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German Pages 192 Year 2017
Dieter Birnbacher Tod
Grundthemen Philosophie
Herausgegeben von Dieter Birnbacher Pirmin Stekeler-Weithofer Holm Tetens
Dieter Birnbacher
Tod
ISBN 978-3-11-053344-6 ISBN (PDF) 978-3-11-053449-8 ISBN (EPUB) 978-3-11-053352-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Martin Zech Satz: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt 1
Einleitung: Tod und Sterben – Aktuelle Tendenzen
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7 2 Wann ist ein Mensch tot? Todesdefinition und Todeskriterien 2.1 Einleitung 7 2.2 Von welcher Instanz ist eine Entscheidung über die Todesdefinition zu erwarten? 10 2.3 Semantische Kriterien 17 2.3.1 Biologizität 17 2.3.2 Symmetrie 19 2.4 Pragmatische Kriterien 20 2.4.1 Einheitlichkeit 20 2.4.2 Eindeutigkeit 25 2.4.3 Ermöglichung der Organentnahme vom Hirntoten 27 2.5 Drei Explikationen des Todesbegriffs in der Diskussion 29 2.6 Welche Explikation erfüllt die Kriterien am besten? 36 2.7. „Irreversibel“ oder „endgültig“? Die Kontroverse um die Organentnahme vom non-heart-beating donor 39 47 3 Der gute Tod 3.1 Was kann „gut“ in Bezug auf den Tod heißen? 47 3.2 Die Frage nach dem Ob: Ist Unsterblichkeit wünschenswert? 52 3.3 Die Frage nach dem Wann: Der „richtige“ Todeszeitpunkt 59 3.3.1 Ist der Wunsch nach einem Ende des Lebens notwendig irrational? 59 3.3.2 Freiwillige Lebensbeendigung 67 3.3.3 Die „natürliche Lebensspanne“ 73 3.4 Die Frage nach dem Wie des Todes 76 3.4.1 Sterbensideale 76 3.4.2 Das Ideal des „natürlichen“ Todes 79 85 4 Ärztliches Handeln in Todesnähe 4.1 Ärztliches Handeln und das Wann und Wie des Todes 85 4.2 Das Zusammenspiel von Selbstbestimmungsrecht und Fürsorgepflicht in der letzten Lebensphase 89 4.3 Andere Formen der Respektierung von Sterbewünschen 93
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Inhalt
5 Kann man den eigenen Tod überleben? 105 5.1 Die Endgültigkeit des Todes 105 5.2 Begriffliche Probleme der Fortexistenz über den biologischen Tod hinaus: Zeitliche Lücken und Identität 109 5.3 Weiterleben ohne Identität? 116 5.4 Ist eine rein geistige Fortexistenz möglich? 119 5.5 Kann man auf eine persönliche Fortexistenz hoffen? 123 127 6 Leben im Schatten des Todes 6.1 Der endliche Lebenshorizont 127 6.2 Der Tod und die Emotionen 134 6.2.1 Emotionen und andere Gefühle 134 6.2.2 Emotionskritik 137 6.3 Emotionskritik: Todesfurcht 143 6.3.1 Erlebnisbezogene Todesfurcht 144 6.3.2 Nicht-erlebnisbezogene Todesfurcht 149 6.3.3 Kreatürliche Todesfurcht 155 159 7 Der tote Körper 7.1 Der menschliche Leichnam – Person oder Sache? 7.2 Pietät 162 7.3 Pietät und Bestattung 169 Literatur
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Namenregister Sachregister
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1 Einleitung: Tod und Sterben – Aktuelle Tendenzen Der Tod ist nicht nur eines der ältesten Themen der Philosophie. Viele Philosophen haben in ihm auch das wichtigste Motiv für das Philosophieren insgesamt gesehen. „Der Tod ist der eigentlich inspirierende Genius oder der Musaget der Philosophie“, schreibt Schopenhauer im zweiten Band von Welt als Wille und Vorstellung, „schwerlich sogar würde, auch ohne den Tod, philosophirt werden.“ (Schopenhauer 1988, III, 528 f.) Diese Einschätzung ist alles andere als überraschend. Das Phänomen des Todes fordert wie kein anderes das philosophische Thaumazein heraus, das SichWundern und Stellen grundlegender Fragen. Ein Grund ist der auffällige Kon trast zwischen Trivialität und Dramatik des Todes. Auf der einen Seite gehört die Tatsache, dass der Mensch sterblich und die ihm gewährte Zeit endlich ist, zu den bestverbürgten Tatsachen überhaupt. Nichts könnte trivialer sein. Auf der anderen Seite bleibt für den Einzelnen die Unausweichlichkeit seines Todes ein skandalon, eine Quelle von Unruhe und Verstörung. Wir hängen die meiste Zeit über am Leben. Die Gewissheit, sterben zu müssen, steht dazu in einer krassen Dissonanz. Dass der Tod die Philosophen immer wieder fasziniert hat, hat noch weitere Gründe. Einer davon ist der die Vorstellung vom Tod umgebende begriffliche Nebel. Aus der Sicht des Individuums ist der eigene Tod etwas Dunkles, Unergründliches, Unvorstellbares. Das Denken des eigenen Todes – nicht des Sterbens – prallt wie von einer Wand ab. Wir erliegen alle gelegentlich der Versuchung, uns vorstellen zu wollen, „wie es ist, tot zu sein“. Gleichzeitig erkennen wir das Paradoxe und Unmögliche dieses Gedankens. Wenn tot zu sein u. a. bedeutet, das Bewusstsein endgültig verloren zu haben, fehlt es zwangsläufig an der in der Frage vorausgesetzten Subjektivität. Insofern unterscheidet sich die Frage, wie es ist, tot zu sein, radikal von der bekannte Frage Thomas Nagels, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Auf beide Fragen gibt es offensichtlich keine sinnvolle Antwort. Aber bei der zweiten Frage sind die Gründe dafür erkenntnistheoretischer Art: Wir können uns in eine Fledermaus nicht hineinversetzen. Bei der ersten Frage besteht die Unmöglichkeit aus logischen Gründen. Das verweist auf eine weitere Besonderheit des Todes: die Tatsache, dass das Bild, das wir uns vom Tod machen, sich radikal verändert, je nachdem, welche Perspektive wir ihm gegenüber einnehmen, eine der Ersten, Zweiten oder Dritten Person. Wie uns der Tod als Phänomen gegenübertritt, hängt von dem Blickpunkt ab, von dem aus wir uns ihm nähern. Prägnant und in einem einzigen Satz hat diesen Unterschied wiederum Schopenhauer benannt: DOI 10.1515/978-3-11-053449-8-001
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Auf seinen eigenen Tod blickt Jeder als auf der Welt Ende, während er den seiner Bekannten als eine ziemlich gleichgültige Sache vernimmt, wenn er nicht etwan persönlich dabei beteiligt ist (Schopenhauer 1988, II, 392).
Mit dem „je eigenen“ Tod endet das eigene Erleben, sogar die Möglichkeit des Erlebens. Was nach unserem Tode geschieht, liegt außerhalb unseres Erfahrungshorizonts. Soweit unser erfahrungsmäßiger Zugang zur Welt betroffen ist, ist es gleichgültig, ob wir zugrunde gehen oder die Welt; beide Male endet das Verhältnis zur Welt, das wir während unserer Lebenszeit, wenn auch mit Unterbrechungen, aufrechterhalten. Dagegen ist für uns der Tod anderer, wenn wir zu ihnen in keiner affektiven Beziehung stehen – und sofern nicht auffällige Todesumstände dazukommen – eine mehr oder weniger triviale Angelegenheit. Dass fortwährend Menschen sterben, die wir nicht kennen, ist eine Binsenwahrheit, die uns kalt lässt. Im Gegensatz dazu gehört der Tod Nahestehender – aus der Zweite-Person-Perspektive – zu den Ereignissen, die uns am heftigsten und nachhaltigsten erschüttern. Auch diejenigen, die dem eigenen Tod gelassen gegenüberstehen, sind gegen diese Erschütterungen nicht gefeit. Während man sich durch Klarheit des Denkens eine Haltung „stoischen“ Gleichmuts gegenüber dem eigenen Tod aneignen kann, ist es vielfach schwer, sich mit der Kraft des Verstandes gegen die Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen zu wappnen. Sie scheint weniger zähmbar als die Todesfurcht und durchbricht mit elementarer Wucht gelegentlich noch die am sorgfältigsten ausgedachten Rationalisierungen. Der Tod ist nicht nur ein stets wiederkehrendes, sondern auch ein übergreifendes Thema der Philosophie. Es berührt nahezu alle philosophischen Einzeldisziplinen, insbesondere Anthropologie, Ethik und Metaphysik. Es ist zugleich eines der Themen, dessen philosophische Behandlung im Zeitverlauf die radikalsten Wandlungen erfahren hat und weiter erfährt. Während viele der Aussagen über den Tod, die wir etwa in der Philosophie des Hellenismus finden, heute noch ebenso gültig sind wie vor mehr als 2000 Jahren, haben sich andere überlebt oder sind Gegenstand von Kontroversen geworden. Ursächlich dafür ist einerseits der medizinische und technische Fortschritt, der es erlaubt hat, den Tod weit über seine jahrtausendealten Grenzen hinaus zeitlich zu verschieben, andererseits die tiefgreifenden sozialen Veränderungen in der westlichen Welt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Auch die seit längerem anhaltende Aktualität der Themen Tod und Sterben in Wissenschaft und Öffentlichkeit verdankt sich wesentlich dem medizinischtechnischen Fortschritt. Die Fortschritte der Medizin haben – zusammen mit der sukzessiven Verbesserung der Lebensverhältnisse auch in den rückständigsten Regionen der Erde – dazu geführt, dass der Tod nach einer sehr viel ausgedehnteren Lebensspanne als in allen uns bekannten historischen Epochen eintritt.
1 Einleitung: Tod und Sterben – Aktuelle Tendenzen
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Zugleich haben sie bewirkt, dass zuvor immer häufiger eine längere Phase der Multimorbidität und des Verfalls der geistigen Kräfte durchlebt wird. Die von der Geriatrie eröffnete Vision einer compression of morbidity, einer Verkürzung der Krankheitsphase am Lebensende, ist bisher unerfüllt geblieben. Ein anderes in der modernen Medizin und ihren zunehmenden diagnostischen Möglichkeiten begründetes neues Phänomen ist das nahezu vollständige Verschwinden der Todesursache „Altersschwäche“. Der Tod ist heute überwiegend „medikalisiert“. Nur noch in seltenen Einzelfällen sterben Menschen in den Industrieländern an den mit der Alterung einhergehenden „natürlichen“ degenerativen Prozessen statt an den Folgen einer Erkrankung oder eines Unfalls. Noch weitgehender sind die Veränderungen, die die Entwicklung der Medizin und der Medizintechnik für das traditionelle Bild des Todes mit sich gebracht hat. Herkömmlich galt der Tod als das Paradigma eines kontingenten, im Kern „natürlichen“ und vom Menschen nur in engen Grenzen steuerbaren Geschehens. Je mehr die Medizin in dieses Geschehen eingreift, desto weniger ist klar, was mit einem „natürlich“ eintretenden Tod noch gemeint sein kann. In gewisser Weise ist ein mit den Mitteln der Medizin und der Zivilisation zeitlich nach hinten verlagerter Tod ein „künstlicher“, vom einem naturwüchsigen sehr weit entfernter Tod. Einige Theoretiker haben daraus die Konsequenz gezogen, dass der Begriff eines „natürlichen“ Todes damit gänzlich unanwendbar geworden ist (vgl. z. B. Illich 1981, 238 f.). Will man nicht so weit gehen, sieht man sich vor die Aufgabe gestellt, neue und unausweichlich strittige Kriterien dafür anzugeben, was in Bezug auf den Tod heute als „natürlich“ und „unnatürlich“ gelten kann. Ein anderer Aspekt der zunehmenden „Verkünstlichung“ des Todes ist die Tatsache, dass der Tod zunehmend zu einem Gegenstand bewusster Steuerung geworden ist. Nicht nur die Modalitäten des Sterbens sind gestaltbar geworden, auch der Todeszeitpunkt gehört immer öfter zu den Fragen, die nicht von der Natur, sondern durch menschliche Entscheidungen – des Sterbenden selbst oder Anderer – beantwortet werden. Das Diktum mors certa, hora incerta, nach dem der Tod sicher und der Todeszeitpunkt unsicher ist, gilt nur noch mit Einschränkungen. Am weitesten geht in dieser Hinsicht die Praxis der aktiven Sterbehilfe in den Benelux-Ländern. Sie ermöglicht durch die vorgreifende Datierung die am weitesten gehende Ausschaltung von Kontingenz. Zugleich erlaubt sie, nicht nur die Bestattung, sondern bereits das Sterben – ähnlich wie in vergangenen Zeiten der Großfamilie – zu einem gemeinschaftlich begangenen Ereignis zu machen. Aber auch in den Ländern, in denen keine aktive Sterbehilfe praktiziert wird, ist der Tod vielfach das Ergebnis einer Entscheidung, in der Hauptsache die Entscheidung, die Bemühungen um eine weitere kurative, auf Heilung ausgerichtete Behandlung abzubrechen. Bei Todkranken ist dies in Deutschland bereits in mehr als 40 % der Fall. Je grenzenloser die Möglichkeiten der Medizin sind,
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1 Einleitung: Tod und Sterben – Aktuelle Tendenzen
das Lebensende hinauszuzögern, desto mehr tritt an die Stelle eines natürlichen Geschehens eine Entscheidung darüber, wann die Grenzen des Erträglichen und Zuträglichen erreicht sind und die Lasten des Weiterlebens die Chancen überwiegen. Dieser Wandel von der Widerfahrnis zur Gestaltung, von der Kontingenz zum Arrangement, von der Heteronomie zur Autonomie hat weitreichende Folgen: Neben natürlichen Gegebenheiten bestimmen zunehmend Wünsche, Leitvorstellungen und Normen das Wann und Wie von Sterben und Tod. Wie die Medizin dem Menschen im Bereich der Fortpflanzung neue Wahlmöglichkeiten erschlossen hat, erschließt sie ihm auch im Umfeld des Todes neue Möglichkeiten der Selbstbestimmung. Die Selbstverständlichkeit des natürlichen Todes wird abgelöst durch Wertungen – Wertungen des Patienten (wie und unter welchen Umständen will er sterben?), der ärztlichen Profession (wann besteht eine Indikation für lebenserhaltende Maßnahmen, wann nicht mehr?), der Angehörigen (wollen sie den Kranken sterben lassen?) und nicht zuletzt der Gesellschaft insgesamt (etwa bei Entscheidungen über die solidarische Finanzierung medizinischer Maßnahmen). Die Folgen des medizinischen Fortschritts haben nicht nur das herkömmliche Bild des Todes verändert, sie haben auch den Begriff des Todes nicht unbeeinflusst gelassen. Dadurch, dass es möglich geworden ist, die herkömmlich mit dem Tod verknüpften Merkmale: Aufhören der Atmung, Aufhören des Kreislaufs, Aufhören der Gehirntätigkeit zeitlich „auseinanderzudividieren“ und mithilfe eines Beatmungsgeräts Atmung und Kreislauf trotz Ausfalls der Gehirntätigkeit aufrechtzuerhalten, ist nicht mehr offensichtlich, wo genau die Grenze zwischen Leben und Tod verläuft. Wir sind uns heute der Begriffe von Leben und Tod und dem, was sie voneinander trennt, nicht mehr so sicher, wie es unsere Vorfahren waren. Diese Grenze ist nicht mehr unabänderlich, weil von der Natur vorgegeben. Die Konsequenz daraus ist, dass es auch hier wieder einer – ausdrücklichen oder unausdrücklichen – Entscheidung darüber bedarf, mithilfe welcher Merkmale die Grenze zwischen Leben und Tod gezogen werden soll. Darüber, wie diese Entscheidung zu treffen ist, herrscht bisher, u. a. auf dem Hintergrund abweichender kultureller Todesvorstellungen, keine Einigkeit. Die international weitgehend übereinstimmenden rechtlichen Definitionen des Todes werden längst nicht von allen, für die sie formell gelten, geteilt. Mit den Realitäten des Todes haben sich auch die Einstellungen zum Tod verändert, teilweise infolge dieser Veränderungen, vor allem aber aus anderweitigen Ursachen. Die wichtigste unter diesen ist der sich in nahezu allen Industrieländern vollziehende Trend zur Verabschiedung mythischer und religiöser Denkweisen und die zunehmende Dominanz säkularer, an einem naturalistischen Weltbild orientierter Vorstellungen von Leben und Tod. Die furchterregen-
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den Bilder von einem Jenseits, in dem Gericht, Strafe oder Hölle auf den Sünder warten, gehören ebenso weitgehend einer überwundenen Vergangenheit an wie die traditionelle Vorstellung vom Tod als verdienter Strafe für begangenes Unrecht. Der Prozess der „Entmoralisierung“ des Todes wurde nicht zuletzt von den christlichen Theologien vorangetrieben, in denen insgesamt seit längerem die herkömmlichen Vorstellungen von Jenseits, Wiederauferstehung und Gericht zunehmend weniger Rückhalt finden. Das hat allerdings nicht verhindert, dass Vorstellungen eines Lebens nach dem biologischen Tod im populären Denken weiterhin eine große Rolle spielen, überwiegend mit positiven Inhalten wie dem einer Wiederbegegnung mit geliebten Menschen. Die Bedrohlichkeit des Todes ist weitgehend abgelöst worden von der Bedrohlichkeit eines leidvollen Sterbens. Zugleich hat die zunehmende Gestaltbarkeit des Todes zu einer Wiederkehr des alten Gedankens einer ars moriendi, einer „Kunst“ des Sterbens geführt. Je mehr der Tod menschlicher Steuerung zugänglich geworden ist, desto mehr melden sich Wünsche und Ansprüche, wenn nicht sogar Forderungen nach einem (den Umständen entsprechend) „guten Tod“. Vor allem der Wunsch nach Selbstbestimmung macht vor dem Tod nicht Halt, sondern richtet sich zunehmend auch auf das Wie und Wann des Todes. Dabei wird die Individualisierung der Wünsche an den eigenen Tod, wie sie sich seit längerem auch im Bestattungswesen zeigt, zu einer Herausforderung für die gewachsenen Konventionen im Umgang mit dem Tod und deren rechtlicher Festschreibung. Unterstützt wird dieser Trend von einer zunehmenden Enttabuisierung des Sprechens über den eigenen Tod. Auch wenn – in Deutschland häufiger als in einigen Nachbarländern – das Sterben vorwiegend in Krankenhäusern und Heimen und nur noch selten in der Familie oder Großfamilie stattfindet, sind Tod und Sterben inzwischen zu Schwerpunkten der privaten und öffentlichen Aufmerksamkeit geworden. Wie zu erwarten, finden sich zahlreiche Stimmen, die die zunehmende Pluralisierung der Vorstellungen von einem „guten Tod“ und des gesellschaftlichen Umgangs damit für problematisch, wenn nicht sogar für ein Indiz für eine im wörtlichen Sinne „haltlose“ Individualisierung halten. Die Verlässlichkeit angestammter Muster der Bewältigung existenzieller Grenzsituationen wird geschwächt. Gleichzeitig fragt sich, warum gerade diese Muster in einer sich ohnehin pluralisierenden Gesellschaft von allen geteilt werden müssen. Der folgende Band beschränkt sich auf die Diskussion der zentralen Probleme einer Philosophie des Todes. Anthropologische, metaphysische und ethische Fragen werden dabei gleichermaßen angesprochen. Der Schwerpunkt liegt auf aktuellen Debatten, wobei allerdings der historische Hintergrund, ohne den diese zu einem großen Teil nicht zu verstehen sind, wo immer möglich mitberücksichtigt wird.
2 Wann ist ein Mensch tot? Todesdefinition und Todeskriterien 2.1 Einleitung Die Frage nach der Definition des Todes ist ähnlich wie die nach der Definition des Lebens in vielen Bereichen der Philosophie von grundlegender Bedeutung. Zugleich ist die Frage nach wie vor hochgradig kontrovers. Zwar ist zwar allgemein anerkannt, dass Tod und Leben sich wechselseitig ausschließen und nichts gleichzeitig tot und lebendig sein kann. Aber strittig ist bereits, welchen Entitäten diese Eigenschaften überhaupt in einem nicht-metaphorischen Sinn zugeschrieben werden können. Nicht zweifelhaft ist, dass man von Mikroorganismen wie Bakterien sagen kann, dass sie lebend oder tot sind; aber kann man dies auch von Viren sagen? Kann man von der befruchteten Eizelle sagen, dass sie lebt, auch wenn in den ersten Embryonalstadien die für das Leben charakteristischen Prozesse der Selbstorganisation im Austausch mit der Umgebung noch nicht eingesetzt haben? Strittig ist auch, ob bei Wesen, denen anerkanntermaßen beide Prädikate zugeschrieben werden können, entweder das eine oder das andere zutreffen muss, also alles, was lebendig oder tot sein kann, eines von beiden sein muss. Erschöpfen „lebendig“ und „tot“ die Möglichkeiten, ober gibt es möglicherweise „neutrale“ Zustände oder Zwischenzustände zwischen Leben und Tod? Solche Zwischenzustände als Möglichkeit zuzulassen, bietet sich insbesondere für metaphysische Konstruktionen an, die eine durch kürzere oder längere Zeitspannen unterbrochene Existenz von Personen postulieren. Bei diesen soll die Identität der Person durch zeitliche Lücken hindurch erhalten bleiben. Beispiele sind die hinduistische Lehre von der Wiederverkörperung oder die christliche Lehre von der Wiederauferstehung. Die Frage ist, wie in diesen Theorien die Existenzweise des – wie immer gearteten – Trägers der personalen Identität verstanden wird, in der der frühere Körper nicht mehr und der zukünftige Körper noch nicht existiert. Falls man davon ausgeht, dass Leben und Tod auch in diesem Fall erschöpfende Alternativen darstellen, ergibt sich als Konsequenz, dass eine von beiden Alternativen auch auf diesen Zwischenzustand zutreffen muss. Beide Zuschreibungen erscheinen aber intuitiv wenig plausibel: Zu sagen, dass die betreffende Person in dieser Phase ihrer Existenz lebt, erscheint nicht weniger misslich als dass sie tot ist. „Leben“ würde nahelegen, dass sie – wenn wir einmal die „Seele“ als Träger der personalen Identität annehmen –, eine wie immer minimale psychische Aktivität aufweist oder zumindest dazu fähig ist, was in den zitierten Auffassungen aber nicht angenommen wird. „Tot“ auf der anderen Seite würde nahelegen, dass die Person gestorben ist und die BewusstDOI 10.1515/978-3-11-053449-8-002
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seinsfähigkeit unwiederbringlich verloren hat. Damit wäre ausgeschlossen, dass sie „wiedererweckt“ werden oder auf irgendeine andere Weise als dasselbe bewusstseinsbegabte Wesen, als das sie gestorben ist, weiterleben kann. Ein ähnliches Dilemma ergibt sich – ganz unmetaphysisch – für jene wohlhabenden Amerikaner, die ihre Körper einfrieren lassen, um zu einem späteren Zeitpunkt aufgetaut zu werden, und hoffen, dann von den Mitteln einer weiter fortgeschrittenen Medizin zu profitieren. Angenommen, diese Hoffnung ist eine echte Hoffnung und nicht von vornherein absurd oder illusorisch: Sind diese tiefgekühlten Menschen lebendig oder tot? Falls nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Ganzkörper-Freezing sein Ziel erreicht und diese Menschen von den Krankheiten, an denen sie zu sterben im Begriff sind, geheilt werden können, wird man sie wohl nicht tot nennen können. Die Bedingung der Unumkehrbarkeit des Verlusts der Lebensfunktionen ist nicht erfüllt. Aber sie den Lebenden zuzurechnen, erscheint nicht weniger deplatziert. Schließlich sind sie in bestimmten Hinsichten bereits tot, wenn auch nur in einem Sinn, der die Unumkehrbarkeit des Verlusts der Lebensfunktionen nicht einschließt. Einen „dritten“ Zustand neben Tod und Leben zu postulieren, liegt insbesondere bei dem Phänomen des Hirntods nahe, der nicht nur, aber vor allem im Zusammenhang mit der Organtransplantation von Bedeutung ist. Organe wie Nieren, Herz oder Leber werden zur Transplantation in Deutschland ganz überwiegend in einem Zustand entnommen, der gleichzeitig Züge des Lebens und des Todes aufweist und deshalb seit Anbeginn für begriffliche und ethische Verwirrung gesorgt hat. Ihren Grund hat diese Verwirrung in dem durch die moderne Medizin möglich gewordenen „Auseinanderdividieren“ der Todeszeichen. Der Rechtslehrer Friedrich Carl von Savigny war Anfang des 19. Jahrhunderts noch überzeugt, dass der Tod „ein so einfaches Naturereignis“ sei, „dass derselbe nicht wie die Geburt eine genauere Feststellung seiner Elemente nöthig macht“ (Savigny 1840, 17). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erkannte man allerdings, dass die Merkmale des Todes ohne die übliche Synchronisierung auftreten können. 1898 dokumentierte der englische Arzt Sir Dyce Duckworth vier Fälle schwerer Hirnschädigungen, in denen die damals geltenden Todeskriterien, das Erlöschen der Atmung und der Stillstand des Herzens zeitlich versetzt eintraten (Lamb 1990, 32). Vier Jahre später wurde der erste Hirntumor-Patient beschrieben, dessen Herz nach dem Aussetzen der Spontanatmung infolge künstlicher Beatmung noch weitere 23 Stunden weiter schlug (Lamb 1990, 32). Heute kennen wir dramatische Beispiele für das zeitliche Auseinanderfallen der herkömmlich synchronen Todeszeichen, etwa die hirntoten Schwangeren, bei denen die Schwangerschaft – wie beim „Erlanger Baby“, das in Deutschland Furore machte (vgl. Bockenheimer-Lucius/Seidler 1992) – durch Beatmung ihres Organismus über Wochen aufrechterhalten wurde. In einem früheren Fall war 1989 eine seit
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vier Monaten hirntote Frau von einem gesunden Kind entbunden worden (Bernstein u. a. 1989). Wann trat der Tod ein? Mit dem vollständigen und unumkehrbaren Ausfall der Hirntätigkeit der Schwangeren oder erst mit dem Abstellen des Beatmungsgeräts nach der Geburt des Kindes? Für zusätzliche Verwirrung hat der Ausdruck „Hirntod“ gesorgt. In dem Ausdruck „Hirntod“ wird der Teilausdruck „Tod“ lediglich in einem uneigentlichen und übertragenen Sinn verwendet, als Bezeichnung für das unumkehrbare Erlöschen der Funktionen des Gehirns. Insofern ist der Hirntod zunächst nichts anderes als der „Tod“ – im uneigentlichen Sinn – des Gehirns als Organ. Er ist nicht per definitionem der Tod des Menschen oder der im Gefolge des Hirntods eintretende Tod. Der Begriff des Hirntods bezieht sich seiner Semantik nach ausschließlich auf das Gehirn und lässt offen, ob der in diesem Sinn verstandene Hirntod mit dem Tod des Menschen als Ganzem zusammenfällt. Dies ist gerade umstritten. Für diejenigen, die der Auffassung sind, dass der „Tod“ des Gehirns und der Tod des Menschen nicht nur begrifflich, sondern auch zeitlich nicht zusammenfallen, liegt es dann nahe, die Phase zwischen Eintritt des Hirntods und Eintritt des „richtigen“ oder „vollständigen“ Todes als einen neutralen Zwischenzustand zu verstehen, in dem der Hirntote weder lebt noch tot ist, sondern gewissermaßen – allerdings in einem logisch-semantischen statt in einem medizinischen Sinn – „zwischen Leben und Tod schwebt“: Die Atmung, der Kreislauf, die Stoffwechselfunktionen werden aufrechterhalten und sind intakt wie bei einem eindeutig Lebenden, während das Gehirn und damit die Bewusstseinsfunktionen – wie bei einem eindeutig Toten – unwiederbringlich erloschen sind. Wie weit sich die Annahme eines „Zwischenzustands“ zwischen Leben und Tod rechtfertigen lässt und wie weit es Gründe gibt, daran festzuhalten, Leben und Tod bei allen Wesen, auf die diese Begriffe anwendbar sind, als kontradiktorische und nicht nur konträre Begriffe zu verstehen, ist nur eine von vielen Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Grenzziehung zwischen Leben und Tod stellen. Angesichts ihrer Umstrittenheit fordern sie dazu heraus, die Diskussion zunächst einmal auf die Metaebene zu verlagern und nach den für die Beantwortung dieser Fragen relevanten Instanzen und Kriterien zu fragen: Von welcher Instanz ist eine angemessene Antwort auf diese Fragen zu erwarten; und welche Kriterien sollten bei der Grenzziehung zwischen Leben und Tod beachtet werden?
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2.2 Von welcher Instanz ist eine Entscheidung über die Todesdefinition zu erwarten? Es ist leichter zu sagen, von welchen Instanzen die Antwort nicht zu erwarten ist als von welcher sie zu erwarten ist. Versuchen wir also, sie per Ausschlussverfahren zu bestimmen Nicht zu erwarten ist die Antwort erstens nicht von einer mit Leben und Tod befassten wissenschaftlichen Disziplin, sei es die Biologie, die Neurowissenschaften oder die wissenschaftliche Anthropologie. Erstens sind Leben und Tod keine Fachtermini, die innerhalb von wissenschaftlichen Theorien eingeführt werden, etwa aus Gründen der theoretischen Ökonomie oder der wissenschaftlichen Fruchtbarkeit. Diese Begriffe sind gleichermaßen Begriffe der Alltagswie der Wissenschaftssprache. Sie unterscheiden sich insofern von typisch wissenschaftlichen Begriffen wie Masse, Gendrift oder kognitive Dissonanz, die innerhalb bestimmter Wissenschaften eingeführt worden sind und über die Physiker, Biologen oder Psychologen zu Recht exklusive Deutungshoheit beanspruchen. Zweitens lässt sich die Frage nach der Angemessenheit der Todesdefinition weder direkt noch indirekt mit empirischen Mitteln beantworten. Zwar sollte keine Definition mit dem Geburtsfehler belastet sein, dass in sie empirisch falsche oder unbegründete Annahmen eingehen. Aber in der Regel lassen die empirischen Befunde offen, mit welchen begrifflichen Mitteln sie am angemessensten beschrieben werden. Für sich genommen reichen empirische Befunde nur selten aus, die Frage nach ihrer angemessenen begrifflichen Beschreibung zu beantworten. Begriffe sind semantische Konventionen, die nicht wahr oder falsch, zutreffend oder unzutreffend sind, sondern lediglich mehr oder weniger adäquat in Bezug auf ein vorherrschendes Begriffsverständnis, zweckmäßig in Bezug auf die im jeweiligen Kontext vorausgesetzten theoretischen oder praktischen Zwecke sind oder sich aus anderweitigen normativen Gründen empfehlen. Insofern können die Kriterien für die Angemessenheit einer Todesdefinition stets nur teilweise aus der Empirie oder den mit dieser Empirie befassten Wissenschaften begründet werden. Mit der Realität übereinzustimmen, ist nur eines von mehreren Ansprüchen, die an die Todesdefinition zu stellen sind. Welche Definition vernünftig und angemessen ist, lässt sich zwar nur unter Berücksichtigung empirischer Befunde, aber nicht auf der Grundlage empirischer Befunde entscheiden. Definitionen sind man made und nicht – wie Tests und Kriterien, empirische Verallgemeinerungen und Gesetzesaussagen – wahr oder falsch, sondern nur sinnvoll oder sinnlos, angemessen oder unangemessen, zweckmäßig oder unzweckmäßig. Hans Jonas, einer der frühesten Gegner des Hirntodkriteriums, irrte, als er meinte, er könne das, was er die „pragmatische Umdefinition“ des Todes nannte, als in irgendeiner Weise unzutreffend oder „falsch“ kritisieren (vgl. Jonas 1988,
2.2 Von welcher Instanz ist eine Entscheidung über die Todesdefinition zu erwarten?
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233). „Falsche“ Begriffe kann es ebenso wenig geben wie „richtige“, allenfalls weniger konsistente, adäquate und zweckmäßige. Das heißt nicht, dass die Wissenschaften vom Menschen und insbesondere die Neurologie an der Festlegung der letztlich konventionellen Definition des Todes gar nicht beteiligt sein sollten oder sich aus der Diskussion um die geeignete Todesdefinition heraushalten sollten. Im Gegenteil. Eine entscheidende Anforderung an eine Definition, die nicht nur theoretische Funktionen übernehmen, sondern auch für die Praxis einen Unterschied machen soll, ist ihre Anwendbarkeit unter Realbedingungen. Dafür bedarf es empirischer Kriterien, die sie operationalisieren, und darüber hinaus empirischer Testverfahren, die das Vorliegen der Kriterien mess- oder in anderer Weise beurteilbar machen. Im Falle der Todesdefinition ist dieser Bedarf nach Operationalisierung in besonderer Weise evident. Die meistdiskutierten Definitionsvorschläge lassen es für sich genommen offen, welche empirischen Sachverhalte als Kriterien für ihre Erfülltheit gelten und welche Testverfahren eingesetzt werden können, um das Vorliegen dieser Kriterien zu überprüfen. Selbstverständlich können die Kriterien und die zu ihrer Messung einzusetzenden Prüfverfahren – anders als die zugrundeliegende Definition selbst – nur aus der Wissenschaft, in unserem Fall insbesondere aus der Neurologie kommen. Nur mit wissenschaftlichen Mitteln lässt sich die Frage beantworten, welche Kriterien geeignet sind, das Erfülltsein der definierenden Bedingungen zu erkennen und die Validität der Kriterien als Kriterien zu beurteilen. Dasselbe gilt für die Testverfahren zur Überprüfung des Vorliegens oder Nicht-Vorliegens der durch die Kriterien formulierten Bedingungen. Ein Kriterium ist ein gutes Kriterium, wenn es dem Stand des Wissens, d. h. den am besten bewährten einschlägigen wissenschaftlichen Theorien entspricht, und dasselbe gilt von den Testverfahren zur Überprüfung der Kriterien. Aber was hier „Bewährung“ heißt, versteht sich stets relativ auf eine vorausgesetzte Definition. Akzeptabel kann ein Todeskriterium mitsamt den dazu gehörenden Testmethoden stets nur so weit sein, wie auch die jeweils vorausgesetzte Todesdefinition akzeptabel ist. Wer die vorausgesetzte Todesdefinition ablehnt, wird in der Regel auch die dazugehörigen Kriterien ablehnen – nicht, weil diese wissenschaftlich nicht hinreichend gesichert wären, sondern weil sie etwas Anderes anzeigen, als sie seiner Auffassung nach anzeigen müssten. Die seit längerem etablierte Unterscheidung zwischen Definition, Kriterien und Tests des Todes (vgl. Culver/Gert 1982, 179 ff.) hat ihren Grund u. a. darin, dass eine Definition in der Regel einen sehr viel weitergehenden Geltungsanspruch erhebt als ein Kriterium oder ein Testverfahren. Eine Definition soll in allen möglichen Welten gelten, ein Kriterium nur in dieser Welt und ein Testverfahren nur auf dem Stand dieser aktuell verfügbaren technischen Mittel. Die Kriterien für eine gegebene Definition wechseln mit dem Stand des Wissens und die
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Testverfahren zusätzlich mit dem technischen Fortschritt. So wird die Definition der Temperatur, u. a. operationalisiert durch das – von den in dieser Welt geltenden Naturgesetzen abhängenden – Kriterium der Ausdehnung einer Quecksilbersäule. Zusätzlich erlaubt es der technische Fortschritt, dieses Kriterium mit stets zunehmender Genauigkeit anzuwenden. Analoges muss für die Definition und die Kriterien des Todes gelten. Eine Todesdefinition muss auch kontrafaktisch gelten, d. h. unter Bedingungen, die nicht in dieser Welt, aber möglicherweise in einer Science-fiction-Welt erfüllt sind. Ein Todeskriterium dagegen muss ausschließlich in dieser – von den Wissenschaften in Gestalt von wissenschaftlichen Theorien und Befunden beschriebenen – Welt gelten, ein Testverfahren ausschließlich auf dem gegenwärtigen Stand des Wissens und Könnens. Daraus ergibt sich zwanglos eine gespaltene Zuständigkeit: Für die Definition sind diejenigen Instanzen zuständig, die auch ansonsten für die Festlegung grundlegender praxisrelevanter Begriffe zuständig sind: Öffentlichkeit, Politik und Recht, vorzugsweise unter Hinzuziehung der begriffsanalytischen Ressourcen der Philosophie; für die Kriterien eine Anthropologie, die neurologische und andere medizinische Befunde gesamthaft in den Blick nimmt; für die Testverfahren die Medizin mit ihrer langjährigen und teilweise hochgradig spezialisierten Erfahrung in der Anwendung klinischer und apparativer Verfahren zur Todesfeststellung. Wird das geltende Hirntodkriterium zugrunde gelegt, ist es Sache der Neurologie zu entscheiden, wie zuverlässig ein bestimmtes klinisches oder apparatives Testverfahren (oder eine Kombination solcher Verfahren) anzeigt, dass die Hirntätigkeit eines Menschen vollständig und irreversibel ausgefallen ist. Wird alternativ ein Herz-Kreislauf-Kriterium zugrunde gelegt, ist es Sache der Physiologie sowie der medizinischen Erfahrung zu entscheiden, wann eine Reanimation aussichtslos und der Tod unumkehrbar eingetreten ist. In politischen Termini heißt das, dass die Todesdefinition primär in die Zuständigkeit der (rechtlich, medizinisch und philosophisch beratenen) Gesetzgebung fällt, die Todeskriterien primär in die Zuständigkeit der theoretischen und die Testverfahren primär in die Zuständigkeit der klinischen Medizin. Wendet man die Trias von Definition, Kriterium und Tests auf den Hirntod an, bedeutet das, dass der Hirntod lediglich als Kriterium des Todes und nicht als eigenständige Todesdefinition in Frage kommt. Das ergibt sich daraus, dass der Hirntod nur in dieser Welt gelten kann und unter kontrafaktischen Bedingungen als Todesdefinition inakzeptabel wäre. Wäre etwa die Bewusstseinsfähigkeit anders als in der faktischen Welt nicht vom Funktionieren des Gehirns abhängig, sondern vom Funktionieren des Magen-Darm-Trakts, oder wäre die Steuerung von Atmung und Kreislauf nicht im Stammhirn, sondern im Herzen lokalisiert, wäre der Hirntod weder als Definition noch als Kriterium des Todes annehmbar. Als Kriterium des Todes kommt er lediglich so weit in Frage, als er
