dass sich Taxonomien bzw. sprachliche Kategorisierungen zwischen zwei Kulturen radikal unterscheiden. So kennen die Dani, ebenfalls eine Ethnie auf Neuguinea, nur zwei Ausdrücke für Farben.24 Natürlich darf daraus nicht geschlossen werden, Angehörige der 23 Vgl. zu Klassifizierungen körperlicher Gegenstände in einfachen Gesellschaften C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt am Main 91994, 12 f., der auf die wichtige Rolle des Interesses und des daraus resultierenden Wissens der jeweiligen Kultur bei der Ausarbeitung von Klassifizierungen (und Benennungen) hinweist. 24 Vgl. hierzu E. Rosch, „Human Categorization“, in: N. Warren (Hg.), Studies in Cross-Cultural Psychology. Volume 1, London u.a. 1977, 9 ff. Rosch hat bahnbrechende Arbeiten zur menschlichen Kategorisierung (sprachliche und nicht-sprachliche, Farbkategorisierung und -wahrnehmung, Kategorisierung künstlicher Stimuli, Sprachwahrnehmung) veröffentlicht, auf die hier nur verwiesen werden kann (vgl. E. Rosch, „Principles of Categorization“, in: E. Rosch; B. Bloom Lloyd (Hg.), Cognition and Categorization, New York 1978, E. Rosch; C. B. Mervis, „Family Resemblances. Studies in the Internal Structure of Categories“, in: Cognitive Psychology 7, 1975, 573–605, C. B. Mervis; E. Rosch, „Categorization of Natuiral Objects“, in:
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Dani-Kultur würden die Welt sozusagen lediglich zweifarbig sehen. Sie können Farbsortieraufgaben natürlich lösen, wie Eleanor Rosch untersucht hat. Zudem erinnern die Dani „prototypische“ Farben, die als Fokalfarben bezeichnet wurden, besser, obwohl sie diese sprachlich nicht kennzeichnen können. Ihr erinnernder Umgang mit den Farbmustern ist somit weitgehend ähnlich demjenigen von US-amerikanischen Versuchsteilnehmern, die Angehörige einer Kultur sind, die über ein weit komplexeres System sprachlicher Farbkategorien verfügt. Rosch verweist auf Studien, die ergaben, dass interkulturell die Grenzen bei bestimmten Farbkategorien verschieden sind, was daran festgemacht wird, dass Angehörige verschiedener Kulturen unterschiedlich tolerant dabei sind, ein bestimmtes perzeptiv gegebenes Farbmuster noch mit einem bestimmten Farbnamen zu bezeichnen. Interkulturell sehr ähnlich werden dagegen die „klarsten Exemplare“ von Farbmustern, die prototypischen Fokalfarben, bezeichnet und behandelt.25 Es soll an dieser Stelle keineswegs behauptet werden, dass die sprachliche Kategorisierung gar keinen Effekt auf die Performanz im Umgang mit Farben bzw. allgemein bei der Kategorisierung von Wahrnehmungsgegenständen hat. Eine Gleichsetzung von begrifflicher und perzeptiver Kategorisierung ist aber als unzulässig zu bezeichnen. Zudem determiniert die sprachliche Kategorisierung, wie empirisch gezeigt werden kann, keineswegs die perzeptive (nicht-sprachliche). Ariès’ vermutete Unfähigkeit der historischen Subjekte zur visuellen Unterscheidung der Proportionen von Erwachsenen und Kindern bezieht sich nun sogar auf ein sehr basales Vermögen, da nicht etwa 137 Kategorien richtig zu verwenden sind. Reduziert man zum Zweck der Kritik das visuelle Problem auf seinen Kern, kann behauptet werden: Ariès bestreitet, dass Personen im Mittelalter (und anderer Epochen) in der Lage waren, Fünfjährige Annual Review of Psychology 32, 1981, 89–115). Sie lehnt sich konzeptuell an den Begriff der ,Familienähnlichkeit‘ von Wittgenstein an und zeigt empirisch, dass natürliche Kategorien weniger von einem „kritischen Merkmal“ (differentia specifica) dichotom gebildet werden, als vielmehr an prototypischen zentralen Kategorienexemplaren orientiert sind. Rosch zeigte damit die Validität der Sprachspiel-Analysen Wittgensteins, die auf natürliche Kategorien in der Alltagssprache bezogen sind und die die herkömmlichen logizistischen Intuitionen überschreiten. 25 Vgl. E. Rosch, „Human Categorization“, 5. Anzumerken ist natürlich, dass das Farbspektrum tatsächlich keine derart klaren Grenzen aufweist, wie sie etwa beim Übergang von einer Vogelart zur anderen vorzufinden sind. Der Übergang im visuellen Aussehen zwischen Kindern und Erwachsenen ist ebenfalls fließend; diese Tatsache ergibt natürlich das Problem der Grenzziehung.
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(und jünger) von 18jährigen (und älter) in ihren Proportionen zu unterscheiden. Davon geht Ariès – nimmt man ihn wörtlich – aus, obwohl das physische Aussehen von Kindern eine Reizkonfiguration darstellt, die (1) sehr häufig und gut zu beobachten ist und (2) eine biologische Funktion hat (KindchenSchema).26 Hinzu kommt die Tatsache, dass ganz allgemein festgestellt werden kann, dass die visuellen Wahrnehmungs- und Diskriminationsfähigkeiten des Menschen äußerst gut entwickelt sind. Somit wird – zumindest aus psychologischer Sicht – die Ariès’sche Intuition immer schwerer nachvollziehbar. Menschen können beispielsweise die Gesichter verschiedener Personen hervorragend unterscheiden. Der Gesichtsausdruck spielt eine große Rolle in der sozialen Kommunikation und besteht – physisch betrachtet – in minimalen Reizkonfigurationsdifferenzen. Sogar die fließenden Übergänge der verschiedenen Ausdruckspositionen werden sicher erkannt und identifiziert. Diese Fähigkeiten zur Gesichtswahrnehmung sind z. T. bereits bei einem zwei bis drei Monate alten Baby sehr weitgehend entwickelt.27 Wie sollte es dann zu dem Phänomen kommen, dass Erwachsene irgendeiner Epoche oder Kultur auch nur ansatzweise Schwierigkeiten bei der wahrnehmungsmäßigen Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen haben? Und was sollte denn der Grund für diese (entstehende und wieder vergehende) Unfähigkeit sein? Von Ariès erhalten wir keine Antwort. Auf der praktisch identischen basalen Wahrnehmungsstrukturierung, die Menschen als Angehörige derselben Spezies aufweisen, basieren kategoriale, begriffliche und allgemein sprachliche Strukturierungen. Aus gestalttheoreti-
26 Vgl. K. Lorenz, „Ganzheit und Teil in der tierischen und menschlichen Gemeinschaft“, in: K. Lorenz, Über tierisches und menschliches Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre (Gesammelte Abhandlungen, Band 2), München 1965, 156 ff. Die biologistischen Annahmen von Lorenz zum Fall des Menschen sind allerdings zu modifizieren. Ein „angeborener auslösender Mechanismus“ (AAM) beschreibt die Verhältnisse für den Fall des Menschen (und wohl auch der höheren Primaten) sicher unzureichend. Gleichwohl können immerhin vergleichbare biologische Aspekte der Wahrnehmung des Kindes durch seine Eltern zugrunde liegen. Beim Menschen sind Überlagerungen derartiger Wahrnehmungsschemata durch eigene Früherfahrungen zu vermuten; so ist vorstellbar, dass das KindchenSchema unter bestimmten Bedingungen auch zur „auslösenden“ Reizkonfiguration von Wiederholungszwängen wird, etwa im Falle pädophiler Sexualorganisation. 27 Vgl. hierzu etwa D. Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart 1992, 129 ff., ferner P. Dinzelbacher; R. Frenken, Der steinerne Blick. Symbolköpfe der Romantik, Baden-Baden 2008, 108 ff.
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scher Sicht formuliert Tholey den Zusammenhang zwischen nicht-sprachlicher und sprachlicher Ordnung: „Sprache und nichtsprachliche Wirklichkeit stehen in einer Zuordnungsbeziehung, die ähnliche Ordnungseigenschaften in der Sprache voraussetzt wie in der nichtsprachlichen Wirklichkeit. Die vieldiskutierte Frage, ob in der Sprache die nichtsprachliche Ordnung nur passiv ausgedrückt wird oder ob die Sprache erst Ordnung in der nichtsprachlichen Welt schafft, ist so zu beantworten: Die Bildung oder der Erwerb von Sprache erfordert eine vorsprachliche Ordnung der Phänomene. Erst wenn eine Sprache mittels einer vorsprachlichen Ordnung gebildet bzw. erlernt ist, kann sie die Ordnung der nichtsprachlichen (naiv- oder kritisch-phänomenalen) Wirklichkeit erhöhen. (...) Die Möglichkeit des Erlernens einer Sprache setzt eine Strukturähnlichkeit der phänomenalen Welten verschiedener Personen voraus. So wird die Sprache gewöhnlich durch Hinweis eines Lehrenden (im Sinne des Auf-Etwas-Zeigens) erlernt. Das ist nur möglich, wenn die Wahrnehmungswelt des Lernenden mit der des Lehrenden bis zu einem gewissen Grad strukturähnlich ist.“28
Tholeys Ausführungen leiten bereits unmittelbar über zur Auseinandersetzung mit den gravierenden semantischen Schwächen von Ariès’ Arbeit.
Diskussion der Semantik von Ariès’ Begriff der „Kindheit“ Akzeptierte man trotz der oben ausgeführten psychologischen Einwände Ariès’ These von der „Entdeckung der Kindheit“, ließen sich gleichwohl irreparable Schwierigkeiten in der logischen Konsistenz seiner Begriffsverwendung zeigen. Dabei ist zunächst zu fragen, anhand welcher Daten Ariès denn die „Entdeckung der Kindheit“ und auch „Kindheit“ selbst abgreift. Ariès erfasst das, was er mit „Kindheit“ bezeichnet – zumindest in seiner einführenden Darstellung der Thesen – vor allem anhand der Verwendung des Wortes in der jeweiligen Epoche (vorwiegend im literarischen Bereich) und anhand ikonographischer Zeugnisse. Damit wird „Kindheit“ bei Ariès aber zur Bezeichnung (1) für das Begriffssystem und (2) für die ikonographische Dar28 P. Tholey, „Deshalb Phänomenologie! Anmerkungen zur phänomenologisch-experimentellen Methode (im Anschluß an Kebeck und Sader sowie an Bornewasser und Bober)“, in: Gestalt Theory 8(2), 1986, 152 f.
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stellung der Kinder. Ariès untersucht hier gleichsam etwas, was man vielleicht als Diskursphänomen bezeichnen könnte. Das Entdecken eines mit einer Bezeichnung auszustattenden Phänomens setzt dessen Existenz in der Zeit vor der Entdeckung voraus. Andernfalls liegt eine Konstruktion oder eine Erfindung vor. Es ist ohne weiteres möglich, alltagssprachlich hinreichend klar zu formulieren: „Der Uranus wurde entdeckt.“ Dagegen wäre „Der Uranus wurde erfunden“ eine Aufsehen erregende Feststellung und höchst begründungsbedürftig. Wenn Ariès also von einer „Entdeckung der Kindheit“29 spricht, dann verwendet er eine Semantik, die die Existenz der Kindheit in der Zeit vor der Entdeckung voraussetzt. „Entdecken“ würde bei Ariès so etwas wie „Richten der Aufmerksamkeit auf“ bedeuten. Wenn Ariès sich aber fast ausschließlich auf historisches Begriffssystem und ikonographische Darstellung mit dem Wort „Kindheit“ bezieht, kann er nicht gleichzeitig behaupten, dass Kindheit „entdeckt“ werden kann, denn dazu müsste ja, wie gesagt, zwischen einem existenten Geschehen (welches wir heute als Kindheit bezeichnen) und der Begriffsverwendung der jeweiligen Epoche unterschieden werden. Ariès verwendet also manchmal „Kindheit“ im Sinne einer Bezeichnung für kulturelle Phänomene und manchmal für ein zugrunde liegendes psychophysiologisches Phänomen (etwa in der Art, wie in der Alltagssprache das Wort „Kindheit“ verwendet wird). Anders ausgedrückt: Ariès spricht manchmal konstruktivistisch-idealistisch und manchmal naiv-realistisch im Sinne des common sense. Aus diesem schwankenden Umgang mit Begriffen ergeben sich seine – leider berühmt gewordenen – Behauptungen über ein Verschwinden und Entdecken von Kindheit. Aufgrund der unklaren Begriffsverwendung kann man den Ariès’schen Thesen nicht einfach eine empirisch fundierte Widerlegung zukommen lassen, vielmehr muss festgestellt werden, dass derartigen Sätzen von Ariès keine klare Bedeutung zugeordnet werden kann. Die laxe Verwendung unklarer Termini ist ein häufig anzutreffendes Phänomen und führt im Zusammenhang mit dem Gegenstand Kindheit (aber nicht nur da) zu schwer nachvollziehbaren Vorstellungen. So schreibt Menne in seinem Artikel zunächst ganz konsequent konstruktivistisch von der „Erfindung“ oder „Konstruktion“ der Kindheit. Das führt zu so wohlbekannten Schein-Erkenntnissen wie der Aussage: „Kindheiten entstehen und kön-
29 Kapitelüberschrift in: P. Ariès, Geschichte der Kindheit, 92.
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nen vergehen.“30 Später verlässt er den konstruktivistischen Jargon und verwendet ein biologistisch-anthropologisches Vokabular und stellt fest: „Kindheiten können (nicht ganz) anders sein“. Also zeigt sich die gleiche semantische Inkonsistenz wie bei Ariès. Postman attestiert unserer Zeit, dass Kindheit im Verschwinden begriffen sei.31 Auch hier liegt eine eigentümliche Verwendung des Wortes vor, das die Existenz eines (allerdings nur in diffusen Assoziationen benannten) empirischen Phänomens lediglich vortäuscht. All dies zeigt dramatisch die Notwendigkeit semantischer Vorüberlegungen auf dem Gebiet der Geschichte der Kindheit. Natürlich können weder Kindheit noch die Existenz von Kindern verschwinden, es sei denn, unsere Biologie veränderte sich durch übernatürlichen Eingriff in überaus drastischer Weise. Kindheit beruht auf psycho-biologischen Gegebenheiten, die, zumindest innerhalb von Zeitspannen, innerhalb derer evolutionsbiologische Aspekte irrelevant bleiben, unveränderbar sind. Postman verwendet den Begriff „Kindheit“ zur Kennzeichnung einer spezifischen Differenz in der Lesefähigkeit zwischen Erwachsenen einerseits und Kindern andererseits. Verschwindet diese Differenz, etwa weil angeblich im Zeitalter elektronischer Medien die Bedeutung des Lesens verschwindet, dann verschwindet natürlich die Kindheit, wobei „Kindheit“ das bedeutet, was Postman darunter versteht. Der winzige Ausschnitt aus der empirischen Realität, den Postmann herausgreift, ist allerdings äußerst idiosynkratisch gewählt. Die ohne zwingende Gründe und implizit ausgeführte Veränderung der Semantik des ursprünglich alltagssprachlichen Wortes „Kindheit“ hat sich allerdings bislang weder als sinnvoll noch als empirisch fruchtbar erwiesen. Die semantische Verwirrung bei derartigen Versuchen scheint jeweils größer als der resultierende Gewinn an theoretischer und begrifflicher Klarheit. Wenn bei Ariès schon die Begriffsverwendung derart unklar ist, scheint es umso erstaunlicher, dass seine Thesen so großen Anklang finden, ja sogar einen weitgehenden Konsens erzeugen konnten.32 Man fühlt sich an die Verständigungsprobleme der modernen Philosophie erinnert, wie sie Stegmüller 30 F. W. Menne, „Eine Welt für sich? Zur soziologischen Anthropologie der Kindheit“, in: H. Wendt; N. Loacker (Hg.), Kindlers Enzyklopädie. Der Mensch, Zürich 1984, 265, 267. 31 Vgl. N. Postman, Das Verschwinden der Kindheit, Franfurt am Main 1987, 49. Postman verwendet metaphorische Girlanden wie „Wiege der Kindheit“ und auch das „verschwindende Kind“ (S. 137). 32 Vgl. zur Rezeption der Thesen von Ariès und den zugrundeliegenden politischen Hintergründen auf Seiten von Autor und seinen Rezipienten den Aufsatz von E. Hermsen, „Ariès‘ ‚Geschichte der Kindheit‘...“, 142 f.
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analysiert, und die zu Schein-Konsens wie auch zu Schein-Dissens führen können.33 Ariès’ Buch enthält trotz der aufgezeigten semantischen Schwächen Beobachtungen und Interpretationen, die auf relevante Aspekte von historischer Kindheit hinweisen. Schon die Tatsache, dass Ariès die geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen in eine gewisse Richtung gelenkt hat, muss als Verdienst angesehen werden. Allerdings laufen viele seiner Interpretationen Gefahr, von begrifflichen Unklarheiten kontaminiert zu werden. Und insbesondere das erfolgreiche Schlagwort von der „Entdeckung der Kindheit“ hat eine Verbreitung und Akzeptanz gefunden, die m. E. wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen ist. Ariès führt den Begriff der Kindheit nicht ein, erläutert ihn nicht und bezieht ihn auch nicht auf eine bestimmte Theorie. Somit legt er sich eigentlich auf eine alltagssprachliche Verwendung des Begriffs fest, die etwa der Historiker Boockmann ganz generell als Kennzeichen geschichtswissenschaftlicher Arbeiten ansieht.34 Wie weiter oben aber dargelegt wurde, vermengt Ariès alltagssprachliche Verwendungen des Begriffs mit Annahmen über die Existenz von Kindheit, die sehr anspruchsvolle Aussagen beinhalten. Kamlah und Lorenzen artikulieren ein „skeptisches Mißtrauen“ gegen die Bildungssprache, während sie den Leistungen der Alltagssprache, innerhalb gewisser Grenzen, vertrauen.35 Die beiden Autoren plädieren für eine sorgfältige Vorüberlegung über die Art und Weise, in der ein beliebiger Gegenstand prädiziert werden kann, über dessen ontologische Gegebenheitsweise zunächst nichts ausgesagt werden muss. Daher sollen im Folgenden einige Überlegungen zur Verwendung der Begriffe „Kindheit“ und „Kind“ angestellt werden.
Exkurs: Zum Begriff „Kindheit“ Ein enger Begriff von Kindheit birgt die Gefahr, allein um der begrifflichen Klarheit willen, unnötigerweise wichtige Aspekte des Phänomenbereichs Kindheit auszuklammern. Kindheit stellt eben keinen atomistisch fassbaren Sachver33 Vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung. 1. Band, Stuttgart 1989, xli ff. 34 Vgl. H. Boockmann, Einführung in die Geschichte des Mittelalters, München 1988, 9. 35 Vgl. W. Kamlah; P. Lorenzen, Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Mannheim u.a. 1990, 24.
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halt dar, sondern ist zerlegbar in eine Mannigfaltigkeit von Aspekten, die es innerhalb einer interdisziplinären Untersuchungsperspektive zu erarbeiten gilt. Mit dem Begriff „Kindheit“ wird ein Spektrum von Phänomenen angesprochen, an dessen Polen zum einen rein biologische Tatsachen anzusiedeln sind und zum anderen rein kulturelle Phänomene stehen.36 Sozusagen „dazwischen“ sind diverse private, auch idiosynkratische, aber auch teilweise oder völlig öffentliche und kommunizierte Bereiche anzusiedeln. Daher wird in Bezug auf Aspekte des Umgangs mit Kindern hier folgende Kategorisierung37 von Merkmalen vorgeschlagen: Phänomenbereich Biologische Aspekte
Eigenschaften Allgemein
Private (idiosynkratische) Aspekte
Privat, partikular und in einer mehr oder weniger großen Verbreitung; Phänomene werden nicht unbedingt zwischen den Familien kommuniziert Partikular, weitgehend pri- – Pathologische Bevat, aber in größerer Verziehungsstrukturen breitung – „Avantgardistischer“ Umgang mit Kindern in bestimmten Gruppen – Taufe, Erbrecht, Kinds Allgemein in einer rechte, Schulpflicht etc. bestimmten Gesellschaft bzw. in bestimmten Teilen der Gesellschaft
Öffentliche und kommunizierte Aspekte
Kulturelle Aspekte
Beispiele – Kindliche Körperproportionen – Kindliche Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit – Individuelle familiale Beziehungsstrukturen
Tab. 1 Eigenschaften und Aspekte des Phänomens Kindheit
36 Vgl. hierzu ausführlicher R. Frenken, Kindheit und Autobiographie ..., 11 ff. 37 Die vorgestellten Kategorien sollen explizit nicht aristotelisch verstanden werden; es wird also nicht die Existenz kritischer Merkmale postuliert, die die Kategorien scharf trennen. Statt dessen sollen diese Kategorien in Anlehnung an Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit (vgl. L. Wittgenstein, „Philosophische Untersuchungen“, in: L. Wittgenstein, Werkausgabe in 8 Bänden. Band 7. Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt am Main 1984, 277 ff.) und an die empirisch gestützte Präzisierung dieses Konzepts durch Rosch (vgl. etwa E. Rosch; C. B. Mervis, „Family Resemblances ...“, 573 ff.) als Prototypen verstanden werden. Demnach gibt es typische Vertreter von Kategorienmitgliedern und Übergänge zwischen den verschiedenen Kategorien.
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Der Begriff ‚Kindheit‘ bezieht sich also auch auf eine Reihe universeller, äußerst auffälliger psycho-physiologischer Besonderheiten junger Menschen (sprich: Kinder). Diese Besonderheiten erzwingen von den erwachsenen Personen der Umgebung einen höchst komplexen Umgang mit dem Kind, der aus komplexen Interaktionen mit dem Kind besteht und der stattfinden muss, wenn das Kind physisch überleben und psychisch sich entwickeln soll. Seine psycho-emotionale Entwicklung ist mit dem Durchlaufen einer großen Anzahl von Lernprozessen (darunter der Spracherwerb und das Erlernen des sozialen Umgangs mit anderen) verknüpft, die nur durch den Kontakt mit erwachsenen Individuen ermöglicht werden. Es wird weiter davon ausgegangen, dass ein von den grundlegenden, universellen, psycho-physischen Grundgegebenheiten zumindest zum Zweck der Analyse idealtypisch abtrennbarer Phänomenbereich existiert, den man als Umgang mit dem Kind bezeichnen kann. Die Bedürfnisstruktur des Kindes trifft auf die Bedingungen, die von den unmittelbaren, d. h. historisch-konkreten Beziehungspartnern ermöglicht werden. Aus den Interaktionen kindlicher und erwachsener Beziehungspartner entsteht die historisch-konkrete Realisierung der Kindheit und des Erwachsenen-Kind-Verhältnisses. Dieser Umgang mit dem Kind enthält dabei universelle Merkmale und historisch variierende Bestandteile, die beide in einer Untersuchung der Geschichte der Kindheit herauszuarbeiten wären. Die psycho-physiologische Ausstattung zu Beginn jeder Ontogenese ist keinem historischen Wandel unterworfen. Von Anfang an kommt es aber zu einer wechselseitigen Beeinflussung der Beziehungspartner Eltern und Kind, die von Bedürfnisstruktur und Psyche des Kindes mitbedingt wird und deren Entwicklung, Veränderung, Integration und häufig auch deren Traumatisierung innerhalb der stattfindenden Interaktionen bewirkt. Der historische Wandel von Kindheit, sofern er denn existiert bzw. nachzuweisen ist, hat immer mit diesem Umgang mit Kindern und den daraus resultierenden Veränderungen und Niederschlägen auf Seiten des Kindes zu tun. Die Beschreibung eines Wandels jedoch setzt immerhin Vergleichbarkeit der Phänomene voraus. Wenn der zu untersuchende Gegenstand – die Kindheit in ihren historischen Manifestationen – als einheitlicher exponiert werden soll, folgt daraus, dass der Kindheitshistoriker Gemeinsamkeit und Differenz von historischen und heutigen Kindheiten simultan erfassen und erklären muss. Kindheit war mit großer Sicherheit nicht „immer gleich“, sondern veränderte und verändert sich im historischen Verlauf ständig. Natürlich sind dabei historische Relativierungen zulässig und notwendig, woraus aber kein genereller Relativismus resultiert. Ansonsten würde eine historische Verände-
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rung immer nur in einer Abfolge unvergleichbarer diskreter Zustände bestehen, die entstehen und später vergehen und von gänzlich neuen Zuständen abgelöst würden.38 Der Begriff des Wandels drückt aber bereits aus, dass vergleichbare, wenn auch sich verändernde Formen in zeitlicher Abfolge entstehen. Aufgrund der psycho-physiologisch verankerten Grundbedingungen der Kindheit, die man als Hilflosigkeit des kleinen Kindes39 bezeichnen kann, muss die Vergleichbarkeit der Phänomene in allen historischen Epochen – bei allen notwendigen Relativierungen – angenommen werden. Von zentraler Bedeutung insbesondere für die frühe Kindheit der ersten Lebensjahre ist hierbei das Beziehungs- und Interaktionsgeschehen zwischen dem Kind und den Erwachsenen in der unmittelbaren Umgebung des Kindes, also meist den Eltern bzw. Familienangehörigen. Selbst eine Kultur, die über keinen einzigen Begriff von Kind oder Kindheit im zuvor dargestellten Sinne verfügt, weist natürlich trotzdem Kinder und Kindheit auf, ganz ähnlich wie ein bislang unentdeckter Planet nicht in der Sekunde der Entdeckung bzw. in dem Moment seiner Taufe zu existieren beginnt – auch wenn mancher radikale Konstruktivist so etwas denken mag.40 Mit Richter kann man für die Untersuchung historischer Kindheit die beiden Pole „Kinderleben“ und „Kindheitsbild“ einer gegebenen Epoche unterscheiden, wobei ersteres den Untersuchungsschwerpunkt auf realgeschichtliche letzteres auf ideengeschichtliche Aspekte der Wirklichkeit legt.41 38 Vgl. R. Frenken, „Die Psychohistorie des Erlebens. Eine einleitende Programmatik“, in: R. Frenken; M. Rheinheimer (Hg.), Die Psychohistorie des Erlebens, Kiel 2000, 12 ff. zur Gegenstandsexponierung der historischen Psyche. 39 A. Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1969, 57 geht davon aus, dass der menschliche Geburtszustand einer „physiologischen Frühgeburt“ entspricht. Das menschliche Baby kommt demnach – im Vergleich zu den Babys der nichtmenschlichen Primaten – ein Jahr zu früh und neurophysiologisch vergleichsweise unreif auf die Welt. Vgl. auch J. Diamond, Der dritte Schimpanse. Evolution und Zukunft des Menschen, Franfurt am Main 1998, 79 ff., 87 ff. Der Autor belegt aus soziobiologischer Sicht die Besonderheiten des Homo sapiens bezogen auf die Versorgung seiner Kinder, die weitaus hilfloser sind als gleichaltrige Menschenaffen. Hilflosigkeit des menschlichen Kindes und die Pflegefähigkeiten unterliegen einer gemeinsamen evolutionären Entwicklung. 40 Zur Kritik an konstruktivistischen Begriffsbildungen vgl. R. Frenken, Kindheit und Autobiographie ..., 16–19. 41 Vgl. hierzu auch D. Richter, Das fremde Kind ..., 19. U. Gray, Das Bild des Kindes in der altdeutschen Dichtung und Literatur. Mit textkritischer Ausgabe von Metlingers ‚Regiment der jungen Kinder‘, Frankfurt am Main 1974, versucht, durch die Interpretation literarischer Bearbeitungen von Kindheitsthemen Aspekte der
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Durch die Exponierung von Kindheit als Komplexphänomen zwischen den Polen Biologie und Kultur, mit psychischen, sozialen und historischen Anteilen ist es auch möglich, eine kritische Position zu entwickeln, gerade weil Spannungen und Konfliktpotential zwischen den diversen Aspekten von Kindheit exponiert werden können, ja müssen. Der kulturelle Umgang mit Kindern ist eben nicht sakrosankt und wird in dieser Erkenntnishaltung nicht von einer relativistischen Bewertung der jeweils historisch-partikularen Positionen zugedeckt. Das gilt für jede historische Epoche, einschließlich der Gegenwart. So ist es sogar möglich, jede historische Epoche unter Berücksichtigung auch der ihr eigenen Aussagen zu kritisieren. Dazu soll ein illustrierendes Beispiel angeführt werden. Konkret geht es um eine historische Bewertung des festen Einwickelns von Kindern, wie es im Mittelalter üblich war.42 Die hochmittelalterliche Mystikerin Mechthild von Hackeborn (1241– 1299) gestaltete eine Baby-Szene aus der Perspektive Jesu und ließ das gewickelte Neugeborene sagen: „Da ich in der Welt geboren ward, wurde ich von Stunde an gebunden mit Tüchlein, also dass ich mich nicht bewegen mochte, zu einem Zeichen, dass ich mich ganz, mit allen Gütern, die ich mit mir von dem Himmel brachte, in die Gewalt des Menschen gegeben habe zu seinem Nutzen. Denn, wer gebunden ist, hat keine Gewalt und vermag sich nicht zu wehren, und ihm mag genommen werden Alles, was er hat. Gleicher Weise, da ich ausging aus der Welt, bin ich also geheftet gewesen an das Kreuz, dass ich mich gänzlich nicht mochte bewegen, zu einem Zeichen, dass ich alles Gute, was ich vollbrachte in der Menschheit, den Menschen wieder gelassen habe (...).“43 Realgeschichte zu rekonstruieren sind. Generell scheint eine zu strikte Trennung der Bereiche Real- und Ideengeschichte letztlich künstlich. Gray spricht von einer Entwicklung des Mittelalters hin zu mehr Realismus bezogen auf das (literarisch gestaltete) Bild vom Kind (vgl. etwa 22 f. und 27). 42 Zum Thema Wickeln (Fatschen) von Babys vgl. P. Dinzelbacher; R. Frenken, Der steinerne Blick..., 90–103 und vor allem R. Frenken, Gefesselte Kinder. Geschichte und Psychologie des Wickelns, Badenweiler 2011. 43 J. Müller, Der heiligen Mechtildis, Jungfrau aus dem Orden des heiligen Benediktus. Buch besonderer Gnade. Aus dem Lateinischen nach der Ausgabe der Benediktiner von Solesmes, Regensburg 1880, 44 (Buch I, Kapitel 5). Analyse der Szene in R. Frenken, Gefesselte Kinder ..., 188 f. Vgl. zu dem hier deutlich werdenden Verständnis von Wickeln als Fesseln (und Martyrium) die Plastik in U. Geese, „Romanische Skulptur“, in: R. Toman (Hg.), Die Kunst der Romanik, Köln 2004, 280 (Bildsäule für ein Taufbecken).
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Mechthild kombinierte hier in ihren religiösen Phantasien das Wickel- und das Kreuzigungsthema und zeigt damit, wie eng Wickeln auch in der Vorstellung historischer Subjekte mit Folter, Hilflosigkeit und Qualen verbunden war. Anhand weiterer mystischer Texte läßt sich demonstrieren, dass es somit bereits im Mittelalter eine rudimentäre Vorstellung von der Deprivation gab, die mit dem Wickeln verknüpft ist. Das Wickeln wird von einigen modernen Autoren als angemessener Umgang und akzeptable Pflegehandlung bezeichnet.44 Dabei werden abwechselnd der wärmende und der emotional „beruhigende“ Effekt des Wickelns hervorgehoben, und es wird behauptet, dass negative Beurteilungen der einst weit verbreiteten Wickelpraktiken lediglich auf den Projektionen heutiger Wissenschaftler basierten. Oben zitierte Passage erlaubt es aber, genau diese Befreiung einer Epoche von moderner Kritik radikal in Frage zu stellen. Das historische Subjekt selbst kritisiert hier – wenn auch verdeckt – seine eigene Zeit. Kindheit, so ist zu vermuten, verändert sich also und wird als historisch bedingter, im Wandel befindlicher Phänomenkomplex angesehen, ohne dass seine Entstehung oder sein Verschwinden als Denkmöglichkeiten akzeptiert werden. Die Genese des jeweils historisch-konkreten Umgangs der Erwachsenen mit Kindern und insbesondere das familiale Beziehungsgeschehen zwischen Eltern und ihren Kindern sowie dessen Beeinflussung durch das jeweilige kulturell verfügbare Wissen und die entwickelten praktischen Habiti sind empirisch-historisch zu untersuchen. Kindheit und damit zusammenhängende Phänomene werden nach dem hier Gesagten gerade nicht wie etwa der Begriff (oder die Kategorie) „Hexe“ untersucht. „Hexe“ bezeichnet nämlich, so die hier vertretene Behauptung, nicht ein real bestehendes Phänomen im Sinne einer Manifestation übernatürlicher böser Kräfte, sondern ist als Deutungsmuster zu begreifen, das entstehen und verschwinden kann. Die Einwirkung derartiger Konstruktionen bzw. Deutungsmuster auf die Existenz der Frauen und der Männer in den
44 Vgl. K. Rutschky, Deutsche Kinderchronik, Köln 1983, XXIV; vgl. F. Renggli, Selbstzerstörung aus Verlassenheit. Die Pest als Ausbruch einer Massenpsychose im Mittelalter. Zur Geschichte der frühen Mutter-Kind-Beziehung, Hamburg 1992, 207. Rutschky ist vom wärmenden Effekt des Wickelns, Renggli vom beruhigenden Effekt überzeugt. Beide Autoren argumentieren ohne psychologische Theorien oder historisches Material hierzu.
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entsprechenden Epochen45 und auch der Kinder kann untersucht werden,46 wobei die Frage, ob es wirklich so etwas wie Hexen gab, natürlich quasi a priori durch die Übernahme eines bestimmten Weltbildes je nach Wahl oder Glauben des Proponenten jeweils für beantwortet erachtet wird. Eine echte Korrektur dieses Weltbildes würde ihrerseits massivste Präsenz von Daten erfordern, die einen bedeutenden Wandel stillschweigender Annahmen erzwingen. Im Rahmen des hier etablierten Sprachgebrauchs kann formuliert werden: Die Konstruktion (das Deutungsmuster, die Kategorie) „Hexe“ kann entstehen und verschwinden –, das Phänomen Kindheit nicht. Kindheit ist unaufhebbarer und zentraler Bestandteil der conditio humana. Keine Menschheit ohne Kindheit.
Ikonographische Aspekte der Ariès’schen These Die ikonographischen Argumente, wie sie Ariès vorbringt, können ebenso wenig überzeugen wie seine begrifflichen oder (implizit) psychologischen. Er illustrierte sein Buch mit 26 Abbildungen, die so wenig informationshaltig sind, dass sie die meisten Herausgeber der Übersetzungen kommentarlos weggelassen haben.47 Es ist tatsächlich nicht ersichtlich, was Ariès genau mit den Bildern illustrieren will. Jedenfalls ist festzuhalten, dass alle dargestellten Kinder in Ariès’ Buch mit naturalistischen Körperproportionen dargestellt
45 Vgl. etwa C. Honegger (Hg.), Die Hexen der Neuzeit. Studien zur Sozialgeschichte eines kulturellen Deutungsmusters, Frankfurt am Main 1978. 46 Vgl. hierzu die Untersuchungen des Phänomens der Kinderhexen, bei dem es zur massiven Beeinflussung der Kindheit des 17. Jahrhunderts durch das Deutungsmuster ‚Hexe‘ kommt, was zu Verhaftung, Untersuchung und Hinrichtung von Kindern unter entsprechenden Anklagen führt (vgl. H. Weber, Kinderhexenprozesse, Frankfurt am Main 1991 und H. Weber, ‚Von der verführten Kinder Zauberei‘. Hexenprozesse gegen Kinder im alten Württemberg, Sigmaringen 1996). Man kann den Ausführungen Webers aber auch entnehmen, wie umgekehrt Kindheit bzw. Sozialisationsstrukturen das Phänomen der Verfolgung von Kinderhexen direkt kausal beeinflussen (vgl. etwa H. Weber, ‚Von der verführten Kinder Zauberei‘ ..., 182). 47 Die Bilder sind beispielsweise in der französischen Ausgabe von Seuil (= P. Ariès, L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime, Paris 1973) zu finden, vgl. Abbildungsverzeichnis auf S. 501 f. Die Mehrzahl der Bilder stammt aus dem 16. und 17. Jahrhundert.
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Abb. 1 Hans Holbein der Jüngere (1497–1543): Madonna des Bürgermeisters Meyer
sind. Die früheste Abbildung in diesem Buch, die ein Kind zeigt, stammt aus dem frühen 16. Jahrhundert.48 Ariès behauptet gleichwohl: „Bis zum 17. Jahrhundert kannte die mittelalterliche Kunst die Kindheit entweder nicht oder unternahm jedenfalls keinen Versuch, sie darzustellen.“49 48 Vgl. P. Ariès, L’enfant ..., Paris 1973, 232 (Buchillustration von Holbein, datiert auf 1516). Die früheste Abbildung („Le Jeu des Fagots“) stammt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, zeigt aber kein Kind. 49 P. Ariès, Geschichte der Kindheit, 92. Er selbst revidiert seine pauschalen Aussagen in seinen Ausführungen mehrfach und datiert unterschiedlich.
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Ariès widerlegt seine eigene Aussage, indem er selbst ein Bild von Holbein dem Jüngeren wiedergibt (Abb. 1)50. Das Bild von 1526 zeigt zwei Jungen – ein Jesuskind in den den Armen einer Madonna und einen weiteren Jungen –, die in allen Körperproportionen sehr weitgehend realistisch wiedergegeben werden.51 Gegen Ariès’ ikonographische Auffassungen einer fehlenden Darstellung der kindlichen Körperproportionen im Mittelalter sind bereits von einigen Autoren Einwände formuliert worden. Entsprechende Arbeiten zeigen, dass auch im Mittelalter realistische Darstellungen von Kindern zu finden sind. Forsyth widersprach Ariès bereits 1976 aufgrund ihrer Interpretation von mittelalterlichen Kunstwerken (9. bis 12. Jahrhundert).52 Hamel zeigte, dass niederländische und flämische Maler bereits im 15. Jahrhundert Kinder realistisch, d. h. in kindlichen Proportionen abbildeten. In seinen statistischen Auswertungen von 100 Bildern zeigt sich kein Wandel in Richtung „kindgerechtere“ Darstellungen vom 15. bis 19. Jahrhundert.53 In diesem Abschnitt soll insbesondere die Bedeutung der romanischen Kunst für Ariès’ Argumentation dargelegt werden, da diese Epoche der angeblichen „Entdeckung der Kindheit“ vorausgeht, wobei der Zeitraum der Entdeckung wiederum von Ariès allerdings äußert unscharf datiert wird.54 Ariès verwendet Verweise auf romanische Kunstwerke als Beleg dafür, dass diese Epoche Kinder nur als verkleinerte Erwachsene abgebildet habe.55 Insofern kommt dieser Epoche eine wichtige Rolle zu, wenn man die ikonographischen Ausführungen von Ariès empirisch überprüfen will. Ariès selbst 50 Abbildung aus P. Ariès, L‘enfant..., Ausgabe von Seuil, zwischen den Seiten 104 und 105. 51 Vgl. P. Ariès, L’enfant..., 104. Ariès läßt die Datierung weg. Der Junge im Vordergrund wirkt tendenziell zu muskulös. Die Proportionen, insbesondere die Größe des Kopfes, sind dagegen naturalistisch. 52 I. H. Forsyth, „Children in Medieval Art. Ninth trough Twelfth Centuries“, in: Journal of Psychohistory 4(1), 1976, 30 ff. 53 B. R. Hamel, „The Image of the Child. Dutch and Flemish Paintings”, in: Journal of Psychohistory 24(1), 1996, 71 ff. 54 P. Ariès, Geschichte der Kindheit, nennt zahlreiche Daten, an denen angeblich die Entdeckung beginnt (darunter das 13. Jh. (S. 92) und das 17. Jh. (ebenfalls S. 92). Die Entdeckung der Kindheit beginne im 13. Jahrhundert, Zeugnisse in der Ikonografie fänden sich ab dem 15. Jahrhundert und würden Ende des 16. Jahrhunderts erst zahlreich (vgl. S. 108). A. Wilson, „The Infancy of the History of Childhood...“, 136 spricht im Zusammenhang mit dieser Art von Datierung von „pervasive chronological vagueness“. 55 Vgl. P. Ariès, Geschichte der Kindheit, 92 ff.
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zeigt kein einziges romanisches Kunstwerk, obwohl er diese Epoche zur Kontrastbildung heranzieht. Die Romanik ist kunsthistorisch gesehen die Epoche etwa zwischen 1050 und 1250.56 Sie war seit dem Ende der antiken Welt und deren künstlerischen Errungenschaften die erste sozusagen gesamteuropäische Stilrichtung. Auch deshalb kommt ihr eine bedeutende Rolle bei der Überprüfung ikonographischer Aussagen auf kindheitshistorischem Gebiet zu. Wenn man romanische Skulpturen betrachtet, fallen einige wiederkehrende Merkmale auf. Romanische Kunst ahmt gewöhnlich nicht die Natur nach, sie ist nicht realistisch, sondern arbeitet stärker stilisierend und schematisierend.57 Sie greift häufig zu symbolischer Darstellung. Individualität von Gesicht oder Körper, lebensnahe Proportionen von Menschen, Tieren oder Pflanzen sind augenscheinlich nicht das, was romanische Bildhauer und Maler abbildeten. Schon deshalb ist es problematisch, die Eigentümlichkeiten dieser Kunstwerke zu verwenden, um etwas über Abb. 2 Muttergottes mit Jesuskind Wahrnehmungsfähigkeiten einer Epoche (Typus „Sedes Sapientiae“), Barcelona (E), 12. Jh. auszusagen. Ariès hätte nämlich, bliebe er denn konsistent bei seiner Argumentation, noch weiter schlussfolgern müssen: Die Menschen des 11. Jahrhunderts konnten Pflanzen und Tiere nicht richtig erkennen, ja ihre gesamte Wahrnehmungsfähigkeit von Formen war drastisch reduziert. Ariès hielt sich hier zurück und
56 Vgl. P. Dinzelbacher; R. Frenken, Der steinerne Blick ..., 5, der das Ende der Romanik in Westeuropa mit der Mitte 12. Jahrhunderts und in Mitteleuropa im frühen 13. Jahrhundert datiert. 57 Vgl. P. Dinzelbacher; R. Frenken, Der steinerne Blick ..., 17.
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Abb. 3 Muttergottes mit segnendem Jesuskind (Typus „Sedes Sapientiae“), Hoven (Rheinland, D), Klosterkirche, um 1160
beschränkte seine Folgerungen „nur“ auf das Gebiet der Geschichte der Kindheit.58 Ariès behauptet nun, dass die Kunst der Romanik nicht die typisch kindlichen Proportionen des Kindes wiedergebe bzw. dass dargestellte Kinder wie kleine Erwachsene aussehen. Das lässt sich auch für zahlreiche Fälle bestätigen, wobei es aber sehr unterschiedliche Grade von „Erwachsenheit“ in den Darstellungen von Kindern gibt. Häufig sehen solche Kinder in den 58 Vgl. A. Wilson, „The Infancy of the History of Childhood ...“, 146 ff.
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Abb. 4 Madonna des Dom Rupert mit Jesuskind, Museum Curtius, Lüttich (B), um 1180
Darstellungen tatsächlich wie „verkleinerte Erwachsene“ aus (Abb. 2)59. Mitunter werden aber auch realistischer proportionierte Werke ausgearbeitet (Abb. 3)60. Das Jesuskind in Abb. 3 ist zwar nicht auf naturalistische Weise dargestellt, aber immerhin erheblich realitätsnäher als das von Abb. 2. Beson59 X. Barral i Altet, „Romantik“, in: G. Duby; J.-L. Daval (Hg.), Skulptur. Von der Antike bis zum Mittelalter, Köln 2006, 328, vgl. auch die Abbildungen auf S. 329 f. sowie U. Geese, „Romanische Skulptur“, 351–353, H. Busch; B. Lohse, Romanische Plastik in Europa, Frankfurt am Main 1961, 31. 60 H. Busch; B. Lohse, Romanische Plastik ..., 121.
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ders ist auf folgende Eigenheiten hinzuweisen: Das Jesuskind sieht seiner Mutter hier wie in zahlreichen anderen Madonnendarstellungen ähnlich.61 Der Künstler hat aber nicht den Köper der Mutter einfach nur verkleinert, um das Kind darzustellen, sondern die Proportionen kindgemäß angepasst, die Wangen kindlich gerundet und den Schulterbereich erheblich schmaler als bei der Mutter gestaltet. Tatsächlich erwachsen wirken die Haltung und der Segensgestus. Die Darstellung des Jesuskindes thematisiert gleichwohl in Andeutungen einen kindlichen Körper mit kindlichen Proportionen. Somit lässt sich zeigen, dass die pauschalen Behauptungen von Ariès die diversen Stilrichtungen innerhalb der Romanik unzulässig einebnen.62 In der Abbildung 463 sind die Proportionen des kindlichen Jesus noch realitätsnäher. Die babytypischen Wangen sind dargestellt, das Kindchen-Schema ist praktisch vollständig erkennbar und beinahe
Abb. 5 Madonna mit Jesuskind, (Nicola Pisano), gotisch, Dom von Siena (I), 1265–68
61 Vgl. zu weiteren einander ähnlichen Darstellungen von Madonna und Jesuskind: H. Busch; B. Lohse, Romanische Plastik ..., 11, 31, 43; I. H. Forsyth, „Children in Medieval Art ...“, 37; U. Geese, „Romanische Skulptur“, 351–353, 371; X. Barral i Altet, „Romantik“, 325, 328–330. 62 Ganz ähnlich in bezug auf unterschiedliche Grade von Realismus in der ottonischen, karolingischen und romanischen Kunst argumentiert I. H. Forsyth, „Children in Medieval Art ...“, 33. 63 H. Busch; B. Lohse, Romanische Plastik ..., 122. Vgl. auch die Abbildung des Kunstwerks in X. Barral i Altet, „Romantik“, 320.
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Abb. 6 Jesus in der Mandorla und Heilige, Mars-sur-Allier (F), St. Julien (Tympanon), 12. Jh.
realistisch wiedergegeben. In der Gotik entstehen dann noch weitergehend an der Realität ausgerichtete Kinderdarstellungen (Abb. 5)64. Es gibt nun aber Kunstwerke – und zwar in nicht unerheblicher Anzahl – die sozusagen genau das Gegenteil von „verkleinerten Erwachsenen“ zeigen: Zahlreiche romanische Skulpturen, die eindeutig erwachsene Menschen darstellen, weisen deutlich kindliche Proportionen auf, also vor allem große (manchmal sogar riesige) Köpfe und kleine Gliedmaßen, Hände und Füße. Man ist daher beim Anblick dieser romanischen Kunstwerke manchmal versucht, die These von Ariès umzudrehen. Zahlreiche romanische Kunstwerke wirken eher so, als würden auch die Erwachsenen als Kinder dargestellt, also so, als setze sich das gespeicherte, prototypische Bild eines Kindes bei der künstlerischen Produktion gegenüber einer realistischen Darstellung durch. Offensichtlich kannte Ariès die romanischen Kunstwerke nicht ausreichend, und die romanischen Darstellungseigentümlichkeiten können zu einer weiteren Widerlegung seiner Ansichten verwendet werden. Die Umkehrung der Ariès’schen These soll allerdings nicht ernsthaft vertreten werden, denn die Kunstwerke liefern für so weitreichende Thesen, wie die von Ariès oder auch deren Umkehrung, einfach nicht das geeignete Material.65 64 Nicola (auch: Niccolò) Pisano (ca. 1205–1278). 65 An anderer Stelle (P. Dinzelbacher; R. Frenken, Der steinerne Blick ..., 210 ff.) habe ich ausgeführt, dass die romanischen Skulpturen Hinweise dafür liefern, dass die
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Abb. 7 Apostel, Engel, Jesus und Têtes coupées, Saint-Génis-des-Fontaines (F), Abteikirche (Türsturz), um 1019
Im Weiteren sollen einige prototypische Beispiele dafür gezeigt werden, wie in die Gestaltung romanischer Skulpturen, die eindeutig erwachsene Figuren darstellen, kindliche Proportionen eingeflossen sind.66 Alle dargestellten Erwachsenen im Tympanon von St. Julien (Mars-surAllier) 67 wirken ausgesprochen kindlich in den Proportionen. Die Apostel Bildhauer und Steinmetze dieser Epoche hinsichtlich Entwurf und Ausführung ihrer Werke von kindlichen Erinnerungsspuren beeinflußt waren. Das bedeutet aber keineswegs, dass dadurch die Unfähigkeit zur visuellen Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen angenommen oder belegt werden soll. Das Gegenteil ist der Fall, denn kindliche Eigentümlichkeiten können nur dann Bildwerke beeinflussen, wenn sie als solche wahrgenommen wurden. 66 Vgl. für die kindlichen Proportionen in der romanischen Skulptur als Bildmaterial: W. von Blankenburg, Heilige und dämonische Tiere, Leipzig 1943, 56, 67, 73–75, 80, 99, 102; H. Busch; B. Lohse, Romanische Plastik ..., 53, 54, 104, 107, 130, 142; A. Weir; J. Jerman, Images of Lust. Sexual Carvings on Medieval Churches, London 1986, 9, 12–17, 33, 41, 80–88,100–105, 116; N. Kenaan-Kedar, Marginal Sculpture in Medieval France. Towards the Deciphering of an Enigmatic Pictorial Language, Aldershot 1995, 24, 26, 38, 61; U. Geese, „Romanische Skulptur“, 257 ff., 304, 315, 319, 327, 330 f., 341, 343, 346 f.; X. Barral i Altet, „Romantik“, 273, 275, 303, 306 f., 310, 326. Die genannten Beispiele sind prototypisch für die „kindlichen“ Proportionen Erwachsener. Zwischen den Polen der ,kindlichen‘ und ,erwachsenen‘ Darstellungsweise existieren zahlreiche Übergangsformen in der Kunst der Romanik. 67 K. Basford, The Green Man, Ipswich 1978, Abb. 19a.
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haben vergleichsweise riesige Köpfe sowie kleine Hände und geradezu winzige Füße. Eigentlich wirken die Gestalten wie Püppchen. Die gesamte Darstellungsweise wirkt kindlich-naiv. Auch der berühmte Türsturz aus Saint-Génis-des-Fontaines (Abb. 7)68 weist dieses Gestaltungsmerkmal ganz deutlich auf. Der Türsturz gilt als eine der ältesten romanischen Bauplastiken überhaupt. Umgeben von vier Konsolen mit Têtes coupées (Symbolköpfen) zeigt das Relief in der Mitte Jesus in einer Mandorla, gehalten von zwei Engeln, abgegrenzt von den übrigen Figuren. Daneben, rechts und links, stehen je drei Apostel in einem Säulengewölbe. Die sechs Apostel füllen den Raum zwischen den Säulen derart aus, dass auf dem Relief kein leerer Zwischenraum entsteht. Die Apostel haben riesige Köpfe, winzige Gliedmaßen, Händchen und Füßchen. Die Gestaltung der Apostel erinnert stark an Wickelkinder.69 Die Proportionen sind „extrem kindlich“, der Kopf macht mehr als ein Drittel der Gesamtlänge aus. Jesus und auch die Engel sind eindeutig anders gestaltet, und zwar von den Proportionen her erwachsener.70 Auf den Kapitellen von Saint-Front-sur-Nizonne sind „Frau“ und „Mann“ mit riesigen Köpfen dargestellt (Abb. 8)71. Weir und Jerman fragen sich, ob die Figuren Adam und Eva darstellen, zahlreiche Indizien sprechen jedoch gegen diese Annahme.72 Die weibliche Figur hat beispielsweise keine Brüste, man erkennt nicht einmal Andeutungen. Bildliche Anspielungen auf den Sündenfall – etwa Darstellung von Schlange und Baum – fehlen. Daher liegt die Interpretation nahe, dass es sich hier nicht um die Erwachsenen Adam und Eva, sondern um zwei schreiende nackte Kinder handelt. Solche Figuren basieren womöglich auf Phantasien von bösen Kindern. Im Mittelalter wurden schreiende Kinder ja häufig als dämonische Wesen, d. h. als Wechselbälge interpretiert.73 68 U. Geese, „Romanische Skulptur“, 258. Eine ähnliche Gestaltung, wenngleich nicht ganz so extrem kindlich, findet sich im Apostelrelief, Saint-Denis, 12. Jahrhundert (Abb. in X. Barral i Altet, „Romantik“, 307). 69 Zum Thema Wickeln im Mittelalter vgl. R. Frenken, Gefesselte Kinder..., ferner P. Dinzelbacher; R. Frenken, Der steinerne Blick..., 90–103. 70 Für eine ausführliche Interpretation dieses Kunstwerks vgl. P. Dinzelbacher; R. Frenken, Der steinerne Blick..., 216 ff. 71 A. Weir; J. Jerman, Images of Lust..., 86, Abb. 38. 72 A. Weir; J. Jerman, Images of Lust..., 86. 73 Vgl. hierzu insbesondere L. DeMause, „Evolution der Kindheit“, 25. Ferner D. Alexandre-Bidon; D. Lett, Children in the Middle Ages, 12, S. Shahar, Kindheit
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Abb. 8 Schreiendes Paar, Saint-Front-sur-Nizonne (F), 12. Jh.
Abb. 9 Eva, Adam und Teufel (Sündenfall), Schöngrabern (A), Pfarrkirche (Apsis), Höhe ca. 4 m, frühes 13. Jh.
im Mittelalter, Reinbek 1993, 107, P. Dinzelbacher, Heilige oder Hexen? Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und früher Neuzeit, Reinbek 1997, 189 f.
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Abb. 10 Teufel, Civray (F), Saint-Pierred’Excideuil, 12. Jh.
Die Ureltern und Satan sind das Thema der Darstellung des Sündenfalls von Schöngrabern (Abb. 9). Neben Adam ist ein schreiender Teufel dargestellt. Der Teufel sieht in seinen Proportionen sehr kindlich aus, eigentlich wie ein Baby, vom Gesicht einmal abgesehen. Sein Nabel ist erkennbar, was auf den babyhaften Aspekt hinweist. Auch die anderen Teufel an der Kirche in Schöngrabern sehen sehr kindlich aus und haben einen erkennbaren Nabel.74 Zahlreiche Skulpturen an dieser Pfarrkirche haben ausgesprochen kindliche Proportionen, vor allem die Teufel.75 Auch der Teufel aus Civray weist ausgesprochen kindliche Proportionen auf, insbesondere einen großen Kopf.76 Der große Penis könnte auf Phantasien des Künstlers von einem Baby hindeuten, denn männliche Säuglinge haben proportional gesehen große Genitalien (vgl. Abb. 11)77. 74 Vgl. das sehr kindliche Aussehen des kleineren der beiden Teufel oben links neben dem Apsisfenster, unter dem Eva, Adam und der große Teufel abgebildet sind (z. B. in H. Busch; B. Lohse, Romanische Plastik ..., 142). 75 Vgl. R. Feuchtmüller, Schöngrabern. Die steinerne Bibel, Wien, München 1979, u. a. 40 und 173, sowie P. Dinzelbacher; R. Frenken, Der steinerne Blick ..., 10, 11. 76 A. Weir; J. Jerman, Images of Lust ..., 97, Abb. 48. 77 J. L. Stone; J. Church, Kindheit und Jugend. Einführung in die Entwicklungspsychologie. Band 1, Stuttgart 1978, 4. Stone und Church schreiben zu den körperlichen
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Abb. 11 Männlicher Säugling kurz nach der Geburt mit vergrößerten Genitalien und Brüsten
Abb. 12 Verdammter, Autun (F), St. Lazare (Weltgerichtstympanon), um 1130
Der Teufel aus Civray kann als Symbolisierung eines „bösen Babys“ verstanden werden. Bei dem Verdammten des Weltgerichtstympanons von Autun sind die Körperproportionen der nackten menschlichen Gestalt zwar nicht richtig babyhaft, aber die riesigen greifenden Hände ergeben ein Größenverhältnis, das in etwa dem eines Neugeborenen zu seiner Mutter entspricht (Abb. 11, vgl. unmittelbar mit Abb. 1278). Außerdem erscheint der Kopf gegenüber Besonderheiten Neugeborener: „Die Genitalien des Neugeborenen sind zuerst erstaunlich groß und auffällig. Viele Neugeborene – Knaben und Mädchen – haben vergrößerte Brüste, die eine milchartige Substanz, die sog. Hexenmilch, absondern, und viele Mädchen haben nach der Geburt eine kurze ‚Menstruation‘. Diese Erscheinungen sind auf die Wirkung von Hormonen zurückzuführen, die aus dem mütterlichen Kreislauf absorbiert wurden und verschwinden bald nach der Geburt.“ 78 P. Dinzelbacher, Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung. Mentalitätsgeschichte und Ikonographie, Paderborn 1996, 89, Skulptur von Gislebertus. Eine Gesamtansicht des Tympanons findet sich in H. Busch; B. Lohse, Romanische Plastik..., 62. Die krallenbewehrten Hände am Kopf der schreienden Gestalt sind die
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dem Körper zu groß, was einen kindlichen Eindruck ergibt. Die nackte Gestalt schreit. Das Bild wirkt wie eine Szene während bzw. kurz nach der Geburt. Kenaan-Kedar unterscheidet bei den mittelalterlichen Kunstwerken zwischen „marginalen“ und „offiziellen Skulpturen“.79 Im Falle der Bauplastiken wurden die (hier im wörtlichen Sinne) marginalen Skulpturen am Rand, vor allem an bestimmten architektonischen Übergangszonen (Eingang, Außenwand, Kapitelle etc.) positioniert, die offiziellen Werke dagegen vor allem in der Apsis und im Tympanon. Gerade in der Gruppe der marginalen Werke finden sich zahlreiche Darstellungen dämonischer Wesen, die kindliche Proportionen und Züge aufweisen, so beispielsweise der Figurentyp der Sheela-na-gig, ein weibliches Wesen, das seine Vulva ostentativ zur Schau stellt. Die beiden hier gezeigten Sheelas (Abb. 1380, 1481) haben riesige Köpfe und kleine Gliedmaßen. Die Figur der Sheela-na-gig hat gewöhnlich keine Brüste, was den teilweise kindlichen Charakter dieses weiblichen Wesens noch unterstreicht.82 Daneben gibt es weitere sexualisierte Figuren (AnusZeiger, Penis-Sauger, Darstellungen der Luxuria, von Sündern und Teufeln), allesamt häufig ausgezeichnet durch stark kindliche Proportionen. Die Bücher von Weir und Jerman sowie Andersen enthalten zahlreiche solcher Skulpturen. Auch viele Green Men (dt.: Blattmasken), ein Skulpturentypus mit großer Verbreitung in der Romanik und vor allem der Gotik, wirken ausgesprochen kindlich.83 Abschließend soll anhand eines Bildes gezeigt werden, wie radikal romanische Bildgestaltung mitunter vom realen Vorbild abweicht. Das Relief der Nikolauslegende (Abb. 15) zeigt männliche und weibliche Wesen, wobei die Figuren ebenfalls kindliche Proportionen aufweisen. Das Grundmuster des Kopfes wird praktisch unvariiert für beide Geschlechter verwendet, was bedeudes Teufels. Links neben dieser Figur steht ein schreiender Verdammter, rechts ist eine abgewandte Verdammte (bzw. Femme aux serpents) angebracht. 79 Vgl. etwa N. Kenaan-Kedar, Marginal Sculpture ..., 62 ff. 80 A. Weir; J. Jerman, Images of Lust ..., 15. 81 U. Geese, „Romanische Skulptur“, 243. 82 Für weitere ‚kindliche‘ Sheelas vgl. A. Weir; J. Jerman, Images of Lust ..., 9, 12–17, 116. Männliche exhibierende Figuren mit kindlichen Proportionen finden sich z. B. auf den Seiten 100–103 und 109. 83 Vgl. etwa K. Basford, The Green Man, Abb. 12, 17b, 20b, die koboldhafte, kindliche Wesen zeigen.
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Abb. 13 Sheela-na-gig, Cavan (EI), 12. Jh. (?)
Abb. 14 Sheela-na-gig mit riesiger Vulva, Kilpeck (GB), St. Mary and St. David, Konsole, um 1140
tet, dass der visuelle Aspekt des Geschlechtsunterschieds darstellerisch völlig unberücksichtigt bleibt. Besonders deutlich wird das anhand des Vergleiches der Gesichter des Bischofs (1. v. l.) und einer Prinzessin (3. v. r.). Lediglich Haartrachten, Bärte und Kopfbedeckungen deuten das Geschlecht an. Diesem romanischen Künstler ging es nicht im geringsten um Individualität und auch nicht um naturalistische Effekte. Wie so oft in der Romanik wird eine symbolische und chiffreartige Darstellung gewählt. In diesem Fall wirkt das Relief so, als sei eine Art Standardpuppe als Grundmuster verwendet worden, die dann drapiert wurde. Daraus lässt sich aber keineswegs ableiten, dass die Wahrnehmung des Künstler/Bildhauers unzureichend gewesen sei. Sein Thema ist ganz einfach ein anderes als die naturalistische Darstellung. Mit Sicherheit konnte er zwischen Frauen und Männern visuell unterscheiden, denn ein solches Wahrnehmungsproblem existiert in keiner Kultur. Skulpturen wie die Illustration der Nikolauslegende aus Winchester zeigen, dass es der romanischen Kunst weder im offiziellen noch im marginalen Bereich um unmittelbare Abbildung der Natur ging. Romanische Kunst war stark symbolisch geprägt. Allerdings gibt es auch vereinzelt romanische Kunstwerke, die einer realistischen Darstellung des Menschen nahe kommen.