2.2 Von welcher Instanz ist eine Entscheidung über die Todesdefinition zu erwarten?
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der Operationalisierung einer tieferliegenden Todesdefinition dient, etwa der, die den Tod durch das irreversible Erlöschen der Bewusstseinsfähigkeit oder den irreversiblen Funktionsverlust der neuronalen Netzwerke zur Steuerung von Atmung und Kreislauf definiert. Im Übrigen zeigt dieses Beispiel, wie wichtig es ist, zur Klärung der Debatte zwischen den drei Ebenen von Definition, Kriterium und Tests zu unterscheiden. Man kann sich über die Todesdefinition einig sein und sich dennoch in der Beurteilung der Validität eines bestimmten Kriteriums unterscheiden. Man kann sich über das Kriterium einig sein und sich dennoch über die zugrundeliegende Todesdefinition streiten. Dass in Deutschland das Transplantationsgesetz lediglich das Kriterium des Todes festlegt und nicht auch eine verbindliche Todesdefinition, hat seinen Grund u. a. darin, dass über das Kriterium ein größeres Maß an Konsens besteht als über die Definition. Das Transplantationsgesetz bestimmt in § 3, dass die Entnahme von Organen nur zulässig ist, wenn der Tod des Organspenders nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist, und dass sie unzulässig ist, wenn nicht vor der Entnahme bei dem Organspender der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist. Der Eintritt des Ganzhirntods ist damit zumindest als notwendige Bedingung der Zulässigkeit der Organentnahme bestimmt. Das Gesetz überlässt es der „medizinischen Wissenschaft“, möglicherweise weitere Bedingungen zu formulieren. Auf eine Begründung, warum das Ganzhirntodkriterium ein geeignetes Kriterium ist, wird ebenso verzichtet wie auf eine Andeutung dazu, mit Bezug auf welche zugrundeliegende Definition des Todes weitere Kriterien über den Ganzhirntod formuliert werden könnten. Offensichtlich geht das Gesetz davon aus, dass solche weiteren Bedingungen nicht zu erwarten sind. Anderes wäre auch mit der gegenwärtigen Praxis der Organentnahme kaum vereinbar. Denn aus beiden Teilaussagen des Gesetzes zusammengenommen folgt, dass wenn der Tod später einträte als der Hirntod, eine Organentnahme in der Phase zwischen Eintritt des Hirntods und Eintritt des Todes unzulässig wäre. Eine Organentnahme soll ja erst nach der Feststellung des Todes zulässig sein. Ähnliches gilt für die Richtlinien zur Feststellung des Hirntods des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer, die auf dem Hintergrund des Transplantationsgesetzes die Testverfahren zur Überprüfung des Hirntods formulieren, sich aber ebenfalls nicht zur Todesdefinition äußern. Sie legen lediglich fest, dass „mit der Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms (irreversibler Hirnfunktionsausfall) naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt“ ist (Bundesärztekammer 2015, 2). Sie beziehen sich also ebenfalls auf das Todeskri-
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terium – und dann auch nur auf die „Feststellung“ des als Kriterium dienenden Sachverhalts und nicht auf das Festgestellte selbst – und lassen die Frage nach der zugrundeliegenden Todesdefinition offen. Auch die Kulturwissenschaften kommen als Instanz für die Angemessenheit einer Grenzziehung zwischen Leben und Tod schwerlich in Frage. Dafür fehlt es an einem consensus gentium über diese Grenze, auf die eine kulturübergreifende Festlegung zurückgreifen könnte. Zwar gilt gegenwärtig in nahezu allen Rechtssystemen das Hirntodkriterium – das Kriterium des vollständigen und irreversiblen Ausfalls aller Hirnfunktionen – als Todeskriterium. Aber es wird in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich gedeutet bzw. in unterschiedlichem Maße akzeptiert. Teilweise wird es als inakzeptabel abgelehnt. In Deutschland ist die Kontroverse darum, ob das Hirntodkriterium ein geeignetes Todeskriterium ist, auch nach der Einführung dieses Kriteriums durch das Transplantationsgesetz nicht zur Ruhe gekommen, und noch im Jahr 2015 hat der Deutsche Ethikrat dazu nur ein gespaltenes Votum zustande gebracht (Deutscher Ethikrat 2015). In Japan und anderen Ländern Ostasiens wird das Hirntodkriterium von den Bevölkerungen weitgehend abgelehnt und in der ärztlichen Praxis nach wie vor nur zögerlich befolgt (vgl. Lock 2001). In den US-Bundesstaaten New York und New Jersey ist den Bürgern sogar die Möglichkeit eingeräumt worden, das Hirntodkriterium für sich durch individuelle Willenserklärung abzulehnen – eine Regelung, die den orthodoxen Juden entgegenkommt, für die der Tod mit dem „letzten Atemzug“ zusammenfällt. Insgesamt ergibt sich ein ähnlich uneinheitliches Bild wie bei der Frage nach dem Zeitpunkt des Lebensbeginns (vgl. Krones u. a. 2006). Jedenfalls wird man sich bei der Definition des Lebensendes so wenig auf einen overlapping consensus berufen können wie bei der Definition des Lebensanfangs – auch dann nicht, wenn man Auffassungen unberücksichtigt lässt, die sich fundamentalistisch auf religiöse oder quasi-religiöse Autoritäten berufen. Falls die Suche nach einer wie immer begründeten Grenzziehung zwischen Leben und Tod überhaupt sinnvoll ist, können wir es nicht der Vielfalt der Kulturen überlassen, die Grenzen so zu ziehen, wie sie es aufgrund ihrer unterschiedlichen Traditionen für angemessen halten. Eine dritte Quelle, die ebenfalls verschlossen ist, weil sie den Relativismus der Todesdefinitionen eher verschärft als überwindet, sind die Zuschreibungen von Leben und Tod, die sich einem Betrachter vom Augenschein her und auf dem Hintergrund seines jeweiligen lebensweltlichen Bezugs zum Hirntoten nahelegen. Folgt man diesem Ansatz, sind Leben und Tod weniger Beschreibungen als vielmehr Zuschreibungen, die abhängig sind von der Beziehung, in der der Zuschreibende zum Gegenstand der Zuschreibung steht. Wollte man diesen Maßstab zugrunde legen, hinge die Frage, ob ein Kleinkind den Betrachter „anlächelt“ oder bloß einen entsprechenden Reflex zeigt, davon ab, in welcher Beziehung
2.2 Von welcher Instanz ist eine Entscheidung über die Todesdefinition zu erwarten?
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der Betrachter zu dem Kleinkind steht. Ähnlich wie ein Säugling aus Sicht der Mutter „lächelt“, während er aus Sicht eines Unbeteiligten bloß einen bestimmten mechanischen Reflex zeigt, würde danach auch ein Hirntoter, der atmet, sich spontan bewegt, verdaut und auf bestimmte Umweltreize reagiert – etwa zusammenzuckt, sobald er vom Skalpell des Chirurgen getroffen wird –, „leben“. Dem Augenschein nach bietet der Hirntote zweifellos das Bild eines Lebenden: Er verhält sich für den Betrachter genauso, wie sich auch ein schwerkranker Lebender verhalten würde. Nur wer ihn aus einer rein objektivierenden Perspektive sehen würde, würde in ihm lediglich einen künstlich in seinen biologischen Funktionen erhaltenen Organismus oder sogar ein bloßes Organreservoir sehen. In der Tat empfinden viele Ärzte und Pflegende die sogenannte „Spenderkonditionierung“, die Pflege von Hirntoten bis zur Organentnahme als eine belastende psychologische Gratwanderung. Es fällt schwer, sich in seinem Verhalten, aber vor allem auch seinen Empfindungen und Sichtweisen von dem leiten zu lassen, was man weiß, statt von dem, was man sieht. Aus der objektivierenden Perspektive des Neurologen hat der Hirntote seine Bewusstseinsfähigkeit irreversibel eingebüßt. Eine Kommunikation ist allenfalls nur noch mit seiner leiblichen Seite, mit seinen körperlichen, durch die außerhalb des Gehirns gelegenen Teile des Zentralnervensystems gesteuerten Reaktionen möglich. Diese Sichtweise ist jedoch um so schwerer einzunehmen, je stärker der Kommunikationspartner lebensweltlich auf den Hirntoten bezogen ist und seinerseits nahezu reflexhaft dessen leibliche Äußerungen als Äußerungen hinter ihnen stehender Bewusstseinsprozesse deutet. Das zeigen etwa die tagebuchartigen Schilderungen des Vaters eines aus einer Hirntodschwangerschaft hervorgegangenen Kindes über seine über längere Zeit aufrechterhaltene „Kommunikation“ mit seiner hirntoten Ehefrau. Er kann gar nicht anders als seine hirntote Frau in der Zeit, in der ihre Schwangerschaft künstlich aufrechterhalten wird, wie eine Lebende zu sehen und mit ihr wie einer Lebenden umzugehen. Er bekommt einen Weinkrampf, als ihm ein Jurist mitteilt, dass seine Frau „im Rechtssinne tot“ sei (Siegel 1993, 122). Es ist allerdings eine Sache, einen Hirntoten wie einen Lebenden zu sehen und mit ihm wie einem Lebenden umzugehen; es ist eine andere Sache, ihn deshalb auch bereits als lebend gelten zu lassen und die Grenze zwischen Leben und Tod vom Augenschein oder von lebensweltlich eingespielten Projektionen abhängig zu machen. Es ist eine Sache, ob ein Hirntoter wie lebend wirkt oder ob er tatsächlich lebt. Anmutungen bedürfen unabhängiger und intersubjektiv zugänglicher Belege, um Evidenzkraft zu erlangen. Über das, was der Fall ist, kann hier wie überall nicht die Beziehung oder die Perspektive entscheiden, die wir zu dem Beschriebenen einnehmen. Ob ein Mensch tot ist oder lebt, kann nicht dadurch bestimmt sein, wie wir ihn wahrnehmen, sondern nur dadurch, was wir über ihn wissen. Darüber hinaus würde eine Subjektivierung eine höchst prob-
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lematische Relativierung der Grenze zwischen Leben und Tod nach sich ziehen: Derselbe Mensch in demselben Zustand könnte für den einen lebendig, für den anderen tot sein. Lässt sich ein Weg zu einer akzeptablen Todesdefinition jenseits der drei beschriebenen Sackgassen finden? Es müsste ein Weg sein, der sich nicht so eng an die Voraussetzungen einer bestimmten kulturellen Tradition bindet, dass er keine Aussichten auf globale Akzeptanz eröffnet. Und es müsste ein Weg sein, der an keine bestimmte affektive oder normative Perspektive gebunden ist, sondern sich primär an überkulturellen Gesichtspunkten orientiert. Eins ist jedenfalls von vornherein klar: Mit einem puristisch verstandenen begriffsanalytischen Ansatz ist der Frage nach der angemessenen Todesdefinition nicht beizukommen. Eine eindeutige Bezugsgröße, an der sich die Adäquatheit der Definition messen lassen könnte, ist nicht in Sicht. In Frage kommt lediglich eine Explikation, die jeweils Elemente einiger der diversifizierten kulturell eingespielten Todesverständnisse übernimmt, andere jedoch nicht und womöglich mit keinem der faktisch verwendeten alltagssprachlichen Begriffe und Begriffsverständnisse vollständig übereinstimmt. Da es für eine Explikation des Todesbegriffs mehrere verschiedene Möglichkeiten gibt, sind, bevor wir uns auf sie einlassen, die Kriterien zu klären, denen sie – als notwendige oder als Präferenzbedingungen – genügen sollten. Solange es keinen eindeutigen Referenzpunkt für eine Explikation gibt und das Kriterium der Adäquatheit im Sinne der Übereinstimmung mit einem faktischen Begriffsverständnis unanwendbar ist, bedarf es zunächst einer Klärung der Kriterien und Desiderate, von denen wir uns bei der Suche nach einer geeigneten Explikation leiten lassen können. Im Folgenden möchte ich die Bedingungen, denen eine Todesdefinition genügen sollte, unterteilen in solche, die sich aus Überlegungen herleiten, die die vorherrschende Bedeutung der Begriffe Leben und Tod betreffen („semantische“ Kriterien), und andere, die sich von Überlegungen herleiten, die die Anwendung dieser Begriffe unter praktischen Gesichtspunkten betreffen („pragmatische“ Kriterien). Eine überzeugende Explikation der Begriffe von Leben und Tod soll ja das Kunststück leisten, sowohl den theoretischen als auch den praktischen Anforderungen an diese Begriffe gerecht zu werden, bzw. immer da, wo beide nicht zugleich zu erfüllen sind, einen möglichst optimalen Kompromiss vorzuschlagen. Da abzusehen ist, dass es kaum möglich sein wird, alle berechtigten Wünsche an die Grenzziehung zwischen Leben und Tod zu befriedigen, und alles nolens volens auf eine Kompromisslösung hinausläuft, gehe ich davon aus, dass zunächst alle Kriterien gleichberechtigt sind und dass insbesondere keinem von vornherein so viel Gewicht zukommt, dass es den Status einer notwendigen Bedingung zugesprochen erhält. Das heißt: Alle Kriterien sind verhandelbar. Bei
2.3 Semantische Kriterien
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einer alle Kriterien in den Blick nehmenden Abwägung müssen möglicherweise auch die zunächst am wenigsten entbehrlich scheinenden Kriterien weichen. Weder sind die semantischen Kriterien zusammengenommen privilegiert gegenüber den pragmatischen, noch ein einzelnes Kriterium gegenüber allen anderen.
2.3 Semantische Kriterien 2.3.1 Biologizität Das erste semantische Kriterium, von dem ich meine, dass es eine Grenzziehung zwischen Leben und Tod erfüllen sollte, ist, dass es ein im weitesten Sinne biologisches Kriterium ist. Leben und Tod werden ganz überwiegend in einem biologischen Sinn verwendet und verstanden. Das heißt, dass die Anwendung dieser Begriffe auf nichtbiologische Entitäten wie etwa Seelen, Geister oder übernatürliche Gegenstände religiöser Bewusstseinsformen stets nur in einem übertragenen Sinn möglich ist. Der spiritualistischen Metaphysik Berkeleys zufolge existieren in der Welt neben Gott ausschließlich substanzielle Seelen. Die physische Welt einschließlich der Welt der Lebewesen existiert lediglich in der Gestalt von Vorstellungsinhalten von Seelen. Kann man von diesen Seelen sagen, dass sie leben und sterben? Ich meine nein. Diese Seelen existieren und verlieren, soweit sie endlich sind, ihre Existenz. Aber als rein spirituelle Entitäten leben sie nicht im eigentlichen Sinn. Weder kann man von ihnen sagen, dass sie sterben, noch dass sie tot sind. Das gilt zumindest für die Außenperspektive des Metaphysikers. Aus der Binnenperspektive der von Berkeley postulierten Seelen selbst (im Sinne des von Kant so genannten „empirischen Realismus“) werden diese zweifellos den berühmten „tree in the quad“ (den Baum im Hof, der auch dann existiert, wenn er von keiner dieser Seelen gesehen wird) als lebendig bezeichnen, solange er nicht abgestorben ist. Sie werden die Termini Leben und Tod ganz ebenso verwenden, wie wir sie im Alltagsleben verwenden. Aber aus der Sicht Berkeleys, d. h. aus der externen Sicht des Metaphysikers, ist das eine Täuschung: Der Baum im Hof existiert lediglich in den Vorstellungen der Seelen. Die Begriffe Leben und Tod spielen in der Sprache und im Denken dieser Seelen dieselbe Rolle, die sie in einem realistischen Weltbild spielen. Aber solange daran festgehalten wird, dass sie lediglich Vorstellungsinhalte sind, denen nichts außerhalb des Bewusstseins entspricht, wird man nicht sagen können, dass sie im eigentlichen Sinn Leben und Tod haben. In der Welt Berkeleys wäre eine Biologie zwar nicht gegenstandslos, aber sie wäre nicht mehr als eine Form von phänomenologischer Psychologie. Sie beschriebe Leben und Tod, wie eine wissenschaftliche Mythologie die Götterwelt
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der Griechen beschreibt, als eine Welt von Vorstellungen, denen nichts in der Wirklichkeit entspricht. Ähnliches gilt für charakteristisch religiöse Verwendungen der Begriffe Leben und Tod wie in dem Bibelzitat „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 4, 16) oder in dem Kirchenliedvers „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“. Auch hier ist jedes Mal offensichtlich kein biologisches Leben gemeint, sondern die Existenz einer für den Einzelnen verfügbaren spirituellen Kraftquelle – im Gegensatz zu dem Leben, von dem in den Berichten der Evangelisten über den wiederauferstandenen Jesus die Rede ist. Die Definition von Leben und Tod im eigentlichen, nicht-metaphorischen Sinn als etwas im Kern Biologisches zu fassen, hat gravierende Konsequenzen. Eine davon ist, dass der Mensch in dieser Hinsicht keine Sonderstellung genießt, sondern Leben und Tod mit allen Lebewesen teilt. Für ihn gilt kein anderer Todesbegriff als für mit dem Menschen verwandte nicht-menschliche Lebewesen, etwa die übrigen Säugetiere (vgl. Roth/Dicke 1994, DeGrazia 2005). Menschliches Leben und menschlicher Tod unterscheiden sich ihrer Natur nach nicht vom Leben und Tod anderer höherer Lebewesen. Was ein menschliches Individuum lebendig oder tot macht, ist nichts anderes als das, was auch andere Säugetiere lebendig oder tot macht. Die Sonderstellung, die dem Menschen zu Recht zugesprochen wird, hat ihre Grundlage u. a. darin, dass der Mensch über Leben und Tod in einer Weise nachdenken kann, die anderen Lebewesen nicht zur Verfügung steht, nicht aber darin, dass die Begriffe von Leben und Tod, die auf höhere Lebewesen zutreffen, auf ihn nicht oder nur eingeschränkt anwendbar sind. Eine weitere Konsequenz ist im Zusammenhang mit der Debatte um die Todesdefinition möglicherweise noch einschneidender: Die Anwendbarkeit der Prädikate „lebendig“ und „tot“ ist, sofern die Begriffe als biologisch fundiert verstanden werden, unabhängig sowohl von der An- oder Abwesenheit einer Bewusstseinsaktivität als auch von der Fähigkeit dazu. Auch bei anderen Lebewesen machen wir die Anwendbarkeit der Begriffe Leben und Tod nicht davon abhängig, ob sie bewusstseinsfähig sind. Während es etwa umstritten ist, ob Fische bewusstseinsfähig sind, d. h. hinter den beobachteten Verhaltens- und neuronalen Anzeichen für Schmerzempfindungen – etwa durch das Eindringen des Angelhakens in die Lippen – tatsächlich gefühlte Schmerzen stehen, ist unumstritten, dass Fische ebenso wie andere Wirbeltiere lebendig oder tot sein können und dass Leben und Tod in ihrem Fall nichts anderes bedeuten als für zweifelsfrei bewusstseinsfähige Lebewesen wie Hunde und Katzen. Innerhalb des Bereichs der Lebewesen mag dem bewusstseinsfähigen Leben in ethischer Hinsicht eine Sonderstellung zukommen. Diese gilt aber nicht in logisch-semantischer Hinsicht. Analoges gilt für bewusstseinsunfähige Menschen. Ein anenzephales Kleinkind, dem die für das Bewusstseinsleben unabdingbaren Teile des
2.3 Semantische Kriterien
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Gehirns fehlen, unterscheidet sich von einem totgeborenen Kind genau darin, dass es dieselben biologisch definierten Lebensfunktionen zeigt, die auch für andere Lebewesen charakteristisch sind, etwa Atmung und Stoffwechsel. Diese beim Menschen im Stammhirn gesteuerten „vegetativen“ Funktionen reichen, solange das semantische Kriterium der Biologizität der Definition von Leben und Tod gilt, vollauf aus, um von „Leben“ zu sprechen. Es ist klar, dass unter dieser Bedingung auch eine rein bewusstseinsorientierte Definition von Leben und Tod, wie sie von den Befürwortern des so genannten „Teilhirntods“ oder „Kortikaltods“ vertreten wird, nicht akzeptabel sein kann. Solange Leben und Tod biologisch definiert sind, kann ein Mensch nicht bereits dann tot sein, wenn seine Fähigkeiten, Empfindungen und Gefühle zu haben, seine Umgebung oder andere Menschen wahrzunehmen oder mit ihnen zu kommunizieren, irreversibel erloschen sind. Irreversibel erloschen sein müssen auch die oder zumindest einige der rein organismischen Lebensfunktionen.
2.3.2 Symmetrie Ein weiteres Kriterium, das man den semantischen zurechnen kann, da es wesentlich aus dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit folgt, ist, dass die Anwendungen der Begriffe von Leben und Tod in verschiedenen Anwendungskontexten kongruieren und dass insbesondere zwischen den Anwendungen auf frühe und späte Phasen menschlicher Existenz Symmetrie besteht: Wenn wir einen Menschen in einer frühen Phase seiner Existenz unter bestimmten Bedingungen als lebendig kategorisieren, müssen wir dies, solange dieselben Bedingungen vorliegen, auch beim Menschen in einer späteren Phase seiner Existenz tun (vgl. McMahan 2002, 436). Bei diesem Kriterium handelt es sich um ein rein formales Kriterium. Es lässt offen, wie die Definition von Leben und Tod, die auf den Anfang und das Ende des Lebens angewendet wird, im Einzelnen aussieht. Es fordert lediglich, dass wir Widerspruchsfreiheit zwischen den Verwendungen herstellen und in beiden Anwendungskontexten dieselben Bedingungen für Leben und Tod anerkennen. Aber bei aller Formalität hat es nicht weniger weitreichende Konsequenzen als das Kriterium der Biologizität: Kaum einer wird nicht anerkennen, dass der Begriff des Lebens grundsätzlich auf einen menschlichen Fötus anwendbar ist und dass dieser lebt, wenn er unter Zuhilfenahme der Ressourcen, die ihm der mütterliche Organismus bietet, die für das Leben charakteristischen Prozesse von Stoffwechsel und Selbstorganisation aufweist. Die Unterscheidung zwischen Leben und Tod ist nicht nur bei geborenen Menschen, sondern auch bei menschlichen Föten sinnvoll, und die Kriterien sind dieselben wie für andere als menschliche Lebewesen. Dann ergibt sich jedoch, dass auch der hirntote Mensch, dessen
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Atmung und Blutkreislauf mithilfe eines Beatmungsgeräts aufrechterhalten werden, als lebend aufgefasst werden muss. Die Prozesse von Stoffwechsel und Selbstorganisation, die im Körper eines Hirntoten ablaufen, unterscheiden sich nicht wesentlich von denen, die im Fötus mithilfe der Funktionen des mütterlichen Uterus ablaufen. Beide Bedingungen, Stoffwechsel und Selbstorganisation, d. h. koordiniertes Zusammenwirken der verschiedenen Teile des Organismus, sind in beiden Fällen gleichermaßen erfüllt. In beiden Fällen hängt der Prozess der Selbstorganisation zu seiner Aufrechterhaltung von äußeren Ressourcen ab. Das heißt nicht, dass sich das Leben des Fötus und das Leben des Hirntoten nicht in wichtigen Hinsichten unterscheiden, unter anderem der, dass das Leben des Embryos gewissermaßen das Vorspiel und das des Hirntoten gewissermaßen das Nachspiel zum biografischen Leben des Menschen sind. Aber solange sowohl das Kriterium der Biologizität als auch das Kriterium der Symmetrie der Lebens- und Todesdefinition gilt, kann die zeitliche Differenz für sich genommen für die Frage der Lebendigkeit nicht relevant sein. Die zeitliche Vorordnung und Nachordnung und die Tatsache, dass der Fötus das Potenzial und der Hirntote lediglich Residuen des voll entwickelten Lebens aufweisen, ändern nichts daran, dass beide Situationen in genau denjenigen strukturellen Merkmalen identisch sind, auf die es den semantischen Kriterien zufolge ankommt. Falls das biologische Leben des Fötus „echtes“ Leben ist, ist auch das Leben des Hirntoten unter künstlicher Beatmung echtes Leben. Dies würde nur dann nicht folgen, wenn jede Komponente des Organismus einzeln von der äußeren Ressource kontrolliert wird. Solange jedoch die Funktionsweise des Organismus koordiniert und inte griert ist und nur einige wenige (oder, wie im Normalfall des Hirntods nur eine) der Funktionen (die Atmung) von außen reguliert werden, lässt sich die Konsequenz, dass wir es mit echtem Leben zu tun haben, schwerlich umgehen.
2.4 Pragmatische Kriterien 2.4.1 Einheitlichkeit Die Praxis, pragmatische Kriterien auf Begriffe anzuwenden, die für unser Selbstverständnis grundlegend sind, genießt keinen besonders guten Ruf. Pragmatische Kriterien stehen im Verdacht, interessengeleitet und manipulativ zu sein. Aber wie immer berechtigt solche Bedenken ansonsten sein mögen, im Fall der Definition von Leben und Tod gehen beide Verdachtsmomente ins Leere. Von einer Manipulation könnte nur dann gesprochen werden, wenn es anderweitige Kriterien gibt, die die gesuchte Definition unabhängig von pragmatischen Kriterien in einer intersubjektiv allseits anerkannten Weise festlegen. Dies ist bei der Grenz-
2.4 Pragmatische Kriterien
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ziehung zwischen Leben und Tod nicht der Fall. Und Interessengeleitetheit ist für sich genommen kein Grund für Verdächtigungen. Es kommt vielmehr darauf an, welcher Art diese Interessen sind – eigennützig oder fremdnützig, Einzel- oder Allgemeininteressen, moralisch oder moralwidrig. Auch moralische Interessen sind Interessen. Auch in ihnen schlägt sich nieder, was Menschen wollen. Eine solche Bestimmtheit durch den Willen ist aber immer dann unvermeidlich, wenn eine Entscheidung getroffen werden muss und sich diese nicht allein durch logische, empirische oder andere Sachgesichtspunkte begründen lässt. Zuzugestehen ist allerdings, dass pragmatische Kriterien eben deshalb, weil sie wesentlich volitiv statt kognitiv motiviert sind, generell unsicherer sind und erfahrungsgemäß mehr zu Dissens herausfordern als die semantischen Kriterien. Semantische Kriterien haben den Vorzug, sich an so etwas wie der Kernbedeutung eines Begriffs orientieren zu können, auch wenn diese nicht ausreicht, eine bestimmte Explikation als schlechthin optimal auszuzeichnen. Pragmatische Kriterien haben diesen Vorzug nicht. Sie kennen nichts Anderes als bestimmte außersemantische Normen und Desiderate, an denen sie sich orientieren. Aber vergessen wir nicht, dass auch semantische Kriterien eine Sache von Vereinbarungen und nicht zwingend sind. Die Unterschiede zwischen den semantischen und den pragmatischen Motiven, eine bestimmte Explikation eines mehrdeutigen oder unklaren Begriffs zu bevorzugen, sind eher graduell als kategorisch. Drei pragmatische Kriterien scheinen mir für die Grenzziehung zwischen Leben und Tod relevant: Einheitlichkeit, Eindeutigkeit und ethische Vertretbarkeit. Eine einheitliche Explikation ist wichtig, um sich über Leben und Tod verständigen zu können, ohne Missverständnisse zu riskieren. Eine einheitliche Explikation ist auch von Bedeutung, um eine gewisse Einheitlichkeit der Orientierung in einer durch kulturelle Diversität gekennzeichneten Welt sicherzustellen. Leben und Tod sind Grundkategorien des menschlichen Selbstverständnisses und sollten in einer zunehmend zusammenwachsenden Welt nach Möglichkeit übereinstimmend verstanden werden. Einheitlichkeit der Todesdefinition ist nicht zuletzt auch rechtlich ein Desiderat. Die Koexistenz verschiedener Begriffe von Leben und Tod in mehreren Rechtsordnungen oder sogar in ein und derselben Rechtsordnung, oder die Freiheit, seine Definition von Leben und Tod jeweils individuell zu wählen, kann nur zu Intransparenz und Konfusion führen.1 Unter pragmatischen Gesichtspunkten scheint auch das Kriterium der Eindeutigkeit unverzichtbar. Nicht nur die Todeskriterien sollten so eindeutig formuliert sein, dass über ihr Vorliegen – unter Zuhilfenahme konsentierter Nachweisverfahren – kein Zweifel besteht. Auch das zugrundeliegende Todesverständnis sollte, um Konfusionen und Unsicherheiten zu vermeiden, möglichst wenig Zweideutigkeiten und Unbestimmtheiten aufweisen, die über die einmal getroffene Explikation hinaus weitere und zwangsläufig subjektive Festlegungen erfordern.
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Ein Beispiel für derartige Konfusionen ist der seit Längerem verwendete Begriff des „klinischen Todes“. Er legt – dramatisierend – nahe, es handle sich um eine bestimmte Todesart, während er lediglich eine bestimmte Art eines komatösen Zustands zu Lebzeiten bezeichnet. Schon im Dienst der Rechtssicherheit sollte die Festlegung der Grenze zwischen Leben und Tod, auch wenn dies möglicherweise zulasten der Übereinstimmung mit verbreiteten semantischen Intuitionen geht, möglichst wenig dem individuellen Urteil überlassen. Nicht weniger vordringlich erscheint das pragmatische Kriterium der ethischen Vertretbarkeit. Die Begriffe Leben und Tod sind in eine Fülle von ethisch relevanten Kontexten eingebettet. Über den Umgang mit dem Lebenden und dem Toten entscheiden nicht nur moralische Normen, sondern zunächst auch bereits die Bedeutungen, die den Termini Leben und Tod zugewiesen werden. So hängt die Reichweite des faktischen Lebensschutzes und das Ausmaß, in dem Leben als schutzwürdig gilt, von dem Verständnis dessen, was mit Leben und Tod gemeint ist, ebenso ab wie von normativen Prinzipien. Explikatorische und normative Überlegungen gehen Hand in Hand. Legt man diese drei pragmatischen Kriterien zugrunde, erscheinen eine ganze Reihe der in den letzten Jahrzehnten vorgeschlagenen Wege zu einer Explikation des Todesbegriffs versperrt – wenn auch immer nur unter dem Vorbehalt, dass möglicherweise andere und insbesondere die semantischen Kriterien dafür sprechen, diese Wege dennoch einzuschlagen. Was das Kriterium der Einheitlichkeit betrifft, stoßen insbesondere die Vorschläge eines Pluralismus bzw. eines Dualismus koexistierender Todesdefinitionen auf Bedenken. Der Vorschlag des amerikanischen Bioethikers Robert Veatch eines Pluralismus der Todesdefinitionen (vgl. Veatch 1988) ist im Wesentlichen von dem faktisch bestehenden Pluralismus der Todesverständnisse der religiösen Konfessionen inspiriert. In buddhistisch geprägten Kulturen wird das rechtlich geltende Hirntodkriterium weniger akzeptiert als in anderen. In den amerikanischen Bundesstaaten New York und New Jersey ist die Definition des Todes dem Einzelnen überlassen. Veatch’ Argument für einen Pluralismus der Todesdefinitionen, nach dem jeder diejenige Todesdefinition wählen kann, die zu seinen kulturellen Traditionen passt, ist also wesentlich pragmatisch-sozialethischer Art. Er möchte verhindern, dass die Einheitlichkeit einer kollektiv festgelegten Todesdefinition als Diskriminierung abweichender Auffassungen empfunden wird. Angesichts der Pluralität der Todesdefinitionen sei nicht auszuschließen, dass die je eigenen Vorstellungen über die Grenze zwischen Leben und Tod bei anderen Gesellschaftsmitgliedern Anstoß erregen und nicht toleriert werden. Es muss allerdings als zweifelhaft gelten, ob die allgemeine Geltung einer Todesdefinition von dissentierenden Bevölkerungsteilen so intensiv als Ärger-
2.4 Pragmatische Kriterien
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nis empfunden wird, dass man auf sie verzichten sollte – solange die Angehörigen dieser Bevölkerungsteile sich den Konsequenzen entziehen können und die Möglichkeit haben, eine Organentnahme im Zustand des Hirntods für sich auszuschließen. Diese Möglichkeit besteht jedoch uneingeschränkt. Auch in Ländern, in denen für die Organentnahme die Widerspruchsregelung gilt, nach dem jedem, der sich nicht ausdrücklich dagegen ausgesprochen hat, nach Eintritt des Hirntods Organe zu Transplantationszwecken entnommen werden dürfen, besteht mit der Möglichkeit des Widerspruchs eine Chance, sich dieser Konsequenz zu entziehen. Dagegen sind die Risiken eines Pluralismus der Todesdefinitionen gravierend: Orientierungsunsicherheit und Verunsicherungen im rechtlichen und medizinischen Umgang mit Menschen an der Grenze zwischen Leben und Tod. Dem Erfordernis der Einheitlichkeit wird auch eine gemäßigtere Variante des Pluralismus der Todesdefinition nicht gerecht: der von dem Oxforder Ethiker Jeff McMahan vertretenen Dualismus der Todesdefinitionen. McMahan hält es für unverzichtbar, den Todesbegriff in Alternativbegriffe aufzuspalten, einerseits den eines rein mentalen, andererseits den eines rein biologischen Todes. Beide Begriffe seien gleichberechtigt. Der biologische Tod ist so definiert, dass er in vielen Fällen nicht gleichzeitig mit dem mentalen Tod eintritt, sondern später, in einigen Fällen mit beträchtlichem zeitlichen Abstand. So sind auf dem Grabstein der berühmt gewordenen Wachkomapatientin Nancy Cruzan zwei Todeszeitpunkte eingetragen, die sich um sieben Jahre unterscheiden (vgl. McMahan 2002, 423). Während der biologische Tod mit dem irreversiblen Erlöschen wesentlicher Körperfunktionen wie Atmung und Kreislauf eintrete, trete der mentale Tod bereits mit dem irreversiblen Erlöschen der Bewusstseinsfähigkeit ein. Eine entsprechende Entsychronisierung folgt für den Begriff des Lebens: Das biologische Leben beginnt mit den ersten Teilungen der befruchteten Eizelle, während das mentale Leben erst mit dem Zeitpunkt beginnt, zu dem der Fötus die Fähigkeit zu ersten Formen bewusster Empfindung erwirbt. Der Dualismus der Lebens- und Todesdefinitionen spiegelt in gewisser Weise den Dualismus der Erste-Person- und der Dritte-Person-Perspektive auf unser eigenes Leben und dessen Grenzen. Aus der egozentrischen Perspektive interessiert uns primär unser mentales Leben innerhalb seiner zeitlichen Erstreckung. Die physischen Vorgänge vor dem Zeitpunkt, zu dem unser Bewusstsein „erwacht“, und die leiblichen Vorgänge nach dem unumkehrbaren Erlöschen der Fähigkeit zu bewusstem Erleben interessieren uns allenfalls sekundär. Nur das mentale Leben und das mentale Sterben haben eine Chance, zu Gegenständen unseres unmittelbaren Erlebens zu werden. Was mit uns als Embryo geschehen ist und was mit unserem Körper nach dem Erlöschen der Bewusstseinsfähigkeit geschieht, liegt außerhalb unseres Erlebenshorizonts. Es ist allenfalls Gegen-
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stand eines mehr oder weniger abstrakten Wissens. Demgegenüber repräsentieren die biologischen Begriffe die Dritte-Person-Perspektive, den Blick auf den physischen Lebensprozess einschließlich der Phasen, in denen weder Bewusstsein noch Bewusstseinsfähigkeit vorliegen. Aus dieser Perspektive beginnt das Leben mit den ersten Regungen der Selbstorganisation des frühen Embryos und endet mit den letzten Regungen der Selbstorganisation im Körper des Gestorbenen – Prozesse, die dem jeweiligen Subjekt phänomenal und teilweise sogar gänzlich epistemisch unzugänglich sind. Was sich vor und nach seinem mentalen Leben in seinem Körper abspielt, ist für ihn nicht erlebbar und nur in engen Grenzen erkennbar. Diese Entsprechung zur Dualität der Perspektiven auf Leben und Tod verleiht der Konzeption eines Dualismus der Lebens- und Todesbegriffe eine gewisse Anfangsplausibilität. Ich sehe allerdings für diese Auffassung neben dem Problem, dass es dem Kriterium der Eindeutigkeit zuwiderläuft, noch zwei weitere, eng miteinander verknüpfte Probleme. Das erste ist die Gleichberechtigung von mentaler und biologischer Definition von Leben und Tod. Diese steht in einem Missverhältnis zur Einseitigkeit der Abhängigkeit des Psychischen von seiner physischen Basis. Die Existenz des Geistes ist ontologisch von der Existenz eines biologischen Organismus abhängig. Der Körper kann existieren, ohne eine Bewusstseinsaktivität aufzuweisen, aber das Bewusstsein kann nicht existieren ohne ein physisches Substrat. Das gilt für die Existenz des Psychischen insgesamt wie auch für jedes einzelne psychische Vorkommnis. Wir kennen keine psychischen Phänomene, die unabhängig von einem körperlichen Substrat auftreten. Das mentale Leben und der mentale Tod sind abhängig von ihren biologischen Entsprechungen, während diese ihrerseits von ihren mentalen Entsprechungen unabhängig sind. Für die Einseitigkeit dieser Abhängigkeit sprechen auch die zeitlichen Dimensionen. Zeitlich ist das mentale Leben eingebettet in die Spanne des biologischen Lebens. Es beginnt beim Menschen erst nach einer mehrere Monate dauernden embryonalen und fötalen Entwicklungsphase, und es endet Sekunden bis Jahre vor dem biologischen Tod. Lebte der Mensch tatsächlich während der Spanne seines bewussten Lebens in der Form eines „embodied mind“, wie ihn McMahan (2002, 66 f.) nennt, sollte es Anzeichen dafür geben, dass er auch unverkörpert, als reiner Geist leben kann. Solche Anzeichen finden sich jedoch nicht. Die einseitige Abhängigkeit des Geistigen vom Körperlichen ist ein starker Grund, einer biologischen Lebens- und Todesdefinition den Primat zuzuerkennen. Das zweite Problem ist der dispositionale Charakter der Bewusstseinsfähigkeit. Falls man überhaupt dem Begriff eines mentalen Lebens und Todes etwas abgewinnen kann, wird man den Begriff des mentalen Lebens so fassen wollen, dass er neben den Phasen, in denen der Mensch Bewusstseinszustände oder
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-tätigkeiten aufweist, auch diejenigen umfasst, in denen das Bewusstsein inaktiv ist, ohne dass die Bewusstseinsfähigkeit vermindert ist, d. h. Phasen des traumlosen Schlafs, der Narkose oder der Ohnmacht. Würde das mentale Leben diese Phasen nicht einschließen, wäre es nicht nur beträchtlich kürzer als das, was wir üblicherweise zur Lebenszeit rechnen, es wäre auch immerfort durch Phasen der Nicht-Existenz durchbrochen. Diese Schwierigkeit muss Descartes, einer der Hauptvertreter des Substanzdualismus, bereits gesehen haben. Andernfalls hätte er nicht ohne weitere Begründung – und unrealistischerweise – postuliert, dass „l’âme pense toujours“, dass „die Seele immer bewusst sei“ (Descartes 1969, III, 478). Wie sollte eine Seele auch anders als kontinuierlich existieren, solange sie als eigenständige Substanz gedacht wird? Aber diese Sicht wird den Phänomenen in keiner Weise gerecht. Das Bewusstsein ist genau deshalb eher als ein Phänomen zu verstehen denn als eine Substanz, weil es anders als der Körper zeitlich nicht kontinuierlich existiert. Beim Einschlafen vergeht das Bewusstsein wie ein vorübergehender Schmerzreiz. Es hat eher die Natur eines zeitlich kommenden und gehenden Naturphänomens (wie des Regenbogens) als die eines kontinuierlich existierenden Dings (etwa eines Steins). Akzeptabel scheint die Konzeption eines mentalen Lebens und eines entsprechenden mentalen Todes nur dann, wenn wir statt vom faktischen Bewusstsein von der Bewusstseinsfähigkeit ausgehen und das mentale Leben mit dem Beginn der Bewusstseinsfähigkeit anfangen und mit dem irreversiblen Verlust der Bewusstseinsfähigkeit enden lassen. Bewusstseinsfähigkeit als Disposition bedarf jedoch einer Basis. Dispositionen existieren – außer vielleicht im Bereich der Mikrophysik – nicht an sich, sondern als Eigenschaft von etwas. Angesichts der Abhängigkeit des Mentalen vom Physischen kann dieses nur der Körper sein. Bewusstseinsfähigkeit ist keine Eigenschaft einer für sich genommen körperlosen Seele, die mehr oder weniger zufällig biologisch verkörpert ist, sondern eine Eigenschaft komplexer Lebewesen, die mit dem Gehirn ein Organ entwickelt haben, das als Substrat der Bewusstseinsfähigkeit fungiert und von dessen Funktionsweise es abhängt, wie weit sich die Bewusstseinsfähigkeit in Bewusstseinszuständen und -tätigkeiten realisiert. Beide Probleme lassen einen Dualismus der Todesdefinition auch unabhängig von den Bedenken, die aufgrund der mangelnden Einheitlichkeit bestehen, wenig akzeptabel erscheinen.
2.4.2 Eindeutigkeit „Eindeutigkeit“ ist eher eine Norm für Kriterien als für Definitionen. Eine Definition muss nicht eo ipso so weit in der Praxis anwendbar sein, dass sie ein siche-
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2 Wann ist ein Mensch tot? Todesdefinition und Todeskriterien
res Urteil darüber erlaubt, ob sie erfüllt ist oder nicht. In einer Vielzahl der Fälle übernehmen Kriterien diese Aufgabe. So wird die Reife eines Menschen, die es rechtfertigt, ihn rechtsgültige Transaktionen vornehmen zu lassen, durch das Kriterium der Geschäftsfähigkeit vereindeutigt, die Fähigkeit, rechtsgültig und ohne Zustimmung eines andern eine medizinische Behandlung abzulehnen, durch das Kriterium der Einwilligungsfähigkeit. Das Kriterium stellt Eindeutigkeit her, wo auf der Ebene der Definitionen ein Kontinuum vorliegt oder ein Begriff unscharfe Ränder und andere Unbestimmtheiten aufweist, die in der Praxis ein Übermaß an Interpretation verlangen oder zu unproduktivem Streit Anlass geben. Eindeutigkeit auf der Ebene der Kriterien setzt allerdings Eindeutigkeit auf der Ebene der Begriffe voraus. Um Definitionen Kriterien zuzuordnen, die Eindeutigkeit herstellen, muss zuvor bereits auf der Ebene der Begriffe Eindeutigkeit herrschen. Damit erfüllen alle jene Konzeptionen diese Bedingung nicht, die bereits auf der Ebene der Definition Uneindeutigkeiten zulassen. Eine dieser Konzeptionen ist die des amerikanischen Ethikers Baruch Brody, der vorschlägt, auf eine Todesdefinition gänzlich zu verzichten. Motiviert ist dieser Vorschlag einerseits von der Diversität der kulturell geprägten Todesverständnisse, andererseits von der Unbestimmtheit der Begriffsgrenzen. Der Todesbegriff sei zu fuzzy, um die Suche nach einer eindeutigen Grenze zwischen Leben und Tod sinnvoll erscheinen zu lassen (vgl. Brody 2002, 72). Innerhalb des Kontinuums von Zuständen zwischen dem, in dem ein Mensch unbezweifelbar lebt, und dem, in dem er unbezweifelbar tot ist, sei jede Grenzziehung gleichermaßen willkürlich. Diese Folgerung wäre akzeptabel, wenn sie auf eine Definition zielte, die den Anspruch erhebt, die Semantik eines irgendwie gebräuchlichen Todesbegriffs mit maximaler Adäquatheit abzubilden. Ein derartiges Projekt ist angesichts der Diversität und Offenheit der verschiedenen Todesverständnisse undurchführbar. Solange es allerdings um eine Explikation geht, die auf den Adäquatheitsanspruch verzichtet und sich statt an einem irgendwie vorgegebenen Begriffsverständnis an einer Reihe von teils semantischen teils pragmatischen Kriterien orientiert, erscheint sie zumindest voreilig. Die Tatsache der kulturellen Vielfalt der Todesverständnisse zwingt als solche nicht zu einem unauflösbaren Relativismus. Sie schließt nicht aus, dass es gute und überkulturell einsichtige Gründe gibt, bestimmte Grenzziehungen vor anderen zu bevorzugen. Selbst dann, wenn es kaum möglich sein sollte, eine einzige Todesdefinition für schlechthin verbindlich zu erklären, könnte es dennoch gelingen, zumindest bestimmte Kandidaten für diese Rolle auszuschließen. Auch eine Konzeption, die es zulässt, von einem dritten Zustand neben Leben und Tod zu sprechen oder von einem Zwischenzustand zwischen Leben und Tod, würde dem pragmatischen Kriterium der Eindeutigkeit nicht gerecht.
2.4 Pragmatische Kriterien
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Zugestanden: Von einer „Grauzone“ zwischen Leben und Tod auszugehen, liegt in einigen Fällen nahe, etwa dann, wenn ein menschlicher Organismus keine Lebensfunktionen aufweist, aber im Prinzip wiederbelebt werden könnte, etwa die Verstorbenen, die sich im Sinne des Ganzkörper-Freezing tiefgefrieren lassen. Auch das „Schweben“ eines Hirntoten zwischen Leben und Tod wird gelegentlich einem „dritten“ Bereich zugewiesen (vgl. Stoecker 2010, XLV ff.). Aber wie immer naheliegend es ist, einen solchen „dritten“ Zustand zu postulieren, wir sollten dieser Versuchung aus Gründen der Eindeutigkeit widerstehen. Wir sollten uns nicht darauf einlassen, geläufige Redeweisen wie die, dass der Hirntote zwar nicht mehr lebendig, aber auch noch nicht „vollständig“ oder „eigentlich“ tot sei, in die Explikation des Todesbegriffs zu übernehmen.
2.4.3 Ermöglichung der Organentnahme vom Hirntoten Ein drittes pragmatisches Kriterium betrifft die ethische Seite der gesuchten Explikation. Die Grenze zwischen Leben und Tod sollte so bestimmt werden, dass sie mit ethischen Gesichtspunkten nicht in Konflikt kommt. Selbstverständlich sind diese Gesichtspunkte nicht die allein ausschlaggebenden. Die gesuchte Explikation sollte nicht nur von einem einzigen Kriterium geleitet sein, sondern der Gesamtheit der semantischen und pragmatischen Kriterien gerecht werden. Aber ohne die ethische Dimension wäre das Bild der Anforderungen an den Todesbegriff unvollständig. Damit sind die praktischen Konsequenzen der Zugrundelegung einer bestimmten Todesdefinition angesprochen. Im Fall der Todesdefinition betreffen diese insbesondere zwei in der Medizin verbreitete Verfahrensweisen: die Praxis der Entnahme transplantierbarer Organe vom Hirntoten und die Praxis der Entnahme transplantierbarer Organe kurze Zeit nach Eintritt des Herz-KreislaufTodes (non-heart-beating donor, NHBD bzw. donation after cardiac death, DCD). Die erste Praxis gilt in allen Rechtssystemen der Welt als zulässig, solange eine lege artis durchgeführte Hirntoddiagnostik durchgeführt worden ist, die die Irreversibilität des Ausfalls sämtlicher Hirnfunktionen (bzw. sämtlicher Funktionen des Stammhirns) nachweist. Die zweite Praxis ist nicht in allen Ländern zulässig (so z. B. nicht in Deutschland), vor allem wegen Zweifel an der Zuverlässigkeit der in diesem Fall vorgenommenen Todesdiagnose. Nach Meinung der Skeptiker ist eine Todesdiagnose ohne Anwendung der Hirntoddiagnostik (wie in den USA) bzw. aufgrund einer lediglich einmalig durchgeführten Hirntoddiagnostik (wie in der Schweiz) nicht hinreichend sicher, um die Erfülltheit der zugrundeliegenden Todesdefinition anzuzeigen.
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2 Wann ist ein Mensch tot? Todesdefinition und Todeskriterien
Die Praxis der Entnahme von Organen vom Hirntoten hat ernstzunehmende Schattenseiten. Dazu gehört vor allem die Zumutung, die es für Ärzte, Pflegende und Nahestehende bedeutet, den Konflikt auszuhalten zwischen dem Wissen, dass der Hirntote in der Zeitspanne zwischen Eintritt des Funktionsausfalls des Gehirns und Explantation über kein mentales Leben mehr verfügt und seine biologischen Funktionen vollständig von der künstlichen Beatmung abhängen, und dem sich zwangsläufig aufdrängenden Eindruck eines Menschen, dessen Lebensäußerungen sich von denen eines Schwerkranken nicht unterscheiden. Wissenschaftlich-objektivierende Einsicht und lebensweltlich-subjektive Wahrnehmung gehen radikal auseinander. Gleichzeitig können beide Praktiken nicht anders denn als ethisch hochgradig wünschenswert gelten. Ohne die Anwendung des Hirntodkriteriums bei Organentnahmen vom Hirntoten wären Hunderttausende von Schwerkranken nicht in den Genuss eines transplantierten Organs gekommen. Sie wären auf der Warteliste gestorben oder hätten empfindliche Einbußen an Lebensqualität hinnehmen müssen. Beträchtlich ist auch der ethische Gewinn durch die Einführung des Verfahrens der Entnahme vom Organen vom Herz-Kreislauf-Toten. So weist die Schweiz, die dieses Verfahren 2011 eingeführt hat, bis 2013 ein konstant steigendes Organaufkommen auf (Swisstransplant 2013). Im Jahr 2015 sind in der Schweiz von insgesamt 143 Organspenden post mortem 16 Organspenden nach dem non-heart-beating donor-Verfahren vorgenommen worden (Swisstransplant 2015). Solange es möglich ist, sie durch ein entsprechendes Todeskriterium abzusichern, kann dies ein Gesichtspunkt sein, beide Verfahren durch eine geeignete definitorische Festlegung der Grenze zwischen Leben und Tod zu unterfüttern. Sollte sich dieser Weg als gangbar erweisen, wäre damit ein erhebliches Konfliktpotenzial aus der Welt geschafft. Ein Todesverständnis, nach dem der Hirntod zu Recht als Kriterium für den „Tod des Menschen“ dienen könnte, würde zudem die in der Transplantation weithin vertretene so genannte dead donor-rule unangetastet lassen, nach der post mortem entnommene Organe nur vom Toten und nicht vom Lebenden oder Sterbenden entnommen werden sollten. Die ethische Forderung, den Todesbegriff so zu explizieren, dass die insgesamt wohltätige Praxis der Organtransplantation post mortem nicht beeinträchtigt wird, zielt darauf, den Tod so zu definieren, dass er nicht „zu spät“ eintritt, um diese Praxis auszuschließen. Eine andere und ebenso berechtigte ethische Forderung zielt in die umgekehrte Richtung: dass der Tod so definiert wird, dass er nicht „zu früh“ eintritt, d. h. früher als es den Wünschen und Vorstellungen des einzelnen Menschen entspricht. Der Einzelne möchte die Gewissheit haben, dass er nicht „für tot erklärt wird“, in einem Zustand, den er nicht bereit oder fähig ist, als Zustand des Todes zu akzeptieren. Vor allem möchte er ausschließen – was viele befürchten –, dass er aufgrund eines bestimmten in der medi-
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zinischen Fachwelt geltenden Todeskriteriums (wie dem Hirntodkriterium) in einem Zustand für tot gehalten wird – oder sogar im Rechtssinn als tot gilt –, in dem seine Bewusstseinsfunktionen noch nicht vollständig verloren gegangen sind und er möglicherweise von einem chirurgischen Eingriff wie einer Organentnahme noch etwas „mitbekommt“.
2.5 Drei Explikationen des Todesbegriffs in der Diskussion Bei aller Vielzahl und Verschiedenheit der Vorschläge für eine akzeptable Explikation des Todesbegriffs findet sich keine Explikation, die sämtliche der geforderten semantischen und pragmatischen Desiderate erfüllt. Eine Patentlösung ist nicht zu haben, an einer Abwägung führt kein Weg vorbei. Damit ergibt sich eine neue Quelle von Unsicherheit. Es muss geklärt werden, mit welchem Gewicht die Erfüllung und Nicht-Erfüllung der genannten Desiderate in die Beurteilung der Akzeptabilität einer der möglichen Explikationen eingeht. Ausgeschlossen haben wir bisher lediglich einen einzigen und radikalen Definitionsvorschlag: die Bestimmung des Tods durch den irreversiblen Ausfall der Bewusstseinsfunktionen. Auch wenn diese Explikation von einer ganzen Reihe prominenter Medizinethiker vertreten worden ist (vgl. den Sammelband von Zaner 1988), entfernt sich dieser Vorschlag zu weit sowohl von den biologischen Begriffen von Leben und Tod als auch von den kulturell geprägten Vorstellungen, um ernsthaft in Frage zu kommen.2 Der erste ernsthaft zu berücksichtigende Vorschlag einer Todesdefinition ist diejenige, die sich primär am Kriterium der Biologizität orientiert und den irreversiblen Ausfall der wesentlichen Körperfunktionen, d. h. Atmung und Blutkreislauf zu notwendigen und hinreichenden Bedingung des Todeseintritts macht. Dieser Vorschlag schließt am konsequentesten an das herkömmliche Todesverständnis an und findet auch in Zeiten, in denen die einzelnen Todesmerkmale zeitlich dissoziiert vorkommen können, in der Praxis Anwendung. Seiner vorherrschenden Interpretation nach endet das Leben danach zwar nicht wortwörtlich „mit dem letzten Atemzug“, aber doch mit dem „irreversibel letzten Atemzug“, d. h. mit dem Ende der Fähigkeit, weitere Atemzüge zu tun. Auch nach dem de facto letzten Atemzug kann die Fähigkeit weiterbestehen, diese jedoch – etwa durch den Verzicht auf Reanimation – unrealisiert bleiben. Die Todeskriterien, die diesem Definitionsvorschlag entsprechen, sind einerseits die frühen sogenannten „sicheren Todeszeichen“, insbesondere Totenflecken und Totenstarre, andererseits – im Kontext der Organentnahme von non-heart-beating donor – diejenige Zeitspanne nach dem Ausfall von Atmung und Herzschlag, nach der erfahrungsgemäß eine spontane Wiederaufnahme von Atmung und Herzschlag ausgeschlossen werden
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kann. Da mit dem Erlöschen des Kreislaufs das Gehirn nicht mehr durchblutet wird, zeigen beide Todeskriterien zugleich auch den irreversiblen Verlust der Bewusstseinsfähigkeit an. Folgte man diesem Vorschlag, würde man sowohl den beiden semantischen als auch einem Teil der pragmatischen Kriterien gerecht. Nicht nur das semantische Kriterium der Biologizität, auch das der Symmetrie wäre erfüllt. Zwischen pränatalem und hirntotem Leben bestünde Parallelität. Wie der Fötus würde auch der Hirntote als lebend gelten. Der Fötus lebt, weil er, bei aller Unterstützung, die er durch den Uterus erhält, Atmung und Herzschlag aufweist. Der Hirntote lebt, weil auf ihn dasselbe zutrifft, solange die die Atem- und Kreislauftätigkeit aufrechterhaltenden Maschinen nicht abgestellt sind. Problematischer wäre die Situation bei den Kriterien der Eindeutigkeit und der Vereinbarkeit mit der Praxis der Organentnahme. Während die so genannten „sicheren Todeszeichen“ in der Tat sicherer nicht sein können, zeigen die unterschiedlichen vorgeschriebenen Wartezeiten zwischen Ausfall von Atmung und Kreislauf und Organentnahme in den Ländern, in denen die Organentnahme vom non-heart-beating donor zulässig ist, dass über den Zeitpunkt, zu dem der Tod sicher eingetreten ist, keine vollständige Sicherheit besteht. Vor allem aber ist von Bedeutung, dass damit, dass der Tod nach dieser Definition erst nach dem Erlöschen der wesentlichen Körperfunktionen eintritt, die Entnahme von Organen beim Hirntoten als Entnahme vom Lebenden (wenn auch irreversibel Sterbenden) gelten muss. Es wäre nicht möglich, die herrschende Praxis der Organentnahme aufrechtzuerhalten, ohne die dead donor rule zu verletzen. Die Folgen wären ethisch gravierend. Nicht von der Hand zu weisen ist die Befürchtung, dass mit der Durchbrechung dieser Regel die Praxis der Organentnahme entscheidenden Schaden nehmen würde, auf Seiten der potenziellen Organspender wie auf Seiten der die Organe entnehmenden Ärzte. Der zweite Vorschlag orientiert sich ebenfalls primär am Kriterium der Biologizität, bestimmt den Tod jedoch nicht als das irreversible Erlöschen der wesentlichen Körperfunktionen Atmung und Kreislauf, sondern als das irreversible Erlöschen der zentralen Steuerung dieser und anderer Körperfunktionen, insoweit sie den Organismus als Ganzen betreffen. Danach ist für die Grenzziehung zwischen Leben und Tod nicht das Funktionieren von Atmung, Kreislauf und anderen für das Leben charakteristischen und den ganzen Körper betreffenden Mechanismen bestimmend, sondern deren Steuerung. Soweit diese Steuerung durch das Gehirn erfolgt, entspricht dieser Todesdefinition das Todeskriterium des irreversiblen Funktionsausfalls des Gehirns und damit das weltweit am häufigsten als Todeskriterium rechtlich zugrunde gelegte Ganzhirntodkriterium. Dieser Definitionsvorschlag erfüllt eine Reihe der oben aufgeführten semantischen und pragmatischen Kriterien, die der erste nicht erfüllt. Unter ethischen
2.5 Drei Explikationen des Todesbegriffs in der Diskussion
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Gesichtspunkten gilt als sein Hauptvorzug seine Vereinbarkeit mit dem Hirntodkriterium: Da Atmung und Kreislauf nicht mehr durch das Stammhirn, sondern durch körperexterne Geräte gesteuert werden, gilt der Hirntote nach diesem Vorschlag als tot ab dem Zeitpunkt, zu dem seine Hirnfunktionen irreversibel ausgefallen sind. Eine in dieser Phase erfolgende Organentnahme genügt damit der dead donor rule. Fraglich ist allerdings, wie weit es auch die Kriterien der Symmetrie zum pränatalen Leben erfüllt. Auf den Fötus erscheint die Begrifflichkeit von zentraler Steuerung nicht sinnvoll anwendbar. Fraglich ist darüber hinaus, wie weit die in den herkömmlichen Begründungen des Hirntodkriteriums vorgenommene Verknüpfung dieser Todesdefinition mit dem Hirntodkriterium gerechtfertigt werden kann. Wenn die zentralen und den Organismus als ganzen betreffenden Steuerungsfunktionen für Leben und Tod den Ausschlag geben sollen, fragt sich, wie weit diese ausschließlich im Gehirn und nicht auch in weiteren Regelkreisläufen des Organismus angesiedelt sind. In diesem Punkt haben vor allem die bis heute unwiderlegten Thesen des amerikanischen Neurologen Alan Shewmon für Aufsehen gesorgt. Shewmon hat zwei eng miteinander verwandte Thesen aufgestellt, die beide gegen die Auffassung von der Bedeutung des Gehirns als zentrale Steuerung der Körperfunktionen gerichtet sind. Die erste lautet, dass eine große Zahl von körperlichen Funktionen, die den gesamten Organismus betreffen, nicht vom Gehirn vermittelt werden (vgl. Shewmon 2001). Eine Vielzahl von Regelungskreisen außerhalb des Gehirns sei imstande, auch ohne die Mitwirkung des Gehirns wesentliche Körperfunktionen aufrechtzuerhalten, darunter viele homöostatische Regelkreise, die Assimilation von Nährstoffen, die Elimination von Zellabfallprodukten, die Aufrechterhaltung der Körpertemperatur, die Wundheilung, die Abwehr von Infektionen, kardiovaskuläre und hormonale Stressreaktionen auf Schnitte an der Haut und nicht zuletzt, wie die so genannten Hirntodschwangerschaften gezeigt haben, das erfolgreiche Heranreifen eines Fötus. Die zweite These lautet, dass die meisten vom Gehirn vermittelten integrativen Funktionen ihrerseits von somatischen Integrationsmechanismen außerhalb des Gehirns abhängen. Shewmon behauptet, dass das Gehirn weniger als „zentrales Steuerorgan“ denn „als Modulator, Feinabstimmer, Optimierer, Verstärker und Schützer einer implizit bereits existierenden, intrinsisch vermittelten somatischen Einheit“ fungiert (Shewmon 2002, 311). Das hieße nicht weniger, als dass für die zweite biologische Definition keine grundlegend anderen Todeskriterien in Frage kommen als für die erste. Erst aus dem irreversiblen Verlust der das Ganze des Körpers betreffenden Körperfunktionen könnte auf das irreversible Erlöschen der sie steuernden Regelungsmechanismen geschlossen werden. Der dritte Vorschlag kommt dem von Rechts wegen geltenden Hirntodkriterium sehr viel stärker entgegen. Indem er den vom zweiten Vorschlag einge-
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führten Begriff der Steuerung wesentlicher Körperfunktionen um eine weitere Komponente ergänzt, verstärkt er die Bedingungen für die Lebendigkeit eines Menschen und schwächt die Bedingungen für die Todesdefinition. Diese zusätzliche Bedingung ist, dass ein Mensch (und entsprechend jedes Wirbeltier) nicht erst dann tot ist, wenn die Steuerung seiner wesentlichen Körperfunktion irreversibel ausgefallen ist, sondern bereits dann, wenn diese Körperfunktion zwar weiterhin gesteuert werden, aber nicht mehr von ihm selbst. „Nicht von ihm selbst gesteuert“ wird dabei in diesem Zusammenhang so verstanden, dass das Leben nur mit „künstlichen“ Hilfsmitteln aufrechterhalten wird, durch eine von außen kommende und sich „künstlicher“ Mittel bedienenden Intervention. Die dem Vorschlag zugrundeliegende Überlegung lautet, dass ein Mensch nur so lange lebt, als sein Organismus fähig ist, seine Lebensfunktionen von sich aus – autonom und eigenständig – aufrechtzuerhalten; sobald sein Organismus diese Fähigkeit irreversibel eingebüßt hat, ist er tot. Im Jahr 2008 hat der vom amerikanischen Präsidenten George W. Bush eingesetzte President’s Council of Bioethics den Versuch unternommen, eine Todesdefinition auf dieser gedanklichen Linie auszuarbeiten. Das Ergebnis dieses Versuchs wurde nicht einstimmig, aber doch von der Mehrheit seiner Mitglieder gebilligt. Motiviert war der Versuch von der Überzeugung, dass mit den Argumenten von Shewmon die begriffliche Basis für das Hirntodkriterium allzu brüchig geworden war, um dieses Kriterium tragen zu können. Die Mehrheit der Mitglieder des President’s Council reagierte auf Shewmons Angriff nicht (wie man es hätte erwarten können) mit einer direkten Verteidigung des Hirntodkonzepts, sondern mit einer indirekten Verteidigung, nämlich mit einer Neufassung der Todesdefinition. Offenbar war die Mehrheit der Mitglieder durch Shewmons Argumente so beeindruckt, dass sie die Chancen einer direkten Verteidigung der Gleichsetzung des Todes mit dem irreversiblen Verlust der integrativen Funktionen des Gehirns als gering einschätzte. Um das Hirntodkriterium als Todeskriterium zu „retten“, schien dem Council einzig der Weg einer Neudefinition des Todes offen. Diesen Weg beschritt er mutig – aber auch leichtfertig. Denn wie sich in der kritischen Diskussion zeigte, muss es als fraglich gelten, ob dieser Definitionsvorschlag sein Ziel erreicht. Einerseits ist fraglich, ob er tatsächlich, wie die Mehrheit des Council behauptet, imstande ist, dem Hirntodkriterium als Fundierung zu dienen. Andererseits wirft er seinerseits eine Reihe von Fragen auf.3 Der Definitionsvorschlag des President’s Council lautet, dass der Tod des Menschen dann eingetreten ist, wenn der Körper als Ganzes irreversibel aufgehört hat, seine Aufgabe oder Funktion zu erfüllen. Diese Aufgabe sei die der Selbsterhaltung mittels des bedürfnisgetriebenen Austauschs des Organismus mit der ihn umgebenden Welt. Für die Bewältigung dieser Aufgabe sollen drei Bedingungen wesentlich sein. Solange auch nur eine dieser Bedingungen erfüllt
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ist, lebt ein Mensch. Erst wenn keine dieser Bedingungen (mehr) erfüllt ist, ist ein Mensch tot: 1. Offenheit gegenüber der Welt, das heißt Empfänglichkeit des Organismus für Reize und Signale aus der Umgebung; 2. die Fähigkeit des Organismus, so auf die Welt einzuwirken, dass er aus der Welt bekommt, was er braucht; 3. der „gefühlte Drang“, der den Organismus dazu treibt, so zu agieren, wie erforderlich ist, um zu bekommen, was er braucht, wobei ihm seine Offenheit für die Welt signalisiert, wie weit dies in seiner Umwelt verfügbar ist. (President’s Council on Bioethics 2008, 61) Es leuchtet ein, dass jede einzelne der drei Bedingungen von vornherein nur als hinreichende und nicht auch als notwendige Bedingung für die Lebendigkeit eines Organismus gelten kann. So erfüllen etwa einige Menschen mit dem sogenannten Locked-in-Syndrom die zweite Bedingung der Fähigkeit zur Einwirkung auf die Umwelt nicht. Sie können vielfach nicht einmal über Augenbewegungen Kontakt mit der Welt aufnehmen, verfügen aber dennoch zugleich über ein weitgehend intaktes Bewusstseinsleben. Andererseits ist in einigen Fällen von Koma die „Offenheit gegenüber der Welt“ zumindest stark eingeschränkt. Auch wenn sie völlig verloren gegangen wäre und der Organismus auf keinerlei äußeren Reiz reagierte, wäre der Organismus damit nicht tot. Um zu sagen, dass ein Mensch tot ist, darf demnach keine der drei Bedingungen erfüllt sein. Genau deshalb ist jedoch fraglich, ob der Vorschlag des Council sein erklärtes Ziel erreicht, für das Hirntodkriterium eine tragfähige Fundierung bereitzustellen. Zumindest der ersten für das Leben formulierten hinreichenden Bedingungen wird nämlich auch der Organismus des Hirntoten gerecht. Die Tatsache, dass ein Hirntoter auf die Zufuhr von Sauerstoff mit Aufnahme der Atmung, des Herzschlags, des Blutkreislaufs und in deren Folge mit vielen weiteren Funktionen wie Verdauung, Temperaturregulierung und Wundheilung reagiert, zeigt jedenfalls, dass er seine Empfänglichkeit für aus der Umwelt kommende Reize mit Eintritt des Hirntods keineswegs verloren hat geschweige denn irreversibel verloren hat (vgl. Miller/Truog 2009, 189). Hätte er diese Fähigkeit irreversibel verloren, würde er auf die künstliche Beatmung gar nicht mehr ansprechen. Er würde auch nicht mehr die Reflexe zeigen können, die über Teile des Zentralnervensystems außerhalb des Gehirns verschaltet sind und die beim Hirntoten erhalten bleiben. Nur ohne diese Fähigkeit könnte er nach dem Definitionsvorschlag des Council als tot gelten. Darüber hinaus muss der Definitionsvorschlag des Council aufgrund zweier weiterer Eigentümlichkeiten als problematisch gelten. Die erste ist, dass dieser Vorschlag Leben und Tod nicht auf die Aufrechterhaltung der internen Funkti-
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onen des Organismus bezieht, sondern auf seine Interaktion mit der Umwelt. Leben und Tod werden vom Council nicht als attributive, sondern als relationale Begriffe aufgefasst. Zwar wird die Lebendigkeit eines Organismus weiterhin in den Funktionen des Organismus verortet. Aber die für das Leben konstitutiven Funktionen sind keine internen, sondern auf die Umwelt gerichtete Funktionen, Formen der Interaktion zwischen Organismus und Umwelt. Dadurch lädt er sich unnötige Schwierigkeiten auf. Gerade in seinen Interaktionen mit der Umwelt unterscheidet sich der Organismus des Hirntoten nicht wesentlich von dem Organismus vieler Patienten, die unter schweren Krankheiten leiden, aber zweifellos am Leben sind, zum Beispiel Wachkomapatienten oder anenzephale Neugeborene. Die zweite Eigentümlichkeit des Vorschlags des Council ist, dass er sich einer ausgeprägt metaphorischen Sprache bedient, was vermeidbare Unklarheiten bedingt.4 Was soll es zum Beispiel heißen, dass Leben unter anderem bedeutet, dass ein Organismus einen „Drang fühlt“, sich bestimmte Dinge aus seiner Umwelt zu beschaffen, einen Drang, der ihn dazu bringt, dies tatsächlich zu tun – so als hätte ein Organismus bewusste Bedürfnisse. Auf den Organismus werden Redeweisen angewendet, für die unklar ist, was sie bedeuten, wenn sie auf einen bewusstseinsunfähigen Organismus angewendet werden. Nur ein bewusstseinsfähiges Wesen kann wortwörtlich einen „Drang“ verspüren. Nur ein bewusstseinsfähiges Wesen kann überhaupt etwas spüren. Offensichtlich soll das in diesem Kriterium genannte Merkmal jedoch auch dann zutreffen können, wenn ein Mensch das Bewusstsein irreversibel verloren hat. Daraus kann man immerhin den Schluss ziehen, dass mit der „Offenheit“, von der in der ersten und letzten Bedingung die Rede ist, nicht eine wie immer geartete sensorische oder durch Wahrnehmungen vermittelte Offenheit für die Welt gemeint sein kann, sondern lediglich die Fähigkeit zu einer wie immer gearteten kausalen Interaktion. Diese Kritik bedeutet wohlgemerkt keine Grundsatzkritik an der Idee des Council, den Tod des Menschen durch den irreversiblen Verlust der Fähigkeit des Körpers zur autonomen Steuerung der Körperfunktionen zu bestimmen. Sie benennt lediglich Unvollkommenheiten in der Art und Weise, wie diese Idee im Weißbuch ausformuliert ist. Als Vorschlag möchte ich deshalb eine revidierte dritte Konzeption zur Diskussion stellen, die die Grundidee des Council aufgreift, ihr aber eine andere und möglicherweise erfolgversprechendere Wendung gibt. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Unterscheidung zwischen einem Organismus, der fähig ist, Körperfunktionen wie Atmung und Kreislauf eigenständig aufrechtzuerhalten, und einem Organismus, der dazu unfähig ist und bei dem die Körperfunktionen lediglich mit organismusfremden und insbesondere „künstlichen“ Mitteln aufrechterhalten werden können. Dabei ist es gleichgültig,
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ob diese räumlich von außerhalb oder von innerhalb der Körpergrenzen auf den Organismus einwirken. Es macht also keinen Unterschied, ob die Körperfunktionen bei einem Patienten, dessen Organismus die Fähigkeit irreversibel verloren hat, diese eigenständig aufrechtzuerhalten, durch ein Beatmungsgerät außerhalb seines Körpers aufrechterhalten werden oder durch ein in seinen Körper implantiertes Aggregat mit derselben Funktion. Das Mittel dazu braucht – was der Ausdruck „künstlich“ freilich nahelegt – auch keine Maschine oder Apparatur zu sein und nicht einmal ein anderweitiges Produkt menschlicher Kunst, etwa ein bestimmtes Arzneimittel, sondern kann auch ein natürlich vorkommendes, aber dem Organismus fremdes Mittel sein, das dasselbe bewirkt. Entscheidend ist lediglich, dass es nicht aus dem Organismus selbst stammt, sondern ihm von außen zugeführt wird. Um absurde Konsequenzen auszuschließen, ist diese Bedingung allerdings ergänzungsbedürftig. Hinzukommen muss eine Bedingung, die ihrerseits die Anwendung der ersten Bedingung begrenzt: Die erste Bedingung darf nur zur Anwendung kommen, soweit der betreffende Mensch die Fähigkeit zu allen Formen von Bewusstsein irreversibel verloren hat. Andernfalls hätte dieser Vorschlag die Konsequenz, dass Menschen, deren Lebensfunktionen von einem Beatmungsgerät oder einem Herzschrittmacher abhängen, „eigentlich“ bereits tot sind. Es ist wichtig zu sehen, in welchen Hinsichten sich dieser revidierte dritte Vorschlag sowohl von den beiden vorangegangen als auch von dem Vorschlag des President’s Council unterscheidet. Die entscheidende Differenz zum ersten Vorschlag besteht darin, dass dieser Vorschlag zwar ebenfalls die Lebensfunktionen (und nicht die Steuerung der Lebensfunktionen) in den Mittelpunkt stellt. Aber anders als dieser bezieht er sich nicht primär auf die Lebensfunktionen selbst, sondern auf deren kausale Quellen. Während es für den ersten Vorschlag gleichgültig ist, ob die Körperfunktionen, deren irreversibles Erlöschen den Tod markieren, eigenständig (vom Organismus des Sterbenden selbst) oder künstlich aufrechterhalten werden, ist dies für die hier vorgeschlagene Konzeption ausschlaggebend, wenn auch nur unter der Bedingung, dass die Bewusstseinsfunktionen ebenfalls irreversibel erloschen sind. Danach gilt der Organismus eines durch ein Beatmungsgerät beatmeten Hirntoten als tot, wenn der Patient die Fähigkeit zu einem bewussten Erleben irreversibel verloren hat, während er dem ersten Vorschlag zufolge solange lebt, wie Atmung und Kreislauf durch einen körperfremden Mechanismus aufrechterhalten werden. Sein Leben geht erst dann zu Ende, wenn das Gerät abgestellt wird, das diese Funktionen bis dahin künstlich aufrechterhalten hat. Vom zweiten Vorschlag unterscheidet sich der dritte dadurch, dass er wiederum nicht auf das Funktionieren der für die Körperfunktionen maßgeblichen
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zentralen Steuerungsmechanismen Bezug nimmt, sondern auf deren kausale Hintergründe. Leben und Tod unterscheiden sich nicht dadurch, dass im ersten Fall diese Steuerungsmechanismen funktionieren und ihre Funktion im zweiten irreversibel eingebüßt haben, sondern dadurch, dass diese Steuerungsmechanismen im ersten Fall eigenständig und „aus eigener Kraft“ funktionieren und im zweiten nur mit fremder Unterstützung. Eine künstliche Stammhirnprothese, die die Steuerungsfunktion des Stammhirns bei einem Menschen aufrechterhält, dessen übrige Hirnfunktionen – und damit dessen Bewusstseinsfähigkeit – irreversibel ausgefallen sind, wäre danach ebenso ungeeignet, das Leben eines Menschen aufrechtzuerhalten wie ein körperfremdes Mittel zur Aufrechterhaltung anderweitiger somatischer Funktionen. Von dem Vorschlag des President’s Council setzt sich dieser Vorschlag schließlich dadurch ab, dass er das Leben an sehr viel schwächere und den Tod an sehr viel stärkere Voraussetzungen knüpft. Nach dem Vorschlag des President’s Council ist es für das Leben notwendig, dass der Organismus mit seiner Umwelt in ein irgendwie geartetes Kommunikations- oder Interaktionsverhältnis tritt (oder den Drang dazu empfindet). Dem revidierten Vorschlag zufolge ist dies für das Leben weder notwendig noch hinreichend, solange sich dieses – wie bei den Reflexen des Hirntoten – einer künstlichen, nicht vom Organismus selbst ausgehenden Quelle verdankt. Analoges gilt für die Fähigkeit des Organismus, „so auf die Welt einzuwirken, dass er das aus der Welt bekommt, was er braucht“. Diese Fähigkeit kann durchaus vorhanden sein, ohne dass daraus folgt, dass der betreffende Organismus lebt. Entscheidend ist, ob sie ihrerseits von einer fremden Instanz abhängt, ohne die der Organismus diese Fähigkeit irreversibel verloren hätte. Mit dieser revidierten Fassung der Definition des President’s Council verfügen wir über insgesamt drei Kandidaten für eine Explikation des Todesbegriffs, die die bisher gemachten Voraussetzungen erfüllen. (Der unrevidierte Explikationsvorschlag des President’s Council kann dabei wegen seiner offenkundigen Mängel unberücksichtigt bleiben). Damit liegt der entscheidende Schritt weiterhin vor uns: die Beantwortung der Frage, welcher von diesen Vorschlägen den genannten Kriterien für die Akzeptabilität einer Explikation des Todesbegriffs am besten genügt.