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Abb. 15 Nikolauslegende auf einem Taufstein, Winchester (GB), Kathedrale, um 1160–70.
Zumindest kann eindeutig demonstriert werden, dass der Grad des Realismus der verschiedenen Werke sehr unterschiedlich ist. Erst die Gotik entwickelt durchgängig einen Naturalismus, der (von der Antike her gesehen wieder) zur realistischen Darstellung des Menschen führte. Aus diesen Eigenheiten romanischer Kunst zu folgern, die Menschen dieser Epoche wären in der Wahrnehmung eingeschränkt gewesen, ist letztlich absurd. Man stelle sich vor, dass man die schlechten und ungekonnten Zeichnungen eines heutigen, zeichnerisch ungeübten Erwachsenen hernähme, um damit zu belegen, dass seine Wahrnehmung der Gegenstände entsprechend defizitär sei. Ein solches Untersuchungsparadigma wäre schlicht unsinnig. Die wenigen hier gezeigten Gegenbeispiele demonstrieren bereits, dass romanische Kunst zum Beleg der Historisierung der Wahrnehmung historischer Subjekte in der radikalen Form von Ariès nicht verwendet werden kann. Ariès’ These, Kinder seien wie kleine Erwachsene dargestellt wurden, trifft für wichtige Teile der romanischen Kunst nicht zu. Und daher entfällt eine zentrale empirische Stütze für seine generellen Behauptungen. Zahlreiche romanische Kunstwerke wirken so, als seien die Gestalteigentümlichkeiten des Kindes (großer Kopf, kleine Extremitäten, Hände und Füße) in die Darstellung von Erwachsenen eingeflossen. Das bedeutet also, dass in der romanischen Kunst die Erwachsenen in ihren Proportionen häufig wie kleine Kinder erscheinen. Gemeinsam ist beiden Darstellungsformen ((a) Kind als kleiner
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Erwachsener und (b) Erwachsener mit kindlichen Proportionen), dass darstellerisch zwischen Erwachsenen und Kindern weniger deutlich unterschieden wurde. Das bleibt in der Tat ein Zug der Romanik, den Ariès erfasst hat. Gerade darin könnte man aber eine Auswirkung kindlicher Gestaltungsweisen sehen, denn auch kleine Kinder unterscheiden beim Zeichnen ebenfalls weniger deutlich zwischen Erwachsenen und Kindern.84 Die gesamte Kunst der Romanik war eben weniger elaboriert als die der Gotik und späterer Epochen. Natürlich ist es legitim, aus den Darstellungen einer Epoche etwas über die Psyche historischer Individuen und die Mentalität historischer Kollektive zu folgern. Aber die überbordende Radikalität der Ariès’schen Meinungen lässt sich am historischen ikonographischen Material einfach nicht belegen.
Zusammenfassung und Schluss Ariès’ Argumentationslinien zur Geschichte der Kindheit sind unklar, inkonsistent, wenig durchdacht und daher wissenschaftlich völlig unzureichend. Die radikale Historisierung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit durch Ariès ist nicht haltbar, die Verwendung seiner Begriffe ist schwankend, und die Ikonographie liefert regelrecht empirisch fundierte Beweise gegen Ariès’ Annahmen. Somit ist praktisch allen Thesen von Ariès, in denen er eine „Entdeckung der Kindheit“ postuliert, zu widersprechen. Aber nicht nur seine psychologischen, semantischen und ikonographischen Intuitionen gehen in die Irre. Auch seine zentrale These, dass im Gefolge der (angeblichen) Entdeckung der Kindheit eine massive Verschlechterung der Kindheitsbedingungen eintrat, ist falsch und durch umfassende empirische Evidenz von zahlreichen Wissenschaftlern in maßgeblichen Aspekten widerlegt worden.85 Philippe 84 Vgl. M. Schuster, Die Psychologie der Kinderzeichnung, Berlin 1993, 12, der, Luquet paraphrasierend, von mehr Realismus ab dem 8. Lebensjahr spricht. 85 Vgl. vor allem die Arbeiten von L. deMause, „Evolution der Kindheit“, und seiner Mitarbeiter mit Aufsätzen im gleichen Werk, darunter M. M. McLaughlin, „Überlebende und Stellvertreter. Kinder und Eltern zwischen dem neunten und dem dreizehnten Jahrhundert“, in: L. deMause (Hg.), Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Frankfurt am Main 91989, ferner: N. Elias, „Die Zivilisierung der Eltern“, in: L. Burkhardt (Hg.), ‚...und wie wohnst Du?‘, Berlin 1980; N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bände, Frankfurt am Main 1993; E. Badinter, Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute, München 1984; A. Peiper (Hg.), Chronik der Kinderheilkunde, Leipzig u.a. 51991; E. H. Erikson, Kindheit und Gesellschaft,
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Ariès’ „Verfallsgeschichte“ der Kindheit basiert auf wissenschaftlichen Fehlern und womöglich auf seiner reaktionären politischen Einstellung, wie sie Hermsen hinsichtlich ihrer psychodynamischen Entstehungsbedingungen analysiert hat. Der lockere, aber leider undeutliche Stil des Ariès’schen Werks verführte manchen linken Intellektuellen der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zur unkritischen Akzeptanz der Thesen eines Historikers, der sich selbst der politischen Rechten zuordnete. Es mag Schlimmeres geben, es bleibt aber eine Ironie des Schicksals – und keine leise. Ariès lieferte keineswegs ein Forschungsparadigma im Kuhn’schen Sinn, schlimmer noch: Er verunklärte jahrzehntelang und womöglich bis heute die Forschungsperspektive auf dem Gebiet der Geschichte der Kindheit, indem er ein Schlagwort popularisierte.86 Wenn aber niemals ein Paradigma von Ariès vorgelegt wurde – und der Verfasser hofft, dies gezeigt zu haben – konnte es auch nach ihm keinen Paradigmenwechsel geben, anders als zuletzt Classen annahm.87 Bis heute prägen die offenbar eingängigen Formulierungen von Ariès und sein Schlagwort von der „Entdeckung der Kindheit“ dieses Gebiet. Sowohl Laien als auch zahlreiche Fachleute sprechen Ariès bedenkenlos nach, was er ihnen vorgesprochen hat, nämlich dass es „früher“ Kindheit doch gar nicht gegeben habe und daher eine Erfindung der Neuzeit sei. Die Disziplin „Geschichte der Kindheit“ braucht mehr semantische Klarheit, mehr Interdisziplinarität, einen vernünftigen Umgang mit psychologischen Theorien und ein unvoreingenommenes, empirisch fundiertes Prüfen der Vorannahmen des jeweiligen Wissenschaftlers, damit die Entwicklung brauchbarer Forschungsansätze für dieses wichtige Gebiet weitergehen kann.
Stuttgart 111992; D. Hunt, Parents and Children in History. The Psychology of Family Life in Early Modern France, New York u.a. 1970; U. Gray, Das Bild des Kindes ...; E. Shorter, Die Geburt der modernen Familie, Reinbek 1975; E. Shorter, „Der Wandel der Mutter-Kind-Beziehungen zu Beginn der Moderne“, in: Geschichte und Gesellschaft 1(2/3), 1975, 256–287; E. M. Johansen, Betrogene Kinder. Eine Sozialgeschichte der Kindheit, Frankfurt am Main 1986; H. Weber, Kinderhexenprozesse; H. Weber, ‚Von der verführten Kinder Zauberei‘ ...; P. Dinzelbacher, Angst im Mittelalter ...; R. Frenken, Kindheit und Autobiographie ...; R. Frenken, Kindheit und Mystik ...; R. Frenken, ‚Da fing ich an zu erinnern ...‘. Die Psychohistorie der Eltern-Kind-Beziehung in den frühesten deutschen Autobiographien (1200–1700), Gießen 2003. 86 Vgl. etwa S. Shahar, Kindheit im Mittelalter, 11. 87 A. Classen, „Philippe Ariès and the Consequences...“, 6 ff.
„Geliebte Kinder, die Welt braucht euch“ Wesen und Erziehung des Kindes in der Christlichen Wissenschaft Florian Jeserich
Einleitung Mit seiner Monographie Faktor Religion. Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis zur Gegenwart, die im Oktober 2006 posthum veröffentlicht wurde, legte Edmund Hermsen ein Fundament für die religionswissenschaftliche und psychohistorische Erforschung von Kindheit(en) im kulturellen Zeitkontext.1 Dadurch, dass Hermsen sich nicht auf eine bestimmte Kulturepoche fokussierte, sondern den Zeitraum von fast einem Jahrtausend europäischer Ideen- und Mentalitätsgeschichte im Blick behielt,2 gelang es ihm, wissenschaftliche Rahmenmodelle zu hinterfragen, die bis heute die Art und Weise prägen, wie sich Forscherinnen und Forscher unterschiedlichster Provenienz ihrem gemeinsam konstruierten ‚Gegenstand‘, der ‚Kindheit‘, genähert haben: Dies beginnt mit einer differenzierten Auseinandersetzung mit Philippe Ariès’ Degenerations-3 1 E. Hermsen, Faktor Religion. Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u.a. 2006. 2 Die in Anbetracht der zunehmend ausdifferenzierten historischen Kindheitsforschung zunächst „irritierend“ weite Perspektive Hermsens wird auch herausgestellt von H. Ullrich, „Rezension von: Hermsen, Edmund: Faktor Religion, Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2006“, in: Erziehungswissenschaftliche Revue 6, 2007, URL: http://www.klinkhardt. de/ewr/41205906.html (letzter Zugriff am 10.12.2010). 3 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion …, 8–9, 16–24, 27–29. Während Ariès’ These von der ‚Entdeckung‘ der Kindheit im Frankreich der Renaissance – mit der, wie E. Hermsen (Faktor Religion …, 23) bemerkt, „eigentlich die Entdeckung der professionellen Erziehung“ gemeint sei – bereits vielfach analysiert und kritisiert wurde (siehe hierzu z.B. R. Frenken, „Kritische Anmerkungen zu Ariès’ These von der ‚Entdeckung der Kindheit‘“, in diesem Band), kommt Hermsen das Verdienst zu, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass und wie Ariès’ Theorie von seinen eigenen Kindheitserfahrungen geprägt ist. Ausführlicher dazu: E. Hermsen, „Ariès’ ‚Geschichte der Kindheit‘ in ihrer mentalitätsgeschichtlichen und psychohistorischen Problematik“, in: L. Janus; F. Nyssen (Hg.), Psychogenetische Geschichte
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und Lloyd deMauses Evolutionstheorie4 und mündet in der Frage, ob die übliche Dreiteilung in die Epochen Antike, Mittelalter und Neuzeit, die aus anderen Erwägungen als aus der Betrachtung kindheitsrelevanter psychohistorischer Entwicklungen heraus vorgenommen wurde, im Hinblick auf eine zeitspezifische Kindheitsforschung Sinn ergibt.5 Hermsen zeigt Grenzen früherer Theorieentwürfe auf und betont Aspekte, die es für eine methodisch planvolle und interdisziplinär orientierte Erforschung von Kindheit(en) zu beachten gilt: (1) Lange Zeit wurde die Geschichte der Kindheit ausschließlich aus der Perspektive der Erwachsenen geschrieben, was dazu führte, dass das Kind als ein das gesellschaftliche Leben mitbestimmender sozialer Akteur oft übersehen worden ist;6 (2) Um den Ahistorismus zu vermeiden, der für viele psychologische Schulrichtungen kennzeichnend war/ist, sollte das Thema ‚Kindheit‘ gleichzeitig aus einer psychologischen (ontogenetischen) und einer historischen (phylogenetischen)
der Kindheit. Beiträge zur Psychohistorie der Eltern-Kind-Beziehung, Gießen 22002, 127–158. Die deutsche Übersetzung von L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime (1960) erschien als: P. Ariès, Geschichte der Kindheit, München, Wien 21976. 4 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion …, 9, 24–29. Kritisch zu deMause äußerte sich z.B. auch: J. Pivecka, „Evolution oder Moral? – Zur Kritik an Lloyd de Mauses ‚Evolution der Kindheit‘“ , in: L. Janus; F. Nyssen (Hg.), Psychogenetische Geschichte der Kindheit. Beiträge zur Psychohistorie der Eltern-Kind-Beziehung, Gießen 22002, 159–176. Der paradigmatische Artikel „Evolution of Childhood“ (1974) wurde in deutscher Übersetzung publiziert in: L. deMause, „Evolution der Kindheit“, in: L. deMause (Hg.), Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Frankfurt am Main 61989, 12–111. 5 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion…, 98. 6 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion…, 5. Hermsen verweist in diesem Zusammenhang auf die programmatische Anthologie von Allison James und Alan Prout, die in ihrer Einleitung (A. James; A. Prout, „A New Paradigm for the Sociology of Childhood? Provenance, Promise and Problems“, in: A. James; A. Prout (Hg.), Constructing and Reconstructing Childhood. Contemporary Issues in the Sociological Study of Childhood. London 1990, 7–33, 8) auf die aktive Rolle des Kindes im bislang fälschlicherweise einseitig aufgefassten Sozialisationsprozess hinweisen. Die Beachtung der Akteursrolle des Kindes ist einer von sechs Punkten, die – gemäß der Autoren – charakteristisch für das neue Paradigma der Kindheitsforschung seien. Diese Erkenntnis hätte, so E. Hermsen („Kindheitsentwürfe und Konzepte der Kindererziehung in Reformation (Martin Luther) und Pietismus (August Hermann Francke)“, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 17, 2002, 255–290, 256), nach Ariès’ wegweisender These von der Historizität der Kindheit zu einem „erneuten Paradigmenwechsel“ in der Kindheitsforschung geführt. P. J. Ryan („How New Is the ‚New‘ Social Study of Childhood? The Myth of a Paradigm Shift“, in: Journal of Interdisciplinary History 38, 2008, 553–576) hat jüngst jedoch bezweifelt, dass diese Perspektive ‚neu’ sei.
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Perspektive bearbeitet werden;7 (3) Die Kindheitsforschung wird sowohl von den in unserer heutigen Gesellschaft gültigen Werten und Normen beeinflusst als auch, wie Hermsen am Beispiel Ariès illustrierte, von dem Kindheitserleben und der Biographie des Forschers.8 Im Vordergrund seiner Arbeit aber steht das von Hermsen diagnostizierte „Defizit moderner Sozialisationstheorien in bezug auf den Faktor Religion“, der Umstand also, dass „in der Kindheits- und Sozialisationsforschung (…) die Frage nach Religion als Sozialisationsfaktor (…) nur eine geringe oder (…) gar keine Rolle zu spielen scheint.“ An dieser Stelle setzt sein systematischer Gang durch die Geschichte und seine Suche nach „der verschränkten, wechselseitigen Beziehung von Religion(en) und Kindheit(en)“ an.9 Da es Hermsen in einem ersten Schritt darum ging, das Verzerrungspotential von Theorien bloßzulegen, die auf heutigen Kindheitserfahrungen, Wertvorstellungen und Psychologien beruhen und insofern christo- und eurozentrische Modelle von ‚Kindheit’ transportieren, beschränkte er seine Untersuchung auf den europäischen Kulturraum. Die geographische Eingrenzung bedingt, dass der ‚Faktor Christentum‘ in der Rekonstruktion der ineinander verwobenen Religions- und Kindheitsgeschichten eine besondere Rolle spielt,10 wobei spätestens seit Burkhard Gladigows paradigmatischem Artikel zur „Europäischen Religionsgeschichte“ klar sein dürfte, dass eben diese nicht auf Kirchengeschichte reduziert werden kann.11 Die Analyse nicht nur zeitlich entfernter, sondern auch außereuropäischer und fremdreligiöser Sozialisationstheorien und -praktiken ist, so betont Hermsen, ein Projekt der Zukunft, bei dem auf der von ihm vorangetriebenen selbstreflexiven Auseinandersetzung mit der
7 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion …, 6–7. 8 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion …, 8. Kritisch Stellung zu diesem besonders in der Kindheitsforschung virulenten Problem beziehen z.B. auch J. Kociumbas, „Childhood History as Ideology“, in: Labour History 47, 1984, 1–17 sowie H. Cunningham, „Histories of Childhood“, in: The American Historical Review 103, 1998, 1195– 1208. Im Hinblick auf eine historisch arbeitende Erziehungswissenschaft wurde die Rolle des in heutige Erziehungsdiskurse eingebundenen Forschers herausgearbeitet von: B. Finkelstein, „Education Historians as Mythmakers“, in: Review of Research in Education 18, 1992, 255–297. 9 E. Hermsen, Faktor Religion …, 1, 2, 3. 10 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion …, 10, 205. 11 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion …, 10 mit Verweis auf: B. Gladigow, „Europäische Religionsgeschichte“, in: H. G. Kippenberg; B. Luchesi (Hg.), Lokale Religionsgeschichte, Marburg 1995, 21–42.
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historisch-psychologischen Genese eines christlich-europäischen Kindheitsmodells aufgebaut werden könne: „Die Geschichte der Kindheit im Rahmen der Religionswissenschaft zu erforschen, schließt hier den Anspruch mit ein, idealiter ein derartiges Projekt in allen Religionen durchzuführen. Dies war im Rahmen einer einzelnen Arbeit nicht zu leisten und bleibt als Aufgabe künftiger Forschung bestehen.“12
Der vorliegende Text ist als Beitrag zu diesem religionswissenschaftlichen Projekt zu verstehen.13 Im Rahmen der interdisziplinären historischen Kindheitsforschung sollen die Vorstellungskomplexe der Christlichen Wissenschaft (Christian Science) untersucht werden – einer von Mary Baker Eddy (1821–1910) gegründeten Religionsgemeinschaft, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in Neu England formierte und dabei einerseits auf puritanischer Frömmigkeit aufbaute14 und anderseits von zeitgenössischen intellektuellen Strömungen (z.B. Transzendentalismus, Pragmatismus)15 beeinflusst wurde. Die Christliche Wissenschaft wurde zutreffend als „medicoreligious hybrid“16 charakterisiert und gewinnt durch zahlreiche anti-synkretistische Diskurse an Kontur: So grenzte Eddy ihre angeblich göttlich inspirierte Wiederentdeckung des urchristlichen Heilungsprinzips sowohl von christlichen Doktrinen ihrer Zeit und dem Gedankengut religiöser Bewegungen (z.B. Spiritismus,
12 E. Hermsen, Faktor Religion …, 205; vgl. auch 10. 13 Im Hinblick auf eine interkulturelle bzw. interreligiöse Kindheitsforschung wurden – darauf weist E. Hermsen (Faktor Religion …, 10 Fußnote 41) hin – erste Schritte unternommen von: J. Martin; A. Nitschke (Hg.), Zur Sozialgeschichte der Kindheit, Freiburg im Breisgau, München 1986. Beiträge zu dem Verständnis von Kindheit und Jugend im Islam bzw. im frühen rabbinischen Judentum finden sich z.B. auch in: K.-P. Horn; J. Christes; M. Parmentier (Hg.), Jugend in der Vormoderne. Annäherungen an ein bildungshistorisches Thema, Köln u.a. 1998. 14 Der bekannte Kirchenhistoriker Karl Holl (1866—1926) bemerkte im Hinblick auf Eddy: „In puritanischer Luft ist sie aufgewachsen, und der Geist dieser Frömmigkeit hat sie zeitlebens beherrscht.“ (K. Holl, „Der Szientismus“ (1918), in: K. Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. III. Der Westen, Tübingen 1928, 460–479, 462) 15 Hinweise auf den religionsphilosophischen Entstehungskontext finden sich z.B. in: R. Peel, Christian Science. Its Encounter with American Culture, New York 1958. 16 R. B. Schoepflin, Christian Science on Trial. Religious Healing in America (Medicine, Science, and Religion in Historical Context), Baltimore, London 2003, 7.
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Neugeist-Bewegung) ab17 als auch von den philosophischen Prämissen, auf denen homöopathische bzw. allopathische Medizin fußten.18 Vor dem Hintergrund der von Hermsen vorgelegten europäischen Religionsgeschichte der Kindheit erscheint die Vorstellungswelt der Christlichen Wissenschaft als vertraut und fremd zugleich: Vertraut sind die Anklänge an die Religiosität, wie sie die aus dem christlichen England des 17. Jahrhunderts emigrierten Puritaner in Nordamerika etablierten. Großenteils fremd wirkt hingegen das spezifisch christlich-wissenschaftliche Welt- und Menschenbild, das sich im kulturellen Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Neu England ausformte.19 Diese Spannung zwischen Vertrautheit und Fremdheit lässt den Versuch, die Eigentümlichkeit christlich-wissenschaftlicher Vorstellungen herauszuarbeiten, als interessante Herausforderung erscheinen. Das primäre Ziel der Untersuchung ist die Rekonstruktion der religionsspezifischen Konzepte vom Wesen und der Erziehung des Kindes aus den Schriften Mary Baker Eddys. Abgesehen von nicht autorisierten Aufsatz-
17 Hierzu vgl. z.B. S. Gottschalk, „Christian Science and Harmonialism“, in: C. H. Lippy; P. H. Williams (Hg.), The Encyclopedia of the American Religious Experience. Volume 2, New York 1988, 901–915. 18 Dies wird in einem paradigmatischen Artikel herausgestellt, in dem die Christliche Wissenschaft als Beispiel für eine alternativmedizinische Theorie herangezogen wird: D. V. McQueen, „The History of Science and Medicine as Theoretical Sources for the Comparative Study of Contemporary Medical Systems“, in: Social Science & Medicine 12, 1978, 69–74. 19 P. Greven (The Protestant Temperament. Patterns of Child-Rearing, Religious Experience, and the Self in Early America, New York 1977) unterscheidet zwischen drei verschiedenen protestantischen Temperamenten bzw. Denkmodi, die über bestimmte Erziehungsmuster sozialisiert worden seien und fortan die Art religiöser Erfahrungen und Selbstwahrnehmungen maßgeblich geformt hätten. Verbunden ist diese Typologie mit der These, dass diese Temperamente im Kontext der frühen Religionsgeschichte Amerikas über verschiedene Perioden, Orte und religiöse Gruppen hinweg wirksam waren, also transhistorisch und -religiös seien. Den ersten Denkund Erfahrungstyp bezeichnet P. Greven (The Protestant Temperament …, 13) als ‚evangelikal‘; er sei vor allem durch die Feindlichkeit dem eigenen sündhaften Selbst gegenüber charakterisiert, mit dem der Mensch beständig im Krieg stünde („always at war“), ja das gar zerstört werden müsste („destroying the self“), um sich dem Willen Gottes gänzlich fügen zu können. Diese Charakterisierung erinnert zwar teils stark an die Erfahrungswelt Christlicher Wissenschaftler/innen. Aber eine genauere Analyse der christlich-wissenschaftlichen Anthropologie (Abschnitt 3) wird zeigen, dass sich der spezifische Selbst-Entwurf in der Christlichen Wissenschaft von dem anderer amerikanischer Protestantismen unterscheidet.
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und Zitatensammlungen,20 umfasst Eddys Œuvre siebzehn größere Schriften. Das seit 1875 in 431 Auflagen21 erschienene Buch Science and Health22 stellt das opus magnum der Gründerin der Christlichen Wissenschaft dar. Gemäß Eddy ist in diesem Werk ihre komplette Lehre niedergelegt: „Ein Christlicher Wissenschaftler braucht mein Werk Wissenschaft und Gesundheit als sein Lehrbuch, ebenso alle seine Schüler und Patienten. Warum? Erstens: Weil es die Stimme der WAHRHEIT für dieses Zeitalter ist und die vollständige Darstellung von Christian Science oder der Wissenschaft des Heilens durch GEMÜT enthält.“23
Die Bibel und Wissenschaft und Gesundheit werden als die Lehrbücher der Christlichen Wissenschaft gekennzeichnet und in der Regel im Verein genannt.24 Die Bücher sind funktional auf das Engste miteinander verknüpft; sie bilden für Eddy eine organische Einheit. Der Christliche Wissenschaftler Thomas L. Leishman bezeichnet die Bibel als „das grundlegende Quellenbuch“ und stellt im gleichen Atemzug klar, dass Wissenschaft und Gesundheit nicht etwa als eine „zweite Bibel“ fungiere, sondern vielmehr ein Schlüssel sei, „der die Schatzkammer der Wahrheit, die wir als die Bibel kennen, erschließt.“25 Eddys 20 In diesem Zusammenhang sind z.B. folgende Sammelwerke zu nennen: R. F. Oakes (Hg.), Divinity Course and General Collectanea of Items by and about Mary Baker Eddy, Healing Unlimited 2006; R. F. Oakes (Hg.), Essays and Other Footprints Left by Mary Baker Eddy, Healing Unlimited 2006. 21 Orcutt, Eddys Verleger seit 1897, bemerkt in seiner ‚Buchbiographie‘, dass die Auflagen von Science and Health seit dem Jahre 1907 offiziell nicht mehr weitergezählt wurden. Die letzten beiden nummerierten Editionen (417 und 418) erschienen 1906. Vgl. W. D. Orcutt, Mary Baker Eddy and Her Books, Boston 1950, 59–60, 101. 22 Grundlage des Rekonstruktionsversuchs ist die kurz vor Eddys Tod von der Verfasserin autorisierte letzte Auflage (1910) des vielfach revidierten und erweiterten Werks: M. Baker Eddy, Science and Health with Key to the Scriptures, Boston [o.A.]1962. Aus Gründen der Lesbarkeit wird aus der deutschen Übersetzung zitiert: M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, Boston [o.A.]2003. Dies gilt auch für die anderen Schriften Eddys: In der Regel finden die deutschen Übersetzungen der letzten Ausgabe Verwendung. 23 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 456. 24 Vgl. z.B. M. Baker Eddy, Handbuch der Mutterkirche Der Ersten Kirche Christi, Wissenschafter in Boston, Massachusetts, Boston [o.A.]1993, 42. 25 T. L. Leishman, Warum ich ein Christlicher Wissenschafter bin, Rheinfelden 1969, 177. Ganz ähnlich formuliert auch D. John (Die Lebenseinstellung des Christlichen Wissenschafters, Boston 1974, 33–34):
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metaphysische Theorie wurde vielfach von Anhängern paraphrasiert. Allerdings waren derartige Versuche nicht gern gesehen – weder von Eddy selbst noch in der Folge vom Vorstand der Mutterkirche in Boston.26 Möchte man
„Um ein Verständnis von Gott zu erlangen, wendet sich der Christliche Wissenschafter an zwei Bücher, die er als maßgebend betrachtet. Das erste ist die Bibel. Er benutzt die King-James-Ausgabe, die in Großbritannien als die Autorisierte Ausgabe bekannt ist. (…) In Verbindung mit der Bibel wird das Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, benutzt. In keiner Weise ersetzt dieses Lehrbuch die Bibel. Die Worte Schlüssel zur Heiligen Schrift machen die Beziehung klar.“
Doch nicht nur beim Studium der Christlichen Wissenschaft, sondern auch im christlich-wissenschaftlichen Gottesdienst äußert sich die funktionale Beziehung beider Bücher. Zu Beginn der Sonntagsandacht, die im Wesentlichen aus dem unkommentierten Vorlesen von Textpassagen und dem Singen von Hymnen besteht, wird stets die ‚Explanatory Note‘ vorgelesen, die in jeder Ausgabe des Christian Science Quarterly abgedruckt ist und wie folgt lautet: „The Bible and the Christian Science textbook are our only preachers. We shall now read Scriptural texts, and their correlative passages from our denominational textbook; these comprise our sermon.“ In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Eddy sich im Jahre 1881 als erste Pastorin ihrer neu strukturierten Kirchenorganisation einsetzte und schließlich von der Bibel und ihrem Lehrbuch abgelöst wurde. Seit diesem Zeitpunkt trägt Eddy den Titel ‚Pastor Emeritus of The First Church of Christ, Scientist, Boston, Mass.‘. Zur Ordination der Werke vgl. den folgenden zeremoniellen Sprechakt: „Demütig und, wie ich glaube, göttlich geführt, setze ich hierdurch die Bibel und ‚Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift’ als nunmehr einzigen Pastor der Kirche Christi, Wissenschafter, in unserem Land und in anderen Ländern ein.“ (M. Baker Eddy, Vermischte Schriften 1883–1896, Boston [o.A.]1976, 313–314) 26 Mary Baker Eddy hat auf die Reinheit bzw. buchstäbliche Befolgung ihrer Lehre allergrößten Wert gelegt. Daher schreibt sie im Kirchenhandbuch folgenden Artikel fest: „Falsches Lehren. ABSCHN. 2. Im Fall ein Mitglied dieser Kirche die Christliche Wissenschaft ihrer Darlegung in ihrem Lehrbuch, WISSENSCHAFT UND GESUNDHEIT MIT SCHLÜSSEL ZUR HEILIGEN SCHRIFT, zuwider ausübt und lehrt, so hat der Vorstand die Pflicht, dieses Mitglied gemäß Artikel XI, Abschn. 4 zu ermahnen. Verharrt dieses Mitglied im Unrecht, so soll sein Name von der Mitgliederliste dieser Kirche gestrichen werden.“ (M. Baker Eddy, Das Handbuch …, 55–56)
Mit der Ordination ihres Buches hat Eddy einen religionsgeschichtlich wahrscheinlich einmaligen Weg gefunden, um beides, ihre persönliche Autoritätsstellung (als die inspirierte Buchautorin) und die Orthodoxie ihrer Lehre, auch noch nach ihrem Tode zu sichern: „She designated neither a successor nor an office as
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also der Innenperspektive dieser Religionsgemeinschaft gerecht werden, so sollte man der Rekonstruktion und Analyse einzelner theoretischer Konzepte stets die kanonisierten Schriften Eddys zugrunde legen. An dieser Stelle muss betont werden, dass die im Rahmen dieses Beitrags zur Anwendung kommende werkimmanente Methode nicht der Annahme Vorschub leisten soll, dass die Konzepte Eddys durch den Text selbst schon festgelegt oder gar darin ‚anwesend‘ seien. Konzepte sind wie Bedeutungen nicht werkimmanent; sie werden konkretisiert und konstruiert. Durch die – zwar begründbare, dennoch aber unvermeidlich subjektive – Auswahl der Zitate, die als maßgeblich erscheinen, durch ihre anschließende Vernetzung und Anordnung – sprich: durch die Schaffung eines anderen Kontextes – und endlich durch eine synthetisierende Interpretation, wird ein Konzept von ‚Kindheit‘ oder ‚Erziehung‘ erst re-konstruiert. Aus der Tatsache, dass der Vorgang des Rekonstruierens, wenn auch nicht willkürlich, so doch subjektiv gebunden ist, folgt, dass es ‚die‘ richtige Interpretation nicht geben kann.27 Die Konzentration auf Eddys schriftlich fixierte Lehre und der in diesem Aufsatz tendenziell werkimmanent-rekonstruierenden Herangehensweise führt zu bestimmten Einschränkungen. Zum einen wird weitgehend auf rezeptionsgeschichtliche Hinweise verzichtet, und religions-28 und medizinhistorithe means of maintaining the continuity of authority: she ordained the compound text of the Bible and Science and Health as the normative and unalterable source of understanding and guidance.“ D. L. Weddle, „The Christian Science Textbook. An Analysis of Religious Authority of ‘Science and Health’ by Mary Baker Eddy”, in: Harvard Theological Review 84, 1991, 273–297, 297. Der Vorstand der Mutterkirche hat diese Politik nach 1910 verschärft fortgeführt. In der Maiausgabe des Christian Science Journal aus dem Jahre 1942 heißt es: „Care needs to be taken to preserve the purity of the teachings of Christian Science and the integrity of the literature which disseminates these teachings. It is essential, therefore, that Christian Scientists carefully avoid encouraging the circulation of unauthorized copies of statements on Christian Science.“ Christian Science Board of Directors zitiert nach A. W. Hartsook, Christian Science Since 1910, Santa Clarita 1993, 73. 27 Zu dem „Gespenst der sogenannten richtigen Interpretation“ siehe H. Steinmetz, „Sinnfestlegung und Auslegungsvielfalt. Die Rolle des Interpreten und das Gespenst der richtigen Interpretation“ (2000), in: H. Brackert; J. Stückrath (Hg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 22000, 475–491. 28 Der religionshistorische Kontext wird z.B. beleuchtet bei: R. Peel, Christian Science …; C. S. Braden, Spirits in Rebellion. The Rise and Development of New Thought, Dallas 1968; S. Gottschalk, The Emergence of Christian Science in American Religious Life, Berkeley, u.a. 1978; M. F. Bednarowski, „Outside the Mainstream. Women’s Religions and Women Religious Leaders in Nineteenth-Century America“, in: Journal
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sche29 Kontextualisierungen können nur punktuell geleistet werden. In der für das Verständnis der später zu erschließenden Kindheits- und Erziehungsvorstellungen wichtigen Erörterung des Menschenbildes der Christlichen Wissenschaft wird zum anderen ausschließlich auf Wissenschaft und Gesundheit rekurriert (Abschnitt 3).30 Dieses forschungspragmatisch begründete Vorgehen ist aber vor dem Hintergrund des oben über die Bedeutung des Lehrbuchs Gesagten zu rechtfertigen. Bei der Rekonstruktion der Konzepte, die Aufschluss darüber geben, was Eddy über Kinder und Kindererziehung lehrte, wird hingegen das gesamte Textkorpus der Religionsbegründerin berücksichtigt; zudem wird versucht, das Rekonstruierte zumindest partiell in den Kontext der neuengländischen Geschichte der Kindheit und Pädagogik zu stellen (Abschnitt 4). Schließlich sei darauf hingewiesen, dass nicht der Versuch unternommen wird, von der aus Eddys Texten rekonstruierten Einstellung zur Kindheit und Kindererziehung auf die konkrete pädagogische Praxis christlich-wissenschaftlicher Eltern oder gar auf die Erfahrungen zu schließen, die Christliche of the American Academy of Religion 48, 1980, 207–231; R. L. Moore, „The Occult Connection? Mormonism, Christian Science, and Spiritualism“; in: H. Kerr; C. L. Crow (Hg.), The Occult in America. New Historical Perspectives, Urbana 1983, 135– 161; T. Cosslett, Science and Religion in the Nineteenth Century, Cambridge 1984; R. L. Moore, „Christian Science and American Popular Religion“, in: R. L. Moore (Hg.), Religious Outsiders and the Making of Americans, New York 1986, 105–127; S. Gottschalk, „Christian Science ...“. 29 Untersuchungen mit religions- und medizingeschichtlichen Schwerpunkten sind beispielsweise: D. B. Meyer, The Positive Thinkers. A Study of the American Quest for Health, Wealth, and Personal Power from Mary Baker Eddy to Norman Vincent Peale, New York 1965; G. T. Parker, Mind Cure in New England from the Civil War to World War I, Hanover 1973; A. C. Fellman; M. Fellman, Making Sense of Self. Medical Advice Literature in Late-Nineteenth-Century America, Philadelphia 1981; M. Q. Fox, „Conflict to Coexistence. Christian Science and Medicine“, in: Medical Anthropology 8, 1984, 292–301; T. C. Johnsen, „Christian Scientists and the Medical Profession. A Historical Perspective“, in: Medical Heritage 2, 1986, 70–78; R. C. Fuller, Alternative Medicine and American Religious Life, New York 1989; P. Vertinsky, The Eternally Wounded Woman. Women, Doctors, and Exercise in the LateNineteenth Century, New York 1990. 30 Da es im dritten Abschnitt dieser Arbeit weniger darum geht, den geschichtlichen Kontext zu beschreiben, in dem christlich-wissenschaftliche Akteure – Kinder wie Eltern – agierten, sondern eher darum, zu rekonstruieren, welche Antworten Eddy auf die Frage nach der conditio humana in ihrem Lehrbuch gab, ist das Vorgehen nicht als historisch-anthropologisch, sondern vielmehr als philosophischanthropologisch zu bezeichnen.
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Wissenschaftler/innen der zweiten, dritten oder vierten Generation in ihrer Kindheit gemacht haben. Es wäre methodisch naiv, wollte man eine Kongruenz von den aus Eddys Werk rekonstruierten Vorstellungen und Empfehlungen mit jenen Kindheits- und Erziehungskonzepten postulieren, die von Kirchenmitgliedern in einem bestimmten historisch-kulturellen Kontext jeweils vertreten und praktiziert wurden. Die Frage nach den real erfahrenen Kindheiten bzw. Erziehungspraktiken Christlicher Wissenschaftler/innen bleibt zunächst unbeantwortet.
Kult-Kontroversen Auch wenn es nicht der Anspruch dieses Beitrags ist, christlich-wissenschaftlich geprägte Erfahrungen des Kind- und Elternseins zu beschreiben und damit eine der Forderungen der ‚neuen‘ Kindheitsforschung einzulösen,31 kommt man – trotz eher ideengeschichtlicher Ausrichtung – nicht umhin, eine andere, damit jedoch zusammenhängende Problematik aufzugreifen: Die Verortung der Thematik in zeitgenössischen gesellschaftlichen, ethischen und juristischen Diskursen über so genannte „Sekten-Kinder“32 und die damit einhergehende Problematisierung der Rolle des Forschers. Die wissenschaftliche Untersuchung von Kindheiten in alternativen Religionsgemeinschaften, die oft aus der Perspektive der großen christlichen Kirchen pejorativ als ‚Sekten’ 31 Der Versuch, die Denk- und Erfahrungswelt von Kindern systematisch zu erforschen, geht u.a. auf den wegweisenden Artikel der Ethnologin C. E. Hardman („Can There be an Anthropology of Children?“, in: Journal of the Anthropological Society of Oxford 4, 1973, 85–99, 87) zurück, in dem sie dafür argumentierte, „a child’s eye-view of society“ einzunehmen und Kindheit als eine selbst-regulative, autonome Welt zu untersuchen. Hardmans Ansatz ist nicht nur problematisch, weil sie eine Ähnlichkeit zwischen ‚primitiven‘ und ‚kindlichem‘ Denken postuliert und die Eigenständigkeit kindlicher Welten überbetont. Weitere Schwierigkeiten, die insbesondere die Repräsentation von kindlichen Erfahrungsberichten betreffen, werden zusammengefasst in: A. James, „Giving Voice to Children’s Voices. Practices and Problems, Pitfalls and Potentials“, in: American Anthropologist 109, 2007, 261–272. 32 So der Titel eines Buches des Diplompädagogen Kurt-Helmuth Eimuth, der sich in seiner Funktion als Leiter der Evangelischen Arbeitsstelle für Religions- und Weltanschauungsfragen in Frankfurt am Main um die Offenlegung des „geheimen Lehrplans der Sekten“ bemühte. Eimuth beschäftigte sich z.B. mit ISKCON, Scientology oder den Zeugen Jehovas, erwähnt die Christliche Wissenschaft allerdings nicht. K.-H. Eimuth, Die Sekten-Kinder, Freiburg u.a. 1990.
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im deutschsprachigen oder ‚cults‘ im anglophonen Raum bezeichnet bzw. neuerdings wertneutraler als Neue Religiöse Bewegungen (New Religious Movements, kurz: NRM) charakterisiert werden,33 stellt ein relativ junges Forschungsfeld dar. Dabei ist zu konstatieren, dass sich nicht nur die mediale Aufmerksamkeit, sondern auch die akademische Forschung primär um die Kontroversen und Skandale drehte, die einige spektakuläre Fälle ausgelöst haben und mit denen fortan verallgemeinernd alle als ‚Sekten‘ klassifizierten Religionsgemeinschaften in Verbindung gebracht wurden.34 Die durch die Anti-Sekten-Bewegung (anti-cult movement, kurz: ACM)35 meist verengte und teils verzerrte Perspektive auf das Thema Religion(en) und Kindheit(en) lässt sich an den Pauschalurteilen ablesen, die die Psychologin Margaret Singer und die Sektenaussteigerin Janja Lalich unter dem Kapitel „Was ist an 33 Zu einer kritischen Reflexion und zur Geschichte der Begriffe vgl. J. G. Melton, „An Introduction to New Religions“, in: J. R. Lewis (Hg.), The Oxford Handbook of New Religious Movements, Oxford 2004, 16–35, 16–21. Melton erwähnt, dass der Begriff ‚cult‘ Ende des 19. Jahrhunderts geprägt und ursprünglich auf unorthodoxe christliche Gruppen wie die Christliche Wissenschaft angewendet wurde. Aufgrund der negativen Konnotationen des Kult- bzw. des Sektenbegriffs wird hier – wie auch in einer rezenten Studie (vgl. B. Waldschmidt-Nelson, Christian Science im Lande Luthers. Eine amerikanische Religionsgemeinschaft in Deutschland, 1894–2009, Stuttgart 2009, 27–30) – die Bezeichnung ‚Religionsgemeinschaft’ bevorzugt. Ob und in welcher Hinsicht die Christliche Wissenschaft als Neue Religiöse Bewegung betrachtet werden kann, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. 34 Einen guten Überblick über den Stand der Forschung gibt: C. E. Hardman, „Children in New Religious Movements“, in: J. R. Lewis (Hg.), The Oxford Handbook of New Religious Movements, Oxford 2004, 386–416. Einen Eindruck von der teils stark durch die Anti-Sekten-Perspektive beeinflussten Forschung vermittelt das folgende Sonderheft: F. Kaslow; M. B. Sussman (Hg.), „Cults and the Family“, in: Marriage & Family Review 4, 1982, 1–192. Bereits 1999 konnte jedoch mit der Veröffentlichung eines gut konzipierten Sammelbands (S. J. Palmer; C. E. Hardman (Hg.), Children in New Religions, New Brunswick u.a. 1999), in dem es nicht nur um die Bedrohung von Familien und Kindern durch ‚Sekten‘ und/oder um Skandale ging, sondern z.B. auch um den transformierenden Einfluss und die religiöse Sinnsuche der Kinder selbst, eine erste Akzentverschiebung eingeleitet werden. 35 In Amerika hat sich die Analyse der vielgestaltigen und seit den 1970iger Jahren beständig wachsenden Anti-Sekten-Bewegungen zu einem eigenen religionssoziologischen Forschungsschwerpunkt entwickelt. Hierzu vgl. z.B. A. D. Shupe, Jr.; D. G. Bromley, The New Vigilantes. Anti-Cultists, and the New Religions, Beverly Hills, London 1980; A. D. Shupe, Jr.; D. G. Bromley; D. L. Oliver, The Anti-Cult Movement in America. A Bibliography and Historical Survey, New York, London 1984; A. D. Shupe, Jr.; D. G. Bromley (Hg.), Anti-Cult Movements in Cross-Cultural Perspective, New York, London 1994.
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Sekten schlimm?“ zusammenfassen. Da heißt es beispielsweise: „Sekten schaden Kindern und reißen Familien auseinander“, „Sekten sind gewalttätig“ oder „Sekten berauben uns unserer Freiheit“.36 Es verwundert nicht, dass sich die Autorinnen im zehnten Kapitel schließlich mit der „Rettung von Kindern“ beschäftigen.37 Häufig liegen aber in diesem Forschungsfeld, das von einem unsachlich geführten Kampf der Weltanschauungen geprägt ist, keine gesicherten oder ausgewogenen Informationen darüber vor, wie Erziehung und Aufwachsen in einer Neuen Religiösen Bewegung aus der Sicht des Kindes erlebt wurde bzw. wird.38 Vielmehr werden oft entweder nur die autobiographischen Berichte von Apostaten ausgewertet39 oder die Konzepte und Theorien der Religionsbegründer/innen analysiert, die aber, wie zuvor argumentiert wurde, keinen
36 M. T. Singer; J. Lalich, Sekten. Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können, Heidelberg 1997, 6. 37 Vgl. M. T. Singer; J. Lalich, Sekten …, 282–305. 38 Eine Ausnahme sind z.B. die Beiträge im ersten Teil des Sammelwerks von S. J. Palmer; C. E. Hardman (Hg.), Children in New Religions, 11–70, die teils auf Feldforschungen und Gesprächen mit Kindern beruhen. 39 Generell zu dem Konzept ‚Apostasie’ und seiner vor allem hellenistisch-jüdischen sowie christlichen Begriffsgeschichte vgl. N. Grübel, „Apostasy“, in: K. von Stuckrad (Hg.), The Brill Dictionary of Religion. Volume I: A-D, Leiden, Boston 2006, 122– 124. Neuerdings findet der Begriff Verwendung als Bezeichnung für die Ex-Mitglieder Neuer Religiöser Bewegungen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Öffentlichkeit über Geheimnisse und Machenschaften ihrer ehemaligen Gruppe aufzuklären. Zu diesem soziologischen Konzept vgl. vor allem die beiden von David Bromley editierten Sammelbände: D. Bromley (Hg.), Falling from the Faith. Causes and Consequences of Religious Apostasy, Newbury Park 1988; D. Bromley (Hg.), The Politics of Religious Apostasy. The Role of Apostates in the Transformation of Religious Movements, Westport, London 1998. Auch von ehemaligen Mitgliedern der Christlichen Wissenschaft gibt es Kindheitsbeschreibungen, die aus der kritischen Retrospektive des Erwachsenen verfasst wurden. Die vielleicht bekannteste Autobiographie wurde von einer amerikanischen Journalistin publiziert: C. Fraser, God’s Perfect Child. Living and Dying in the Christian Science Church, New York 2000. Obgleich diese innenperspektivischen Beschreibungen von unschätzbaren Wert sind, weil sie erlebte Kindheit fassbar machen, sind sie im Hinblick auf die wissenschaftliche Kindheitsforschung mit methodologischen Problemen behaftet: Dazu gehören neben der Polemik gegen die Ex-Gemeinschaft die nicht selten erst im Zuge einer psychotherapeutischen Behandlung des Erwachsenen re-konstruierte Geschichte der eigenen Kindheit, sprich: eine bereits psychologisierte Kindheit, die sich entsprechend von der unmittelbaren Erfahrung des Kindes auf markante Weise unterscheidet.
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oder nur sehr bedingt Aufschluss darüber geben, welche Kindheitserfahrungen tatsächlich gemacht werden. Ein Beispiel soll in diesem Kontext näher beleuchtet werden, um zum einen deutlich zu machen, wie problematisch es ist, theoretische Aussagen aus dem größeren Sinnzusammenhang herauszulösen und auf die konkrete pädagogische Praxis oder gar auf das unmittelbare Erleben des Kindes zu übertragen; und zum anderen soll das Beispiel illustrieren, dass auch die Analyse der auf die Natur oder die Behandlung des Kindes bezogenen Glaubenssätze einer Religionsgemeinschaft – also einer Herangehensweise, die auch auf den vorliegenden Beitrag zutrifft – unwillkürlich ein Teil des kontroversen Diskurses ist bzw. wird, der sich um ‚die‘ so genannten ‚Sekten’ oder ‚Kulte’ formiert hat: Der amerikanische Mathematiker und Skeptiker Martin Gardner, der sich selbst sowohl als scharfen Kritiker von so genannten ‚Sekten‘ („cults“) verstand als auch als einen Bewunderer von halbverrückten („half-crazy“) Religionsgründer/inne/n und ihren wahren Gläubigen („true believers“),40 hat folgendes Zitat aus Eddys Lehrbuch seiner Monographie The Healing Revelations of Mary Baker Eddy als Denkspruch vorangestellt:41 „Es wird von einem Vater berichtet, der sein neugeborenes, nur wenige Stunden altes Kind mehrere Minuten lang unter Wasser tauchte und diesen Vorgang täglich wiederholte, bis das Kind zwanzig Minuten lang unter Wasser bleiben konnte und sich unbeschadet wie ein Fisch darin bewegen und darin spielen konnte. Eltern sollten hieran denken und lernen, wie sie ihre Kinder in geeigneter Weise auf dem trockenen Lande zur Entwicklung bringen können.“42
Einerseits mag die Verwendung dieses Zitates einen rhetorischen Zweck erfüllt haben: Diese Aussage, für sich stehend und aus dem Gesamtkontext von Eddys Werk gerissen, wird bei vielen Leserinnen und Lesern auf emotionalen Widerstand stoßen, ja möglicherweise sogar Entsetzen erzeugen und kann gerade dadurch Interesse wecken: Was ist das für eine ‚Sekte‘, in dem solch obskure Ratschläge zur Kindererziehung erteilt werden? Der Umgang mit Kindern ist ein sensibles, emotional hochgradig aufgeladenes Thema, das sich gut dazu eignet, ein negatives Bild von einer Religionsgemeinschaft zu 40 M. Gardner, The Healing Revelations of Mary Baker Eddy. The Rise and Fall of Christian Science, Buffalo, New York 1993, 10–11. 41 Vgl. M. Gardner, Healing Revelations …, 5. 42 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit ..., 556–557.
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zeichnen und das in Gardners Einleitung anvisierte Ziel zu erreichen: Wenn es ihm schon nicht gelingen wird, Christliche Wissenschaftler/innen durch seine Kritik zum Ausstieg zu bewegen, so könnte das Buch zumindest einige Interessenten aufklären und davon abhalten, zur Christlichen Wissenschaft zu konvertieren.43 Ein anderer Grund dafür, warum Gardner dieses Eddy-Zitat zum Leitmotiv wählte, könnte in der Faszination liegen, von der er einführend schrieb: Gardner, in seiner Rolle als Bewunderer, war geschockt und beeindruckt zugleich von der Tiefe des Glaubens, die aus diesen Worten spricht: Eddys Glaube an die Kraft des Geistes und die Unwirklichkeit des Körpers seien so extrem gewesen, dass sie eine solche Passage habe schreiben können.44 In dieser Textstelle des Lehrbuchs, die von einer grundsätzlichen Reflexion des Gegensatzes zwischen einer metaphysischen und einer materiellen Betrachtungsweise eingeleitet wird,45 also letztlich nur vor dem Hintergrund der spezifischen Anthropologie der Christlichen Wissenschaft adäquat zu verstehen ist, werden der Kern und die umwälzende Radikalität von Eddys Lehre greifbar: Wenn das Denken der Eltern rein geistig ausgerichtet ist und Kinder von Geburt an lernen, dass sie Ideen Gottes sind, „Kinder des Lichts“46, und nicht in den aus Eddys Sicht falschen Annahmen erzogen werden, die letztlich für die fortwährende Konstruktion und Aufrechterhaltung der stofflichen Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten verantwortlich sind, dann ist es möglich, die illusionäre Vorstellung vom menschlichen Körper zu überwinden und scheinbar Wundersames zu tun oder zu bewirken. Zur Einordnung des Beispiels ist es wichtig zu betonen, dass es Eddy gerade nicht um die Konditionierung des Kindes durch äußere Reize geht: Es wäre ein Missverständnis, wollte man das Zitat dahingehend verstehen, dass Eddy der Ansicht gewesen sei, Kinder könnten durch physische Übung lernen, lange unter Wasser zu bleiben, und sollten zu diesem Zweck wiederholt ‚real‘ unter Wasser getaucht werden. Vielmehr werden Kinder in die Lage versetzt, vermeintlich Außergewöhnliches zu vollbringen, wenn das Bewusstsein der Eltern dies nur ‚zulässt‘.47 Eddy gibt also nicht etwa Anweisung zu Hand43 Vgl. M. Gardner, Healing Revelations…, 10. 44 Vgl. M. Gardner, Healing Revelations…, 65. 45 Vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit..., 556. 46 Dieses Motiv verwendet M. Baker Eddy (Vermischte Schriften…, 342; Die Erste Kirche Christi Wissenschafter und Verschiedenes, Boston [o.A.]1974, 206) in Anlehnung an biblische Metaphorik (Lk. 16,6 bzw. Eph. 5,8). 47 Dieses mentale Übertragungsprinzip, nach dem das Wohlbefinden des Kindes in hohem Maße von der Reinheit und Korrektheit des elterlichen Denkens deter-
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lungen, die eine Qual für das Kind bedeuten, sondern formuliert eine eindrückliche Denkhilfe. „Parents should remember this“,48 heißt es im amerikanischen Original, sprich: Eltern sollen sich an dieses Beispiel erinnern, wenn sie ihre Kinder erziehen, d.h. sie sollen sich bewusst machen, dass sie ihr Kind durch materielles Denken einschränken bzw. dass sie die spirituelle Entwicklung ihres Kindes fördern können, wenn sie sich im Klaren darüber sind, dass sie es nicht mit einem materiegebundenen Menschenkind zu tun haben, sondern mit einem freien Gotteskind.49 Es geht nicht um eine Apologetik der Christlichen Wissenschaft, auch nicht darum, zu leugnen, dass in dieser Religionsgemeinschaft – wie in vielen anderen auch50 – Kinder aufgewachsen sind, die psychisches und physisches Leid erfahren haben.51 Wohl aber geht es darum zu versuchen, ein unorthominiert wird, ist auf alle Entwicklungsstufen des Kleinkindes anzuwenden: Es gilt sowohl für die pränatale Phase, für die Phase der Geburt als auch für die perinatale Phase. 48 M. Baker Eddy, Science and Health ..., 557. 49 Menschenkinder heißen in der Christlichen Wissenschaft jene, die glauben, dass sie körperlich geschaffen und beschaffen sind (ausführlich hierzu siehe Abschnitt 3). Ihre anscheinende Sterblichkeit, Sündhaftigkeit und Unvollkommenheit unterscheidet sie von jenen Menschen, die Schritt für Schritt realisiert haben, dass sie eine spirituelle Identität haben und die Wirklichkeit geistig ist. Zu dem Begriff ‚Menschenkind’ vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit ..., 107, 148, 409, 444; M. Baker Eddy, Erste Kirche…, 90, 193; M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 9, 391. Sie verweist dabei auf Psalm 14,2 und Psalm 107,8. Zu dem Begriff ‚Gotteskind‘ vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit ..., 148, 227, 267, 289, 303, 306, 444, 470, 476, 529, 572; M. Baker Eddy, Vermischte Schriften ..., 18, 46, 170, 181, 185, 199, 244, 255, 397, 430; M. Baker Eddy, Erste Kirche …, 40, 187, 242, 269; M. Baker Eddy, Die Einheit des Guten, Boston [o.A.]1975, 15, 18, 22, 23, 44, 53. Die von Eddy angeführten Bibelstellen sind Lk 20,36, Mt 5,9, Röm 8,16 und Röm 8,21. Während Eddy die biblische Rede von der Gotteskindschaft im literalen Sinne versteht, werden die von ihr herangezogenen Stellen in der Regel metaphorisch verstanden: P. Müller, „Gottes Kinder. Zur Metaphorik der Gotteskindschaft im Neuen Testament“, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 17, 2002, 141–161. 50 Dass religiöse Erziehung nicht nur in verschiedenen Neuen Religiösen Bewegungen, sondern auch im Kontext der etablierten christlichen Kirchen als traumatisch empfunden werden kann, zeigen z.B. die Kindheitserinnerungen von: T. Moser, Gottesvergiftung, Frankfurt am Main 1976. 51 Von diesem Leid geben zum einen die bereits erwähnten Autobiographien ehemaliger Christlicher Wissenschaftler/innen ein beredtes Zeugnis. Zum anderen machten in den 1980iger Jahren einige Fälle von medizinischer Vernachlässigung von Kindern in den USA Schlagzeilen. Auf das generelle Problem, jedoch mit einem besonderen Fokus auf die Christliche Wissenschaft, macht Rita Swan auf-
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doxes christliches Menschen- und Weltbild verstehend zu beschreiben und zu rekonstruieren, in welchem Zusammenhang Eddys Metaphysik zu ihrer Auffassung vom Wesen und der Erziehung des Kindes steht. Obzwar die weltanschauliche Zurückhaltung, die der niederländische Theologe und Religionswissenschaftler Gerardus van der Leeuw in Anlehnung an Edmund Husserls Philosophie „Epoché“ nannte und als essentiellen Bestandteil seiner religionsphänomenologischen Methode beschrieb,52 in dieser Form vielleicht nicht umsetzbar scheint, so bleibt es doch Aufgabe und Ziel einer vergleichenden Religionswissenschaft, sich auf die Verschiedenartigkeit religiöser Konzepte, Lebensentwürfe und Kindheitsvorstellungen einzulassen. Hermsen schließt seine Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen Religion(en) und Kindheit(en) mit dem Satz: „Das Einlassen auf andere Zeiten, Religionen und Kulturen hätte gleichfalls zur Konsequenz, basale Konzeptionen der Psychologie, ja sogar den Zentralbegriff ‚Psyche‘ selbst in Frage zu stellen, um andere anthropologische Selbst-Entwürfe wirklich fassen zu können.“53 Die Gründerin der Christlichen Wissenschaft, Mary Baker Eddy, entwirft eine merksam, eine ehemalige Christliche Wissenschaftlerin und die spätere Gründerin der Initiative CHILD Inc., die 1977 ihren 16-Monate alten Sohn verlor, weil ihr Mann, Douglas Swan, und sie aufgrund ihres christlich-wissenschaftlichen Glaubens zu spät einen Arzt eingeschaltet haben. Hierzu vgl. R. Cass, „We Let Our Son Die. The Tragic Story of Rita and Doug Swan“, in: Journal of Christian Nursing 4, 1987, 4–8; C. Fraser, „Suffering Children and the Christian Science Church“, in: The Atlantic Monthly 275, 1997, 105–120; S. Asser; R. Swan, „Child Fatalities from Religion-Motivated Medical Neglect“, in: Pediatrics 101, 1998, 625–629. Aus medizinhistorischer und rechtsmedizinischer Sicht wurden die Kontroversen in Amerika sorgfältig aufgearbeitet von: R. B. Schoepflin, Christian Science on Trial …, Kapitel 7. Eine mehrperspektivische Diskussion der philosophischen Hintergründe von Eddys Skepsis gegenüber jeglichen nicht-christlich-wissenschaftlichen Heilmethoden findet sich in: P. DesAustels; M. P. Battin; L. May, Praying for a Cure. When Medical and Religions Practices Conflict (Point/Counterpoint. Philosophers Debate Contemporary Issues), Lanham u.a. 1999. Die christlich-wissenschaftliche Haltung zur medizinischen Versorgung von Kindern wird erläutert und verteidigt von: N. A. Talbot, „The Position of the Christian Science Church“, in: The New England Journal of Medicine 309, 1983, 1641–1644; Christian Science Publishing Society (Hg.), Freedom and Responsibility. Christian Science Healing for Children, Boston 1989; J. T. Richardson; D. John, „Christian Science Spiritual Healing, the Law, and Public Opinion“, in: Journal of Church & State 34, 1992, 549–561. 52 Vgl. G. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Tübingen 41977, 774, 781–783, 786. Zum methodischen Wert eines Epoché-Konzepts siehe neuerdings auch: S. Mickey, „On the Function of the Epoche in Phenomenological Interpretations of Religion“, in: PhaenEx 3, 2008, 56–81. 53 E. Hermsen, Faktor Religion …, 211.
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Anthropologie, die im scharfen Kontrast zu gängigen psychologischen Modellen von ‚Psyche‘ steht. Dies geht sogar so weit, dass sie die Existenz des denkenden Ichs leugnet: Das illusionäre ‚Ich‘, das uns nur glauben machen will, dass es existiert, sei in Wahrheit bloß ein vergängliches Konstrukt (mortal mind), das wieder vergeht, wenn verstanden wird, dass es nur ein GEMÜT (Mind) gibt, nämlich das Ego Gottes, das sich im Gemüt der Menschen widerspiegelt.54 Das Sich-Einlassen auf dieses Bild vom Menschen ist für den Versuch, Eddys Kindheits- und Erziehungsvorstellungen zu beschreiben, von grundlegender Bedeutung.
Anthropogenie und Anthropologie In dem „Zusammenfassung“ betitelten Kapitel von Wissenschaft und Gesundheit, also in jenem Kapitel, das fast als Katechismus fungiert und in besonderer Weise für Lehrzwecke eingesetzt wird, rekapituliert Eddy die Essenz ihres Menschenbilds: „Frage. – Was ist der Mensch? Antwort. – Der Mensch ist nicht Materie; er besteht nicht aus Gehirn, Blut, Knochen und anderen materiellen Elementen. Die Heilige Schrift teilt uns mit, dass der Mensch zum Bild und Gleichnis GOTTES gemacht ist. Die Materie ist nicht dieses Gleichnis. Das Gleichnis des GEISTES kann dem GEIST nicht so unähnlich sein. Der Mensch ist geistig und vollkommen; und weil er geistig und vollkommen ist, muss er in Christian Science so verstanden werden. Der Mensch ist Idee, das Bild der LIEBE; er ist kein Körper. Er ist 54 M. Baker Eddy (Wissenschaft und Gesundheit…, 115) kennt sieben Synonyme für GOTT: PRINZIP (Principle), LEBEN (Life), WAHRHEIT (Truth), LIEBE (Love), SEELE (Soul), GEIST (Spirit), GEMÜT (Mind). Um diese göttlichen Qualitäten im Text zu kennzeichnen, ging Eddy dazu über, die Gottessynonyme groß zu schreiben. Da diese Besonderheit des Originals im Deutschen nicht adäquat wiedergegeben werden kann, half man sich zunächst dadurch, dass man die Äquivalenzbegriffe im deutschsprachigen Raum fett druckte (z.B. Leben). In der neueren deutschen Übersetzung von Science and Health werden die Gottessynonyme durch Kapitälchen gekennzeichnet (z.B. LEBEN). Insofern es um die Darstellung der Lehre der Christlichen Wissenschaft geht, wird dieser Regelung im vorliegenden Beitrag entsprochen. Zudem wird die für das deutsche Sprachgefühl nur schwer fassbare Differenzierung zwischen GEIST (Spirit) und GEMÜT (Mind) übernommen.
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die zusammengesetzte Idee GOTTES, die alle richtigen Ideen einschließt; der Gattungsname für alles, was GOTTES Bild und Gleichnis widerspiegelt; die bewusste Identität des Seins, wie wir sie in der Wissenschaft finden, in der der Mensch die Widerspiegelung von GOTT oder GEMÜT und somit ewig ist; das, was kein von GOTT getrenntes Gemüt hat; das, was nicht eine einzige Eigenschaft hat, die nicht von der Gottheit stammt; das, was kein Leben, keine Intelligenz noch schöpferische Kraft aus sich selbst besitzt, sondern alles geistig widerspiegelt, was zu seinem Schöpfer gehört.55
GOTT ist für Eddy vor allem universeller GEIST (Spirit) und unsterbliches GEMÜT (immortal Mind).56 Da GOTT den Menschen als sein perfektes Ebenbild erschuf, existiert der wahre Mensch als rein geistiges Abbild seines Schöpfers (spiritual image) bzw. als eine Idee (idea) des göttlichen GEMÜTS (Mind), deren Dasein im Wesentlichen darin besteht, GOTT immerfort zu reflektieren. Die Mehrzahl der relevanten Textstellen spricht von GOTT als GEIST (Spirit) und das wahre Wesen des von ihm geschaffen Menschen wird entsprechend als geistig (spiritual) beschrieben.57 Das in diesem Zusammenhang am zweit häufigsten verwendete Synonym für GOTT ist GEMÜT (Mind). Wenn von GOTT als GEMÜT die Rede ist, betont Eddy häufig, dass es nur einen GOTT, nur einen Allgeist gäbe und der Mensch daher nicht etwa einen unabhängigen Geist (mind) besitze, sondern vielmehr eine Idee sei, die als Widerspiegelung des göttlichen Geistes zu definieren sei.58 Beide Argumentationsfiguren sind in Eddys zusammenfassender Definition des ‚wahren’ Menschen vereint.
55 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit…, 475. 56 Allein die Formel ‚God, Spirit‘ wird an 12 Stellen verwendet: M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 177, 213, 259, 275, 286, 307, 339, 340, 421, 487, 503. Das Wort ‚Spirit‘, das kapitalisiert als ein Synonym für Gott eingesetzt wird, kommt insgesamt 610 mal in Eddys Lehrbuch vor. ‚Mind‘, ebenfalls ein Gottessynonym, wird sogar 774 mal gebraucht, während der speziellere Ausdruck ‚immortal Mind’ 29 mal Verwendung findet: M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 83, 103, 145, 171, 177, 179, 188, 195, 200, 208, 229, 246, 248, 279, 282, 371, 374, 387, 399, 403, 419, 424, 427, 487, 488, 505, 507, 564, 580. 57 Hierzu vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 51, 67, 70, 73, 94, 148, 172, 216, 249, 277, 301, 302, 332, 337, 339, 468, 491, 512, 516, 519, 522, 544, 548 und besonders 250, 252–253. 58 Zu diesem Gedankengang siehe M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 71, 81, 191, 216–217, 305, 467, 525 und besonders 151, 257, 303.
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Obzwar der ideale Mensch dergestalt in vollkommenem Einklang mit GOTT existiert, geht er nie vollends in ihm auf; er bleibt vielmehr stets in seiner Individualität erhalten. Dies liegt darin begründet, dass GOTT als abstrakte Ichheit (Ego, divine personality) konzipiert wird und dem Menschen, der ihm ja wesenhaft gleicht, ex aequo eine personale Identität zugesprochen werden muss: „Der Ego-Mensch ist die Widerspiegelung des Ego-GOTTES; der Ego-Mensch ist das Bild und Gleichnis des vollkommenen GEMÜTS, des GEISTES, des göttlichen PRINZIPS.“59 An anderer Stelle beschreibt Eddy den Sachverhalt noch expliziter: „GOTT ist individuell und persönlich in einem wissenschaftlichen, aber nicht in einem vermenschlichten Sinne. Deshalb kann der Mensch, weil er GOTT widerspiegelt, seine Individualität nicht verlieren.“ 60 GOTT darf nur in dem Sinne als Individuum aufgefasst werden, als er eins und alles ist. Der Begriff ‚Persönlichkeit’ impliziert in Eddys Theologie also keineswegs Begrenzung, sondern soll, ganz im Gegenteil, die Einheit in der unendlichen Vielfalt des göttlichen Seins zum Ausdruck bringen.61 Dies bedeutet schlechterdings aber auch, dass die Menschen keine autarken und von GOTT getrennt existierenden ‚Personen’ (in der Mehrzahl) sind, sondern ihnen nur insofern Individualität zukommt, als dass sie Reflektionen der einen göttlichen Person sind, die sich gleichsam in unzählbar vielen Ideen erschöpft.62
59 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 281. Zu Eddys Begriff ‚Ego‘, mit dem sie ein streng monotheistisches Gotteskonzept hervorzuheben versucht, siehe M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 14, 70, 204, 216, 249, 250 und besonders 588. 60 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 336–337. Das Zitat deutet an, dass es Eddy keinesfalls darum geht, Gott zu personalisieren, sondern vielmehr darum, ihn als abstraktes Einheitsprinzip, als das ewige ‚I AM’, begreiflich zu machen. So kritisiert die Autorin auch mehrfach jede Art von anthropomorpher Gottesvorstellung; vgl. hierzu M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 13, 14, 79, 94, 116, 140, 224, 257, 285, 312, 317, 337, 351, 357, 517. 61 Oder kritisch formuliert: „Dabei oszilliert freilich der Gottesbegriff zwischen personalen und apersonalen Kennzeichnungen unentschieden hin und her.“ K. Bannach, „Christliche Wissenschaft (Christian Science)“, in: H. Gasper; J. Müller; F. Valentin (Hg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen. Fakten, Hintergründe, Klärungen. Freiburg im Breisgau u.a. 1990, 156–162, 157–158. 62 Zu Eddys Persönlichkeitskonzept vgl. vor allem M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 94, 116, 216–217, 302, 313, 473, 517, 544. Eine prägnante Zusammenfassung findet sich auch im Glossar unter dem Eintrag ‚I, or Ego‘: M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 588.
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Obwohl diese harmonische Koexistenz von GOTT und seiner Ideenwelt ewig Bestand hat, gibt es einen nicht weiter von Eddy erklärten Moment in dieser zeitlosen Geschichte des göttlichen Daseins und sich Reflektierens, in dem der Mensch – eigentlich unsterbliche und makellose Gottesidee – einer Illusion verfällt: Er träumt davon, dass er nicht etwa rein geistig mit GOTT, sondern als independentes Gemüt (mind) existiert; das Spiegelbild bildet sich ein, es sei losgelöst von dem, der sich spiegelt. Dieser Augenblick des ‚Einschlafens‘ oder dieser Akt der Fehlinterpretation der wirklichen Verhältnisse – die Ideen einer göttlichen Person63 halten sich plötzlich für viele personale ‚Götter‘ –, stellt die Geburt des sterblichen Gemüts (mortal mind) dar.64 Eddy liefert in ihrem Lehrbuch, in dem der von ihr geprägte Neologismus65 insgesamt 300 mal Verwendung findet, zwei Definitionen des für sie so zentralen Begriffs. Die zweite Definition erscheint im Glossar am Ende des 63 M. Baker Eddy lehnt sich dabei durchaus an eine Trinitätslehre an. Der Konfessionskundler Helmut Obst bezeichnet Eddys Auffassung von der Trinität als „Tritheismus“ bzw. zutreffend als eine „Prinzipienlehre“, wobei er nicht erwähnt, dass Eddy zwar in bestimmten Kontexten drei Gottessynonyme betont – nämlich LEBEN, WAHRHEIT und LIEBE (vgl. z.B. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 465; siehe auch Fußnote 97) –, letztlich jedoch von sieben Synonymen für Gott ausgeht (siehe Fußnote 54). Zu der theologischen Interpretation und Kritik vgl. H. Obst, „Trinität? Zur Gotteslehre christlicher Sondergemeinschaften (Mormonen, Christian Science, Zeugen Jehovas)“, in: I. U. Dalferth; J. Fischer; H.-P. Großhans (Hg.), Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre. Festschrift für Eberhard Jüngel zum 70. Geburtstag, Tübingen 2004, 405–416, 411, 412). 64 Zu einer mäßigen außenperspektivischen Darstellung dieses Themenkomplexes vgl. H. W. Steiger, Christian Science and Philosophy, New York 1948, 42–52, 63–70. Vgl. hierzu auch D. John (Die Lebenseinstellung…, 58–65), der aus christlich-wissenschaftlicher Innenperspektive die Frage ‚Was ist der Mensch?‘ beantwortet. Schließlich sollte noch ein Kapitel aus Leishmans Buch erwähnt werden: T. L. Leishman, Warum…, 30–67. 65 Es ist anzunehmen, dass Eddy den Ausdruck ‚mortal mind’ in Anlehnung an den biblischen Begriff ‚carnal mind’ gebildet hat. So zitiert Eddy an einer Stelle den 7. Vers aus dem 8. Kapitel des Römerbriefs und zwar in der Fassung der von ihr favorisierten King James Bible: „,The carnal mind is enmity against God.‘ The central fact of the Bible is the superiority of spiritual over physical power.“ M. Baker Eddy, Science and Health ..., 131. In Gänze lautet die biblische Passage so: „Because the carnal mind is enmity against God; for it is not subject to the law of God, neither indeed can be.“ Der paulinische Ausdruck ‚carnal mind’ kehrt noch zweimal in ihrem Buch wieder und wird explizit als Synonym für den fortwährend verwendeten Begriff ‚mortal mind‘ eingesetzt. Vgl. M. Baker Eddy, Science and Health …, 311, 345. Der rezeptionsgeschichtliche Zusammenhang wird angedeutet bei: T. L. Leishman, Warum …, 236 und D. John, Die Lebenseinstellung …, 26.
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Buches, gleicht jedoch mehr einer Stichwortsammlung denn einer lesbaren Begriffserklärung.66 Die andere lautet wie folgt: „Der Sprachgebrauch klassifiziert sowohl das Böse wie das Gute als Gemüt; deshalb bezeichnet die Autorin, um verstanden zu werden, die kranke und sündige Menschheit als sterbliches Gemüt – mit diesem Ausdruck meint sie das Fleisch, das dem Geist entgegengesetzt ist, das menschliche Gemüt und das Böse im Gegensatz zum göttlichen GEMÜT oder zur WAHRHEIT und dem Guten. Die geistig unwissenschaftliche Definition des Gemüts beruht auf dem Augenschein der physischen Sinne, der viele Gemüter macht und das Gemüt sowohl menschlich als auch göttlich nennt. In der Wissenschaft ist GEMÜT eins, es schließt Noumenon und Phänomene, GOTT und Seine Gedanken, ein.“67
Es ist festzuhalten, dass die sterblichen Gemüter nicht von GOTT erschaffen wurden. Dieser Umstand ist für Eddy gleichbedeutend mit der Bestimmung, dass diese Gemüter – vom Standpunkt der letzten Wirklichkeit aus betrachtet – gar nicht existieren. Denn: Etwas kann nur dann den Anspruch erheben, wahrhaftig seiend zu sein, wenn GOTT, die alleinige Ursache allen Seins, der Schöpfer ist. Etwas hingegen, dessen Ursprung nicht göttlich ist, kann streng genommen weder Ursache noch Wirkung haben; es existiert bloß scheinbar und ohne Grund. Sein ontologischer Status entspricht ungefähr dem einer Illusion oder dem eines Traumes, wobei die Begriffe ‚Traum‘ und ‚Illusion‘ nicht etwa andere ‚Seinszustände‘ oder ‚Realitäten‘ beschreiben, sondern vielmehr Eddys Annahme zum Ausdruck bringen sollen, dass ‚etwas‘ zwar glaubt, ‚etwas‘ existiere, dieses ‚Etwas‘ in Wahrheit aber weder ist noch jemals sein kann. All jenes, was nicht göttlichen Ursprungs ist – also ‚ist‘, ohne zu sein (Illusion, Traum) – ‚ist‘ nur ein vorübereilendes Phantom, etwas ‚Sterbliches‘, etwas, das früher oder später wieder in das Nichts verschwindet, aus dem es hervorging. Mit dem Begriff ‚sterbliches Gemüt‘ beschreibt Eddy exakt diesen paradoxen Prozess: das Aufflackern eines Schein-Bewusst-Seins, das sich zwar seine eigene Anwesenheit vortäuschen kann, dennoch aber nicht ist und dem Nichtsein unausweichlich anheim fallen muss; ‚etwas‘, das – obgleich Gott allein Quelle alles Seienden ist – sich selbst als ‚etwas’ zu setzen versucht,
66 Siehe M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 591–592. 67 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 114.
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sprich: solange von ‚etwas’ träumt, bis die Traumblase als solche erkannt wird und zerplatzt.68 Den hier skizzierten Vorgang des Sich-selbst-Träumens will Eddy im Buch Genesis verschlüsselt gefunden haben, insbesondere in der Adam-undEva-Perikope (Gen 2–3), die sie zum Schluss ihres Werkes allegorisch auslegt.69 Ihre Exegese veranschaulicht dabei nicht nur, wie es dazu kam, dass sich Ebenbilder des GEMÜTS in einen illusionären Wahn hineinsteigerten und anfingen zu glauben, sie besäßen ein von GOTT unabhängiges Gemüt, sondern beschreibt zudem auch, dass sich diese Pseudogötter schließlich eigene Spiegelbilder einbildeten und zwar in Form von materiellen Körpern, die physische Sinne besitzen und in einer gegenständlichen Welt leben: Das geträumte Gemüt (Adam) meint innerhalb der Materie, gleichwohl einer Welt der Träume, zu bestehen und zwar genau genommen als Gehirn in ‚seinem’ Körper (Eva).70 Adam also ist keinesfalls identisch mit dem gottgewollten Idealmenschen, seiner geistigen Idee, sondern, ganz im Gegenteil, er ist Symbol für jenen Menschen, der fälschlicherweise zu glauben begonnen hat, er sei ein geistbegabtes materielles Wesen.71 Adam ist keine göttliche, sondern eine menschliche Schöpfung.72 Er versinnbildlicht den fatalen Denkfehler einer Idee, die der Annahme verfällt, ihr Konstrukt entspräche der Wirklichkeit, und die sich so in gewisser Hinsicht selbst einen gottähnlichen Status zuschreibt. Diese Hybris hat Konsequenzen. Der Adam-Traum (Adam dream),73 der Traum von der Existenz des Gemüts in der Materie, wird zunehmend real und der Schlaf tief und tiefer. Das sterbliche Gemüt (Adam) glaubt immer fester an die Informationen, die der imaginierten Verkörperung (Eva) über trügerische Sinneswahrnehmungen zugehen:74 Es anerkennt Naturgesetze als unumstöß68 Dieser Abschnitt basiert u.a. auf den folgenden Textstellen: M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 69, 77, 93, 125, 140, 173, 207, 249, 263, 277, 281, 286, 287, 303, 331, 472, 502, 521. 69 Vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 524–539. 70 Siehe die Einträge ‚Adam‘ und ‚Eva‘ im Glossar: M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 579–580, 585–586. 71 Vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 92, 249, 267, 345–346, 580 und besonders 338. 72 Vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 525. 73 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 282, 306; vgl. auch 249. 74 Zur Irreführung durch physische Sinnenempfindungen vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 60, 114, 120, 122, 124, 172–173, 191, 273, 284, 293– 294, 311, 322, 327, 353, 493, 531.
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lich, nunmehr in völliger Unkenntnis darüber, dass es sich ja eigentlich nur um menschlich geschaffene Gesetze handelt, also um Regeln, nach denen die eigene Illusion abläuft und nicht etwa um ewige Grundsätze des göttlichen Schöpfers; es fürchtet körperliche Bedrohungen und Leid, weil mit der Zeit in Vergessenheit geraten ist, dass es sich bloß selbst in unwirkliche Vorstellungskomplexe verstrickt hat, die seine rein geistige Identität unverletzt überdauern; es glaubt an Gut und Böse, an Gemüt und Materie, inzwischen unwissend, dass es nur GOTT, das Gute, gibt und letztlich keine vom GEMÜT getrennte Existenz möglich ist – außer vielleicht im Rahmen der sich selbst beständig reproduzierenden Selbsttäuschung des Gemüts. Eddy hat den Vorstellungskomplex ‚Gemüt in Materie’‘bzw. das Konstrukt, das Körper und Gemüt eine Verbindung eingehen, auch strukturell beschrieben.75 Dabei fällt auf, dass sie ihren strikten Dualismus – GEMÜT vs. Materie bzw. WAHRHEIT vs. Irrtum – leicht abschwächt und ein komplexeres Stufenmodell bevorzugt. Die Sterblichen (mortals) bestehen nämlich aus zwei Schichten (strata). Zwar müssen beide Schichten des sterblichen Menschen eindeutig zur illusionären Materie gerechnet werden, d.h. der unüberbrückbare Gegensatz zwischen geistiger Wirklichkeit und materieller Unwirklichkeit wird nicht aufgehoben. Aber sie unterscheiden sich doch im Grad ihrer Materialität. Es heißt z.B., dass der physische Körper mit der „höchsten Schicht der Materie, fälschlicherweise Gemüt genannt“76 vermengt erscheint; oder: „Das gröbere Substrat wird Materie oder Körper genannt; das ätherischere wird als Gemüt bezeichnet.“77 Die obere Schicht des sterblichen Menschen nennt sie sterbliches, menschliches, bewusstes oder so genanntes Gemüt.78 Die untere Schicht wird an unterschiedlichen Stellen mit Konzepten wie Materie, Gehirn, Körper oder unbewusstes sterbliches Gemüt belegt.79 Es bleibt unklar, ob letztere Begriffsreihe synonym behandelt werden darf oder ob Eddy das gestufte Ausmaß der unteren Schicht betonen wollte: Der Mensch träumt sich ein Gehirn, dann einen 75 Obzwar ein Cluster von Begriffen wiederkehrt, ist Eddys Terminologie nicht eindeutig. So nennt sie z.B. die illusionäre Gemüt-Materie-Konstruktion (Adam und Eva) erst menschliche Annahme (human belief) und dann nur einen Satz später einen Sterblichen (mortal). Vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit…, 293. Dies ist freilich auch eine Folge ihrer Tendenz, ganze Stafetten von Synonymen für die Benennung eines Tatbestandes zu verwenden. 76 Vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 477. 77 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 293. 78 Vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 80, 157, 185, 371, 409. 79 Vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 185, 293, 371, 409, 477.
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ganzen Körper und schließlich eine komplette Welt, in der sein Gemüt zu leben glaubt. Fest steht jedoch, dass die obere Schicht, die Illusion eines Gemüts in der Materie, mit Bewusstsein und Intelligenz begabt zu sein scheint und auf diese Weise Kontrollmacht hat über die letztlich von ihm selbst konstruierte, unbelebte untere Schicht des materiellen Daseins.80 Es muss indes abermals herausgestellt werden, dass Eddy das Wirken des sterblichen Gemüts ontologisch klar von wahrer Geistigkeit unterscheidet. Ersteres ist ein bloß imaginärer Vollzug, während letzteres Anteil hat an der Allmacht des GEMÜTS.81
Geistige Erziehung Eddy zitiert einen Kritiker, der behauptete, der Zweck der Christlichen Wissenschaft sei es, „die Idee Gottes zu erziehen oder gegen Krankheit zu behandeln“82, und widerspricht dieser Auslegung ihrer Lehre vehement: Nicht die Idee Gottes solle erzogen werden, sondern das sterbliche Gemüt, das meint, es existiere getrennt von Gott, bedürfe beständig der geistigen Korrektur. So braucht das Gemüt des Kindes ein klares Wissen von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ und sollte sowohl über die wahre Natur des Menschen als auch über menschliches Fehlverhalten unverzüglich aufgeklärt werden: „Erziehe die Kinder früh zur Selbstbeherrschung, und lehre sie nichts Falsches. Wenn sie ihren Vater mit einer Zigarette im Munde sehen, sage ihnen, daß die Gewohnheit des Rauchens nicht schön ist und daß nur ein häßlicher Wurm von Natur Tabak kaut.“83 In mehrfacher Hinsicht ist diese Aussage Eddys aufschlussreich: 1. Das Zeitwort ‚früh‘ weist darauf hin, dass es von Beginn an 80 Vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit…, 80, 243, 409. 81 Dies bedeutet auch, dass sterbliche Gemüter nicht aus dem Netz der Materie befreit werden müssen. Dies wäre eine gnostische Fehlinterpretation. GEMÜT, so wird Eddy nicht müde zu betonen, kann unmöglich in der Materie existieren, denn dies hieße ja, dass sich Wahrheit und Unwahrheit, Perfektion und Fehlerhaftigkeit vermischt hätten. Ein sterbliches Gemüt ist nur scheinbar geistig und wird als lenkender Bestandteil des Traumes oder als Strukturelement der Materie-Illusion letztlich durch die Erkenntnis der Wahrheit, der alleinigen Existenz GOTTES und seiner Ideen, ver-nichtet. Schon das charakterisierende Adjektiv ‚sterblich’ (mortal) deutet auf die Zerstörung der menschlichen Gemüter hin. Vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 178, 546, 580. 82 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit ..., 346. 83 M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 240.
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– gerade in der Phase, in der das Kind weniger als eigenständiges Wesen angesehen, sondern vielmehr als Extension des elterlichen Denkens aufgefasst wird – darauf ankommt, dem Kind ein Gefühl für die irrtümlichen Denkund Verhaltensweisen der Sterblichen zu vermitteln; 2. Das Kind sollte schnellstens lernen, seine materiellen Impulse zu zügeln und sich auf die Geistigkeit seiner Natur auszurichten; 3. Eddy lässt den Vater hier in einem eher negativen Licht erscheinen und spricht mit dem Imperativ „Erziehe die Kinder“ dezidiert die Mutter an.84 In ihren Schriften verwendet Eddy das Nomen ‚Vater‘ 416 mal. In der weit überwiegenden Zahl der Fälle ist mit ‚Vater‘ GOTT – also der wahre himmlische Vater der Gotteskinder – gemeint. Abgesehen von der Erwähnung ihres Großvaters bzw. Vaters in ihrer Autobiographie, Rückblick und Einblick,85 und einigen in ihrem Werk abgedruckten Heilungszeugnissen von Christlichen Wissenschaftler/inne/n, ist nur an zwei Stellen von menschlichen Vätern die Rede: Die erste bezieht sich auf jenen Vater, der sein Kind unter Wasser tauchte und auf diese Weise den irrigen Annahmen dieser Welt zuwider handelte (positives Vorbild);86 die zweite ist die oben zitierte Stelle, das Beispiel des rauchenden oder tabakkauenden Vaters, der nicht gelernt hat, seine Süchte zu kontrollieren (negatives Vorbild). Während die Erziehungsfunktion des Vaters nahezu keine Beachtung findet, wird die pädagogische Rolle und Bedeutung der Mutter akzentuiert. Das Wort ‚Mutter‘ findet in Eddys Gesamtwerk 664 mal Verwendung – und zwar nicht nur im Ausdruck
84 Vgl. hierzu auch folgende Aussage: „Durch das Studium dieser wissenschaftlichen Methode, das Christentum zu betätigen, sollten Mütter vollkommene Gesundheit und Sittlichkeit in ihren Kindern erzeugen (…) können.“ (M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 5 (Kursivdruck von F.J.)) 85 Wie E. Hermsen dies für die Thesen von P. Ariès unternommen hat, so wäre es auch eine Aufgabe zukünftiger Christian Science-Forschung, zu untersuchen, inwiefern Eddys Kindheits- und Erziehungsvorstellungen von ihrer eigenen Biographie, ihrer puritanischen Sozialisation und ihrer Eltern-Kind-Beziehung geprägt worden sind. 86 Ausführlich zur Interpretation dieser Textpassage vgl. den 2. Abschnitt dieses Beitrags.
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‚Mutterkirche‘ (406 mal),87 in Bezug auf die Mutterschaft Gottes (43 mal)88 oder auf die Rolle Eddys als geistiger Mutter der Christlichen Wissenschaft (37 mal),89 sondern z.B. auch im Hinblick auf die Kindererziehung (18 mal). Obgleich beispielsweise im dritten Kapitel des Lehrbuchs, ‚Die Ehe‘ („Mar87 Am 23. September 1892 reorganisierte Eddy die zwischenzeitlich aufgelöste Kirchengemeinde und gründete mit zwölf Kirchenmitgliedern die Erste Kirche Christi, Wissenschaftler in Boston, Massachusetts. Gleichzeitig wurden Pläne für den Bau eines geeigneten Kirchengebäudes gemacht. (vgl. M. Baker Eddy, Kirchenhandbuch …, 18; M. Baker Eddy, Erste Kirche …, 55) Am 1. Januar 1895 schließlich, eine Woche nach deren Fertigstellung, wurde die „Die Mutterkirche“ („The Mother Church“) feierlich eingeweiht. M. Baker Eddy (Vermischte Schriften …, 141, 320) bezeichnete sie als „Gebet in Stein“ („prayer in stone“) und betrachtete die Jerusalemer Kirche als ihr geistiges Vorbild (vgl. M. Baker Eddy, Erste Kirche …, 13). Zum Bau und zur Bedeutung der Bostoner Mutterkirche vgl. P. E. Ivey, Prayers in Stone. Christian Science Architecture in the United States, 1894–1930, Urbana 1999. Kritisch dazu: J. H. Klide, „Material Expression and Maternalism in Mary Baker Eddy’s Boston Churches. How Architecture and Gender Compromised Mind”, in: Material Religion 1, 2005, 164–197. 88 M. Baker Eddy (Wissenschaft und Gesundheit …, 16) ändert die erste Gebetszeile des Vaterunser in: „Unser Vater-Mutter Gott, all-harmonisch“. An anderer Stelle erklärt sie: „[D]a Gott unendliches Gemüt ist, ist Er der allweise, allwissende, alliebende VaterMutter Gott, denn Gott schuf den Menschen zu Seinem Bild und Gleichnis und schuf sie als Mann und Weib, wie die Heilige Schrift erklärt; schließt dann nicht unser himmlischer Vater – das göttliche Gemüt – in diesem Gemüt die Gedanken ein, die die unterschiedlichen Mentalitäten von Mann und Frau ausdrücken, wodurch wir übereinstimmend sagen können: ‚Unser Vater-Mutter Gott‘?“ (M. Baker Eddy, Vier Botschaften an die Mutter Kirche, Boston [o.A.]1979, 7)
Die androgyne Gottesvorstellung Eddys wurde z.B. herausgearbeitet von: S. M. Setta, „Denial of the Female, Affirmation of the Feminine. The Father-Mother God of Mary Baker Eddy“, in: R. M. Gross (Hg.), Beyond Androcentrism. New Essays on Women and Religion, Missoula 1977. 89 Obwohl Eddy zunächst ausdrücklich erlaubte, dass Schüler/innen sie mit dem Titel ‚Mutter‘ ansprachen (M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 317: „Den Schülern, die ich nicht persönlich kenne und die mich fragen: ‚Dürfen wir Sie Mutter nennen?‘, antwortet mein Herz: Ja, wenn ihr Gottes Werk tut“), und nicht nur in ihren Briefen, sondern auch in anderen Kontexten bestätigte, dass sie sich selbst gerne als geistige Mutter der Bewegung sah (vgl. z.B. M. Baker Eddy, Erste Kirche…, 343: „Ich war die Mutter; aber die Bezeichnung Papst wird selbstverständlich bildlich gebraucht“), distanzierte sie sich später von dieser Bezeichnung (vgl. M. Baker Eddy, Erste Kirche …, 302–303). Grund für diesen Sinneswandel war die scharfe Kritik des Schriftstellers M. Twain (Christian Science, 47–48), der Eddy vorwarf, sich vergöttlichen zu lassen: „Already her army of disciples speak of her reverently as
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riage“) betitelt, vielfach von dem Einfluss beider Elternteile gesprochen wird, obliegt die Verantwortung für das Wohlbefinden und die Aufklärung des Kindes allein der Mutter: „Eine Mutter ist der einflussreichste Erzieher“90, sagt Eddy, denn „ihre eigenen Befürchtungen beherrschen ihr Kind mehr als das Gemüt des Kindes selbst.“91 Dies geht sogar soweit, dass eine Missbildung bei einem Erwachsenen „schon vor seiner Geburt durch einen Schreck seiner Mutter hervorgerufen worden“92 sein kann. Die Wichtigkeit der Mutter ist nicht nur dadurch zu erklären, dass das kindliche Gemüt aus einem Teil ihres Gemüts hervorgeht,93 sondern liegt in der besonderen Qualität und Tiefe der Mutterliebe begründet. Die ideale Erzieherin, Lehrerin und Pflegerin ist die „zärtliche, von Liebe geleitete Mutter, die ihrem natürlichen Gefühl treu bleibt und sich an die gebieterischen Regeln der Christlichen Wissenschaft hält.“94 Denn, so Eddys rhetorische Frage: „Wer kann wie die liebende Mutter die Bedürfnisse ihres Kindes fühlen und verstehen? Welch anderes Herz sehnt sich mit gleicher Besorgnis, erträgt mit gleicher Geduld, harrt mit gleichem Hoffen und müht sich mit gleicher Liebe, um das Wohl und das Glück ihrer Kinder zu fördern?“95 Weil die Mutterliebe „Reinheit und Beständigkeit
‚Our Mother.‘ How long will it be before they place her on the steps of the Throne beside the Virgin – and later, a step higher?“ 90 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit ..., 263. 91 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit ..., 154. 92 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit ..., 178. Es sollte bedacht werden, dass Eddy den immensen Druck, der durch solche Aussagen auf den Eltern bzw. auf der Mutter lastet, an anderer Stelle wieder relativiert – und zwar, in dem sie daran erinnert, dass die durch das sterbliche Gemüt produzierten Unvollkommenheiten stets nur Schein sind: „Es wäre eine grausame Ungerechtigkeit, wenn ein unschuldiges Kind als lebenslänglich Leidender geboren würde, weil seine Eltern gefehlt oder gesündigt haben. Die Wissenschaft verwirft den Menschen als Schöpfer und entfaltet die ewigen Harmonien des einzig lebendigen und wahren Ursprungs, Gottes.“ (M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 72) 93 Der apokryph bleibende Hinweis lautet: „Knochen haben nur die Substanz des Gedankens, der sie formt. Sie sind nur Phänomene des Gemüts der Sterblichen. Die so genannte Knochensubstanz wird zuerst durch das Gemüt der Eltern gebildet, und zwar durch Selbstteilung. Bald wird das Kind ein gesondertes, individualisiertes sterbliches Gemüt, das von sich und seinen eigenen Gedanken über Knochen Besitz ergreift.“ (M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 423–424. 94 M. Baker Eddy, Erste Kirche…, 235. 95 M. Baker Eddy, Rückblick …, 90.
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einschließt, die beide unsterblich sind“96, hilft die mütterliche Liebe der Frau dabei, sich ihres wahren Wesens bewusst zu werden, ihr Gemüt zu GOTT zu erheben und Anteil an der LIEBE97 zu haben, die GOTT wesenhaft ist: „Die Liebe einer Mutter reicht an das Herz Gottes.“98 Der (leibliche) Vater und das soziale Umfeld scheinen eine vergleichsweise geringe Rolle bei der Prägung des Säuglings bzw. Kindes zu spielen. Nur in wenigen Passagen wird explizit auf den Einfluss Dritter hingewiesen. So spricht Eddy über die „weisen oder unweisen Anschauungen der Eltern oder anderer Leute“, die „je nachdem gute oder schlechte Wirkungen“ auf das Kind hervorbrächten.99 Aufgrund der kognitivistischen, ja geistmonistischen Perspektive Eddys lassen sich kaum Hinweise in ihren Werken finden, die auf Sozialisations- oder Enkulturationsprozesse hindeuten, die nicht auf die Internalisation von elterlichen oder gesellschaftlichen Denkmustern zurückgeführt würden. Erziehung ist in der Christlichen Wissenschaft ein primär geistig-spiritueller Akt: Es geht oft weniger um das soziale Handeln der Erziehungspersonen, ihre habituelle Vorbildfunktion oder die konkrete Interaktion mit dem Kind, sondern vielmehr darum, was Eltern über ihre Kinder denken. Wenn Eddy das Tun der Eltern thematisiert, dann geht es häufig um ihre Sprechakte, also darum, was man einem Kind sagen sollte und was nicht. Die beiden für die Rekonstruktion des geistigen Erziehungskonzepts der Christlichen Wissenschaft vielleicht informativsten Textpassagen finden sich in Wissenschaft und Gesundheit und sind zwei virtuelle Gespräche zwischen Mutter und Kind, die aufgrund der Verwendung von wörtlicher Rede besonders anschaulich wirken. In einem Beispiel geht es um den Umgang mit der 96 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit ..., 60. Vgl. auch M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 160. 97 LIEBE ist eines der sieben Synonyme für GOTT und wird von Eddy häufig mit der weiblichen Seite des Schöpfers in Verbindung gebracht: In den Vermischten Schriften gebraucht sie z.B. die emphatische Anrede „O glorreiche Wahrheit! O Mutter Liebe!“ (M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 159) und an anderer Stelle argumentiert sie, dass die väterliche Seite des göttlichen PRINZIPS durch LEBEN, Christus durch WAHRHEIT und die mütterliche Seite durch LIEBE zum Ausdruck gebracht werden würde (vgl. M. Baker Eddy, Kanzel und Presse, 13). Diese archetypische Zuordnung wird schließlich im Glossar des Lehrbuchs wieder aufgebrochen, wo die Idee ‚Mutter‘ folgendermaßen definiert wird: „GOTT; göttliches und ewiges PRINZIP; LEBEN, WAHRHEIT und LIEBE.“ (M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …., 592). 98 M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 253. 99 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit ..., 413 (Hervorhebung F.J.).
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kindlichen Gespensterfurcht, die dadurch aufgelöst werden soll, dass die Mutter den Kindern erklärt, „dass ihre Ängste grundlos und Gespenster keine Wirklichkeiten sind, sondern nur traditionelle Ansichten, die irrig und von Menschen gemacht sind.“100 Dieses Beispiel ist insofern gut gewählt, als Eddy damit nicht nur etwas Spezifisches über die Heilung kindlicher Ängste aussagt, sondern gleichsam eine Anleitung für die Negierung jeglicher Ängste gibt – auch und besonders jener von Erwachsenen. So folgt auch ihr zweites Beispiel, in dem es um die christlich-wissenschaftliche Behandlung von Kinderkrankheiten geht, demselben Erklärungsschema: „Jene Mutter, die zu ihrem Kind sagt: ‚Du siehst krank aus‘, ‚du siehst müde aus‘, ‚du brauchst Ruhe‘ oder ‚du brauchst Medizin‘, ist keine Christliche Wissenschaftlerin und ihre Liebe braucht eine bessere Führung. Eine solche Mutter läuft zu ihrer Kleinen, die meint, sich beim Hinfallen auf den Teppich das Gesicht verletzt zu haben, und sagt, indem sie noch kindischer als ihr Kind jammert: ‚Mama weiß, dass du dir wehgetan hast.‘ Die bessere und erfolgreichere Methode, die sich jede Mutter aneignen sollte, wäre die, zu sagen: ‚Oh, mach’ dir nichts daraus! Du hast dir nicht wehgetan, deshalb brauchst du das auch nicht zu meinen.‘ Bald vergisst das Kind den ganzen Unfall und spielt weiter.“101
Diese und ähnliche Argumentationsfiguren – so z.B. die Relativierung übermäßiger „materieller Hygiene“102 oder die Kritik an der strikten Befolgung bestimmter Gesundheitsregeln103 – haben dazu geführt, dass amerikanische Kult-Kritiker die Fürsorglichkeit christlich-wissenschaftlicher Eltern in Frage stellten und die schulmedizinische Vernachlässigung einiger Kinder beklagten.104 Christliche Wissenschaftler/innen betonen im Gegenzug, dass 100 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit..., 325. 101 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit..., 154–155. 102 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit..., 220. 103 Folgende Beobachtung wird von M. Baker Eddy (Vermischte Schriften…, 6) zur Diskussion gestellt: „Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß Krankheiten am häufigsten in den Familien auftreten, wo Gesundheitsgesetze strengstens befolgt werden, große Vorsicht in bezug auf Diät beobachtet wird und sich die Unterhaltung hauptsächlich um körperliche Beschwerden dreht.“ 104 In Abschnitt 2 wurde darauf hingewiesen, dass diese Thematik nicht in einem wertneutralen Raum behandelt werden kann, sondern unwillkürlich im Kontext zahlreicher Kontroversen steht. Besonders im Hinblick auf die Forderung der ‚neuen‘ Kindheitsforschung, Kinder als Akteure und nicht bloß als Objekte elter-
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sie aus (richtig verstandener) Liebe zu ihren Kindern handeln würden,105 die christlich-wissenschaftliche Heilmethode kein Glücksspiel106 bzw. keine bloße Glaubenssache („faith healing“) sei, sondern eine alternative Wissenschaft vom Heilsein, 107 und sind sich ihrer großen (auch von Eddy hervorgehobenen) Verantwortung bewusst. Sie befinden sich in einem dauerhaften Wertekonflikt, der in jedem Augenblick neu gelöst werden muss: Einerseits gilt es, wie von Eddy festgelegt, auf staatliche Verordnungen sowie auf unreife Christliche Wissenschaftler/innen bzw. auf eine spirituell noch unterentwickelte Gesellschaft Rücksicht zu nehmen.108 Anderseits stellt sich christlichwissenschaftlichen Eltern die Frage: Wie halte ich das mir zeitweise anvertraute Gotteskind im Bewusstsein des Gesundseins und wie bewahre ich es vor materiellen Sinneseindrücken und vor falschen menschlichen Annahmen? licher Indoktrination zu konzeptionalisieren, ist zu betonen, dass die Vorwürfe der Kult-Kritiker selten auf Aussagen und Empfindungen der Kinder beruhen. A. Geisendorfer („The Christian Science Child. Subjectivity and Social Marginalization“, Honors Projects 2007, Paper 4, URL: http://digitalcommons.macalester.edu/ reli_honors/4, 2–3 (Einfügung von F.J.)) macht auf diesen Umstand aufmerksam; sie schreibt: „In these public lessons [den öffentlichen Debatten über angeklagte christlich-wissenschaftliche Eltern], the child is taken for granted as a morally and religiously neutral subject. It is the status of the missing child as a possible religious subject that I propose to explore in order to complicate discourse surrounding these cases and the child in general.“ 105 Als Beispiel kann folgende Aussage dienen: „The Christian Scientists I know love their children and want to provide them with the best form of health care.“ (P. Davis, „Christian Scientists want best for children, in: Indianapolis Star, 2. Juni 2005. 106 Vgl. L. O’Brien, „Prayer’s not a gamble“, in: Christian Science Board of Directors (Hg.), Freedom and Responsibility..., 30–31. 107 Vgl. z.B. J. H. Meyer, „The spiritual-healing alternative“, in: Christian Science Board of Directors (Hg.), Freedom and Responsibility ..., 32–34. 108 Die Gründerin der Christlichen Wissenschaft beklagt: „Das Erziehungssystem der Christlichen Wissenschaft entbehrt der Hilfe und des Schutzes durch die Staatsgesetze. Die Wissenschaft wird beeinträchtigt durch unreife Demonstrationen sowie dadurch, daß erst eine so kurze Zeit seit ihrer Entdeckung verstrichen ist, (…).“ (M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 263) Mit Verweis auf Mt. 22,21 („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“) empfiehlt Eddy auf die Frage eines Schülers, der wissen möchte, wie in Zukunft mit Impfgesetzen umzugehen ist, „der Welt die Vollkommenheit nicht aufzuzwingen“ (M. Baker Eddy, Erste Kirche …, 344), sprich: Sie plädiert für die Einhaltung der Gesundheitsgesetze bei fortgesetzter geistiger Hygiene.
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In Wissenschaft und Gesundheit kommt das Adjektiv ‚educated‘ öfters auch in negativen Kontexten vor, was dafür spricht, dass christlich-wissenschaftliche Eltern sich häufig damit konfrontiert sehen, dass ihre Kinder durch die gängige, materialistisch orientierte Weltsicht eher ‚verzogen‘ als ‚erzogen‘ werden: Durch die „kultivierten Sinne“ („educated senses“)109 erfahren Menschen auf eine bestimmte Weise körperliche Freude und Schmerz, streben folglich nach sinnlicher Befriedigung oder materiellem Genuss110, und so werden allmählich „Selbstsucht und Sinnlichkeit (…) im sterblichen Gemüt durch die Gedanken großgezogen“ („educated in mortal mind“).111 Die weltliche Erziehung zur Sinnlichkeit aber, so Eddy, blockiere die spirituelle Entwicklung112 und ignoriere die wahre, geistige Natur des Menschen.113 In diesem Sinne spricht sie auch metaphorisch von „den Erziehungssystemen der Pharaonen (…), die heute wie vor alters die Kinder Israels im Frondienst“114 hielten. Den Pharaonen ihrer Zeit hält Eddy das Diktum entgegen: „Alle Erziehung sollte zu sittlicher und körperlicher Kraft und Freiheit beitragen.“115 Daher muss und wird die Erziehung der Zukunft ihrer Meinung nach „eine Unterweisung in der geistigen Wissenschaft sein.“116 Es klingt fast millenaristisch, wenn Eddy – anknüpfend an ihr Kapitel über die Ehe in Wissenschaft und Gesundheit, in dem ihre Überzeugung von einer spirituellen Evolution der Menschheit offenkundig wird – schreibt: „Zur Zeit wird eine geistigere Empfängnis und Erziehung der Kinder die Überlegenheit der geistigen Kraft über die sinnliche veranschaulichen und so das Heraufdämmern der Gottesschöp109 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit ..., 195; M. Baker Eddy, Science and Health ..., 195. 110 Vgl. hierzu auch M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 9. 111 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit ..., 260; M. Baker Eddy, Science and Health ..., 260. 112 Vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit ..., 260 113 Vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit ..., 60. 114 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit ..., 226. Der im Alten Testament geschilderte Auszug aus Ägypten wird nicht als historische Begebenheit betrachtet, sondern geistig ausgelegt. Die Gefangenschaft der Israeliten wird als Metapher für die Sklaverei der Materie aufgefasst: Die Menschen sind nicht nur dem Diktat ihrer körperlichen Sinne unterworfen, sondern werden zudem von den Pharaonen – einem Sinnbild für eine materialistische Gesellschaftsordnung, die den Zugang zur Wahrheit durch falsche Theorien und Lehren unterdrückt – in ihrem illusionären Dasein festgehalten. 115 M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 240. 116 M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 61.
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fung ankündigen, in der sie [die Kinder] (…) gleichwie die Engel sind.“117 Geistige Bildung, in Eddys Sinne, soll dazu beitragen, dass nicht die materiellen, sondern die spirituellen Sinne zur Entfaltung gebracht118 und die Affekte zu höheren Quellen geführt werden.119 Eine solche Pädagogik münde schließlich darin, dass die Kinder eine natürliche Liebe zu Gott und dem Guten entwickeln. In den vermischten Schriften findet sich unter der Rubrik ‚Fragen und Antworten‘ folgende Frage: „Wie kann ich ein Kind metaphysisch leiten? Wird der Gebrauch der Rute es nicht lehren, daß in der Materie Leben sei?“ Eddy antwortet: „Die Rute gebrauchen heißt tatsächlich, dem Gemüt des Kindes einprägen, die Materie habe Empfindung. Beweggründe bestimmen die Handlung und Gemüt regiert den Menschen. Wenn Sie dem Kind die rechten Beweggründe zum Handeln klarmachen und es dahin bringen, sie zu lieben, wird es richtig geleitet werden: wenn Sie es dazu erziehen, Gott, das Gute, zu lieben und der Goldenen Regel zu gehorchen, wird es Sie lieben und Ihnen gehorchen, ohne daß Sie Zuflucht zu körperlicher Züchtigung nehmen müssen.“120
Das Verhältnis des Vater-Mutter-Gottes zu seinen Kindern, das von vollkommener gegenseitiger Liebe getragen ist, wird zur Richtschnur für eine immer geistiger werdende menschliche Eltern-Kind-Beziehung erhoben.121 Denn auch Gott straft seine Kinder nicht mit Krankheit oder physischem Schmerz – „Seine Zuchtrute ist Liebe“, ein „Gnadenmittel“122, das stets zur Korrektur des Gemüts und zur spirituellen Bewusstseinsentwicklung beiträgt:
117 M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 286 (Hinzufügung von F.J.). 118 Vgl. M. Baker Eddy, Christliches Heilen. Eine in Boston gehaltene Predigt, Boston [o.A.]1975, 14. 119 Vgl. M. Baker Eddy, Vermischte Schriften ..., 235. 120 M. Baker Eddy, Vermischte Schriften ..., 51. 121 Das Bild von Gott als einem liebenden Vater und die damit einhergehende Relativierung der Idee, dass die Beziehung zwischen Gott und Mensch einem KönigUntertanen-Verhältnis gliche, spielte besonders auch im neuenglischen Arminianismus eine zentrale Rolle. Hierzu vgl. D. P. Buchanan, „Tares in the Wheat. Puritan Violence and Puritan Families in the Nineteenth-Century Liberal Imagination“, in: Religion and American Culture. A Journal of Interpretation 8, 1998, 205– 236, 209–210. 122 M. Baker Eddy, Vermischte Schriften…, 127, 288.
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„Alle Zustände und Stadien menschlichen Irrtums werden dadurch bekämpft und überwunden, daß die göttliche Wahrheit den Irrtum in der von Gott verordneten Weise verneint. ‚Welchen der Herr liebhat, den züchtigt Er.‘ Seine Rute zeigt Seine Liebe und legt den Sterblichen das Evangelium des Heilens aus.“123
Mit dieser innovativen Bibelauslegung und der kategorischen Ablehnung körperlicher Bestrafungen distanziert sich Eddy von einem bestimmten puritanischen Erziehungsideal124 und schlägt sogar einen radikaleren Kurs ein als die progressivsten Schulreformer Amerikas des 19. Jahrhunderts: Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich im Nordosten der USA eine öffentliche Kontroverse um den Gebrauch der Rute im Allgemeinen – also auch im Bezug auf Seefahrt, Gefängnisstrafen oder Sklavenhaltung – und in der Schule im Speziellen.125 Die Praxis, Kinder im Klassenzimmer zu demütigen oder zu züchtigen, wurde zusehends als ‚barbarisch’ angesehen.126 Schulrefor123 M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 208. 124 Auf der Basis bestimmter Bibelstellen – beispielsweise Spr 3,12, also der Stelle, die auch Eddy im obigen Zitat verwendet hat – wurde die Körperstrafe nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar als christliche Erziehungspflicht der Eltern angesehen. Gekoppelt mit einem negativen Bild des Kindes, das als von Natur aus böse und sündhaft angesehen wurde, führte dies im puritanischen Kontext des 17. Jahrhunderts zu Aussagen wie: „Better whipt, than Damn’d!“ (C. Mather zitiert nach: E. S. Morgan, The Puritan Family …, 103) Morgan bestätigt zwar, dass der Rohrstock vielfach und teils hart eingesetzt wurde. Er bezweifelt aber, dass die Häufigkeit der körperlichen Züchtigung im Vergleich zum 20. Jahrhundert höher gewesen sei. Zu einer eingehenden Betrachtung der entsprechenden Stellen im biblischen Buch der Sprüche vgl. W. P. Brown, „To Discipline without Destruction. The Multifaceted Profile of the Child in the Proverbs“, in: M. C. Bunge; T. E. Fretheim; B. R. Gaventa (Hg.), The Child in the Bible, 63–81; P. Greven, Spare the Child. The Religious Roots of Punishment and the Psychological Impact of Physical Abuse, New York 1991, 47–49; Zum Zusammenhang von Körperstrafe und puritanischem Glauben vgl. z.B. auch G. F. Moran; M. A. Vinovskis, „The Great Care ...“, 29. Die Persistenz bestimmter Argumentationsmuster im konservativen Protestantismus und der Praxis körperlicher Bestrafung von Kindern wird in folgender quantitativen Studie erörtert: C. G. Ellison; D. E. Sherkat, „Conservative Protestantism and Support for Corporal Punishment“, in: American Sociological Review 58, 1993, 131–144. 125 Vgl. M. C. Glenn, Campaigns Against Corporal Punishment. Prisoners, Sailors, Women, and Children in Antebellum America, New York 1984. 126 Vgl. M. C. Glenn, „School Discipline and Punishment in Antebellum America“, in: Journal of the Early Republic 1, 1981, 395–408, 395–396. Carl Kaestle stellte die These auf, dass es deshalb Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem breiten Wider-
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mer wie der von Pestalozzi beeinflusste neuenglische Politiker und Pädagoge Horace Mann (1796–1859) kritisierten die körperliche Bestrafung von Kindern nicht nur als eine unmenschliche, sondern zudem als eine ineffektive Erziehungsmaßnahme: „Mann repeatedly argued that punishment made an offender ‚cease to do ill‘ but never made ‚him love to do well‘.“127 Wie Eddy, so argumentiert auch Mann vor ihr, dass die Züchtigung lediglich negative Emotionen kultivieren würde und es folglich besser wäre, die moralische Charakterentwicklung sowie die freiwillige Selbstkontrolle des Kindes nach Kräften zu fördern.128 Jedoch: Selbst Reformer wie Mann traten nicht für den völligen Verzicht von körperlicher Bestrafung im Klassenzimmer ein. Besonders im Hinblick auf große Schulklassen und auf Kinder, die der sozialen Unterschicht angehörten und entsprechend unerzogen seien, sollte dem Lehrer die Option offen gehalten werden, im Extremfall die Ordnung in der Klasse durch Züchtigungen zu wahren oder wieder herzustellen.129 Auch der besonders für seine Fibel bekannte Lehrer Lyman Cobb (1800–1864), der in seiner bereits 1847 publizierten Polemik Evil Tendency of Corporal Punishment fragt „Then why persist in flogging children instead of influencing them by principles of morality and religion?“ und somit auch die biblische Legitimation der Züchtigung hinterfragt („We, as a Christian nation, should look to the moral and religious effect on the child, thus punished“),130 kritisiert vornehmlich den Missbrauch der Rute, d.h. deren brutalen oder übermäßigen Einsatz, und wendet sich nicht prinzipiell gegen körperliche Bestrafung: Obwohl stand gegen die Disziplinierung von Schulkindern gekommen sei, weil die Eltern befürchteten, dass ihre eigne Autorität und Kontrolle dadurch untergraben werden könnte, und die traditionelle Erzieherrolle drohte sich vom familiären in den schulischen Kontext zu verlagern (vgl. („Social Change, Discipline, and the Common School in Eraly Nineteenth-Century America“, in: Journal of Interdisciplinary History 9, 1978, 1–17; C. F. Kaestle; M. A. Vinovskis, „From Apron Strings to ABCs. Parents, Children, and Schooling in Nineteenth-Century Massachusetts“, in: The American Journal of Sociology 84, 1978, S39-S80, S41). Vor diesem Hintergrund gewinnt Eddys Aussage weiter an Gewicht – bezieht sie sich doch damit nicht auf den schulischen, sondern auf den familiären Bereich. 127 M. C. Glenn, „School Discipline …“, 400–401. 128 Vgl. L. A. Cremin, The Transformation of the School. Progressivism in American Education, 1876–1957, New York 1964, 11. Zum „quantum shift in the purposes, methods, and importance of school discipline in the nineteenth-century America” vgl. auch C. F. Kaestle, „Social Change ...“, 2–3. 129 Vgl. M. C. Glenn, „School Discipline …“, 407–408. 130 L. Cobb, The Evil Tendencies of Corporal Punishment as a Means of Moral Discipline in Families and Schools, Examined and Discussed, New York 1847, 8, 10.
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Cobb betont, dass der Lehrerberuf verantwortungsvoll und nobel sei und er es mit den zarten und formbaren Gemütern von Kindern („with the tender and plastic mind of childhood“131) zu tun hätte, hält er die physische Disziplinierung als letztes Mittel der Erziehung weiterhin für legitim.132 Mit Verweis auf die Arbeit von Thomas Haskell stellt William Reese heraus, dass viele Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts (Pazifismus, Frauenund Kinderrechte, Umgang mit Kranken oder Armen etc.) von religiösen Dissidenten forciert wurden (z.B. von den Quäkern).133 In gewisser Hinsicht kann auch die Christliche Wissenschaft als Teil dieser größeren Bewegung betrachtet werden – auch wenn die Rolle Eddys in dieser widersprüchlichen Zeit sozioökonomischer, politischer und religiöser Umwälzungen nicht immer eindeutig bestimmt werden kann: So lassen sich in ihrer Lehre sowohl progressive Elemente finden – z.B. das positive Bild von der Natur des Kindes oder der ausdrückliche Verzicht auf die Körperstrafe – als auch konservative. Denn ihr Ideal von einer geistigeren Kindererziehung scheint in mancher Hinsicht auf frühen puritanischen Kindheits- und Erziehungsvorstellungen zu basieren: Puritanische Eltern glaubten, nicht nur für das materielle Wohl ihrer Kinder verantwortlich zu sein, sondern vor allem auch dafür, dass die Voraussetzungen für das Seelenheil ihrer Kinder erfüllt sind.134 Nach dem von Cotton Mather (1663–1728) formulierten Prinzip „Young Saints will make Old Angels“135 galt es, Kindern möglichst früh und schnell eine grundlegende Kenntnis von der Bibel und ihren Geboten zu vermitteln, weshalb bereits Kleinkinder im Alter von 4–7 Jahren im Lesen (der Bibel) unterrichtet wur-
131 L. Cobb, The Evil Tendencies ..., 219. 132 Hierzu vgl. auch B. Finkelstein, „A Crucible of Contradictions. Historical Roots of Violence against Children in the United States“, in: History of Education Quarterly 40, 2000, 1–21, 7. 133 Vgl. W. J. Reese, „The Origins of Progressive Education“, in: History of Education Quarterly 41, 2001, vi+1–24, 4; T. L. Haskell, Objectivity is not Neutrality. Explanatory Schemes in History, Baltimore 1998, Kapitel 8–9. 134 Das Ziel puritanischer Erziehung war die Vorbereitung auf das innere Bekehrungserlebnis des Menschen: „[T]he main business of education was to prepare children for conversion by teaching them the doctrines and moral precepts of Christianity.“ (E. S. Morgan, The Puritan Family …, 90) Allerdings war Erziehung kein Mittel, um Erlösung zu erlangen. Sie konnte zwar eine Hilfe sein, oft sogar eine notwendige Bedingung – entscheidend aber blieb die Erwählung durch die Gnade Gottes. (vgl. E. S. Morgan, The Puritan Family …, 92, 95) 135 C. Mather zitiert nach: E. S. Morgan, The Puritan Family…, 96.
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den.136 Das Ideal des frühen Unterrichts erreichte Anfang des 19. Jahrhunderts einen zeitweiligen Höhepunkt als sich die Kinderschulbewegung in Amerika ausbreitete: Ursprünglich gedacht als Erziehungshilfe für arme Kinder im Alter von 2–4 Jahren, waren z.B. in Massachusetts der 1830iger1840iger Jahre bereits 40–50 % der Dreijährigen in privaten oder öffentlichen Schulen eingeschrieben.137 Obwohl es auch in puritanischen Familien und Schulen Raum für Spiel gab – schon der Geistliche John Cotton (1585– 1652), der zur ersten Puritanergeneration in Neu England gehörte, sah es nicht als verwerflich an, wenn Kleinkinder spielten, da sie in den ersten Jahren ihres Lebens weder der Arbeit noch des Studiums fähig seien138 –, wurde diese Form frühkindlicher Beschulung Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend als nicht kindgerecht, ungesund und zu einseitig kritisiert. Zwischen 1830 und 1920 war der Begriff ‚Frühreife‘ (precocity) negativ konnotiert und diente der Polemik gegen pädagogische Versuche, die religiöse und intellektuelle Entwicklung des Kindes zu beschleunigen.139 Der amerikanische Psychiater Amariah Brigham (1798–1849) bezeichnete geistige Frühreife („Mental Precocity“) gar als eine Krankheit („a disease“) und trug mit seiner medizinischen Kritik maßgeblich zu einer Änderung des Schul- und Erziehungssystems bei.140 Nachhaltigen Einfluss auf die sich dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausformende ‚neue‘ Pädagogik in Amerika hatten vor allem auch die Erziehungskonzepte des schweizerischen Schul- und Sozialreformers Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) und seines Schülers, Friedrich Wilhelm August Fröbel (1782–1852), jenes deutschen Pädagogen, auf den der Begriff ‚Kindergarten‘ zurückgeht.141 Pestalozzi sprach sich für „Real136 Vgl. E. S. Morgan, The Puritan Family…, 88; G. F. Moran; M. A. Vinovskis, „The Great Care ...“, 30–31; C. F. Kaestle; M. A. Vinovskis, „From Apron Strings to ABCs ...“, S42. 137 G. F. Moran; M. A. Vinovskis, „The Great Care ...“, 31. Generell zur Geschichte des Unterrichts sehr junger Kinder im kolonialen Amerika vgl. C. F. Kaestle; M. A. Vinovskis, „From Apron Strings to ABCs ...“. 138 Vgl. E. S. Morgan, The Puritan Family ..., 66. Hierzu siehe auch: C. J. Sommerville, „Puritan Humor, or Entertainment, for Children“, in: Albion. A Quarterly Journal Concerned with British Studies 21, 1989, 227–247. 139 G. F. Moran; M. A. Vinovskis, „The Great Care ...“, 32; vgl. auch: S. Fleming, Children & Puritanism, New York 1969, 178–182. 140 A. Brigham (1833) zitiert nach: C. F. Kaestle; M. A. Vinovskis, „From Apron Strings to ABCs ...“, S58. 141 Vgl. W. J. Reese, „The Origins …“, 8.
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kenntnisse“ und „gegen Buchstabenkenntnisse“142 aus, er wollte im Klassenzimmer und in der Erziehung auf die „Kraft der Anschauung“ setzen, auf den Unterricht mit Gegenständen und in der Natur, und nicht mehr bloß auf den „Schall und Laut“143 der Worte. Er erklärt: „Der Mechanismus der sinnlichen Menschennatur ist in seinem Wesen den nämlichen Gesetzen unterworfen, durch welche die physische Natur allgemein ihre Kräfte entfaltet. Nach diesen Gesetzen soll aller Unterricht das Wesentlichste seines Erkenntnißfaches unerschütterlich tief in das Wesen des menschlichen Geistes eingraben, (…).“144
Joseph Neef (1770–1854) war der erste Pädagoge, der Pestalozzis Ideen durch sein bereits 1808 veröffentlichtes Buch Sketch of a Plan and Method of Education in den USA bekannt machte und es in Schulen systematisch praktizierte.145 Während die traditionelle puritanische Erziehung dazu neigte, die geistige Seite des Menschen zu betonen, strebte Neef die Integration und harmonische Entwicklung moralischer, intellektueller und physischer Kräfte an.146 Die Betonung des Objekt-Lernens und die steigende Praxis- und Körperorientierung in der schulischen Ausbildung wurde von der Industrialisierung in der Nachbürgerkriegszeit weiter begünstigt: Kinder sollten nicht nur für ‚höhere‘ oder religiöse Ziele ausgebildet werden, sondern auch im Hinblick auf technische Berufe. Besonders der an der Washington University lehrende Calvin M. Woodward (1837–1915) sprach sich für ein Erziehungssystem aus, in dem nicht nur Männer des Wissens („men of knowledge“), 142 J. H. Pestalozzi, „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. Ein Versuch den Müttern Anleitung zu geben, ihre Kinder selbst zu unterrichten“, in: A. Buchenau; E. Spranger; H. Stettbacher (Hg.), Pestalozzi. Sämtliche Werke, 13. Band, Berlin, Leipzig 1932, 181–359, 190. 143 J. H. Pestalozzi, „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt …“, 235. 144 J. H. Pestalozzi, , „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt …“, 246. 145 Vgl. G. L. Gutek, Joseph Neef. The Americanization of Pestalozzianism, Alabama 1978, 128; W. S. Monroe, History of the Pestalozzian Movement in the United States, New York 1969, 77–78. 146 Vgl. G. L. Gutek, Joseph Neef …, 89–90. Ein anderer, rezeptionsgeschichtlich wahrscheinlich wichtigerer, amerikanischer Populisator pestalozzi’scher Konzepte war Edward Austin Sheldon (1823–1897), der Gründer eines pädagogischen Sozialprojekts, das als ‚Oswego Movement‘ in die Geschichte eingehen sollte. Ausführlich hierzu: W. S. Monroe, History of the Pestalozzian Movement …, Kapitel VIII; N. H. Dearborn, Oswego Movement in American Education, New York 1974.