2.6 Welche Explikation erfüllt die Kriterien am besten? Die Einschätzung der vier Explikations-Kandidaten nach den oben formulierten Kriterien hängt entscheidend davon ab, welche Gewichte den einzelnen Kriterien zugeordnet werden. Insofern gehen in diese Einschätzung stets subjektive und nicht ihrerseits argumentativ abgesicherte Präferenzen ein. Zuvor ist jedoch
2.6 Welche Explikation erfüllt die Kriterien am besten?
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zunächst zu klären, welche Vorschläge einer Explikation des Todesbegriffs welche der postulierten Kriterien erfüllen und nicht erfüllen. Biologizität
Symmetrie
Einheitlichkeit Eindeutigkeit
Vereinbarkeit der Organentnahme beim Hirntoten mit der dead donor rule
1
erfüllt
erfüllt
erfüllt
teilweise erfüllt
nicht erfüllt
2
erfüllt
nicht anwendbar
erfüllt
erfüllt
nicht erfüllt
3*
teilweise erfüllt
nicht anwendbar
erfüllt
teilweise erfüllt
erfüllt
Die beiden ersten Vorschläge erfüllen das Kriterium der Biologizität vollständig, der dritte nur unvollständig. Die zentrale Rolle der Körperfunktionen bzw. deren Steuerungsmechanismen sind den beiden ersten zufolge rein biologisch definiert, während die dritte sich nur in ihrem ersten Definitionsteil auf eine biologische Größe (die jeweilige Quelle der Steuerung der Körperfunktionen) bezieht, In ihrem zweiten Teil bezieht sich der dritte Vorschlag dagegen mit der Bewusstseinsfähigkeit auf einen irreduzibel nicht-biologischen Faktor. Dieser kann nicht durch einen Bezug auf das Gehirn oder einen de facto die Bewusstseinsfunktionen tragenden Teil des Gehirns ersetzt werden, da eine Definition nicht nur in dieser Welt gültig sein soll, in der das Bewusstsein bei allen bewusstseinsfähigen Wesen, die wir kennen, vom Funktionieren des Gehirns abhängt, sondern ebenso in einer hypothetischen Welt, in der es von anderen Teilen des Organismus abhängt. Demgegenüber ist das zweite semantische Kriterium der Symmetrie nur bei dem ersten Vorschlag erfüllt, während es auf die beiden anderen nicht anwendbar scheint. Der Fötus verfügt weder über eine innere Steuerungsinstanz, auf die der zweite Vorschlag Bezug nimmt, noch scheint es angesichts des symbiotischen Verhältnisses zum mütterlichen Organismus sinnvoll, die Abgrenzung von Innen und Außen, Eigenem und Fremdem vorzunehmen, von der der dritte Vorschlag als Voraussetzung ausgeht. Das pragmatischen Kriterium der Einheitlichkeit ist sodann bei allen drei Vorschlägen erfüllt – trivialiter, da dieses Kriterium bereits bei der Auswahl der in die engere Wahl kommenden Kandidaten leitend war. Keines der drei Vorschläge ist darauf angelegt, Raum für einen dritten Zustand neben Leben und Tod zu lassen.
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Ein wiederum anderes Bild ergibt sich beim Kriterium der Eindeutigkeit: Jede noch so unbestimmte Definitionsbedingung kann durch die Zuordnung eines in der Praxis anwendbaren Todeskriteriums vereindeutigt werden. Dennoch unterscheiden sich die Definitionsbedingungen danach, wie groß die Spielräume sind, die der Operationalisierung für praktische Zwecke bleiben. Diese Spielräume scheinen sowohl bei dem „biologischen“ Explikationsvorschlag 1 als auch bei dem „autonomieorientierten“ Vorschlag 3 größer als bei dem „steuerungsorientierten“ Vorschlag 2. Bei der „Übersetzung“ des ersten Vorschlags muss beispielsweise geklärt werden, welche Körperfunktionen als hinreichend wesentlich gelten können, um bei ihrem irreversiblen Ausfall von einem Toten zu sprechen. (Auch bei völlig unstrittig Toten teilen sich bestimmte Darmzellen nach dem Tode weiter.) Auch bei Vorschlag 3 wird es zahlreiche Grenzfälle geben, für die nicht von vornherein klar ist, ob die Faktoren, die die Körperfunktionen aufrechterhalten, eigene oder fremde, natürlich oder künstlich sind, so dass eine Festlegung durch genauere Kriterien in der Praxis unabweisbar ist. Eine eindeutige Abgrenzung zwischen dem, was als „natürlich“ und dem, was als „künstlich“ gelten kann, ist notorisch schwierig (vgl. Birnbacher 2006a, 1 ff.). Zwar ist klar, dass es für die „Fremdbestimmung“ der Körperfunktionen keinen Unterschied macht, ob eine Beatmung manuell durch einen Menschen oder durch ein Beatmungsgerät erfolgt. Aber wie ist der Unterschied zu operationalisieren, wenn sich auf der einen Seite die Ernährung auf oralem Weg durch einen Pflegenden, auf der anderen Seite die Ernährung durch einen Automaten gegenüberstehen, der in regelmäßigen Abständen Nährlösung über eine Sonde zuführt? Schließlich spricht für den dritten Vorschlag, dass allein für ihn das Todeskriterium des irreversiblen Funktionsausfalls des gesamten Gehirns, also des Ganzhirntods erfüllt ist. Nach dem ersten wie nach dem zweiten Explikationsvorschlag würde eine Organentnahme beim Hirntoten als eine Entnahme vom Lebenden (obgleich Moribunden) gelten müssen. Das organische Leben würde durch die der Organentnahme vorausgehende Spenderkonditionierung ein Stück weit verlängert, während das Bewusstsein ebenso verloren gegangen ist wie die Chance, es wiederzuerlangen. Für den ersten und zweiten Explikationsvorschlag gilt diese Phase als Teil des Lebens: Weder sind die Körperfunktionen irreversibel erloschen noch deren Steuerungsmechanismen, soweit sie nicht im Gehirn angesiedelt sind und damit den Eintritt des Hirntods überdauern. Allein der dritte Vorschlag erlaubt es, diese Phase – soweit die Lebensfunktionen mittels körperfremder Agentien aufrechterhalten werden – als eine Phase zu bezeichnen, in der der Mensch tot ist, ungeachtet dessen, dass nicht nur einzelne Organsysteme, sondern auch der Organismus als ganzer – mit Ausnahme des Gehirns – weiterhin Lebensfunktionen aufweist.
2.7. „Irreversibel“ oder „endgültig“? Die Kontroverse um die Organentnahme
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Falls man diesen letzten, ethischen Aspekt hoch gewichtet – das muss man nicht, kann es aber – spricht viel für den dritten Vorschlag – ungeachtet seines schlechteren Abschneidens in den Dimensionen Biologizität und Eindeutigkeit. Was die Eindeutigkeit betrifft, so wäre es Aufgabe einer entsprechenden Festlegung der Todeskriterien, diese zu ähnlicher Eindeutigkeit zu bringen, wie sie gegenwärtig das zumeist mit dem zweiten Explikationsvorschlag begründete Ganzhirntodkriterium auszeichnet. Ein Merkmal des dritten Vorschlags, das auf dem Hintergrund des Kriterienkatalogs zugestandenermaßen als ein Makel gelten muss, ist seine mangelnde Biologizität. Indem er zumindest partiell auf die Bewusstseinsfähigkeit rekurriert, übernimmt er Elemente aus Konzeptionen, die ansonsten bereits an den oben angestellten Vorüberlegungen scheitern: der Kortikaltodkonzeption und dem begrifflichen Dualismus. Rechtfertigen lässt sich diese Anleihe mit ethischen Gründen: Aus einer von einer großen Zahl von Philosophen geteilten ethischen Perspektive ist in erster Linie das Bewusstseinsleben und nicht das biologische Leben für den Menschen die Voraussetzung aller wesentlichen Lebensgüter. Eine Todesdefinition sollte deshalb so angelegt sein, dass sie kategorisch ausschließt, dass ein Mensch, dessen Bewusstseinsfähigkeit nicht irreversibel erloschen ist, als tot gilt. Ein anderes Merkmal, das viele dem dritten Vorschlag als Makel anrechnen werden, ist die Abstraktheit des sich daraus ergebenden Verständnisses von Leben und Tod. Diese Abstraktheit steht in Kontrast zu der Art und Weise, wie wir den Zustand des Hirntods spontan wahrnehmen und deuten. Dass ein Hirntoter, der alle Zeichen von Lebendigkeit zeigt, tot sein soll, wird leicht als Zumutung empfunden – erst recht, wenn eine Tote einen längeren Prozess der Schwangerschaft bewältigt und schließlich ein gesundes Baby zur Welt bringt.5 Was Leben und Tod angeht, ist der Augenschein allerdings, wie oben vermerkt, ein schlechter Ratgeber. Auch ein scheinbar Toter ist oft genug ein Lebender, etwa wenn er sich als reanimierbar erweist oder – wie von Kindern bezeugt – nach einer längeren Phase der Unterkühlung, in der die Lebensfunktionen sistieren, in einem gänzlich unmetaphysischen Sinn „dem Leben zurückgegeben“ wird.
2.7. „Irreversibel“ oder „endgültig“? Die Kontroverse um die Organentnahme vom non-heart-beating donor Eine gegenwärtig kontrovers diskutierte Problematik im Schnittbereich von medizinischer Ethik und Anthropologie betrifft die Frage, ob außer Patienten, bei denen ein dissoziierter Hirntod unter Beatmung eingetreten ist, auch Patienten, bei denen der Tod durch Herzstillstand eingetreten ist, als Organspender in Frage kommen. Diese Frage ist nicht ohne praktische Brisanz: In Deutsch-
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land ist die Entnahme von Organen vom sogenannten non-heart-beating donor verboten, während sie in einigen Nachbarländern zulässig ist. In der Schweiz ist dieses Verfahren 2011 eingeführt worden. Nicht nur werden in Deutschland keine Organe auf diese Weise für die Transplantation gewonnen. Aufgrund dieses Verfahrens im Ausland gewonnene Organe werden auch nicht im Rahmen des Eurotransplant-Verbunds importiert. Einer der Gründe für diese Enthaltsamkeit sind Zweifel, ob mit der Feststellung des Kreislaufstillstands und einer Wartezeit von (je nach Land) zwei bis zehn Minuten nach Beendigung vergeblicher Reanimationsversuche (bzw. bei Patienten, die den Verzicht auf Reanimationsversuche verfügt haben, nach Kreislaufstillstand) die Irreversibilität des Hirntods mit hinreichender Sicherheit feststeht. Auch wenn die Frist abgewartet wird, in der eine spontane Wiederaufnahme des Kreislaufs erfahrungsgemäß möglich ist, könne nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Aufnahme bzw. Weiterführung einer Reanimation erfolglos bleiben würde. Die Frage stellt sich, wie sich die auffällige Differenz in der Beurteilung der Akzeptabilität der Organentnahme vom non-heart-beating donor zwischen im Übrigen so ähnlichen Ländern wie der Schweiz und Deutschland erklären lässt. Zwei verschiedene Erklärungen bieten sich an, eine epistemische und eine anthro pologische. Die erste Erklärung ist, dass die Experten die Sicherheit unterschiedlich einschätzen, mit der von einer einmaligen klinischen Diagnose des Hirntods nach Kreislaufversagen auf das Eintreten des Hirntods geschlossen werden kann. In diesem Punkt steht, soweit ich sehe, Meinung gegen Meinung. In den Schweizerischen medizinisch-ethischen Richtlinien wird dazu die Aussage getroffen: Zusatzuntersuchungen sind nicht notwendig, da der dokumentierte Kreislaufstillstand mittels TTE [transthorakale Echokardiographie] über einen Zeitraum von 10 Minuten eine genügende Hirndurchblutung ausschliesst. (SAMW 2011a, 7)
In einem nachträglichen Kommentar zu den Richtlinien bestätigte die Akademie: Indem es sich sowohl beim Tod infolge primärer Hirnschädigung als auch beim Tod nach Kreislaufstillstand um einen totalen und irreversiblen Funktionsausfall des Gehirns handelt, kommt in beiden Fällen die sogenannte Hirntoddiagnostik zur Anwendung. (SAMW 2011b)
Demgegenüber formulierten die drei deutschen neurologischen Fachgesellschaften DGN, DGNC und DGNI in einer Presseerklärung vom März 2014: Korrekt ist, dass sich die klinischen Ausfallsymptome des Gehirns nach einem mindestens zehnminütigen Herz- und Kreislaufstillstand ohne Reanimationsbemühungen zwar nachweisen lassen. Es ist aber keineswegs erwiesen, dass zu diesem Zeitpunkt die Gesamtfunktion des Gehirns unwiederbringlich, das heißt: irreversibel, ausgefallen ist. Gerade dies ist aber die Voraussetzung für die Todesfeststellung mittels Hirntodnachweis. (Weiller u. a. 2014)
2.7. „Irreversibel“ oder „endgültig“? Die Kontroverse um die Organentnahme
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Unsicherheiten darüber, ob ein Ereignis irreversibel ist, kommen nicht von ungefähr. Irreversibilität ist ein Modalbegriff, er bezeichnet eine Unmöglichkeit. Eine Unmöglichkeit ist jedoch der Natur der Sache nach schwer zu verifizieren. Solange die Unmöglichkeit nicht aus der Unvereinbarkeit mit einem gut bestätigten Naturgesetz resultiert, sind Unmöglichkeitsurteile zwangsläufig mit einer gewissen Unsicherheit behaftet. Jeder Rekord kann überboten werden. Viele technische Erfindungen wurden noch wenige Jahre vorher als unmöglich beurteilt. Die zweite und weitergehende Erklärung für die Differenzen zwischen schweizerischen und deutschen Voten in Sachen non-heart-beating donor reicht weiter und betrifft die an diesem Punkt wichtige Unterscheidung zwischen der Irreversibilität des vollständigen Ausfalls der Hirnfunktionen und der Endgültigkeit deren vollständigen Ausfalls. Irreversibilität oder Unumkehrbarkeit beinhaltet im gegenwärtigen Zusammenhang die Unmöglichkeit der Wiederherstellung der Hirn- oder Lebensfunktionen, während Endgültigkeit auf die Faktizität der Nicht-Wiederherstellung der Hirn- oder Lebensfunktionen verweist. Endgültigkeit ist nicht dasselbe wie Irreversibilität, weder der Intension noch der Extension nach. So kann ein Patient, der einen Herzstillstand erleidet, aber den Verzicht auf Reanimationsversuche verfügt hat, seine Hirnfunktionen endgültig verloren haben (sofern eine spontane Wiederbelebung ausgeschlossen werden kann), ohne sie deshalb auch irreversibel verloren zu haben. Eine Möglichkeit der Reanimation kann weiterbestehen, auch wenn die Verwirklichung dieser Möglichkeit aus Gründen der Respektierung der Patientenselbstbestimmung unterbleibt. Die Bedenken der deutschen Neurologen ließen sich demgemäß so formulieren, dass die Schweizer Richtlinien die Vereinbarkeit der Organentnahme beim non-heart-beating donor mit der dead donor rule, der Regel, dass Organe nur vom Toten entnommen werden, dadurch herstellen, dass sie stillschweigend das Merkmal der Irreversibilität durch das Merkmal der Endgültigkeit ersetzen. Sobald man diese Ersetzung vornimmt, ist der Konflikt aufgelöst: Legte man statt des Irreversibilitätskriteriums ein Endgültigkeitskriterium zugrunde, ließe sich eine einmalige Hirntoddiagnostik unmittelbar im Anschluss an die Beendigung der Reanimationsversuche vornehmen bzw. – bei Patienten, die sich eine Reanimation per Patientenverfügung verbeten haben – unmittelbar nach Herzstillstand, jeweils unter Abwarten der kurzen Frist, in der eine spontane Wiederaufnahme der Atmung möglich ist. Nach den in Deutschland geltenden Richtlinien ist die Irreversibilität des Hirntods dagegen erst aufgrund einer bestätigenden Diagnostik, die frühestens 12 Stunden nach der Erstdiagnostik stattfindet, bzw. aufgrund von apparativen Maßnahmen nachgewiesen. Für eine Organentnahme ist es dann in der Regel zu spät. Es ist klar, weshalb der Gegensatz von Irreversibilität und Endgültigkeit für die Todesdefinition von unmittelbarer Bedeutung ist. Unter den Bedingungen,
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die gemeinhin für die Todesdefinition postuliert werden, gehört die Irreversibilität des Erlöschens der jeweils zum Tode führenden Prozesse zu den zentralsten. Ein Mensch soll nur dann als tot gelten, wenn nicht nur faktisch darauf verzichtet wird, ihn zu reanimieren, sondern ein solcher Versuch auch mit Sicherheit erfolglos wäre. Allerdings steht die Sicherheit über den Tod, die diese Definitionsbedingung motiviert, in einem eigentümlichen Gegensatz zu der semantischen Offenheit des Begriffs der Irreversibilität selbst. Offen ist dieser Begriff, weil er offenlässt, in welchem genauen Sinn es unmöglich ist, einen Vorgang fortzusetzen oder wiederaufzunehmen. Wie für den Begriff der Möglichkeit können mindestens fünf Typen von Unmöglichkeit unterschieden werden. Dass etwas irreversibel zu Ende geht, kann logisch, nomologisch, technisch oder durch den realen Lauf der Dinge oder durch Kombinationen aus diesen bedingt sein. Irreversibel im logischen Sinn ist das, was endgültig zugrunde gegangen ist: Es kann aus logischen Gründen nicht noch einmal erstehen. Irreversibel im nomologischen Sinn heißt, dass etwas aus Gründen der Naturgesetze unumkehrbar ist: Wenn aus einem Ei ein Huhn geschlüpft ist, kann dies natürlicherweise nicht erneut zum Inhalt eines Eis werden. Irreversibel im technischen Sinn ist die Diffusion des Phosphors, der als Dünger über die Welt verstreut ist: Er lässt sich nicht wieder vollständig einsammeln und wiederverwenden. Real irreversibel ist in vielen Fällen das Aussterben biologischer Arten: Auch wenn es technisch möglich sein sollte, sie durch Rückzüchtung und Gentechnik wiederherzustellen, wird das doch vielfach aus Gründen begrenzter Ressourcen unmöglich sein. Aus dieser Abstufung ergeben sich Konsequenzen für die sehr unterschiedliche Sicherheit von Urteilen darüber, dass etwas irreversibel ist. Was möglich oder unmöglich ist, hängt in der Regel vom historisch variablen „Stand der Technik“ ab. Irreversibilität hat insofern einen impliziten Zeitindex. Was unter den Bedingungen des Wissens und Könnens vor hundert Jahren irreversibel war, ist es nicht notwendig auch heute. Was heute irreversibel ist, ist es nicht zwangsläufig auch morgen oder übermorgen. Ein naheliegendes Beispiel für die Überwindung einer lange Zeit für unüberwindbar gehaltenen Irreversibilität ist die Wiedererlangung der weiblichen Fertilität durch den Transfer von Eizellen oder die Reaktivierung von zuvor eingefrorenen Eizellen oder Eierstockgewebe. Die Menopause, die lange Zeit als endgültige zeitliche Grenze der Fruchtbarkeit galt, hat diese Funktion eingebüßt. Der Leser von Thomas Manns Novelle Die Betrogene weiß, dass die scheinbar wiedergewonnene Fruchtbarkeit der Protagonistin nicht anders als eine scheinbare sein kann. Heute hat die moderne Reproduktionsmedizin weitaus abenteuerlichere Verfahren der Verlängerung der Fruchtbarkeitsperiode über ihre natürlichen Grenzen hinaus verfügbar gemacht. In der Tat ergeben sich aus der Historizität der Irreversibilität für Aussagen über Leben und Tod einigermaßen befremdliche Konsequenzen: Viele Tode, die
2.7. „Irreversibel“ oder „endgültig“? Die Kontroverse um die Organentnahme
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die Menschen in der Vergangenheit starben, erfüllten aus heutiger Sicht nicht die Bedingung der Irreversibilität und waren insofern aus heutiger Sicht gar keine „eigentlichen“ Tode. So könnten auch die Todeszeitpunkte, die auf dem Stand des heutigen Wissens und Könnens nach dem Kriterium der Irreversibilität bestimmt werden, aus der Sicht späterer Zeiten – gemäß den dann bestehenden Möglichkeiten – als verfrüht erscheinen, insofern die Prozesse, die wir jetzt für irreversibel halten, es aus Sicht dieser Zeiten nicht mehr sind. Auch wenn auf dem gegenwärtigen Stand des Wissens und Könnens eine Wiederbelebung nach Kreislaufstillstand nach einer halben Stunde Reanimationsversuche und 10 Minuten Wartezeit aussichtslos ist, muss das nicht auf ewig so bleiben. Demgegenüber ist Endgültigkeit der stabilere Begriff. Er ist dem Wechsel des Wissens und Könnens nicht in derselben Weise ausgesetzt. Während das Urteil, dass etwas irreversibel zu Ende gegangen ist, prinzipiell reversibel ist, ist das Urteil, dass etwas endgültig zu Ende gegangen ist, endgültig. Legen wir uns nun die Frage vor, was das Ende des Lebens ausmacht – das Ende der tatsächlichen – je nach Definitionsansatz – Operationen des Organismus (alternativ: der eigenständigen Operationen des Organismus bzw. der Fähigkeit des Organismus, in der geeigneten Weise zu operieren)? Hört das Leben eines Patienten auf, wenn der Organismus faktisch zu funktionieren aufgehört hat, oder hört es auf, wenn der Organismus irreversibel zu funktionieren aufgehört hat? Es gibt gute Gründe für die erste Alternative: dass das Ende des Lebens das endgültige Aufhören des integrierten körperlichen Funktionierens ist und nicht dessen Irreversibilität. Selbst dann, wenn ein Wiederbelebungsversuch mit Sicherheit erfolgreich wäre, fiele das Ende des biologischen Lebens, solange ein Wiederbelebungsversuch de facto nicht unternommen wird, mit dem faktischen Ende des biologischen Funktionierens zusammen. Zur Plausibilisierung empfiehlt sich ein Umweg über die mentale Seite des Lebens, das Bewusstseinsleben. Nehmen wir an, ein Patient A werde in den letzten drei Tagen seines Lebens wegen schwerer Unruhe so tief sediert, dass er diese drei letzten Tage in vollständiger Bewusstlosigkeit verbringt. Nehmen wir weiterhin an, dass ein anderer Patient B gleichzeitig die letzten drei Tage seines Lebens in einem Koma verbringt, das so tief ist, dass keine Möglichkeit besteht, ihn zum Bewusstsein wiederzuerwecken. Bei Patient A besteht die Möglichkeit, ihn ins Bewusstsein zurückzuholen, weiter, bei Patient B nicht. Dieser Unterschied scheint aber wenig daran ändern, dass das Bewusstseinsleben beider Patienten zu genau demselben Zeitpunkt zu Ende geht. Wann genau das Bewusstseinsleben beider Patienten zu Ende geht, scheint völlig unabhängig davon, was man hätte tun können, um es zu verlängern. Ebenso wenig wie die Möglichkeit, dass ein Patient ins Bewusstsein zurückgeholt werden kann, zeigen kann, dass sein Bewusstseinsleben andauert, scheint
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die Möglichkeit, dass die biologischen Lebensfunktionen eines Patienten wiederhergestellt werden können, zeigen zu können, dass er im biologischen Sinn weiterhin lebt. Betrachten wir dazu den Fall einer Transplantation beim non-heartbeating donor, bei dem einem Patienten wenige Minuten nach dem Stillstand von Herzschlag und Atmung Organe entnommen werden. Wann geht das Leben des non-heart-beating donor zu Ende – zu dem Zeitpunkt, zu dem sein Organismus die Fähigkeit zu funktionieren verloren hat, d. h. zu dem sein Organismus irreversibel zu funktionieren aufgehört hat, oder zu dem Zeitpunkt, zu dem sein Organismus de facto zu funktionieren aufgehört hat, obwohl eine Reanimation weiterhin möglich gewesen wäre, d. h. zu dem sein Tod endgültig ist? Der entscheidende Zeitpunkt scheint das tatsächliche Aufhören der Körperfunktionen und nicht der Zeitpunkt, ab dem eine Wiederbelebung aussichtslos gewesen wäre. Die Möglichkeit einer Reanimation würde nichts daran ändern, dass der Tod genau dann eingetreten ist, zu dem die biologischen Funktionen endgültig erloschen sind. Viele werden diese Überlegung als befremdlich, wenn nicht sogar absurd empfinden. Denn der Vorschlag, Endgültigkeit statt Irreversibilität in die Todesdefinition zu integrieren, hat das Besondere an sich, dass der Zeitpunkt des Todes nicht erst auf der Ebene der technisch-medizinischen Möglichkeiten, sondern bereits auf der semantischen Ebene von menschlichen Entscheidungen abhängig gemacht wird. Ob ein Patient tot ist, hängt danach nicht mehr nur von Naturtatsachen, sondern von Entscheidungen ab, etwa der Entscheidung, eine bestimmte mögliche Reanimation zu unterlassen. Wird Endgültigkeit in die Todesdefinition aufgenommen, entscheidet u. a. diese Entscheidung darüber, ob er tot ist oder (sofern eine Wiederbelebung möglich ist) noch lebt. Wird dagegen Irreversibilität in die Todesdefinition aufgenommen, entfällt diese Kontingenz. Allerdings ist auch dieser Begriff, wie wir gesehen haben, nicht frei von Kontingenz. Die 280 Menschen, deren Körper in einem der beiden amerikanischen Institute zum Ganzkörper-Freezing (dem Cryonics Institute in Detroit und dem Alcor-Institut in Phoenix) tiefgefroren sind (vgl. Berbner 2016, 14), hoffen auf diese Kontingenz: Was heute irreversibel ist, muss es nicht auf Dauer bleiben. Nicht frei von Kontingenz ist schließlich aber vor allem der Todesbegriff selbst. Wie wir ihn verstehen, hängt nicht zuletzt von ihrerseits zeit- und kulturabhängigen pragmatischen Überlegungen ab. Als irritierend könnte darüber hinaus empfunden werden, dass eine Ersetzung der Bedingung der Irreversibilität durch die Bedingung der Endgültigkeit den Ärzten möglicherweise ein Übermaß an Freiräumen eröffnet, auf lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten. Die semantische Konvention, dass das Leben zu Ende geht, wenn es de facto und unter Absehung von allen lebenserhaltenden Interventionen zu Ende geht, klingt ja zunächst wie eine Einladung zum therapeutischen Nihilismus. Aber eine wie immer geartete definitorische Festle-
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gung des Todesbegriffs ändert nichts an der ärztlichen Verpflichtung zur Lebenserhaltung, allerdings auch nicht zur Respektierung der Ausnahmen von dieser Verpflichtung, etwa im Fall eines entgegenstehenden Willens des Patienten. Für einen Patienten, der eine Reanimation per Patientenverfügung ausschließt, endet das Leben möglicherweise früher als für einen Patienten, der das nicht tut und die Entscheidung über eine Reanimation seinen Ärzten überlässt. Aber in dem einen wie in dem anderen Fall sind die Prozesse, die zu Ende gegangen sind – die wesentlichen Körperfunktionen, die im Gehirn angesiedelten Steuerungsfunktionen oder die eigenständig gesteuerten Körperfunktionen – endgültig zu Ende gegangen.
3 Der gute Tod 3.1 Was kann „gut“ in Bezug auf den Tod heißen? Während die Frage nach dem guten Leben zu den angestammten Fragen der Praktischen Philosophie gehört, wird die Frage nach dem guten Tod traditionell nur selten gestellt. Sie wird vermehrt gestellt, seitdem mit der Ausweitung der medizinischen Möglichkeiten der Lebenserhaltung bei tödlichen Erkrankungen der Tod zunehmend in den Bereich der Gestaltbarkeit gerückt ist. Die Fragen nach dem guten Leben und dem guten Tod sind allerdings nicht ganz unabhängig voneinander. Die Frage, ob ein Leben ein gutes Leben war, wird zumeist aus der Perspektive der ersten Person beantwortet und typischerweise in der Situation des Sterbebetts. Erst in der Stunde des Todes wird die Bewertung eines Lebens in seiner Totalität möglich. Bekannt geworden sind etwa die letzten Worte Ludwig Wittgensteins: „Tell them, I’ve had a wonderful life.“ Allerdings lässt sich aus dieser Perspektive stets nur das gelebte Leben erfassen, nicht auch der Prozess des Übergangs in den Tod, das Sterben, also das, worauf die Frage nach dem guten Tod abzielt. Eine umfassende Bewertung lässt sich nur aus der Perspektive anderer treffen, und sie wird Tod und Sterben aus der Bewertung des Lebens eines Menschen nicht ausklammern können. So schließt etwa auch Jean Paul in die Lebensbeschreibung seines Anti-Helden Wuz mit großer Selbstverständlichkeit dessen Sterben mit ein. Gleich im ersten Satz seiner romantischironischen Idylle heißt es: „Wie war dein Leben und Sterben so sanft und meerstille, du vergnügtes Schulmeisterlein Wuz“. Das „meerstille“ Sterben gehört mit zu diesem insgesamt „meerstillen“ Leben. Ob ein Leben aus der Perspektive anderer insgesamt als „gut“ gelten kann, hängt in aller Regel u. a. auch von Bewertungen ab, die sich auf den Tod eines Menschen beziehen, und zwar sowohl auf das Wann als auch das Wie des Todes. Ein Leben, das früh durch einen Unfall oder eine plötzliche schwere Krankheit beendet wird, rechtfertigt die Bewertung „gutes Leben“ in der Regel weniger als ein Leben ohne diese Schicksalsschläge. Ohne diese Schicksalsschläge wäre das Leben dieses Menschen ein besseres – oder, wenn es gut war, ein noch besseres – Leben gewesen. Analoges gilt für die Umstände des Sterbens. Dass ein Verstorbener „sanft entschlafen“ ist und es in seiner letzten Lebensphase nicht allzu schwer hatte – oder sogar besser hatte als in früheren Lebensphasen – macht sein Leben zu einem insgesamt besseren Leben, als es andernfalls gewesen wäre. Die Beziehungen zwischen Urteilen über das Gutsein eines Lebens und das Gutsein eines Todes scheinen aber noch weiter zu reichen. Auffällig ist zunächst, dass beide Bewertungen gewöhnlich objektive und subjektive Kriterien kombiDOI 10.1515/978-3-11-053449-8-003
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nieren. „Objektiv“ soll dabei heißen, dass diese Kriterien von der Umwelt angelegt werden, ohne dass nach den subjektiven Bewertungen des jeweils Betroffenen gefragt wird. Als „subjektiv“ kann man demgegenüber diejenigen Kriterien bezeichnen, die sich auf die Wünsche und Hoffnungen des Verstorbenen selbst beziehen. Beide Arten von Kriterien gehen in der Regel in Urteile über den Todeszeitpunkt ein, etwa Urteile von der Art, dass ein Tod „vorzeitig“ oder „zur rechten Zeit“ eintritt. Einerseits orientiert sich ein solches Urteil (und oft auch die entsprechenden Haltungen und Emotionen) an den konventionellen und historisch gewachsenen Vorstellungen davon, wie lang ein Leben üblicherweise währt oder währen sollte. Andererseits berücksichtigt es aber auch die Vorstellungen, Wünsche und Erwartungen des jeweiligen Individuums. Konzeptionen, nach denen sich die „richtige“ oder „angemessene“ Länge eines Lebens ausschließlich nach in diesem Sinn objektiven Kriterien bemisst, finden sich im Alltagsdenken wie in der Philosophie eher selten. Dazu sind sie, da sie von den Einstellungen des Individuums vollständig absehen, allzu einseitig. Ein weitgehend objektives Bewertungskriterium hat Aristoteles vertreten: Ein im Sinne der Eudämonie gutes und glückliches Leben ist notwendig ein mit äußeren Gütern wie Gesundheit gesegnetes Leben. Die „Qualität des Lebens“ war für ihn u. a. auch abhängig von seiner Dauer und der Abwesenheit von Schicksalsschlägen. Kinder können nach Aristoteles nicht glücklich genannt werden (Aristoteles 2006, 63). Aus dieser Sicht ist ein früher oder vorzeitiger Tod mit einem guten Leben unvereinbar. Das Modell, von dem dieses Kriterium ausgeht, ist das der emotionalen Reaktion auf die Nachricht von dem Tod eines Kindes, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen: Ein früher Tod ist zumindest prima facie stets ein Anlass für Bedauern, gleichgültig, wie es sich im Einzelfall auf der subjektiven Seite verhält. Weniger eindeutig objektiv, aber wiederum analog zu bzw. abgeleitet aus einem häufig vertretenen Kriterium der Lebensbewertung ist ein Kriterium der Bewertung des Todeszeitpunkts, das in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Ethik geraten ist: das an den Begriff der „narrativen Identität“ bei Paul Ricoeur (1987) anschließende und auf Ideen von Alisdair MacIntyre (1987, 273 ff.) zurückgreifende Kriterium, wie weit ein Tod das Leben eines Menschen als eine „narrative Einheit“ erscheinen lässt (vgl. Christman 2004). Dieses Kriterium ist im Grunde ein ästhetisches. Leben und Tod werden wie eine Erzählung oder Komposition gesehen, die jeweils nach ihrer Gestaltqualität, ihrer „narrative integrity“ (Freeman/Brockmeier 2001, 76) beurteilt werden – als „geschlossen“, „kohärent“ oder „rund“ oder aber als „unabgeschlossen“, „inkohärent“ oder „fragmentarisch“. Angesichts seiner Formalität lässt sich dieses Kriterium in verschiedene Richtungen ausdifferenzieren. So kann es etwa sowohl als ein subjektives als auch als objektives oder als gemischtes Kriterium verstanden werden.