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sondern auch Männer der Tat („men of skill“) ausgebildet werden.147 Solche Lehrmethoden wurden aber nicht nur positiv aufgenommen, sondern auch kritisiert: William T. Harris (1835–1909) zum Beispiel, ein Pädagoge und Philosoph, der sich vor allem auf die spekulative Philosophie Hegels berief, sah die Unterrichtung des ganzen Jungen („the whole boy“) als eine Gefahr an, die dazu führen könnte, dass die Kinder ein beschränktes Selbstverständnis lernten und nicht genügend dazu befähigt würden, ihre geistigen Fähigkeiten zu entfalten.148 Eddy erwähnt in ihren Werken zwar weder Pestalozzi noch Fröbel. Aber aus ihren anthropologischen Vorstellungen und den bislang rekonstruierten pädagogischen Ansichten lässt sich unschwer schließen, dass die Gründerin der Christlichen Wissenschaft, der nachgesagt wird, über Umwege von Hegels Religionsphilosophie beeinflusst gewesen zu sein,149 eher der idealistischen Position eines Harris zuneigte als den progressiven Ideen der von Pestalozzi beeinflussten Schulreformer. Vergegenwärtigt man sich, dass Pestalozzi die Naturgesetze, nach denen auch der sinnlich-physische Mensch funktioniere, „unerschütterlich tief in das Wesen des menschlichen Geistes eingraben“ wollte und dieses Erziehungsideal mit religiösem Eifer verfolgte, so erscheint die auf geistige Hygiene bedachte Pädagogik Eddys, in der es im Wesentlichen darum geht, das kindliche Gemüt von allen menschlichen Annahmen über die materielle Welt rein zu halten, fast als spirituelles Gegenprogramm.150 Eddy legt – aufgrund ihres Welt- und Menschenbildes – keinen Wert auf holistische Erziehung: Das wahre Gotteskind ist nur Geist und das 147 C. M. Woodward zitiert nach: L. A. Cremlin, The Transformation …, 26. 148 L. A. Cremlin, The Transformation …, 31. 149 Zu der Kontroverse vgl. den Vorwurf von: W. M. Haushalter, Mrs. Eddy Purloins from Hegel. Newly Discovered Source Reveals Amazing Plagiarisms in Science and Health, Boston 1936; und zur kritischen Aufklärung durch einen christlichwissenschaftlichen Kirchenhistoriker: T. C. Johnsen, „Historical Consensus and Christian Science. The Career of a Manuscript Controversy“, in: The New England Quarterly 53, 1980, 3–22. 150 Ein genauerer Vergleich der Ideen von Pestalozzi, einem pietistisch erzogenen Christen, und Eddy würde jedoch nicht nur Gegensätze, sondern auch interessante konzeptuelle Kongruenzen zu Tage fördern. Die Erziehungsvorstellungen überschneiden sich beispielsweise in der grundsätzlich positiven Auffassung von der Natur des Kindes. Zum anderen liegt in der Betonung der Mutter und ihrer Liebe eine große Übereinstimmung, die (zumindest sprachlich!) dadurch verstärkt wird, dass Pestalozzi die „Zeitweiber“ bzw. das „Weltweib“ und das „Weltkind“ der wahren Mutter und dem „Kind der Methode“ gegenüberstellt. Hierzu vgl. z.B. die sehr gute Analyse von: V. Kraft, Pestalozzi oder das pädagogische Selbst. Eine Studie
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irrende sterbliche Gemüt des Kindes muss möglichst früh lernen, zu verstehen und zu erkennen, dass die von erdachten Naturgesetzen gesteuerte Welt eine Illusion ist. Ähnlich wie ihre puritanischen Vorfahren – nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie das Wesen des Kindes nicht als von Geburt an sündhaft, sondern als von der Welt noch unverdorben ansieht151 –, setzt auch Eddy auf die frühzeitige geistige Unterweisung des Kindes durch die Eltern und in der Schule: „Man sollte Kinder das Heilen durch WAHRHEIT, Christian Science, als eine der ersten Lektionen lehren (…).“152 Im Alter von circa 3 bis 21 Jahren können Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene die christlichwissenschaftliche Sonntagsschule besuchen,153 eine Institution, die am 25. Oktober 1885 von Eddy gegründet wurde154 und ebenfalls als ein spezifisches Produkt des 19. Jahrhunderts anzusehen ist.155 In der letzten Auflage (1910) des Kirchenhandbuchs verfügt Eddy: zur Psychoanalyse pädagogischen Denkens, Bad Heilbrunn 1996, Kapitel 7.4.3 und 7.4.4. 151 Der amerikanische Geistliche und Präsident der Harvard-Universität, Benjamin Wadsworth (1670–1773), zeichnete ein besonders finsteres Bild vom Wesen der Kinder: „Their Hearts naturally, are a meer nest, root, fountain of Sin, and wickedness; an evil Treasure from whence proceed evil things, viz. Evil Thoughts, Murders, Adulteries &c. Indeed, as sharers in the guilt of Adam’s first Sin, they’re Children of Wrath by Nature, liable to Eternal Vengeance, the Unquencheable Flames of Hell.“ (B. Wadsworth zitiert nach: E. S. Morgan, The Puritan Family …, 93) Man vergleiche diese Aussage beispielsweise mit dieser Ansicht Eddys: „Wenn die ersten Eindrücke der Unschuld richtig geformt werden, so trägt dies dazu bei, die Reinheit zu erhalten und das unsterbliche Urbild, den zu Seinem Bild und Gleichnis geschaffenen Menschen, zu entfalten.“ (M. Baker Eddy, Erste Kirche …, 261) 152 M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 237. 153 Im Kirchenhandbuch steht lediglich festgeschrieben, dass die Sonntagsschule mit dem Beginn des 21. Lebensjahres definitiv endet. (vgl. M. Baker Eddy, Handbuch …, 62) Dass ein Mindestalter nicht vorgeschrieben wird, könnte dafür sprechen, dass die Kinder so früh wie individuell möglich an der Schule teilnehmen. 154 Vgl. M. Baker Eddy, Die Erste Kirche ..., 54–55. Offenbar hat es jedoch bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine inoffizielle Sonntagsschule gegeben. In Eddys Autobiographie heißt es über Asa Gilbert Eddy, ihren bereits 1882 verstorbenen dritten Ehemann: „Er richtete als erster eine christlich-wissenschaftliche Sonntagsschule ein, deren Vorsteher er war.“ (M. Baker Eddy, Rückblick …, 42; vgl. auch M. Baker Eddy, Kanzel und Presse …, 46) 155 Ausführlich wird die Geschichte amerikanischer Sonntagsschulen beschrieben von: A. M. Boylan, Sunday School. The Formation of an American Institution, 1790– 1880, New Haven, London 1988.
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„Das Unterrichten der Kinder. ABSCHN. 2. Die Kinder in der Sonntagsschule sollen in der Heiligen Schrift unterwiesen werden, und der Unterricht soll ihrem Verständnis angepaßt sein, sowie ihrer Fähigkeit, die einfachere Bedeutung des göttlichen Prinzips, das sie gelehrt werden, zu erfassen. Gegenstand der Lektionen. ABSCHN. 3. Die ersten Lektionen der Kinder sollten sein: die Zehn Gebote (2. Mose 20:3–17), das Gebet des Herrn (Matth. 6:9–13) und dessen geistige Auslegung von Mary Baker Eddy sowie die Bergpredigt (Matth. 5:3–12). Die darauffolgenden Lektionen bestehen aus Fragen und Antworten, die sich für eine Klasse von jugendlichen Schülern eignen; (…).“156
Während Eddy mehrfach explizit auf die sich erst entwickelnden kognitiven Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen eingeht, gibt es andere Passagen, in denen das Erkenntnispotential von Kindern dem Verständnis erwachsener Christlicher Wissenschaftler/innen gleichgesetzt oder davon ausgegangen wird, dass es dieses sogar übersteigt. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Eddy – puritanischer Tradition folgend157 – der Auffassung war, dass das Gemüt des Kindes zunächst einer tabula rasa gliche158 und es deshalb – hierbei wiederum einem frühen puritanischen Bild vom Kind widersprechend159 –
156 M. Baker Eddy, Handbuch ..., 62–63. 157 Im Hinblick auf puritanische Kindheitsvorstellungen bemerken G. F. Moran und M. A. Vinovskis („The Great Care ...“, 29): „The child‘s mind was considered an empty receptacle, one that had to be infused with the knowledge gained from careful instruction and education. While evil had to be restrained in the child, his mind had to be enlightened.“ Laut E. Hermsen (Faktor Religion…, 207) diente die Idee der tabula rasa als „grundlegende Vorstellung christlicher Erziehung“ generell. 158 „Man kann dem Inhalt eines Gefäßes, das schon voll ist, nichts hinzufügen. Langwierige Bemühungen, bei einem Erwachsenen das Vertrauen auf die Materie zu erschüttern und ihm ein Körnchen Glauben an GOTT einzuprägen – (…) –, haben die Autorin oft an die Liebe unseres Meisters für kleine Kinder erinnert und sie verstand, dass solchen wahrlich das Himmelreich gehört.“ (M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 130) 159 Oft werden die Worte Jonathan Edwards (1703–1758) zitiert, um zu belegen, dass im Puritanismus der amerikanischen Kolonialzeit eine eher negative Auffassung vom Wesen des Kindes vorherrschte:
„As innocent as children seem to be to us, yet if they are out of Christ, they are not so in God‘s sight, but are young vipers, and are infinitely more hateful than vipers, and are in a most miserable condition, as well as grown persons; and they are naturally very senseless and stupid, (...) , and need much to awaken
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einfacher sei, den noch unverdorbenen Geist in der Wahrheit des Seins zu unterrichten. In ihrer Diktion: „Ein Kind kann die Christliche Wissenschaft durchaus verstehen, denn durch seinen schlichten Glauben und seine Reinheit nimmt es ihren geistigen Sinn, der dem Erwachsenen rätselhaft ist, in sich auf. Das Kind nimmt die Christliche Wissenschaft nicht nur bereitwilliger an als der Erwachsene, sondern betätigt sie auch. Diese bemerkenswerte Tatsache beweist, daß der sogenannte Nebel dieser Wissenschaft nicht in der Wissenschaft vorhanden ist, sondern in der materiellen Auffassung, die der Erwachsene über sie hegt.“160
Bereits 1933, also lange vor J. H. van den Bergs Metabletica161 bzw. vor der Formulierung von P. Ariès’ These von der Entdeckung der Kindheit, behaupthem.“ ( J. Edwards, “The Great Awakening” (1758), in: C. C. Goen (Hg.), The Great Awakening, New Haven 1972, 394)
Das negative Bild des Kindes änderte sich, so die gängige Auffassung, in der romantischen Ära Amerikas: In diesem Zusammenhang wird häufig auf Horace Bushnell (1802–1876) hingewiesen, dessen Schrift Christian Nurture (1861) großen Einfluss auf zeitgenössische Kindheits- und Erziehungsvorstellungen gehabt haben soll (vgl. z.B. P. G. Slater, Children in the New England Mind. In Death and in Life, Hamden 1977, 161–164). Dabei wird oft übersehen, dass Edwards in der oben zitierten Passage explizit gegen die natürliche Unschuld der Kinder argumentierte, was im Umkehrschluss bedeutet, dass es eine Vielzahl von Gläubigen gegeben haben muss, die dazu tendierten, Kinder als unschuldige Wesen wahrzunehmen und gegen die sich Edwards Warnung richtete. Zumindest scheint die Natur des Kindes schon im frühen 18. Jahrhundert umstrittener gewesen zu sein als dies einige an linearen Fortschrittsmodellen orientierte religions- und kindheitsgeschichtliche Darstellungen nahe legen. Diese Ambivalenz bzw. dieses Nebeneinander gegensätzlicher Kindheitsvorstellungen könnte für die schon in Fußnote 19 angesprochene Theorie von Philip Greven sprechen. Greven geht davon aus, dass verschiedene protestantische Temperamente gleichzeitig die frühe Religionsgeschichte Amerikas prägten und sich nicht in eine strenge historische Reihenfolge bringen ließen. Hierzu vgl. insbesondere den Abschnitt „EmbryoAngels or Infant Fiends?“ in: P. Greven, The Protestant Temperament, 28–31. 160 M. Baker Eddy, Vier Botschaften …, 6. Ähnliche Aussagen werden auch getroffen in: M. Baker Eddy, Erste Kirche ..., 113 oder z.B. M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 53. 161 E. Hermsen („Kindheitsentwürfe ...“, 255) weist darauf hin, dass der niederländische Psychologe J. H. van den Berg (Metabletica of Leer der veranderingen. Beginselen van een historische psychologie, Nijkerk 1956) vor Ariès auf die Geschichtlichkeit der Kindheit aufmerksam gemacht hätte.
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tete Sandford Fleming, dass Kinder im puritanisch geprägten kolonialen Amerika als Miniaturerwachsene („miniature adults“) angesehen worden wären, d.h. dass es keine Differenzierung zwischen Kind und Erwachsenen gegeben hätte.162 Die Mutmaßung geht wahrscheinlich auf einen Satz zurück, der 1828 in der Novemberausgabe der Zeitschrift The Spirit of the Pilgrims geäußert und der von Fleming in einem anderen Kontext aufgegriffen wurde: „[C]hildren possess the same mental faculties as adults – they are, in fact, men and women in miniature – and consequently, the same means are to be used to promote their conversion as are used for the spiritual benefit of those in riper years.“163 Als Argumente für die Untermauerung seiner These führt Fleming weiterhin den Umstand an, dass es keine speziell auf kindliche Bedürfnisse abgestimmte Gottesdienste gab und er verweist auf den erwachsenen Ton von Kinderbriefen164 sowie auf die frühe Arbeit von Alice Morse Earle, die Kinderporträts aus dem 18. Jahrhundert analysiert hat. Er resümiert: „As yet the child had not been discovered, and there was no understanding of his real nature and needs.”165 Im Hinblick auf die Christliche Wissenschaft lässt sich abschließend festhalten, dass Eddy insofern einen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen machte, als sie einen auf die kognitiven Entwicklungsstufen der Kinder abgestimmten geistigen Unterricht forderte. Allerdings ist diese Grenzzie162 Vgl. S. Fleming, Children & Puritanism, 60. 163 Anonym, „On Christian Education“, in: The Spirit of the Pilgrims 1, 1828, 561–572, 564 (Kursivdruck von F.J.); auch zitiert in: S. Fleming, Children & Puritanism, 119. 164 E. B. Holifield („Let the Children Come. The Religion of the Protestant Child in Early America”, in: Church History 76, 2007, 750–777) hat zwar keine Kinderbriefe, wohl aber 44 Kindertagebücher ausgewertet, um die bislang kaum rekonstruierte Innenperspektive der Kinder zu analysieren, und stellte dabei fest, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod sowie mit einem tugendhaften Leben die beiden dominanten Motive dieser Literaturgattung waren. 165 S. Fleming, Children & Puritanism, 61. Besonders das auch von Ariès gebrauchte kunsthistorische Argument, das von R. Frenken in diesem Band kritisch hinterfragt wird, wurde Anfang der 1970iger Jahre mit Rekurs auf A. M. Earle (Child Life in Colonial Days, New York 1899) aufgegriffen und führte zu einer Wiederholung von Flemings These. (vgl. G. F. Moran; M. A. Vinovskis, „Great Care …“, 29) Die These wird z.B. vertreten von: M. Zuckerman, Peaceable Kingdoms. New England Towns in the Eighteenth Century, New York 1970, 73; J. Demos, A Little Commonwealth. Family Life in Plymouth Colony, New York 1970, 139. Gegen diese These wenden sich: D. E. Stannard, „Death and the Puritan Child“, in: American Quarterly 26, 1974, 456–476, 456–457; J. Axtell, The School upon a Hill. Education and Society in Colonial New England, New Haven 1974.
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hung lediglich als eine vorübergehende Konzession Eddys an die von Menschen konstruierte Psychologie ihrer Zeit zu verstehen. Von einem absoluten Standpunkt aus betrachtet verschwimmt die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen wieder, da beide in letzter Wirklichkeit Gotteskinder werden sollen bzw. sind. Wird der Begriff ‚Kind’ geistig verstanden, als eine Ausformung von Tugend, so ist es das – im Rückgriff auf die jesuanische Kinderliebe formulierte166 – spirituelle Ziel aller Christlichen Wissenschaftler/ innen den idealen Zustand des Kindseins in ihrem Leben zu verwirklichen. In diesem Sinne geht es weniger um die Erziehung des Kindes als vielmehr um die Kindwerdung der Erwachsenen: „Geliebte Kinder, die Welt braucht euch — und mehr als Kinder denn als Männer und Frauen: sie braucht eure Unschuld, Selbstlosigkeit, treue Liebe, eure unbefleckte Lebensführung. Ihr müßt auch wachen und beten, daß ihr diese Tugenden unbefleckt bewahrt und sie nicht durch die Berührung mit der Welt verliert.“167
Ausblick Von einem methodologischen Standpunkt aus betrachtet, setzt jede Analyse der mannigfaltigen Kindheiten Christlicher Wissenschaftler/innen das Verständnis der Kindheits- und Erziehungsvorstellungen Eddys als notwendigen ersten Schritt voraus. Der zweite Schritt besteht darin, die Kongruenzen und Diskrepanzen zwischen Eddys Lehre und der Praxis ihrer Anhänger/innen 166 „Wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“ (Lk. 18,17) Obgleich Eddy diesen Vers nur zweimal wörtlich zitiert (vgl. M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 382; M. Baker Eddy, Vermischte Schriften …, 344) und nur einmal auf die entsprechende Parallelstelle im Matthäusevangelium zurückgreift (Mt. 18,3) (vgl. M. Baker Eddy, Erste Kirche …, 4), rekurriert sie in ihren Schriften häufiger auf die jesuanische Kinderliebe. In einer aussagekräftigen Passage heißt es: „Kinder sind leichter zu lenken als Erwachsene und lernen bereitwilliger, die einfachen Wahrheiten zu lieben, die sie glücklich und gut machen werden. Jesus liebte kleine Kinder, weil sie frei von Unrecht und empfänglich für das Rechte sind. Während das Alter zwischen zwei Meinungen schwankt oder mit falschen Ansichten ringt, macht die Jugend leichte und schnelle Schritte zur WAHRHEIT hin.“ (M. Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit …, 236) 167 M. Baker Eddy, Vermischte Schriften ..., 110.
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analytisch auszuloten. Die zukünftig zu bearbeitende Frage, wie Kinder christlich-wissenschaftliche Erziehungsmethoden erfahren bzw. wie Christliche Wissenschaftler/innen ihre Kindheit erlebt und/oder ihre Kinder erzogen haben, gewinnt an Tiefenschärfe, wenn die hier rekonstruierten Konzepte zum Aufspannen eines analytischen Vergleichsrahmens genutzt werden. Das stetige dialektische Hin und Her innerhalb dieses Spannungsfeldes von Theorie und Praxis ermöglicht es, Kindheitserlebnisse und religiös legitimierte pädagogische Konzepte in schärferen Konturen hervortreten zu lassen und ein differenzierteres Bild von orthodoxen Handlungsmustern und unorthodoxen Praktiken zu zeichnen. Im Falle der Christlichen Wissenschaft, einer Buchreligion par excellence,168 ist es von besonderer Bedeutung, eine genaue Kenntnis der Kindheits- und Erziehungsvorstellungen der Religionsstifterin zu haben, weil die Beziehung zwischen Theorie (Eddys kanonischer Lehre) und Praxis (den individuellen Applikationen der Konzepte) dezidiert als hierarchisch zu konzipieren ist: „Of course, identifying the position of Christian Science on the major issues in dispute presents no problem, since it is by definition what Mrs. Eddy said it is.”169 Nichtsdestotrotz wird es aber um die Beschreibung eines dynamischen Netzwerks handelnder und historisch situierter Akteure (Kinder und Eltern) gehen, die zwar ein gemeinsames Symbolsystem als Ausgangspunkt für ihre Realitätskonstruktionen und Sprechge168 „Als Buchreligion“, so E. Hermsen (Faktor Religion ..., 205), „verfügt das Christentum über eine autoritative und normative Schrift, die entscheidend an der Gestaltung realer Kindheit – vor allem hinsichtlich des Erziehungsstils – beteiligt war.“ Was Hermsen hier im Hinblick auf „das Christentum“ sagt, trifft in gesteigertem Maße auf die Christliche Wissenschaft zu: In der Christlichen Wissenschaft gibt es z.B. keine Pastoren, die zwischen Bibel und Mensch vermitteln und dabei ihre eigene Persönlichkeit und Biographie einbringen, sondern Wissenschaft und Gesundheit, ein kanonisches Buch, das als „Schlüssel zur Heiligen Schrift“ fungiert, übernimmt weltweit und für jede/n Christliche/n Wissenschaftler/in die Pastorenrolle (vgl. die Fußnoten 25 und 26 oben). 169 S. Gottschalk, Encounter with American Culture..., 117. Das hermeneutische Problem ist damit jedoch nicht gelöst: Mit Sicherheit ist nicht zu sagen, „what Mrs. Eddy said it is.“ ‚Die‘ Lehre Eddys stellt kein statisch-homogenes Moment dar, sondern ist – wie mehr oder minder jeder Text – von narrativer Ambiguität gekennzeichnet. Zu diesem Problem der Multiperspektivität und potentiellen Auslegungsvielfalt kommt ein zweites, damit jedoch eng verknüpftes hinzu: Die Anwendung des im Lehrbuch ‚festgehaltenen‘ Wissens gleicht einer aktiven Übersetzungsarbeit, d.h. der Gläubige muss das durch eine interpretative Deutung angeeignete Wissensangebot kontextualisieren; er muss es zu einem bereichspezifischen und auf den Einzelfall bezogenen Wissen weiterentwickeln.
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wohnheiten gewählt haben, nämlich die in Wissenschaft und Gesundheit geistig ausgelegte King James Bible, insofern also eine vergleichsweise große intersubjektive Verstehensmenge ausgebildet haben, aber deshalb dennoch nicht dasselbe denken, glauben und – vor allem – tun müssen. An dem unausbleiblichen Umstand, dass jedes Kind und jede/r erwachsene Christliche Wissenschaftler/in auf seine eigene, komplex verschachtelte und brüchige Vorstellungswelt rekurriert und im Laufe der Zeit für seine Persönlichkeit charakteristische religiöse Gefühle und Expressionsformen prägt, können auch die von Eddy formulierten geistigen Gesetze und ihr teils exzessiv betriebener Antisynkretismus nur bedingt etwas ändern. Zudem sollte nicht nur der Vergleich zwischen dem rekonstruierten religiösen Symbolsystem und den beobachteten oder auf andere Weise erhobenen Erfahrungen und Handlungen im Vordergrund stehen, sondern auch die Frage, ob es habituelle Mechanismen oder Regeln gibt, die typischerweise zwischen den kognitiven Konzepten und deren praktischer Umsetzung vermitteln. Fritz Stolz hat diesen Zusammenhang klar beschrieben, wenn er ihn auch nicht explizit als zentrale Forschungsfrage formuliert; er schreibt: „Das religiöse Symbolsystem, nach dem der Religionswissenschafter fragt, ist also ein Geflecht von Konzeptionen, welche nach bestimmten Regeln zur Anwendung gelangen; aber diese Regeln selbst sind nicht gegeben, sondern nur Fälle ihrer Anwendung.“170 Hans Kippenberg hat nachdrücklich festgestellt, dass es ein „Desiderat oberster Ordnung“ sei, „zu wissen, ob und wie Schriftreligionen lebenspraktisch wirksam werden und sich mit Handlungen (alltäglichen und außeralltäglichen) verbinden.“171 Zwar geht er dabei prinzipiell von einer Diskrepanz zwischen Weltbild bzw. Glaubensanschauung (semantischer Bedeutung, Theorie) und Handlung (pragmatische Bedeutung, Praxis) aus. Aber er weist auch darauf hin, dass dieser spannungsreiche Zusammenhang von Schriftreligionen und Lebenspraxis, dem er „weder Kausalität noch Beliebigkeit“172 zugrunde legen will, nicht nur postuliert werden darf, sondern bewusst gesucht und zum Gegenstand religionswissenschaftlicher Forschung gemacht werden muss.
170 F. Stolz, Grundzüge der Religionswissenschaft, Göttingen 22001, 226. 171 H. G. Kippenberg, „Einleitung. Lokale Religionsgeschichte von Schriftreligionen. Beispiele für ein nützliches Konzept“, in: H. G. Kippenberg; B. Luchesi (Hg.), Lokale Religionsgeschichte, Marburg 1995 1995, 13–16, 13–14. 172 H. G. Kippenberg, „Lokale Religionsgeschichte …“, 16.
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Sozialisation und Lebenszyklus in der Biographie des Basler Arztes Felix Platter (1536–1614)* Tilmann Walter
Edmund Hermsen hat wissenschaftlich auf den Feldern der Ägyptologie, Religionswissenschaft und Kulturanthropologie gearbeitet. Befruchtet durch seine Erfahrungen als Psychotherapeut in humanistischer Ausrichtung nach Carl R. Rogers, verbanden sich in seinen Forschungen kulturgeschichtliche und entwicklungspsychologische Fragestellungen. Grundlegend für das Werk von Rogers ist der Glaube an die heilsame Wirkung einer wohlwollenden und solidarischen Begleitung der Klienten im Erinnern und Durcharbeiten belastender Erfahrungen und Erinnerungen.1 Dies erklärt die Haltung der Solidarität, die Edmund Hermsen für die Kinder und „Primitiven“ in der Geschichte eingenommen hat. Die humanistische Grundhaltung seiner kulturgeschichtlichen Studien bedingte auch Hermsens Skepsis gegenüber autoritativ vorgetragenen Deutungen des Seelischen, mit denen der Anspruch erhoben wird, Menschen (auch in der Vergangenheit) besser zu verstehen als diese selbst es tun oder taten. So hat sich Hermsen bemüht, die Psychoanalyse zu historisieren, indem er sie als eine geistige Entwicklung im Rahmen einer offenen Kultur- und Sozialgeschichte der Kindheit beschrieben hat.2 Damit verband sich die Kritik einer Psychohistorie als Versuch, psychoanalytische Erklärungsmodelle auf ältere Epochen anzuwenden, besonders wo dies in Anlehnung an Lloyd deMause geschah.3 Mit zahlreichen Historikern bekräftigte er das „Veto* Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Frühneuzeitliche Ärztebriefe, 1500–1700“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg. 1 Vgl. C. R. Rogers, Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächstherapie. Mit Beiträgen von Madge K. Lewis, John M. Shlien, John K. Wood. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Wolfgang M. Pfeiffer, Frankfurt am Main 1994, 22–32. 2 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion. Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u.a. 2006, 15, 28, 175–197, 230 f. 3 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion..., 4, 7 f., 27 f.; zu diesem methodischen Ansatz vgl. D. Blasius, „Psychohistorie und Sozialgeschichte“, in: Archiv für Sozialgeschichte 17, 1977, 383–403; L. deMause (Hg.), The New Psychohistory, New York 1975; L. deMause, Grundlagen der Psychohistorie. Psychohistorische Schriften. Hg. von
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recht der Quellen“, namentlich gegenüber historisch unterkomplexen Fragestellungen (,Gab es früher Individualität?‘, ,Sind Kinder früher geliebt worden?‘) oder anachronistischen Interpretationen. Im historiographischen Erkenntnisprozess sollte für Hermsen den Verstorbenen nicht weniger Würde zugestanden werden als anderen unter den Vorzeichen der Modernisierung „Unterlegenen“, zu denen er Kinder und „Wilde“ zählte.4 Projektionen heute virulenter Problemlagen auf gewesenes Dasein – zumal wenn sie mit der Skandalisierung vergangener Sozialität einhergehen – widersprachen in seinen Augen der Zielsetzung historiographischer Erkenntnis als einem (immer nur annäherungsweise gelingenden) „Verstehen“,5 da so das Bemühen um ein wohlwollendes Verständnis der historischen Akteure und ihres Wirklichkeitshorizontes zugunsten heutiger, womöglich sogar individuell geprägter Sinnfindungsbedürfnisse vernachlässigt werde. Auch im Umfeld der hier zu besprechenden Lebensgeschichte des Basler Arztes Felix Platter6 sind solche psychologischen Deutungen formuliert Aurel Ende, Frankfurt am Main 1989; R. Deutsch, „Psychohistorie als Geschichte einer Innovation“, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 36, 1986, 215–230; R. Frenken; M. Rheinheimer (Hg.), Die Psychohistorie des Erlebens (Psychohistorische Forschungen 2), Kiel 2000; L. Janus; F. Nyssen (Hg.), Psychogenetische Geschichte der Kindheit. Beiträge zur Psychohistorie der Eltern-Kind-Beziehung (Psyche und Gesellschaft), Gießen 22002; F. Nyssen; P. Jüngst (Hg.), Kritik der Psychohistorie. Anspruch und Grenzen eines psychologischen Paradigmas (Psyche und Gesellschaft), Gießen 2003; H. Röckelein (Hg.), Biographie als Geschichte (Forum Psychohistorie 7), Tübingen 1993; K. Spillmann, „Einführung in die Psychohistorie“, in: G. Condrau (Hg.), Transzendenz, Imagination und Kreativität. Religion, Parapsychologie, Literatur und Kunst (Die Psychologie des 20. Jahrhunderts 15), Zürich 1979, 761–769; H.-U. Wehler (Hg.), Geschichte und Psychoanalyse, Köln 1971. 4 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion ..., 3, 9 f., 143–151, 228 f. 5 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion ..., 192 f., 205; dazu ausführlich T. Haussmann, Erklären und Verstehen. Zur Theorie und Pragmatik der Geschichtswissenschaft. Mit einer Fallstudie über die Geschichtsschreibung zum Deutschen Kaiserreich 1871–1918, Frankfurt am Main 1991. 6 Zu Platters Biographie vgl. etwa M. Adam, Vitae Germanorum medicorum: Qui seculo superiori, et quod excurrit, claruerunt. Congestae & ad annum usque MDCXX deductae, Heidelberg 1620, 427–431; Allgemeine Deutsche Biographie. Hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 26, Leipzig 1888, 266 f.; A. Burckhardt, Geschichte der medizinischen Fakultät zu Basel 1460–1900, Basel 1917, 64–89; J. Burckhardt, Oratio de vita et obitu […] Felicis Plateri, Basel 1614; Dictionary of Scientific Biography. Hg. von Charles Coulston Gillispie, Bd. 11, New York 1981, 33; A. Hirsch (Hg.), Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker, Bd. 4, Berlin, Wien 21932, 625 f.; R. Hunziker, Felix Platter als Arzt und Stadtarzt in Basel (Aus dem Gesundheitsamt des Kantons
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worden:7 So wurde unterstellt, Platters Ehe sei ungewollt kinderlos geblieben, weil seine Ehefrau „frigid“8 oder Platter, bedingt durch seine „exzessive
Basel-Stadt), Zürich 1939; J. Karcher, Felix Platter. Lebensbild des Basler Stadtarztes 1536–1614, Basel 1949; C. G. Jöcher, Allgemeines Gelehrten-Lexicon, Bd. 3, Leipzig 1751, 1622 f.; F. Miescher, Die medizinische Facultät in Basel und ihr Aufschwung unter F. Plater und C. Bauhin. Mit dem Lebensbilde von Felix Plater, Basel 1860; R. Thommen, Geschichte der Universität Basel 1532–1632, Basel 1889, 221–225. – Seit Erscheinen der von Valentin Lötscher besorgten und umfangreich kommentierten Neuausgabe des „Tagebuchs“ im Jahr 1976 ist die ältere Literatur überholt; vgl. seither C. Bumiller, „Die ,Selbstanalyse‘ des Arztes Felix Platter. Ein psychoanalytischer Beitrag zur Biographik des 16. Jahrhunderts“, in: R. Frenken; M. Rheinheimer (Hg.), Die Psychohistorie des Erlebens, 303–324; R. Frenken, Kindheit und Autobiographie vom 14. bis 17. Jahrhundert. Psychohistorische Rekonstruktionen, Bd. 2 (Psychohistorische Forschungen 1,2), Kiel 1999, 487–537; R. Frenken, „Da fing ich an zu erinnern …“. Die Psychohistorie der Eltern-Kind-Beziehung in den frühesten deutschen Autobiographien (1200–1700) (Psyche und Gesellschaft), Gießen 2003, 254–278; J. Jessen; R. Voigt, Bibliographie der Autobiographien. Bd. 4: Selbstzeugnisse, Erinnerungen, Tagebücher und Briefe deutschsprachiger Ärzte, München u.a. 1996, 401 f.; E. Le Roy Ladurie, Eine Welt im Umbruch. Der Aufstieg der Familie Platter im Zeitalter der Renaissance und Reformation, Stuttgart 1998; V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie (153. Basler Neujahrsblatt), Basel 1975; Neue Deutsche Biographie. Hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 20, Berlin 2001, 518 f.; S. Pastenaci, Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung in deutschsprachigen Autobiographien des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur historischen Psychologie (Literatur – Imagination – Realität 6), Trier 1993, 225–242 (mit weiterer Literatur); V. Skerlak, Felix Platter zum 450. Geburtstag. Kommentar zur Ausstellung in der Universitätsbibliothek Basel November–Dezember 1986, [Basel 1986]; U. Tröhler (Hg.), Felix Platter (1536–1614) in seiner Zeit. Symposium zum 450. Geburtstag (8. November 1986, Basel, Alte Aula der Universität) (Basler Veröffentlichungen zur Geschichte der Medizin und der Biologie N.F. 3), Basel 1991; H. R. Velten, Das selbst geschriebene Leben. Eine Studie zur deutschen Autobiographie im 16. Jahrhundert (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 29), Heidelberg 1995, 136–141. 7 Zu Thomas Platter vgl. C. Bumiller, „Die Autobiographie von Thomas Platter. Ein psychoanalytischer Beitrag zur Biographik des 16. Jahrhunderts“, in H. Röckelein (Hg.), Biographie als Geschichte, 248–279; R. Frenken, „Da fing ich an zu erinnern …“, 197–219; S. Pastenaci, Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung ..., 205–212; S. Pastenaci, „Der ‚Traum‘ vom eigenen Leben. Autobiographien der Frühen Neuzeit als Kompensation traumatischer Lebenserfahrungen“, in: R. Frenken; M. Rheinheimer (Hg.), Die Psychohistorie des Erlebens, 255–280, hier 256–262; zu Felix Platter vgl. C. Bumiller, „Die ,Selbstanalyse‘ des Arztes Felix Platter …“; R. Frenken, Kindheit und Autobiographie ..., 487–537; R. Frenken, „Da fing ich an zu erinnern …“, 254–278; S. Pastenaci, „Der ‚Traum‘ vom eigenen Leben“ ..., 262–269. 8 So V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie ..., 107.
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Kastrationsangst“, impotent gewesen sein könnte.9 Dies wirkt freilich nicht einmal von der klinischen Seite des Problems her überzeugend. In Anlehnung an Edmund Hermsen soll demgegenüber im Folgenden der Versuch unternommen werden, eine möglichst gemeinsame Deutungsebene mit den Menschen, die im Umfeld Felix Platters gelebt und Selbstzeugnisse hinterlassen haben, zu suchen. Von der Ausgangslage her erscheint dieses Unternehmen besonders aussichtsreich, da Platter selbst als ein Vertreter der „Psychiatrie“ avant la lettre gefeiert wurde.10 Als Sohn und Bewohner einer Handels- und Universitätsstadt vereinigte er in sich Bürgersinn, humanistisches Weltwissen und eine als Arzt im Dienst von Adligen erworbene diplomatische Menschenkenntnis: Somit ist Platter weniger als ein halbblinder Prophet späterer seelenkundlicher Konzepte zu sehen, die man aber – auch dies hat Edmund Hermsen vorgeführt11 – in umgekehrter und historisch angemessener Deutungsrichtung besser verstehen kann, wenn man sie als in der Tradition eines von Christentum und Humanismus geprägten Menschenbildes stehend interpretiert. Freilich hat die jüngere Selbstzeugnisforschung12 die letztlich doch klischeehafte Gegenüberstellung von (tiefen-)psychologiefeindlichen Historikern und 9 So R. Frenken, „Da fing ich an zu erinnern …“, 268, 274; ähnlich: S. Pastenaci, „Der ‚Traum‘ vom eigenen Leben“ ..., 268; differenzierter: C. Bumiller, „Die ,Selbstanalyse‘ des Arztes Felix Platter …“, 313–315; R. Frenken, Kindheit und Autobiographie..., 526–533. Die Familie Platter betrachtete die Unfruchtbarkeit als Problem der Ehefrau: vgl. F. Platter, Tagebuch (Lebensbeschreibung) 1536–1567. Im Auftrag der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft zu Basel hg. von Valentin Lötscher (Basler Chroniken 10), Basel, Stuttgart 1976, 402. 10 Vgl. E. A. Ackerknecht, „Schweizer Psychiater 1500–1950“, in: Schweizerische Medizinische Wochenschrift 87, 1957, 1107–1109, hier 1107; R. Battegay, „Felix Platter und die Psychiatrie“, in: U. Tröhler (Hg.), Felix Platter …, 35–43; C. Bumiller, „Die ,Selbstanalyse‘ des Arztes Felix Platter …“, 320; J. Karcher, Felix Platter..., 62–71; A. Kreuter (Hg.), Deutschsprachige Neurologen und Psychiater, Bd. 3, München 1996, 1107 f.; S. Pastenaci, Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung ..., 15, 227. Zu Platters Konzepten der Geistesstörungen vgl. ausführlich W. Lenzen, Mentis laesiones. Psychopathologie bei Felix Platter (1536–1614), Med. Diss. Bonn 1982, 18–144. 11 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion ..., 138–174. 12 Als „Selbstzeugnisse“ gelten Texte, bei denen Autor und Subjekt der Erzählung in eins fallen, also Autobiographien, Tagebücher, Briefe, Reiseberichte etc. Zur Begriffsbestimmung und Quellengattung vgl. K. Arnold; S. Schmolinsky; U.M. Zahnd (Hg.), Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit (Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit 1), Bochum 1999; A. Bähr; P. Burschel; G. Jancke (Hg.), Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell (Selbstzeugnisse der Neuzeit 19), Köln u.a. 2007;
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ahistorischen Tiefenpsychologen hinter sich gelassen. Im Zuge des linguistic turn hat sich die Geschichtswissenschaft die Haltung zueigen gemacht, symbolische – namentlich sprachliche und diskursive – Formationen als untergründig wirkungsmächtige Gebilde eigener Art anzuerkennen, die kollektive psychische Entwicklungen (oder „Mentalitäten“) initiieren und kanalisieren. Historische Selbstzeugnisse werden vor diesem Hintergrund nicht mehr umstandslos als Ausdruck eines authentischen persönlichen Erlebens interpretiert, sondern als literarische Ausdrucksformen bewusster Selbsterforschung oder Selbstdarstellung untersucht. Felix Platters Lebensbericht steht noch deutlich in der Tradition des spätmittelalterlichen Haus- oder Familienbuchs.13 Dagegen tauchen explizite Autobiographien,14 in denen sich (nach kulturellen Maßstäben des 18. S. Elit; S. Kraft; A. Rutz (Hg.), „Das ‚Ich‘ in der Frühen Neuzeit. Autobiographien – Selbstzeugnisse – Ego-Dokumente in geschichts- und literaturwissenschaftlicher Perspektive“, in: Zeitenblicke. Online-Journal für die Geschichtswissenschaften 1(2), 2002; http://www.zeitenblicke.de/2002/02/index.html, gef. am 20.5.2009; K. von Greyerz; H. Medick; P. Veit (Hg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850) (Selbstzeugnisse der Neuzeit 9), Köln u.a. 2001; G. Jancke, Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum (Selbstzeugnisse der Neuzeit 10), Köln u.a. 2002; B. von Krusenstjern, „Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert“, in: Historische Anthropologie 2, 1994, 462–471; B. von Krusenstjern, Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Beschreibendes Verzeichnis (Selbstzeugnisse der Neuzeit 6), Berlin 1997, bes. 9–26; S. Leutert; G. Piller, „Deutschschweizerische Selbstzeugnisse (1500–1800) als Quellen der Mentalitätsgeschichte. Ein Forschungsbericht“, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 49, 1999, 197–221; J. Peters, „Wegweiser zum Innenleben? Möglichkeiten und Grenzen der Untersuchung populärer Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit“, in: Historische Anthropologie 1, 1993, 235–249; W. Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996. 13 Vgl. hierzu S. Pastenaci, Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung..., 6, 244 f.; B. von Krusenstjern, Selbstzeugnisse..., 20; B. Schmid, Schreiben für Status und Herrschaft. Deutsche Autobiographik in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Zürich 2006, 60–67; B. Studt, „Erinnerung und Identität. Die Repräsentation städtischer Eliten in spätmittelalterlichen Haus- und Familienchroniken“, in: B. Studt (Hg.), Hausund Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (Städteforschung, Reihe A: Darstellungen 69), Köln u.a. 2007, 1–31. 14 Die Literatur zur Autobiographie ist Legion: vgl. überblicksartig M. Holdenried, Autobiographie, Stuttgart 2000; J. Lehmann, Bekennen – Erzählen – Berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie, Tübingen 1988; B. Neumann, Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt am Main 1970, bes. 25–38; G. Niggl (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literari-
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und 19. Jahrhunderts, mit denen frühere Selbstzeugnisse dann häufig als „primitiv“ abgewertet wurden) eine individuelle Welterfahrung mit literarischen Ansprüchen verbindet, als Werkzeuge und Dokumente seelischer Selbstformung im Pietismus und im bürgerlichen Zeitalter auf.15 Hinsichtlich psychologischer Aspekte wurde in der Selbstzeugnisforschung auch nach typischen Sozialisationselementen, Geschlechter-, Körperund Selbsterfahrungen und entsprechenden Einstellungen zu Religion, Sexualität, Krankheit oder Tod gefragt. Indem das Augenmerk verstärkt auf die überlieferten Texte und die ihnen zugrundeliegenden gesellschaftlichen Strukturen gelegt wurde, ist die Frage „literarische Stilisierung oder authentisches Erleben?“ zunehmend in den Hintergrund gerückt. Sie wurde zugunsten einer Haltung des Kompromisses aufgegeben, nach dem Texte keinen unmittelbaren Zugang zur Realität vermitteln und zugleich unmöglich mit letzter Sicherheit anzugeben ist, wo in einem Selbstzeugnis die diskursive Ordnung endet und die authentische „Erfahrung“ beginnt. Explizite Vermutungen, welche untergründigen seelischen Motive sich hinter den Selbstbeschreibungen und -aussagen verbergen (also eben jene Frage, die Psychoanalytiker als zentral bewertet haben) werden in sozialhistorischen Forschungen eher vermieden. Um vorschnellen (und häufig historisch offensichtlich missverständlichen) psychologisierenden Deutungen entgegenzutreten, ist von fachhistorischer Seite dabei wenigstens die Berücksichtigung a) literarischer
schen Gattung, Darmstadt 21998; M. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, Stuttgart, Weimar 22005. Zum hier in Frage stehenden Zeitraum vgl. L. S. Bloom, German Secular Autobiography. A Study of Vernacular Texts from circa 1450 to 1650, Ph.D. thesis Toronto (Canadian Theses on Microfiche Service), Ottawa 1984; A. Buck (Hg.), Biographie und Autobiographie in der Renaissance. Arbeitsgespräch in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel vom 1. bis 3. November 1982, Wiesbaden 1983; K. A. E. Enenkel, Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius, Berlin, New York 2008; G. Jancke, Autobiographie als soziale Praxis; G. Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. 4, Tle. 1 u. 2, Frankfurt am Main 1967–1969; S. Pastenaci, Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung..., bes. 5–26 (mit weiterer Literatur); B. Schmid, Schreiben für Status und Herrschaft; H. R. Velten, Das selbst geschriebene Leben (mit weiterer Literatur); H. Wenzel, „Zu den Anfängen der volkssprachigen Autobiographie im späten Mittelalter“, in: Daphnis 13, 1984, 59–75. 15 Vgl. B. Neumann, Identität und Rollenzwang..., 115–120; ausführlich U. Gleixner, Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit (Bürgertum N.F. 2), Göttingen 2005, 123–165. Zu erinnern ist freilich auch an die, schon mit Augustinus einsetzende, dezidiert religiöse Autobiographik.
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Gattungsfragen, b) der sozialhistorischen Umstände und c) zeittypischer prosopographischer Muster eingefordert worden.16
Die Quellen In der Literaturgeschichte hat Felix Platter als Verfasser eines „Tagebuchs“ einen prominenten Platz gefunden.17 (Tatsächlich sind unter diesem Titel Lebenserinnerungen überliefert, die der Verfasser als 76jähriger auf Grundlage früherer Notizen niedergeschrieben hat.) Unter Medizinhistorikern ist er für seine Bemühungen um die Durchsetzung damals fortschrittlicher, stärker empirisch ausgerichteter Methoden auf den Feldern von Anatomie, Botanik, klinischem Unterricht und klinischer Beobachtung bekannt.18 Als prominente Figur der Lokalgeschichte hat er in der Memorialkultur seiner Heimatstadt Basel Beachtung gefunden.19 Neben den umfangreichen Lebenserinnerungen stehen weitere Selbstzeugnisse zur Verfügung, die Aufschlüsse über Platters Biographie und seine sozialen Beziehungen erwarten lassen. Beachtung verdient vor allem die Korrespondenz, beginnend mit den Briefen der Eltern, Thomas Platter (1499?–1582)20 16 Wie vom psychohistorischen Standpunkt aus Hedwig Röckelein festgestellt hat: vgl. H. Röckelein, „Der Beitrag der psychohistorischen Methode zur ,neuen historischen Biographie‘“, in: H. Röckelein (Hg.), Biographie als Geschichte ..., 17–38, hier 24 f.; ähnlich: V. Depkat, „Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft“, in: BIOS 23, 2010, 170–187, hier 178. 17 Neben den schon genannten Darstellungen zum Leben Platters vgl. D. Hochlenert, Das „Tagebuch“ des Felix Platter. Die Autobiographie eines Arztes und Humanisten, Phil. Diss. Tübingen 1996; S. Pastenaci, Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung..., 225–242 (mit weiterer älterer Literatur); I. Schiewek, „Zur Autobiographie des Basler Stadtarztes Felix Platter“, in: Forschungen und Fortschritte 38, 1964, 368–372; H. R. Velten, Das selbst geschriebene Leben..., 136–141. 18 Vgl. etwa W. Bubb, Das Stadtarztamt zu Basel. Seine Entwicklungsgeschichte vom Jahre 1529 bis zur Gegenwart, Basel 1942, 15; K. Huber, Felix Platters „Observationes“. Studien zum frühneuzeitlichen Gesundheitswesen in Basel (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 177), Basel 2003, 118. 19 Anlässlich des 450. Geburtstags Platters erschienen sind: V. Skerlak, Felix Platter zum 450. Geburtstag ...; U. Tröhler (Hg.), Felix Platter …. 20 Zu ihm vgl. etwa L. S. Bloom, German Secular Autobiography..., 125–151; V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie..., 21–33; W. Meyer; K. von Greyerz (Hg.), Platteriana. Beiträge zum 500. Geburtstag von Thomas Platter (1499?–1582), Basel 2002 (mit weiterer Literatur); T. Platter, Lebensbeschreibung. Hg. von Alfred Hart-
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und Anna Platter (geb. Dietschi, 1495–1572),21 an den jungen Felix Platter. Seine Antwortschreiben sind verloren, seine emotionalen Reaktionen auf einzelne Briefe finden jedoch gelegentlich im „Tagebuch“ Erwähnung. Auch sonst dürfte ein großer Teil von Platters Korrespondenz verloren sein: Der einzige geschlossene Band in der Frey-Grynaeischen Sammlung der Universitätsbibliothek Basel (Fr. Gr. Ms. I 6) enthält 244 in deutscher Sprache verfasste Scheiben von Patienten an ihn aus den Jahren 1569 und 1570;22 sein Lebensbericht beweist, dass Platter von seinen Patienten ein Vielfaches an Briefen erhalten hat. Verstreute Reste von Platters Briefwechsel enthalten die ebendort aufbewahrten Bände mit Korrespondenzen der Mitprofessoren Theodor Zwinger (1533–1588) und Jakob Zwinger (1569–1610). Hier finden sich auch 75 kurze, meist undatierte Nachrichten von Felix Platter.23 Die Universitätsbibliothek Basel besitzt weiterhin das Original von Platters „Tagebuch“, Haushaltsaufzeichnungen, Gelegenheitsgedichte24 und andere Dokumente. Amtliche Schreiben aus seiner Feder verwahrt das Staatsarchiv Basel. Die Trewsche Briefsammlung der Universitätsbibliothek Erlangen beinhaltet neun lateinische Schreiben Platters an Joachim II. Camerarius (1534– 1598) und eines an dessen Bruder Ludwig (1542–1582), die beide ebenfalls Mediziner waren.25 Sechs deutsche Briefe überwiegend botanischen Inhalts an den Luzerner Apotheker, Stadtschreiber und Historiographen Renward
mann. 3., von Ueli Dill durchges. und erg. Aufl. mit einem Nachwort von Holger JacobFriesen, Basel 32006, 185–209 (mit weiterer Literatur). 21 Zu ihr vgl. V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie..., 34–45; S. Pastenaci, Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung..., 217 f.; T. Platter, Lebensbeschreibung, 87; F. Platter, Tagebuch..., 50 (Anm. 6); E. Le Roy Ladurie, Eine Welt im Umbruch..., 66. 22 Vgl. E. Staehelin, Johann Ludwig Frey, Johannes Grynaeus und das Frey-Grynaeische Institut in Basel, [Katalogbd.], Basel [1947], 182–185. 23 Universitätsbibliothek [= UB] Basel, Fr. Gr. Ms. II 23, Nr. 145–154, 361–374 u.ö.; vgl. zum Inhalt M.-L. Portmann, „Theodor Zwinger (1533–1588) und Felix Platter – eine Ärztefreundschaft“, in: U. Tröhler (Hg.), Felix Platter…, 69–73, hier 70–72; C. Stoll: „Zum Basler Apothekenwesen im 16. Jahrhundert. Der Briefwechsel von Balthasar Hummel und Felix Platter zwischen 1555 und 1557“, in: H.-R. Fehlmann (Hg.), Zur Geschichte des Schweizerischen Apothekenwesens dargestellt an drei Orten Davos, Zürich und Basel, Zürich 1988, 93–115. 24 UB Basel, Mscr. A G v 30: „Samlung allerhand meist lächerlichen gedichten“, hier Nr. 382 und 385; vgl. dazu F. Platter, Tagebuch..., 238 (Anm. 690). 25 Vgl. E. Schmidt-Herrling (Bearb.), Die Briefsammlung des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew (1695–1769) in der Universitätsbibliothek Erlangen, Erlangen 1940, 470.
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Cysat (1545–1614) aus den Jahren 1585 bis 1598 liegen ediert vor.26 Reste der Korrespondenz finden sich auch in der Uffenbach-Wolffschen Briefsammlung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg,27 in der Universitätsbibliothek Leiden,28 der Zürcher Zentralbibliothek29 und im dortigen Staatsarchiv.30 Weitere Schreiben an Platter aus der Feder von Konrad Geßner (1516–1565) und Wilhelm Fabri (1560–1634) wurden in frühneuzeitlichen Briefeditionen abgedruckt.31 Biographische Daten enthalten zudem die medizinischen Werke Platters,32 insbesondere sein Alterswerk Observationes (Basel 1614).33 Einige ergänzende Details zu Platters mittlerem Alter bringt die 1604/5 verfasste Reisebeschreibung seines Halbbruders und Ziehsohnes Thomas Platter d.J. (1574–1624).34 Von Felix Platter sind drei Porträts bekannt, die ihn im mittleren und hohen Alter zeigen.35 Erhalten geblieben sind weiterhin Teile seiner umfangreichen Sammlungen und seines Herbariums.36 Von seinen Häusern steht in Basel 26 Vgl. T. von Liebenau, „Felix Plater von Basel und Rennward Cysat von Luzern“, in: A. Burckhardt; R. Wackernagel (Hg.), Basler Jahrbuch 1900, Basel 1900, 85–109, hier 98–106. 27 Vgl. N. Krüger (Bearb.), Supellex epistolica Uffenbachii et Wolfiorum. Katalog der Uffenbach-Wolfschen Briefsammlung, Bd. 2, Hamburg 1978, 795. 28 Universiteitsbibliothek Leiden, VUL 101 / Platter, F 003. 29 Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, u.a.: Autogr. Bebler G 180; Ms. Briefe fol., Platter Felix; Ms. F 37, 150; Ms. F 172d, 303r-v. 30 Etwa Staatsarchiv Zürich, Sign. E II 336: 102, neu 120. 31 K. Geßner, Epistolarum medicinalium, Conradi Gesneri, philosophi et medici Tigurini, libri III, Zürich 1577, Bl. 97r-98v; W. Fabri von Hilden, Opera quae extant omnia, Frankfurt am Main 1646, 676 [lies: 976]-977. 32 De humani corporis structura et usu, Basel 1583; De mulierum partibus generationi dicatis icones, Basel 1586; De febribus, Frankfurt am Main 1597 [später nachgedruckt als der zweite Band des Praxeos […] tractatus]; Praxeos […] tractatus, 3 Bde.: De functionum laesionibus, Basel 1602; De doloribus, Basel 1603; De vitiis, Basel 1608; Selecta controversiarum medicarum centuria, Basel 1611; Observationes, Basel 1614; [posthum:] Quaestionum medicarum paradoxarum et endoxarum centuria posthuma, Basel 1625. 33 Vgl. dazu K. Huber, Felix Platters „Observationes“ .... 34 Vgl. zu ihm T. Platter d.J., Beschreibung der Reisen durch Frankreich, Spanien, England und die Niederlande 1595–1600. Im Auftrag der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft zu Basel hg. von Rut Keiser (Basler Chroniken 9), 2 Bde., Basel, Stuttgart 1968, hier Einleitung: VII–XXXI. 35 Wiedergegeben in: F. Platter, Tagebuch ..., [nach 536]. 36 Vgl. dazu E. Landolt, „Materialien zu Felix Platter als Sammler und Kunstfreund“, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 72, 1972, 245–306; V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie ..., 131–149; W. Rytz, Das Herbarium Felix
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heute noch das Haus „Zum Samson“ am Petersgraben.37 Insgesamt ist diese vielfältige textliche und materielle Überlieferung für eine bürgerliche Persönlichkeit des 16. Jahrhunderts als überaus günstig einzuschätzen.
Gang der Untersuchung Schon zu Lebzeiten galt Felix Platter als erfolgreicher Mediziner und wissenschaftliche Autorität. Im Folgenden wird freilich nicht, wie zuletzt öfters geschehen, nach den zeittypischen, mehr oder weniger bewusst verfolgten „Strategien“,38 sondern nach den persönlichen Motiven seines beruflichen Erfolges gefragt, wie sie aus den Quellen ersichtlich werden. Wiederum in Anlehnung an Edmund Hermsen wird dabei Erik H. Eriksons Phasenkonzept des Wachstums der menschlichen Persönlichkeit als heuristisches Hilfsmittel herangezogen.39 Erikson hat mit komplementären Begriffen acht Phasen der Reifung umschrieben. Der erste Begriff steht dabei für eine Grundeinstellung, die im Rahmen „gesunden“ Wachstums oder der Identitätsfindung erreicht werden soll, der Gegenbegriff für deren Verfehlen: Im Säuglingsalters entsteht Ur-Vertrauen oder Ur-Mißtrauen. Im Kleinkindalter soll sich Autonomie gegen Scham und Zweifel durchsetzen, im Spielalter Initiative gegen Schuldgefühl. Das Schulalter wird für Erikson von Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl beherrscht. Pubertät und Adoleszenz als fünfte Phase sind wesentlich für das eigentliche Identitätsgefühl, hier soll sich Identität gegen Identitätsdiffusion durchsetzen. Intimität gegen Selbstbezogenheit Platters. Ein Beitrag zur Geschichte der Botanik des 16. Jahrhunderts, Basel 1933; V. Skerlak, Felix Platter zum 450. Geburtstag ..., 53–60. 37 Vgl. V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie ..., 119–130. 38 Vgl. D. Groß; J. Steinmetzer, „Strategien ärztlicher Selbstautorisierung in der frühneuzeitlichen Medizin. Das Beispiel Volcher Coiters (1534–1576)“, in: Medizinhistorisches Journal 40, 2005, 275–320; M. Stolberg, „Formen und Strategien der Autorisierung in der frühneuzeitlichen Medizin“, in: W. Oesterreicher; G. Regn; W. Schulze (Hg.), Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität (Pluralisierung & Autorität 1), Münster 2003, 205–218; T. Walter, „Ärztliche Selbstdarstellung im Zeitalter der Fugger und Welser. Epistolarische Strategien und Repräsentationspraktiken bei Felix Platter (1536–1614)“, in: A. Westermann; S. von Welser (Hg.), Individualbewusstsein? Persönliches Profil und soziales Umfeld. Oberdeutsche im Zeitalter der Welser und Fugger, Husum [2012]. 39 Vgl. E. H. Erikson, „Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit“, in: E. H. Erikson, Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, Frankfurt am Main 1973, 55–122.
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bilden das Gegensatzpaar in der sechsten Phase, dem frühen Erwachsenenalter. Das höhere Erwachsenenalter wird von Generativität im Gegensatz zur Stagnation bestimmt. Die achte Phase, das reife Alter, schließt mit Integrität gegen Verzweiflung oder Lebensekel den vollständigen Lebenszyklus ab. Im Rahmen dieses normativen Modells wird als Synthese aller einzelnen Entwicklungen eine umfassende Ich-Identität, in der das eigene Leben als gewordenes Ganzes akzeptiert wird, verstanden. Edmund Hermsen hat zurecht darauf hingewiesen, dass sich ein derartiges modernes Konstrukt nicht umstandslos als überhistorisches Faktum behandeln lässt, sondern hier vielmehr prototypisch eine neuzeitlich-bürgerliche und zudem männlich konnotierte Erwerbsbiographie beschrieben wird.40 Genau deshalb wirkt das Konzept freilich durchaus passend für Felix Platter, der sein Leben als Bildungs- und Berufsweg, welcher ihn zu Wohlstand und sozialer Anerkennung führte, geschildert hat. Nicht alle Phasen, von denen Erikson sprach, können anhand von Platters Lebensbericht untersucht werden. Beschreibungen seiner frühen Kindheit aus einer Beobachterperspektive fehlen;41 Aufgaben und Konflikte, die Erikson einem bestimmten Lebensalter zugeordnet hat, werden in anderen Lebensphasen besser nachvollziehbar. Zusätzlich sollen hier Berichte Platters, die mit dem Tod im Zusammenhang stehen, Beachtung finden. Da das akademische Leben seine Biographie über die längste Zeit seines Lebens geprägt hat, wird außerdem auf die von Platter mitinitiierte Reform des medizinischen Unterrichts an der Universität Basel als seine Lebensleistung eingegangen. Der Blick auf sein Werk als Hochschullehrer und medizinischer Fachschriftsteller leitet dann über zur Betrachtung seines reifen Alters, in dem persönlicher Rückblick und Bemühungen um Sicherung des Nachruhms oder der Memoria42 im Vordergrund standen.
40 Vgl. E. Hermsen, Faktor Religion..., 187. 41 Den Versuch einer Rekonstruktion, ausgehend von Platters eigenem Lebensbericht, unternimmt R. Frenken, Kindheit und Autobiographie..., 487–491. 42 Vgl. dazu O. G. Oexle, „Memoria als Kultur“, in: O. G. Oexle (Hg.), Memoria als Kultur (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), Göttingen 1991, 1–78 (mit weiterer Literatur).