3.1 Was kann „gut“ in Bezug auf den Tod heißen?
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Ausschließlich subjektiv verstanden, ist es Sache des Lebenden bzw. Sterbenden selbst zu beurteilen, wie weit er den Zeitpunkt seines Sterbens als Abrundung, Vollendung oder in anderer Weise „stimmigen“ Abschluss seines Lebens empfindet. Er selbst ist die letzte Autorität, wenn es darum geht zu entscheiden, wie er die „Erzählung“ seines Lebens definiert und wie weit sein Sterben und Tod die narrative Einheit seines Lebens wahrt oder durchbricht. Wird der Begriff der narrativen Einheit objektiv verstanden, entscheiden andere oder auch ein einzelner Anderer, wie die „Erzählung“ definiert ist, die das Leben eines Menschen mit dem Tod vollendet oder unvollendet lässt und wann der Tod zum gelungenen oder weniger gelungenen Abschluss seines Lebens wird. Wird eine derartige ästhetische Bewertung eines Lebens anderer normativ verwendet, etwa in der Weise, dass dem anderen empfohlen wird, auf mögliche weitere Lebenszeit zugunsten eines „gelungenen“, „stimmigen“ oder „kohärenten“ Abschlusses seines Lebens zu verzichten, nimmt diese Form ästhetischer Lebens- und Todesbewertung zwangsläufig Züge von Fremdbestimmung, wenn nicht von lebensperfektionistischer Diktatur an: Dem anderen wird gewissermaßen vorgeschrieben, wie lange er zu leben hat, damit sein Leben dem Ideal der „narrativen Einheit“ genügt. Eine sprachliche Wendung, die dieserart Normativität erkennen lässt, ist die, derzufolge jemand „seinen eigenen Tod überlebt“. Sie findet sich an bezeichnender Stelle etwa bei Thomas Morus, der in seiner Gesellschaftsutopie den Altenpflegern empfiehlt, den Alten gut zuzureden, rechtzeitig aus dem Leben zu scheiden (Morus 1960, 81). Sie schlägt sich gelegentlich auch darin nieder, dass von bestimmten lebenserhaltenden medizinischen Maßnahmen als „lebensverlängernden“ (statt als „lebenserhaltenden“) gesprochen und damit unterstellt wird, dass das Leben „eigentlich“ oder „normalerweise“, d. h. ohne den Einsatz „außergewöhnlicher“ Mittel bereits zu Ende gegangen wäre. Der Protagonist eines lebensästhetischen Ideals narrativer Einheit ist Friedrich Nietzsche. Im Zarathustra verherrlicht er den „Tod zur rechten Zeit“, zunächst für sich selbst, dann aber auch als allgemeingültiges Ideal: Wahrlich, nicht will ich den Seildrehern gleichen: sie ziehen ihren Faden in die Länge und gehen dabei selber immer rückwärts. Mancher wird auch für seine Wahrheiten und Siege zu alt; ein zahnloser Mund hat nicht mehr das Recht zu jeder Wahrheit. Und Jeder, der Ruhm haben will, muss sich bei Zeiten von der Ehre verabschieden und die schwere Kunst üben, zur rechten Zeit zu – gehn. (Nietzsche 1980, Bd. 4, 94)
Was Nietzsche hier unter dem Gesichtspunkt der „narrativen Einheit“ vertritt, ist das perfektionistische Ideal eines Abgangs auf dem Höhepunkt – dem Höhepunkt etwa des Könnens, der Kraft, der Gesundheit oder der Reputation. Die „rechte Zeit“ zu gehen, ist, wenn die Kurve des Lebens ihr Maximum erreicht hat und im weiteren Zeitverlauf mit einer Abwärtsbewegung zu rechnen ist. „Vollendung“ im
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Tod bedeutet dann, dass die „Erzählung“ des Lebens endet, wenn sie voll-endet ist, wenn sie ihren Höhepunkt erreicht hat, Es ist nur konsequent, wenn Nietzsche es für angeraten hält, dieserart Tod als festliches Ereignis zu begehen, als Fest für den Sterbenden wie für seine Umwelt: Wichtig nehmen Alle das Sterben: aber noch ist der Tod kein Fest. Noch erlernten die Menschen nicht, wie man die schönsten Feste weiht. Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden ein Stachel und ein Gelöbniss wird. (Nietzsche 1980, Bd. 4, 93)
Dass dies gelingen kann, setzt freilich voraus, dass zwischen den Kriterien, nach denen der Sterbende und seine Umwelt sein Leben als Ganzes bewerten, Übereinstimmung besteht. Eine solche Übereinstimmung ist nicht selbstverständlich. Am ehesten ist sie in traditionalen und geschlossenen Gesellschaften zu erwarten, in denen das Individuum die Normen und Leitvorstellungen der Gesellschaft darüber, was ein „rundes“ und „vollendetes“ Leben ausmacht, mehr oder weniger problemlos teilt. Je individualisierter die Gesellschaft, desto weniger ist mit einer solchen Harmonie zu rechnen. Vielmehr ist zu erwarten, dass sich mit der Individualisierung der Lebensformen und Lebenspläne auch die Vorstellungen davon, was die narrative Einheit eines Lebens ausmacht, ausdifferenzieren. Angelegt ist eine derartige Ausdifferenzierung in der Uneindeutigkeit des Ideals der narrativen Einheit. Offenkundig ist Nietzsches Ideal der Vollendung des Lebens auf seiner vollendetsten Stufe nur eine von mehreren Möglichkeiten der Ausdeutung dieses Ideals. Ein konträres Modell ist das einer Lebenserzählung, die statt an ihrem äußersten Punkt abzubrechen, zu ihrem ursprünglichen Ausgangspunkt zurückführt. Legt man dieses Modell zugrunde, beschreibt das Leben einen Bogen, bei dem auf die Aufwärtsbewegung eine Abwärtsbewegung folgt. Die Entwicklung findet erst mit dem Wiedererreichen des Ausgangspunkts ihren Abschluss. Danach ist ein Tod, wie er heute immer häufiger zu erwarten ist: der Tod im Endstadium einer Demenzerkrankung das Ende einer „Erzählung“, die mit der zunehmenden Regression in sich zurückläuft. Der Tod ist ein „guter“ Tod insofern, als er den Bogen des Lebens schließt. Verlust, Verfall und Verlöschen gehören diesem Modell zufolge ebenso wesentlich zum Narrativ des Lebens dazu wie Aufstieg und Höhepunkt. Noch mehr als bei der Bewertung des Lebens als Ganzem spielen allerdings objektive Kriterien bei der Bewertung von Sterben und Tod nur eine Nebenrolle. Deutlicher als bei den Kriterien, die die Bewertung einer Lebensganzheit als „gut“ oder „weniger gut“ bestimmen, ist die Bewertung von Sterben und Tod an subjektiven Kriterien orientiert. Diese lassen sich grosso modo zwei Kategorien zuordnen: der Präferenzerfüllung und dem Wohlbefinden, hier insbesondere unter negativen Vorzeichen. Da der Tod in der Regel weder erwünscht noch als
3.1 Was kann „gut“ in Bezug auf den Tod heißen?
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Ereignis positiv erlebt wird, besagt das Kriterium der Präferenzerfüllung, dass derjenige Tod besser ist als ein anderer, der weniger Wünsche enttäuscht, und das Kriterium des Wohlbefindens, dass derjenige Tod besser ist als ein anderer, der als weniger belastend empfunden wird. Auf dem Hintergrund der Zweiteilung von Wunscherfüllung und Wohlbefinden lässt sich zunächst feststellen, dass die subjektiven Bewertungen des Wann des Todes primär von präferenziellen Kriterien bestimmt sind und die subjektiven Bewertungen des Wie des Todes primär von hedonistischen – wobei Ausnahmen die Regel bestätigen. Ob der Tod zur Unzeit oder zur rechten Zeit kommt, ist aus der Sicht des Sterbenden in erster Linie präferenziell, d. h. durch die zukunftsorientierten Wünsche des Sterbenden bestimmt. Der Tod ist aus seiner Sicht ein Unglück und vielleicht sogar eine Katastrophe, wenn er die Erfüllung entscheidend wichtiger Wünsche zunichtemacht. Er ist kein Unglück, wenn alle Wünsche an das Leben erfüllt und der Wunsch nach weiterem Leben erloschen ist, wenn er einen als unerträglich empfundenen Zustand beendet oder wenn er zutiefst Unerwünschtem zuvorkommt. Der Tod verliert seinen Schrecken für den „Lebenssatten“, der mit dem Titel einer Bach-Kantate sagt: „Ich habe genug“; für den „Lebensmüden“ bzw. „Leidenssatten“ (zur Nieden 2016, 110), der, vom Kampf gegen einen anhaltenden Leidenszustand zermürbt, aufgibt; und für den, der nur durch den Tod einem noch bedrohlicheren Übel entrinnen zu können glaubt. Im Gegensatz dazu gehören die Kriterien bei der Bewertung des Wie des Sterbens vorwiegend dem Umkreis des Wohlbefindens an: Das Sterben soll „sanft“ und „friedlich“ sein, ohne Schmerzen und andere belastende Symptome, ein bruchloses Hinübergleiten wie beim Einschlafen, oder – was sich in Deutschland anscheinend die Mehrzahl der Menschen wünscht (vgl. Borasio 2013, 29) – ein sich dem Erleben gänzlich entziehendes Nicht-Mehr-Erwachen aus Schlaf oder Ohnmacht. In der hochgradig individualisierten Gesellschaft unserer Tage spielen subjektive Maßstäbe der Todesbewertung eine weitaus wichtigere Rolle als konventionelle oder tradierte objektive Maßstäbe. Ich werde mich deshalb im Folgenden ganz auf diese subjektiven Kriterien konzentrieren, allerdings aus einer anderen als der bisher eingenommenen Perspektive. An die Stelle der bisherigen anthropologisch-deskriptiven Perspektive tritt eine rational-normative Perspektive. Gefragt wird nicht danach, was Menschen de facto wünschen oder wollen, sondern was sie – in ihrem eigenen Interesse – wünschen oder wollten sollten. An die Stelle der Frage nach dem Erwünschten tritt die Frage nach dem Wünschenswerten. Damit weitet sich der Horizont der Fragestellung aus. Die Frage danach, was als „good dying“ (vgl. Momeyer 1988, 65) gelten kann, wird nicht allein auf das Wie des Todes bezogen, sondern daneben auch auf das Wann und das Ob – einerseits
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auf Nietzsches Frage nach dem „richtigen“ Todeszeitpunkt, andererseits auf die in der Philosophie der letzten 50 Jahre wiederholt gestellte Frage, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen es vernünftig ist, sich zu wünschen, unsterblich zu sein.
3.2 Die Frage nach dem Ob: Ist Unsterblichkeit wünschenswert? Unsterblichkeit kann vieles bedeuten, und die Tatsache, dass Unsterblichkeit häufig mit „Ewigkeit“ – einem wiederum ausgesprochen mehrdeutigen Begriff – gleichgesetzt wird, macht es nicht leichter, die damit verbundenen Vorstellungen ans Licht zu bringen. Was an dem Begriff der Unsterblichkeit zunächst auffällt ist, dass er ein negativer Begriff ist, die Negation der Sterblichkeit. Er bezeichnet eine Überwindung von naturgegebenen Grenzen und Zwängen, eine Befreiung von den Lasten der Endlichkeit. Unter den vielen Deutungen, die der Begriff der Unsterblichkeit erfahren hat, hat Georg Simmel in seinem Essay zur Metaphysik des Todes dieses Moment am klarsten herausgearbeitet: Die Unsterblichkeit, wie sie die Sehnsucht vieler tieferen Menschen ist, hat den Sinn; daß das Ich seine Lösung von der Zufälligkeit der einzelnen Inhalte ganz vollbringen könnte. (Simmel 1953, 35)
Danach ist der Wunsch nach Unsterblichkeit eigentlich der Wunsch nach Lösung von der Welt – zusammen mit der Lösung von den Inhalten des eigenen Denkens und Erlebens, hin zu einem reinen Für-sich-Sein des Ich mit sich selbst. Unsterblichkeit ist, so verstanden, der buddhistischen „Leere“ verwandt, der als Erlösung vom Getriebe des Lebens verstandenen – und in dem Wunsch „requiescat in pace“ mitgemeinten – „letzten Ruhe“. Unsterblichkeit ist danach letztlich Freiheit – Freiheit von der als belastend empfundenen Kontingenz der raumzeitlichen Existenz mit ihren Begrenztheiten, Lasten, Wechselfällen und Unberechenbarkeiten. Diese Deutung entfernt sich allerdings mehr als zulässig vom wörtlichen Sinn des Begriffs. Einmal trifft sie, wie Simmel selbst zugesteht, den Inhalt, den Gläubige mit der Hoffnung auf Unsterblichkeit verbinden, nur unvollständig (Simmel 1973, 36). Sie ignoriert den im Wunsch nach Unsterblichkeit liegenden Wunsch nach dem „ewigen“ Einssein mit dem geliebten Objekt, vergleichbar der „Ewigkeit“ beanspruchenden – und dann auch gelegentlich „unsterblich“ genannten – Liebe. Sie ignoriert aber vor allem auch die in dem Begriff der Unsterblichkeit
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implizierte zeitliche Dimension. Wörtlich verstanden, bezeichnet Unsterblichkeit nicht eine Verklärung des Individuums ins Überzeitliche im Sinne einer als eternitas verstanden Entrücktheit, sondern eine nicht endende zeitliche Fortsetzung des Lebens im Sinne einer sempiternitas, ein Leben ohne Sterben und Tod, möglichst in der dauerhaften Nähe des angebeteten Objekts. Auch für das Modell der Unsterblichkeitssehnsucht, der Liebe zu einem anderen Menschen, ist diese zeitliche Dimension zentral. „Unendliche“ Liebe ist die, bei der sich der Verliebte ein Ende der symbiotischen Beziehung schlicht nicht vorzustellen vermag. Wenn gefragt wird, wie weit eine solche Unsterblichkeit wünschenswert ist, müssen, wenn die Frage eine wohlbegründete Antwort finden soll, gewisse Voraussetzungen gemacht werden. Zwei Voraussetzungen müssen von vornherein zugestanden werden: erstens, dass das Subjekt der Unsterblichkeit ein Individuum ist (und nicht ein wie immer geartetes Kollektiv), und dass die personale Identität dieses Individuums ad infinitum sichergestellt ist. Wie diese personale Identität im Einzelnen gesichert gedacht wird, kann dabei offenbleiben. Die nächstliegende Möglichkeit ist die der Identität eines physischen Körpers bzw. eines für das Individuum konstitutiven Teils eines Körpers (wie des Gehirns). Eine andere Möglichkeit ist eine durchgängige Abfolge von mentalen Kontinuitäten wie die phasenweise Erhaltung von Charaktermerkmalen und Erinnerungen. Selbstverständlich impliziert die Idee einer unsterblichen Existenz die Konstanz qualitativer körperlicher oder die Konstanz mentaler Merkmale ebenso wenig wie die Realität der sterblichen Existenz. Weder die qualitativen körperlichen Merkmale (etwa das Geschlecht oder die genetische Zusammensetzung) noch die mentalen (die Erinnerungen oder die mentalen Fähigkeiten) müssen sich ad infinitum durchhalten. Um die personale Identität zu sichern, muss lediglich vorausgesetzt werden, dass sich entweder das körperliche Substrat der Person kontinuierlich (und nicht diskontinuierlich) verändert oder dass sich die Person jeweils an eine begrenzte Phase ihrer vorhergehenden Existenz erinnert. Auch ein unendlich lebender Methusalem muss sich nicht an seine Kindheit erinnern können. Es ist hinreichend, dass er sich in Phase t seines Lebens jeweils an die Phase t-1 erinnert und sich die Phasen wie Glieder einer Kette aneinanderreihen. Wäre es gut, wenn es den Tod nicht gäbe und diese Vision Realität würde, oder ist es im Gegenteil gut, dass es den Tod gibt, der diese Vision für den Menschen real unmöglich macht? Falls wir uns – programmgemäß – auf die Antwort beschränken, die aus der Sicht des Individuums naheliegt, wird man mit einiger Sicherheit sagen können, dass keine dieser Alternativen mit einem bedingungslosen Ja zu beantworten ist. Ist auf die Vision einer Unsterblichkeit, so verstanden, jemals ein bedingungsloses Ja gegeben worden? Auf ein bedingungsloses Ja sind nolens volens allenfalls diejenigen Axiologien festgelegt, die das Leben entweder zum alleini-
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gen Gut oder aber zum höchsten in einer lexikografischen Rangfolge von Gütern erklären. Zu der ersten Form einer radikal „vitalistischen“ Axiologie, die kein anderes Gut neben Leben und Überleben kennt, tendierte Albert Schweitzer mit seiner Lehre von der „Ehrfurcht vor dem Leben in allen seinen Erscheinungsformen“ (vgl. Schweitzer 1966, Schweitzer 1986, 60). Schweitzer sah zwar im menschlichen Leben lediglich eine von vielen Formen des Lebens: Das Leben ist etwas, das der Mensch mit Tieren und Pflanzen teilt. Aber zahlreiche Äußerungen Schweitzers legen nahe, dass er das menschliche Leben als die höchstentwickelte und höchstrangige Form von Leben sah, zu dessen Erhaltung zwar das Leben von Tieren und Pflanzen, das aber seinerseits nicht der Erhaltung des Lebens von Tieren und Pflanzen geopfert werden darf. Falls aber das Leben für den Menschen unter den menschlichen Gütern das einzige intrinsische Gut ist, muss ein unsterbliches Leben einem zeitlich begrenzten Leben ungeachtet aller andere Bedingungen vorzuziehen sein, es sei denn, ein kürzeres Lebens wäre erforderlich, um das Leben eines oder mehrerer anderer Menschen zu erhalten oder zu ermöglichen. Die Tendenz zu einer „vitalistischen“ Axiologie zweiter Art, einer, die dem Leben keinen ausschließlichen aber doch einen grundsätzlich höheren Wert zuspricht als dem Nicht-Leben, findet sich bei Ulrich Steinvorth unter dem Titel „Prinzip der Fülle“ (1994, 105 ff.)). Nach dieser Konzeption ist ein Sein unter allen Bedingungen einem Nicht-Sein vorzuziehen, auch wenn dies Sein mangelhaft erscheint (vgl. Steinvorth 1994, 112). Danach wäre das Leben in jedem Fall dem Nicht-Leben vorzuziehen, auch wenn die einzige Alternative zum NichtLeben ein Leben in „ewigen“ Höllenqualen ist. Beide Konzeptionen sind wenig plausibel. Ein unendliches Leben ohne die Freiheit, es zu beenden, falls es zur Hölle wird, ist eine – nicht zuletzt literarisch gebührend ausgeschlachtete – Horrorvision. Falls aber die Freiheit, das Leben zu beenden, ein intrinsisches Gut ist, kann das Leben nicht das einzige intrinsische Gut sein. Entsprechendes gilt für die zweite Konzeption. Falls das Leben ein höheres Gut ist als die Freiheit, es bei dauerhafte Absinken der Lebensqualität unter ein akzeptables Niveau zu beenden, besteht auch die Freiheit nicht, sich in einer entsprechenden Situation gegen das Weiterleben zu entscheiden. Nach beiden Konzeptionen bestünde im Konfliktfall eine absolute Lebenspflicht. Beide Formen eines normativen Vitalismus erscheinen wenig akzeptabel. Sie werden der für den Menschen charakteristischen Fähigkeit zur Autonomie nicht gerecht. Dieses Urteil betrifft allerdings ausschließlich Argumente, die die Wünschbarkeit der Unsterblichkeit aus axiologischen Prämissen herleiten, die so stark sind, dass sie zu einem möglichst langen Leben verpflichten. Schwächt man diese axiologischen Voraussetzungen ab, erscheint ein Leben ohne Tod prima facie durchaus wünschenswert. Das ist etwa dann der Fall, wenn man, wozu viele neigen, das Leben für sich genommen als intrinsischen Wert annimmt,
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daneben aber auch weitere Werte gelten lässt, von denen zumindest einige dem Wert des Lebens lexikografisch vorgeordnet sind. Unter dieser Bedingung sprechen zumindest zwei Argumente dafür, dass Unsterblichkeit einem begrenzten Leben prima facie vorzuziehen ist. Das erste ist die generelle Vorzugswürdigkeit eines Mehr gegenüber einem Weniger eines intrinsischen Guts. Falls das Leben unabhängig von seiner Qualität und seinen Auswirkungen auf andere ein intrinsischer Wert ist, folgt aus der Annahme, dass mehr von einem Gut stets besser ist, dass ein längeres Leben notwendig besser ist als ein kürzeres und damit soweit wünschenswerter. Es ist nicht zu sehen, warum ein Mehr in diesem Fall nicht ebenso eine Wertsteigerung bedeuten sollte als bei anderen intrinsischen Gütern. Dass in unsere diesbezüglichen Alltagsurteile häufig weitere Gesichtspunkte einfließen – wie dass ein sehr lange Lebender möglicherweise anderen unwillkommene Belastungen auferlegt oder deren Lebenschancen mindert – tut, da es hier lediglich um die intrinsische Wertdimension geht, nichts zur Sache. Zweitens erscheint aus derselben individuellen Perspektive ein längeres Leben auch dann wünschenswerter als ein kürzeres, wenn auf die Annahme verzichtet wird, dass das Leben für sich genommen ein intrinsisches Gut ist. Auch dann bleibt das Leben eine Ermöglichungsbedingung zahlreicher Güter, die vermutlich weiterhin als intrinsische Güter angesehen werden, etwa Glück, Macht oder Tugend. Mit dem Leben enden zwangsläufig auch die praemia vitae, die das Leben für das Individuum lebenswert machen. Insofern spricht viel dafür, dass auch für denjenigen, der das Leben lediglich als extrinsisches Gut sieht, eine Verlängerung des Lebens zumindest prima facie wünschenswert sein muss, im Extremfall auch die Unsterblichkeit. Angesichts dessen ist es zunächst überraschend, dass sich Verteidigungen der Vorzugswürdigkeit eines unendlichen Lebens sehr viel seltener in der Literatur finden als Verteidigungen der Vorzugswürdigkeit eines endlichen. Allerdings ist auffällig, dass nur wenige dieser Verteidigungen der Sterblichkeit auf streng apriorische Argumente zurückgreifen. In der Mehrzahl greifen sie auf anthropologische Argumente zurück, die dann freilich der Kritik ausgesetzt sind, in zu weitgehenden Maße von bestimmten empirischen Voraussetzungen abzuhängen, um prinzipielle Geltung beanspruchen zu können. In seinem bekannten Essay Die Sache Makropulos. Reflexionen über die Langeweile der Unsterblichkeit (Williams 1978) bietet Bernard Williams eine ganze Phalanx zum Teil ausgeführter, zum Teil angedeuteter Argumente für die These auf, dass ein endloses Leben nicht wünschenswert sein könne – teils, weil die Idee eines endlosen Lebens an eine begriffliche Grenze stößt, teils, weil Unsterblichkeit aus anthropologischen Gründen notwendig zu endloser Langeweile führen muss. Die beiden von Williams angeführten apriorischem Argumente vermögen allerdings kaum zu überzeugen. Das eine ist, dass ein unsterbliches Leben
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nur dann wünschenswert wäre, wenn ich mir wünschen könnte, dass meine späteren – in diesem Fall in eine unbegrenzte Zukunft hineinreichenden – Wünsche erfüllt werden. Von diesen habe ich jedoch in der großen Mehrzahl heute noch keinerlei klare Vorstellung: Wäre dies … der einzige kategorische Wunsch, der mich vorwärts in dieses Leben triebe, so wäre anscheinend zumindest erforderlich, dass jede Vorstellung, die ich von jenen künftigen Wünschen habe, es mir verständlich macht, wie sie in Anbetracht meines Charakters meine Wünsche sein können. (Williams 1978, 149)
Die Tatsache, dass ich von meinen zukünftigen Wünschen nur eine höchst unklare Vorstellung habe, soll es nicht erlauben, sie als „meine“ zukünftigen Wünsche zu denken. Dazu sei erforderlich, diese Wünsche auf Merkmale meiner Person zu beziehen, die ich als Züge meines persönlichen Charakters identifizieren kann. Für Williams heißt das, dass die Voraussetzung der diachronen Einheit der Person, die die Idee der Unsterblichkeit trägt, nicht aufrechtzuerhalten ist: Die diachrone Einheit der Person würde verlangen, dass ich meine späteren Wünsche bereits heute eingrenzen kann, nämlich auf diejenigen, die mit meinem gegenwärtigen Charakter vereinbar sind. Die Frage stellt sich jedoch, warum ich, wenn ich mich als unsterblich denke, mich nicht gleichzeitig auch als charakterlich variabel denken können soll. Es ist nicht zu sehen, warum ich mir nicht vorstellen können soll, dass sich mein Charakter in einem radikal verlängerten oder sogar ins Unendliche ausgedehnten Leben ändert, ohne dass dies meine Identität als die Person, als ich die mich heute kenne, beeinträchtigt. Die Einheit der Person erfordert keine Einheit der Persönlichkeit. Eine substanzielle Charakteränderung (wie wir sie aus Bekehrungsgeschichten kennen) gefährdet möglicherweise die Einheit der Persönlichkeit. Sie gefährdet aber nicht notwendig auch die diachrone Einheit der Person. Williams scheint bei diesem Argument von einem geradezu Schopenhauer’schen Nativismus des Charakters auszugehen. Dieser trifft aber bereits auf die bestehenden Verhältnisse und auf das endliche Leben nur begrenzt zu. Auch unter Realbedingungen muss ich davon ausgehen, dass schwerwiegende Lebensereignisse wie schwere Erkrankungen und andere Schicksalsschläge, aber auch mögliche neue Partnerschaften oder Psychotherapien meinen Charakter – bei aller relativen Konstanz des Charakters – nicht unverändert lassen und ich dann durchaus auch Wünsche entwickeln werde, die mir, so wie ich heute bin, fremd sind bzw. die ich aus heutiger Sicht für nicht wünschenswert halte. Die Einheit der Person scheint durch einen derartigen Wechsel des Wunschprofils nicht gefährdet. Ein zweites begriffliches Argument, das Williams gegen die Wünschbarkeit von Unsterblichkeit geltend macht (oder eher: andeutet), ist, dass ein Charak-
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ter, der seinerseits einen Charakterwechsel oder – wie im Fall des mythischen Tiresias – eine Aufeinanderfolge klar voneinander abgegrenzter Leben mit sich einstimmig findet, kein „menschlicher Charakter“ mehr wäre. Die 342 Jahre alte Protagonistin von Karel Čapeks Drama Die Sache Makropulos, die Williams zum Ausgangspunkt nimmt, könne keinen „menschlichen Charakter“ haben, wenn sie sich nicht langweilt – wobei allerdings unklar ist, ob diese Bemerkung auf die spezielle Situation dieser Protagonistin zielt, die physisch und psychisch seit 300 Jahren in derselben Altersphase stagniert, oder auch darüber hinaus. Aber der Gedanke, mit der Idee der Unsterblichkeit die Sphäre des Menschen zu überschreiten, scheint ganz unabhängig vom konkreten Anwendungskontext problematisch. Was „menschlich“ und was „übermenschlich“ ist, steht nicht ein für alle Mal fest, sondern unterliegt derselben Dynamik und Offenheit, die der menschlichen Gattung als ganzer eigentümlich ist. Sollte es etwa „unmenschlich“ sein, was die heutigen Freunde des Ganzkörper-Freezing für sich anstreben, den Beginn eines „neuen Lebens“ ohne die Hinfälligkeit ihres gegenwärtigen Körpers? Wie der Begriff des Menschen ist auch der Begriff der Person hinreichend flexibel, eine Abfolge verschiedener „Leben“ mit der Aufrechterhaltung nicht nur (unter den angegebenen Minimalbedingungen) der personalen Identität, sondern der Personalität aufrechtzuerhalten. Falls eine Person bereits in dem uns vertrauten Leben eine Reihe qualitativ verschiedener Phasen durchlaufen kann, in denen sie verschiedene Persönlichkeitsmerkmale ausprägt, muss dasselbe auch von einer Person mit einer unbegrenzten Anzahl solcher Phasen gelten. Bei Tiresias waren es sieben „Leben“, durch die er hindurchgegangen ist, teils als Mann, teils als Frau, was ihn dem Mythos zufolge weiser gemacht hat als alle übrigen Sterblichen. Aber warum soll Tiresias, wie Williams behauptet, „letztlich keine Person [sein], sondern ein Phänomen“ (Williams 1978, 153)? Einmal ist die Frage, ob und wie sich Tiresias’ Charakter von einem Leben zum anderen verändert, durch die unterstellten Bedingungen nicht präjudiziert (auch bei einer Geschlechtsumwandlung ändert sich der Charakter allenfalls partiell). Zum andern ist nicht klar, warum die Eigenschaft, eine Person zu sein, „Charakterfestigkeit“ voraussetzt. Aber auch die anthropologischen Argumente, die die zwangsläufige Langweiligkeit der Unsterblichkeit plausibel machen sollen, scheitern an der für die Gattung wie für das Individuum geltenden „Nicht-Festgestelltheit“ des Menschen. Sie berufen sich durchweg auf vermeintliche anthropologische Konstanten, deren Konstanz allenfalls für die Vergangenheit erwiesen, aber für die Zukunft nicht verbürgt ist. Selbstverständlich wäre es unrealistisch anzunehmen, dass eine signifikante Verlängerung der Lebensspanne bereits unter den heutigen Bedingungen des technisch-medizinischen Fortschritts wünschenswert
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wäre. Auf diese Annahme wäre jedoch ein Verteidiger der Wünschbarkeit der Unsterblichkeit ebenso wenig verpflichtet wie die Verteidiger der Wünschbarkeit einer radikalen Lebensverlängerung (vgl. Knell 2009, Hainz 2014). Die atemberaubende Verlängerung der Lebenserwartung, die die medizinischen und sozialen Fortschritte der letzten fünfzig Jahre möglich gemacht haben, haben nur bei wenigen der Hochbetagten den Wunsch nach einer Verdoppelung der Lebensspanne aufkommen lassen. Nicht nur ist es bisher allenfalls gelungen, den physischen Verfall im hohen Alter hinauszuzögern, nicht aber zu überwinden. Relevanter noch für die Frage der Wünschbarkeit eines unsterblichen Lebens ist die Frage der psychischen Lebensqualität: Bedeutet ein Nicht-Sterben-Müssen die Unumgänglichkeit von Lebensüberdruss, Vereinsamung, Lebensmüdigkeit oder gar Verzweiflung? Das ist insbesondere dann nicht plausibel, wenn vorausgesetzt wird, dass das Nicht-Sterben-Müssen nicht mit einem Nicht-Sterben-Können oder Nicht-Sterben-Dürfen zusammengeht und die Freiheit, das Leben aufzukündigen, uneingeschränkt weiterbesteht. Im Übrigen ist die gegenwärtig von vielen Älteren beklagte Minderung der Fähigkeit und Motivation, sich im hohen Alter neue Ziele zu setzen, neue Interessen entwickeln und neue Kontakte zu knüpfen, im Prinzip ebenso überwindbar wie der physische Verfall. Dass sich radikale Biokonservative wie Leon Kass, die jede Form von Enhancement verteufeln, zu Äußerungen hinreißen lassen wie „Was wäre noch 15 Jahre lang zu tun, nachdem man bereits 25 Jahre Präsident von Harvard gewesen ist?“ (nach Harris 2009, 202), ist möglicherweise verständlich angesichts der überschwänglichen Visionen einiger Unsterblichkeitspropheten, die ihre Hoffnungen auf nichts anderes als die Fortschritte der Molekularbiologie gründen (vgl. de Grey/Rae 2010). Aber nicht nur axiologisch, sondern auch prognostisch bewegt sich dieserart Pessimismus auf dünnem Eis. Jede Prognose darüber, wie sich die psychische Vitalität in Zukunft entwickelt, ist ebenso prekär, wie es in der Vergangenheit die Prognosen über die zukünftige Lebenserwartung waren. Wer etwa hätte vor 50 Jahren vorauszusagen gewagt, dass weibliche Neugeborene in Deutschland heute eine mittlere Lebenserwartung von 100 Jahren, in Japan sogar eine von 104 Jahren haben? Damit wird auch Williams’ Argument gegen die spinozianische Vision einer nicht endenden geistigen Aktivität hinfällig. Selbstverständlich ist Williams zuzugestehen, dass geistige Tätigkeit, Lernfähigkeit und intellektuelle Neugier keine autarken, sich gewissermaßen selbstnährenden Fähigkeiten sind. Ihre Vitalität ist, möglicherweise noch stärker als andere Lebensfunktionen, abhängig von der Funktionsfähigkeit des sie tragenden biologischen Organismus. Keiner hat das genauer gesehen als Spinoza selbst, der in seinem System die Leistungsfähigkeit des Körpers und des Geistes eng aneinanderkoppelte. Seine Utopie war ja nicht die platonische eines vom Körper befreiten Geistes, der erst dann mit den Flügeln zu schlagen beginnt, wenn er vom Boden abhebt, sondern die einer ganzheitli-
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chen, Körper und Geist gleichermaßen umfassenden Vitalität, das mikrokosmische Abbild der Vitalität des Kosmos in seiner Gesamtheit. Eine unbegrenzte Aufrechterhaltung der geistigen Vitalität ist keine irgendwie erschreckende Vision. Auch an Gegenständen für geistige Tätigkeit kann es nicht mangeln. Wir können davon ausgehen, dass weder die Geschichte noch Wissenschaft und Kunst in naher oder ferner Zukunft an ein irgendwie geartetes Ende kommen.