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Felix Platters Kindheit Felix Platter wurde im Oktober 1536, nach Mitteilung seines Vaters am 28. des Monats, geboren.43 Simon Grynäus, zu dieser Zeit die Koryphäe der Universität Basel, war einer der drei Taufpaten.44 Im Platterschen Elternhaus herrschten enge gefühlsmäßige Bindungen. In einer eher unsentimentalen Schilderung erinnert sich Felix Platter an Verlustängste, wobei sich die kindliche Furcht eher auf den Verlust der Mutter als Rolle bezog: Als seine Mutter, die er zeitlebens nur als alte Frau erlebt haben will,45 krank zu Bett lag, „besorgten“ sich Felix und seine Schwester Ursula (1534–1551), „einer stiefmůter, die uns übel würde halten“.46 In gefühlsmäßiger Hinsicht einschneidend erlebte die Familie den Tod der Schwester Ursula im Alter von 17 Jahren.47 (Zwei weitere Mädchen waren zuvor in jungen Jahren verstorben.) Thomas Platter beschrieb eindrücklich seine erdrückenden Gefühle väterlicher Trauer, durch die ihm „gar alle zitliche freid“ vergangen sei; Felix, der damals 15 Jahre alt war, könne nicht wissen, „wie we einem vatter eines lieben kins abscheid thůt“.48 Briefe aus späteren Jahren lassen erkennen, dass der Vater diesen Verlust lange nicht verschmerzen mochte.49 Auch Felix Platter schilderte den Tod seiner Schwester, die ihm „seer lieb“ gewesen sei, noch viele Jahrzehnte später als ein erschütterndes Erlebnis.50 Mutter und Vater erzogen den ihnen allein verbliebenen Sohn mit verteilten Rollen: Während Felix sich später nur an eine einzige Gelegenheit erinnerte, bei 43 Vgl. T. Platter, Lebensbeschreibung ..., 121 (mit Kommentar: 172 f.); F. Platter, Tagebuch ..., 49. 44 Vgl. F. Platter, Tagebuch..., 51 f.; T. Platter, Lebensbeschreibung ..., 121. 45 Vgl. F. Platter, Tagebuch..., 108. In der Observatio Nr. 224 behauptet Platter, seine Mutter habe ihn „ungefähr im fünfzigsten Lebensjahr“ geboren: vgl. F. Platter, Observationes. Krankheitsbeobachtungen in drei Büchern. I. Buch: Funktionelle Störungen des Sinnes und der Bewegung. Aus dem Lateinischen von Dr. phil. Günther Goldschmidt. Bearbeitet und hg. von Heinrich Buess, Bern, Stuttgart 1963, 167. Tatsächlich war seine Mutter damals 41 Jahre alt. 46 F. Platter, Tagebuch..., 109. 47 Zu ihr vgl. V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie ..., 46–49; F. Platter, Tagebuch..., 50 (Anm. 10). 48 T. Platter, Thomas Platters Briefe an seinen Sohn Felix. Hg. von Achilles Burckhardt, Basel 1890, 6 f.: Brief vom 7. Juli 1551. 49 Vgl. T. Platter, Thomas Platters Briefe ..., 1–3, 13, 23 u.ö.: Briefe aus den Jahren 1551 ff.; siehe auch (mit weiteren Belegen) S. Pastenaci, Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung ..., 222–224. 50 F. Platter, Tagebuch ..., 117.
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der ihn seine Mutter körperlich strafte, schlug ihn der Vater häufig. Als ihn dieser einmal aus nichtigem Anlass blutig schlug, setzten nicht nur die Mutter, sondern auch der Nachbar (und spätere Schwiegervater von Felix) Franz Jeckelmann (1504–1579),51 der als Wundarzt die entstandene Verletzung zu versorgen hatte, dem Vater so zu, dass er von da an „die růten nit mer an mir gebrucht“.52 Die Briefe, die seine Mutter Anna zwischen 1553 und 1555 verschiedenen Schülern ihres Mannes an den in Montpellier studierenden Sohn diktierte (sie selbst konnte dafür wohl nicht ausreichend schreiben),53 lassen die Nähe und Sorge, die sie ihrem Sohn gegenüber empfand, erahnen. Stärker als der Vater hob sie die Gottesfurcht als Kardinaltugend hervor: Felix solle sich bemühen, seinen Eltern „züchtig“ zu folgen und sich im Leben „wol vnd fromcklichen“ halten.54 Erleichtert äußerte sie sich, als sie hörte, dass es Felix gut ging, ihm das Land gefiel und er einen frommen gottesfürchtigen Hauswirt gefunden hatte. Die bäuerlichen Wurzeln der Familie und die im elterlichen Haushalt beibehaltene bäuerliche Lebensart scheinen in den Briefen der Mutter, die aus einer angesehenen Zürcher Familie stammte, aber in ärmlichen Verhältnissen auf dem Land aufgewachsen war,55 durch. Von Basel aus versorgte sie ihren Sohn mit Nachrichten über eine reiche Apfelernte oder drei „kälberly“, die man auf dem Platterschen Landgut Gundeldingen aufzog.56 Für Felix waren 51 Zu ihm vgl. F. Platter, Tagebuch..., 70 (Anm. 142); G. Steiner, „Ärzte und Wundärzte, Chirurgenzunft und medizinische Fakultät in Basel“, in: G. Steiner; A. Staehelin (Hg.), Basler Jahrbuch 1954, Basel o.J., 179–209, hier 186. 52 F. Platter, Tagebuch ..., 81. C. Bumiller („Die ,Selbstanalyse‘ des Arztes Felix Platter …“, 319) verweist dazu auf die damaligen Erziehungsmaßstäbe: Schläge galten zweifellos als üblich und angemessen. Die Zufügung offener Wunden überschritt jedoch, wie man sieht, das Maß des Üblichen. 53 Vgl. UB Basel, Fr. Gr. Ms. I 8, Nr. 63–66; dazu (mit Teiledition) H. Bruckner, „Briefe an Felix Platter von seiner Mutter“, in: Sonntagsblatt der Basler Nachrichten 26 (32), 7. August 1932, 137–138. 54 UB Basel, Fr. Gr. Ms. I 8: Brief Nr. 63 mit Empfangsvermerk vom 5. Dezember 1554; auch in (ebd.) Nr. 65 mit Empfangsvermerk vom 6. Oktober 1555 bittet die Mutter Gott, Felix möge sich „willig vnd fromklich halten“; ähnlich in (ebd.) Nr. 64 mit Empfangsvermerk vom 13. Dezember 1555: „lůg du dass du wol studiereßst und die zeit nit ubel anlegest“. 55 Vgl. dazu T. Platter, Lebensbeschreibung..., 87. 56 UB Basel, Fr. Gr. Ms. I 8: Brief Nr. 65 mit Empfangsvermerk vom 6. Oktober 1555. Auch der Vater erwähnte zu der Zeit die viele Früchte, die ihre Äpfelbäume trugen, bemerkte aber: „die grossen wind ietz vorhanden, werffend vill ab“ (T. Platter, Thomas Platters Briefe ..., 82: Brief vom 13. September 1555). Zum Platterschen Landgut Gundeldingen vgl. V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie ..., 63–80.
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umgekehrt der Wunsch nach familiärer Harmonie und später sein ausgeprägter Familiensinn kennzeichnend. Im höheren Alter veranlasste er seinen Vater und seinen jüngeren Halbbruder zur Niederschrift ihrer Erinnerungen und bewahrte das Familiengedächtnis durch seinen eigenen Lebensbericht.57 Schon als 17jähriger nahm er gegenüber seiner Mutter eine quasi-elterliche Rolle ein, wenn er sie aufforderte, „mitt dem vatter zů friden“ zu sein „vnnd nitt ymmerzu [zu] zanken“.58 Valentin Lötscher meinte daraus folgern zu können, Anna Dietschi sei eine harte und bittere Frau gewesen.59 Berechtigten Anlass zum Streit bot ihr knorriger und für seinen Jähzorn bekannter Ehemann mit seinen waghalsigen Immobilienkäufen, für die er sich schwer verschuldete, indes zur Genüge.60 An die elterliche Zuneigung für Felix waren weitreichende Erwartungen geknüpft. Thomas Platter, der es mit seinem Selbststudium der alten Sprachen61 vom Hirtenjungen im Walliser Bergland zum Rektor des Basler Gymnasiums am Münster gebracht hatte, erfüllte sich, nachdem er so den Wohlstand der Familie begründet hatte, den Wunsch, Medizin zu studieren, indem er ihn an seinen Sohn delegierte: „nam per omnem vitam meam mihi ista studia placuerunt, sed obstitit meae voluntati paupertas, sed cum ardor ergo illa studia in te transfusus videtur“ – sein ganzes Leben habe ihm dieses Fach 57 Vgl. T. Platter, Lebensbeschreibung ..., 23; T. Platter d.J., Beschreibung der Reisen ..., 5. S. Pastenaci (Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung ..., 226 f., Anm. 30) denkt an diverse literarische Funktionen der Lebenserzählungen von Thomas d.Ä. und Felix Platter. Da sie am ehesten in die Tradition der Haushaltungsbücher und Familienchroniken eingeordnet werden können, dürfte die Memoria jedoch klar im Vordergrund gestanden haben. 58 UB Basel, Fr. Gr. Ms. I 8, Nr. 64: Zitat im Brief von Anna an Felix Platter mit Empfangsvermerk vom 23. Mai 1553. 59 Vgl. V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie ..., 39 f. 60 Vgl. T. Platter, Lebensbeschreibung ..., 125–127. Eine Liebesheirat war die Verbindung von Thomas Platter mit der Magd seines Mentors Oswald Myconius nicht gewesen. In nüchternen Worten erzählt er darüber: „Also ließ ich mich bereden, und gab uns der vatter Myconius zamen“ (S. 59). Den Anlass ihrer Streitigkeiten nennt Felix Platter (Tagebuch ..., 124): „Hatt hienebendt [Anno 1552] vil kummer, das mein vatter vil schuldig war und verzinset, obgleich das werdt an hüseren und gůt vor dem thor vil beßer; dardurch er und mein můter in zanck oft gerieten, welches mir seer schwerlich war und bekümert.“ 61 Vgl. dazu H. Puff, „Leselust. Darstellung und Praxis des Lesens bei Thomas Platter (1499–1582)“, in: Archiv für Kulturgeschichte 84, 2002, 133–156; H. R. Velten, „Selbstbildung und soziale Mobilität in der Autobiographie Thomas Platters“, in: K. von Greyerz; H. Medick; P. Veit (Hg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich ..., 135–153.
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gefallen, doch sei seinem Studienwunsch die Armut entgegengestanden, weshalb er diese Aufgabe wohl dem Sohn aufgetragen habe.62 Felix Platter berichtet im Rückblick, dass ihm der väterliche Wunsch „gar wol gefiel“, er deswegen aber „letstlich auch etwas erschrack, alß ich anfieng mercken, waß unlust auch ein artzet mießte sechen“.63 Zudem schlugen die hohen Erwartungen des Vaters schnell in finstere Drohungen um:64 Wenn er an seine Zukunft denke, so schrieb Thomas Platter im Mai 1553 an Felix, dann tue er dies nur bei dem Gedanken in froher Erwartung, Felix werde sich in seinem Studium in Montpellier gut halten und „mit freiden und eren“ nach Hause zurückkehren.65 Sollte er aber dort scheitern und als „vertüiger düppell“ wieder in Basel vorstellig werden, würde dies den Vater „in das grab bringen“; seinen „eintzigen sun“ könne er „nit unnütz vor ougen sächen“. Zwei Jahre später bekräftigte Thomas Platter nochmals, er sähe es lieber, sein einziges Kind wäre „mit dinem andren schwesterlin [Ursula] langest vergraben“, sollte es den väterlichen Erwartungen nicht genügen.66 In seinem „Tagebuch“ notierte Felix, wie sehr ihn diese Worte beeindruckten: „Meins vatters ernstlich schreiben und manen vermocht vil by mir, also daß ich embsig studiert, welches meim alten herren[, dem Hauswirt] Catalan gar wol gefiel.“67 Offen bleibt, wie er mit dem ungeheuren Druck, der ihm aufgelastet wurde, emotional zurechtkam. Allem Anschein nach war Felix Platter jedoch tatsächlich der folgsame Sohn und begabte, fleißige Schüler, als den er sich im hohen Alter selbst schilderte;68 nichts, wovon wir sichere Kenntnis haben, spricht dagegen für ein offenes Aufbegehren.69 Tatsächlich verlief Felix Plat62 T. Platter, Thomas Platters Briefe ..., 30: Brief vom 14. November 1553. 63 F. Platter, Tagebuch ..., 111. 64 Zu der zwischen Drohungen und versprochenen Belohnungen wechselnden Erziehung Felix Platters hinsichtlich seiner Berufswahl vgl. auch R. Frenken, „Da fing ich an zu erinnern …“, 272–274. 65 T. Platter, Thomas Platters Briefe ..., 17: Brief vom 3. Mai 1553. 66 T. Platter, Thomas Platters Briefe ..., 80: Brief vom 13. September 1555. 67 F. Platter, Tagebuch..., 156; vgl. weiterhin 231, 245 u.ö. 68 Vgl. dazu L. S. Bloom, German Secular Autobiography ..., 125 f. 69 Vgl. C. Bumiller, „Die ,Selbstanalyse‘ des Arztes Felix Platter ...“, 312; R. Frenken, „Da fing ich an zu erinnern ...“, 266; S. Pastenaci, Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung..., 234 (Anm. 34). Dass Felix seine „beispiellose Karriere“ (S. Pastenaci, Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung ..., 225) nicht zuletzt dem Ehrgeiz und der Initiative seines Vaters zu verdanken hatte, hat R. Frenken („Da fing ich an zu erinnern ...“, 266) vermerkt. An anderer Stelle hat R. Frenken (Kindheit und Autobiographie ..., 505–507) treffend die komplementäre „Anpassungsstrategie“ Felix Platters gekennzeichnet.
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ters weiteres Leben erfolgreich in den Bahnen, die sein Vater für ihn gelegt hatte. In erkennbarem Kontrast zu dem ebenso familiären wie bodenständigen Ton, den die Platter unter sich anschlugen, wurde in anderen Basler Gelehrtenhaushalten früh auf betont akademische Umgangsformen Wert gelegt.70 So wirkte der 13jährige Jakob Zwinger, ein Sohn von Platters Kollegen Theodor Zwinger, sichtlich bemüht, den formellen Ton einer Humanistenfreundschaft zu treffen, als er 1582 von auswärts das verspätete Eintreffen des Vaters im Kreise der Familie beklagte.71 Seine Briefe adressierte er nicht weniger formell an den ‚berühmten Herrn Doktor Theodor Zwinger, meinen verehrungswürdigen Vater‘.72 Als folgsamer Sohn (tuus obediens filius), der er, wie er betonte, zu sein sich bemühte, berichtete Jakob Zwinger, er repetiere auch während des Badaufenthaltes in Mülberg das Lateinische und Griechische.73 Für die spezifische Wesensart von Kindern äußerte Theodor Zwinger, zumindest vordergründig, auch wenig Verständnis: Er wisse sehr wohl, wie lästig kindliches Gerede sein könne, ließ er einen Kollegen wissen, dem er seine Söhne zum Schulbesuch anvertraut hatte.74 Felix Platter berichtete über die Verhältnisse im Hause Zwinger später, sein Kollege habe seine Söhne noch bei Tisch instruiert und examiniert.75 70 Zur Erziehung zum Gelehrten vgl. G. Algazi, „Eine gelernte Lebensweise. Figurationen des Gelehrtenlebens zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30, 2007, 107–118. 71 Vgl. UB Basel, Fr. Gr. Ms. II 23, Nr. 518: Brief vom 22. November 1582. 72 UB Basel, Fr. Gr. Ms. II 23, Nr. 519: Brief vom 22. Mai 1583: „Clarissimo viro D[omino] Doctori Theodoro Zuingero, patri meo reverenter colendo“. 73 UB Basel, Fr. Gr. Ms. II 23, Nr. 518: „Chare pater, tamen suppliciter te rogo, ut hanc illiteratam epistolam benigno animo suscipere digneris.“ – Auch viele sonst zwischen Alten und Jungen gewechselte Briefe zeugen von dem damals herrschenden Leistungsdruck: vgl. P. S. Allen, „Some Letters of Masters and Scholars, 1500–1530“, in: The English Historical Review 22, 1907, 740–754, bes. 745; M. Beer, Eltern und ihre Kinder des späten Mittelalters in ihren Briefen. Familienleben in der Stadt des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung Nürnbergs (1400–1550) (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 44), Nürnberg 1990, 323–328. 74 Vgl. Archives de la Ville et de la Communauté urbaine de Strasbourg, 1AST 162, no. 286[a], p. 712: Brief an Johann Marbach vom 12. Oktober [1569]: „Quantum enim puerilis conversatio iunctum habeat molestiae, probe novi.“ 75 Vgl. Zwinger, Theatrum vitae humanae, Bd. 1, Basel 1604, Bl. [):(4v]: Nachruf Felix Platters auf Theodor Zwinger; dazu M.-L. Portmann, „Biographie des Basler Humanistenarztes Theodor Zwinger (1533–1588), verfasst von seinem Kollegen
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In seinem Lebensbericht schildert Platter weiterhin die Enttäuschungen, die missratene Söhne ihren Vätern bereiteten. Zwei häufig wiederkehrende Beispiele sind Theophil, der Sohn des Basler medizinischen Ordinarius Oswald Bär (1482–1567) und Gilbert, der Sohn seines Hauswirts Catalan in Montpellier.76 Solche im „Tagebuch“ eingestreuten biographischen Vignetten stehen wie zur Verdeutlichung seiner persönlichen Lebensleistung da. Sie zeigen auch, dass sich Felix die elterlichen Maßstäbe zueigen machte: Die schulische Disziplin, der er sich in seiner Jugend und während seines Studiums unterwarf, erschien ihm später als unmittelbare Voraussetzung seiner Erfolge. Dass väterliche Zuwendung, intensive Förderung und entsprechender Druck überdurchschnittliche Studienleistungen nicht garantierten, wenn der Nachwuchs Leistungsbereitschaft und -willen vermissen ließ, zeigen demgegenüber die lange Jahre vom Scheitern bedrohten Pläne des Ulmer Arztes Wolfgang Reichart (1486–1547) für seinen Sohn Zeno (1507–1542/3).77 Große Besorgnis über dessen Gesundheit sowie ernste Ermahnungen zu einem strukturierten Studium weichen in den Briefen des Vaters allmählich gereizter Enttäuschung, da der Sohn den Studienort oft wechselte und dabei viel Geld verausgabte, ohne rechte Fortschritte vorweisen zu können. Dies meinte der Vater vor allem aus dem barbarischen Latein schließen zu können, dessen sich der Sohn seiner Meinung nach in seinen Briefen bediente – seit dieser mit zwölf Jahren das väterliche Haus verlassen hatte, korrespondierten Vater und Sohn, wie es in Akademikerfamilien üblich war, auf Latein.78 Auch Thomas Platter hielt seinen Sohn, als er im Jahr 1551 in Rötteln zur Schule ging, dazu an, die lateinische Grammatik zu üben,79 wobei seine eigeund Freund Felix Platter“, in: O. Baur; O. Glandien (Hg.), Zusammenhang. Festschrift für Marielene Putscher, Bd. 1, Köln 1984, 231–241. 76 Vgl. F. Platter, Tagebuch ..., 231 f., 238, 240, 243 u.ö. 77 Zu den beiden vgl. W. Ludwig, „Zur Biographie und Familie des Ulmer Humanisten und Stadtarztes Wolfgang Reichart (1486–1544)“, in: Genealogie 22, 1994/5, 263–272, Nachtrag: 404; W. Ludwig (Hg.), Vater und Sohn im 16. Jahrhundert. Der Briefwechsel des Wolfgang Reichart, genannt Rychardus, mit seinem Sohn Zeno (1520– 1543), Hildesheim 1999. 78 Vgl. W. Ludwig (Hg.), Vater und Sohn im 16. Jahrhundert ..., 181 f.: Brief vom 11. September 1523. Walter Ong („Latin Language Studies as a Renaissance Puberty Rite“, in: Studies in Philology 56, 1959, 103–124) hat den Lateinunterricht als Übergangsritus, welcher männliche Heranwachsende von der familiären Sphäre der Frauen abtrennte, und das Ertragen der Schläge der Lehrer als Mannbarkeitsprobe interpretiert. 79 Vgl. T. Platter, Thomas Platters Briefe ..., 8: Brief vom 7. Juli 1551. Seiner Mutter sollte Felix dagegen in deutscher Sprache schreiben.
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nen Briefe die Schwächen des Autodidakten auf diesem Gebiet erkennen lassen. Die Plattersche Familienideologie stellte allerdings auch attraktive Gratifikationen in Aussicht, wie Felix Platter sich später erinnerte: „Mein begirt und verlangen was von iugendt auf, in der artzny zestudieren und doctor zewerden, dohin auch mein vatter gedocht, wil er auch dorin gstudiert hatt und mir oft anzeigt, wie die doctor in der artzny firtreffenlich weren und mir etwan, do ich noch kindisch, zeigt, wie sy auf roßen daher ritten[.]“80
Neben der sozialen Anerkennung in der Gemeinde und Statussymbolen wie einem Ross, die ihm vor Augen gehalten wurden,81 spornte ihn auch der Gedanke an die ihm zur Ehe versprochene Nachbarin an. Schon dem Schüler imponierte die nahezu gleichaltrige Magdalena Jeckelmann (1534–1613)82 so sehr, dass er sie aufgrund seiner Schüchternheit kaum anzusprechen wagte83 und sich lieber „etwaß stiller, ingezogener unnd suberer an kleidung“ hielt.84 Damals habe er sich vorgenommen, „im studieren redlich firzefaren, domit ich in der medecin baldt zestudieren anfangen mechte“. Mit der Verehelichung von Felix und Magdalena erfüllte sich Thomas Platter erneut einen eigenen Wunsch. Wie er rückblickend berichtete, wurde ihm nach dem Tod seiner Ursula die Wahl von Magdalena als „ein andre dochter“ zu einem inneren Bedürfnis.85 Da ihm „des meitlins wandell und wäsen woll“ gefielen und „das Magdalenlin, der vatter und brieder so lieb“ waren, verpflichtete er Felix während dessen Studienzeit ausdrücklich zur sexuellen Treue; an diesen gewendet, teilte er mit, er werde es keinesfalls hinnehmen, dass „du das erlich und wolkönnent und zichtig meitlin bschissest“.86 Ähnliche Sorgen bewegten auch die Mutter, die meinte, dass „die welschen wiber können vill uffbutzens und liebko80 F. Platter, Tagebuch ..., 127, ähnlich S. 109 f. – eine recht wohlwollende Schilderung der medizinischen „Studien“ des älteren Platter, der sich eine Weile als Diener des Arztes Epiphanias Venetus verdingt hatte. 81 R. Frenken (Kindheit und Autobiographie ..., 520) nennt dies „narzißtische Prämien“. 82 Zu ihr vgl. V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie ..., 92–112; F. Platter, Tagebuch ..., 113 (Anm. 503). 83 Noch als seine Ehefrau redete Felix Platter Magdalena aus Ehrerbietung lange in der dritten Person an, was seinem Vater missfiel: vgl. F. Platter, Tagebuch ..., 330. 84 F. Platter, Tagebuch ..., 114. 85 Vgl. T. Platter, Lebensbeschreibung ..., 140. 86 T. Platter, Thomas Platters Briefe ..., 70: Brief vom 28. März 1555.
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sens etc.“87 Auch hierzu wurden Felix Platter die betrüblichen Folgen seines möglichen Versagens plastisch vor Augen geführt. Seine Mutter sorgte sich, er könnte, statt ein Doktor zu werden, als Hilfslehrer (provisor) oder „schlechter dorfpfaff“ enden und es „wie unsre studenten thůn, ein schlumpe, die kein haußhalterin sy, zum weib nemmen“.88
Reifung Als er Basel Ende Oktober 1552 in Richtung Montpellier verließ, litt der damals 16jährige Felix Platter unter einem Gefühl der Vereinsamung. In Avignon sah er sich sogar gezwungen, seine Weiterreise ganz ohne Begleitung fortzusetzen, worauf ihn eine trübe Stimmung befiel: „Aber gott erhielte mich; zog in ein kirchen doselbst, do man, wil eß suntag, sang und orglet, welchs mich ein wenig erquickt; gieng darnoch in mein herberg, aß wenig ze mittag und legt mich auf ein bett, do ich unmůt halben, daß sunst nit mein bruch was, entschlief. Gieng darnoch uf den obendt in die vesper, der music zůzelosen [zuzuhören], sas drurig in einem winckel.“89
Gottesdienst und geistliche Musik verschafften ihm, fern von der gewohnten heimatlichen Umgebung, ein Gefühl der Sicherheit in der Gewissheit, von Gott beschützt zu werden. Die elterlichen Sorgen über den Lebenswandel des Studenten erwiesen sich im übrigen als unbegründet, da Felix im Umgang mit dem anderen Geschlecht eher Schüchternheit an den Tag legte. Ebenfalls zum Oktober 1552 vermerkte er: „Wir aßen zum Engel ze mittag; do wolt mich des wirts dochter küßen, dorab ich letz that [mich wehrte], deßen sy meinen lachten, wil [es] bruch, mit 87 T. Platter, Thomas Platters Briefe ..., 64: Brief vom 10. Dezember 1554. Zu Einstellungen zur Sexualität in der frühen Neuzeit vgl. T. Walter, Unkeuschheit und Werk der Liebe. Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland (Studia Linguistica Germanica 48), Berlin, New York 1998, bes. 185–217. 88 F. Platter, Tagebuch ..., 109. 89 F. Platter, Tagebuch ..., 142; zu Platters Schilderungen seines Abschieds vgl. auch S. Pastenaci, Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung ..., 232–235; zu seiner akademischen Peregrinatio vgl. V. Nutton, „Wissenschaft und Wandern. Medizinstudenten und die Peregrinatio academica im 16. Jahrhundert“, in: U. Tröhler (Hg.), Felix Platter ..., 11–16.
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dem kus einandren zů grießen.“90 Auch anlässlich einer 1554 bei seinem Hauswirt Catalan stattfindenden Hochzeit verunsicherten ihn seine Gefühle gegenüber dem anderen Geschlecht: „Es waren ettlich damoisellen darby, al[le]s Marranen [getaufte Juden], darunder eine des Pierre Sos dochter, Jhane de Sos, gar ein frintliche iungfrauw, die im dantz und gesprech sich gar früntlich zů mir that, das ich in ir schier vernarret“.91 Gesellige Umgangsformen, Musik und Tanz scheinen ihm geholfen zu haben, diese Unsicherheit zu überwinden. In Montpellier erlernte er von dem Mitstudenten Volcher Coiter (1534–1576)92 das Harfen- oder Zitherspiel.93 In späteren Jahren war Felix Platter ein eifriger Tänzer und pflegte Festgesellschaften durch sein Instrumentenspiel zu unterhalten.94 Im reifen Alter sammelte er Musikinstrumente. Mit dem Tod war Platter schon durch das Ableben seiner Schwester konfrontiert worden. In seiner Jugend bereitete es ihm einen Schock, das Sterben anderer mitansehen zu müssen, besonders wenn ihm diese Menschen persönlich bekannt waren. So wurde am 3. Dezember 1556 eine Bedienstete seines Hausherrn, „des Catalani gewesene dienstmagt Bietris [Béatrice], die mir die stifel ußgezogen, alß ich gon Mompelier kam“, öffentlich hingerichtet: „Sy war vor eim jar von uns kommen zů einem pfaffen, by dem sy schwanger worden und do sy des kindts gnesen, [hatte sie es] ins heimlich gmach geworfen, do eß todt funden. Man gab sy zů einer anatomy [Obduktion], die hielt man ettlich tag im collegio; ir můter [Gebärmutter] war noch gros und gswullen, dan erst acht dag war, daß sy gnesen. Darnoch nam der nachrichter die stuck, bandt sy in ein lilachen und hancks also an galgen fir die statt.“95 90 F. Platter, Tagebuch ..., 143. 91 F. Platter, Tagebuch ..., 206. 92 Zu ihm vgl. an dieser Stelle D. Groß; J. Steinmetzer, „Strategien ärztlicher Selbstautorisierung ...“ (mit weiterer Literatur). 93 F. Platter, Tagebuch ..., 256: „Den 22 Octobris [1556] fieng ich an, uf der harpfen leeren spielen, und lart mich Coiterus, ein frieslender, den ich am roten schaden zevor curiert hat.“ In einem Brief an Joachim Camerarius II. ist dagegen von der Zither („cythara“) die Rede: Universitätsbibliothek Erlangen, Briefsammlung Trew [= UB Erlangen, Trew], Plater Nr. 1: Brief vom 9. Mai 1576. 94 Vgl. M. Staehelin, „Felix Platter und die Musik“, in: U. Tröhler (Hg.), Felix Platter ..., 74–81 (mit weiterer Literatur); weiterhin H. L. Höchstetter, Ein Brief vom 6. Februar 1551 an Felix Platter, enthaltend „Ein Stückle auffs Clavichordium“. Hg. und kommentiert von John Kmetz, Stuttgart 2006. 95 F. Platter, Tagebuch ..., 258 f. Dass Platter eine besonders große Aufmerksamkeit für Hinrichtungen bewiesen haben soll (so I. Schiewek, „Zur Autobiographie des Basler Stadtarztes ...“, 371), wäre mit einem Blick in andere zeitgenössische (Fami-
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Der Gedanke an eine höhere Gerechtigkeit, der diese Vorgänge für Platter unterworfen waren, mochte tröstlich erscheinen. Der mitgeteilte Sektionsbefund deutet schon an, wie der professionelle Blick des Mediziners später den Tod versachlichte und seinen Schrecken entschärfte.96 Felix Platter bekannte sich zur reformierten Konfession und war auch bereit, dem Bürgermeister und Rat seiner Heimatstadt urkundlich zuzusichern, er werde sich in Fragen der Religion „gleichformig halten“.97 Dies mag vornehmlich dem Umstand geschuldet gewesen sein, dass Platter dieses Bekenntnis aus freien Stücken teilte, doch schätzten andere Gelehrte seiner Zeit den Wert der Gewissensfreiheit höher ein und handelten danach. Ansonsten teilte Platter die herrschende Endzeitstimmung. An den Zürcher Antistes Heinrich Bullinger (1504–1575) gerichtet, schrieb er im Jahr 1572, angesichts der politischen Lage – gemeint war die Bartholomäusnacht in Frankreich – fürchte er, dass Gott ihnen das Heil entzogen habe und nun alles hoffnungslos stehe.98 Ein weiterer, sehr dichter Beleg für das religiöse Empfinden Platters bestätigt, dass er Gott als reale Ursache der Vorgänge in der Welt sah: In seinem Bericht zu der 1577 in Sigmaringen gehaltenen Hochzeit des Grafen Christoph von Hohenzollern (1552–1592) erwähnt Platter einen unglücklichen Totschlag. Zu der Zeit habe in Basel ein Büchsenschmied versehentlich seine Gattin und eine weitere Frau erschossen. Da es aus Fahrlässigkeit geschehen war, wurde der Mann nicht zum Tode verurteilt, sondern aus der Stadt verbannt. Doch habe ihn seine gerechte Strafe auf anderem Wege ereilt: „Ist doch auch ein ander straf, daß er hernoch in einem schiffbruch im Rhein erdruncken, durch Gottes gerechten urtheil, der niemandt unrecht thůt, ervolget.“99 lien-)Chroniken zu widerlegen: Gewaltverbrechen und Hinrichtungen gehörten zu den spektakulärsten und in ihren blutigen Details auch interessantesten Begebenheiten in städtischen Gemeinden. 96 Befunde am Uterus von hingerichteten Frauen schildert Platter auch in der Observatio Nr. 145: vgl. F. Platter, Observationes ..., 145. 97 Staatsarchiv Basel, Erziehungsakten AA 3: Professio medicinae practicae: „Felix Platters Revers Brieff“ vom 11. Juni 1571. 98 Staatsarchiv Zürich, E II 336: 102, neu 120: „Sed hisce postremis temporibus et exulceratis metuo, ne omnes abripiat nobis Deus salutis commodi[tates:] ita videmur omnia desperata. Ita me movet [Gallica] proditio, ut videar mihi omni spe excidisse.“ 99 F. Platter, Tagebuch ..., 460. Wie ernst es Platter mit der ergänzenden Bemerkung war, er habe sich zu derselben „unglick haftigen stundt“ (S. 459) am Bein verletzt, bleibt unklar. Astrologische Überlegungen spielen bei ihm sonst keine Rolle.
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Das unverhoffte Einbrechen des Todes mochte so für Platter durch eine schicksalhafte Gerechtigkeit, in der Zeit- und Heilsgeschichte, Erlösungsbedürftigkeit der Welt und die Fruchtlosigkeit menschlichen Strebens verknüpft waren, eine Erklärung finden. Platter war gleichfalls bereit, die Pest, an der neben seinen Schwestern Ursula und Margret († 1539) auch seine Halbschwestern Ursula II. und Anne († 1582), sein Taufpate Simon Grynäus († 1541) sowie, neben zahlreichen anderen Mitprofessoren, sein Medizinerkollege Jakob Zwinger mit Frau und Kindern († 1610) starben,100 prinzipiell als gerechte Strafe Gottes101 zu akzeptieren. Als 1564 beide Eltern sowie Platter selbst erkrankten,102 mochten ihnen ihre anschließende Genesung sowie die leidliche Sicherheit, die seither gegen ein Wiederaufflammen des Pestfiebers bestand, umgekehrt als überirdische Wohltat vorgekommen sein. Beim Tod eines ungeliebten Standeskollegen, des Paracelsisten Dr. med. Adam von Bodenstein (1528–1577), am Palmsonntag 1577 verdichteten sich für Platter erneut die Anzeichen für ein Eingreifen höherer Mächte: Weniger die Tatsache, dass von Bodenstein „ein theriac meinen herren [den Stadtoberen] zehanden stalt [stellte], sampt einem biechlin an sy gestelt“, war es, welche ihn zuvor empört hatte,103 sondern dass von Bodenstein, der 1564 nach dem Tod von Frau und etlichen Kindern nach Frankfurt geflohen war, um dort das Abklingen der Seuche abzuwarten,104 sich in der besagten Schrift 100 Vgl. F. Platter, Beschreibung der Stadt Basel 1610 und Pestbericht 1610/11. Synoptische Edition mit Ausschnitten aus dem Vogelschauplan von Matthäus Merian d.Ä. (1615) und dem Stadtplan von Ludwig Löffel (1862). Im Auftrag der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft zu Basel hg. und kommentiert von Valentin Lötscher (Basler Chroniken 11), Basel, Stuttgart 1987, hier 119–121, 141, 287. Später sollte auch sein Halbbruder Thomas Platter der Pest zum Opfer fallen (vgl. S. 136: Kommentar). 101 Vgl. dazu etwa P. Feuerstein-Herz (Hg.), Gotts verhengnis und seine strafe. Zur Geschichte der Seuchen in der Frühen Neuzeit [Ausstellung der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel in der Augusteerhalle, in der Schatzkammer, im Kabinett und Globenkabinett vom 14. August bis 13. November 2005], Wolfenbüttel 2005, bes. 19–21, 208–213. 102 F. Platter, Beschreibung der Stadt Basel..., 130: Platter hatte „ein pestelentz bletterlin auf der hand bim daumen“. 103 F. Platter, Beschreibung der Stadt Basel ..., 134; vgl. dazu R. Hunziker, Felix Platter..., 53; J. Karcher, Felix Platter ..., 72–80. Theriak war als wirksames Mittel gegen die Pest allgemein anerkannt. Viele Ärzte suchten wie von Bodenstein den Kranken ihrer Gemeinden durch Anweisungen gegen die Pest zu Hilfe zu kommen. 104 Vgl. F. Platter, Beschreibung der Stadt Basel ...; Platters schlechte Meinung über von Bodenstein wird auch ersichtlich aus F. Platter, Observationes ..., 133: Observatio Nr. 160; vgl. dazu K. Huber, Felix Platters „Observationes“ ..., 163.
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rühmte, vielen Pestkranken geholfen zu haben. Als er später, „do doch domolen niemandt in der forstat kranck lag noch in seinem haus vor oder nach seinem todt doran gelegen, allein an der pest starb“, wollte es Platter so scheinen, als hätte Gott „sein vermeßenheit hierin, im riemen wie er vilen im großen sterbendt geholfen habe, do er doch, wie doselbst vermeldet, dorinnen geflochen und nit nach der seinen absterben die zeit des sterbens verblyben, gestroft“.105 Platter musste über viele Jahrzehnte hinweg mit ansehen, wie neben nahen Verwandten und verdienten Kollegen buchstäblich Tausende seiner Mitbürger mit ihren Familien starben, ohne dass er als Arzt wirksam hätte eingreifen können.106 Der christliche Glaube mochte Hilfe bieten, angesichts dieser Ohnmacht Haltung zu bewahren. So schickte er 1595 neben zwei Gedichten ein „recept geistlich contra pestem“ an Renward Cysat nach Luzern, das er „in peste illa componiert“ hatte.107 Rettung war entsprechend einer seit dem Mittelalter verbreiteten Überzeugung angesichts des massenhaften Sterbens in Gott und beim Gebet, nicht im Diesseits und bei der Medizin zu suchen. Von seiner professionellen Haltung zeugt andererseits Platters Pesttodbericht von 1611. Im Jahr zuvor war eine Anfrage des Stadtrats an die Baseler Physici ergangen, was angesichts der wieder um sich greifenden Seuche zu unternehmen sei.108 Platter untersuchte daraufhin die zeitliche und räumliche Verteilung der Todesfälle mit modernen Methoden bürokratischer Verwaltung.109 Sein Vorgehen steht für die professionelle Distanz vom persönlichen Leid der 105 Vgl. F. Platter, Beschreibung der Stadt Basel ..., 134. Zu Platters medizinischen Vorstellungen über die Pest vgl. H. M. [F.] Koelbing, „Diagnose und Ätiologie der Pest bei Felix Platter ...“, in: C. Habrich; F. Marguth; J.H. Wolf (Hg.), Medizinische Diagnostik in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Heinz Goerke zum 60. Geburtstag, München 1978, 217–226: Den Umstand, wen die Krankheit befiel, hat Platter göttlichen, nicht natürlichen Ursachen zugeschrieben: vgl. S. 224. 106 Zur Mortalität vgl. F. Hatje, Leben und Sterben im Zeitalter der Pest. Basel im 15. bis 17. Jahrhundert, Basel, Frankfurt am Main 1992, 85–106, Tabellen: 159 ff. 107 T. von Liebenau, „Felix Plater von Basel ...“, 105: Brief vom 5. März 1595. 108 Vgl. M. Mattmüller, „Platters Pestforschung im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Pestpolitik der Stadt Basel“, in: U. Tröhler (Hg.), Felix Platter…, 53–59, hier 57 (unter Verweis auf Staatsarchiv Basel, Protokolle des Kleinen Rats, Bd. 12, Bl. 159r); zu den gegen die Pest getroffenen Verordnungen vgl. F. Hatje, Leben und Sterben ..., 40–42, 64 f., 69 f. u.ö. 109 Vgl. dazu F. Hartmann; H.-J. Klauke, „Anfänge, Formen und Wirkungen der Medizinalstatistik“, in: M. Rassem; J. Stagl (Hg.), Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit vornehmlich im 16.–18. Jahrhundert. Bericht über ein interdisziplinäres Symposion in Wolfenbüttel, 25.–27. September 1978, Paderborn 1980, 283–305.
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Kranken und Sterbenden, die ein Arzt für sich finden muss und der heranwachsende Platter noch nicht einzunehmen vermochte.110
Ehe Zweifellos wurden Felix Platters berufliche Erfolge als Arzt und Gelehrter von dem Umstand begünstigt, dass er mit seiner ihm jung angetrauten Frau eine sehr lange und dem Anschein nach harmonische (wenn auch zum Bedauern des Paares kinderlose)111 Ehe führte. Somit bestand für ihn keine Schwierigkeit, materielle und emotionale Interessen in Übereinstimmung miteinander zu bringen.112 Magdalena Platter war in der Stadt und sogar darüber hinaus als eine Schönheit bekannt. Wie Platter im „Tagebuch“ berichtet, erzählte ihm ein Auswärtiger, „er hette vor zeitten zu Basell die schöniste jungfrauw gesehen“, ohne sich bewusst zu sein, dass es (wie sich herausstellte) die spätere Ehefrau Platters gewesen war.113 Auch dies wirkt wie ein Glücksfall, denn für Nachwuchsmediziner war üblicherweise die Einheirat in die besseren Kreise – oft über Witwen, nicht selten solche von Kollegen – ein erster Schritt auf dem Weg, sich zu etablieren. Wie zur Veranschaulichung seiner ehelichen Zufriedenheit erzählte Platter später, er habe im Dezember 110 In Verkennung der emotionalen Anforderungen, denen sich ein Arzt stellen muss, spricht S. Pastenaci (Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung ..., 230) von „Abstumpfung“. Wie R. Frenken („Da fing ich an zu erinnern ...“, 267) dagegen richtig feststellt, ist „Affektisolierung […] ein wichtiger Bestandteil jeder ärztlichen Ausbildung“. 111 Vgl. dazu Platters Brief an Joachim Camerarius II. vom 8. Juli 1593: „Ego sine liberis vivo; solatur tamen meus frater ex parente meo se[p]tuagenaris natus, qui gradum magistrii, nondum novenderim annos natus, hisce diebus consequi, inde ad studium medicinum accesurus.“ (UB Erlangen, Trew, Plater Nr. 6). Im Jahr 1595 informierte er auch Renward Cysat über die Fortschritte von Thomas d.J., der es schon zum Doctor philosophiae gebracht habe: vgl. T. von Liebenau, „Felix Plater von Basel ...“, 104: Brief vom 5 März 1595. 112 Vgl. H. Medick; D. Sabean, „Emotionen und materielle Interessen in Familie und Verwandtschaft. Überlegungen zu neuen Wegen und Bereichen einer historischen und sozialanthropologischen Familienforschung“, in: H. Medick; D. Sabean (Hg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 75), Göttingen 1984, 27–54. 113 F. Platter, Tagebuch ..., 384; vgl. J. Karcher, Felix Platter ..., 97; V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie ..., 92.
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1553 in Montpellier den aus Ravensburg stammenden Johannes Zonion getroffen, der sich zuvor in Kleinbasel als Schulmeister verdingt hatte. Inzwischen hatte Zonion, um dieser wirtschaftlich engen Existenz zu entkommen, „ein alt wib by 70 jaren, die Jecklinen genant, zur ee genommen, die im gelt geben, [um] doctor in Franckrich zewerden“.114 Auch über den Basler Kollegen Philipp Bech (1521–1560) mokierte sich Platter im „Tagebuch“. Bech hatte eine Witwe geheiratet, die „etwas vermocht“ (also Vermögen besaß), mit der er aber im Unfrieden lebte und die er vor anderen „ein schüt“ (lies: „Schutt“: ‚Dreck‘) nannte.115 Die Familie Platter hatte sich, trotz ihrer niederen Herkunft,116 durch die Eheschließung von Felix Platter mit der Tochter des Scherers und (seit 1544) Ratsherrn Franz Jeckelmann der Basler Zunftoligarchie verbunden. Ebenso wie die Wahl von Simon Grynäus als Felix’ Taufpaten117 war dies ein Vorgang von politischer Tragweite, denn die Platter waren Zugereiste, und Thomas als Stadtlehrer wie später Felix als Stadtarzt und Hochschullehrer standen zu der politischen Führung ihrer Stadt zeitlebens in einem Dienst- und Abhängigkeitsverhältnis. Den Studenten Felix klärte Thomas Platter darüber auf, er werde als „eins armen schůlmeisters sun“ die Unterstützung bekannter Männer des Rates benötigen.118 Dass der Bürgermeister Theodor Brand (1488– 1558), ein handwerklich ausgebildeter Wundarzt, neben vielen Zunft- und 114 F. Platter, Tagebuch..., 188. Immatrikuliert wurde Zonion in Basel 1547/8: vgl. H. G. Wackernagel (Hg.), Die Matrikel der Universität Basel. Bd. 2: 1532/33– 1600/01, Basel 1956, 54. 1555 wurde er in Montpellier promoviert, 1556 erscheint er als Stadtarzt im elsässischen Mühlhausen. Wie Platter berichtet, hat es ihn, nachdem seine alte Frau gestorben war, zurück ins heimatliche Ravensburg gezogen. 115 F. Platter, Tagebuch..., 363 f. 116 Siehe dazu ausdrücklich T. Platter, Lebensbeschreibung ..., 143. 117 Auch für seinen jüngeren Sohn Thomas wählte der alte Platter mit Samuel Grynäus und Basilius Amerbach zwei einflussreiche Männer der Universität zu Taufpaten: vgl. T. Platter, Lebensbeschreibung ..., 148. 118 T. Platter, Thomas Platters Briefe ..., 40: Brief mit Eingangsvermerk vom 26. Februar 1554; vgl. dazu B. T. Moran, „Patronage and Institutions. Courts, Universities, and Academies in Germany; an Overview: 1550–1750“, in: B. T. Moran (Hg.), Patronage and Institutions. Science, Technology and Medicine at the European Court 1500–1750, Woodbridge 1991, 169–183; R. Schlögl, „Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit“, in: Geschichte und Gesellschaft 34, 2008, 155–224. – Mit seiner „Armut“ kokettierte der ältere Platter eher: Obwohl er kein abgeschlossenes Studium vorweisen konnte, hatte er 1544 der Basler Obrigkeit ein Gehalt von 100 Gulden abgetrotzt, über dessen außerordentliche Höhe er Stillschweigen
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Ratsherren im November 1557 persönlich zur Hochzeit erschien, war für den jungen Doktor und seine Braut eine besondere Auszeichnung.119 Dem Schneidarzt Jeckelmann war es umgekehrt offenbar um das akademische Renommee zu tun, das die Verehelichung seiner Tochter mit Felix Platter einbringen würde. Thomas Platter berichtete vor der Hochzeit, man sehe in Basel mit Missbehagen, dass Franz Jeckelmann seine Tochter anderen Bewerbern vorenthielt, und meine, „sy můss ein iungen doctor han“.120 Im Großen und Ganzen scheinen die Pläne, die der ältere Platter für seinen Sohn schmiedete, diesem echte Vorteile für sein weiteres Leben verschafft zu haben. Die hohe Ärztedichte Basels hatte Thomas Platter früh als Problem erkannt,121 dennoch wünschte er nicht, dass Felix sein Glück beruflich in einer anderen Stadt suchte. Als Mediziner profitierte Felix Platter später von einer gelungenen „Marketingidee“ seines Vaters, der ihm geraten hatte, sich in seinem Studium auf Chirurgie und Anatomie zu konzentrieren,122 denn die Basler Chirurgi seien äußerst ungeschickt („imperitissimi“) – wobei Thomas Platter Franz Jeckelmann ausdrücklich ausgenommen wissen wollte.123 Fehlendes eigenes Vermögen und Schulden, die Felix Platter in seiner Studienzeit in Montpellier gemacht hatte, zwangen das junge Ehepaar anfangs, im Haus der älteren Platter zu wohnen, was zu den üblichen Konflikten führte, „wie wan alt und iungs by einander wont, sich gmeinlich zů dreg“.124 Felix hatte anfangs kaum Patienten und litt darunter, dass er seiner attraktiven jungen Frau kein Leben bieten konnte, „wie eins doctors frauwen gebürt“. Der verhältnismäßig späte Zugewinn an Autonomie ist dabei ein durchgängiges Kennzeichen von Felix Platters Biographie.125 Noch in der Aufgabe, das physische Fortbestehen der Familie zu sichern, sollte er Jahre später auf das Zutun seines Vaters angewiesen sein. Um 1572 hatten er und seine Ehefrau Magdalena die Halbwaise Margret Simon als bewahren musste: vgl. T. Platter, Lebensbeschreibung ..., 131. Von dem Geld leistete er sich den Luxus, in und um Basel Immobilien zu sammeln: vgl. S. 125, 138. 119 Vgl. F. Platter, Tagebuch ..., 322; G. Steiner, „Ärzte und Wundärzte ...“, 188 f. 120 T. Platter, Thomas Platters Briefe..., 84: Brief vom September 1555. 121 Im Brief vom 3. Mai 1553 warnte er, es werde bald „grusam vill medici zů Basel“ geben: T. Platter, Thomas Platters Briefe ..., 20. 122 Vgl. T. Platter, Thomas Platters Briefe ..., 20, 29 f.: Briefe aus dem Jahr 1553; dazu G. Steiner, „Ärzte und Wundärzte ...“, 184. 123 T. Platter, Thomas Platters Briefe ..., 73: Brief vom 28. März 1555. 124 F. Platter, Tagebuch ..., 330. 125 Vgl. übereinstimmend C. Bumiller, „Die ,Selbstanalyse‘ des Arztes Felix Platter ...“, 311–313; R. Frenken, Kindheit und Autobiographie ..., 516 f.
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Pflegekind aufgenommen, ohne sie jedoch zu adoptieren.126 Erst durch die sechs Halbgeschwister, die sein Vater in seiner späten zweiten Ehe mit der fast fünfzig Jahre jüngeren Esther Gross († 1613) zeugte127 – die Ehe wurde zwei Monate nach dem Tod von Felix’ leiblicher Mutter geschlossen –, füllte sich ihr Haushalt mit Kindern.
Erfolg im Berufsleben Der ältere Platter lenkte seinen Sohn Felix mit guter Voraussicht und sichtbarem Erfolg in Richtung eines dauerhaften Aufstiegs in die wohlhabenden Kreise sowie die Ärzte- und Professorenschaft Basels. Dabei erwies sich auch als vorteilhaft, dass Söhne von Honoratioren der Gemeinde und Adligen aus der Umgebung unter seinen Schülern gewesen waren.128 Der junge Mediziner strengte sich auch gehörig an, um seine Praxis in Schwung zu bringen. So nahm er beispielsweise beschwerliche mehrtägige Reisen auf sich, um auswärtige Kranke, die nach ihm verlangten, zu besuchen. Allein im November 1562 verließ Felix Platter zu diesem Zweck zehnmal die Stadt, wobei er einmal drei, ein anderes Mal vier Tage ausblieb.129 Wie das 1612 aufgestellte Verzeichnis aller seiner Einkünfte dokumentiert, reiste er in den ersten 13 Jahren seiner Praxis in 414 und insgesamt in 700 Fällen zu seinen Patienten.130 Weiter nahmen er oder seine Frau Kranke zur stationären Pflege bei sich auf.131 Vor allem wohl seinem gut entwickelten alltagspsychologischen Verständnis hatte es Platter zu verdanken, bald als guter Arzt akzeptiert zu werden. In den ersten drei Jahren nach seiner Promotion verschaffte er sich mit Eifer, Talent und Geschick einen prominenten und solventen Patientenstamm,132 was sich auf Dauer auch finanziell bezahlt machte. Mit der Behandlung von Auswärtigen hatte er am Ende mehr als das Fünffache im Vergleich zur 126 Vgl. F. Platter, Tagebuch ..., 451–455. 127 Zu ihr vgl. V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie ..., 150–152. 128 Wie Felix Platter (Tagebuch ..., 65–67) betont, bewirtete sein Vater stets „stattliche“ Tischgänger bei sich im Haus: vgl. dazu auch V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie ..., 81–91. Auf der Reise ins heimatliche Wallis, die Thomas 1563 mit Felix und Magdalena unternahm, traf er zahlreiche ehemalige „kostgenger“ wieder: vgl. F. Platter, Tagebuch ..., 401–426. 129 Vgl. F. Platter, Tagebuch ..., 389 f. 130 Vgl. F. Platter, Tagebuch ..., 520. 131 Vgl. F. Platter, Tagebuch ..., 362. 132 Vgl. F. Platter, Tagebuch ..., 337–369.
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Behandlung Einheimischer verdient.133 Doch die physische und psychische Belastung durch die Praxis war groß. Im Jahr 1571 erläuterte Platter deshalb, an die Stadtobrigkeit gerichtet, seinen Wunsch, sich zu diesem Zeitpunkt dem Amt als Stadtarzt und der Universitätslaufbahn zuzuwenden.134 Angesichts seiner florierenden Praxis sei es nicht die in Aussicht gestellte Besoldung, die ihn bewege, diese Aufgaben zu übernehmen. Allerdings wachse sein Überdruss an dem ständigen Herumreisen, das ihm als viel gefragtem Arzt abverlangt werde, täglich an. Die ihm angebotene Stellung ermöglichte es ihm, sich bei seinen auswärtigen Patienten entschuldigen zu lassen. Als Mediziner profitierte Platter von der zunehmenden Professionalisierung, Institutionalisierung und Bürokratisierung des Arztberufes, die die Städte seit der Mitte des 16. Jahrhunderts im Rahmen ihrer medizinischen „Policey“ vorantrieben.135 Akademisch ausgebildeten Medizinern eröffneten sich damit Karrieren im Dienst ihrer Gemeinden. Wie er in seinen Observationes öfters berichtet,136 wirkte Platter auch als Gerichtsmediziner und erfüllte damit bei der Strafverfolgung Herrschaftsfunktionen, die Rollenkonflikte aus seinem Selbstverständnis als Heilkundiger und Amtsträger hervorriefen.137 Besonders in der 133 Vgl. F. Platter, Tagebuch ..., 520. 134 Vgl. Staatsarchiv Basel, Erziehungsakten, AA 3: Professio medicinae practicae: Brief [vom Juni 1571]. 135 Vgl. dazu R. Braun, „Zur Professionalisierung des Ärztestandes in der Schweiz“, in: W. Conze; J. Cocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil I: Bildungssystem und Professionalisierung im internationalen Vergleich (Industrielle Welt), Stuttgart 1985, 332–357; A. W. Russel (Hg.), The Town and State Physician in Europe from the Middle Ages to the Enlightenment (Wolfenbütteler Forschungen 17), Wolfenbüttel 1981; P. U. Unschuld, „Professionalisierung und ihre Folgen“, in: H. Schipperges; E. Seidler; P. U. Unschuld (Hg.), Krankheit, Heilkunst, Heilung (Veröffentlichungen des „Instituts für Historische Anthropologie e.V.“ 1), Freiburg, München 1978, 517–555. 136 Vgl. F. Platter, Observationes..., Nr. 49, 119, 140, 147, 108, 341, 451–454, 578, 610 (teilweise nach K. Huber, Felix Platters „Observationes“ ..., 80–143). 137 Vgl. R. Dirnhofer, „Felix Platter – Vater der helvetischen Gerichtsmedizin“, in: U. Tröhler (Hg.), Felix Platter ..., 45–52; D. Guggenbühl, Gerichtliche Medizin in Basel von den Anfängen bis zur Helvetik, Basel 1963, 33 f., 86 f., 100–102, 104; weiterhin B. Elkeles, Aussagen zu ärztlichen Leitwerten, Pflichten und Verhaltensweisen in berufsvorbereitender Literatur der frühen Neuzeit, Hannover 1979, 186; E. Fischer-Homberger, Medizin vor Gericht. Von der Renaissance bis zur Aufklärung, Bern 1983. – Freilich hatten nicht nur studierte Ärzte, sondern auch die übrigen approbierten Heilpersonen in den Gemeinden Aufgaben der „Macht“ zu erfüllen: Wundärzte waren anzeigepflichtig bei Verdacht auf Körperverletzung, Aussatz, Pest oder Syphilis, Hebammen bei Verdacht auf Abtreibung oder Kindsmord:
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Funktion als gerichtsärztlicher Gutachter bei der Bewertung möglicher ärztlicher Kunstfehler besaß sein Urteil Gewicht.138 Sein verantwortungsvolles städtisches Amt sowie die von der Universität verliehenen Titel und Funktionen erfüllten Platter mit sichtlichem Stolz. Mit ostentativem Standesbewusstsein unterzeichnete er seine Briefe als Archiater, Professor und Rektor der Hochschule.139 In der Tat wurde die soziale Stellung Platters an den Ämtern, die er in seiner Gemeinde erfüllte, öffentlich sichtbar: Als Archiater war er der wichtigste Arzt im Dienst der Stadt und zugleich ordentlicher Professor der Universität. In dieser Funktion leitete er als Dekan insgesamt zwölfmal die medizinische Fakultät und, indem er sechsmal als Rektor amtierte, auch die Universität. Nach seinem Tod wurden diese ehrenhaften Positionen auf seinem Epitaph im Kreuzgang des Basler Münsters vermerkt.140 Im öffentlichen Raum der Universität wurden Platters Ruhm und Ehre ebenfalls vorgeführt: Als Ordinarius für Praktische Medizin ließ er 1573 das von Andreas Vesalius (1514–1564) im Jahr 1543 präparierte Skelett in der Aula der Universität ausstellen und daneben Skelette einer Frau, eines Kindes und eines Affen, die er selbst angefertigt hatte, platzieren. Eine Inschrift verwies auf den berühmten Anatomen und kaiserlichen Leibarzt Vesalius, den man als Platters „Lehrer“ (und diesen damit als seinen „Schüler“) ehrte.141 Vesalius war schon zu seinen Lebzeiten als einer der ganz großen Ärzte bekannt, und Felix Platter näherte seine Person strategisch dieser überlegenen wissenschaftlichen Autorität an, wie der anekdotenhafte Bericht über den Raub einer Leiche für studentische Selbststudien in Platters Autobiographie vgl. D. Guggenbühl, Gerichtliche Medizin ..., 46, 57 f.; H.-J. Warlo, Mittelalterliche Gerichtsmedizin in Freiburg/Br. und am Oberrhein, Freiburg im Breisgau 1972, 34 f., 52. 138 Vgl. die ausführliche Observatio Nr. 140 in: F. Platter, Observationes..., 117–119; dazu auch B. Elkeles, Aussagen zu ärztlichen Leitwerten..., 188–190; H.-J. Warlo, Mittelalterliche Gerichtsmedizin ..., 59–62. 139 Vgl. UB Erlangen, Trew, Plater Nr. 2: Brief vom 17. November 1576. 140 Wiedergabe bei V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie ..., 176 f.; T. Walter, „Ärztliche Selbstdarstellung ...“. 141 Wiedergabe bei T. Walter, „Ärztliche Selbstdarstellung ...“; vgl. dazu H. Buess, „Der Einfluss Vesals auf die praktische Anatomie am Beispiel Felix Platters“, in: R. Herrlinger; F. Kudlien (Hg.), Frühe Anatomie. Eine Anthologie, Stuttgart 1967, 181–198; A. Burckhardt, Geschichte der medizinischen Fakultät ..., 67, 73; V. Lötscher, Felix Platter und seine Familie ..., 139 f.; F. Rudolf, „Ein Erinnerungsblatt an Andreas Vesalius“, in: Basler Jahrbuch 1943, Basel 1942, 113–121, hier 118–120.
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zeigt.142 Dort notierte Platter weiterhin, er habe im April 1559 in Basel die erste öffentliche anatomische Demonstration seit Vesalius durchgeführt, was ihm großen Ruhm eingebracht habe.143 Es gab aber auch persönliche Anknüpfungspunkte, die ein emotionales Motiv für den weiteren Verlauf von Platters medizinischer Karriere abgeben. Sein Schwiegervater Franz Jeckelmann hatte im Jahr 1543 Vesalius anlässlich der besagten öffentlichen Sektion assistiert, sein Vater ihn in seinem Haus bewirtet.144 Daher gehörte der Name des berühmten Anatomen schon zur „Erinnerungspolitik“ der Familien Platter und Jeckelmann. Auch Thomas Platter lässt ihn in seinen Briefen an zwei Stellen fallen.145 In weniger erfreulicher Erinnerung behielt man dagegen Michael Martin Stella, einen Cousin von Vesalius, der im Studienjahr 1546/7 in Basel immatrikuliert worden war und im Jahr 1555 das Basler Bürgerrecht erworben hatte. Ihm hatte Thomas Platter 1556 seine Druckerei verpachtet, doch war Stella „nach 30 wuchen on zalung hinweg geloffen“.146 Dagegen war die publizistische Sicherung seines Nachruhms für Platter notgedrungen ein nachrangiges Anliegen. Während sein Kollege Theodor Zwinger schon in verhältnismäßig jungen Jahren sein monumentales Theatrum vitae humanae (Basel 1565) veröffentlichte, gab Platter seine Erstlingsschrift De corporis humani structura et usu libri III (Basel 1583) erst mit 47 an den Tag. Anders als sein späterer Kollege Caspar Bauhin (1560–1624), der, aus vermögender Familie stammend, finanziell unabhängig war147 und so zeit142 Vgl. F. Platter, Tagebuch ..., 209–211; dazu S. Lembke, „Wie der menschliche Leichnam zu einem Buch der Natur ohne Druckfehler wird. Über den epistemologischen Wert anatomischer Sektionen im Zeitalter Vesals“, in: A. Schirrmeister; M. Pozgai (Hg.), Zergliederungen – Anatomie und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2005, 19–49, hier 28–30; N. G. Siraisi, „Vesalius and the Reading of Galen’s Teleology“, in: N. G. Siraisi, Medicine and the Italian Universities 1250–1600, Leiden u.a. 2001, 253–286, hier 272; C. D. O’Malley, Andreas Vesalius of Brussels, Berkeley, Los Angeles 1964, 64. 143 Vgl. F. Platter, Tagebuch..., 353. 144 Vgl. G. Steiner, „Ärzte und Wundärzte ...“, 188 f. bzw. F. Platter, Tagebuch..., 61. 145 Vgl. T. Platter, Thomas Platters Briefe ..., 39, 81: Briefe aus den Jahren 1554 und 1555. 146 F. Platter, Tagebuch ..., 252 (mit Anm. 782); vgl. dazu F. Hieronymus, Griechischer Geist aus Basler Pressen. Katalog der frühen griechischen Drucke aus Basel in Text und Bild, Basel 2003; http://www.ub.unibas.ch/kadmos/gg/?http://www.ub.unibas.ch/ kadmos/gg/hi/higg0265.htm, gef. am 26.6.2009. 147 Er war 1581 in Basel zum Dr. med. promoviert worden und übernahm dort 1582 nach dem Tod seines Vaters dessen Praxis. Daneben war er als Professor für grie-
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weise, etwa im Jahr 1609, an bis zu acht Publikationen gleichzeitig arbeitete,148 entwickelte sich Platter nie zu einem ausgesprochenen Vielschreiber. Er war sogar ausgesprochen lange mit seinen Veröffentlichungen beschäftigt. Bereits 1576 teilte er dem Nürnberger Arzt Joachim Camerarius mit, er gebe sich alle Mühe, das genannte Werk fertig zu stellen.149 1591 schrieb er wieder an Camerarius, er arbeite nun schon seit neun Jahren an einem neuen Werk.150 Tatsächlich sollte sein De febribus erst 1597 erscheinen! Die florierende ärztliche Praxis, die Verpflichtungen als Stadtarzt und Universitätslehrer wie auch ein Bedürfnis nach besonderer Sorgfalt mögen für diese Verzögerungen ursächlich gewesen sein. Auf eine Schreibhemmung (im Lateinischen) könnte indes auch der Umstand hinweisen, dass Platter seine Gelehrtenkorrespondenz nie so intensiv führte wie seine Kollegen Zwinger und Bauhin. Im Umgang mit seinen zahlungskräftigen und sozial privilegierten Patienten hätte sich Platter eine solche Nachlässigkeit freilich zu keinem Zeitpunkt erlauben dürfen! Bereits in den Briefen, die sein Studienkollege Theodor Birkmann (1534–1586) in den Jahren 1557 und 1558 an ihn richtete, bilden das vergebliche Warten auf eine Antwort Platters und die Frage, weshalb dieser anscheinend nie Gelegenheit finde zu schreiben, das Leitmotiv jedes Briefanfangs.151 1562 beschwerte sich der berühmte Zürcher Arzt und Universalgelehrte Konrad Geßner bei seinem zwanzig Jahre jüngeren Kollegen ebenfalls in unzweideutigen Worten, dass diesem sein anhaltendes Schweigen schlecht anstehe.152 Auch diesen wertvollen Kontakt in die gelehrten Welt verdankte Felix Platter seinem Vater. Geßner ließ Thomas Platter als seinem früheren Lehrer in
chische Sprache tätig und lehrte „privatim“ (also finanziert durch Hörergelder) Botanik und Anatomie. Anscheinend gingen seine Geschäfte so gut, dass er es nach dem Tod Theodor Zwingers ablehnte, die damit frei gewordene Professur für theoretische Medizin zu übernehmen. 148 Vgl. K. Wein, „Caspar Bauhin an Ludwig Jungermann. Ein Beitrag zur Botanik des 17. Jahrhunderts“, in: Sudhoffs Archiv 30, 1937, 152–166, hier 159 f.: Brief an Jungermann vom 29. August 1609: Mehr (!), so Bauhin, könne er derzeit wegen seiner universitären und häuslichen Verpflichtungen nicht leisten. 149 Vgl. UB Erlangen, Trew, Plater Nr. 1: Brief vom 9. Mai 1576. 150 Vgl. UB Erlangen, Trew, Plater Nr. 5: Brief vom 10. September 1591. 151 Vgl. UB Basel, Fr. Gr. Ms. II 8, Nr. 146–149. 152 Vgl. K. Geßner, Epistolarum medicinalium ..., Bl. 98r: „Numquam ad ultimas meas respondisti, & promissa quaedam olim, nondum praestitisti.“
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Zürich Grüße ausrichten.153 Gegenüber Joachim Camerarius brachte Felix Platter 1591 ebenfalls die Bekanntschaft ihrer beiden inzwischen verstorbenen Väter ins Spiel.154 In späteren Jahren konnte er seine Versäumnisse leichter mit seinem hohen Alter oder den vielen Amtsgeschäften entschuldigen.155 Gegenüber Herzog Friedrich von Württemberg (1557–1608) stellte Platter 1602 die dort bei Hofe erfahrenen Ehrungen als Lohn seiner lebenslangen, schier unerträglichen Mühen (labores intollerabiles) als praktizierender Arzt dar.156 Auf die ihm erwiesene Wertschätzung durch Adlige und Hochadlige achtete Platter deshalb genau.157 So konnte seiner Aufmerksamkeit auch nicht entgehen, dass er zur Zeit seiner ersten Einladung zu höfischen Festlichkeiten anlässlich der Hochzeit des Grafen Christoph von Hohenzollern in Sigmaringen im Jahr 1577 noch deutlich schlechter untergebracht wurde als seine adligen Reisegenossen, nämlich in einer Kammer nahe des Aborts.158 Bei zwei späteren Anlässen begriff er den zeremoniellen Pomp als Widerspiegelung des persönlichen Wertes, den ihm die adlige Gesellschaft auf seinen gesellschaftlichen Aufstieg hin zuerkannte.159 Wie ein offizieller Chronist führte der nun über Sechzigjährige alle Details und Ehrbezeugungen bei Hofe auf, ebenso die Namen der bei den Festen auftretenden Adligen und die Zahl der Pferde, die sie mit sich führten. Alles Private und alle subjektiven Wertungen ließ Platter dagegen beiseite. Die Gunst des Adels war freilich kein echter Leistungsbeweis für einen gelehrten Arzt oder Wissenschaftler, sondern sie richtete sich, wie andere Aspekte adliger Lebensführung, eher nach der jeweils herrschenden Mode. Insofern war die Wertschätzung höfischer Kreise eine fragwürdige Angele153 Vgl. K. Geßner, Epistolarum medicinalium ..., Bl. 97r/v: Brief vom 31. Oktober 1558; dazu auch T. Platter, Lebensbeschreibung ..., 75. 154 Vgl. UB Erlangen, Trew, Plater Nr. 5: Brief vom 10. September 1591. 155 Vgl. W. Fabri von Hilden, Opera quae extant omnia ..., 676 [lies: 976]: Brief vom 26. Februar 1607. 156 Vgl. F. Platter, Praxeos seu de cognoscendis, praedicendis, praecavendis, curandisque affectibus homini incommodantibus tractatus. [Bd. 1:] De functionum laesionibus, Basel 1602, Bl. ):(4r f. 157 So erwähnt er (F. Platter, Praxeos...tractatus, Bl. ):(4r f.), dass der Herzog ihm persönlich seine Naturaliensammlung vorgeführt habe. 158 Vgl. F. Platter, Tagebuch ..., 461. 159 Im Jahr 1596 anlässlich der Taufe von Prinz August von Württemberg (* und † 1596) in Stuttgart und 1598 anlässlich der Hochzeit des Grafen Johann Georg von Hohenzollern (1577–1623) in Hechingen: vgl. F. Platter, Tagebuch ..., 467– 513.
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genheit. Man darf hier wohl an ambivalente Gefühle eigener fachlicher Überlegenheit und komplementär wirtschaftlichen Neides in Platters Verhältnis zu seinem Basler Mitbürger, dem paracelsistischen Laienarzt Leonhard Thurneisser (1531–1596), denken: Der gelernte Goldschmied und medizinische Autodidakt Thurneisser, der die Beherrschung der alten Sprachen und fundierte Kenntnisse in den exakten Wissenschaften allenfalls erfolgreich vorzuspiegeln wusste, wurde als persönlicher Leibarzt des sächsischen Kurfürsten Johann Georg von Brandenburg (1525–1598) in den 1570er Jahren von einem großen Kreis von Adligen konsultiert. Anders als der Konsiliarius Platter stand Thurneisser mit seinen fürstlichen Gönnern, die in seinem Berliner Anwesen, dem „Grauen Kloster“, wiederholt seine Gäste waren und mit ihm speisten, in einem wirklich nahen Verhältnis.160 Unter Thurneissers Korrespondenten erscheinen in dem erhalten gebliebenen Briefwechsel Kaiser Maximilian, Königin Elisabeth von England, König Friedrich II. von Dänemark, Kurprinz Joachim Friedrich von Magdeburg, Herzog Philipp II. von Braunschweig, Herzogin Maria Eleonora von Preußen, Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel, Joachim Ernst Fürst zu Anhalt und zahlreiche Grafen als seine Patienten.161 Zu Thurneissers diagnostischen Spezialitäten gehörte die Destillation von Harn, worüber Felix Platter im Privaten Spottverse verfasste.162 Aus Opportunismus gegenüber politisch einflussreichen und zahlungskräftigen Patienten – Könige und Kaiser waren jedoch nicht darunter – bediente sich Platter freilich anfangs eines ähnlichen diagnostischen Kniffs: Als jungem Arzt, so berichtet er im „Tagebuch“, habe man ihm Harnproben zur diagnostischen Begutachtung zugeschickt, und er habe verstanden, sich „dorin […] zehalten, daß sich ettlich verwunderten und mich anfiengen bruchen“, obwohl er als Mediziner nicht mehr an die Wirksamkeit der Harnschau glaubte.163 So, wie er den Tod des Paracelsisten Adam von Bodenstein beifällig kommentierte, könnte Platter auch den finanziellen Ruin und gesellschaftlichen Niedergang 160 Siehe Staatsbibliothek Berlin, Ms. bor. fol. 683, 27r–32v: Brief von Leonhard Thurneisser an [den preußischen Hofrat?] „Wolff von Kloster“ vom 1. Mai 1575. 161 Vgl. dazu J. C. W. Moehsen, Leben Leonhard Thurneissers zum Turm. Ein Beitrag zur Geschichte der Alchymie, wie auch der Wissenschaften und Künste in der Mark Brandenburg gegen Ende des sechszehnten Jahrhunderts, Berlin 1783, 89 f. 162 Vgl. F. Platter, Tagebuch ..., 237 (Anm. 690). 163 F. Platter, Tagebuch ..., 338; zur wechselnden wissenschaftlichen Bedeutung der Harnschau vgl. M. Stolberg, Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte, Köln u.a. 2009.
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Thurneissers mit innerer Genugtuung aufgenommen haben.164 Bei einem standesbewussten Akademiker wie ihm ist ein gehöriger Dünkel gegenüber Heilern ohne universitäre Ausbildung unübersehbar. So berichtet er im „Tagebuch“ von einem früheren Tischgänger seines Vaters, Samuel Hertenstein (* um 1530), Sprössling einer Luzerner Ärztedynastie, der sich 1546/7 in Basel immatrikuliert, die Hochschule dann aber ohne Abschluss verlassen hatte. Daraufhin sei Hertenstein als „predicant“ in die Pfalz gezogen, habe als Laienarzt oder „empiricus“ in Toulouse „vil gelts gewunnen“ und sich später als Söldner im Piemont verdingt.165 Diesen Herumtreiber, der auf dem Rückweg von seinem Kriegszug war, traf Platter im März 1557 unterwegs wieder, „übel gekleidet“ und ohne Pferd mit einem Hündlein am Seil. Lassen die beiden anderen Fälle eher an eine feindselig aufgeladene Konkurrenzsituation denken, zeugt dieser anekdotische Bericht eher von Platters Amüsement. Wenig Einblick erhält man in das latente Konkurrenzverhältnis (das vielleicht in verborgenen Neid mündete) zu seinem Freund aus Kindertagen, Theodor Zwinger.166 Frühe Erinnerungen, wie das auch in Platters Nekrolog auf Zwinger erwähnte gemeinsame Theaterspiel in der Schule seines Vaters, hielt Platter im „Tagebuch“ mit sichtlichem Vergnügen fest.167 In späteren Jahren entwickelte sich Zwinger zu dem in den alten Sprachen und womöglich auch in anderen intellektuellen Belangen Begabteren der beiden. Überdies brachte ihm seine Ehe mit Valeria Rüdin (welche Platter gemeinsam mit Basilius Amerbach in die Wege geleitet hatte) nicht nur anstrengungslosen finanziellen Reichtum, sondern auch den Platter verwehrten Kinderreichtum ein. (Das Paar hatte acht gemeinsame Kinder.) Der frühe Tod Zwingers im 164 Im Zuge der Scheidung seiner dritten Ehe mit Marina Herbrott (* um 1555) aus niederem Ravensburger Adel hatte Thurneisser vor einem Basler Gericht sein gesamtes Vermögen verloren: vgl. dazu L. Thurneisser, Ein Durch Nothgedrungens Außschreiben Mein. Leonhardt Thurneyssers zum Thurn / Der Herbrottischen Blutschandsverkeufferey / Falschs und Betrugs: Auch der Mir und meinen Kindern / zu Basel beschehenen Iniurien / Gewaldthat / Spolirung und Rechtßversagung halber, Berlin 1584. Sein Amt als kurfürstlicher Leibarzt hatte er damals bereits, körperlich und seelisch erschöpft, niedergelegt. – Die Dauerhaftigkeit ihres familiären Aufstiegs erschien Felix Platter demgegenüber wesentlich: In der Observatio Nr. 70 berichtet er vom sozialen Erfolg dreier befreundeter Männer, die im Elend gestorben seien, was von ihm als tragisch bewertet wird: vgl. F. Platter, Observationes..., 75. 165 F. Platter, Tagebuch ..., 267. 166 Vgl. M.-L. Portmann, „Theodor Zwinger (1533–1588) und Felix Platter ...“, 69–73. Portmann stellt dabei jegliche „Rivalität“ (S. 69) in Abrede. 167 Vgl. T. Zwinger, Theatrum vitae humanae ..., Bd. 1, Bl. ):(4r f. bzw. F. Platter, Tagebuch ..., 83 f.
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Jahr 1588 beendete dieses denkbare Konkurrenzverhältnis. Aus Felix Platters Nekrolog spricht die versöhnliche Memoria an einen verstorbenen Freund.
Ruhm und Nachruhm Mit gutem Gespür für die wissenschaftlichen Trends seiner Zeit engagierte sich Platter an der Universität für die Einrichtung eines anatomischen Theaters, eines botanischen Gartens sowie eines zusätzlichen medizinischen Lehrstuhls für Anatomie und Botanik im Jahr 1589.168 Mit diesem hochschulpolitischen Programm erwies sich Platter einmal mehr als fügsamer Sohn seines Vaters, der als Lateinlehrer weitblickend erkannt hatte, dass sein Sprössling seine beruflichen Chancen mit Studienschwerpunkten in der Botanik und Anatomie („in cognitione simplicium, herbarum, anatomia, chirurgia, sceletum confectione, exercatione anatomica“) würde maximieren können.169 Die Medizinprofessoren Platter, Zwinger und Bauhin bemühten sich in Basel um einen zeitgemäßen Unterricht nach dem Vorbild der ausländischen Universitäten, an denen sie (Zwinger in Padua, Bauhin in Padua, Bologna und Montpellier) studiert hatten. Dank ihrer Initiative gelangte Basel um 1600 unter Medizinern in den Ruf einer besonders attraktiven Hochschule.170 Voller Stolz schrieb Platter 1595 an Renward Cysat, sogar in Italien, das seit dem Renaissancehumanismus in Fragen akademischer Bildung sonst unbestritten als überlegen galt, werde der in Basel erteilte universitäre Unterricht geschätzt. Man habe Studenten omnium nationum, und sogar diejenigen, „welche ex Italia kömen […], vermeinen, sy schossen inen nutz alhie so wol in herbaria, anatomica, philosophico et medico studio als in Italia“.171 Felix’ Halbbruder Thomas d.J. hielt 1605 zum Lob der Gemeinde Basel und ihrer Universität 168 Vgl. M. Baggiolini, Über die Stätten anatomischer Tätigkeit in Basel von der Gründungszeit der Universität bis zur Erstellung des ersten Anatomischen Institutes unter besonderer Berücksichtigung des Theatrum anatomicum von 1589, Med. Diss., Basel 1962, 15–23; A. Burckhardt, Geschichte der medizinischen Fakultät ..., 146–150; R. Hunziker, Felix Platter..., 16; F. Miescher, Die medizinische Facultät in Basel ..., 21. 169 T. Platter, Thomas Platters Briefe..., 30: Brief vom 14. November 1553. 170 Vgl. E. Bonjour, Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart 1460– 1960, Basel 21971, 242 f.; A. Burckhardt, Geschichte der medizinischen Fakultät..., 143–161; F. Miescher, Die medizinische Facultät in Basel ...; R. Thommen, Geschichte der Universität Basel..., 207–257. 171 T. von Liebenau, „Felix Plater von Basel ...“, 108: Brief vom 20. April 1598.
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fest, man promoviere „jährlich mehr doctores zu Basell dann meines erachtens an irgendt einem ort in der christenheit“.172 Publizistische Projekte scheinen, wie bemerkt, für Felix Platter dagegen lange Zeit ein nachrangiges Anliegen gewesen zu sein. Als weithin anerkannter Lehrer vieler Absolventen in Basel hatte er diese Werbung in eigener Sache auch nicht zwingend nötig. Wie Jakob Zwinger 1599 an den Arzt Sigismund Schnitzer († vor 1626) nach Bamberg schrieb, wurde Platter, bei dem beide studiert hatten, unter die ganz großen Ärzte des Jahrhunderts gezählt.173 (Und selbstverständlich wertete sich der Schreiber durch dieses Lob auch selbst auf.) Unter praktizierenden Ärzten war der prominente Mediziner ebenfalls als Koryphäe bekannt. Kollegen baten Platter deshalb in schwierigen Fällen um ein Konsil.174 Obwohl solche Briefkontakte vordergründig dem Wohl der Kranken dienten, wurde damit auch das Ziel verfolgt, eine bekannte Persönlichkeit des Faches anzusprechen, die im Sinne der ärztlichen Ethik einer Antwort schlecht ausweichen konnte. In dieser Absicht fragte 1607 auch der bekannte Wundarzt Wilhelm Fabri bei Platter nach, ob dieser seiner Behandlungsweise bei Ruhr zustimme.175 Platter zeigte indes wenig Interesse an der Erörterung des Falles und verwies Fabri stattdessen auf eine Stelle in seinen Büchern.176 Fabri spürte wohl das fachliche Desinteresse des alternden Platter und nutzte deshalb, psychologisch geschickt, eine von dessen Schwächen – das Sammeln antiker Münzen – aus, um weiter in Verbindung zu bleiben: Fabri bot Platter an, doppelte Münzen aus seiner eigenen Sammlung mit ihm zu tauschen.177 Mit der Zeit wurde Felix Platter zu einer lebenden Legende. Der Mediziner und Schulmann Andreas Libavius (um 1558–1616) bat Caspar Bauhin im Jahr 1613, seinem Kollegen Felix Platter Grüße aus Coburg auszurichten
172 T. Platter d.J., Beschreibung der Reisen ..., 925. 173 Vgl. J. Hornung (Hg.), Cista medica, qua in epistolae clarissimorum Germaniae medicorum, familiares, & in re medica, tam quoad Hermetica & chymica, quam etiam Galenica principia, lectu iucundae & utiles, cum diu reconditis experimentis asservantur, Nürnberg [1626], 347: Brief vom 17. Februar 1599. 174 Vgl. etwa Zentralbibliothek Zürich, Ms. Briefe fol., Platter Felix: undatierter Brief eines Anonymus. 175 Vgl. W. Fabri von Hilden, Opera quae extant omnia ..., 676 [lies: 976]: Brief vom 26. November 1606. 176 Vgl. W. Fabri von Hilden, Opera quae extant omnia ..., 977: Brief vom 26. Februar 1607. 177 Vgl. W. Fabri von Hilden, Opera quae extant omnia ..., 977: Brief vom 29. Juni 1607.
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– falls dieser noch lebe!178 Zu dieser Zeit arbeitete Platter an seinen Observationes, ein Unternehmen, das er, wie er dort schrieb, als Greis und von der vielen Arbeit ermattet, nur dank der ihm durch Gottes Gnade erhaltenen Verstandeskraft auf sich nehmen konnte.179 Es war nach seinem eigenen Bekunden ein großer Glücksfall, dass er sich im Alter noch guter Gesundheit erfreute.180 Seit über einem halben Jahrhundert lebte er überdies mit Magdalena Jeckelmann zusammen, wozu er im „Tagebuch“ vermerkte, dass „uf dem jar als ich solches schreib, anno 1612, von allen ich nit mer wißt, der lebte, dan wir beide, domolen britgam und braut“ sowie drei weitere Bekannte.181 Auch widmete er seine Zeit bewusst der Pflege des Familiengedächtnisses, wozu er in früheren Jahren schon seinen Vater und den jüngeren Halbbruder gedrängt hatte. Über zwei Generationen und fast ein Jahrhundert hinweg wurde so der mit Fleiß, Leistungswillen und Glück erreichte Aufstieg der Platter aus einfachen und widrigen Verhältnissen beschrieben und Bilanz aus den Früchten ihrer Mühen gezogen (bis hin zur Aufrechnung der monetären Einkünfte): Thomas’ abenteuerliches Leben, das bei seinen autodidaktischen Bemühungen auch etwas Glücksritterliches an sich hatte, Felix’ durch formale Bildung und harte Berufsarbeit eingelöstes Versprechen dieser Anfänge und die lange Bildungsreise des jüngeren Thomas Platter durch halb Europa, dessen Bericht darüber bereits von der Selbstzufriedenheit „besserer“ Leute durchzogen ist.
Schluss Wie bemerkt, stehen in Felix Platters retrospektivem Lebensbericht sein Studium und die beruflichen Anstrengungen im Zentrum, was an Erik H. Eriksons Modell seelischen Wachstums denken lässt. Wahrscheinlich erlebte Erikson sein eigenes Leben mit seinen Höhen und Tiefen in der lebendigen Tradition eines solchen Berufsbürger- und Akademikertums. Die Unterschiede wirken über vier Jahrhunderte hinweg nicht dramatisch, wenn man bedenkt, dass zeitgleich in anderen sozialen Schichten Anfänge, Fortgang und Ende eines Lebens ganz anders betrachtet wurden. 178 Vgl. UB Basel, Fr. Gr. Ms. II 1, fol. 178: Brief vom 7. März 1613. 179 Vgl. F. Platter, Observationes ..., 26: Widmungsepistel an Markgraf Georg Friedrich von Baden vom 28. Februar 1614. 180 Vgl. Universiteitsbibliothek Leiden, VUL 101 / Platter, F 003: Brief an Carolus Clusius vom 3. September 1604: „Valetudine satis adhuc firma Dei auxilio fruor“. 181 F. Platter, Tagebuch ..., 325.
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Die von Erikson beschriebenen Herausforderungen im Lebenszyklus wurden von Felix Platter nicht ausgeprägt konflikthaft durchlebt: Als Krisen erkennt man die Befürchtungen des heranwachsenden Platter, vor den elterlichen Ansprüchen nicht zu bestehen, den späten Zugewinn an Autonomie (etwa wenn ihm die Lösung aus dem elterlichen Haushalt erst nach mühsamen Jahren ärztlicher Praxis möglich war) und die Gefahr des Aussterbens seiner Familie. Mit Blick auf Eriksons Modell wird man geneigt sein, von einem erkennbaren „Urvertrauen“ Platters sprechen, auch wenn über seine frühe Kindheit nichts Sicheres bekannt ist. Kaum von der Hand zu weisen ist allerdings, dass er ein Leben lang ein ausgeprägtes und nie grundsätzlich in Frage gestelltes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten bewiesen und dabei wohl ein Gefühl von Sicherheit aus der elterlichen Wertschätzung, die stets mit klaren Leistungserwartungen verbunden war, geschöpft hat. Erfolgreich bewiesene Initiative, Werksinn und Intimität waren für ihn bis ins reife Alter an väterliche Entscheidungen gebunden. Vordergründig verknüpft sich mit der Figur seines emotional mächtigen Vaters kein äußerlicher Konflikt. Dabei wirkt der alternde Felix Platter sichtlich bemüht, dieser Beziehung in seinen Erzählungen harmonische Züge zu verleihen und die Probleme als „üblich“ zu bagatellisieren. (Dass er Zank und Streit schwer ertragen konnte, darauf deuten schon die an die Mutter gerichteten Beschwichtigungsversuche des Jugendlichen hin.) Es gehört zu den Besonderheiten retrospektiver Lebensbeschreibungen, dass sie Vergangenes re-konstruieren und nicht einfach abbilden, was bis zu einer bewussten Verfälschung des Erinnerten reichen kann. Jedoch ist unbestreitbar, dass sich der junge Felix Platter an die väterlichen Ratschläge gehalten und von ihnen profitiert hat. Auch dass er später die Vorlieben und Beschäftigungen seines Vaters übernommen hat, spricht in meinen Augen dafür, dass er diesen als persönliches Vorbild erlebt hat.182 Im Ergebnis erwies sich das familiäre System der Platter als überaus erfolgreich; Erikson hat dazu angemerkt, dass eine „traditionsgebundene Kinderaufzucht“ das Vertrauen in herrschende kulturelle Institutionen begünstige (und auf diese Weise manchen Aspekt des persönlichen Lebensweges erleichtern könne),183 was für Felix Platter fraglos zutrifft: Wie sein Vater es bei ihm getan hatte, so ermöglichte er seinem Halbbruder und Ziehsohn Thomas d.J. 182 Auch in den Observationes Nr. 70, 189, 203, 224 scheint sich mir Felix Platter gerne an den Vater und seine charakterlichen Eigenheiten zu erinnern: vgl. F. Platter, Observationes ..., 86 f., 146 f., 153, 167. 183 Vgl. E. H. Erikson, „Wachstum und Krisen ...“, 72.
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ein Studium in Montpellier und ausgedehnte Bildungsreisen.184 Um diesem Erfahrungen, wie er sie selbst in seiner Studienzeit gemacht hatte, zu ermöglichen, brachte er den Halbbruder in Montpellier ebenfalls im Haushalt der Familie Catalan unter und schickte ihm, wie es einst sein Vater bei ihm selbst getan hatte, Briefe aus Basel dorthin.185 Als Herausforderung und Prüfung blieben die fehlenden eigenen Nachkommen. Doch in seiner Rolle als Pflegevater seiner Halbgeschwister überwand Felix Platter letztlich die Gefahr der Stagnation. Sein langes Leben erlaubte ihm schließlich die bewusste Pflege seines persönlichen und öffentlichen Gedächtnisses, und man darf wohl annehmen, dass die Wochen oder Monate, die er mit der Bilanzierung des Erreichten und Niederschrift seiner Erinnerungen zubrachte, eine Zeit voller Zufriedenheit und Lebenssattheit – oder Integrität in Eriksons Sinne – gewesen sind. In seinem ganzen Verlauf erscheint Felix Platters Lebensweg wenig von äußeren wie inneren Dramen gezeichnet – vor allem, wenn man ihn zu den Irrpfaden, die sein Vater sein halbes Leben lang zu beschreiten hatte, in Beziehung setzt: Schule, Studium, eine vorteilhafte Eheschließung und harte Arbeit führten ihn zu einer gesellschaftlichen Stellung, die diesen Voraussetzungen entsprach, ohne dass ihn über die Maßen schwere Schicksalsschläge trafen. So bestätigte sich am Ende die Sentenz seines Paten Simon Grynäus, der bei der Taufe zu seinem Vater gesagt hatte: „Du hast in recht Felicem genempt; dan, oder all min sin triegend mich, er wirt felix werden.“186 Diesen Sinn- und Leitspruch hielt auch der jüngere Thomas Platter für so passend, dass er ihn auf den Epitaph schreiben ließ, den er seinem Halbbruder setzte: „Felici Platero Thomae F[ilio] | […] nomine et omine Felici“.187
184 Vgl. T. Platter d.J., Beschreibung der Reisen ..., 5 f. 185 Vgl. T. Platter d.J., Beschreibung der Reisen ..., 145. 186 T. Platter, Lebensbeschreibung ..., 121. Auch Felix Platter (Tagebuch ..., 52) erzählt diese Anekdote. 187 Siehe oben, Anm. 147.
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„Siehe, meine Freundin, du bist schön ...!“ Ein vermeintlich unsittliches Familienporträt von Ferdinand Bol Frauke Laarmann-Westdijk
Seit 1968 befindet sich im Dordrechts Museum ein Gemälde mit der Darstellung von Venus, Cupido und Paris, das sich unschwer als portrait historié erkennen lässt (Abb. 1).1 Die antike Szene, in der Paris Venus den Apfel überreicht und sie damit zur Schönsten unter den Göttinnen erklärt, wird von holländischen Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts verkörpert. Nicht nur die deutlich porträthaften Züge der Gesichter, sondern vor allem die modischen Frisuren aus der Zeit machen deutlich, dass sich hier ein Ehepaar in den Rollen von Venus und Paris hat porträtieren lassen.2 Bemerkenswert ist dabei vor allem die Freizügigkeit in der Darstellung der Frau, die sich mit nackter Brust abbilden ließ. Dies scheint so gar nicht zum sittlichen Dekorum der gottesfürchtigen holländischen Hausfrau passen zu wollen. Eddy de Jongh fasst die Empörung folgendermaßen zusammen: „Echte calvinisten, piëtisten of doopsgezinden, maar ook heel wat mensen van andere gezindten, zouden er niet over gepeinsd hebben zich op zo’n manier te laten uitbeelden.“ (Wahre Calvinisten, Pietisten oder Mennoniten, aber auch viele Anhänger anderer Konfessionen, werden nicht im Entferntesten daran gedacht haben, sich auf diese Art und Weise abbilden zu lassen.)3 Es kann darum nicht verwundern, dass das Werk in einer jüngeren Publikation als Beispiel für schlechten 1 Leihgabe des Instituut Collectie Nederland, Leinwand 118 x 157 cm; R. E. O. Ekkart, „A portrait historié with Venus, Paris and Cupid. Ferdinand Bol and the patronage of the Spiegel family”, in: Simiolus 29(1–2), 2002, 14–41. Ich danke Dr. Susanne Karau für die Redigierung dieses Artikels. 2 S. Nijstad, „Gelukkige grootouders geportretteerd door Arent de Gelder”, in: Bulletin Dordrechts Museum 25(3), 2000, 44, vertrat die These, dass es sich bei dieser Darstellung nicht um ein portrait historié handelt, sondern um ein normales Porträt, in dem der Apfel als Zeichen der Fruchtbarkeit überreicht wird. Angesichts der Kostüme, die eine Art von zeitlos antikem Stil zeigen, ist dies unwahrscheinlich. 3 E. de Jongh, Portretten van echt en trouw. Huwelijk en gezin in de Nederlandse kunst van de zeventiende eeuw, Zwolle 1986, 322.
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Geschmack bezeichnet wird.4 In diesem Artikel möchte ich die Frage beantworten, ob dies tatsächlich so ist. Ist ein derartiges, ‚halbnacktes’ Porträt wirklich geschmacklos und nicht mit einer vermeintlich leibfeindlichen calvinistischen Moral zu vereinen, die das häusliche Leben und die öffentliche Kultur der Republik der Vereinigten Niederlande geprägt hat?5
Venus und Paris Zunächst einmal ist es wichtig, die dargestellte Szene genauer zu betrachten. Das Urteil des Paris ist ein klassisches Motiv in der Kunst des 17. Jahrhunderts.6 Vielfach ist die Szene abgebildet, in der Paris eine der drei Göttinnen Aphrodite, Pallas Athene und Hera – oder in ihren römischen Entsprechungen Venus, Minerva und Juno – zur Schönsten erklären soll, da sich hierbei für den Künstler die Möglichkeit ergibt, drei schöne Frauen in unterschiedlichen Posen – meistens nackt – abzubilden.7 Von dieser Gruppenszene ist in Bols portrait historié nicht viel übrig geblieben. Paris kniet links im Bild, um der auf dem Boden sitzenden Venus auf Augenhöhe den Apfel überreichen zu können. Die beiden schauen einander an, während Venus den kleinen Cupido, der neben ihr steht, wie einen Sohn an die Brust drückt. Die Darstellung dreier miteinander konkurrierender Frauen, die sich einem Mann präsentieren, ist hier reduziert auf ein intimes entre nous, in dem es nur um die Wertschätzung der einen, anwesenden Frau geht. Verschiedene Autoren haben bereits darauf hingewiesen, dass man in diesem Fall die Geschichte nicht über den hier abgebildeten Moment hinaus
4 K. Zandvliet, De 250 rijksten van de Gouden Eeuw, Amsterdam 2006, 90. Sluijter nennt das Werk ,frivol‘. E. J. Sluijter, „Ovidius’ Herscheppingen herschapen. Over de popularisering van mythologische thematiek in beeld en woord“, in: De Zeventiende Eeuw 23(1), 2007, 45–75, spez. 72. 5 Siehe hierzu S. Schama, Überfluß und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter, München 1988 – hierin interpretiert er das gesamte alltägliche Leben in der Republik der Vereinigten Niederlande als beherrscht von calvinistischer Moral. 6 Das Urteil des Paris ist letztendlich die Ursache für den Trojanischen Krieg, siehe Homers Ilias. 7 E. J. Sluijter, De ,heydensche fabulen‘ in de schilderkunst van de Gouden Eeuw, Leiden 2002, spez. 125–133.
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weiterdenken darf.8 Venus hatte immerhin Paris bestochen, sie zur schönsten Göttin zu wählen, indem sie ihm die schönste irdische Frau versprach: Helena. Doch Helena war schon mit Menelaos verheiratet, so dass ihre Entführung durch Paris zum Trojanischen Krieg und der Zerstörung Trojas führte. Diese Fortsetzung der Geschichte kann unmöglich zur Ikonographie eines Familienporträts gehören, denn ein Ehemann, der seiner Frau Komplimente macht, um daraus die Rechtfertigung zu erhalten mit einer anderen ein Verhältnis zu beginnen, ist zu keiner Zeit im Rahmen einer christlichen Ehemoral denkbar. Reduziert man die Geschichte jedoch auf den dargestellten Moment, dann ergibt sich eine Szene, die sehr wohl den Ansprüchen eines sittlichen Dekorums entspricht. Der Mann würdigt eine Frau um ihrer Schönheit willen. Dass Schönheit eine der wichtigen Eigenschaften einer Frau im Verhältnis zu Männern ist, bedarf keiner weiteren Beweisführung. Spricht ein Mann diese Würdigung in der Rolle des Paris gegenüber Venus aus, dann ist sie sogar frei von jeglicher sexueller Konnotation. Die Beziehung des sterblichen Mannes zu der Göttin ist keusch und somit durchaus geeignet, das Verhältnis zwischen christlichen Eheleuten auf moralisch akzeptable Weise darzustellen. Bleibt die Frage, wie die Abbildung der nackten Brust der Porträtierten zu bewerten ist. Dass die Darstellung sowohl für einen heutigen wie auch einen zeitgenössischen Betrachter eine gewisse erotische Ausstrahlung hat, dürfte unumstritten sein. Bei aller zeitlicher Modeabhängigkeit von Schönheitsidealen ist die diskrete Enthüllung einer weiblichen Brust immer ein erotisches Signal. Kommt, wie in unserem Beispiel, noch ein bewusstes Spiel mit Verund Enthüllung hinzu, dann ist die Signalwirkung um so stärker. Die rechte Brust der Dargestellten ist nicht sichtbar; das Kind neben ihr bedeckt diese mit einem Zipfel des weißen Unterkleides und dem gelben Stoff darüber. Die linke Brust wölbt sich in praller runder Form geradezu als Wiederholung der runden Form des Apfels, den der Mann ihr anreicht. Der Warzenhof wird halb verdeckt vom linken Arm, der auch die untere Hälfte der Brust verschat8 E. de Jongh, Portretten van echt en trouw ..., 322. Sluijter verweist auf eine Reihe von Liebesliedern und Hochzeitsgedichten, in denen ebenfalls Paris’ Urteil als Vorbild herangezogen wird, allerdings auch mit der Einschränkung, dass „kennelijk in bepaalde kringen een dergelijke ‚pikante‘ verwijzing naar een nogal lichtzinnig mythologisch gebeuren zonder moralisaties genoten“ (offensichtlich in bestimmten Kreisen eine derartig ‚pikante‘ Andeutung eines recht lockeren mythologischen Geschehens ohne Moralisierung genossen) werden konnte. E. J. Sluijter, De ,heydensche fabulen‘ ..., 129.
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tet. Der Schattenwurf ist vom Künstler nicht wirklichkeitsgetreu angelegt, er verstärkt maltechnisch bewusst die runde Form. Die steife Brustwarze ist sowohl auf den Mann im Porträt als auch auf den Betrachter gerichtet. Bei aller nicht-sexuellen Konnotation der Szene, in der die Dargestellten sich abbilden ließen, ist die verführende Wirkung auf den Betrachter bewusst gesucht. Würde es sich in diesem Fall um eine reine Historiendarstellung handeln, dann könnte man mit Sluijter die Bedeutung in der Verführung des Blickes durch die Malkunst suchen.9 Da es sich hier aber um Porträts handelt, hat die Abbildung auch eine Bedeutung für das reale Leben. Darum ist es notwendig, sich zunächst mit dem abgebildeten Ehepaar zu beschäftigen.
Das Ehepaar Slicher-Spiegel Seit dem Erscheinen des Bildes 1920 auf einer Auktion in London bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts waren die Dargestellten unbekannt.10 Auf Grund der freizügigen Darstellung nahm Eddy de Jongh in seiner 1986 organisierten und Maßstäbe setzenden Ausstellung zum Thema Familienporträts an, dass die Porträtierten in freisinnigen Kreisen gesucht werden müssen.11 Die Identifizierung der Dargestellten ist einem glücklichen Zufall zu verdanken. 2002 veröffentlichte Ekkart die Resultate seiner genealogischen Suche, in denen sich allerdings kein libertinäres Profil erkennen lässt, eher das Gegenteil.12 Die Abgebildeten Erwachsenen sind Wigbold Slicher (1627–1718) und seine Frau Elisabeth Spiegel (1628–1707). Wigbold war der Enkel eines deutschen Immigranten aus Aachen, Anthony (1558–1623), der seinen Namen kurz nach seinem Umzug von Schleicher in Slicher veränderte. Wigbolds Großvater war 1598 als 40-jähriger Witwer und als Glaubensflüchtling nach Amsterdam gekommen. Bereits 1611 wurde er zum Diakon der Refor9 E. J. Sluijter, Seductress of Sight. Studies in the Art of the Golden Age, Zwolle 2000. 10 Auktion London (Christie’s), 2. Juli 1920, Nr. 59. Für die Herkunftsgeschichte: R. E. O. Ekkart, „A portrait historié ...“, 37. Eine Zeit lang wurde vermutet, dass es sich bei den Dargestellten um den Maler mit seiner Frau Elisabeth Dell handeln könnte. Diese Identifikation ist jedoch sehr willkürlich. A. Blankert, Ferdinand Bol (1616–1680). Rembrandt’s Pupil, Doornspijk 1982, Kat.Nr. 30, 103. 11 E. de Jongh, Portretten van echt en trouw ..., 322. 12 Die folgenden biografischen Angaben zu den Dargestellten sind, wenn nicht anders angegeben, entnommen aus R. E. O. Ekkart, „A portrait historié ...“.
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mierten Gemeinde in Amsterdam ernannt. Sein Vermögen machte er mit Kupfermühlen vor dem St. Anthonis-Tor der Stadt. 1599 heiratete Anthony Slicher die ebenfalls verwitwete Johanna de Wolf (1576–1650), eine Tochter flämischer Flüchtlinge aus Haarlem, die wahrscheinlich ebenfalls aus religiösen Gründen in die Republik der Niederlande ausgewichen waren. Anthonys Sohn Jan Slicher (1603–1627) schaffte durch seine Heirat mit Elisabeth de Vlaming van Oudtshoorn (1600–1699), Tochter eines Amsterdamer Bürgermeisters, den Aufstieg in die Kreise der Regenten. Die Geburt seines ersten Sohnes Wigbold hat Jan noch erlebt, sein zweiter Sohn Jan (1627–1673), der unverheiratet blieb, wurde nach seinem Tod 1627 geboren. 1649, mehr als zwanzig Jahre nach dem Tod ihres ersten Mannes, heiratete die Witwe Elisabeth de Vlaming van Oudtshoorn den ebenfalls verwitweten, gleichaltrigen Elbert Spiegel (1600–1674), Kassierer-General der Amsterdamer Admiralität. Elberts Bruder Hendrick hatte die Laufbahn des Vaters als Regent fortgesetzt, während Elbert selbst in Leiden Jura studierte und später seine Karriere in der Amsterdamer Admiralität machte: seit 1630 als Sekretär und ab 1641 als Kassierer-General. Aus seiner ersten, 1625 geschlossenen Ehe mit Petronella Roeters (1599–1647), Tochter eines Ratsmitglieds in Amsterdam, gingen mindestens fünf Töchter hervor, unter ihnen Elisabeth Spiegel, die spätere Frau von Wigbold Slicher. Wie dicht das Netz der familiären Bande in der Amsterdamer Regentenschicht geknüpft wurde, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Elbert Spiegel durch seine Heirat mit der Mutter von Wigbold Slicher 1649 nicht nur der Stiefvater des Paris im Porträt war, sondern durch die Eheschließung mit seiner Tochter Elisabeth 1651 auch sein Schwiegervater. Die familiären Bande übertrugen sich auch auf die beruflichen Verhältnisse. Elbert Spiegels Nachfolger im Amt des Kassierer-Generals der Admiralität wurde 1669 sein Stief- und Schwiegersohn Wigbold – sicher nicht ohne sein Zutun – der das Amt 1713 an seinen Sohn Diderik übergab. Bis zu dessen Tod 1729 blieb das Amt 88 Jahre lang in der Familie. Vor seinem Aufstieg in die Admiralität hatte auch Wigbold Slicher in Leiden studiert und 1644 promoviert. Nach dem Studium begann ein langsamer Aufstieg durch verschiedene Funktionen: erst als Rechtsanwalt in Amsterdam, dann – 1653 – als Mitarbeiter der Amsterdamer Stadtverwaltung in der Desolate Boedelkamer (Abteilung für Insolvenzen) und 1654 in der commissie voor Kleine Zaken sowie von 1655 bis zu seinem Wechsel in die Admiralität 1669 als Sekretär der Stadt. Die Anstellung als Stadtsekretär erfolgte im gleichen Jahr, in dem Hendrick Dircksz. Spiegel, Bruder von Elbert Spiegel, zum ersten Mal Bür-
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germeister wurde.13 Es ist unwahrscheinlich, dass Wigbolds Ernennung gegen den Willen seines angeheirateten Onkels geschah, das Gegenteil dürfte wohl eher der Fall gewesen sein. Hendrick Spiegel wiederum vertrat die Interessen der sehr strikt calvinistischen Fraktion, die sich mit der Kirche und den Pfarrern identifizierte. Seine beiden Nichten Rebecca und Petronella Spiegel, Schwestern der als Venus porträtierten Elisabeth Spiegel, und ihre Ehemänner werden ebenfalls dieser Gruppe zugerechnet.14 Petronellas Ehemann, der Tuchhändler Barend Elias (1621–1795), wurde 1654 zum Diakon der Niederdeutsch-Reformierten Gemeinde ernannt.15 Die Heirat in eine Regentenfamilie war letztendlich sehr gewinnbringend. Wigbolds Vermögen wurde 1674 auf f 80.000 geschätzt, im Nachlass war der Betrag auf f 600.421 gestiegen. 1674 wohnte das Ehepaar Slicher-Spiegel am Oudezijds Voorburgwal in ‚Het Prinsenhof‘, einer Amtswohnung an einer der besten Adressen der Stadt. Daneben besaß Wigbold Slicher auch noch ein Landhaus ‚Westerbeek‘, außerhalb von Den Haag.16 Wigbold Slicher, Nachkomme von Glaubensflüchtlingen, war also gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth Spiegel in ein enges Netz familiärer Beziehungen eingebunden, das sich über verschiedene politisch relevante Institutionen erstreckte und unter anderem von strengen Calvinisten gebildet wurde. Sie bewegten sich in einem Milieu, dass man keineswegs besonders freizügig nennen kann. Wenn sie also ihr portrait historié nicht als geheimes Objekt konsequent vor ihren Familienmitgliedern verborgen gehalten und sozusagen als ‚private Schlafzimmerpornografie‘ genutzt haben, dann stellt sich die Frage, welche Bedeutung man in ihm sah. Auch würden wohl kaum nachfolgende Generationen ein Werk bewahrt haben, wenn es als ausgesprochen ‚anstößig‘ gegolten hätte.
Porträts in der Familie Der Grund für die Anfertigung des portrait historiés von Wigbold Slicher und Elisabeth Spiegel als Venus und Paris mit Cupido ist nicht eindeutig festzu13 Hendrick Dircksz. Spiegel war 1630 Commissaris der Stadt, 1632 Schöffe und in den Jahren 1655, 1659, 1663 und 1665 Bürgermeister. J. E. Elias, De Vroedschap van Amsterdam. 1578–1795, Amsterdam 1963, Bd. 1, Nr. 130, 399–401. 14 R. E. O. Ekkart, „A portrait historié ...“, 30. 15 J. E. Elias, De Vroedschap van Amsterdam ..., Nr. 235, 597, S. A. C. Dudok van Heel, Van Amsterdamse burgers tot Europese aristocraten, Bd. II, ’s-Gravenhage 2008, 717. 16 S. A. C. Dudok van Heel, Van Amsterdamse burgers ..., 755–756.
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stellen. Dass es sich nicht um ein Porträt anlässlich der Eheschließung handelt, geht aus dem Hochzeitstermin am 6. Juni 1651 in Amsterdam hervor. Ob es sich um einen Auftrag anlässlich des fünften Hochzeitstages handelte, was mit der Datierung des Bildes 1656 durch den Maler Ferdinand Bol übereinstimmen würde, lässt sich nicht mit Sicherheit beweisen. Undenkbar ist dies jedoch nicht; das Familienporträt Hendrick Cornelisz. Van Vliets von der Familie van der Dussen zeigt, dass fünfjährige Jubiläen durchaus der Grund für einen speziellen Porträtauftrag sein konnten.17 Überdies war die Zahl Fünf schon früher Anlass für einen besonderen Porträtauftrag in der Familie Spiegel. So hatte Elbert Spiegel in den Jahren 1638–39 eine Serie von Porträts seiner fünf Töchter mit Attributen der fünf Sinne durch den Maler Dirck Santvoort anfertigen lassen.18 Elisabeth Spiegel als Zweitälteste ist in dieser Serie mit einer Blockflöte als Attribut für das Gehör abgebildet. Die Auftragvergabe an den Maler Ferdinand Bol (1616–1680) ist ebenfalls nicht zufällig – er gehörte sozusagen zur Familie. Bols erste Frau Elisabeth Dell (1628–1660), die er 1653 heiratete, war eine Tochter von Elbert Dell (1595–1667), Auktionator der Amsterdamer Admiralität, und seiner Frau Cornelia Dircksdr. Spiegel (1606–1646), einer Schwester von Elbert und Hendrick Dircksz. Spiegel. Nach dem Tod von Elisabeth Dell wurden Elbert Spiegel und Elbert Dell zu Vormündern von Bols Kindern ernannt, eine Aufgabe, die nach dem Tod von Elbert Spiegel von Wigbold Slicher fortgesetzt wurde, der auch als Testamentsvollstrecker von Bols zweiter Frau, Anna van Erckel, auftrat. Die engen familiären Beziehungen sorgten für eine gute Auftragslage Bols, der nicht nur Aufträge für die Admiralität und für das neue Rathaus der Stadt Amsterdam erhielt, sondern auch für private Porträts, darunter so ungewöhnliche Bildaufträge wie das hier besprochene portrait historié mit Venus und Paris.19 17 Ölfarbe auf Leinwand, 159 x 209,8 cm, signiert und datiert, Stedelijk Museum Het Prinsenhof, Delft. Dieses Werk ist mit der ungewöhnlich genauen Datierung 25/5/1640 versehen, dem fünfzehnten Hochzeitstag des Ehepaares. F. K. Laarmann, „Hendrick Cornelisz. van Vliet. Het gezin van Michiel van der Dussen“, in: Oud Holland 113(1/2), 1999, 53–74, auch erschienen in: F. K. Laarmann, Het NoordNederlands familieportret in de eerste helft van de zeventiende eeuw. Beeldtraditie en betekenis, academisch proefschrift, Amsterdam 2003. 18 R. Ekkart, „Vijf kinderportretten door Dirck Santvoort“, in: Oud Holland 104, 1990, 249–255. 19 Ein anderes portrait historié von Ferdinand Bol zeigt ebenfalls ein Ehepaar mit entblößter Brust der Frau. Das Werk ist bekannt unter dem Titel Bacchus und
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Kind oder Cupido? Kinderreichtum galt als besonderer Segen, wobei unterschieden werden kann zwischen dem Segen reichlicher Geburten (die die Mutter überlebte) und der göttlichen Gnade, diese Kinder auch groß werden zu sehen. Die häufig gehörte These, dass Neugeborenen wenig Wertschätzung zu teil wurde bis sie ihre Überlebensfähigkeit bewiesen hatten, stimmt nicht für die Niederlande im 17. Jahrhundert. Die vielen Porträts bereits verstorbener Neugeborener und Kleinkinder wie auch bewegende Trauergedichte beweisen das Gegenteil.20 Nach diesem Maßstab war das Ehepaar Slicher-Spiegel sehr reich gesegnet. Bis 1669 ließen sie insgesamt dreizehn Kinder taufen, bis zur Anfertigung des Bildes waren es bereits vier. Da das abgebildete Kind im Schatten des ihn umhüllenden Tuches männliche Genitalien zeigt, kommt nur einer der drei erstgeborenen Jungen für eine mögliche Identifikation in Frage.21 1653 wurde auch eine Tochter Elisabeth geboren, die bereits vor 1656 verstorben sein muss, da im Dezember dieses Jahres eine weitere Tochter diesen Namen erhielt. Aus dem Geburtsdatum der zweiten Tochter Elisabeth, 1656, ist ein interessanter Nebenaspekt des Bildes abzuleiten: Elisabeth Spiegel war zum Zeitpunkt der Anfertigung des Porträts schwanger, möglicherweise sogar hochschwanger. Davon ist im Bild jedoch nichts zu erkennen, was ein Hinweis auf die allgemein übliche Praxis ist, dass die Darstellung ihres Körpers nicht nach der Realität erfolgte. Die runde Brust und runden Schultern mit den etwas fleischigen Armen entsprechen dem Schönheitsideal der Zeit. Heute würde Ariadne, 1664, Leinwand, 160,5 x 182,5 cm, Eremitage, Petersburg. Siehe hierzu: F. Grijzenhout, „Ferdinand Bol’s portrait historié in the Hermitage. Identification and interpretation“, in: Simiolus 34, 2009/10, 33–49. Zur Bedeutung sozialer Netzwerke siehe E. Kok, „Zonder vrienden geen carriere. De succesvolle loopbanen van de zeventiende-eeuwse kunstenaars Govert Flinck en Ferdinand Bol“, in: De Zeventiende Eeuw 27(2), 2011, 300–336. 20 J. B. Bedaux: „Funeraire kinderportretten uit de 17de eeuw“, in: B. C. Sliggers (Hg.), Naar het lijk. Het Nederlandse doodsportret 1500-heden, Ausst.Kat. Haarlem, Teylers Museum, Zutphen 1998, 86–114. J. B. Bedaux; R. E. O. Ekkart, Pride and Joy. Children’s portraits in the Netherlands 1500–1700, Ausst.Kat. Haarlem, Frans Halsmuseum, Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Ghent/Amsterdam 2000; F. K.Laarmann, Families in Beeld, Hilversum 2002, bes. 28–33, auch erschienen in: F. K. Laarmann, Het Noord-Nederlands familieportret ..., 65–71. 21 R. E. O. Ekkart, „A portrait historié ...“, 17.
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man sich sein Ideal mit Photoshop kreieren, damals überlies man dies der Phantasie und dem Können eines Meisters.22 Wie bereits angedeutet, kommen für die Identifikation des nackten Knaben drei Jungen in Frage: der älteste Sohn Elbert, geboren im Februar 1652, Johannes, geboren 1653 und wahrscheinlich 1657 verstorben, und Antonis, der Anfang 1655 getauft wurde. In einem Familiendokument aus dem späten 18. Jahrhundert wird der Knabe als ältester Sohn Elbert bezeichnet. Ekkart hält diese Identifikation für unwahrscheinlich, da Elbert zum Zeitpunkt der Anfertigung des Bildes bereits vier Jahre alt war, zu alt für den kleinen Jungen im Bild. Ekkart schlägt stattdessen vor, dass es sich angesichts des Alters um den Jüngsten, Antonis, handeln muss, eine Identifikation, die sich durchgesetzt hat.23 Aber nur wenn es bereits andere Porträts der älteren Kinder gab, wofür es keine Anhaltspunkte gibt, ist es wahrscheinlich, dass ein Ehepaar als einzigen ihren dritten Sohn porträtieren ließ.24 Die Frage, ob es sich bei der Figur des nackten Knaben überhaupt um ein Porträt handelt, ist somit nicht eindeutig beantwortet. Auch die Darstellung des Cupido ist gleich dem Körper seiner Mutter idealisiert mit ‚goldenen Locken‘, Pausbäckchen und reichlich Babyspeck. Und obwohl Cupido im 17. Jahrhundert meistens für die falsche Art von Liebe, die lustbetonte fleischliche, irdische Liebe steht, wird er vor allem in der Verbindung mit seiner Mutter Venus auch als Zeichen elterlicher, sich sorgender Liebe und Fruchtbarkeit interpretiert.25 Die fürsorgliche Geste, mit der ‚Venus’ Elisabeth Spiegel ihren ‚Sohn‘ im Arm hält, lässt sich als Zeichen ihrer besonders erfolgreichen Rolle als Mutter verstehen. Die entblößte Brust kann in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass sie ihre Kinder selbst stillte. Dies war eine der wichtigen Forderungen der calvinistischen, bürgerlichen Familienethik, mit der sich das 22 M. Duimel, (On)bewerkt beroemd. Forschungsbericht im Auftrag der Stiftung Mijn Kind Online, www.mijnkindonline.nl, Mai 2009. 23 S. A. C. Dudok van Heel, Van Amsterdamse burgers ..., 756. 24 Es war allerdings durchaus gebräuchlich jüngste Söhne nackt abbilden zu lassen, um so den Nachdruck auf den männlichen Stammhalter zu legen, auch wenn die niederländische Gesellschaft nicht ausschließlich auf die männlichen Linien fixiert war. P. J. J. van Thiel, „Catholic elements in seventeenth-century Dutch painting, apropos of a children’s portrait by Thomas de Keyser“, in: Simiolus 20, 1990/91, 39–62. Dudok van Heels Analyse der Regentenfamilie Heynen macht deutlich, wie wichtig auch die über die weiblichen Linien vererbten Machtstrukturen waren. S. A. C. Dudok van Heel, Van Amsterdamse burgers .... 25 J. B. Bedaux; R. E. O. Ekkart, Pride and Joy ..., bes. Kat.Nr. 42; M. Thøfner, „Helena Fourment’s Het Pelsken“, in: Art History 27(1), 2004, 1–33.
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Bürgertum von ursprünglich adeliger, katholischer Dekadenz absetzte. Die Auszeichnung durch Paris kann somit auch Elisabeth Spiegels Rolle als Mutter gewidmet sein.
Die nackte Brust im Porträt Wie bereits ausgeführt, wird Elisabeth Spiegel wohl kaum mit entblößter Brust dem Maler Bol für ihr Porträt Modell gestanden haben. Dies war nicht nur unvereinbar mit dem Dekorum einer gutbürgerlichen Ehefrau, die Idealisierung der Darstellung konnte man auch besser der Kreativität des Künstlers überlassen.26 Was nicht heißen soll, dass Elisabeth Spiegel sich nicht mit ihrer Darstellung identifiziert haben wird. Wie aber wird sie ihre Rolle als Venus aufgefasst haben? Die Bedeutung der Abbildung weiblicher Nacktheit wird bisher häufig in den Extremen von Heiliger oder Hure gesucht.27 Exemplarisch hierfür ist die Zusammenfassung, die Miles von ihrer Forschungsarbeit gibt: „I have traced changes in representations of the breast that marked its development from a religious symbol to an object of voyeuristic pleasure and medical scrutiny.“28 Eine Zwischenkategorie, die weibliche Formen zunächst einfach als schön, als ‚Augenweide‘ betrachtet, ohne gleich zur Analyse der voyeuristischen, patriarchalischen Unterdrückungsmechanismen zu schreiten, findet sich bislang selten.29 Die Interpretation männlicher und weiblicher Identität ist bisher eine Domäne der Genderstudies, die sich aus den Frauenstudien entwickelt hat. Dabei wird meistens allein der Blick des männlichen Betrachters als Ausgangspunkt gewählt, um letztendlich Machtstrukturen aufzeigen und zur 26 Ein Blick in das Œuvre von Bol macht deutlich, dass man ihn durchaus als Fachmann für die Darstellung nackter weiblicher Brüste bezeichnen kann. Allerdings handelt es sich in allen Fällen um die gleichen runden, prallen, idealisierten Formen, die nicht nach der Realität porträtiert sind. A. Blankert, Ferdinand Bol .... 27 Exemplarisch für diese zumeist feministisch geprägten Interpretationen seien hier genannt: L. Nead, The female Nude. Art, obscenity and sexuality, London, New York 1992; M. R. Miles, A Complex Delight. The Secularization of the Breast 1350–1750, Berkeley 2008. 28 M. R. Miles, A Complex Delight ..., 131. 29 Siehe hierzu den im Folgenden noch ausführlich zur Sprache kommenden Artikel von M. Thøfner: „Helena Fourment’s Het Pelsken“. Thøfners Ausgangspunkt ist ebenfalls die Feststellung, dass die bisherigen Interpretationen zu sehr auf den männlichen Blick gerichtet sind.
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Diskussion stellen zu können. Dies ist hier nicht meine Absicht. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern beruht nicht auf Gleichartigkeit, weder im 17. Jahrhundert noch heute, was die Diskussionen über Gleichwertigkeit immer wieder aus dem Gleichgewicht bringt. Die Frage ist jedoch, ob es in der Wahrnehmung weiblicher Nacktheit zwischen den Polen Heilige oder Hure nicht auch noch andere Möglichkeiten gibt, mit der Darstellung von Weiblichkeit umzugehen. Die Wiedergabe von Elisabeth Spiegel mit nackter Brust ist zwar eine seltene Form des Porträts, aber nicht einzigartig. Das berühmteste Vorbild, das in dem Spiel mit Ver- und Enthüllung noch sehr viel weiter geht, ist Rubens Porträt seiner jungen Frau Helena Fourment (Abb. 2). 1630 heiratete Rubens im Alter von 53 Jahren seine zweite Frau, die sechzehnjährige Helena (1614–1673), da er, wie er selbst sagte, nicht für ein zölibatäres Leben geschaffen sei.30 Aus der zehn Jahre währenden Ehe, die durch Rubens’ Tod beendet wurde, gingen insgesamt fünf Kinder hervor.31 Das ganzfigurige Porträt zeigt eine gänzlich unbekleidete Frau, die sich notdürftig mit einem Pelzmantel bedeckt, der ihr um die Schultern hängt. Diesem Kleidungsstück dankt das Bild auch seinen Namen: Het Pelsken (das Pelzchen).32 Die Haltung der Frau, die mit dem linken Arm ihre Scham bedeckt und mit dem rechten ihre Brüste unterstützt, ist eine angepasste Version der Venus Pudica. Während diese jedoch ihre Brüste und Scham zu bedecken versucht, präsentiert Helena Fourment ihre Brüste vielmehr. Es ist leicht, diese Darstellung, die mit dem Blick des alternden Malers auf seine junge, attraktive Frau geschaffen wurde, als männliche Phantasie zu verurteilen. Die Geschichte des Bildes beweist jedoch, dass dies eine zu einseitige Sichtweise wäre. Bereits kurz nach der Entstehung des Bildes hat Rubens in ihrem gemeinsamen Testament 1640 das Bild zum Eigentum seiner Frau erklärt. In ihrem eigenen, 1658 verfas30 M. Thøfner: „Helena Fourment’s Het Pelsken“, 2–3. Für alle im folgenden Text verwendeten biografischen Informationen siehe ebenfalls M. Thøfner: „Helena Fourment’s Het Pelsken“. 31 Mit ihrem zweiten Mann, den Helena Fourment vier Jahre nach Rubens Tod heiratete, bekam sie noch sechs Kinder. 32 Ob der Titel dieses Bildes möglicherweise doppeldeutig ist, vergleichbar mit der deutschsprachigen Bedeutung ‚Pelz‘ für Schamhaar, ist unsicher. Das Groot Woordenboek der Nederlandse Taal gibt neben der Bedeutung der behaarten Tierhaut und den daraus gemachten Kleidungsstücken auch die regionale Bedeutung für sämtliche Röcke, die eine Frau trägt. Das Middelnederlandsch Handwoordenboek kennt ‚Pelz‘ auch als Synonym für ‚das Leben‘ (van der pelsen vrese hebben – vor dem Leben Angst haben).