3.3 Die Frage nach dem Wann: Der „richtige“ Todeszeitpunkt 3.3.1 Ist der Wunsch nach einem Ende des Lebens notwendig irrational? „Noch klingt fremd die Lehre: „stirb zur rechten Zeit!““ lässt Nietzsche sein Alter Ego Zarathustra sagen (Nietzsche 1980, Bd. 4, 93). Das ist – wie auch viele andere Aussagen Nietzsche zu Tod und Sterben – auf die christliche Lehre der Unverfügbarkeit des eigenen Lebens gemünzt. Diese kann im gegenwärtigen postchristlichen Zeitalter nicht mehr auf einhellige Zustimmung rechnen. Dass die Aufforderung „stirb zur rechten Zeit!“ überhaupt jemals berechtigt sein kann, hängt von zwei Voraussetzungen ab, die hier voneinander getrennt diskutiert werden sollen: erstens davon, dass es ein plausibles Kriterium gibt, auf das sich das Urteil, dass ein Tod zur „rechten“ statt zur „falschen“ Zeit eintritt, stützen kann; zweitens davon, dass das Individuum in normativer Hinsicht frei ist, über den Zeitpunkt seines Todes zu bestimmen. Dass aus subjektiver Sicht eine Präferenz für oder gegen den Tod bestehen kann, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden. Zwar scheint Kant der Meinung gewesen zu sein, dass der natürliche Selbsterhaltungstrieb so übermächtig sei, dass der Wunsch, der Tod möge früher als später (und von eigener Hand) eintreten, in einer bestimmten Hinsicht zu einem Widerspruch führe und mit dem Kategorischen Imperativ nicht verträglich sei. Gleichzeitig stellt er jedoch nicht in Frage, dass es vorkommt, das jemand, „durch eine Reihe von Übeln, die bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, einen Überdruß am Leben empfindet“ (Kant 1902, Bd. 4, 421). Kant scheint nicht nur nicht ausschließen zu wollen, dass jemand vor der Wahl steht, sich zwischen Tod und Weiterleben zu entscheiden, sondern auch, dass er in dieser Situation durchaus „noch so weit im Besitze seiner Vernunft“ ist, dass er Vernunftargumenten, seien sie prudenzieller oder moralischer Natur, zugänglich ist. Man könnte den Gedanken Kants, dass der Wille zur Lebensbeendigung widersprüchlich sei und „sich selbst aufhebt“ (Kant 1924, 185), weiter ausspinnen und argumentieren, dass es so etwas wie eine Präferenz für oder gegen das Weiterleben bereits deshalb nicht geben könne, weil man das Nicht-Sein mit dem
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Sein nicht vergleichen könne. Das Nicht-Sein sei für das Individuum, das sich selbst als nicht-seiend denken will, kein möglicher oder allenfalls ein paradoxer Gedanke. Ebenso wenig wie man das Sein der Welt aus dem Gedanken an das reine Nichts herauskürzen könne, könne man sich selbst – die eigene Existenz – aus dem Gegenstand des Denkens herauskürzen. Die Alternative des HamletMonologs von Sein und Nicht-Sein sei insofern, anders als es dort heißt, keine „Frage“, sondern eine Scheinfrage. Ein Argument auf dieser Linie wäre nicht besonders überzeugend. Zum einen hat der Gedanke, dass man als Individuum zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr lebt, nichts Unmögliches oder Paradoxes. Auch wenn man existieren muss, um denken zu können, impliziert das nicht, dass die eigene Existenz Teil des intentionalen Gehalts jedes Denkens ist. Wie wir die unermesslichen Zeiträume der Existenz des Kosmos vor unserer Lebenszeit zum Gegenstand des Denkens machen können, können wir auch die unermesslichen Zeiträume des Kosmos nach unserer Lebenszeit zum Gegenstand des Denkens machen. Zum andern erfordert eine Wahl zwischen Weiterleben und Tod keinen Vergleich zwischen späterem Sein und späterem Nicht-Sein. Die Gegenstände dieser Wahl können auch ohne ausdrücklichen Bezug auf Nicht-Sein oder Nicht-Seiendes beschrieben werden, etwa so, dass zwei mögliche Lebensdauern miteinander verglichen werden, ein Leben mit dem Endpunkt t und ein Leben mit dem Endpunkt t+n. Beide verglichenen Gegenstände wären problemlos kommensurabel. Keiner hätte den Tabucharakter einer Null, durch die man nicht kürzen darf. Die Präferenzen des Individuums wären in beiden Fällen auf Positives gerichtet – ganz ebenso wie die Präferenzen eines Fußkranken, der sich vornimmt, eine begrenzte Wegstrecke zu gehen und dann anzuhalten. Wie sich der Fußkranke sagen kann: „Bis dahin gehe ich und nicht weiter“ und dafür möglicherweise gute Gründe hat, kann sich auch der „Lebenskranke“ sagen: „Bis dahin halte ich durch und dann nicht mehr“ und dafür ebenfalls gute Gründe haben. Faktisch spielen Gründe und Gegengründe bei Präferenzen für oder gegen das Weiterleben allerdings eine untergeordnete Rolle. Wünsche für ein Weiterleben werden allenfalls in Situationen zum Thema, in denen sich ein Mensch durch starke entgegenstehende Wünsche herausgefordert sieht, etwa in der HamletSituation der Erwägung eines Suizids oder in der Situation der Entscheidung über Weiterführung oder Beendigung einer schwer belastenden Therapie bei tödlicher Krankheit. In der Regel verhindert der, wie Schopenhauer sagt, „angeborene riesenstarke Trieb zur Erhaltung des Lebens“ (Schopenhauer 1988, III (2), 159), dass die Frage des Weiterlebens in den Blick kommt, geschweige denn sich als echte Entscheidungsfrage stellt. Ähnliches gilt aber auch für Wünsche nach Lebensbeendigung. Sie sind überwiegend Ausfluss vorübergehender Stimmungslagen oder psychischer Störungen. Aber auch wenn eine Abgrenzung von krankhaft,
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vor allem durch Depression bedingten Todeswünschen und rationalen Todeswünschen nicht leicht ist, kann es eine Reihe von Gründen geben, die aus der Sicht des Individuums den Verzicht auf Weiterleben wünschenswert erscheinen lassen und für andere nicht nur nachvollziehbar sind, sondern von ihnen auch für berechtigt gehalten werden – ohne dass diese Gründe damit notwendig auch bereits verhaltenswirksam würden. Dass ein Mensch Gründe hat, ein mögliches weiteres Leben für nicht (er)lebenswert zu halten, und diese Gründe von anderen geteilt werden, impliziert angesichts der Übermächtigkeit des Selbsterhaltungstriebs noch weniger als sonst, dass er bereits deshalb auch schon ein Verlangen nach Behandlungsabbruch äußert oder einen Suizid erwägt. Die Gründe, die jemand haben kann, den Tod dem Weiterleben vorzuziehen, sind vielfältig, stimmen aber darin überein, dass der Einzelne von einem Weiterleben insgesamt eine negative Bilanz erwartet. Er erwartet, dass die Zukunft seines Lebens seinem Leben nicht hinreichend viel Positives bieten wird, um seine negativen Seiten aufwiegen zu können, dass es ihn insgesamt nicht glücklicher, erfüllter oder vollkommener macht oder ihm Gelegenheit gibt, anderen nützlich zu sein. Darüber hinaus haben solche Gründe, so vielfältig sie im Einzelnen sind, weitere wichtige deskriptive und normative Gemeinsamkeiten. Erstens spiegeln sich in ihnen die jeweiligen Wertüberzeugungen, Lebenseinstellungen und Erwartungen des Individuums. Sie sind nicht allgemeingültig. Deshalb sind sie nicht durchweg für jeden unmittelbar nachvollziehbar, sondern bedürfen dafür möglicherweise einer ernsthaften Anstrengung der empathischen Einfühlung. So weist die Leidenstoleranz eine große Variationsbreite auf. Nur wenige Formen des Leidens lassen, wenn keine Besserung in Sicht ist, bei so gut wie jedem Menschen den Wunsch nach dem Tod aufkommen. Bei anderen, etwa schwer Traumatisierten, können dafür bereits aus der Sicht anderer geringfügig erscheinende psychische Verletzungen hinreichen. Zweitens sind die Gründe, die ein Individuum für eine Lebensbeendigung hat, nicht immer gute Gründe. Sie sind möglicherweise fehlerbehaftet, etwa wenn ihnen unrealistische Einschätzungen zugrunde liegen oder wenn sie – wie häufig bei Depressionen – eine eingeschränkte Fähigkeit zur Bewertung zukünftiger positiver Erlebniszustände erkennen lassen. Der paradigmatische Fall eines gut begründeten Wunsches, den Tod dem Weiterleben vorzuziehen, ist der eines Individuums, das keine Aussicht sieht – und nach bestem Wissen auch objektiv nicht hat –, dass sich ein schwerer Leidenszustand, in dem es sich befindet, in Zukunft so weit bessert, dass er für das Individuum – nach dessen eigenen Maßstäben – erträglich wird. Dies ist die Situation, an der wohl die meisten denken, wenn sie eine Patientenverfügung aufsetzen, mit der sie für den Fall späterer Unfähigkeit, ihren Willen bilden oder äußern zu können, den Abbruch oder die Nichtaufnahme einer möglichen medizinischen Behandlung verfügen. Sie lehnen eine medizinische Behandlung nicht rundher-
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aus ab, sondern wünschen, dass lediglich die palliativen Potenziale der Medizin eingesetzt werden, die den Tod erleichtern (und in vielen Fällen sogar hinauszögern), ohne weitere therapiebedingte Leiden in Kauf nehmen zu müssen. Das Leiden, das für die Zukunft erwartet wird, weist dabei eine große Spannbreite auf, die nicht nur mit der individuellen Leidenstoleranz, sondern auch mit dem Persönlichkeitsprofil des jeweiligen Individuums variiert. Grund des Leidens – und Grund dafür, nicht mehr weiter leiden zu wollen – können nicht nur körperliche Symptome wie Schmerzen und andere Belastungszustände sein, sondern auch psychische Befindlichkeiten wie Depressionen, Angstzustände, soziale Isolation, als übermäßig empfundene Abhängigkeit und Würdeverlust. Gerade bei den psychischen Leidenszuständen ist die Relativität auf Persönlichkeitsmerkmale, Anspruchsniveaus und biografischen und kulturellen Hintergrund unübersehbar. Wer aus lebensgeschichtlicher Erfahrung mit Einsamkeit zu leben gelernt hat, wird auch die mit hohem Alter und Partnerverlust verbundene Einsamkeit erträglich finden. Wer ein ganzes Leben hindurch von anderen abhängig war, wird die durch Krankheit oder Alter aufgezwungene Abhängigkeit eher erträglich finden als jemand, der sein ganzes Erwachsenenleben hindurch auf Unabhängigkeit Wert gelegt hat. Augenfällig ist die Relativität insbesondere bei dem als Würdeverlust empfundenen Verlust der Selbstachtung. Sie ist in hohem Maße durch individuelle Selbstbilder und Ich-Ideale und indirekt durch kulturelle Faktoren wie bürgerliche und berufliche Ehre, Reputation und öffentliche Moral bestimmt. Wahrung der individuellen Würde als (tatsächlicher oder scheinbarer) Grund gegen das Weiterleben darf insofern nicht verwechselt werden mit der Menschenwürde als allgemeinverbindlicher Norm. Der im Zusammenhang mit dem selbstbestimmten Sterben häufig verwendete Begriff der Würde (häufig auch „Menschenwürde“ genannt) weicht vom Begriff der Menschenwürde im vorherrschenden Verständnis nicht nur ab, sondern ist ihm nahezu diametral entgegengesetzt. Während das, was die Menschenwürde verlangt, gesellschaftlich definiert ist, vor allem durch die Verfassungs- und übrige Rechtsprechung, ist die Würde, dessen (drohender) Verlust zum Anlass von Sterbewünschen wird, vollständig subjektiv definiert – durch die Wünsche und das normative Selbstbild des Individuums. Zwischen subjektivem (empfundenem) Würdeverlust und objektiver (sozial definierter) Beeinträchtigung der Menschenwürde besteht deshalb keine Korrelation. Die Menschenwürde eines Menschen kann verletzt sein, ohne dass er sich dadurch in seiner individuellen Würde beeinträchtigt sieht. Andererseits kann sich jemand in seiner individuellen Würde getroffen fühlen – etwa wenn er sich in seiner Ehre schwerwiegend gekränkt sieht –, ohne dass ihm so schwerwiegende Einbußen hinsichtlich eines oder mehrerer Grundgüter zugemutet worden sind, dass von einer Verletzung seiner Menschenwürde gesprochen werden kann.
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Außerdem sind Menschenwürdeverletzungen inhaltlich stärker festgelegt als Verletzungen der individuellen Würde. Worin eine Menschenwürdeverletzung besteht, ist durch Recht, Gesetz und gesellschaftliche Moral begrenzt, während die Inhalte der individuellen Würde prinzipiell unbegrenzt sind. Diese können sogar hochgradig idiosynkratisch sein. Es ist nicht erforderlich, dass sie von allen geteilt, nicht einmal, dass sie von allen verstanden werden. Und schließlich kann von Menschenwürdeverletzungen nur im Fall vorsätzlichen menschlichen Handelns gesprochen werden. Dagegen kommen als Ursachen von Verletzungen der individuellen Würde auch nicht-vorsätzliche und natürliche Faktoren in Frage, etwa dauerhaft als unerträgliche Zumutung empfundene Belastungen durch eine chronische Erkrankung. Die Aussicht auf fortgesetztes Leiden ist allerdings nicht der einzige Grund und – falls die darin enthaltene Prognose über die Fortdauer der Situation berechtigt ist – möglicherweise gute Grund gegen ein mögliches Weiterleben. Als Grund kommt nicht nur die Unerträglichkeit des gegenwärtigen Zustands in Frage, sondern auch ein dauerhafter Verlust des Lebenssinns. Der Wunsch, dass das Leben enden möge, entspringt dann nicht einer als quälend empfundenen akuten oder chronischen Notsituation, sondern einem anhaltenden Gefühl der Leere. Der Einzelne empfindet ein mögliches Weiterleben als indifferentes Ausharren im Dasein ohne einen Inhalt, der es ausfüllen könnte. Eine von den Formen, die dieses Empfinden annehmen kann, ist das Phänomen der „Lebenssattheit“, des Gefühls, angesichts eines erfüllten Lebens „genug“ gelebt zu haben. Das verbleibende Leben erscheint wie ein bedeutungsloses Nichts angesichts der hinter einem liegenden Fülle an Bedeutung. Diese „Fülle an Bedeutung“ kann sich aus verschiedensten Quellen speisen. Sie lassen sich grosso modo mit den unterschiedlichen Formen in Analogie setzen, in denen man ein Leben als Ganzes bewerten kann. Es hat sich bewährt, bei der Bewertung des Lebens als Ganzen zwischen zwei Formen zu unterscheiden: innerlebensgeschichtlichen und lebensholistischen Bewertungen (vgl. Knell/Weber 2009, 129). Innerlebensgeschichtliche Bewertungen sehen das Leben als Gesamtheit von im Einzelnen positiv oder negativ bewerteten Zuständen, Phasen oder Perioden. Sie wägen Gewinn und Verlust quasi bilanzierend gegeneinander ab. Lebensholistische Bewertungen bewerten ein Leben qualitativ als ganzheitliche Gestalt. Lebenssattheit kann vorliegen, wenn ein Mensch die (über eine längere Zeit unveränderte) Überzeugung gewinnt, dass sein Leben nach den von ihm zugrunde gelegten Bewertungsmaßstäben keinen weiteren Zuwachs an Wert erwarten lässt, wobei diese entweder einem der beiden Muster folgen oder innerlebensgeschichtliche und lebensholistische Aspekte kombinieren.
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Die häufigsten Maßstäbe einer innerlebensgeschichtlichen Bewertung dürften so beschaffen sein, dass sie subjektive Güter zugrunde legen, wobei diese verschiedene Inhalte annehmen können, u. a. hedonistische, präferenzielle oder aus beiden gemischte Maßstäbe. Das hedonistisch gute Leben ist das aus überwiegend freudigen Lebensmomenten bestehende Leben, wobei freudige und leidvolle Momente miteinander bilanziert werden. Danach wäre der „richtige“ oder wünschenswerte Todeszeitpunkt der, ab dem die Lebensmomente überwiegend so leidvoll werden, dass sie die Gesamtbilanz des Lebens verschlechtern oder – im Fall der „Lebenssattheit“ – so leer, dass sie der Summe des insgesamt überwiegend freudvollen gelebten Lebens nichts hinzufügen. Nach dem präferenziellen Maßstab kommt es statt auf Freude und Leid auf die Erfüllung oder Enttäuschung von Wünschen, Lebensplänen und Hoffnungen an. Jemand, der überzeugt ist, dass seine Wünsche an das Leben ganz überwiegend erfüllt worden sind und seine Hoffnungen zumindest insoweit, als er zu deren Verwirklichung beitragen konnte, kann in diesem Sinn einen Grund haben, sein Leben als abgeschlossen zu sehen, auch wenn seine Bilanzierung, was freud- und leidvolle Lebensmomente betrifft, nicht in jedem Fall so positiv ausfällt wie die des Lebenshedonisten. Vor allem dann wird er einen Grund haben, sein Leben als „vollendet“ zu sehen, wenn er die Fähigkeit und Gelegenheit hatte, zur Verwirklichung seiner Wünsche, Pläne und Hoffnungen durch eigene Tätigkeit – sei es eigennütziger, altruistischer oder kreativer Art – beizutragen. Er kann sich sagen, dass es für ihn „genug“ ist, weil er „genug“ zur Erreichung seiner Ziele getan hat. Möglicherweise ist diese Haltung sträflich einseitig. Niemandem ist zu wünschen, dass er sich in der Bewertung seines Lebens ausschließlich von diesem Maßstab leiten lässt. Er wird Lebensphasen der durch körperliche oder geistige Schwäche oder Mangel an Gelegenheit erzwungenen Untätigkeit in stärkerem Maße als andere als belastend empfinden. Ihm ist zu wünschen, dass er in diesen Phasen in sich genug Hedonismus findet, um auch rein passive Lebensmomente genießen zu können. Innerlebensgeschichtliche Lebensbewertungen können alternativ auch von objektiven Gütern ausgehen oder diese in die Gesamtbewertung einfließen lassen. Die Bewertung orientiert sich dann nicht mehr nur daran, wie weit das Individuum Freude und Leid empfunden hat oder seine Wünsche erfüllt worden sind, sondern auch daran, wie weit es bestimmte objektive Wertgehalte realisiert hat und möglicherweise weiterhin realisiert, die ihm unabhängig von hedonistischen und Wunscherfüllungswerten wichtig sind. Die wichtigsten Formen, in denen sich solche Maßstäbe ausprägen können, sind Vielfalt, Empfindungstiefe, Ausschöpfung der Möglichkeiten und moralische Qualität. Ein erfülltes Leben ist notwendig ein insgesamt glückliches Leben, aber es ist zugleich mehr als das. Das Glück, das jemand in seinem Leben gefunden hat,
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muss, wenn es als erfülltes qualifiziert werden soll, mindestens eine von zwei Bedingungen erfüllen: Es muss sich einer gewissen Vielfalt von Erfahrungen verdanken oder einer besonderen Tiefe der mit diesen einhergehenden Gefühle. Das erfüllte Leben ist entweder ein Leben, das Verschiedenes – in passiver wie in aktiver Hinsicht – miteinander verbindet, oder es weist, wenn es – wie bei vielen Sonderbegabungen – ganz auf eine Karte setzt, eine überdurchschnittliche Tiefe der Gefühlslagen und Befriedigungen auf, entweder in menschlichen Nahbeziehungen oder im Bereich der Ästhetik, der Naturerfahrung oder der geistigen Tätigkeit. Ein zweiter Bewertungsmaßstab ist der der Ausschöpfung der gegebenen Möglichkeiten. Auch wenn ein Leben insgesamt nicht besonders glücklich war, kann es sein, dass es dennoch die Möglichkeiten, die die Umstände von Zeit, Ort und anderen kontingenten lebensbestimmenden Faktoren geboten haben, soweit ausgeschöpft hat, dass es, wenn nicht als ein gutes, dennoch als das unter den bestehenden Umständen bestmögliche Leben gelten kann. Auch derjenige, der mit seinen Lebensprojekten überwiegend gescheitert ist, kann sich möglicherweise sagen – und damit beruhigen –, dass er sich nach Kräften bemüht und seine Chancen genutzt hat. Ein dritter Maßstab ist die Bewertung des eigenen Lebens nach moralischen Maßstäben: Das Individuum fragt sich, ob es sich unter moralischen Gesichtspunkten etwas vorzuwerfen hat, wie weit die moralischen Konten in Bezug auf seine Bezugspersonen bereinigt oder bestimmte moralische „Altlasten“ noch nicht abgetragen sind. Wie weit jemand die eine oder andere dieser drei objektiven Maßstäbe in seine retrospektive Lebensbewertung eingehen lässt, ist seine Sache. Aber sofern er sie gelten lässt, wird er sein Leben mindestens solange nicht für so abgeschlossen und „vollendet“ halten, als die verbleibende Lebensspanne Raum lässt, dem Gewonnenen etwas hinzuzufügen. Sofern er diese Chance nicht sieht und, wie es im dritten von Brahms’ Vier ernsten Gesängen heißt, „nicht Bessers zu hoffen noch zu erwarten hat“, wird er darin insoweit einen Grund sehen, den Tod dem Leben vorzuziehen. Dass es sich bei den Maßstäben der Lebensbewertung um individuelle Maßstäbe handelt (was soziale und kulturelle Einflüsse nicht ausschließt) und diese keine Allgemeingültigkeit beanspruchen können, gilt in noch ausgeprägterer Weise für die lebensholistischen Maßstäbe, die ein Leben unabhängig von der Bilanzierung subjektiver oder objektiver Güter nach seiner „Gestaltqualität“ bewerten. Diese Art von Bewertung ist gemeint, wenn ein Leben als „gelungen“ qualifiziert wird, so wie ein Kunstwerk als gelungen und in sich vollkommen oder misslungen und unvollkommen bewertet wird. Um als „gelungen“ gelten zu können, muss ein Leben eine gewisse Stimmigkeit und Einheit aufweisen, so
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wie sich bei einem Kunstwerk, nach klassischen Kriterien beurteilt, die Einzelheiten harmonisch zu einem Ganzen zusammenfügen müssen. Das Leben muss ein einheitliches Gepräge haben, aus „einem Guss“ sein, so dass es sich zu einer kohärenten „Geschichte“ rundet. Dazu muss es das wahren, was Paul Ricoeur „narrative Identität“ (Ricoeur 1987) und Michael Quante „biographische Identität“ (Quante 2002, 291) genannt haben. Es darf keine Brüche aufweisen, die die lebende Person im Lebensverlauf fragmentieren und sie in bezugslose Teilstücke zerfallen lassen. Diesen Maßstab machen sich gegenwärtig viele Menschen angesichts der zunehmenden Aussicht zu eigen, im höheren Alter von einer demenziellen Erkrankung befallen zu werden. In ihren späteren Stadien löst diese Erkrankung die „biografische Identität“ der Person auf, indem sie die für die gefühlte Kohärenz einer Lebensgeschichte maßgebliche Fähigkeit zur Erinnerung an durchlebte Lebensphasen schwächt und häufig mit gravierenden Veränderungen der Persönlichkeit einhergeht. Zumindest der Spätphase der zum Tod führenden Erkrankung wollen sie entgehen, indem sie sich mittels Patientenverfügung („Demenzverfügung“) künstliche Ernährung und die Behandlung interkurrenter Erkrankungen verbitten, auch dann, wenn keine Anzeichen darauf hindeuten, dass sie unter ihrem Zustand subjektiv leiden. Sie ziehen ein kohärentes Leben, in dem sich ihre individuelle Identität von Anfang bis Ende ausprägt, einem wie immer subjektiv glücklichen vor, weil sie ihrem Leben eine kohärente Gestalt geben wollen – ihr Leben so gestalten wollen, wie es ihren persönlichen Vorstellungen von einem guten Leben als Ganzheit entspricht. Diese Überzeugungen können u. a. beinhalten, bestimmte Zustände nicht durchleben zu wollen, weil man sie als unwürdig oder als in anderer Weise mit seinem Selbstkonzept unvereinbar empfindet – ohne in Abrede zu stellen, dass zu diesen auch Zustände des Wohlgefühls oder der Euphorie gehören können (vgl. Jox 2006, 88). Für viele sind Tod und Sterben ein Gegenstand von teils begründeten, teils unbegründeten Befürchtungen. Viele Menschen, die sich vor Tod und Sterben fürchten, befürchten, „zu früh“ zu sterben. Viele haben aber auch die umgekehrte Furcht, „zu spät“ zu sterben – nach dem Zeitpunkt, zu dem sie ihr Leben als abgeschlossen und vollendet empfinden. Wie wir gesehen haben, gibt es mehr als einen Grund, sein Leben für „vollendet“ zu halten. Der Wunsch, dass der Tod kommen möge, ist keineswegs durchweg durch die Aussicht auf weiteres unbehebbares Leiden begründet, sondern – und das zunehmend auf dem Hintergrund schnell steigender Lebenserwartung – auch durch Lebenssattheit ohne Leiden oder durch die empfundene Unvereinbarkeit eines Weiterlebens mit der Aufrechterhaltung der biografischen Identität oder mit dem Bild, das man von sich selbst hat oder in dem man erinnert werden möchte. „Lebenssattheit“ ist insofern ein glücklicher Ausdruck, als er betont, dass diese Sichtweise keine Entwertung
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des bisherigen Lebens oder des Lebens im Allgemeinen beinhaltet. „Der Lebenssatte ist nicht unzufrieden mit seinem Leben, sondern gerade im Gegenteil sehr zufrieden“ (zur Nieden 2016, 101). Auch der Entschluss, ab einem bestimmten Zeitpunkt des geistigen Verfalls nicht mehr mithilfe medizinischer Maßnahmen weiterleben zu wollen, geht im Allgemeinen nicht mit einer Minderschätzung des bis dahin gelebten Lebens einher. Im Gegenteil wird sich dieser Entschluss häufig gerade dem Kontrast der verbleibenden Lebensaussichten mit dem bisher gelebten wertgeschätzten Leben verdanken.
3.3.2 Freiwillige Lebensbeendigung Anders als die Frage nach dem Ob des Todes ist die Frage nach dem Wann des Todes – die nach dem „richtigen“ Todeszeitpunkt – u. a. auch handlungsrelevant. Im Gegensatz zu Zeitpunkt und Umständen unserer Geburt haben wir über Zeitpunkt und Umstände unseres Todes ein gewisses Maß an direkter und indirekter Verfügungsmacht. Direkte Verfügungsmacht haben wir insoweit, als wir es selbst in der Hand haben, uns den Tod zu geben. Indirekte Verfügungsmacht haben wir insoweit, als wir zwischen Lebensweisen mit einer signifikant erhöhten Wahrscheinlichkeit eines frühen Todes und weniger riskanten wählen können. Diese Wahl besteht allerdings nur grundsätzlich. Angesichts der sozial, familiär und biologisch bedingten Einschränkungen, denen die Wahl von Lebensplänen und Berufskarrieren unterworfen ist, wird nicht jeder eine echte Wahl haben, sich als Professor (mit einer typischerweise hohen) oder ungelernter Arbeiter (mit einer typischerweise niedrigen Lebenserwartung) zu betätigen. Die direkten Formen der Lebensbeendigung auf eigenen Wunsch stehen seit jeher bedeutend stärker im Fokus der Anthropologie und Ethik, nicht zuletzt deshalb, weil sie von einer sehr viel „dramatischeren“ Qualität sind als die indirekten Formen, bei denen der Tod lediglich beschleunigt, aber nicht unmittelbar herbeigeführt wird. Ein weiterer Grund für die bevorzugte Aufmerksamkeit für die direkten Formen ist, dass bei ihnen noch weniger als bei den indirekten Formen der Todesbeschleunigung klar ist, wie weit sie auf rationale, d. h. der Diskussion zugängliche Gründe und Erwägungen zurückgehen und weit sie Ausfluss letztlich pathologischer – neurotischer oder psychotischer – Zustände sind oder – in ihren impulsiven Formen – auf akute Affektzustände zurückgehen und gerade aus der dadurch bedingten Obsessivität die Kraft beziehen, sich gegen den Selbsterhaltungstrieb durchzusetzen. Das gilt allerdings für die ausgeprägt „dramatischen“ Formen der freiwilligen Lebensbeendigung wie den (aktiven) Suizid eher als für die weniger dramatischen, in der Regel wohlerwogenen Formen: den Tod durch Abbruch oder Nichtaufnahme der Behandlung einer zum Tod führenden Erkran-
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kung und das Sterbefasten, d. h. die freiwillige Beendigung der Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit. Die Formen, in denen sich der Wunsch nach einem Ende des Lebens äußert, weisen wesentliche Unterschiede auf. Diese treten am deutlichsten hervor, wenn man sie im Sinne von Eskalationsstufen staffelt. Die erste Stufe ist die Annahme des Todes, in welcher Gestalt er auch immer kommt. Der Sterbende „lässt los“, statt sich dem Tod (weiterhin) zu widersetzen. Ein solches Loslassen kann verschiedene Formen annehmen. Die häufigste und für die meisten wünschenswerteste wird die Gelassenheit sein, die Teil vieler religiöser Traditionen ist und integraler Teil der stoischen Lebenslehre war: dem Tod furchtlos und unaufgeregt entgegengehen, dem Tod sich überlassen wie einem wohltuenden Schlaf, ins Nichts als etwas Bergendes und Schützendes versinken. Nicht jedem ist eine derartige Gelassenheit vergönnt. Sterben ist vielfach „messy“, unruhig, hektisch, uneindeutig. Im Extrem kann das Auf-den-Tod-Zugehen die Form verzweifelten Greifens nach dem Tod als Rettung annehmen, wie es Käthe Kollwitz in ihrer Bleistiftzeichnung „Tod wird als Freund erkannt“ festgehalten hat: der Tod als Erlösung aus großer Not. Auf einer zweiten Stufe äußert sich der Todeswunsch darin, dass ein Mensch trotz gegebener bedrohlicher Anzeichen und trotz Wissens um die Möglichkeit, den Todeseintritt zu verzögern, passiv bleibt und bewusst oder halbbewusst darauf verzichtet, Gegenmaßnahmen zu treffen. Beängstigende körperliche Symptome lassen ihn nicht den Weg zum Arzt finden, die Einnahme lebenswichtiger Medikamente wird „vergessen“ oder ein riskanter Lebensstil trotz Warnungen aufrechterhalten. In dieser Form bleibt der Todeswunsch zumeist implizit. Auf der dritten Stufe schlägt der passive Verzicht auf lebenserhaltende Schritte in aktive Abwehr um, sei es durch die ausdrückliche Nichtzustimmung zu einer empfohlenen kurativen Therapie oder das Verlangen nach Abbruch einer einmal aufgenommenen kurativen Behandlung, sofern zu erwarten ist, dass dies den Todeseinschritt beschleunigt. Auch hierbei bleibt der Todeswunsch häufig implizit: Der Tod wird eher in Kauf genommen als angestrebt. Auch führt gerade eine Umstellung von kurativer auf palliative Behandlung häufig nicht nur zu einer Verbesserung der Lebensqualität, sondern auch zu einer Lebensverlängerung. Diese Möglichkeit, den Wunsch nach Beschleunigung des Todes zu realisieren, besteht freilich nur, sofern der Abbruch der Behandlung den Tod – und nicht etwa noch schlimmeres Leiden – nach sich zieht. Viele Menschen leiden darunter, dass die Erkrankung, die sie schwer belastet und ihre Lebensmöglichkeiten aufs Engste begrenzt, nicht-todbringend ist und sich deshalb der Tod auch nicht durch Behandlungsabbruch beschleunigen lässt. Auf einer vierten Stufe lässt sich das Sterbefasten verorten, der bewusste Verzicht auf Essen und Trinken angesichts einer zum Tode führenden oder als
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quälend empfundenen Erkrankung oder bei Lebenssattheit im hohen Alter. Zu dem „aktiven“ Moment der Ankündigung, sich auf diesen Prozess einzulassen, und dem Verlangen, nach Verlust der Einwilligungs- und/oder Äußerungsfähigkeit nicht künstlich ernährt und hydriert zu werden, tritt hierbei mit dem Unterlassen von Essen und Trinken ein „passives“ Moment hinzu. Gegenüber dem Unterlassen von Handlungen zur Lebenserhaltung auf der ersten Stufe nimmt das Unterlassen auf dieser Stufe allerdings eine neue Qualität an, indem es die aktive Mitwirkung anderer verlangt – die eines Pflegenden zur Mundpflege und täglichen Versorgung und die eines Arztes, der gegebenenfalls, im Fall eines Delirs oder Krämpfen in späteren Phasen des sich über ein bis zwei Wochen erstreckenden Verlaufs palliativ tätig wird. Das Sterbefasten galt in der Antike als „Todesart der Philosophen“. Nach Diogenes Laertius soll Demokrit im Alter von 109 Jahren seinen Tod durch Sterbefasten herbeigeführt haben (vgl. Diogenes Laertius 1967, II, 181). Sicherer verbürgt ist ein entsprechender Tod bei dem römischen Kaiser und Stoiker Marc Aurel (vgl. Fündling 2008, 171). Die fünfte und die sechste Stufe verhalten sich wie die zweite und dritte konträr hinsichtlich Aktivität und Passivität: der Suizid und die Tötung auf Verlangen. Bei dem einen tut der Sterbewillige den letzten Schritt, auch dann, wenn er zur Vorbereitung Hilfe in Anspruch nimmt; bei dem anderen ein anderer, die Tätigkeit des Sterbewilligen beschränkt sich auf die Äußerung und Begründung des Verlangens. Dass sich die Reihung von aktiver und passiver Form der Herbeiführung des Todes umkehrt, liegt daran, dass bei der Tötung auf Verlangen ein neuer und ethisch und rechtlich brisanter Aspekt hinzukommt. Anders als beim Sterbefasten und beim Suizid ist der begleitende Arzt nicht nur bei Bedarf und unterstützend tätig, sondern ist in das Geschehen als zentraler Akteur involviert. Psychologisch entspricht die Reihenfolge der Formen, in denen sich ein bestehender kategorischer oder bedingter Wunsch nach Lebensbeendigung in Verhalten umsetzt, einer Steigerung des Widerstands, der dem ansonsten übermächtigen Selbsterhaltungstrieb entgegengesetzt wird. Wie die Erfahrungen in Ländern zeigen, die die Tötung auf Verlangen zulassen, fällt es vielen tödlich oder schwer Erkrankten leichter, ihren Tod durch Tötung auf Verlangen zu beschleunigen als durch einen selbstausgeführten Suizid. Ansonsten scheint sich die Hemmschwelle zwischen Wunsch und Ausführung mit der Stufenfolge der Realisierungsformen sukzessiv zu erhöhen. Der aktive Suizid und das Sterbefasten (als dessen passive Variante) erfordern in der Regel deutlich mehr Selbstüberwindung als das Verlangen nach Behandlungsbegrenzung und erst recht als das Erstellen einer jederzeit revidierbaren Patientenverfügung für den Eventualfall. Hinzu kommen die hemmenden Einflüsse der geltenden sozialen Normen, die in den meisten Kulturen die verschiedenen Formen der Umsetzung von Sterbewünschen der Abstufung entsprechend schärfer verurteilen oder sogar deren Thema-
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tisierung tabuisieren. Während das Eingehen von Todesrisiken zugunsten sozial anerkannter Ziele (insbesondere zur Landesverteidigung und zur Lebensrettung) überwiegend positiv bewertet wird, stoßen insbesondere die Handlungsformen, in denen der eigene Tod nicht nur in Kauf genommen, sondern typischerweise indirekt oder direkt angezielt wird, verbreitet auf Ablehnung. Bestimmend dafür sind teils religiöse Traditionen (die theistischen Religionen verurteilen den Suizid traditionell als Selbstermächtigung des Menschen über den göttlichen Willen), teils eine schwer zu fassende Vielfalt von intuitiven Vorbehalten gegen eine selbstbestimmte Lebensbeendigung. Zu diesen gehört die Intuition, dass eine willentliche Herbeiführung des Lebensendes deshalb problematisch sei, weil sie „unnatürlich“ sei und den menschlichen Willen an die Stelle des Schicksalhaften setzt. In der Tat entspricht das Ausmaß, in dem die verschiedenen Formen der willentlichen Herbeiführung des Lebensendes auf Kritik stoßen, dem unterschiedlichen Ausmaß, in dem das Individuum sein Ende schicksalhaften Faktoren wie Krankheit oder Altersschwäche entzieht und „in die eigene Hand“ nimmt. Von der einen Stufe zur anderen wächst der kausale Anteil, den der Wille des Sterbewilligen im Verhältnis zu den schicksalhaften Faktoren übernimmt. Beim Verzicht (Stufe 2) und beim erklärten Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen (Stufe 3) tritt der Tod weiterhin primär durch schicksalhafte Faktoren ein. Das ist anders auf den höheren Stufen, die zwar faktisch (mit Ausnahme des Suizids) überwiegend in Todesnähe ins Spiel kommen, die aber im Prinzip lange vorher (und bei bester Gesundheit) zur Lebensbeendigung genutzt werden können. Zwar gehört auch bei der Nichtaufnahme oder dem Abbruch einer Behandlung der Verzicht auf die entsprechende medizinische Maßnahme zu den Kausalfaktoren des Todeseintritts: Wäre die Behandlung durchgeführt worden, wäre der Patient – sicher, wahrscheinlich oder möglicherweise – später gestorben, als er gestorben ist. Aber er stirbt, wenn er stirbt, immer noch primär an seiner Erkrankung. Anders bei Sterbefasten, Suizid und Tötung auf Verlangen. Hier liegt der Hauptanteil der Kausalität nicht mehr bei schicksalhaften Faktoren, sondern bei menschlichen Interventionen. Auch wenn die Erscheinungsformen des Sterbefastens denen eines „natürlichen“ Todes nahekommen – das kontinuierliche Schwinden der physischen und mentalen Kräfte –, handelt es sich doch eindeutig um ein nicht weniger absichtliches und gezieltes Eingreifen in den Lauf der Dinge als bei der aktiven und zeitlich punktuellen Selbsttötung (vgl. Birnbacher 2015). Ein guter Teil der Abstufung in der Bewertung, die die verschiedenen Formen der Realisierung von Todeswünschen – zumindest in unserer Kultur – traditionell erfahren, lässt sich mit dem Ausmaß erklären, in dem der menschliche Wille in den Naturverlauf eingreift. Je ausgeprägter und eindeutiger die Intervention
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des Willens in den „natürlichen Lauf der Dinge“, desto eher ist mit ablehnenden Reaktionen zu rechnen. Dem Erklärungswert dieser These entspricht jedoch kein entsprechender Rechtfertigungswert – zumindest solange wir uns auf Fälle beziehen, in denen die Todeswünsche primär von den oben aufgeführten Gründen (und überhaupt von Gründen) bestimmt sind. Solange wir die Tötung auf Verlangen einmal ausnehmen, die dadurch, dass sie eine Fremdtötung darstellt, möglicherweise infolge ihres Missbrauchspotenzials ein besonderes ethisches Risiko birgt, sind die traditionellen Verurteilungen eines selbstbestimmten, in den Naturverlauf eingreifenden Sterbens im Grunde bei Lichte besehen rational kaum nachzuvollziehen. Das gilt insbesondere für die in großen Teilen der Welt traditionelle Verurteilung des Suizids in Situationen, in denen jemand gute Gründe hat, nicht mehr weiterleben zu wollen, aber auch für die seit dem Mittelalter nahezu einstimmige Verurteilung des Suizids in der westlichen Philosophie. Irritierend mutet vor allem die Heftigkeit an, mit der Philosophen wie Kant oder Wittgenstein den Suizid abqualifiziert haben, möglicherweise zur Abwehr persönlicher Versuchungen. Aber gerade die ausgesprochene Phobie Kants gegen den Suizid (die sich am deutlichsten in Kants Vorlesungen zeigt, vgl. Kant 1979, 139), hatte gravierende Folgen. Ohne sie hätte wahrscheinlich weder der zu seiner Zeit vielgelesene Ethiker Friedrich Paulsen (ihn hat sogar Mao Dse Dong als Jugendlicher studiert) geschrieben, dass es „zu den widernatürlichsten und grauenhaftesten“ Erscheinungen gehört, „wenn jemand selbst die Hand wider sein Leben erhebt“ (Paulsen 1921, 125), noch der Bundesgerichtshof in einem Urteil von 1954 gemeint, dass „das Sittengesetz jeden Selbstmord — von äußersten Ausnahmefällen vielleicht abgesehen — streng mißbilligt, da niemand selbstherrlich über sein eigenes Leben verfügen und sich den Tod geben darf“ (Bundesgerichtshof 1954, 153). Aber „Selbstherrlichkeit“ ist außerhalb eines Glaubenssystems, das Gott das Privileg einer „herrschaftlichen“ Entscheidungsmacht über das Lebensende einräumt, nicht unterscheidbar von Autonomie. Es ist schwer zu sehen, warum Autonomie, die doch ansonsten als zentrales Wesensmerkmal des Menschen als Gattung und als Quelle jeder Art von Überwindung von Naturzwängen, sei es durch Technik, Medizin oder Kunst, anerkannt ist, in dem Moment negativ bewertet wird, in dem sie sich auf den eigenen Tod richtet. Man kommt nicht an der Feststellung vorbei, dass kaum etwas der Tradition der Moralphilosophie ein so schlechtes Zeugnis ausstellt wie die Absurdität eines Großteils der Argumente, mit der sie versucht hat, die moralische Verwerflichkeit des Suizids zu begründen. Am weitesten hat es in dieser Hinsicht der ansonsten in seiner Vernünftigkeit verlässliche Kant getrieben, dessen Gründe gegen die moralische Zulässigkeit des Suizids Schopenhauer als „Armseligkeiten“ bezeichnet hat, „die nicht einmal eine Antwort verdienen“ (Schopenhauer
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1988, III (2), 127). Bezeichnenderweise lässt Kant in seinen Werken zur Ethik eine ganze Phalanx von Argumenten aufmarschieren, darunter zwei Versionen des Kategorischen Imperativs, ein theologisches Argument, nach der Mensch Gottes Eigentum sei (Kant 1924, 193) und ein „transzendental-ethisches“ Argument, das gelegentlich auch heute noch zu hören ist: Die Macht, seine Willkür selbst zu zerstören, widerstreitet […] der freien Willkür selbst; wenn die Freiheit die Bedingung des Lebens ist, so kann sie nicht dazu dienen, das Leben aufzuheben, denn sonst zerstört und hebt sie sich selbst auf. (Kant 1924, 185).
Dies Argument ist kaum plausibel. Warum sollte man wollen müssen, die Bedingungen des Wollens dauerhaft aufrechtzuerhalten? Eine Pflicht, ein ungeliebtes Leben bis zum bitteren Ende zu leben, lässt sich ebenso wenig begründen wie eine Pflicht, alles zu tun, um so lange wie möglich zu leben. Aus dem trüben Unisono der Stimmen heben sich unter den Philosophen der Neuzeit allein die Stimmen Montaignes, Humes und der Philosophen der französischen Aufklärung sowie die Schopenhauers und Nietzsches heraus. Selbstverständlich kann ein Suizid moralisch problematisch sein, etwa wenn er die Verletzung elementarer familiärer oder anderer Verpflichtungen bedeutet (worauf sowohl die jüngere Stoa als auch Diderot (1875, 245, 252 f.) hingewiesen haben). Aber dann ist (worauf Hume hingewiesen hat) zugleich daran zu erinnern, dass die Pflichten gegenüber anderen begrenzt sind und nur in wenigen Fällen so schwer wiegen, dass sie einen intensiven Wunsch nach Lebensbeendigung aufwiegen. Ähnliches gilt für das auf Aristoteles zurückgehende Argument, mit seinem Tod entziehe man der Gesellschaft wertvolle Ressourcen, etwa seine potenzielle Arbeitskraft. Wie immer berechtigt diese Vorbehalte sind (etwa im Zusammenhang mit den Suiziden hochkarätiger Manager), sie taugen nicht zu einer pauschalen moralischen Verurteilung. Auch der von christlicher Seite des Öfteren zu hörende Einwand, mit einem Suizid werde das Leben systematisch entwertet, taugt dazu nicht. Erstens zeigt ein Suizid nicht, dass der Suizident (was der insofern irreführende Ausdruck „Bilanzsuizid“ nahelegt) sein Leben als Ganzes negativ bewertet. Negativ bewertet er lediglich sein potenzielles zukünftiges Leben. Vielmehr wird er in der Regel – mit Hume – sagen: „Ich danke der Vorsehung sowohl für das Gute, das ich schon genossen habe, wie für die mir verliehene Macht, dem Übel zu entfliehen, das mich bedrängt“ (Hume 1984, 94). Zweitens gibt es keine moralische Verpflichtung, das Leben zu lieben – unabhängig davon, als wie liebenswert es sich darstellt.
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3.3.3 Die „natürliche Lebensspanne“ Die Idee einer „natürlichen“ Lebensspanne ist der mehr oder weniger unhinterfragte Hintergrund vieler verbreiteter Redeweisen über die Länge eines Lebens und den Tod, der zur „rechten“ oder zur „falschen“ Zeit kommt. Wie bereits oben vermerkt, findet sich bereits in Thomas Morus’ Utopia die Wendung, dass jemand „seinen eigenen Tod überlebt“, bezeichnenderweise zusammen mit der Empfehlung, unheilbar Kranken, deren Krankheit „qualvoll und schmerzhaft“ ist, zuzureden, aus dem Leben zu scheiden, u. a. durch die freiwillige Enthaltung von Nahrung (Morus 1960, 81). „Seinen eigenen Tod überleben“ kann verstanden werden als: länger leben, als natürlich, angemessen oder richtig wäre. Ähnliches ist unterstellt, wenn zwischen „lebenserhaltenden“ und „lebensverlängernden“ Maßnahmen unterschieden wird. Die ersten bewegen sich innerhalb, die letzteren außerhalb der „natürlichen“ oder „eigentlichen“ Lebensspanne. Die lebensverlängernden Maßnahmen sind ein „künstliches“ Eindringen von Medizin und Technik in den „normalen“ Lauf des Lebens. Sie sind eine Manipulation, ein Übergriff. In der Medizinethik wird nur selten von einer „natürlichen Lebensspanne“ gesprochen (eine Ausnahme ist Árnason 2005, 360), nicht zuletzt wegen der Vieldeutigkeit und Interpretierbarkeit des Terminus „natürlich“. Versteht man „natürlich“ im Sinne einer von medizinischen, technischen und zivilisatorischen Errungenschaften unberührten Natur, beliefe sich die Lebensspanne auf kaum mehr als 30 Jahre und ein Großteil der Leser dieser Zeilen wäre seit längerem tot. Versteht man „natürlich“ im Sinne einer Verpflichtung, das Leben so lange durchzuhalten, bis es „von selbst“ und unabhängig von allem menschlichen Wollen und Handeln zu Ende geht, wäre das ebenso inakzeptabel, da es dem Menschen die Verfügungsgewalt über die Basis seiner physischen Existenz absprechen würde. Diese gehört jedoch zu der für ihn als Gattung charakteristischen Autonomie. In der philosophischen Tradition ist die – als Norm auftretende – Vorstellung einer „natürlichen Lebensspanne“ am heftigsten von Nietzsche attackiert worden: Der natürliche Tod ist der von aller Vernunft unabhängige, der eigentlich unvernünftige Tod, bei dem die erbärmliche Substanz der Schale darüber bestimmt, wie lange der Kern bestehen soll oder nicht: bei dem also der verkümmernde, oft kranke und stumpfsinnige Gefängnisswärter der Herr ist, der den Punct bezeichnet, wo sein vornehmer Gefangener sterben soll. Der natürliche Tod ist der Selbstmord der Natur, das heisst die Vernichtung des vernünftigen Wesens durch das unvernünftige, welches an das erstere gebunden ist. Nur unter der religiösen Beleuchtung kann es umgekehrt erscheinen: weil dann, wie billig, die höhere Vernunft (Gottes) ihren Befehl giebt, dem die niedere Vernunft sich zu fügen hat.
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Ausserhalb der religiösen Denkungsart ist der natürliche Tod keiner Verherrlichung werth. (Nietzsche 1980, Bd. 2, 632 f.)
In der Gegenwart ist die Diskussion um die „natürliche Lebensspanne“ vor allem durch den langjährigen Leiter des Hastings Center in New York, Daniel Callahan angeregt worden (Callahan 1995). So wie Callahan den Begriff versteht, bezieht sich „natürlich“ dabei weder auf ein naturgeschichtliches Faktum noch auf die physisch maximale Lebensspanne, sondern auf eine von vornherein normative Setzung – eine Konvention, die in Zukunft darüber bestimmten sollte, welche Lebensspanne als angemessen gelten kann und auf welche Anstrengungen zur Verlängerung dieser Lebensspanne sich die Gesellschaft verpflichten sollte. Callahan verbindet die „natürliche Lebensspanne“ mit einem bestimmten chronologischen Alter, ab dem auf jede kurative Behandlung verzichtet und lediglich palliativ behandelt werden soll. In eine ähnliche, allerdings weniger radikale Richtung gehen die Vorschläge insbesondere von Autoren in der Tradition der katholischen Moraltheologie, einen Tod dann als „natürlich“ zu bezeichnen, wenn er nur mit einem „unverhältnismäßigen“ Einsatz künstlicher Mittel zu vermeiden wäre (vgl. etwa Bormann 2005, 304). Nach diesem Kriterium wäre die „natürliche“ Lebensspanne nicht wie bei Callahan an ein bestimmtes chronologisches Alter gebunden (Callahan schwebte das Alter von 80 Jahren vor), sondern durch die Verhältnismäßigkeit zwischen dem medizinischen Aufwand zur Lebenserhaltung, den in Kauf zu nehmenden Belastungen für den behandelten Patienten und der gewonnenen Lebenszeit. Maßstab der Verhältnismäßigkeit soll dabei primär nicht das gegenwärtige und zukünftige subjektive Befinden des Individuums, seine subjektive Lebensqualität, sein, sondern die Fähigkeit zur „Entfaltung der grundlegenden menschlichen Fähigkeiten, insbesondere der rationalen Handlungsfähigkeit“ (Bormann 2005, 302). „Natürlich“ wäre danach eine Lebensspanne, die dann zu Ende geht, wenn diese Fähigkeiten verlorengegangen sind. „Unnatürlich“ wäre eine Lebensspanne, die in Bezug darauf entweder zu früh oder zu spät endet. Charakteristisch für Callahans Kriterien dafür, wann ein Leben seine „natürliche“ Grenze erreicht hat, ist, dass es sich bei diesen Kriterien um objektive Kriterien handelt, die sich auf gesellschaftliche Einschätzungen beziehen und nicht auf Vorstellungen, die sich der jeweils Betroffene von der Angemessenheit oder Unangemessenheit seiner Lebensspanne macht. Insofern unterscheiden sie sich kategorial und grundsätzlich von den Kriterien, die wir oben für eine mögliche Bevorzugung eines Lebensendes gegenüber dem Weiterleben aufgeführt haben. Nicht das Individuum selbst soll darüber entscheiden, wann es „genug“ ist, sondern die Gesellschaft. Andernfalls wäre die Idee, das „natürliche“ Sterbealter an ein chronologisches Alter zu binden, von vornherein zum Scheitern verurteilt.
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Callahans Konzeption ist von der Sorge um die zunehmenden Finanzierungsprobleme der Altersmedizin bedingt sowie durch die Erkenntnis, dass sich viele Regierungen scheuen, ihren Bevölkerungen über die sich in der Gesundheitsversorgung stellenden Allokationsfragen reinen Wein einzuschenken. Zu Recht beklagt Callahan einige der Schwächen des US-amerikanischen Gesundheitssystems, die in einem gewissen Maß auch für Deutschland gelten: die teilweise extreme Verteuerung von Arzneimitteln für Alterserkrankungen; die einseitige Konzentration der Pharmahersteller auf Mittel zur Lebenserhaltung in Spätphasen tödlicher Erkrankungen; der verzögerte Ausbau der Palliativversorgung. Diese berechtigten Anliegen werden allerdings weitgehend entwertet durch das zweifelhafte Fundament von Callahans Allokationsethik. Der Hauptgrund dafür, dass Callahans Konzeption zu Recht scharfe Kritik auf sich gezogen hat (vgl. Hardwig 2000), liegt in ihrer nahezu ausschließlich an Leistungskriterien orientierten Sichtweise und ihrer Vernachlässigung der individuellen Binnenperspektive. Für die „natürliche Lebensspanne” sollen vier Bedingungen gelten: dass “one’s life work has been accomplished”, dass “one’s moral obligations to those for whom one has had responsibility have been discharged”, dass “one’s death will not seem to others an offense to sense or sensibility, or tempt others to despair and rage at human existence” und dass “one’s process of dying is not marked by unbearable and degrading pain” (Callahan 1977, 33). Danach bemisst sich die „natürliche Lebensspanne“ nach Kriterien, die weitgehend unabhängig davon sind, welcher Zeitpunkt aus Sicht des Sterbenden angemessen oder wünschenswert ist. Selbstbestimmung und die Artikulation eigener Vorlieben spielt in Callahans Konzeption – bis möglicherweise bei der vierten Bedingung – keine Rolle. Insbesondere mit der dritten Bedingung wird dem gesellschaftlichen Umfeld eine gewichtigere Rolle eingeräumt als dem Betroffenen selbst. So untauglich Callahans Konzeption auch immer sein mag, sich zur Bestimmung des richtigen „Wann“ des Todes auf Natürlichkeitsvorstellungen zu berufen, so geeignet ist sie allerdings als Erinnerung daran, dass die Bestimmung des „richtigen“ Todeszeitpunkts zwar letztlich in der Entscheidungshoheit des betroffenen Menschen selbst liegen sollte, dieser aber berücksichtigen muss, dass andere und insbesondere sein familiäres Umfeld von einer eventuellen Entscheidung für oder gegen den Tod mitbetroffen sind – und möglicherweise unter einem aus ihrer Sicht „verfrühten“ oder „verspäteten“ Tod sehr viel mehr leiden als der Betroffene selbst. Diese Dimension wird übersehen von Konzeptionen, die den Tod im Gefolge Nietzsches ausschließlich der Autonomie des Einzelnen anheimstellen. Dass die Wünsche des Betroffenen in der Regel im Konfliktfall Vorrang haben vor den Wünschen der Nahestehenden, steht außer Frage. Eine Fremdbestimmung darüber, wie lange ein anderer angemessenerweise leben sollte, ist Teil traditionalistischer Kulturen, aber nicht Teil moderner Gesellschaften, in denen
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die Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung zu den obersten Verfassungsnormen gehört und in denen Individualisierung und persönliche Selbstbestimmung erklärte Bildungsideale sind. Aber das heißt nicht, dass Wünsche und Belange anderer ethisch irrelevant sind. Die Entscheidung zu einer Behandlungsbegrenzung oder zu einem Suizid angesichts überwiegend düsterer Zukunftsaussichten sollte nicht nur wohlerwogen, sondern nach Möglichkeit auch mit den Nahestehenden abgestimmt sein. Andernfalls werden diesen Schocks, Erschütterungen und möglicherweise Versagens- und Schuldgefühle aufgebürdet. Sie lassen sich vermeiden, wenn der Sterbewillige sich die Mühe macht, Überzeugungsarbeit zu leisten und um Verständnis für seine Sicht zu werben und damit die Angehörigen von Verantwortung zu entlasten. Auch Sterbehilfegesellschaften wie EXIT in der Schweiz achten seit längerem darauf, dass die Entscheidung zum Tod nicht vor den Nahestehenden verheimlicht wird und dass Beihilfe zum Suizid erst dann geleistet wird, wenn sich die Angehörigen mit dem vorzeitigen Verlust des Sterbewilligen ausgesöhnt haben. Allerdings bedeutet die Verpflichtung des Sterbewilligen, sein persönliches Umfeld einzubeziehen, kein entsprechendes Recht der Nahestehenden, seine Entscheidung zum Sterben, wenn sie ihn nicht gehen lassen wollen, mittels Zwang oder Täuschung zu konterkarieren und etwa eine vorhandene Patientenverfügung zu verstecken oder gezielt unerwähnt zu lassen. In solchen Manövern liegt einer der wesentlichen Gründe dafür, dass Patientenverfügungen (die nach einer Schätzung der Deutschen Schlaganfallhilfe inzwischen mehr als 50 % aller über 65jährigen besitzen, vgl. Jox et al. 2016, 24) nur selten beachtet werden, auch dann, wenn der Inhalt der Verfügung nahtlos auf die jeweils konkrete Situation passt (vgl. Jens 2015, Jox et al. 2016, 26)
3.4 Die Frage nach dem Wie des Todes 3.4.1 Sterbensideale Noch weniger als über das Wann des Todes lassen sich über das Wie – über die wünschenswerte Art zu sterben – allgemeingültige Aussagen treffen. Wie über das Leben kann der Philosoph auch über das Sterben (das als Abschluss zum Leben gehört wie die Coda zur Sinfonie) keinen Anspruch auf „höhere“ Einsicht geltend machen. Er kann lediglich dafür plädieren, dass der Pluralismus der Vorstellungen von der „richtigen“ Art des Sterbens anerkannt wird und jeder frei ist, nach Maßgabe der Umstände so zu sterben, wie es seinen Wünschen und Idealen entspricht. Am eindeutigsten hat diese Idee eines selbstbestimmten Sterbens Seneca ausgesprochen:
3.4 Die Frage nach dem Wie des Todes
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Wie ich mir ein Schiff aussuche, mit dem ich in See gehe, ein Haus, in dem ich wohnen will, so wähle ich mir auch die Todesart, wenn ich aus dem Leben scheiden will. […] Der beste Tod ist der, der uns gefällt. (Seneca 1965, 171)
Es empfiehlt sich dabei, zwischen Idealen des Sterbens und Wünschen an das Sterben zu unterscheiden, auch wenn es schwer ist, zwischen beiden eine klare Grenze zu ziehen. Ideale sind Vorstellungen, von denen man von vornherein weiß, dass sie sich nur unter günstigen Umständen realisieren lassen. Wünsche dagegen können realistischer sein und sich u. a. auch auf nicht-ideale Situationen richten, in denen einige oder viele der idealen Bedingungen nicht oder nicht mehr gegeben sind. Im Zusammenhang mit dem Tod sind dies etwa ein so weitgehendes Nachlassen der Geisteskräfte oder der Äußerungsfähigkeit, dass nur noch eine affektive und gestische Kommunikation möglich ist, oder eine Einschränkung der Wachheit infolge der Gabe starker Schmerzmittel. Eines der wirkmächtigsten Ideale des Sterbens in der Philosophie ist das Ideal des „Sterbens in Würde“, verstanden als ein bewusstes Sterben, bei dem die Geisteskräfte des Sterbenden und seine Selbstbestimmungsfähigkeit weitgehend erhalten sind und bei dem er bis kurz vor dem Ende mit Nahestehenden kommunizieren kann. Momeyer (1988, 80) kennzeichnet dieses Ideal durch vier Bedingungen: 1. Bewusstsein und Rationalität 2. Selbstbestimmung 3. körperliche Integrität 4. Selbstachtung. Dieses Ideal ist auch heute noch das Ideal vieler Menschen, insbesondere autonomiebetonter (wie typischerweise Intellektueller und Künstler), wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen. Selbstachtung kommt unter den Bedingungen einer Medizin, die einen Menschen mit Defizitzuständen, die in früheren Zeiten den sicheren Tod bedeuteten, am Leben zu erhalten vermag, eine erheblichere Bedeutung zu als körperliche Integrität, deren Verlust (etwa durch Amputation) angesichts einer fortgeschrittenen Medizintechnik zumeist gut kompensierbar ist. „Selbstbestimmung“ bedeutet insbesondere das Geltendmachen eines hohen Anspruchs auf Wahrhaftigkeit in der Aufklärung über Diagnose und Prognose des eigenen Zustands und eine entschiedene Abwehr paternalistischer und moralischer Bevormundung. Sie bedeutet nicht nur, die eigene Todesart so weit wie möglich selbst bestimmen zu können, sondern auch das Ideal einer Aufrechterhaltung der Selbstbestimmungsfähigkeit bis zum Ende. Nicht nur die eigenen Wünsche für die letzte Lebensphase sollen respektiert werden, sondern auch die Fähigkeit, die letzte Lebensphase aktuell zu gestalten und in
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ihr die eigenen Wünsche und Vorstellungen zu realisieren, auch dann, wenn sie mit denen anderer Beteiligter – insbesondere der der Nahestehenden und Ärzte – nicht übereinstimmen. Es versteht sich, dass Selbstbestimmung damit vereinbar ist, die eigenen Wünsche ausdrücklich oder unausdrücklich gegenüber denen des Umfelds zurückzustellen. Ein sprechendes Beispiel für dieserart Rücksichtnahme liefert der Bericht über den wohl ältesten belegten Fall eines selbstbestimmten Sterbens, das des Demokrit. Diogenes Laertius zitiert in seinem Werk über die Philosophen einen gewissen Hermippos, demzufolge Demokrit seinen bevorstehenden Tod durch Sterbefasten gezielt um einige Tage aufgeschoben habe: Seine Schwester habe ihn gebeten, nicht ausgerechnet am Fest der Thesmophorien, dem griechischen Fest zu Ehren der Demeter, zu sterben (vgl. Diogenes Laertius 1967, II, 181). Statistisch gesehen, wird dieses Ideal nur von einer Minderheit geteilt. Die Mehrzahl der Menschen möchte den Sterbeprozess nicht bewusst durchleben, sondern im Schlaf oder „auf der Stelle“ sterben, offensichtlich auch dann, wenn dies bedeutet, dem Tod nicht „ins Gesicht zu blicken“ und sich von den Nahestehenden nicht rechtzeitig verabschieden zu können. Diejenigen, die ihren Sterbeprozess bewusst erleben wollen, wünschen sich vor allem einen friedlichen und von belastenden körperlichen Symptomen wie Schmerzen, Übelkeit und Erstickungsgefühlen freien Tod, möglichst zu Hause in der vertrauten Umgebung und – soweit vorhanden – im Kreis der Familie. Wie empirische Untersuchungen zeigen und was angesichts des zunehmenden Pluralismus der Vorstellungen von einem „guten Tod“ nicht verwunderlich ist, besteht zwischen den Idealen und Wünschen von Sterbenden, Nahestehenden, Pflegekräften und Ärzten keine prästabilierte Harmonie (vgl. Payne 1996). Einige ältere Ärzte, die nicht mit dem Ideal der Patientenautonomie aufgewachsen sind, sprechen von Patienten, die in einer Patientenverfügung eine Behandlungsbegrenzung verfügen, in ihrer Abwesenheit despektierlich als „Suizidenten“. Vielen Ärzten fällt es schwer, ihre Patienten an einer leicht behandelbaren Erkrankung sterben zu lassen, auch wenn diese sich dies ausdrücklich wünschen oder gewünscht haben. Auf der anderen Seite erwarten viele Menschen von ihren Ärzten, nebenwirkungsreiche Therapien auch dann aufzunehmen oder weiterzuführen, wenn diese nach aller Erfahrung wirkungslos sind oder extrem geringe Chancen haben, das Leben zu erhalten oder die Lebensqualität zu verbessern. Angehörige sind nicht durchweg bereit, einen Kranken einen nach dessen eigenen Vorstellungen guten Tod sterben zu lassen, wenn dies bedeutet, ihn früher zu verlieren. Auch in normativer Hinsicht besteht kein Konsens. Während in Deutschland Medizinethik, Recht und Gesetze in den letzten Jahrzehnten die Selbstbestimmung auch in Bezug auf die Umstände des Sterbens sukzessiv gestärkt haben und die Hospizbewegung und die Palliativmedizin der Respek-
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tierung der Patientenwünsche einen hohen Rang einräumen, finden sich auf der anderen Seite Stimmen, die die Orientierung der Gesetzgebung an der Patientenautonomie rundheraus ablehnen und die mittlerweile gesetzlich festgelegte Verbindlichkeit diesbezüglicher Patientenverfügungen bedauern (vgl. etwa LobHüdepohl 2016, 21). Das Ideal dieser Autoren ist eine Wiederherstellung der aus traditionalistischen Gesellschaften bekannten Rolle der Familie und der weiteren Gemeinschaft bei Entscheidungen über die Art und Weise des Sterbens. Allerdings hat selbst in Japan, wo diese Rolle traditionell ausgeprägt ist, mittlerweile ein Trend zur Individualisierung eingesetzt (vgl. Spoden 2015).
3.4.2 Das Ideal des „natürlichen“ Todes Natürlichkeitsnormen haben u. a. die Funktion, sich mit der Berufung auf scheinbar unanfechtbare Gegebenheiten über den Streit der Meinungen und den Pluralismus der Wertvorstellungen zu erheben und damit eine unangreifbare Autorität zu behaupten. Für diese Funktion eignet sich der Ausdruck „natürlich“ in besonderer Weise. Er verbindet den autoritativen Anspruch mit der Fähigkeit, seine Bedeutung dem in Frage stehenden Kontext chamäleonartig anzupassen. Im Kontext des Todes ist allerdings alles andere als klar, welche genaue Farbe das Chamäleon hier annimmt. Zwar würden die allermeisten einen „natürlichen“ einem „unnatürlichen“ Tod vorziehen, wenn sie nicht sogar, wie es gelegentlich geschieht, den „natürlichen“ Tod mit dem „guten“ Tod schlichtweg gleichsetzen. Aber damit bleibt weitgehend unbestimmt, wie genau sich dieser Tod vollziehen soll. Bestimmt ist der „natürliche“ Tod allenfalls in negativer Hinsicht. Er soll bestimmte Merkmale nicht aufweisen, die auch für das rechtsmedizinische Verständnis des „natürlichen“ Tods leitend sind: Der natürliche Tod ist nicht fremdverursacht, er geht nicht auf eine Gewalthandlung oder auf Suizid zurück und er beruht nicht auf einem schuldhaft begangenen Behandlungsfehler. Dieses letzte Merkmal weist bereits darauf hin, dass der Begriff des „natürlichen“ Tods nicht, wie man erwarten könnte, deskriptiv-naturalistisch, sondern normativ bestimmt ist. Ein neuerer Fachbeitrag definiert den „natürlichen Tod“ u. a. als einen „Tod, […], der völlig unabhängig von rechtlich bedeutsamen äußeren Faktoren“ eintritt (Madea/Rothschild 2010, 658). Das heißt: Was als „natürlicher“ Tod gilt, hängt u. a. von der Rechtslage ab. Entgegen dem Anschein der Verwurzelung in etwas Vorgegebenen bezieht sich die Unterscheidung, wie sie in der Rechtsmedizin getroffen wird, zumindest zu einem signifikanten Anteil auf normative und nicht ein für alle Mal feststehende, sondern kulturell variable Setzungen. Das macht den Begriff des „natürlichen Todes“ zur Bestimmung des „guten“ Todes allerdings nicht von vornherein untauglich. Eher trifft das Gegenteil zu.
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Auch die Vorstellungen von einem „guten“ Tod sind nicht zeitlos und invariabel. Gerade durch seine Normativität und Offenheit scheint sich der „natürliche“ Tod als Todesideal zu empfehlen. Andererseits kann die rechtsmedizinische Definition zur Bestimmung eines „guten“ Todes aber nicht hinreichen. Laut Todesursachenstatistik sind in Deutschland nur etwa 4 % aller Todesfälle durch nichtnatürliche Todesursachen bedingt. Dabei entfallen jährlich etwa 10 000 Fälle auf Suizide, 6 000 Fälle auf häusliche Unfälle, knapp 6 000 auf Verkehrsunfälle und rund 500 auf tätliche Angriffe. Wäre der „natürliche“ Tod bereits als solcher ein „guter“ Tod, wäre der gute Tod kein Ideal mehr, sondern längst Wirklichkeit. Die über die Ausgrenzung nicht-natürlicher Todesursachen hinausgehenden weiteren Merkmale eines „natürlichen“ Todes sind nicht leicht zu bestimmten. Klar ist, dass ein „natürlicher“ Tod zugleich einige Merkmale eines naturwüchsigen Sterbens (eines Sterbens unabhängig von bestimmten medizinischen und anderen kulturellen Mitteln der Lebenserhaltung) enthalten soll, dass er aber diese Mittel auch nicht kategorisch ausschließt. Auf die Mittel von Medizin, Technik und anderen Kulturleistungen soll nicht verzichtet werden. Aber auch wenn das natürliche Sterben ein kulturelles Ideal ist und keine naturale Gegebenheit, bezieht sich dieses Ideal andererseits doch auf eine zumindest als solche gedachte Naturwüchsigkeit. Es ist das Bild eines Sterbens, „das den naturalen Charakter des Prozesses unterstreicht“ (Elias 1982, 74 f.). In der Tat gehören einige Merkmale eines „naturalen“ Todes ohne alle medizinische Unterstützung zu den Merkmalen, die in den wie immer pluralen Vorstellungen eines guten Todes übereinstimmend eine Rolle spielen: die Allmählichkeit des Verlöschens der physischen und psychischen Kräfte und die Möglichkeit, sich von den Angehörigen zu verabschieden. Der Sterbende fühlt nach und nach seine Kräfte schwinden, die Angehörigen haben Gelegenheit, sich auf den Tod vorzubereiten. Die Ärzte überlassen den Patienten seinem Tod und haben auch dann, wenn der Tod u. a. durch den Abbruch medizinischer Maßnahmen mitbedingt ist, nicht das Gefühl, am Tod ihres Patienten kausal beteiligt zu sein. Ein Tod, der diese Merkmale aufweist, wird überwiegend von den Angehörigen wie auch von Pflegekräften und Ärzten als „harmonisch“ erlebt (vgl. Dreßke 2007, 99). Dagegen ist ein Tod, der abrupt etwa nach dem Abstellen eines zur Lebenserhaltung notwendigen Geräts eintritt, geeignet, unerwünschte kausale Zuordnungen im Gefolge zu haben, eventuell auch Schuldgefühle und Schuldzuweisungen. Während ein Tod, der auf einen Behandlungsabbruch unmittelbar folgt, kausal eher dem Abbruch zugeschrieben wird, wird bei einem allmählichen Sterben-Lassen (des „Einfrierens“ der Beatmung auf einem nicht mehr ausreichenden Niveau, dem allmählichen Zurückfahren der Beatmung oder dem allmählichen Absetzen lebenserhaltender Medikation) die kausale Zuordnung verschleiert. Der Eindruck des „natürlichen“ Todes stellt sich ein, obwohl sich das Geschehen einer Strategie
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verdankt. „Natürlichkeit“ ist in diesem Fall das Produkt einer medizinisch-technischen Veranstaltung, einer Inszenierung (vgl. Seymour 1999). Die Naturwüchsigkeit des Sterbens sollte allerdings nicht idealisiert werden. Dass ein Tod ohne alle Inanspruchnahme der Mittel der Medizin ein „guter’ und für den Sterbenden wie für sein persönliches Umfeld am ehesten erträglicher Tod ist, ist ein Mythos, dem gelegentlich auch ansonsten urteilssichere Autoren erliegen (etwa Ariès 1981, 202). Die historische Erfahrung belehrt eines Besseren. Auch in früheren Zeiten starb man des Öfteren beschwerlich, unter Schmerzen, Ängsten und mit Scham- und Schuldgefühlen, vielfach verstärkt durch Furcht vor nach dem Tod zu erwartende Strafen. Ohne die weite Verbreitung von Todesfurcht hätte Epikur wohl kaum Anlass für seine Kritik an der Todesfurcht gehabt. Auch Francis Bacon hätte ohne die Häufigkeit eines schweren Sterbens keinen Grund gehabt, zu Beginn der Neuzeit an die Medizin die Forderung zu richten, der geistlichen Vorbereitung der Seele auf das Sterben (euthanasia interior) eine ärztliche euthanasia exterior an die Seite zu stellen, durch die „die Sterbenden leichter und sanfter aus dieser Welt gehen“ (Bacon 1966, 395). Kein vollständig und ausschließlich natural bestimmter Tod kann ernsthaft dem entsprechen, was sich viele sich von einem „guten“ Tod erhoffen. Als ebenso wenig überzeugend muss auf der anderen Seite Max Schelers Versuch gelten, den „natürlichen Tod“ mit dem Tod gleichzusetzen, der eintreten würde, würde man sämtliche Beeinträchtigungen der Gesundheit aus einem Menschenleben wegdenken: dem Tod unter Bedingungen idealer Gesundheit (Scheler 1957, 21). Eine Definition auf dieser Linie würde den Begriff des „natürlichen Todes“ zu einem in der Realität selten anwendbaren Konstrukt machen. „Natürlich“ sterben könnten Menschen nur an Altersschwäche, einer Todesursache, die in der heutigen Praxis der Medizin so gut wie nicht mehr vorkommt. Das Ideal des natürlichen Todes, wie es heute überwiegend verstanden wird, ist weder das eines von den zivilisatorischen Möglichkeiten völlig unberührten Sterbens noch eines Todes ohne jedwede Krankheit, sondern das eines Sterbens, bei denen die Mittel von Medizin und Technik „im richtigen Maß“ zum Einsatz kommen, d. h. ohne ein Übermaß an medizinischer und technischer Intervention, wie es Ivan Illich und andere als „Medikalisierung“ des Todes kritisiert haben: Die Medikalisierung der Gesellschaft beendet die Epoche des natürlichen Todes. Der westliche Mensch hat das Recht verloren, beim letzten Akt selbst Regie zu führen. Gesundheit, die autonome Kraft der Lebensbewältigung, ist bis zum letzten Atemzug enteignet. Der technische Tod hat den Sieg über das Sterben davongetragen. Der mechanisierte Tod hat alle anderen Tode besiegt und vernichtet. (Illich 1981, 238 f.)