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sten Testament vermacht sie das Bild ihrem zweiten Mann ‚zur Erinnerung’.33 Zur gleichen Zeit hatte sie auch gute Kontakte zum Orden der Unbeschuhten Karmeliterinnen, einem der strengsten Orden der katholischen Konterreformation, in den eine ihrer Töchter aus zweiter Ehe eingetreten war. Offensichtlich hatte diese gläubige Katholikin wenig Probleme mit der Abbildung ihrer eigenen Nacktheit, so dass sie das Bild sogar weitervererbte und damit die Kontrolle über die Sichtbarkeit des Werkes abgab. Margret Thøfner hat ein umfangreiches Netz verschiedener Interpretationen herausgearbeitet, die Helenas Sicht auf ihr Porträt erklären können.34 Ein Teil davon kommt hier zur Sprache. Letztendlich ist das Bild das Werk eines berühmten Malers, dessen Andenken sie hoch hielt. Zu seiner Entstehungszeit hatte es eine Funktion in ihrer Ehe. Ihr Mann hat ihr mit den Anspielungen auf Venus ein Kompliment für ihre Schönheit gemacht, das deutlich erotisch gefärbt ist. Im katholischen Eheverständnis dient die Ehe vor allem zur Vermeidung von Unkeuschheit, d.h. von Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe. Schon der Blick konnte als unkeusch interpretiert werden, es sei denn, es ist der Blick auf die eigene Frau. Mann und Frau wiederum sind Teil eines Fleisches (Mt. 19,6). Die gegenseitige Befriedigung innerhalb der Ehe ist dagegen sehr wohl erlaubt, wenn sie mit Blick auf die Fortpflanzung geschieht. Der weibliche Genuss an der Sexualität wurde dabei keineswegs ignoriert. In Thomas Sanchez Disputationum de sancto matrimonii sacramento, der ausführlichsten und am weitesten verbreiteten post-tridentinischen katholischen Ehelehre, erschienen 1605, wird nachdrücklich darauf hingewiesen, dass auch die Frau Recht auf die Erfüllung der ehelichen Pflichten durch den Mann hat. In der herrschenden medizinischen Auffassung nach Galen war der weibliche Orgasmus notwendig für die Fortpflanzung. Thøfner folgert: „She would have seen a body which she had shared with her husband under divine sanction and which, in the painting, had been refashioned by his work. The seeming hybridity of Venus and Helena, of history painting and portraiture, could perhaps cohere when understood as a pictorial embodiment of the marital union between Helena and her first husband.“35
33 M. Thøfner: „Helena Fourment’s Het Pelsken“, 28. 34 M. Thøfner: „Helena Fourment’s Het Pelsken“. 35 M. Thøfner: „Helena Fourment’s Het Pelsken“, 16.
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Die Erotik, die von dem Bild ausgeht, ist innerhalb ihrer Ehe also durchaus erlaubt. Darüber hinaus kann die Betonung ihrer Brüste auch als Würdigung ihrer Fruchtbarkeit und guten Mutterschaft gelesen werden. Im Alter wird sie das Bild an den Genuss ihrer ersten Ehe und die Vergänglichkeit der Jugend erinnert haben. Ein anderes Bildthema, in dem eine nackte weibliche Brust gezeigt werden kann und das in den calvinistischen nördlichen Niederlanden populär war, ist die Personifikation der Caritas. Diese Liebe, die wichtigste unter den drei religiösen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung (1. Kor. 13,13), wird von Cesare Ripa als eine in Rot gekleidete Frau beschrieben, mit einer Flamme auf dem Kopf, die im rechten Arm ein Kind hält, dem sie die Brust gibt. Zwei weitere Kinder spielen zu ihren Füßen.36 Paulus Moreelses Porträt von Sophia Hedwig, Gräfin von Nassau Dietz, als Caritas, mit ihren Kindern lässt sich auf Grund der deutlich erkennbaren Attribute als eine Darstellung der Gräfin in der Rolle der Caritas identifizieren (Abb. 3). Die Geste der Gräfin macht deutlich, dass sie ihrem jüngsten Kind die Brust geben will, während zwei weitere Kinder die in Rot gekleidete Frau flankieren.37 Im Hintergrund ist noch ein viertes Kind auf dem Arm einer Kinderfrau zu sehen. Sophia Hedwig von Braunschweig-Wolfenbüttel hatte 1607 im Alter von fünfzehn Jahren den neunzehn Jahre älteren Ernst Casimir von Nassau-Dietz geheiratet. Ihr Mann war der Cousin der einander folgenden Statthalter der Republik Maurits und Frederik Hendrik van Oranje, mit denen er mehrere Feldzüge zur Verteidigung des Landes führte. 1620 wurde Ernst Casimir zum Statthalter der Provinz Friesland ernannt, später auch von Groningen und Drenthe. Er war bekannt als überzeugter Calvinist, der für den Glauben stritt. Somit muss das Porträt seiner Frau mit entblößter Brust seine Zustimmung gehabt haben. Dass es kein Porträt für ausschließlich private Zwecke gewesen sein kann, beweist die veränderte Replik des Werkes durch einen unbekannten Künstler, die sich heute im Fries Museum in Leeuwarden befindet (Abb. 4). 1621 hatte das Ehepaar vier lebende Kinder: Hendrik Casimir I. (1612– 1640), Willem Frederik van Nassau-Dietz (1613–1664), Maurits (1619– 1628) und Elisabeth Friso (1620–1628). Auf Moreelses Werk lassen sich folglich die drei Söhne im Vordergrund erkennen, wobei der Jüngste der ca. 36 Cesare Ripa’s Iconologia of Uytbeeldinghen des Verstants, hrsg. von Dirck Pietersz. Pers, Amsterdam 1644, Lemma ,Caritas‘, http://www.dbnl.org/tekst/pers001cesa01_01/pers001cesa01_01_0537.htm. 37 E. de Jongh, Portretten van echt en trouw ..., 312–315.
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zweijährige Maurits sein muss. Das Kindermädchen im Hintergrund hält Elisabeth Friso auf dem Arm. Die Replik muss ein paar Jahre später entstanden sein, da jetzt alle vier – inzwischen älter gewordenen – Kinder um die Mutter gruppiert sind. Das jüngste Kind ist nun die drei- bis vierjährige Elisabeth, der älteste Bruder wurde rechts hinter der Mutter hinzugefügt. Die Physiognomien der Kinder sind deutlich verändert, der Rest des Porträts – vor allem die Figur der Mutter – ist unverändert geblieben. Die zweite Version des Porträts macht deutlich, dass es sich in diesem Fall nicht um ein ausschließlich privates, für die Öffentlichkeit unzugängliches Bild handelt, sondern um ein Werk, das durchaus als Staatsporträt mit entsprechenden Funktionen aufzufassen ist. Die Darstellung der Sophia Hedwig als Caritas erfüllt tatsächlich eine sinnvolle Funktion im Rahmen eines politischen Kontexts. Die aufopferungsvolle Liebe der Caritas ist eine Qualität, die auch einer Landesmutter gut steht. Im Jahr 1620 zuvor war Sophia Hedwigs Mann Ernst Casimir zum Statthalter von Friesland ernannt worden. Die nachdrückliche Geste, mit der Sophia Hedwig ihre Brust zum Stillen anbietet, hat aber noch eine weitere Konnotation. Die Haltung der Hand, mit der zwischen zwei Fingern die Brustwarze zum Mund des Babys geführt wird, ist aus der Bildtradition der Maria Lactans bekannt, der Darstellung der Maria, die das Christuskind stillt. Dass die Ikonographie der Caritas von diesem größten Vorbild für Mutterschaft abgeleitet ist, ist nicht verwunderlich. Dem entsprechend wurde in den bürgerlich calvinistischen Niederlanden das Ideal der selbst stillenden Mutter hoch gehalten. Das Abgeben von Neugeborenen an Ammen galt nur in Notfällen als gerechtfertigt. Die leibliche Mutter ist nur wirklich Mutter, wenn sie ihre Kinder selbst stillt und erzieht: „Een die haar kinders baart, is moeder voor een deel; Maar die haar kinders zoogt, is moeder in’t geheel.“ (Eine die ihre Kinder gebärt, ist nur zum Teil Mutter Aber die ihre Kinder stillt, ist ganz Mutter.)38
Das Porträt der Adeligen Sophia Hedwig kann somit auch als Aussage dafür gelesen werden, dass die neuen Statthalter Frieslands sich der herrschenden bürgerlichen Kultur der Republik anpassten.
38 J. Cats, Houwelijk, 1625, aus dem Kapitel ,Moeder‘, zitiert nach A. Sneller; B. Thijs, Jacob Cats Huwelijk, Amsterdam 1993, 113.
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Abb. 1 Ferdinand Bol: Porträt des Ehepaars Slicher – Spiegel als Paris und Venus, signiert und datiert FBol 1656, Leinwand 116 x 157 cm, Dordrechts Museum (Leihgabe des Instituut Collectie Nederland)
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Abb. 2 Peter Paul Rubens: Het pelsken, Porträt der Helene Fourment, ca. 1635–1640, Holz, 175 x 83 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum.
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Abb. 3 Paulus Moreelse: Porträt von Sophia Hedwig, Gräfin von Nassau Dietz, als Caritas, mit ihren Kindern, signiert und datiert 1621, Leinwand, 140 x 122 cm, Apeldoorn, Rijksmuseum Paleis Het Loo.
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Abb. 4 Unbekannter Künstler: Porträt von Sophia Hedwig, Gräfin von Nassau Dietz, als Caritas, mit ihren Kindern, ca. 1625, Leinwand, 141,5 x 120 cm, Leeuwarden, Fries Museum.
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Calvinistische Ehemoral Aus dem Vorhergehenden ist deutlich geworden, dass das Ehepaar Slicher sich nicht ausdrücklich als freizügig präsentieren wollte, sondern eine Darstellungsweise gewählt hat, die einerseits in der Form ausgefallen und andererseits inhaltlich Ausdruck einer guten Ehe ist. Die entblößte Brust und das nackte Kind können dabei als Hinweise auf die gute Erfüllung der Mutterrolle durch Elisabeth Spiegel verstanden werden, eine durchaus passende Würdigung für eine fünfjährige Ehe mit bereits vier Kindern. Dies bietet jedoch noch keine Erklärung für die Rolle des Paris und die erotische Konnotation der Szene. Während die katholische Rechtfertigung der Ehe auf der Zeugung von Nachkommen und der Vermeidung von Unzucht basiert – in dieser Reihenfolge, d.h. Geschlechtsverkehr war nur mit der Aussicht auf Kinder gerechtfertigt – entwickelte die protestantische Theologie eine neue Auffassung, die die Ehe auch als Lebensgemeinschaft zur gegenseitigen Unterstützung und Förderung des Wohlbehagens sah.39 Erstaunlicherweise vertrat Jacob Cats, der meistgelesene Moralist der Niederlande im 17. Jahrhundert, im Hinblick auf das eheliche Geschlechtsleben eher die katholische Haltung, die Sex nur im Hinblick auf Kinderzeugung erlaubte und dann auch bitte nur in gemäßigter Form:40 „Wie lieve kinders zoekt, en dient ze niet te winnen Door ongeregeld spel, door geil en dertel minnen; Men prijst in menig ding de gulde middelmaat Maar verre boven al omtrent het echte-zaad.“ (Wer sich liebe Kinder wünscht, wird sie nicht bekommen Durch zügelloses Spiel, durch geile und wollüstige Liebe; In Vielem wird der goldene Mittelweg gepriesen Aber vor allem gilt dies für den ehelichen Samen.)41
Die von der Reformierten Kirche offiziell vertretene Haltung zu Sex in der Ehe folgte der Meinung Johannes Calvins, wie er sie zum Beispiel in seinem Kommentar zum Kapitel 7,1–9 des 1. Briefs an die Korinther, ‚Ehe und Ehe39 Dass sich hieraus auch eine politische Ideologie entwickelte, die die Ehe und Familie als Keimzelle des Staates sah, ist ein weiterer Schritt, der hier nicht zur Diskussion steht. 40 A. Sneller; B. Thijs, Jacob Cats Huwelijk, 145. 41 Cats 1625, zitiert nach A. Sneller; B. Thijs, Jacob Cats Huwelijk, 106.
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losigkeit‘, formulierte.42 Er verwehrt sich darin nicht nur gegen den Umkehrschluss, dass, wenn die Ehelosigkeit gut ist, die Ehe darum schlecht sei. Den meisten sei die Gabe der Ehelosigkeit nicht gegeben und zur Vermeidung ‚des Brennens‘, wie er es nennt, wäre in der Ehe der „bijslaap van man en vrouw […] een zuiver, eerlijk en heilig ding.“ (Beischlaf von Mann und Frau […] eine reine, ehrliche und heilige Sache).43 Und auch wenn sie ansonsten unterschiedliche Aufgaben hätten und die Frau ihrem Mann untergeordnet sei, so wären sie doch im Ehebett gleich. Der Mann habe Macht über den Körper der Frau, so wie die Frau Macht über den Körper des Mannes habe, d.h. sie seien ein Fleisch.44 Darüber hinaus gibt Calvin, der ansonsten sehr praktisch in seinen Kommentaren zur Schrift ist, keine Regeln, wie das eheliche Sexleben zu gestalten sei. Vor allem erwähnt er nicht, dass dies ausschließlich zur Zeugung von Kindern zu geschehen habe. Interessant für die weitere Auslegung der reformierten Ehelehre ist Petrus Wittewrongels Oeconomia Christiana ofte Christelicke huyshoudinge. Der 1609 in Middelburg geborene Wittewrongel studierte in Leiden Theologie und wurde nach einigen kleineren Pfarrstellen 1638 Pastor der reformierten Gemeinde in Amsterdam. Bis zu seinem Tod 1662 diente er der Amsterdamer Gemeinde in mehr als nur seelsorgerischer Funktion: Der Kirchenrat überließ ihm gern Verhandlungen mit den Bürgermeistern der Stadt. Er wurde als Vertreter der Provinzialen Synode in die Statenversammlung nach Den Haag geschickt und zwei Mal saß er der Nordholländischen Synode vor.45 Der politisch engagierten Familie Spiegel dürfte er also wohl bekannt gewesen sein. Wittewrongels publizistisches Werk beschränkt sich auf die Oeconomia Christiana, eine Beschreibung reformatorischer Ethik und ihrer umfassenden Umsetzung im täglichen Leben. 1655 erschienen zwei erste Auflagen, gefolgt von einer dritten, stark erweiterten, im Jahre 1661.46 In Fragen der reformierten Lehre war Wittewrongel streng und wenig tolerant. Wiederholt rief er in seinen Predigten die Vertreter des Staates auf christlich, d.h. theokratisch zu handeln.47 Bekannt ist vor allem seine Verurteilung des Theaters im Allgemeinen und im 42 J. Calvin, Kommentar zu 1. Corinthiërs, 1556, Übersetzung ins Niederländische von A.M. Donner, Calvijn archief 1.0, CD-ROM, Kampen 2007, 110–119. 43 J. Calvin, Kommentar...,115. 44 J. Calvin, Kommentar...,112. 45 L. F. Groenendijk, De nadere reformatie van het gezin. De visie van Petrus Wittewerongel op de christelijke huishouding, Dordrecht 1984, 35. 46 Siehe ausführlich: L. F. Groenendijk, De nadere reformatie van het gezin.... 47 L. F. Groenendijk, De nadere reformatie van het gezin ..., 36.
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Besonderen seine Kritik an Joost van den Vondels Theaterstücken mit biblischem Inhalt, die so weit ging, dass die Amsterdamer Bürgermeister auf Andringen des Kirchenrates 1654 die Aufführung von Vondels Lucifer verboten.48 Theologisch wird Wittewrongel zur Nadere Reformatie gerechnet, einer pietistischen Richtung, die stark vom englischen Puritanismus beeinflusst und mit dem deutschen Pietismus verwandt ist.49 Typisches Merkmal ist der Ausgangspunkt, dass der Glaube alle Bereiche des täglichen Lebens durchdringen muss. Wittewrongels Oeconomia Christiana ist hierfür eine Anleitung, in der für alle Beziehungen innerhalb einer Hausgemeinschaft Regeln gegeben werden. So werden die Rollen des Hausvaters und der Hausmutter definiert, der Umgang mit Personal und Kindern und der Eheleute untereinander. Das Ideal der häuslichen Frömmigkeit soll dabei durch Gebete, Meditation, Bibellektüre, Psalmensingen und Katechisierung der Untergebenen erreicht werden. Die Verantwortung dafür liegt bei Hausvater und Hausmutter: „Daer en is geen ander middel, om Godts toorn van ons af te wenden, ende sijnen zegen te behouden; als dat [...] alle Christelicke Huys-vaders ende Huysmoeders, sich daer in bekommeren, hoe dat sy op het spoedighste de sonden van hare Familien sullen wech-nemen [...].“ (Es gibt kein anderes Mittel, um den Zorn Gottes von uns abzuwenden und seinen Segen zu erhalten, als dass alle christlichen Hausväter und Hausmütter sich darum kümmern, wie sie am Schnellsten die Sünden ihrer Familien beseitigen können [...].)50
Vor diesem Hintergrund ist es interessant zu sehen, welche Empfehlungen Wittewrongel zum Thema Geschlechtlichkeit in der Ehe gibt. Dass Sex außerhalb der Ehe vor dem Hintergrund der strengen Orthodoxie gar nicht erst diskutabel ist, versteht sich von selbst. Auffällig ist bei Wittewrongel, dass die Ehe aber nicht nur als typische „remedie tegens de ongeregelde begeerlickheydt des vleesches“ (Mittel gegen die ungezügelten Begehrlichkeiten des
48 L. F. Groenendijk, „De Nadere Reformatie en het toneel“, in: De Zeventiende Eeuw 5, 1989, 141–153. 49 L. F. Groenendijk, „De huwelijksleer van Petrus Wittewrongel“, in: Documentatieblad Nadere Reformatie 3(4), 1979, 101–110. 50 Wittewrongel zitiert nach L. F. Groenendijk, „Petrus Wittewrongel“, in: T. Brienen u.a., Figuren en thema’s van de Nadere Reformatie, Kampen 1987, 64–70, bes. 69.
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Fleisches)51 gesehen wird, sondern auch zur „troostelick gezelschap“ (trostreichen Gesellschaft) und „onderlinge vergenoeginge“ (gegenseitigen Zufriedenheit)“52, denn „De mensche kann niet leven sonder geselschap / gesellschap is de ziele ende het leven van de ziele des Menschen“ (Der Mensch kann nicht ohne Gesellschaft leben / Gesellschaft ist die Seele und das Leben die Seele des Menschen). Wittewrongel führt aus, was er darunter verstanden wissen will: „want onder dese t’samen-wooninge begrijpen wy het gebruyck niet alleen van een huys / eene tafel / maer voornamentlick oock van een bedde: want dat behoort tot het wesentlick deel des Houwelicks…“ (denn unter Zusammenleben verstehen wir nicht nur den Gebrauch eines Hauses, eines Tisches, sondern vor allem auch eines Bettes: denn das gehört zum wesentlichen Teil der Ehe.)53 Dabei folgt er der allgemein theologischen Auffassung, dass Geschlechtsverkehr unter Eheleuten per definitionem keusch ist. Auch gibt er an, dass zwar keine extremen Ausschweifungen im Ehebett stattfinden sollten, aber es wäre auch nicht so, dass der Geschlechtsakt allein zum Ziele der Fortpflanzung zu geschehen habe. Sexualität sei eine Möglichkeit, in der sich die enge Verbundenheit zwischen Eheleuten ausdrückt. Damit ist die Auffassung der orthodoxen Strömung innerhalb der reformierten Gemeinde von Sexualität in der Ehe freier als man gemeinhin wohl annimmt. Eine weitere Dimension fügt Wittewrongel in der Beschreibung des liebevollen Umgangs von Eheleuten untereinander im Kapitel XI hinzu: „sulcken liefde / als die gewortelt is in het herte ende de ziele van Man ofte Vrouwe / die sal daer niet ledigh zijn / maer terstondt sijne werckinge laten sien / sy sullen al het goet (wat in haer vermogen is) doen in der liefde / ende die gene die dus gelieft wordt / daer door op-geweckt worden om’t goet dat hy ontfangen heeft / wederom met goet te vergelden. Ende is in desen deele de liefde gelijck het vyer / ’t welck niet alleen heet is in sich selfs / maer deelt oock sijne hitte mede aen het gene dat ‘er aldernaest by is. Ende daer op volght oock een weder-schijnsel van hitte tot malkanderen: ’t welck ons seer levendigh voor-gestelt werdt / in dat Bruylofts-Liedt van Salomon, in die menigerley expressien van liefde / die ghy in dat boeck kondt vinden tusschen Christum 51 P. Wittewrongel, Oeconomia Christiana ofte Christelijcke Huishoudinge, Amsterdam 1655, 25. Im Folgenden zitiere ich immer aus der ersten Ausgabe von 1655, da der Abstand zum Entstehungsdatum von Bols Porträt geringer ist. 52 P. Wittewrongel, Oeconomia Christiana ..., 22. 53 P. Wittewrongel, Oeconomia Christiana ..., 138.
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ende sijne Bruydt. […] Ende soo moeten Man ende Vrouwe malkanderen lief hebben […].“ (Solche Liebe, die wurzelt im Herzen und der Seele von Mann oder Frau, die wird nicht müßig sein, sondern sofort ihre Wirkung zeigen, sie werden alles Gute (was in ihrem Vermögen steht) tun in der Liebe, und derjenige, der geliebt wird, wird dadurch bewegt das Gute, dass er empfangen hat, im Gegenzug mit Gutem zu vergelten. Und in dieser Form ist die Liebe wie das Feuer, das nicht nur heiß ist in sich selbst, sondern das seine Hitze überträgt auf alles in seiner Nähe. Darauf folgt der gegenseitige Widerschein der Hitze, wie er uns sehr lebendig geschildert wird im Hochzeitslied von Salomo, in diesen verschiedenen Ausdrucksformen der Liebe, die man in dem Buch finden kann zwischen Christus und seiner Braut. (…) Und so müssen Mann und Frau einander lieb haben.)54
Dass die Texte des Bibelbuches Hohelied allegorisch interpretiert werden, war seit Jahrhunderten theologischer Standard. Die ausgesprochene Liebeslyrik wurde übertragen auf die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Christus und seiner Braut, d.h. der Gemeinde.55 Die Texte in einen weltlichen Kontext zurückzuholen und sie auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau anzuwenden, ist neu. Die calvinistische Forderung, die Sprache Kanaans, d.h. die Sprache der Bibel, im täglichen Leben zu gebrauchen, bekommt in diesem Kontext eine neue Dimension. Wenn die Texte des Buches Hohelied als Vorbild für den liebevollen Umgang von Eheleuten untereinander dienen, dann kann dies wie folgt klingen: Statenvertaling 1637, Het Hooge Liedt Salomons, 4: 1 Siet ghy zijt schoone, mijne Vriendinne, siet ghy zijt schoone, uwe oogen zijn duyven [oogen] tusschen uwe vlechten: u hayr is als een cudde geyten, die [’t gras] van den berch Gileads afscheeren. 2 Uwe tanden zijn als een cudde [schapen] die geschoren zijn, die uyt de waschstede opkomen: die al t’samen tweelingen voort-brengen, ende geene onder haer en is jongeloos.
54 P. Wittewrongel, Oeconomia Christiana ..., 177. 55 Siehe Inleiding op hooglied in Statenvertaling 1637, http://www.bijbelsdigitaal.nl; I. Boot, De allegorische uitlegging van het hooglied voornamelijk in Nederland, Woerden 1971; M. Verduin, Canticum Canticorum. Het lied der liederen, Utrecht 1992.
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3 Uwe lippen zijn als een scharlaken snoer, ende uwe sprake is lieflick: den slaep uws hoofts is als een stuck van eenen granaet-appel tusschen uwe vlechten. 4 Uwen hals is als Davids toren, die gebouwt is tot op-hanginge van wapentuych, daer duysent rondassen aen hangen, altemael zijnde schilden der Helden. 5 Uwe twee borsten zijn gelijck twee welpen, tweelingen van een rhee, die onder de lelien weyden. Das Hohelied, in der Übersetzung von Martin Luther, 1545: 4 1 Siehe, meine Freundin, du bist schön, siehe, schön bist du! Deine Augen sind wie Taubenaugen zwischen deinen Zöpfen. Dein Haar ist wie die Ziegenherden, die beschoren sind auf dem Berge Gilead. 2 Deine Zähne sind wie die Herde mit beschnittener Wolle, die aus der Schwemme kommen, die allzumal Zwillinge tragen, und ist keine unter ihnen unfruchtbar. 3 Deine Lippen sind wie eine rosinfarbene Schnur, und deine Rede lieblich. Deine Wangen sind wie der Ritz am Granatapfel zwischen deinen Zöpfen. 4 Dein Hals ist wie der Turm Davids, mit Brustwehr gebaut, daran tausend Schilde hangen und allerlei Waffen der Starken. 5 Deine zwo Brüste sind wie zwei junge Rehzwillinge, die unter den Rosen weiden, …
Nichts anderes bringt letztendlich Paris, Wigbold Slicher, zum Ausdruck, wenn er seiner Frau Elisabeth Spiegel als Venus den Apfel reicht: „Siehe, meine Freundin, du bist schön!“ Dass diese Aussage in einer mythologisch, antiken Geschichte verpackt wird, ist kein Widerspruch zur christlichen Moral, weil antike wie auch alttestamentliche Vorbilder gut als Exempla für gottgefälliges Handeln dienen konnten.56 Da die gewählte mythologische Szene zwischen Paris und Venus keine sexuelle Konnotation hat, eignet sie sich sogar gut, den liebevollen Umgang der Eheleute entsprechend streng reformierter Vorstellungen zu illustrieren.
56 J. Exalto, Gereformeerde heiligen. De religieuze exempeltraditie in vroegmodern Nederland, Nijmegen 2005, 43–44.
John the Evangelist Profiled Miroir de la bonne mort* Joseph B. Dallett
The work forming the chief focus of this essay represents a collaboration between the 17th-century Franciscan (Friar Minor) David de la Vigne (born perhaps in Hainault, if not in French Flanders) and the graphic artist Romeyn de Hooghe (a native of Amsterdam who subsequently lived in Haarlem). David de la Vigne was not a prolific writer but, at a time when De Hooghe was only an infant, had published an unillustrated prototype of the brilliantly illustrated work which, just over a quarter-century later, the two men were to bring out together (plentifully supplied with the initials of the artist and bearing clear authorial indication) around 1673: Miroir de la bonne mort (its place of publication possibly Amsterdam). This collaborative example of an ars moriendi enjoyed a long succession of new editions, modifications, and translations. But De Hooghe, although he was to illustrate a host of printings in a wide variety of genres, left the further adaptations of his etchings in the finished Miroir de la bonne mort to others (and indeed his etchings eventually came out both in reverse and otherwise considerably altered). However, within just a few years of the first edition, its unimpaired plates were once reissued, with significant textual additions in the original language, while, in line with it, a similarly structured Dutch version (Spieghel van een salighe doot) also appeared. Within two decades the Dutch title had become Spiegel om wel te sterven and a more explicit French title also appeared: La maniere de se bien preparer à la mort. Spanish and German editions were soon to come. No-one could even think of recapitulating the intensive and extensive exposition given to this work, its sources, parallels, and influence by the distinguished bibliographer Christian (Chris) Coppens.1 The present writer intends to concentrate *
A note of sincere thanks is here extended to Gary L. Hodges, notable photographer in Ithaca, New York, for his skilful work in creating the images used here and his indispensable aid in assembling the layout of the essay. 1 C. Coppens, Een Ars moriendi met etsen van Romeyn de Hooghe. Verhaal van een boekillustratie. Brussel 1995. Verhandelingen van de Koninklijke Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten van België. Klasse der Schone Kun-
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on a single section of the Miroir – its text and illustrations – in order to bring out certain inherent paradoxes. The basis of this investigation is the second French edition from around 1675 or 1676. The etchings selected from this printing for the present paper, like the two reproductions of plates shown here as well from other works illustrated by De Hooghe, all come from the present author’s own copies of the books in question. Romeyn de Hooghe’s background was Christian though not Roman Catholic. During his roughly forty-year career as an etcher of all kinds of subjects he expended his enormous artistic talent a number of times in illustrating religious and theological works (some in the Catholic tradition), and frequently with much more than single frontispieces. These publications include, for example, Frans van Hoogstraten’s faith-grounded emblem book, Het Voorhof der Ziele; De Imitatione Christi by Thomas à Kempis; Jacobus Merlo Horstius’ Paradisus animae christianae; Hieronymus Sweerts’ Innerlycke ziel-tochten op’t H. avontmaal; Miguel Comalada’s Desiderius peregrinus sive Thesaurus animae christianae; Joachim Oudaen’s Uyt-breyding over het boek Jobs; Govard Bidloo’s Brieven der gemartelde apostelen; Cardinal Giovanni Bona’s collected works; Laurens Bake’s Bybelse Gezangen; the Latin translation, Speculum poenitentia, of Antoine Godeau’s Les tableaux de la penitence (frontispiece only); Theodorus Akerslott’s De Send-Brief van Paulus aan de Hebreen; and Origen’s Contra Celsum libri VIII (in a French translation from 1700). This accumulation can be said to culminate in the artist’s long series of etchings produced for considerations of Biblical texts in the genre known, in Dutch, as the prentbijbel, that is, a lengthy illustrated commentary in the vernacular on selected passages from the Old and New Testaments and the Apocrypha and sometimes offering freshly invented verses (the printbijbels De Hooghe was involved in were, admittedly, Protestant in texture). De Hooghe turned to this special genre when middle-aged. In our inspection of one section of the David de la Vigne/ Romeyn de Hooghe collaborative ars moriendi, it should be helpful to bring in one or two of the Dutch artist’s religious etchings published elsewhere.
sten, Jaargang 57, 1995, Nr. 60. This book is Coppens’ major study of Miroir de la bonne mort. Other publications by him on this subject include: “Spanish Drawings as a Model for a Baroque Book of Devotion with Etchings by Romeyn de Hooghe”, in: Rutgers Art Review VII, 1986, 63–74; and “An Ars moriendi with etchings by Romeyn de Hooghe. The history of a cycle of book illustrations”, in: Quaerendo XIV(2), 1984, 125–150 (Part I); XIV(3), 210–227) (Part II), translated by Alastair Hamilton.
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Though each page of the Miroir de la bonne mort not devoted solely to textual material rivets the viewer on account of its compelling, nearly full-page etching, each such is accompanied by a short quotation from Scripture along with brief instructions setting forth the spiritual coherence of the main visual presentation. This consists of an indoor situation or action, usually with a certain implied relevance to a seeming framed painting in the same picture plane, though generally high up in the relevant bedroom and, as a rule, supported there amid a few clouds by a small group of putti. Taken together, the paintings present the last significant events in the life of Jesus (from his entry into Jerusalem through his death on the Cross). His Redemptive death is (to be) understood by the faithful as crowning the history of humanity. David de la Vigne’s printed title-page in the second French edition, like the second of its following three title-prints, explicitly draws on the Revelation of Saint John the Divine (1:5) in offering the bold epithet for Jesus, “le premier Né des morts” (“the first begotten of the dead” in the language of the Authorized Version). For an ordinary mortal to line up somehow (ideally, of course, with ecclesiastical guidance) would seem to foretoken that his or her death will be a “good death.” A gradual enaction of such closure, made definitely concrete, takes up most of the space in the thirty-nine prints; their central figure is a somewhat older man afflicted with a fatal illness and assigned to bed, a rather grand bed, in fact, though he and his familiar surroundings undergo an undeniable alteration from etching to etching, perhaps as a reminder of the universality of life’s ending. A guardian angel, always in attendance, keeps urging the patient to look (each time for the first time) at the painting floating above (or stationed lower down) in the sickroom. The architecture and appurtenances of “this” bedroom, along with the physiognomy of the long-suffering patient, the particular mixture at any one time of his family members, pets, servitors, watchful ecclesiastics, concerned professionals, self-concerned adherents from his immediate circle, and a crowd of the desperate poor, many severely handicapped, are mostly all subject in turn to quiet variations in appearance (once a new etching has replaced the one on the preceding page), continuity being provided, simply, by the ongoing approach of death and the predictability of the institutionalized social structure. The change can also be violent, as on the several occasions when one or two ghastly-looking devils turn up to terrify the patient. Likewise with the series of paintings on display: their narrative, even when more or less close to the descriptive sequences of Holy Writ, follows its own tempo. At the same time, the very genre of the ars moriendi rests or can rest on a demonstrable linkage between sacred myth and established ritual.
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Still, given the particularities that the author and artist have developed, some gaps remain that need to be bridged at the semantic level. As we shall see, in his printed notes with each page, David de la Vigne seeks out some more or less logical or inherent link between the patient and the situation in which Jesus finds himself. Occasionally the stated correspondences border on the contrived. Besides presenting the drawn-out expiration of one human being, fictive but imaginable, vis-à-vis the largely familiar stages in the last days of Jesus’ life, Miroir de la bonne mort can also be seen as implying an eventual approximation of such dying (excluding a violent or sudden end) in the life of the reader/viewer as well. The author and illustrator had of course no control over the thoughts and feelings of readers; and we have to allow for the possibility that some of the first readers, like others today, sought gratification as art-lovers as they paged through the volume, surely a somewhat expensive item on the market (subjecting it to scholarly scrutiny could be postponed).2 After the opening printed title-page, two full-page plates of which the first serves as a frontispiece and the second as a supplementary dedication, the preface, a compressed outline of the contents intertwining the events of both the contemporary action to be shown and applicable events recorded in Scripture, a “SOMMAIRE DES APPROBATIONS & Des Licences données pour l’Impression de cet Ouvrage,” one more full-page etching with a more typical dance of death accompanied by anticipatory texts from the Bible, an explanatory “INTRODUCTION,” and the first bedroom scene -- presenting the onset of the householder’s sickness as well as displaying an initial (framed) painting ( Jesus is seen heading for Jerusalem) – comes, finally, a group of four thematically joined, variously framed and mounted paintings (assigned one by one to the successive representations of the contemporary sickroom); all the paintings in this set depict Jesus washing or aiming at washing the feet of his disciples. This sequence is followed in turn, on the next eight pages, by eight painted scenes of the Last Supper, likewise installed individually in the ensuing sequence of sickrooms. This longer series of paintings (together with the eight segments on the changing predicament of the sick man that encompass them) is our primary focus here. It should not be overlooked that for each of the four depictions showing phases in the washing of the disciples’ feet (Image 2, 3, 4, 5) a short quotation is supplied that comes from the Gospel according to St. John (after all, only 2 C. Coppens, „An Ars moriendi ...,“ 133; C. Coppens, Een Ars moriendi ..., 195.
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John mentions the washing of the feet), whereas in the next eight illustrations the author draws on Luke four times (Image 6, 8, 9, and 13) and Matthew twice (Image 7 and 10), with John here cited only twice (Image 11 and 12). (To be sure, some other passages from John are invoked subsequent to these eight plates.) John’s Gospel itself, in fact, does not deal with the institution of the Last Supper (mentioning only in 13:2 the supper’s “being ended” and, in 13:29, implying that the principal feast is yet to come); instead – after the washing of the feet – it devotes the rest of its chapter 13 and the four following chapters largely to Jesus’ further discourses at the gathering. However, only here in the Johannine Gospel (13:23) is it noted that, while resting after dinner, “there was leaning on Jesus’ bosom one of his disciples, whom Jesus loved” (verse 25 reiterates: “lying on Jesus’ breast”). Tradition identifies this disciple precisely with John, who is consequently also taken as the person meant in the subsequent passages (20:2, 21:7, and 21:20) that echo the physical intimacy of this language and, once anyway, again speak of Jesus’ “love” for this disciple. These brief but significant phrases later inspired all kinds of artistic representations either in the setting of the Last Supper or apart from it. De Hooghe understood this connection full well and what to do about it, as will appear below. But it may momentarily surprise us that in four of the Images-to-come the artist assigns a definitely active role to an abruptly matured John as the Last Supper progresses although, as said, this Evangelist (or the ancient writer who, deliberately or inadvertently, has allowed himself to be mistaken for John) has actually put so little on paper about occurrences on that crucial occasion. One such event is recorded: Jesus’ handing a “sop” he has just dipped into some vessel or other to Judas Iscariot (14:26). And the theme of love – of Jesus for his disciples in general and their love for one another – becomes quite prominent in the Master’s spoken words. Two passages from elsewhere in John’s Gospel bear on John’s veracity; one is conveyed (without apology) to the Last Supper series, where it is incorrectly identified as to its precise origin in the text of this Gospel. The earlier of the two, which occurs right at the end of the Johannine account of the Crucifxion, reads: “And he that saw it bare record, and his record is true; and he knoweth that he saith true, that ye might believe” (19:35); the other comes in the penultimate verse of John’s last chapter (21:24): “This is the disciple which testifieth of these things, and wrote these things; and we know that his testimony is true.” The French version of these latter words is quoted with Image 11, but its source is incorrectly identified (see below). More strikingly, De Hooghe (most likely in conjunction with the author) has invented an unexpected means of
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verification to accompany his graphic visions of the Last Supper, one which also allows an unsuspected parallelism with the proceedings called for in the fading life of the patient. (See below.) One memorable facet of the iconology of John the Evangelist (though only one of many such) is his depiction (in two or three dimensions) as a definitely younger person than any of his fellow-disciples and, in evocations of the Last Supper, precisely the disciple who can be seen as cradled in the lap or bosom of Jesus, either as described in the passages from John’s Gospel cited above or – in an amplification of the Biblical text – presented in this posture but with his eyes closed as in (or as if in) sleep. Some of the explicators for whom John was the supreme visionary felt this latter, not uncommon, depiction as conveying John’s soaring or, mutatis mutandis, his eagle’s flying, to a lofty encounter with the highest mysteries (hints of which immediately emerge, if one will, from the opening verses of his Gospel).3 If we try to read the inner involvement of Jesus with John as presented, for instance, in Dürer’s Last Supper from the Große Passion, we should not overlook the expressive curl of the fingers of Jesus’ left hand as, with his whole right arm, he holds protectively the beardless John (who would seem to be sleeping), or the apparently closed eyes of Jesus himself in a face expressing infinite compassion. To be sure, this rendering seems in part divorced from the very Biblical text in which, on behalf of Peter, a wide-awake John (“leaning on Jesus’ bosom”), asks their Master about the identify of the traitor in their midst. But Dürer is of course not alone in introducing the motif of apparent slumber at or after the 3 J. F. Hamburger, St. John the Divine. The Deified Evangelist in Medieval Art and Theology. Berkeley 2002, a work that can be said to represent the present pinnacle of studies of the iconology of the Apostle John. See also R. Haussherr, „Über die Christus-Johannes-Gruppen. Zum Problem ,Andachtsbilder‘ und deutsche Mystik“, in: R. Becksmann; U.-D. Korn; J. Zahlten (Hg.), Beiträge zur Kunst des Mittelalters. Festschrift für Hans Wentzel zum 60. Geburtstag, Berlin 1975, 79–103; G. Schiller, Iconography of Christian Art Volume 2. The Passion of Jesus Christ. Greenwich 1972; and A. Volfing, “The authorship of John the Evangelist as presented in medieval German sermons and Meisterlieder”, in: Oxford German Studies 23, 1994, 1–44. One unusual variant on the respective positions of Jesus and John can be seen in (reproductions of ) Gillis Mostaer’s “Het Laatste Avondmaal” (now lost), as reproduced in C. van de Velde’s “Taferelen met grisaillelijsten van Gillis Mostaert”, in: A.-M. S. Logan (Hg.), Essays in Northern European Art Presented to Egbert Haverkamp-Begemann on his Sixtieth Birthday, Doornspijk 1983, 276–282 (fig. 2). John, who would appear to be at most a teenager, is leaning on Jesus’ left shoulder, almost from behind, with his head turned slightly away to his left, as he looks down at an angle, his eyes closed.
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meal. (There are even artistic representations of the scene that have John’s head, cushioned or not, lying right on the top of the table.) If now with a reproduction to study (fig. 1) we look ahead about 160 years and examine Romeyn de Hooghe’s rendition of the Last Supper as found with Book IV of Thomas à Kempis’ De Imitatione Christi (part of a 1669 collection of works by Thomas for which De Hooghe made a total of nine etchings, recasting nine anonymous prints from a quarter-century before),4 John again looks ever so much younger than the other disciples, but is fully alert. Though sitting (once again) in Jesus’ lap, he is looking up at the Master questioningly, almost apprehensively. Jesus, who has dark hair and a dark beard (a handsome look altogether), is holding out a piece of bread, although, weirdly, the other figure 1 Romeyn de Hooghe: first page disciples seem hardly to notice. (In the of Book IV (“De Sacramento Altaris”) of DE background, the feast at the house of IMITATIONE CHRISTI, 4 x 2 1/8 in., from the present writer‘s collection Lazarus in Bethany is in progress, and Mary, Martha’s sister, anoints the feet of Jesus with “a pound of spikenard, very costly,” and then wipes them with her hair [ John 12:3; in Mark 14:3 the host is Simon the leper].) (See fig. 1, below.) 4 The title-page of this collection may be reproduced here as it stands (except for a disregard for the varying size of typefaces). VIATOR CHRISTIANVS RECTA AC REGIA in cœlum VIA tendens, Ductu THOMÆ de KEMPIS; Cujus DE IMITATIONE CHRISTI, aliaque piissima Opuscula Nova curâ recensuit, & NOTIS illustravit IACOBVS MERLO HORSTIVS, B. Mariæ in Pasculo Pastor. [cut] COLONIÆ AGRIPPINÆ, Sumptibus BALTH. ab EGMONT & Sociorum. M. DC. LXX. The print shown here (fig. 1) stands on the (unnumbered) page 184 of this edition (vol. I); it faces the first page of Book IV (“De Sacramento Altaris”) of DE IMITATIONE CHRISTI.
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When, much later, De Hooghe worked out a large batch of images for two different prentbijbels (one with the text of Henricus Vos, the other with prose texts by Jacobus Basnage and compressed poetic renderings by Abraham Alewyn, both published in Amsterdam by Jacob Lindenberg and dated 1703 and 1705 respectively)5 the artist had a number of opportunities to represent the Evangelists and the writings they are credited with. Turning to the Basnage Bible, one finds that for each Evangelist there appears a good-sized portrait surrounded, as anticipation, by twelve circular miniatures giving glimpses of short parts of the full text (such as its parables). Three of the centered portraits, those of Matthew, Mark, and Luke, have beards and suggest men in middle age; John’s introductory portrait is of a mature man who is perhaps a little younger; in any event, he is beardless. The internal etchings relevant to each Gospel include a view, whatever its size, of the Last Supper. Under Matthew one finds a small rendition of it in which one can single out a somewhat younger-looking disciple sitting at the table to the left of Jesus, but without their touching. With Mark, there is a larger central view of the same event where a youngish disciple is sitting across the table from Jesus. In the version for Luke – in the lower-right corner of the afbeelding – the disciple, somewhat young in appearance, is seated to the left of Jesus and facing his way but, again, not in physical contact with him at all. However, in the 128th print (part two, opposite p. 78), one of those concerned with the Johannine Gospel, the small depiction in the upper left (of the larger scene with the Crucifixion) shows both Judas’s departure from the table and, held protectively in the right arm of Jesus, a distinctively childlike John asleep (or looking asleep), whereas in Miroir de la bonne mort at the corresponding moment when Judas is about to vacate the room John cannot be unmistakably distinguished from the other disciples. The sequence of etchings on the Last Supper in Miroir de la bonne mort begins with Image 6. Because of one singularity, however, our inspection of these plates might best commence with Image 8. Here the entire surface of the presumed painting is covered with parallel vertical striations. (This approach is not unique in the artist’s oeuvre. In at least one instance, apparently intended to underline the distinctness between two real events which are nevertheless related causally, the earlier one, which has to be invisible to the onlookers 5 For a history of this genre in Flanders and the Northern Netherlands, see W. C. Poortman, Bijbel en Prent. Deel IIa. Boekzaal van de Nederlandse Prentbijbels, ‘s-Gravenhage 1986. Pages 106–120 are devoted to a section on the Bible illustrations of De Hooghe.
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present but is made visible to viewers, has just such markings.) Although the painting in the present case is thematically parallel to the scene in the room in which it hangs – above, Jesus is instituting the communion for his followers; below, the sick man is receiving a sanctified communion wafer from an officiating priest – the striations possibly have the function of underlying the existential disparity between the corpulent, robed priest and the original endower of the sacramental procedure, his head, as in every painting in this series, surrounded by an aureole. (At the same time, in the sickroom the figure 2 Romeyn de Hooghe: Image 8 in Miroir de la gathered witnesses are all on bonne mort, 7 9/16 x 5 7/8 in., from the present writer‘s their knees; and the watch- collection ful angel just behind the man in bed looks on with sincere devotion even while gesturing towards the painting.) Yet the texts below the etching are aimed at a somewhat strained analogy in which ‘multiple’ means ‘often’: “Iesus donnant à ses Disciples le pain qu’il avoit benit, leur dit; Faictes cecy en memoire de moy. Sainct Luc. Chapitre. 22 [v. 19]’’ / “Nostre Sauveur disant a ses Apostres au temps qu’il leur donnoit la communion, qu’ils en fissent de mesme entre-eux; faict entendre au Malade qu’il luy convient communier souvent durant sa maladie.” In any event, De Hooghe shows the disciples in a ring around the table, all looking toward their Master; John is on Jesus’ left, though a short distance away, and looking attentively towards him. Going back to the start of the Last Supper series, Image 6, one cannot but notice that here, too, John is in the same position vis-à-vis Jesus as in the
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eighth painting: to his left. Here Jesus is already administering the bread (after giving thanks, blessing it, and breaking it). But this Image opening its series is retrospective in a special way: on the floor in front of the table one cannot but see a large basin with two flagons standing in it. The author’s explanatory texts use this circumstance, just as later, to underline the way in which the sick man’s behavior is or should be reflected in what passes or has passed before our eyes in both the paintings and in the momentary interior scenes. The basin is, so to speak, left over from Image 5 (and its foregoers), where the feet of the disciples are washed, this cleansing betokening the patient’s need to say his confession and say it repeatedly (“souvent”). The instructions with Image 6 knit the sick man’s obligations up: he must make his communion “apres s’estre confessé.” In the framed painting with Image 7 there is no basin. As well, the seating pattern at the Last Supper following Image 6 involves something of an rearrangement. John’s head receives no particular emphasis – he is now sitting a little further from Jesus right side than before. Below in the bedroom scene a priest is carrying out a consecration, with a full staff of acolytes, while in the foreground two of the laity, one, no doubt, the sick man’s wife, are bent over with devotion. Where, as was noted above, Image 8 finds John on the left side of Jesus (though with space between them), Image 9 brings him back again, and slightly closer, to his Master’s right side; his head is also inclined toward Jesus. Too, as noted before, the seating arrangement here (not to mention the absence of striations) is also a variant on its predecessor. It is in the main scene of Image 9 that the atmosphere is rather different from before: although in the left background a consecration is going on at small altar belonging, it might seem, to the furnishings of the sickroom, in the foreground we see the patient sitting up in bed and bent over a large flat basin held out for him. He is nauseated and has either thrown up or is about to. However, religious duty cannot be abrogated: in this circumstance he is brought to understand that, where he is incapable of receiving communion “sacramentellement,” he can make his communion “spirituellement.” But what does this state of mind approximate? How does the momentary condition of the nauseous patient find its place in the scheme as a whole? After all, above in the painting in Image 9, the Last Supper is still going on and those at the table seem closer than ever to one another. The connection may well seem tenuous, unless the very disparity between the ancient origination in its perfection and the latter-day awkward makeshift is taken as a meas-
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ure of faith’s indomitable nature. Alternatively, drawing on the 22nd chapter of Luke [v. 15], David de la Vigne quotes: “Iesus dit a ses Disciples; j’ay desiré grandement de manger cette Pasque avec vous, avant que je meure.” In other words, at this point one is asked to recall (through words more than imagery) the moment when the Last Supper, still to come in the (near) future, was the object of Jesus’ desire. When sick, the patient is far from realizing communion in actuality but, in a special type of imitatio Chrsti, he is to learn to do so mentally (in his heart and soul) because he so wants to. The next three prints figure 3 Romeyn de Hooghe: Image 9 in Miroir de la (Image 10, 11, and 12) involve bonne mort, 7 9/16 x 5 7/8 in., from the present writer’s both another sharp difference collection in the sick man’s situation and, in the corresponding paintings, a completely unexpected event which amounts to a radical departure in approach to Scriptural citation. John and Jesus are shown sitting further apart than at any time before, yet a new connection between them is on display. It picks up on the two passages (quoted above) that affirm John’s veracity as a writer: “his record is true” ( John 19:35) and “we know that his testimony is true” ( John 21:24). By dint of artistic portrayal, surely irrefutable, John, fully an adult, is no longer at the Last Supper table but, rather, is sitting by himself at a writing-stand (its shape and exact placement vary with each print). From here he is looking over towards Jesus; the latter is now on his feet, as are several of the disciples. John now has the function of taking down the ipsissima verba of Jesus as he hears them. Initially (in Image 10) his pen or stylus is poised some inches above the writing pad; in Image 11 he is holding this instrument in the air a little higher than that; both
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times his gaze is fastened on Jesus, who stands fairly close to John in 11, further off in 10. With Image 12, John is looking over the sheet or sheets of paper on which he has been transcribing the words of the Lord. Here, for a sample, is Image 11 (fig. 4). Its interest is amplified by the two short texts at the bottom. The first, in italics, offers the now familiar excerpt from John 21:24 that forms the penultimate verse of John’s entire Gospel – except that the author has misidentified it as occurring in John’s chapter 19, where, right at the end of the Crucifixion, as we have read, the text proclaims that “he that figure 4 Romeyn de Hooghe: Image 11 in Miroir de la saw it bare record [...].” bonne mort, 7 9/16 x 5 7/8 in., from the present writer’s collection These words now seem to belong to the Last Supper narrative, with the full authority of David de la Vigne behind this placement. The second notation (no less surprisingly) here informs the reader that Jesus has made John his “Secretaire” in regard to his “Testament” – signaling to the invalid that he, too, must see to having his will drawn up! (See below.) It is a little strange that John (whose Gospel does not go into the establishment of the future Sacrament of the Altar) is recording words of Jesus only found in the Synoptic Gospels, as in Matthew 26:28: “For this is my blood of the new testament, which is shed for many for the remission of sins”; cf. Mark 13:24 and Luke 22:20 (where “for you” takes the place of “for many”). A disproportionate analogy is at work here: what Jesus is leaving behind, as in a convenant, is the sacramental transmutation of his own blood (soon to be shed) as a means of absolving the sins of others. The author’s analysis in Image 10 concludes that the patient must understand it is up to him to see to the
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making of a will but – more exactly, as the author points out in Image 12 – to exercise care (“soing”) in the distributions he calls for. In an extension of this idea, he, the patient, enters into a very faint parallel with Jesus, who declares his disciples now to be “Heritiers” of his kingdom (“Royaume”), as the texts with Image 13 set forth. (In Luke 22:29–30 Jesus even assures his disciples that in this kingdom they may “may eat and drink” at his table and, on “thrones,” will judge “the twelve tribes of Israel.) Naturally, it would be premature if not presumptuous for the patient to aspire to any such form of celestial consolation. Obviously, he cannot count on a “kingdom” at that level that will be due to him after death; nor does he have something of the kind to pass on to others. (Equally inapplicable, if only because of the patient’s imminent death, would be the coming of the “Comforter” that, in John 14:16, Jesus promises will be with his disciples “for ever.”) But, as just seen above, David de la Vigne introduces the idea of the kingdom in Image 13, quoting Jesus as saying to his disciples, “Voicy que je vous laisse Heritiers de mon Royaume, en la forme que mon Pere me la laissé ” What, then, should the applicability of these words to the situation of the patient? Well, in regard to the kingdom, his model requires at least evenhandedness in the coming distribution of his goods (Image 12). He will soon be leaving behind all his possessions. However, not without the legally required “Testament.” This difficulty has been anticipated; setting John and his pen aside, one can observe, with Image 10 in hand, the arrival in the sickroom by candlelight of the notary who is to draw up the sick man’s will and, behind him, one or both of the obligatory witnesses. In Image 11 the notary and the witnesses are already seated; standing by the bed is the discalced friar with whom the patient is consulting. The nicest touch in this etching (see above) is the suggestion that, by gestures as they look one another straight in the eye, the notary and the guardian angel (the latter standing alone and pointing up to the painting with one hand but gesticulating towards the seated notary with the other) are in disagreement. The angel is evidently conveying the views of the patient, but the latter will have called in the notary. Though in this Image the author refers to John 19 with the words one ought to recognize to be those of the Evangelist (or of his early readers) in John 21:24 – “Celuy cy est le Disciple qui faict Foy de ces choses, & qui les à escrites: & nous sçavons que son tesmoignage est veritable” – this quotation has the backing of Jesus himself, as implied by David de la Vigne: “Nostre Seigneur ayant choisy Sainct Jean pour luy servir de Secretaire en son Testament : enseigne au Malade le choix qu’il doit faire de ceux qu’il veut appeller en la disposition du sien” (as if the patient
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didn’t have more than one adviser!). If the patient were to follow with his eyes the angel’s gesture towards the painting (now actually behind the bed!) he could indeed see John carrying out his own exquisitely reliable transcription. The first result of the patient’s decisions seems tumultuous. While the notary is still looking over his document (and in the back of the room by the windows several other knowing professionals are apparently tying up loose ends in the disposition of their host’s property), desperate unfortunates (including the irreparably impaired) are already figure 5 Romeyn de Hooghe: Image 12 in Miroir de la the room to bonne mort, 7 9/16 x 5 7/8 in., from the present writer‘s crowding collection besiege the patient for expressions of his charity. The patient bestows some items on his frantic visitors with what seems no more than velleity. In comparison, Jesus, the author’s note brings out, is joyfully giving his “ame” to the eternal Father. In the immediate sequence, John fades out (though he cannot be overlooked in De Hooghe’s later Image 35, where Jesus commends him from the Cross “a sa Mere”). In Miroir de la bonne mort he will never be seen again as a conspicuous adolescent. His reappearance as a boy being cuddled by Jesus has to wait until early in the next century with the appearance of De Hooghe’s etchings for the Basnage prentbijbel (see above). And, clearly, John’s writingdesk quickly becomes a thing of the past. But his role as “Secretaire” (along with a probable explanation for its bestowal on him in Miroir de la bonne mort in the first place) also finds a kind of renewal in that same prentbijbel. In the first of the five half-page illustrations which De Hooghe made for Openbaar-
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figure 6 Romeyn de Hooghe: Image following p. 92 of Openbaaring van Joannes in the edition of 1705, 6 x 7 ½ in., from the present writer’s collection
ing van Joannes (following p. 92 in the edition of 1705) John is sitting (with his legs crossed!) and holding a manuscript, or the makings of one, in his lap, as Christ, standing there in glory, has placed his right hand on John’s head and tells him (“Gods lieveling,” in the words of Alewyn’s accompanying poem) to “write” – “what thou seest, write in a book, and send it unto the seven churches which are in Asia” (1:11). In his right hand John is holding what would seem to be his familiar stylus. Clearly, this charge from Jesus represents the ultimate instance of trust in John’s accuracy and veracity. As portrayed here, the Evangelist has definitely reached adulthood and can be thought of as precisely that, the author of the earlier Gospel which will henceforth and persistently retain his name – not that he gives any sign of growing a beard.
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Einleitung – „Du stirbst, damit du lebst“ „Du stirbst, damit du lebst“:1 Dieser Leitsatz wird häufig mit den altägyptischen Jenseitsvorstellungen assoziiert. Edmund Hermsen hat sich immer wieder mit dem Thema Tod anhand der stark jenseitsorientierten ägyptischen Religion beschäftigt.2 Der Umgang des Menschen mit der Endlichkeit seines Lebens, der Gewissheit seiner Sterblichkeit sowie die damit verbundenen existentiellen Fragen nach einem metaphysischen Sinn haben die Entwicklungen jeder Kultur seit Menschengedenken wesentlich beeinflusst. Zudem finden sich angesichts dieser existentiellen Situation unmittelbare Bezüge für postmortale Konzepte als Grundlage religiöser Vorstellungen. So kann die Auseinandersetzung mit Leben und Tod als ein religiöses Thema par excellence bezeichnet werden.3 Die Literatur wie auch andere Bereiche der Kunst repräsentieren und beeinflussen den individuellen wie kollektiven Umgang der Menschen mit dem Tod und dem Leben.4 Edmund Hermsen hat in seinen Lehrveranstaltungen immer wieder seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass literarische Werke nicht lediglich als Spiegel oder Reflexe auf die zeitgenössischen religiösen Kontexte zu verstehen seien. Vielmehr liege ihre religionshistorische Bedeutung darin, dass sie als aktive Mitgestalter der jeweiligen sozialen Entwicklungen und Situationen einen maßgeblichen Einfluss auf das entsprechende Selbstverständnis der Menschen zeitigten. Solche religionsge1 K. Sethe, Die altägyptischen Pyramidentexte. Bd. II: Spruch 469–714 (Pyr. 906–2217). Hildesheim 1960, 476. 2 Vgl. etwa E. Hermsen, Die zwei Wege ins Jenseits. Das altägyptische Zweiwegebuch und seine Topographie, Göttingen 1991. 3 Vgl. G. Ahn, „Religion I. Religionsgeschichtlich“, in: G. Krause; G. Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie. Band 28: Pürstinger-Religionsphilosophie, New York u.a. 1997, 513–522. 4 G. Condrau, Der Mensch und sein Tod. Certa moriendi condicio, Zürich 1984, 10.
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schichtlich relevanten Einflüsse auf den heutigen Zeitgeist vermochte Hermsen sowohl in der Rezeption des ägyptischen ‚Totenbuches‘ zu finden als auch in den Werken Hermann Hesses oder in der aktuellen Science-Fiction-Literatur.5 Der vorliegende Text handelt nicht von Jenseitsvorstellungen, sondern hat einen anderen Aspekt von Todesvorstellungen im Fokus: die Personifikation des Todes als einer Form der aktuellen literarischen Auseinandersetzung mit dem Tod, dem Leben und den Grundbedingungen der menschlichen Existenz. Dies wird hier im Rahmen der Scheibenwelt-Romane des populären britischen Schriftstellers Terry Pratchett untersucht. Dabei sollen neben den klassischen Topoi auch aktuelle zeitgeschichtliche Motive und Konnotationen angesprochen werden, die Terry Pratchett6 auf seine literarische Figur projiziert. Der personifizierte Tod existiert auf der Scheibenwelt als eine – oder vielleicht die Hauptfigur, die in allen Romanen agiert oder zumindest ein Gastspiel gibt. Als existentielle Erfahrung spielt er auch im Rahmen jeglicher wesenhaften Existenz zumindest eine kurze, dann aber auch finale Rolle. Das gilt auf der Scheibenwelt ebenso wie auf unserer Rundwelt,7 die uns Pratchett durch seinen Zerrspiegel betrachten lässt, indem er bestimmte grundlegende Facetten der Welt und des menschlichen Lebens hervorheben und betrachten kann. Die Scheibenwelt erhält somit den Charakter einer Gegenwelt, wie sie Fritz Stolz8 definiert hat: Als durchaus ambivalente Phantasiewelt weist sie im Vergleich zu unserer real existierenden Rundwelt sowohl komplementäre, alternative, antagonistische als auch gleiche Strukturen auf. Wesentliche Elemente können somit in diesem Spiegel zur Alltagswelt perspektivisch verzerrt 5 Vgl. hierzu E. Hermsen, „Die Reise der Seele nach dem Tod – Zur Rezeption des altägyptischen Totenbuches in Europa“, in: Discussions in Egyptology 55, 2003, 37–50 bzw. zu Hesse: E. Hermsen, „Ein Paradigmenwechsel in der katholischen Kirche oder: Hat Drewermann zuviel Hermann Hesse gelesen?“, in: Thomas Schweer (Hg.), Drewermann und die Folgen. Vom Kleriker zum Ketzer? Stationen eines Konflikts, München 1992, 216–230. An aktuellen literarischen Werken legte Hermsen seinen Studenten u.a. die Neuromancer-Trilogie von William Gibson (ab 1984) als geistige Vorlage der Cyberpunk-Subkultur ans Herz. 6 Eigentlich als vollständiger Name „Sir Terence David John Pratchett“, von seinen Freunden und Fans „Pterry“ (vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Terry_Pratchett [Zugriff: 30.11.2009]) genannt. Ich werde aus stilistischen Gründen bei „Terry Pratchett“ bleiben. 7 Rundwelt steht als Begriff für die real existierende bzw. nichtfiktionale Erde als Zerrspiegel bzw. Gegenwelt zu Pratchetts phantastischer Scheibenwelt . 8 F. Stolz, „Paradiese und Gegenwelten“, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 1, 1993, 5–24.
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und damit eingehender untersucht werden.9 Die Figur des Todes bildet als idealer, rein rationaler Philosoph eine wertneutrale Perspektive auf die Gegenwelt (und damit auf beide Welten gleichermaßen); er ist überall persönlich beteiligt und dennoch immer das unpersönliche Gegenüber, mit dem sich alles andere abgleichen lässt. Für diese Mischung aus abstrakter Vergleichsebene und persönlicher Konfiguration möchte ich an dieser Stelle den Begriff der Gegenfigur einführen: Wie sich in den Jenseitsvorstellungen das Diesseits spiegelt und sich in der Darstellung der Scheibenwelt Pratchetts unsere alltägliche Rundwelt wieder finden lässt, so reflektiert der personifizierte Tod über das Leben und die Menschen an sich. Er steht als Gegenfigur gleichermaßen allen Wesen und Ereignissen der Scheibenwelt gegenüber wie der Autor Pratchett seinem gesamten Werk.10 Zuerst wird im Folgenden im Rahmen einer Abhandlung über den literarischen Kontext der Fantasy auf Pratchetts spezifischen Stil und die Grundzüge der Scheibenwelt eingegangen. Danach werden die historischen Darstellungen des personifizierten Todes in der westlichen Kultur angesprochen, soweit sie als Hintergrund für die Charakterisierung und Interpretation der entsprechenden Figur bei Pratchett relevant erscheinen. Schließlich sollen die Bezüge zwischen historischen Vorbildern und parodistischer Verfremdung in der Darstellung der Figur des Todes bei Pratchett und deren Persönlichkeitsentwicklung im Laufe der Scheibenweltromane abgeglichen werden, um die zentralen Auseinandersetzungen aufzuzeigen, die sich an dieser Gegenfigur brechen.