Illichs dramatisierende, wenn nicht alarmistische Sprache überdeckt allerdings die entscheidende und weiterhin offene Frage, wann genau die medizinische
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Versorgung in der letzten Lebensphase (die keiner missen möchte) das „rechte Maß“ übersteigt und „Medikalisierung“, als illegitime Übergriffigkeit verstanden, beginnt. Wie ist das „rechte Maß“ an Medizin bemessen, wann ist dieses Maß überschritten? Auch eine soziologische Konzeption des „natürlichen Todes“ wie die Jean Baudrillards hat zu dieser Frage nicht viel beizutragen. Baudrillard bestimmt den „natürlichen Tod“ als den Tod, den die jeweilige Gesellschaft als „normal“ definiert, wobei diese Charakterisierung nicht affirmativ, sondern kritisch gemeint ist. Denn der Begriff „natürlich“ sei im Zusammenhang mit dem Tod in zweifacher Weise ideologisch. Einmal verschleiere er, dass er das, was er zu sein behauptet, gerade nicht ist. Der „natürliche Tod“ sei nichts, was von Natur aus besteht, sondern ein gesellschaftliches Konstrukt (Baudrillard 1991, 256 ff.). Zum anderen verberge sich hinter der Redeweise von „natürlich“ – damit greift er ein Motiv Illichs auf – ein Herrschaftsanspruch der Gesellschaft über den Tod am Willen des Individuums vorbei. Sie camoufliere ihren Herrschaftsanspruch durch einen vermeintlichen Objektivismus, indem sie sich der Autorität der Naturwissenschaft bedient, die allerdings aus sich heraus den „natürlichen Tod“ nicht definieren könne. Nicht die Biologie entscheide darüber, welcher Tod „normal“ ist, sondern die Gruppe (vgl. Baudrillard 1991, 260). Normalität ist offenkundig ein ungeeigneter Maßstab, wenn es um die Natürlichkeit des natürlichen Todes geht. Die Kritik der „Natürliche-Tod-Bewegung“ richtet sich gerade gegen die vielerorts herrschende Normalität des „unnatürlichen“ Todes, der Übertherapie am Lebensende, der primär auf Lebenserhaltung zielenden ärztlichen Routine und der unzureichenden Berücksichtigung des Patientenwillens. In demselben Maße, in dem das acharnement thérapeutique, der Einsatz aller möglichen Mittel zur Lebenserhaltung zur Normalität gehört, muss der Verweis auf Normalität gerade das verfehlen, worauf es der „NatürlicheTod-Bewegung“ ankommt. Hintergrund dieser Bewegung ist ja, dass die moderne Medizin mit ihren in den letzten 50 Jahren gewaltig gewachsenen Therapiemöglichkeiten zwar zu einer beträchtlichen Lebensverlängerung geführt hat, aber nicht durchweg zu einem leichteren, symptomfreieren und für alle Beteiligten erträglicheren Sterben. Der Sterbealltag (vgl. die Schilderungen bei Nuland 1994 und de Ridder 2010) lässt einen „guten“ Tod weiterhin nur in engen Grenzen zu. Wenn der „natürliche Tod“ als eine der möglichen Explikationen dessen gelten soll, was einen „guten“ Tod ausmacht, darf er nicht nur empirisch – sei es naturalistisch, sei es soziologisch – bestimmt werden. Vielmehr müssen seine normativen Elemente ernstgenommen werden. Darüber hinaus muss ernstgenommen werden, dass dieser Begriff, wie Michael de Ridder am Beispiel einer konkreten Patientin verdeutlicht, mit einer systematischen Unbestimmtheit und Relativität behaftet ist:
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Wenn man diese Frau ihrem natürlichen Krankheitsverlauf überlässt, d. h. unüberwacht und unbehandelt lässt und ihr ausschließlich das zukommen lässt, was Basispflege heißt, stirbt sie mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb weniger Tage. […] Führt man ihr hingegen auf künstlichem Wege Flüssigkeit und Kalorien zu, sorgt für freie Atemwege und eine künstliche Harnableitung, beginnt eine Thrombose- und Infektionsprophylaxe, dann ist diese Patientin keineswegs in einem todesnahen Zustand, sie hat vielmehr unter Umständen eine Lebenserwartung von mehreren Jahren. (de Ridder 2010, 213)
Welche dieser beiden Alternativen verhilft der Frau zu einem „natürlichen“ Tod? Beide – die über die Basispflege hinaus nicht behandelte und die maximal behandelte Erkrankung – terminieren in einem „natürlichen“ Tod. Welcher Tod „besser“ ist, lässt sich nach dem Kriterium der Natürlichkeit nicht entscheiden. Die eine natürliche Alternative kann ebenso „gut“ sein wie die andere, der Begriff der Natürlichkeit lässt schlicht zu viel offen. Hinzu kommt, dass auch ein „unnatürlicher“ Tod, insbesondere einer durch Suizid ein „guter Tod“ sein kann, wenn er den Wünschen des Sterbewilligen entspricht und mit den Angehörigen so abgestimmt ist, dass sie diesen nicht als Schock erleben und nicht mit Schuldgefühlen belastet werden. Darüber hinaus hat ein wohlerwogener Suizid unter Anwesenheit der Angehörigen, sofern er nicht gewaltsam vollzogen wird, einen weiteren Vorzug: Die Angehörigen bleiben von den neurovegetativen Begleiterscheinungen einer Agonie verschont, die viele als abstoßend empfinden oder sogar – fälschlicherweise – als Ausdruck von Leiden interpretieren. Dem „natürlichen“ Tod können demnach zur Bestimmung des „guten“ Todes allenfalls heuristische Funktionen zugestanden werden. Der natürliche Tod ist nicht notwendig der gute, vom Sterbenden und allen anderen als gut empfundene Tod, und nicht jeder gute Tod ist ein natürlicher Tod. Deshalb sollte dieser Tod auch nicht Schwerkranken aufgenötigt werden die einen anderen als natürlichen Tod sterben wollen. Wie viele Natürlichkeitsprinzipien hat auch das Ideal des natürlichen Todes eine Tendenz, zu einer Norm zu werden, die objektive Verbindlichkeit beansprucht. Einige Soziologen haben insofern in der Normierung des „natürlichen“ Sterbens zum „guten“ Sterben eine Schwäche auch der ansonsten zu Recht hochgeschätzten Hospizbewegung gesehen. Die Idee des „natürlichen Todes“ gerate in Konflikt mit der für die Hospizidee zentralen Idee des selbstbestimmten Sterbens: Dem Sterbenden werde eine „Sterberolle“ angesonnen, zu der neben der Bewusstmachung des Todes auch ein allmähliches Verebben des Lebens gehört, unabhängig davon, wie weit der Sterbenskranke diese Rolle selbst zu übernehmen bereit ist. Durch sanften Druck werde der Sterbende genötigt, das Sterben als „sinnvoll“ zu erleben. Auf diese Weise würden Sterbende, die bis zuletzt den Tod nicht akzeptieren oder ihn verleugnen, zu einer Konfrontation und Aussöhnung mit dem Tod gebracht, die nach ihren ureigensten Präferenzen dem Tod nichts abgewinnen können:
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Die Institution will und soll gutes Sterben organisieren und das umfasst eben auch Zieldefinitionen und Wertsetzungen, die unabhängig von einem möglichen Willen von Patienten eingehalten werden müssen. In diesem Sinne gibt es eine immanente Stationsordnung, die ebenso eine Sterbeordnung ist und die formulierte und nicht formulierte Pflichten des Sterbenden beinhaltet. (Göckenjan/Dreßke 2005, 165)
Auch das Ideal des guten Sterbens, so scheint es, ist nicht dagegen gefeit, zu paternalistischer Fremdbestimmung missbraucht zu werden.
4 Ärztliches Handeln in Todesnähe 4.1 Ärztliches Handeln und das Wann und Wie des Todes Nachdem wir bisher im Wesentlichen die Perspektive des Sterbenden eingenommen haben, werden wir im folgenden Kapitel die Perspektive des behandelnden Arztes einnehmen, der einen Patienten in Todesnähe versorgt. Die Bedeutsamkeit dieser Perspektive ist heute evident. Dank der Möglichkeiten der modernen Medizin haben ärztliche Interventionen und Beratungen einen zunehmenden Anteil an dem Ursachengeflecht, das über den Kurs eines Menschenlebens bestimmt. Während über Jahrhunderte die ärztliche Kunst gegen die Gefährdungen von Leib und Leben überwiegend machtlos war und bis auf wenige Ausnahmen lediglich Symptome behandeln konnte, ist sie dank ihrer Fortschritte in den letzten hundert Jahren zu einer wortwörtlich lebenswichtigen Instanz geworden, von der Dauer, Verlauf und subjektive Qualität des Lebens wesentlich und in immer noch zunehmendem Maße abhängen. Die Medizin und ihre Möglichkeiten haben nicht nur einen stets größer werdenden Anteil an den Determinanten des Lebens, auch ihr Anteil an den Determinanten des Todes nimmt eher zu als ab. Wann und Wie des Sterbens hängen in wachsendem Maße von dem Einsatz oder Nicht-Einsatz möglicher diagnostischer, therapeutischer und präventiver medizinischer Maßnahmen ab. Nicht nur findet das Sterben heute zu erheblichen Anteilen in Kliniken statt (in Deutschland sterben Menschen zu weniger als 20 % zu Hause), der Zeitpunkt des Todes ist auch zu großen Teilen von ärztlichen Entscheidungen bestimmt, insbesondere von Entscheidungen, auf bestimmte mögliche medizinische Mittel zur Lebenserhaltung zu verzichten und den Patienten an seiner Krankheit sterben zu lassen. Das heißt, dass am Wann und Wie des Todes eines Menschen zunehmend nicht mehr nur naturale Prozesse beteiligt sind, sondern auch menschliche Entscheidungen. Der Tod vollzieht sich zunehmend weniger als eine Flamme, der man mehr oder weniger passiv beim Verlöschen zusieht, sondern als interaktiver Prozess, an dem neben den naturalen, sich im Körper des Patienten abspielenden Vorgängen zunehmend andere Akteure beteiligt sind. Auch wenn es sich bei dem Handeln dieser Akteure größtenteils lediglich um Unterlassen handelt, muss dieses Handeln begründet und verantwortet werden. Ein weiterer Grund, das ärztliche Handeln im Umfeld des Todes näher zu beleuchten, sind die notorischen Schwierigkeiten, geläufige Kategorien zur Strukturierung ärztlicher Entscheidungen und Handlungen auf den Kontext der letzten Lebensphase anzuwenden. Das gilt insbesondere für den Begriff der Indikation, der „Angezeigtheit“ ärztlichen Handelns. Trotz der Schlüsselrolle, DOI 10.1515/978-3-11-053449-8-004
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die er für die Legitimation ärztlichen Handelns übernimmt, leidet er – nicht nur im Kontext des Todes, aber hier besonders ausgeprägt – in mehreren Hinsichten unter Unklarheiten (vgl. Dörries/Lipp 2015). Zweideutig ist bereits sein modaler Status. Mit dem „Indizierten“ kann einerseits das aus medizinischer Sicht Notwendige gemeint sein, andererseits aber auch das aus medizinischer, rechtlicher oder ethischer Sicht Zulässige. In der Medizin wird der Ausdruck „Indikation“ überwiegend im Sinne des „medizinisch Notwendigen“ verwendet (was getan werden muss, sofern der Patient einwilligt). In diesem Sinn sind ausschließlich aus ästhetischen Gründen durchgeführte kosmetische Operationen oder Zahnbehandlungen nicht indiziert, aber auch nicht kontraindiziert. Sie sind weder geboten noch verboten, sondern freigestellt. Ein Chirurg, der kosmetische Operationen durchführt, ist dazu nicht verpflichtet, aber – unter bestimmten Bedingungen – berechtigt. Auf der anderen Seite bezieht sich die Redeweise von der „Indikationenlösung“ im Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch oder die Rede von „Indikationen“ als begrenzender Prinzipien im Zusammenhang mit der Präimplantationsdiagnostik auf Gründe für die Zulässigkeit einer bestimmten medizinischen Anwendung. Eine „Indikation“ liegt in diesen Fällen nicht dann vor, wenn eine Maßnahme notwendig, sondern wenn sie zulässig ist. Eine zweite Hinsicht, in der die Redeweise von „Indikation“ semantisch schwankt, ist die zwischen der Legitimation der Mittel zur Erreichung bestimmter Behandlungsziele und der Legitimation der Behandlungsziele selbst. In dem ersten Sinn bezieht sich der Begriff der Indikation auf die Mittel, die notwendig sind, um ein bestimmtes Behandlungsziel zu erreichen. Dass eine Maßnahme „indiziert“ ist, heißt dann, dass sein Einsatz zur Erreichung dieses Ziels sowohl vertretbar als auch notwendig ist. Im zweiten Sinn heißt es, dass ein bestimmtes Behandlungsziel angestrebt werden soll. „Indikation“ verweist dann auf die Dringlichkeit und Gewichtigkeit dieser Ziele, die nicht zu verfolgen unzumutbar oder inakzeptabel wäre. Entsprechend unterschiedlich sind die für beide Funktionsweisen des Ausdrucks „Indikation“ relevanten Standards. Die Standards für die Wahl der geeigneten Mittel – die „Mittelstandards“ (Birnbacher 2006b, 330 ff.) – beziehen sich überwiegend auf Handlungen (auf ein Tun-Sollen) und sind im weitesten Sinn wissenschaftlich begründet. Sie geben an, welche medizinische Maßnahmen geeignet bzw. optimal sind, den jeweiligen behandlungsbedürftigen Zustand zu beheben oder zu lindern. Dabei ist es in der Praxis wichtig, zwischen den zwei Formen dieserart Indikation zu unterscheiden: Die medizinische Indikation beschreibt, welche Mittel im Allgemeinen aufgrund der wissenschaftlichen Evidenz für das Erreichen des jeweiligen Therapieziels zweckmäßig und zielführend sind. Die ärztliche Indikation beschreibt, welche Mittel im konkreten Fall eines einzelnen Patienten zweckmäßig sind, und zwar auf dem Hintergrund sämtlicher ihn betreffender Folgen, also auch der nicht unmittelbar mit
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dem Therapieziel zusammenhängenden Folgen. Die Standards für die Notwendigkeit, das jeweilige Behandlungsziel anzustreben (die „Zielstandards“) beziehen sich dagegen überwiegend auf Zustände und Fähigkeiten (auf ein Sein-Sollen und Tun-Können) des Patienten: Gesundheit, Wohlbefinden, Wiedererlangung (vorübergehend) verlorengegangener Fähigkeiten. Im Gegensatz zu den „Mittelstandards“ sind die „Zielstandards“ normativer Art und können nicht ausschließlich wissenschaftlich begründet werden. So enthalten die zwei wichtigsten Kriterien für die Bestimmung der Behandlungsziele neben deskriptiven unverkennbar normative Momente: einerseits das Kriterium der Funktionseinschränkung, des fehlenden, unzureichenden oder gefährdeten normal functioning, andererseits das Kriterium der fehlenden, unzureichenden oder gefährdeten subjektiven Lebensqualität. Beide Kriterien fungieren in der Regel unabhängig voneinander als Kriterien für Behandlungsbedürftigkeit, auch wenn sie durch vielfältige Wechselbeziehungen miteinander verbunden sind. Funktionsstörungen haben vielfach Einbußen an Zufriedenheit, Einbußen an Lebensqualität Funktionsstörungen zur Folge. Dennoch ist jedes Kriterium für sich genommen hinreichend, um eine ärztliche Behandlung bei Vorliegen einer bestimmten Intensität und Dringlichkeit erforderlich zu machen oder zumindest als sinnvoll zu legitimieren. Auch eine Funktionsstörung, die die subjektive Lebensqualität nicht tangiert (oder diese über ihre Sekundärfolgen sogar verbessert) kann behandlungsbedürftig sein, etwa wenn sie die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt. Entsprechendes gilt für eine psychische Störung, die die Lebensqualität eines Patienten auf ein niedriges Niveau absinken lässt, dabei aber nicht mit organischen Beeinträchtigungen einhergeht. Dass diese zweite Klasse von Standards, die „Zielstandards“ normativer Art sind, heißt, dass die Ergebnisse der wissenschaftlichen Medizin sowie die Erfahrungen aus der Praxis der Medizin zwar unabdingbar sind, wenn es darum geht, die Entscheidung über die richtigen und angemessenen Standards informationell zu unterfüttern. Dennoch aber können weder Medizin noch Medizinethik diese Standards aus sich heraus begründen. Diese bedürfen vielmehr eines gesellschaftlichen Abstimmungsprozesses, in dem alle Bürger und insbesondere die betroffenen Patientengruppen eine Stimme haben. Abgesehen von verfassungsrechtlich gebotenen Minimalbedingungen (aufgrund des Prinzips der Achtung der Menschenwürde und des Sozialstaatsprinzips) können auch Rechtswissenschaft und Ethik in diesem Prozess stets nur die Rolle von Katalysatoren und Moderatoren spielen. Sie können Optionen entwickeln, Vorschläge unterbreiten und deren Vor- und Nachteile diskutieren. Sie können jedoch (obwohl das vielfach von ihnen erwartet wird) nicht die Rolle von Legitimationsinstanzen spielen, die anderen vorschreiben, für welche Standards sie sich zu entscheiden haben. Letztlich manifestieren sich die gesellschaftlichen Standards – wenn auch gewöhnlich
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mit einem beträchtlichen time lag – in dem, was herkömmlich ärztliches Ethos genannt wird. Auch wenn der Arzt in seinen Therapieentscheidungen autonom ist, drückt sich in den berufsethischen Regeln, an die er gebunden ist, ein gesellschaftlicher Auftrag aus und zugleich dessen Bedingungen und Grenzen. Die Unterscheidung zwischen den zwei Funktionsweisen von Indikationen und die Unterscheidung von Mittel- und Zielstandards wird selten ausdrücklich getroffen. Wenn in der Medizin von „indizierten“ oder „medizinisch notwendigen“ ärztlichen Maßnahmen die Rede ist, spielen gewöhnlich beide Bedeutungen eine Rolle: Die „indizierte“ Maßnahme ist einerseits ein Mittel, das den damit verfolgten gesundheitlichen Zweck mit einiger Wahrscheinlichkeit erreicht, andererseits ist der verfolgte Zweck seinerseits wichtig genug, um den Aufwand des Mitteleinsatzes zu gebieten oder zu rechtfertigen. Problematisch daran ist, dass dieser Mangel an Unterscheidung in einigen Situationen zu Konfusionen führt, bzw. dazu, dass das Behandlungsziel gar nicht ausdrücklich zum Thema gemacht, sondern als mehr oder weniger selbstverständlich unterstellt wird. Das ist in Standardsituationen durchaus berechtigt, etwa wenn es um ein gebrochenes Bein oder eine Blinddarmentzündung geht. Das gilt jedoch sehr viel weniger für Situationen, in denen das Behandlungsziel nicht eindeutig ist und in denen die – für alle Behandlungen außer Notfallbehandlungen geltende – Regel vordringlich wird, dass der Patient über Behandlungsziel und Behandlungsart separat aufgeklärt wird und beiden separat zustimmt. Dass die Aufklärung über mögliche Behandlungsziele und über mögliche Wege zum Ziel getrennt wird, bedeutet freilich auch, dass die jeweiligen Alternativen mitsamt ihrer Vor- und Nachteile separat genannt werden. Der Patient muss Gelegenheit haben, Zwecke und Mittel abzuwägen und aufeinander abzustimmen. Die Trennung von Aufklärung über und Einwilligung in Behandlungsziel und Behandlungsart hat in Todesnähe eine besondere Bedeutung. Die Behandlungsziele verlieren in dieser besonderen Situation ihre Eindeutigkeit. Eindeutigkeit darf nicht durch ärztliches Diktat oder medizinische Routine hergestellt werden, sondern allein durch den Rekurs auf den akut geäußerten, vorausverfügten oder mutmaßlichen Patientenwillen. Der Grund dafür liegt in der ausgeprägten Individualisierung der in Todesnähe relevant werdenden Patientenpräferenzen. Viele Patienten wünschen sich einen medizinisch ermöglichten Erhalt ihres Lebens auch unter schweren Bedingungen, teils aus selbstbezogenen, teils aus altruistischen Gründen (etwa um einen ebenfalls schwer erkrankten Nahestehenden (weiterhin) versorgen zu können) oder auch schlicht aus starkem Lebens- und Überlebenswillen. Andere Patienten wünschen sich (etwa bei schlechten Heilungsaussichten) eine Behandlung ausschließlich zur Aufrechterhaltung oder Verbesserung ihrer Lebensqualität unter Inkaufnahme einer kürzeren Lebenszeit. Andere wünschen sich (etwa weil bei ihnen die Umstellung der kurativen
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Behandlung auf palliative Maßnahmen nicht anschlägt) einen sofortigen Tod oder eine in den Tod übergehende endgültige Ausschaltung ihres Bewusstseins durch finale palliative Sedierung.
4.2 Das Zusammenspiel von Selbstbestimmungsrecht und Fürsorgepflicht in der letzten Lebensphase Patientenwünsche konfrontieren den Arzt mit einer ganzen Reihe von ethischen und berufsethischen Fragen. Ein Patientenwunsch nach Lebenserhalt auch unter schweren Bedingungen kommt möglicherweise in Konflikt mit Erwägungen der Verteilungsgerechtigkeit, vor allem in Ländern, in denen medizinische Ressourcen aus ökonomischen Notwendigkeiten oder aufgrund politisch gewollter Begrenzungen der für medizinische Zwecke zur Verfügung stehenden Mittel beschränkt sind. Darüber hinaus wird das Selbstbestimmungsrecht des Patienten missverstanden, wenn es so umfassend verstanden wird, dass es den Arzt zu jeder gewünschten Behandlung ungeachtet aller Rücksichten auf andere moralisch relevante Güter verpflichtet. Das Selbstbestimmungsrecht, so wie es im Kontext der Medizin überwiegend und ganz überwiegend auch in der Medizinethik verstanden wird, ist ein negatives Recht, das es dem Patienten erlaubt, eine bestimmte vorgeschlagene Behandlung und ein bestimmtes vorgeschlagenes Behandlungsziel abzulehnen, nicht aber, Ansprüche auf eine bestimmte Behandlung oder auf die Erreichung eines bestimmten Behandlungsziels geltend zu machen. Das Selbstbestimmungsrecht erlaubt es dem Patienten, durch seinen ausdrücklich geäußerten oder vorausverfügten Willen bestimmte Behandlungen zu gestatten, aber nicht zu verlangen. Auch die rechtliche Definition der Patientenverfügung in § 1901a BGB sieht vor, dass man mit einer Patientenverfügung lediglich festlegen kann, ob man „in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt“. Der Arzt ist aufgrund des Selbstbestimmungsrechts demnach lediglich verpflichtet, eine vom Patienten nicht gewünschte oder ausdrücklich abgelehnte Behandlung oder die Verfolgung eines vom Patienten nicht gewünschten oder ausdrücklich abgelehnten Behandlungsziels zu unterlassen. Dieses Prinzip verpflichtet ihn aber für sich genommen nicht zu einem positiven Handeln. Zu einem positiven Handeln (im besten Interesse des Patienten) ist der Arzt stets nur durch das Fürsorgeprinzip verpflichtet, das stärkeren Einschränkungen unterliegt. Während das Selbstbestimmungsprinzip als negativer constraint bedingungslos gilt und ein Wunsch nach Nichtbehandlung in jedem Fall befolgt werden muss, gilt das Fürsorgeprinzip nur in den Grenzen des Selbstbestimmungsrechts. Auch
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eine noch so wohlgemeinte und im besten Interesse des Patienten medizinisch bzw. ärztlich notwendige („indizierte“) oder medizinisch bzw. ärztlich sinnvolle Behandlung darf nicht paternalistisch aufgezwungen oder aufgedrängt werden. Gerechtfertigt und in der Regel auch indiziert ist die Aufnahme oder Weiterführung einer vom Patienten gewünschten lebenserhaltenen Therapie andererseits in der Regel aufgrund des Fürsorgeprinzips. Angesichts der Irreversibilität des Todes spricht alles – solange der Patient die lebenserhaltende Behandlung nicht ablehnt, vorsorglich durch eine Patientenverfügung und die entsprechende Instruierung eines Bevollmächtigen abgelehnt hat oder (nach seinen allgemeinen Werthaltungen zu urteilen) mutmaßlich, falls er einwilligungsfähig wäre, ablehnen würde – für die Maxime in dubio pro vita. Entscheidend dabei ist, dass sich die Entscheidung über Abbruch oder Weiterführung der Behandlung an den Wünschen und Präferenzen des Patienten orientiert und nicht an den moralischen, ästhetischen oder wie immer gearteten Maßstäben anderer. Weder das persönliche Urteil, dass er selbst in dem Zustand des Patienten nicht weiterleben wollte, berechtigt den Arzt dazu, das gleiche Weiterleben jemand anders mit eventuell ganz anderen Erwartungen und Ansprüchen vorzuenthalten, noch das persönliche Urteil, dass er selbst in der Situation des Patienten weiterleben wollte, dazu, das gleiche Weiterleben jemand anders aufzunötigen. Beides liefe auf eine verkürzte Anwendung der Goldenen Regel hinaus, nach der man anderen das nicht antun sollte, von dem man selbst nicht will, dass es einem angetan wird – eine Regel, die George Bernard Shaw zu Recht in einer für diesen Kontext einschlägigen Weise auf den Kopf gestellt hat: Do not do unto others as you expect they should do unto you. Their tastes might be not the same. Nicht einmal dann, wenn die Präferenzen des Patienten völlig unbekannt sind, darf der Arzt ihm seine eigenen Präferenzen unterstellen. Er muss dann vielmehr von den Präferenzen ausgehen, die ein statistisch durchschnittliches Individuum unter den gegebenen Bedingungen haben würde. Aus demselben Grund müssen Lebensqualitätsindizes als problematisch gelten, die nicht primär von den subjektiven Wertungen der jeweiligen Patienten ausgehen. Auch wenn subjektive Bewertungen gelegentlich verzerrt sein können, z. B. durch objektiv unberechtigte Zukunftsängste, ist das Individuum doch im Allgemeinen sehr viel besser als andere in der Lage, die Qualität des eigenen Lebens und Überlebens zu bewerten. Umstritten ist in der Medizinethik allerdings, wie weit auch dann eine Verpflichtung zur Lebenserhaltung besteht, wenn keine dieser Bedingungen eindeutig zutrifft, der Patient aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Bewusstsein unwiederbringlich verloren hat und die lebenserhaltende Behandlung insofern „sinnlos“ geworden ist, als er von einem Abbruch der lebenserhaltenden Behandlung subjektiv nicht mehr erreicht wird. Sein Leben kann erhal-
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ten werden, aber seine Lebensqualität wäre durch den Abbruch der Behandlung weder negativ noch positiv betroffen. Die Stellung, die man in dieser Frage einnimmt, wird u. a. von den Zwecken abhängen, um derer willen das Leben solcher Patienten trotz verschwindend geringer Aussichten auf ein „Wiedererwachen“ erhalten bleibt. Viele werden das Fürsorgeprinzip über den jeweils betroffenen Patienten hinaus auf dessen Nahestehende ausdehnen und diesen einen entsprechenden Wunsch nicht abschlagen wollen. Andere werden das Interesse honorieren wollen, das religiöse und andere Bezugsgruppen des Patienten daran haben, dass mit dem Patienten nach den von ihnen und ihm vertretenen Regeln verfahren wird. Andere wiederum werden das Leben – im Sinne von Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“ – unabhängig von der Qualität des Erlebens und sogar unabhängig von jeder realistischen Chance eines Erlebens als intrinsischen, vom Erleben des Lebenden unabhängigen Wert ansehen. Sie könnten die lebenserhaltende Behandlung damit begründen, dass Lebenserhalt auch dann ein bonum ist, wenn es kein Gutes für jemanden ist. Eine Kompromissformel, die es erlaubt, diesen konträren Werten gleichzeitig gerecht zu werden, wäre, sich auf keine Verpflichtungsnorm festzulegen und dem Arzt die Freiheit einzuräumen, jenseits der durch das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gezogenen Grenzen seinen je eigenen moralischen Überzeugungen zu folgen. Vorausgesetzt werden muss dabei allerdings, dass sich der Patient gegen die Unberechenbarkeit, die eine solche Freiheit für ihn bedeutet, dadurch wappnen kann, dass er nicht nur Gelegenheit hat, von seinem Recht auf Selbstbestimmung mithilfe einer Patientenverfügung Gebrauch zu machen, sondern dass er darauf vertrauen kann, dass diese im Eventualfall auch dann befolgt wird, wenn ihr Inhalt den Werthaltungen der ihn behandelnden Ärzte widerspricht. Diese Gewähr ist zumindest in Deutschland gegenwärtig nicht gegeben. Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Zusammenspiel von Selbstbestimmungsrecht und ärztlicher Fürsorgepflicht für einen Patientenwunsch nach Nichtaufnahme einer vorgeschlagenen oder nach Abbruch einer initiierten kurativen Behandlung? Ein solcher Wunsch muss, soweit er auf einer alle relevanten Alternativen einbeziehenden Aufklärung beruht und nicht manipuliert ist, respektiert werden und die Behandlung auf palliative Therapie umgestellt werden. Eine solche Umstellung wird in einigen Fällen die Lebensspanne verkürzen, in anderen aber auch verlängern. Gerade auch der Verzicht auf aggressive Therapien kann dem Patienten neue Lebenskraft und neuen Lebensmut geben. Ist zu erwarten, dass die Umstellung von kurativer auf ausschließlich palliative Therapie die Lebensspanne verkürzt, handelt es sich um einen Akt der „Sterbehilfe“ – dieser Begriff im weitesten Sinne verstanden Es handelt sich um eine Hilfe zum Sterben und nicht nur um eine Hilfe beim oder im Sterben wie die Erleichterung des Sterbeprozesses durch die Gabe von Schmerz- oder
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Beruhigungsmitteln oder die psychologische oder spirituelle Sterbebegleitung. Die Gründe liegen auf der Hand: Erstens wirkt die Umstellung im Vergleich zur maximal lebenserhaltenden Therapie so, dass der Tod früher eintritt, als er eintreten müsste, die Lebenszeit also verkürzt wird. Zweitens zielt die Umstellung darauf, den – negativen, auf Ablehnung einer bestimmten Behandlung gerichteten – Willen des Patienten zu respektieren und/oder das Leiden des Patienten zu mindern. Dass es sich bei der Nichtaufnahme oder dem Abbruch einer kurativen Behandlung, sofern sie eine Verkürzung des Lebens zur Folge hat, um Sterbehilfe handelt, wird in der öffentlichen Diskussion und zum Teil auch innerhalb der Medizin gelegentlich bewusst verschleiert, um nicht in den Verdacht zu geraten, umstrittenere Formen der Sterbehilfe gutzuheißen, an deren Ablehnung man festhalten möchte. So firmieren die gegenwärtig geltenden einschlägigen Richtlinien der Bundesärztekammer zur Sterbehilfe irreführenderweise als Richtlinien zur „Sterbebegleitung“ (vgl. Bundesärztekammer 2011), obwohl sie ganz überwiegend die Sterbehilfe und nicht die (psychologische) Sterbebegleitung zum Gegenstand haben. In der politischen Diskussion kursiert seit längerem eine verkürzte Definition von „Sterbehilfe“ bzw. „Hilfe zum Sterben“, mit dem ausschließlich die „aktiven“, in der Regel umstritteneren Begehungsformen gemeint sind (vgl. Nauck 2014). Auch der Ausdruck „passiv“, der lange Zeit in der Diskussion um die Sterbehilfe dazu gedient hat, die Nichtaufnahme oder den Abbruch einer kurativen Behandlung gegen die Tötung auf Verlangen und den ärztlich zugelassenen oder assistierten Suizid abzugrenzen, trifft die Sache nur ungenau. Erstens bleibt der Arzt nicht nur bei einem Abbruch einer kurativen Behandlung, sondern auch bei deren Nichtaufnahme nicht schlechthin untätig. Er entscheidet vielmehr, eine bestimmte mögliche Behandlungsform nicht einzusetzen oder ein bestimmtes Behandlungsziel nicht zu verfolgen. Falls diese Entscheidung in Todesnähe absehbar dazu führt, dass der Patient früher stirbt, als er andernfalls sterben würde, ist diese Entscheidung als Faktor auch dann an der Verursachung der Lebensverkürzung beteiligt, wenn die Hauptursachen bei der Krankheit des Patienten liegen. Indem er bewusst auf eine mögliche Behandlung verzichtet, trägt er willentlich zu dieser Verkürzung bei, entweder (in rechtlichen Termini) wenn er diese Verkürzung anstrebt, um entweder die Leiden des Patienten zu mindern oder sein Selbstbestimmungsrecht zu respektieren, absichtlich, wenn er sie nicht direkt anstrebt, aber weiß, dass sie aus seiner Entscheidung folgt, vorsätzlich, oder wenn er sie zugunsten der Erfüllung eines der beiden Prinzipen in Kauf nimmt, bedingt vorsätzlich. Zweitens ist die Redeweise „passive Sterbehilfe“ irreführend, weil sie übersehen lässt, dass der Abbruch einer Therapie über die Entscheidung zur Therapiebegrenzung hinaus ein positives Tun involvieren kann, etwa das Abstellen eines Beatmungsgeräts oder das Abkoppeln eines Infu-
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sionsschlauchs, im weiteren Verlauf eine Reihe aktiver palliativer Maßnahmen bis hin zu palliativen Operationen zur Linderung von Schmerzen oder anderen belastenden Symptomen. Behandlungsverzicht oder -begrenzung bedeutet keine „hands-off policy“, sondern ein aktives Bemühen, dem Patienten die letzte Lebensphase so lebenswert wie möglich zu gestalten und/oder seinen Willen zu respektieren. Eine normative Differenzierung zwischen den zwei Formen der Behandlungsbegrenzung: der Nichtaufnahme einer Behandlung und dem Abbruch einer einmal aufgenommenen Behandlung ist dabei rational nicht zu begründen – auch wenn diese Handlungsweisen gemeinhin als sehr unterschiedlich belastend empfunden werden. Das gilt auch für die in Israel – aus Rücksichtnahme gegenüber fundamentalistischen Gruppen – Gesetz gewordene Regelung (vgl. Raz/Schicktanz 2016, 73), nach der die Nichtaufnahme einer Behandlung zulässig, der Abbruch einer Behandlung jedoch unzulässig ist – vor allem wenn sie (wie in Israel) mit der Erlaubnis einhergeht, einen Apparat so zu programmieren, dass er unter definierten Bedingungen die Behandlung automatisch abbricht. Wenn das Umlegen des Schalters des Beatmungsgeräts mit Todesfolge eine unzulässige Tötung ist, dann auch die entsprechende Programmierung des Apparats.
4.3 Andere Formen der Respektierung von Sterbewünschen Patientenwünsche nach