9 Neben der Figur des Todes gibt es noch zahlreiche weitere religionswissenschaftlich relevante Elemente in Pratchetts Romanen, die hier leider nicht näher untersucht werden können, wie etwa der Götterpantheon, die Kerkerdimensionen (Hölle-Unterwelt), Kosmologie, Seelenvorstellungen wie Reinkarnation und nicht zuletzt die individualreligiös geprägten, konstruktivistischen Vorstellungen vom Leben nach dem Tode. 10 Auf Nachfrage in einer Podiumsdiskussion (im Bookclub, 7 July 2004. No. 7, season 7th, siehe ab Minute 7:40) räumte Pratchett ein, dass er sich als Schriftsteller strukturell stark in der Rolle seines personifizierten Todes in seinem Werk wieder findet; vgl. http://www.bbc.co.uk/radio4/arts/bookclub/ram/bookclub_20040704.ram (Zugriff: 30.11.2009).
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Terry Pratchetts Werk und die Scheibenwelt – „Märchen zeigen uns, dass Drachen besiegt werden können“ „Fairy tales are more than true; not because they tell us that dragons exist, but because they tell us that dragons can be beaten.“11 Die Romane Pratchetts leiden bisher an der für sie charakteristischen Einordnung als populäre, humoristische Fantasyliteratur12, was zu einer gewissen Missachtung von Seiten der etablierten Literaturkritik13 führen kann. Dagegen soll hier der Versuch einer ernsthaften Rezeption eines zentralen Aspektes in Pratchetts Werk versucht und im Rahmen einer Betrachtung des Fantasy-Genres sowie spezifischer Aspekte von Pratchetts Humor die sogenannte Scheibenwelt dargestellt werden, eine Gegen- oder Anderswelt, wie sie Pratchett seit 1983 in über 30 Romanen entwickelt hat. Die Scheibenwelt wird in Anlehnung an verschiedene Schöpfungsmythen als eine flache, rotierende Welt geschildert, getragen von vier Elefanten, welche wiederum auf dem Rücken der riesigen Schildkröte Great A‘Tuin stehen, die durch das Weltall schwimmt.14 Immer neue Länder, Kontinente, Völker, Religionen, Personen und Kulturen der Scheibenwelt werden von Pratchett im Zuge des Fortschreitens seiner Publikationen entworfen und weiterentwickelt. Dies findet im Rahmen einer Tiefenstruktur statt, die John Ronald Reuel Tolkiens Roman The Lord of the Rings (1954–55) als Grundlage und Ausgangspunkt hat – tatsächlich orientiert sich die meiste heutige Fantasyliteratur an dem Muster der heroischen Rückeroberung eines ursprünglichen paradiesischen Zustandes.15 Auch der äußere 11 G. K. Chesterton zitiert nach C. Kölzer, ‚Fairy tales are more than true‘ – Das mythische und neomythische Weltdeutungspotential der Fantasy am Beispiel von J. R. R. Tolkiens ‚The Lord oft he Rings‘ und Philip Pullmans ‚His Dark Materials‘, Trier 2008, 9 12 A. M. Butler; E. James; F. Mendlesohn (Hg.), Terry Pratchett. Guilty of Literature, Baltimore 22004, viii. Siehe hierzu auch P. Hunt, „Terry Pratchett“, in: P. Hunt; M. Lenz (Hg.), Alternative Worlds in Fantasy Fiction, London 2001, 86–121, 90. 13 Ganz im Gegensatz zur eindeutigen Zuneigung seiner Leserschaft, wie sich beispielhaft auf den Fanseiten http://www.thediscworld.de/index.php/Hauptseite, http://www.lspace.org – hier finden sich sogar einige wissenschaftliche Abhandlungen – oder http://www.scheibenwelt.de/ aufzeigen lässt. Inzwischen sind zahlreiche Filme, Computer- und Rollenspiele, Landkarten u.Ä. zu den Scheibenweltbüchern Pratchetts hinzugekommen, der heute nach J. K. Rowling der meistgelesene Autor Großbritanniens ist (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Scheibenwelt). Alle Webseiten wurden zuletzt am 30.11.2009 abgerufen. 14 T. Pratchett, Colour of Magic, Gerralds Cross 1983. 15 J. Clute, „Coming of Age“, in: A.M. Butler; E. James; F. Mendlesohn (Hg.), Terry Pratchett..., 15–30, 16.
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Kontext ist an Tolkien angelehnt, so erscheint die Scheibenwelt als „eine fiktive, noch weitgehend vorindustrielle, mittelalterlich geprägte Welt, die (…) mit Elben, Zwergen, Trollen, Zauberern, Monstern, Mischwesen und Geistern bevölkert ist.“16 Eine weitere Parallele liegt darin, dass die Scheibenwelt durch Vernetzung unterschiedlichster Handlungsstränge und chronologischer wie geographischer Gegebenheiten „fiktionale Geschichtskonstellationen“ zu bilden versteht, die eine „universalhistorische Perspektive“ in einem „einheitlichen Weltentwurf“ einer Anders- oder Gegenwelt entstehen lassen.17 Gerade in einem solchen Kontext der existentiellen Fantasy, die sich mit der Produktion eines eigenen Realitätsentwurfes im Kontrast zu der zu reflektierenden Weltanschauung der nicht-fiktionalen Wirklichkeit beschäftigt, spricht Christian Kölzer von einer unzureichenden Rezeption einer Literaturgattung, „die aufgrund ihrer weltanschaulichen Bedeutungstiefe als rechtmäßige Erbin der klassischen Mythostradition verstanden werden“18 müsse. Hier werden im verfremdenden „Gewand der Anderswelt“ die entscheidenden „großen Wahrheiten und Zusammenhänge unserer Welt“ verhandelt, hinterfragt oder bestätigt, wie etwa: das Leben sei hart, aber „die Bedingtheit des moralischen Urteils“ entbinde den Menschen nicht von seiner moralischen Verantwortung.19 Fantasy ist also ein Ort, in dem Gegenwelten und Gegenfiguren eingesetzt werden, um existentielle und gesellschaftlich relevante Topoi zu reflektieren und zu verhandeln, wodurch neue Perspektiven kreiert werden können. In dem quasi-mittelalterlichen Kontext der Fantasy spielt Pratchett auf der parodistischen Klaviatur seiner Scheibenwelt u.a. mit Elementen, die sich aus dem Bereich der Heroic oder der Sword & Sorcery Fantasy rekrutieren.20 16 G. Ahn, „Ein heimliches Laster? Linguistische Mythopoetik und fiktionale Historiographie Tolkiens The Lord of the Rings“, in: Mitteilungen für Anthropologie und Religionsgeschichte 12, 1997, 5–32, 11. 17 G. Ahn, „Ein heimliches Laster? ...“, 19. 18 C. Kölzer, ,Fairy tales are more than true‘ ..., 8 19 C. Kölzer, ,Fairy tales are more than true‘ ..., 104 f. 20 D. Langford, „The Colour of Magic by Terry Pratchett“, in: G. Westphal (Hg.), The Greenwood Encyclopedia of Science Fiction and Fantasy. Themes, Works and Wonders, London 2006, 973–975, 974. High Fantasy entspricht kurz gesagt dem TolkienSchema einer weltanschaulich tiefen Gegenwelt-Konstruktion, während die Heroic und Sword & Sorcery Fantasy eine eher undifferenzierte, individualisiertere Variante derselben Muster wie Auseinandersetzungen von Gut und Böse, Schätzen, Drachen, Jungfrauen etc. darstellt (vgl. A. Kristiansen, Subverting the Genre. Terry Pratchett‘s Discworld as a Critique of Heroic Fantasy, Hovedfag Thesis, Department of Modern Languages, Norges teknisk-naturvitenskapelige universitet i Trondheim
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Die Scheibenwelt wird von einem starken magischen Feld umgeben, so dass alles existieren kann, was in der Lage ist, einen genügend starken, von ausreichend vielen Wesen angenommenen Glauben an sich zu binden. Damit begründet Pratchett eine ganz eigene “theory of the power of the story” oder narrative Kausalität, indem bestimmte Zusammenhänge und Manifestationen aufgrund der menschlichen Erwartungen an eine Geschichte geradezu kausal erzwungen werden.21 In dieser Matrix entfaltet sich Pratchetts kreatives Potential der absurden Scheibenwelt, die gleichzeitig eine eigene Welt darstellt und in der sich andere Welten spiegeln,22 was ihm eine ironisch verfremdete und dadurch distanzierte Perspektive auf grundlegende Motive des Menschlichen sowie auf Themen der heutigen Zeit ermöglicht. So gewinnen die Gestalten in dem eingestandenermaßen „absichtlich lächerliche[n] Universum [...] ihre Komik gerade dadurch, dass sie nicht anders sind als Normalsterbliche [...] in unserem zwanzigsten Jahrhundert“.23 Die überwiegend negative Rezeption der Fantasy sieht Pratchett übrigens selbst als Ausdruck einer zu begrenzten Perspektive und relativiert deshalb die klassische, enge Einordnung des Genres: Fantasy sei eigentlich alles, was über Zukünftiges spekuliere, die Vergangenheit kreativ re-produziere oder die Gegenwart mit anderen Augen sehe.24 So beinhaltet Pratchetts Scheibenwelt im Kern auch wesentliche Züge einer Parodie oder Komödie. Zwischen Humor und Tragik wird oftmals – zu Unrecht – eine starre Grenze gezogen, indem die oft ernsten, existentiellen Auseinandersetzungen der Komödie negiert werden. Wird die ambivalente Vermischung von komischen und tragischen Elementen nicht erkannt, die oft einer Komödie zu Grunde liegen, kann in deren Betrachtung der Eindruck von oberflächlicher Leichtigkeit entstehen. Pratchett greift in den Scheibenweltromanen eklektisch auf verschiedenste literarische, historische oder mythologische Bezüge sowie seine eigenen Lebenserfahrungen zurück, die sich in den handelnden Figuren, den thematischen Grundmotiven, running gags oder dramatischen
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(NTNU), 2003; online verfügbar unter: http://www.lspace.org/books/analysis/andreas-kristiansen.html (Zugriff: 30.11.2009). D. Langford, „Introduction“, in: A.M. Butler; E. James; F. Mendlesohn (Hg.), Terry Pratchett ..., 3–13, 9. Oder als Beispiel: „It is now impossible for the third and youngest son of any king, if he should embark on a quest (…), not to succeed.“ T. Pratchett, Witches Abroad, London 1992, 9. T. Pratchett zitiert nach D. Langford, „Introduction“, 8. T. Pratchett zitiert nach Süddeutsche Zeitung, 13.10.1997. T. Pratchett, „Let there be dragons”, in: The Bookseller, 11.06.1993, 61.
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Entwicklungen wiederfinden lassen. Die Vermischung von Fakt und Fiktion als konzeptuelle Grundlage der Grundthemen der jeweiligen Romane führt zu amüsanten, scherenschnittartigen Klischeebildern vom antiken Ägypten bis zum modernen Zeitungsgewerbe.25 In Pyramids etwa kann sich der junge Pharao Teppic mit seinen fortschrittlichen Ideen nicht gegen eine etablierte Priesterhierarchie durchsetzen, es werden durch den Bau einer überdimensionalen Pyramide enorme Energien freigesetzt, woraufhin sämtliche ägyptischen Gottheiten und mumifizierten ehemaligen Herrscher lebendig werden.26 Dabei erliegt Pratchett – abgesehen von einigen deutlichen Seitenhieben – nicht der Gefahr maßloser Übertreibung oder unangemessener Offensichtlichkeit der parodistischen Bezüge. John Clute greift sogar auf Vergleiche mit Händel oder Bach zurück, um Pratchetts behutsame und subtile Verwendung der zahlreichen thematischen Sandkörner zu beschreiben, aus denen kreative und völlig eigenständige Perlen entstehen: die Parodie bleibt keine eindimensionale Waffe der Kritik, sondern fungiert als geradlinige, potentiell wertneutrale Kompositionstechnik.27 Die Bücher über die Scheibenwelt lassen sich thematisch weitgehend in vier verschiedene, untereinander verbundene Sequenzen differenzieren: Die Zauberer, die Hexen, die Stadtwache von Ankh-Morpork und TOD.28 Die entscheidende Bedeutung der Figur TOD kommt neben der Tatsache, dass er 25 Die literarische Vorlage lieferten: W. C. Sellar; R. J. Yeatman, 1066 and All That. A Memorable History of England, comprising all the parts you can remember, including 103 Good Things, 5 Bad Kings and 2 Genuine Dates, London 1930, indem sie gleichzeitig den Habitus des zeitgenössischen Geschichtsunterrichts parodierten und dies mit der kruden Mischung aus Halbwissen unterfütterten, an das sich Menschen gemeinhin erinnern, wenn sie von einem bestimmten Thema ‚irgendwann einmal etwas‘ gehört haben. Vgl. hierzu D. Langford, „Introduction“, 11 f. 26 T. Pratchett, Pyramids, London 1989: In Anlehnung an das sogenannte ,Ägyptische Totenbuch‘ ist dieser Roman unterteilt in die vier Kapitel „The Book of Going Forth“, „The Book of the Dead“, „The Book of the New Son“ und „The Book of 101 Things A Boy Can Do“; vgl. auch L. Breebart (Hg.), The Annotated Pratchett File. Version number 9.0.3 (The Pointless Albatross Release), online verfügbar unter: www.lspace.org/ftp/words/apf/pdf/apf-9.0.3.ps (Zugriff: 30.11.2009). 27 J. Clute, „Coming of Age“, 19 f. 28 A. M. Butler, The Pocket Essential. Terry Pratchett, Harpenden 2001, 13 f. Die TODSequenz besteht aus den Büchern Mort (dt. Gevatter Tod), Reaper Man (dt. Alles Sense!), Soul Music (dt. Rollende Steine) Hogfather (dt. Schweinsgalopp) und Thief of Time (dt. Zeitdieb). Der personifizierte Tod spricht bei Pratchett als Ausdruck seiner besonderen Natur und dem Klang seiner ‚Grabesstimme‘ ausschließlich in Großbuchstaben, weshalb im Folgenden für ihn die Schreibweise TOD verwendet wird.
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als Einziger in (fast) allen Romanen eine Rolle spielt, vor allem durch die Zuschreibungen zur Geltung, die sich mit ihm verbinden. So wird er bezeichnet als „the Defeater of Empires, the Swallower of Oceans, the Thief of Years, the Ultimate Reality, the Harvester of Mankind, the Assassin against Whom No Lock Will Hold, the only friend of the poor and the best doctor for the mortally wounded.“29 Ein wesentliches humoristisches Charakteristikum der TOD-Sequenzen ist die absurde Tatsache, dass TOD eine Persönlichkeitsentwicklung durchläuft, wobei er zunehmend Eigenschaften annimmt, die er eigentlich per se als nicht-lebendes, nicht-menschliches Wesen gar nicht haben kann.30 Durch die sukzessive Humanisierung dieser sogenannten anthropomorphen Personifizierung31 gewinnt Pratchetts Figur an Tiefe und zeigt das Spannungsfeld der Auseinandersetzungen um Leben und Sterben und letztlich die Grundlagen der menschlichen Existenz an sich auf, deren unterschiedliche Reflektion in jeder Kultur eine maßgebliche Rolle spielte.
Klassische Personifikationen und Darstellungen des Todes – „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod“ Auch wenn sich die Konnotationen nach ihrem gesellschaftlichen und historischen Kontext gewaltig unterscheiden können, lassen sich doch kulturübergreifende Funktionen konstatieren, die allen Todes- oder Jenseitsvorstellungen als einem religionsgeschichtlichen Grundthema entsprechen: „Kulturelle Überformungen versuchen die Aporie des Todes und die Kontingenzen des Sterbens zu stabilisieren. Die außerhalb der menschlichen Empirie liegende Leerstelle wird gefüllt und in Erklärungs- und Sinnzusammenhänge integriert. Jede Kultur entwickelt Strategien, um den Lebenden Tod und Sterben zu erklären und in einen übergreifenden Rahmen zu stellen (...) Daraus 29 T. Pratchett; S. Briggs, The Discworld Companion, London 1994, 111 f. 30 A. M. Butler, „Theories of Humour“, in: A. M. Butler;E. James; F. Mendlesohn (Hg.), Terry Pratchett ..., 73. 31 Der Begriff ‚anthropomorphe Personifizierung‘ stellt gewissermaßen eine Tautologie dar. Er wird jedoch von TOD selbst als Eigenbezeichnung verwendet (z.B. in T. Pratchett, Mort, London 21988, 37) und taucht auch bei den Auseinandersetzungen auf den Fanseiten und den wissenschaftlichen Abhandlungen immer wieder auf, ohne dass jemals auf die begriffliche Unstimmigkeit hingewiesen wird: Möglicherweise ist das schlichtweg übersehen worden.
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ergibt sich ein Darstellungsmuster, das zwischen Vergegenwärtigung und Verdrängung des Todes hin- und herwechselt.“32
Dieses memento mori gestaltet sich in den unterschiedlich belegten teleologischen, transitiven oder transformativen Vorstellungen, vom „Land ohne Wiederkehr“, dem „Schlaf ohne Erwachen“, einem „Tal der Tränen“ bis hin zum „gelobte[n] Land“.33 Die Darstellungen des Todes entlang der relevanten Rezeptionslinien reichen von ersten biblischen Verweisen bis hin zum mittelalterlichen Bild des Grimmen Schnitters bzw. Freund Hein und sind überwiegend negativ konnotiert. Dies kann zu dem Schluss führen, dass ein – oder möglicherweise der – Hauptanlass thanatologischer Personifikationen in diffuser Angst vor dem Sterben, dem an sich nicht fassbaren Tod und aus einem Bedarf nach (religiösem) Halt und nach Sinnstiftung angesichts dieser existentiellen Situation zu suchen sei. Mit der Anthropomorphisierung wird ein verstehbares Gegenüber generiert und die Möglichkeit geschaffen, sich mit den bedrohlich-ungreifbaren Ängsten, Konfrontationen und Fragestellungen – in welcher Weise auch immer – konkret auseinander zu setzen.34 Seien dies nun dämonische Gestalten wie etwa in ägyptischen oder mesopotamischen Kontexten, eine gewalttätige Gottheit wie im weiteren Umfeld des Alten Testaments35 oder in der anthropomorphen Gestalt eines Skelettes, das als Reiter, Sensenmann, Bogenschütze, Jäger, König, Tänzer, Richter, Totengräber, Gärtner, Fischer, Vogelfänger, Spielmann, Förster, Heerführer bzw. Krieger oder auch als Liebhaber dargestellt wird;36 immer wird der Tod als personell gedachtes Gegenüber in das jeweilige Weltbild integriert. Viele Personifikationen sehen im Tod ein menschliches, überwiegend männliches, handelndes 32 A. Pankratz, ,Death is ... not.‘ Repräsentationen von Tod und Sterben im zeitgenössischen britischen Drama, Trier 2005, 14. 33 G. Condrau, Der Mensch und sein Tod ..., 11. 34 Vgl. einen der frühesten historischen Verweise auf Todesdarstellungen, die als Vorläufer zur mittelalterlichen Personifikation des Skelettes führen sollten, welche als ideengeschichtliche Matrize für Pratchetts TOD dient, bei S. U. Gulde, Der Tod als Herrscher in Ugarit und Israel, Tübingen 2007, 9. 35 S. U. Gulde, Der Tod als Herrscher ..., 119 36 K. S. Guthke, Ist der Tod eine Frau? Geschlecht und Tod in Kunst und Literatur, München 1997, 18 f. Die spezifischen Darstellungen entsprechen den jeweiligen sozialen und kulturellen Gegebenheiten. Es gibt auch relativ häufig weibliche Personifikationen des Todes, und das nicht nur in Fällen, in denen das grammatikalische Geschlecht bereits eine Vorlage dazu liefert, wie etwa Mere la mort im Französischen (vgl. S. 21).
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Abb. 1 Mittelalterliche Darstellung von Freund Hain
Wesen. Die Darstellung des Todes als lebendiges Skelett (vgl. Abb. 1)37 ist bei weitem die häufigste Form der Personifikation: „This tendency to personalize death is so universal that it can be labelled ,archetypal‘, i.e. corresponding to an innate structure or tendency of the human psyche.“38 Die für Pratchetts Romanfigur maßgebliche symbolische Vorstellung ist die des Sensenmannes, wie sie im Mittelalter Europas unter anderem im Rah37 Darstellung des personifizierten Todes von M. Claudius. Illustration des Wandsbecker Bothen (ohne Datum), in: C. H. Nibbrig, Ästhetik des Todes, Frankfurt am Main 1995, 218. 38 N. J. Tromp, Primitive Conceptions of Death and the Nether World in the Old Testament, Rom 1969, 99.
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men der Pestepidemien zu ihrer größten Bedeutung gelangen sollte, aber bereits an verschiedenen Stellen in der Bibel beschrieben oder mit Verweisen auf die ,Ernte‘ der Seelen angedeutet wird39 bzw. in Gestalt eines der Reiter der Apokalypse vorkommt40. Die Figur des Sensenmannes sollte vom 14. Jahrhundert an in den Totentänzen als Artikulation gesellschaftlicher Belange Verbreitung finden: das diesbezügliche Spektrum reicht vom ‚Gleichmacher‘, der ohne Ansehen des jeweiligen Status alle Menschen heimsucht, bis zur späteren, machtgeprägten Darstellung des König Tod.41 Neben den bereits angesprochenen Elementen Pferd sowie Sichel, Schwert oder Sense wird der Schnitter als Ausdruck seiner mahnenden Erinnerung an die menschliche Sterblichkeit oder auch Sündhaftigkeit zusätzlich häufig mit einer Sanduhr oder einem Lebensbuch ausgestattet.42 Auf der psychologischen Ebene findet sich neben dem bereits angesprochenen Thema der Todesangst auch eine mittelalterliche Form der Individualisierung, die sich im persönlichen Erleben des Sterbens und im personalen vorgestellten Gegenüber des Todes widerspiegelte.43 Sicherlich kann nach Ariès davon ausgegangen werden, dass in früheren Zeiten der Tod im alltäglichen Leben gegenwärtiger war und die Lebensbedingungen und Perspektiven auf die Welt gänzlich andere Verstehenskontexte bieten als heute.44 Ebenso dürfte die extreme Tabuisierung des Sterbens ein Phänomen der letzten Jahrhunderte sein.45 Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass der Tod – als existentielle Schwellensituation zwangsläufig mit Ungewissheiten behaftet und ein Ende des bekannten Lebens markierend – zu allen Zeiten auch angstbesetzt war, so dass eine Verdrängung des Todes nicht erst in der 39 Im Alten Testament siehe hierzu Hi 5,26 und Jer 9,21 („Wie Getreidehalme unter der Sichel des Schnitters (…) werden die Menschen fallen“); im Neuen Testament z.B. Offb 14,15–16. 40 In Offb 6,8 taucht Tod als einer der vier apokalyptischen Reiter neben Krieg, Aufruhr und Hunger und als einer der Vorboten des Weltenendes und Weltengerichtes auf: „Da sah ich ein leichenfarbenes Pferd. Sein Reiter hieß Tod und die Totenwelt folgte ihm auf den Fersen.“ 41 K. S. Guthke, Ist der Tod eine Frau? ..., 59. 42 H. Anders, Never say die. Englische Idiome um den Tod und das Sterben, Frankfurt am Main 1995, 55 f. 43 P. Ariès, Studien zur Geschichte des Todes, München 81997, 188 44 Zur Auseinandersetzung mit Ariès hat Hermsen in seiner letzten Publikation einen wichtigen Beitrag geleistet: E. Hermsen, Faktor Religion. Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u.a. 2006. 45 Vgl. hierzu P. Ariès, Studien....
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Moderne einsetzte.46 Der wesentliche Unterschied jedoch ist die Tatsache, dass damals Tod in unterschiedlicher Art und Weise verbalisiert wurde, während er heute kaum mehr thematisiert wird und damit die Möglichkeit verloren geht oder zumindest erschwert wird, sich aktiv mit dem Tod auseinander zu setzen. Die Kunst – insbesondere die Literatur oder die ikonographischen Darstellungen – bietet uns durch ihre Schilderungen von Todeserlebnissen oder durch Personifikationen des Todes einen fruchtbaren Fundus, aus dem wir schöpfen können und in dem die unterschiedlichen Ebenen und Ansätze miteinander verarbeitet werden.
Terry Pratchetts Figur TOD – eine anthropomorphe Personifizierung Die Figur des Todes spiegelt demnach in unterschiedlichen Varianten in der Kunst seit Tausenden von Jahren das Verhältnis der Menschen zu ihrer Existenz, die in all ihren Ausdrucksformen darstellbar ist, ebenso wie sie sich historisch teilweise als psychische Hilfskonstruktion zur Reduktion oder zumindest Begreifbarkeit existentieller Ängste geborene Personifizierung definieren lässt. Der bekennende Humanist und Atheist Pratchett47 greift in der Figur TOD klassische Darstellungsformen von Todespersonifikationen auf – und zwar, entsprechend dem konzeptuellen Fantasyhintergrund der Scheibenwelt, überwiegend mittelalterliche Ausprägungen – wie etwa den grimmen Schnitter, den Sensenmann oder Gevatter Tod. Dabei werden wesentliche Motive verwendet und parodistisch verfremdet, es ergeben sich durch die Verfremdung aber auch grundlegend neue Charakteristiken. Zu den überwiegend klassischen Elementen zählt sicher die äußere Erscheinungsform von TOD: Sie ist weitgehend orientiert an der klassischen mittelalterlichen Personifizierung eines berittenen, in eine schwarze Robe gehüllten Skeletts, ausgestattet mit blau glühenden Augen, einem ewigen Grinsen und mit den klassischen Elementen wie Sense und Schwert sowie 46 N. Elias, Über die Einsamkeit des Sterbenden in unseren Tagen, Frankfurt am Main 1982, 23. 47 „I’m a humanist, which means I’m an atheist, the trouble with being an atheist is that it lets God off the hook. You really want someone to blame.“ T. Pratchett in einem Interview mit ITV vom 8.01.2008, zitiert nach: http://news.bbc.co.uk/2/hi/ entertainment/7336484.stm (Zugriff: 30.11.2009).
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jeweils den einzelnen Lebewesen individuell zugeordneten Sanduhren und Lebensbüchern.48 Interessanter sind hier die speziellen, verfremdenden Scheibenweltelemente, wie sie Pratchett seiner Figur mit auf den Weg gegeben hat : TODs Reittier ist kein fahles Knochenpferd nach klassischem Vorbild mehr, sondern ein lebendes Pferd namens Binky – es war ihm offenbar immer zu lästig, die beim Reiten verstreuten Gebeine wieder einzusammeln.49 Die zahlreichen kleinen Details und Neigungen geben der Figur, die außerhalb der Scheibenwelt lediglich die Personifikation existentieller Grundängste darstellt, Tiefe und Wärme: TOD entwickelt z.B. eine Vorliebe für Katzen und Currygerichte.50 Er erschafft zudem als Wohnstätte für sich selbst eine quasi-menschliche Umgebung, einen Ort außerhalb von Raum und Zeit: Death‘s Domain. Wie in allem, was TOD erschafft, spiegelt sich hier der Versuch, die Menschen in ihrem Handeln und Sein zu verstehen, jedoch ohne die Möglichkeit, wirklich völlig zu erfassen, was die Menschen im Kern ausmacht. In Death’s Domain stehen die Sanduhren, welche die Dauer der jeweiligen Leben nicht nur anzeigen oder repräsentieren: der Sand in der Sanduhr ist vielmehr die Lebenszeit des Wesens selbst.51 In TODs Bibliothek stehen zudem alle Lebensbücher, die sich analog zum ablaufenden Leben fortwährend selber schreiben.52 Es folgt eine der klassischen Darstellungen von Pratchetts TOD (Abb. 2) 53: Die unterschiedlichen historischen und symbolischen Aspekte klassischer Todesvorstellungen verteilen sich – gerade im Rahmen der sukzessiven affektiven Annäherung an die Menschen – im Kontext der Scheibenwelt auf unterschiedliche Personen bzw. Wesenheiten. Zum einen entwickeln sich bei TOD familiäre Strukturen: So rettet er ein kleines Mädchen, Ysabell, das er adoptiert. Sie lebt bei ihm in Death‘s Domain, bis er sich einen Lehrling 48 Eine gute Zusammenfassung zum Erscheinungsbild von TOD findet sich u.a. in T. Pratchett; J. Simpson, The Folklore of Discworld, London 2008, 454 ff. 49 T. Pratchett, Mort, 37. 50 T. Pratchett, Mort, 26 f. 51 Wenn die Sanduhr zerbrochen wird, stirbt das entsprechende Wesen; es kann jedoch ein Wesen gerettet bzw. in Ausnahmefällen am Leben erhalten werden, wenn der Sand von TOD aufbewahrt wird (vgl. T. Pratchett, Soul Music, London 21997, 341 f.). 52 T. Pratchett, Mort, 64 f. 53 Zeichnung von P. Kidy, Terry Pratchett. The Art of Discworld, New York 2004; siehe auch: www.paulkidby.net (Zugriff: 30.11.2009).
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Abb. 2 TOD in einer seiner klassischen Posen
nimmt (Mort), der nach einigen Verwicklungen sein Schwiegersohn wird. Daraufhin schickt er das Paar in die Welt hinaus, wo sie bald eine Tochter (Susanne) haben.54 Die verwandtschaftlichen Beziehungen werden in unterschiedlichem Maße ausagiert und zeitigen ihre Wirkung, so übernehmen Mort, vor allem aber Susanne, zahlreiche Fähigkeiten und Eigenschaften von TOD, während sie vertretungsweise in seine Rolle schlüpfen, so etwa die Grabesstimme oder das perfekte Gedächtnis.55 Andererseits gibt es auch andere todesrelevante Personifikationen wie Asrael, der einen völlig unpersönlichen Metatod darstellt und dem die Figur TOD klar untergeordnet ist.56 Darüber hinaus bereichert Pratchett in seinem bereits eingangs erwähnten Eklektizismus TOD um zahlreiche weitere, ebenso
54 T. Pratchett, Soul Music, 7 f. 55 T. Pratchett, Soul Music, 90 ff. Andere Beispiele in diesem Band: Susanne kann sich (fast) unsichtbar machen (S. 10 ff.), sie erlangt einen Teil der Macht von TOD (S. 342). Außerdem wird die symbolische Verwandtschaft Grundlage humoristischer Szenen. So bittet etwa der Großvater TOD seine Enkelin um einen Kuss und ermahnt sie, ihr Zimmer wieder einmal aufzuräumen (S. 371). 56 Asrael erfüllt für TOD und für das gesamte Universum die Rolle, die TOD wiederum für die Menschen darstellt; in einer wichtigen Szene setzt sich TOD bei Asrael für die Menschen ein (vgl. T. Pratchett, Reaper Man, London 1991, 264 f.). Asrael ist u.a. im Islam als der Todesengel bekannt und erhält in der Scheibenwelt eine fast nonduale, transzendente Rolle als „Death of the Whole Universe, the Beginning and End of Time“ (T. Pratchett; J. Simpson, The Folklore ... , 469).
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liebevoll wie beiläufig eingestreute Zitate literarischer Archetypen oder künstlerischer Grundmuster, die an sich keinen direkten Bezug zu Tod haben, die Figur jedoch in ihrer Charakteristik abrunden: So schickt TOD etwa seinen Lehrling Mort auf die Frage nach den tiefsten Geheimnissen von Raum und Zeit zum Ausmisten in den Stall, was an die Lehrweise eines fernöstlichen Zenmeisters gemahnt.57 Durch die anthropomorphe Figur TOD erhält die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit der literarischen Charaktere – und damit mittelbar ebenso der Leserschaft – eine aktive, selbstreferentielle Komponente, indem „die kontingente Leerstelle des Todes durch eine komische, kontrollierbare Personifikation”58 ausgefüllt wird. Pratchett eliminiert nun die im kulturgeschichtlichen Hintergrund überwiegend negative Konnotation des grimmen Schnitters im Laufe der Scheibenweltromane sukzessive fast gänzlich zugunsten der geradezu positiven, wohlwollend bis sympathisch erscheinenden Figur des Gevatter Tod. TOD greift – von Ausnahmen abgesehen – nicht ein, und es stellt sich das Jenseits den Verstorbenen in exakt der Weise dar, wie sie es sich vorher vorgestellt haben.59 So ist TOD neben allen klassischen Darstellungselementen unseres mittelalterlichen Bildes vom Sensenmann bei Pratchett an sich nicht negativ belegt: „death is not something to be afraid of or something evil, but a natural process that may have positive consequences for those left behind.“60 Es entwickeln sich vielmehr zunehmend menschliche Elemente und Attribute um die positiv konnotierte Figur des Todes. Er beginnt, sich für die Menschen zu interessieren. Auch wenn er ihnen überwiegend gegen Ende ihres Lebens begegnet, will er sie in ihrer Seinsweise verstehen und setzt sich vermehrt auch aktiv für sie ein: TOD ist definitiv auf der Seite der Menschen bzw. der Menschheit.61 Damit haben wir einen doppelten Perspektivwechsel: Die Menschen, die sich in ihrem Leben unweigerlich auf den Tod zu bewe57 T. Pratchett, Mort, 36. 58 Ausgeführt in Bezug auf das aktuelle britische Drama, gilt dies insbesondere auch für Pratchetts Romane: A. Pankratz, ‚Death is ... not‘ ..., 114. Dies lässt die Figur TOD zu einer Art „personalisierte[m] Meta-Tod“ (S. 112) werden. 59 Dies kann die paradiesische wiedergewonnene Jugend einer alten Hexe sein (T. Pratchett, Mort, 83 f.), die wiederholte Reinkarnation eines Mönches (S. 89 f.), die Auflösung ins Nichts (T. Pratchett, Thief of Time, 329) oder die Walküren, die einen nordischen Krieger ins Walhalla holen (T. Pratchett, Soul Music, 103 ff.). 60 A. M. Butler, The Pocket Essential ..., 29 61 Hierzu T. Pratchett 2006 in einem Interview: http://www.skyone.co.uk/hogfather/ tp_int.htm (Zugriff: 30.11.2009).
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gen, und die Figur TOD, die sich auf die Menschen und das Leben zubewegt; die Menschen, die den Tod verstehen wollen, spiegeln sich im TOD, der seinerseits die Menschen verstehen will.
Genese einer Gegenfigur – „Mehr als ein Anflug von Gefühlen“ Im Rahmen der Scheibenweltromane ist eine starke qualitative Wandlung von TOD zu beobachten. Zwar ist er gebunden im Rahmen der Pflicht, den ordnungsgemäßen Transfer von Seelen Verstorbener zu gewährleisten, darüber hinaus hat er aber einen gewissen Handlungsspielraum,62 den er zunehmend ausweitet. Dabei geht es in der Ausgestaltung des Aktionsradius und der Perspektive von TOD auch darum, ob der jeweilige Roman sich zentral mit der Figur des Todes auseinandersetzt: In den Romanen der thematischen TOD-Sequenz wird die ambivalente Rolle des Sensenmannes im Spannungsfeld zwischen persönlichen Interessen und seiner Art abstrakter ‚Verwaltungsarbeit‘ ausgebreitet und der narrativen Kausalität entsprechend aufgelöst, während TOD als Nebenrolle recht eindimensional darauf geeicht ist, seiner historisch-unvermeidlichen Pflicht nachzukommen und die Einhaltung der universellen Gesetze zu gewährleisten.63 Aber unabhängig davon, ob TOD die Neben- oder die Hauptrolle spielt, hat er immer auch die Funktion eines Korrektivs für die Gewährleistung der richtigen Abläufe innerhalb einer Romanhandlung wie auch der Geschichte der Scheibenwelt an sich.64 So führen seine Abwesenheit oder mangelnde Aufmerksamkeit stets zu weitreichenden konkreten wie metaphysischen Verwicklungen, in deren Verlauf sich die Ordnung jedoch wieder herstellen lässt und TOD in seinem Verhältnis zu den Menschen einen Schritt weiter gebracht wird. Ausgangspunkt ist ein tiefes Gefühl der Pflicht, welches bei TOD als die erste, grundlegende Emotion bezeichnet werden kann; hieraus entwickeln sich alle anderen ‚menschlichen‘ Charaktereigenschaften.65 62 S. Hanes, „Death and the Maiden“, in: A. M. Butler; E. James; F. Mendlesohn (Hg.), Terry Pratchett...., 171–191, 173. 63 N. Moody, „Death and Work“, in: A. M. Butler; E. James; F. Mendlesohn (Hg.), Terry Pratchett..., 153–170, 153 f. 64 N. Moody, „Death and Work“, 154. 65 S. Hanes, „Death and the Maiden“, 180 f.
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In maßgeblichen Werken der TOD-Sequenz lassen sich übrigens neben der existentiellen Auseinandersetzung mit den klassischen Fragen des Lebens auch verschiedene Perspektiven auf das Arbeitsleben ausmachen, die Nickianne Moody als Reflektion auf die Neudefinition der Arbeit im Großbritannien der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts gedeutet hat:66 In Mort nimmt sich TOD einen Lehrling, dem er gegebenenfalls später sein ‚Geschäft‘ übergeben kann und wird mit den Problemen einer mangelhaft eingelernten Fachkraft konfrontiert.67 In Reaper Man wird TOD, der sich zu sehr mit seiner Arbeit identifiziert hat, von seinen ‚Vorgesetzten‘ in Rente geschickt und durch einen dynamischen, wenn auch gänzlichen inhumanen, neuen Tod ersetzt, der mit einem Mähdrescher stellvertretend für die zunehmende Mechanisierung des Arbeitslebens steht und dennoch vom altmodischen Sensenmann heroisch überwunden werden kann.68 Soul Music beinhaltet Aspekte eines Rollen- oder Generationenwechsels wie auch Diskurse über Modernisierungsbedingungen, Pflicht und Verantwortung, wenn TODs aufgeklärte und religionskritische Enkelin Susanne das ‚Familiengeschäft‘ übernimmt, während dieser in Urlaub weilt.69 Der Tatsache, dass TOD seine Berufung als eine Erwerbsarbeit wie alle anderen sieht, von der er sich etwa durch Angeln oder dem Versuch, sich zu betrinken, erholen will bzw. indem er sich einen Nachfolger heranzuziehen bemüht, eignet ein starkes humoristisches Potential.70 Nachdem TOD anfangs immer versucht hat, aperspektivische Objektivität bzw. distanzierte Kausalität aufrecht zu erhalten, gerät er zunehmend in Situationen, in denen er aus Mitleid eingreift bzw. sich persönlich involvieren lässt, auch wenn er sich anfangs noch dagegen sträubt: „I MAY HAVE ALLOWED MYSELF SOME FLICKER OF EMOTION IN THE RECENT PAST, said Death, BUT I CAN GIVE IT UP ANY TIME I LIKE.“71 In seiner Beschäftigung mit den Menschen unternimmt TOD jedoch immer mehr Versuche, die Menschen nicht nur zu verstehen, sondern ihnen auch nachfühlen zu können: Er versucht z.B. zu lernen, wie es ist, Dinge vergessen zu können.72 In Reaper Man vollzieht sich dann der endgül66 67 68 69 70 71 72
N. Moody, „Death and Work“, 161. T. Pratchett, Mort, 19 ff. N. Moody, „Death and Work“, 160 f. N. Moody, „Death and Work“, 162 f. A.M. Butler, „Theories of Humour“, 78. T. Pratchett, Soul Music, 153. Um Vergessen zu erreichen, versucht er etwa die Wege, sich zu betrinken oder in die Fremdenlegion zu gehen: T. Pratchett, Soul Music, 24 f. und 107 ff.
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tige Durchbruch von TOD als einer bis dato überwiegend unpersönlichen bis bedrohlich wirkenden Naturkraft zu einem den Menschen positiv gegenüberstehenden und ihnen zudem immer ähnlicher werdenden Individuum:73 TOD wird – aufgrund eines zu starken Bezugs zu den Menschen – durch die Revisoren74 von seinen Aufgaben entbunden und durch einen unbarmherzigen Nachfolger ersetzt. Dieser Prozess beinhaltet, dass er selbst sterblich wird und als Bill Door tatsächlich wesentliche Erfahrungen des Menschseins sammeln kann,75 bevor er schließlich den neuen Tod überwindet und wieder als der TOD eingesetzt wird.76 Der finale Showdown zwischen den beiden Personifikationen liest sich wie eine Gegenüberstellung des gerechten, menschennahen Freund Hein mit dem unbarmherzig-triumphierenden König Tod.77 Somit ist es ein wesentliches Element der Figur des Todes bei Pratchett, dass er von vorneherein äußerlich anthropomorph angelegt ist, in seiner Beschäftigung mit den Menschen sich zudem zunehmend innerlich personifiziert. In seinem Versuch, als nichthumanes, nichtlebendiges Wesen einen menschlichen Charakter anzunehmen, wie auch im überwiegenden Scheitern dieses Unterfangens zeigt er als Kontrastfolie auf, was Menschsein und Menschen eigentlich ausmacht.
73 T. Pratchett, Reaper Man. 74 Die Revisoren (engl. auditors of reality) sind an sich unpersönliche Kräfte, die auf die Einhaltung der kosmischen Gesetze achten sollen. Sie stellen eine Zwischeninstanz zwischen Asrael und TOD dar. Vgl. S. Hanes, „Death and the Maiden“, 177 f. 75 In Reaper Man erlebt er den Schlaf (T. Pratchett, Reaper Man, 90), träumt (S. 126 f.), er nimmt die Zeit in ihrer Endlichkeit wahr und lernt damit die existentielle Sinnfrage sowie die menschliche Angst vor dem Tod kennen (S. 125), er rettet uneigennützig ein kleines Mädchen, indem er ihm etwas von seiner Lebenszeit abgibt (S. 145); er wird müde und fühlt sich krank (S. 193) und begreift die Bedeutung von individueller Freiheit (S. 248), Fürsorglichkeit (S. 266), Ironie und Sarkasmus (S. 284). 76 S. Hanes, „Death and the Maiden“, 177 f. Als TOD bleiben ihm diese Erfahrungen an sich wieder verschlossen, aber die Erinnerung daran bleibt und verändert TODs Verhältnis zu den Menschen nachhaltig. Im Zuge der Wiedereinsetzung als Tod aller Wesen vergisst TOD jedoch, sich auch den Tod der Ratten einzuverleiben, welcher von diesem Zeitpunkt an als ein weiterer Akteur die Romane bereichert; vgl. hierzu T. Pratchett, Reaper Man, 248. 77 T. Pratchett, Reaper Man, 228 ff.
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Leben, Tod und Sinn – „Der Schnitter kümmert sich um seine Ernte“ Der Glaube bzw. die Vorstellungen der Menschen spielen – wie häufig bei Pratchett – in sehr konstruktivistischer und konstitutiver Weise eine Rolle, so dass jeder als seines Glückes Schmied bezeichnet werden kann: Jedes Wesen erfährt das Jenseits entsprechend seinen individuellen Weltanschauungen, wie auch die fiktionale Realität der Scheibenwelt durch die individuellen wie kollektiven Glaubensvorstellungen konstruiert wie geprägt wird.78 In diesem Sinne kann sich Pratchetts offene postmortale Konstruktion entsprechend den individuellen (Glaubens-)Vorstellungen durchaus einreihen lassen in eine moderne Rezeption von Darstellungen des Jenseits, wie sie etwa in dem Film What Dreams May Come von 1998 vorliegen.79 Nach Stacie Hanes sind die fünf Romane, die den Tod als zentrale Figur und Thematik haben, auch gleichzeitig die metaphysischen Werke des Scheibenweltzyklus mit zahlreichen reflexiven Elementen: „Death, anthropomorphic personification of the Ultimate Reality, forces readers to examine what it means to be human, and mortal.”80 Dennoch beschäftigen sich die Romane nie tiefergehend mit dem Tod im Sinne eines jenseitigen Zustandes nach dem Sterben des Individuums; es bleibt vielmehr bei den Handlungen, der Genese und der Charakterisierung der Figur TOD: Dieser kann sich als der ideale, rein logisch denkende Philosoph stellvertretend über die conditio humana Gedanken machen, mangelt es ihm als Nicht-Lebendem doch an jeglicher Emotion. Im Geist des denkenden Wesens, das als die einzige, allen Menschen gemeinsame Erfahrung auftritt, spiegeln sich die Grundlagen des Menschseins. In seiner gewissenhaften, geradlinigen Pflichterfüllung und vorurteilsfreien Neutralität ist der Tod bei
78 A. M. Butler, The Pocket Essential ..., 29. Hier lassen sich wieder Bezüge zu Pratchett herstellen über Konzepte einer self-fulfilling prophecy, der Konstruktion von Realität oder analogen Scheibenwelt-Mechanismen wie der power of the story oder der narrativen Kausalität. Vgl. D. Langford, „Introduction“, 9. 79 Vgl. F. Jeserich, „Grenzgänger, Geisterseher, Gurus und Gegenwelten. Das Postmortalitätsmodell des Hollywoodfilms ‚What Dreams May Come‘. Ein religionswissenschaftlicher Re-Konstruktionsversuch“, in: Mitteilungen für Anthropologie und Religionsgeschichte 17, 2005, 319–390. 80 S. Hanes, „Death and the Maiden“, 171.
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Pratchett zu ertragen, denn er tritt – ursprünglich – stets als ausführendes Organ, niemals als eigensüchtig Handelnder auf.81 TOD reflektiert viel über die Menschen und die Grundlagen des Menschseins. Er versucht durch logische Schlüsse, das zu lernen und zu verstehen, was die Menschen ihrerseits für selbstverständlich oder gegeben annehmen.82 Gleichzeitig werden systematische religiöse Vorstellungen negiert, in denen nach dem Sterben die Guten belohnt und die Schlechten bestraft werden. So äußert sich TOD dazu: „THERE IS NO JUSTICE, THERE IS JUST US.“83 Andererseits findet sich auch die – spätere – Gegenposition als Ausdruck der gewachsenen Beschäftigung von TOD mit den Menschen und deren Schicksal, welche gelegentliche direkte Eingriffe zu rechtfertigen scheint: „LORD, WHAT CAN THE HARVEST HOPE FOR, IF NOT THE CARE OF THE REAPER MAN?“84 So geht es bei der Figur um den eigenständigen „selbstreflexiven, metadramatischen Referenzrahmen“, in dem jede Handlung von TOD zu einem „Stück-im-Stück“ wird, durch das „traditionelle Darstellungskonventionen und Bedeutungszuweisungen für Tod und Sterben zitiert” und persifliert werden können.85 Die Konfrontation zwischen dem ‚alten‘, bereits den Menschen zugewandten TOD und dem unmenschlichen, ‚neuen‘ Tod in Reaper Man bildet eine wichtige Komponente der Entwicklung der Figur des Todes in Pratchetts Scheibenweltzyklus: Anhand der Gegenüberstellung des neutralen, um Verständnis und Gerechtigkeit bemühten Todes und der abstrakten, menschenfeindlichen Revisoren der Realität wird deutlich, dass TOD für die Menschen steht, für die existentiellen humanen Bedingungen und die Auseinandersetzung damit und somit letztlich eben gleichzeitig für den Zustand oder Prozess des Sterbens/Todes wie auch des Lebens als solchen! Die Revisoren sind rein auf das Regelhafte festgelegt, sie verfügen weder über Kreativi81 S. Hanes, „Death and the Maiden“, 172. Hier geht Hanes von einem Idealbild aus, das jeweils an verschiedenen Stellen in der Persönlichkeitsentwicklung von TOD gebrochen wird; indem er sich den Menschen annähert, entwickelt er – zu einem gewissen Maß – Gefühle, Neigungen und ein individuelles Handlungspotential. 82 T. Pratchett; S. Briggs, The New Discworld Companion, London 2003, 66. 83 T. Pratchett, Mort, 232. 84 T. Pratchett, Reaper Man, 265. 85 A. Pankratz, ,Death is ... not.‘ ..., 113. Der reflexive Kunstgriff einer liminalen Person, die den allgemeinen Rahmen und die Menschen an sich quasi von außen betrachtet, kann neben der TOD-Sequenz und der Omnipräsenz von TOD auch in den anderen drei Sequenzen gefunden werden: bei den Zauberern (Rincewind/der Bibliothekar), den Hexen (Granny Weatherwax) und der Stadtwache (Sam Vimes).
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tät noch über ein Verständnis für die Menschen: ja, selbst das Leben an sich bleibt für sie eine unsichere Variable, ein Störfaktor, den es im Namen einer kalten und letztlich inhaltsleeren Perfektion auszurotten gilt, die in ihrer Absolutheit im Kontext einer Unzahl lebender, liebender und leidender, fehlbarer Wesenheiten jedoch nicht erreicht werden kann.86 TOD hat durch seine Auseinandersetzung mit den Menschen erkannt, dass eben gerade diese Fehlbarkeit, die Endlichkeit des menschlichen Lebens und die nur begrenzte Fähigkeit zur Reflektion und Abstraktion notwendige Grundbedingungen des Lebens sind, damit es sich entwickeln, ja überhaupt grundsätzlich existieren kann. Mit dieser Einsicht stellt er sich im Laufe der Romane immer deutlicher auf die Seite der Menschen und rettet schließlich in Thief of Time die Welt aller lebenden Wesen, indem er die mutwillig entfesselten, potentiell alles zerstörenden Kräfte der Apok(r)alypse gegen die unpersönlichen Verursacher dieser Katastrophe selbst – die Revisoren – richtet.87
Schluß – „Wo der fallende Engel den aufsteigenden Affen trifft“ „HUMANS NEED FANTASY TO BE HUMAN. TO BE THE PLACE WHERE THE FALLING ANGEL MEETS THE RISING APE.“88 In dem fantastischen, mythopoetischen Rahmen der Scheibenwelt gelingt es Pratchett, in einem doppelten Sinn einen Spiegel, eine Gegenwelt zu unserer profanen Rundwelt zu schaffen. Einerseits bietet der äußere Rahmen der existentiellen Fantasy die Möglichkeit, die graue extrafiktionale Realität mit fabelhaften Wesen und außerordentlichen Geschichten in einer umfassenden Gegenerzählung zu konterkarieren, die der kindlichen Fantasie und der 86 In Bezug auf die Revisoren findet sich ein Verweis Pratchetts auf das Verhältnis zwischen Scheiben- und Rundwelt: „The most deeply negative and destructive forces in the cosmos (…). Mercifully, their power on the Discworld has so far been restricted. On Earth, their presence grows daily.“ T. Pratchett; J. Simpson, The Folklore…, 59. Aber selbst anhand dieser abstrakten, lebensfeindlichen Entitäten wird das Mysterium der Menschwerdung nachgezeichnet; vgl. T. Pratchett, Thief of Time, 200. 87 Siehe dazu T. Pratchett, Thief of Time, 378 ff.: Hier wollen die Revisoren die Zeit zum Stillstand bringen, um die absolute Ordnung herzustellen, was von TOD und den restlichen apokralyptischen Reitern Pestilence, Famine, War sowie Ronnie (Kaos, dem fünften Reiter) zum Wohle der Menschen verhindert wird. 88 T. Pratchett, Hogfather, 422.
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menschlichen Kreativität den ihr gebührenden Raum gewährt. Andererseits lässt sich Pratchetts mythisches Multiversum gerade auch als Appell an die aufgeklärte Vernunft wissenschaftlicher Lesart interpretieren, sich nicht mit den kleinen und großen Lügen bzw. Verallgemeinerungen des ‚gesunden‘ Menschenverstandes im laissez-faire des alltäglichen Stumpfsinns abzufinden.89 Letztlich dürfte im Rahmen dieser Betrachtungen auch klar geworden sein, welche integrale Bedeutung die Figur des Scheibenwelt-Todes auch für Terry Pratchetts eigene Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Tod besitzt. Der Tod wurde – ungeachtet einer langen ikonographischen Tradition von Todesbildern – im alltäglichen Leben und Erleben unserer Rundwelt lediglich auf den Zustand der Abwesenheit von Leben reduziert. Pratchetts kreative Beschäftigung mit dem personifizierten TOD als einem integralen Element seiner Romane belebt und reflektiert Diskurse und Bilder unserer zeitgenössischen Kultur des Todes, die sich im Wesentlichen in einem durch Medikalisierung, Naturalisierung und Säkularisierung bedingten Mangel an metaphysischer Sicherheit und normativen naturwissenschaftlichen Vorstellungen erschöpft.90 Besonders eindrucksvoll lässt sich diese existentielle Auseinandersetzung nicht zuletzt am Leben des humanistischen Atheisten Terry Pratchett selbst illustrieren: Im Jahr 2007 machte der Autor publik, dass er seit einigen Jahren an einer seltenen Variante der Alzheimer-Krankheit leide. Seitdem setzt sich Pratchett in der Öffentlichkeit vehement für aktive Sterbehilfe und das autonome Recht des Einzelnen ein, selbstbestimmt den Zeitpunkt für ein würdiges Scheiden aus einem erfüllten Leben zu wählen, anstatt als unheilbar erkrankter Mensch in seiner letzten Lebensphase durch die absolute Autorität der Mediziner entmündigt zu werden. Angesichts einer immer älter werdenden Gesellschaft müssten neue Umgangsweisen mit Tod und Sterben gefunden werden. Pratchetts medial viel beachtete Appelle lösten zahlreiche Kontroversen aus und gipfelten am ersten Februar 2010 in seiner Rede anlässlich der alljährlichen renommierten Richard-Dimbleby Lecture mit dem Titel „Shaking Hands with Death“. Hier präzisierte er seine Vorstellungen zu einem menschenwürdigen Umgang mit Leben und Tod. So sollten juristische 89 Vgl. hierzu T. Pratchett; I. Stewart; J. Cohen, The Science of the Discworld, London 1999; T. Pratchett; I. Stewart; J. Cohen, The Science of the Discworld II: The Globe, London 2002; T. Pratchett; I. Stewart; J. Cohen, The Science of the Discworld III: Darwin`s Watch, London 2005. 90 Vgl. hierzu auch A. Pankratz, ‚Death is ... not.‘ ..., 18.
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Einrichtungen gebildet werden, um gemeinsam mit den lebensmüden Menschen die Modalitäten ihres (Ab-)Lebens zu erörtern und jeglichen Missbrauch auszuschließen. Pratchetts bot an, sich als ersten Testfall zur Verfügung zu stellen.91 Aber lassen wir ihn abschließend noch einmal persönlich zu Wort kommen: „Life is easy and cheap to make. But the things we add to it, such as pride, selfrespect and human dignity, are worthy of preservation, too, and these can be lost in a fetish for life at any cost. I believe that if the burden gets too great, those who wish to should be allowed to be shown the door.“92
Somit greift Pratchett auf seine Weise die Verdrängung des Todes und Sterbens aus dem allgemeinen Bewusstsein an und fordert eine bewusste, menschenwürdige und zeitgemäße Umgehensweise. Indem die zugrunde liegende Thematik dieses Artikels somit nicht nur auf die Personifikation des Todes im Rahmen der Scheibenwelt beschränkt bleibt, sondern auch auf den konkreten Bezug des Umgangs mit Leben und Sterben seines Schöpfers Terry Pratchett angewendet werden kann, schließt sich der Kreis dieser Arbeit. Die rein literarische personale Darstellung wird über die humoristisch-fiktionale Ebene seiner Romane hinaus transzendiert. Und sie verweist neben der kulturhistorischen Bedeutung auch auf die zeitlose Aktualität der existentiellen Erfahrung des Todes, mit der alle Menschen eines Tages konfrontiert sind und die, wenn schon nicht immer als Voll-Endung, so doch zumindest als ein integraler Teil des Lebens gesehen werden kann.
91 Vgl. etwa die Online-Ausgabe der Neuen Züricher Zeitung vom 04.02.2010 auf http://www.nzz.ch/nachrichten/panorama/gnadengericht_1.4798538.html (Zugriff: 09.02.2010). Die komplette Rede Pratchetts findet sich in 6 Teilen bei YouTube unter dem Eintrag „Terry Pratchett Lecture about Alzheimer’s and assisted dying“. 92 Zitiert nach: http://www.dailymail.co.uk/news/article-1203622/Ill-die-endgamesays-Terry-Pratchett-law-allow-assisted-suicides-UK.html (Zugriff: 09.02.2010).
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Autorenverzeichnis Joseph B. Dallett, Jg. 1929, studierte nach dem Magisterstudium an der University of Pennsylvania am Harvard College, danach an der Harvard University (dort Ph.D. in Vergleichender Literaturwissenschaft). Gelehrt hat er an der Cornell University (Lehrfach Germanistik), danach – zunächst als Assistant- , dann als Associate-Professor of German – an der Carleton University (Ottawa). Seine Forschungen widmete er besonders Werken von Grimmelshausen und Mörike. Im Mittelpunkt seiner jetzigen wissenschaftlichen Arbeit steht die holländische Kunst des Goldenen Zeitalters. Ralph Frenken, Jg. 1965, studierte Psychologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Veröffentlichungen zur Geschichte der Kindheit, zur Mystik und zur Romanischen Skulptur. Arbeitet als niedergelassener Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut in eigener Praxis. Florian Jeserich, Jg. 1980, studierte Religionswissenschaft, Ethnologie und Philosophie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg sowie diverse kulturwissenschaftliche Fächer an der University of Hawai’i at Mānoa. Er promoviert derzeit über „Religionsspezifische Pfade zum Kohärenzgefühl.“ Florian Jeserich ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Gebiet „Anthropologie & Ethik“ am Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth beschäftigt. Frauke Laarmann-Westdijk, Jg. 1968, studierte Kunstgeschichte, Religionswissenschaft und Niederlandistik in Marburg und Leiden. Sie promovierte 2002 in Amsterdam über das Nord-Niederländische Familienporträt in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Einige Jahre arbeitete sie als Dozentin für Kunstgeschichte an der Universität von Amsterdam und als Webredakteurin. Derzeit ist sie als Dozentin tätig an der Open Universiteit in the Netherlands und als post-doc (senior research fellow) beteiligt am Forschungsprojekt „Economic and Artistic Competition in the Amsterdam Art Market, c. 1630– 1690 (ECARTICO)“. Bernd-Christian Otto, Jg. 1976, studierte Religionswissenschaft, Philosophie und Psychologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Seine Dissertation zur Geschichte abendländischer Magiediskurse ist 2011 im de
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Gruyter Verlag unter dem Titel „Magie. Rezeptions- und diskursgeschichtliche Analysen von der Antike bis zur Neuzeit“ erschienen. Er ist Mitarbeiter am Institut für Religionswissenschaft der Universität Erfurt und arbeitet derzeit an einem Habilitationsprojekt über mittelalterliche Ritualtexte. Tilmann Walter, Jg. 1968, studierte Germanistik und Geschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 1997 Promotion im Fach Germanistik bei Oskar Reichmann mit dem Thema „Unkeuschheit und Werk der Liebe. Diskurse über Sexualität zu Beginn der Neuzeit in Deutschland“, anschließend Forschungstätigkeit für die Deutsche Forschungsgemeinschaft an den Universitäten Konstanz, Heidelberg und Würzburg. Seit 2009 ist Tilmann Walter als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Akademieprojekt „Frühneuzeitliche Ärztebriefe, 1500–1700“ der Bayerische Akademie der Wissenschaften am Institut für Geschichte der Medizin der Julius-Maximilians-Universität Würzburg beschäftigt. Martin Zwiesele, Jg. 1978, studierte Ethnologie, Religionswissenschaft und Erziehungswissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Aktuell absolviert er in Berlin eine Ausbildung zum Heilpraktiker mit Schwerpunkt Phytotherapie.
BEATE WAGNER-HASEL
ALTER IN DER ANTIKE EINE KULTURGESCHICHTE
Noch heute haben die antiken Altersbilder, die sich zwischen Geringschätzung und Hochachtung bewegen, nicht an Wirkkraft verloren. In ihrer Kulturgeschichte, die einen zeitlichen Bogen vom archaischen Griechenland bis zum christlichen Imperium spannt und an so verschiedene Orte wie Athen, Sparta oder Rom führt, geht Beate Wagner-Hasel diesen Bildern nun auf den Grund. Sie befragt die antiken Quellen nach den konkreten Lebensbedingungen alter Menschen ebenso wie nach der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Alter. Die reichhaltigen Funde geben Auskunft über den Einfluss der Alten in Politik und Wissenschaft, über den Umgang mit dem körperlichen Abbau und den materiellen Bedingtheiten, aber auch über das Zusammenleben der Generationen und die Sorge um Alter und Tod. Es zeigt sich, dass auch in der Antike das Alter keine rein biologische Tatsache war, sondern durch soziale und kulturelle Faktoren geprägt wurde. 2012. 244 S. 22 S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM | ISBN 978-3-412-20890-5
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar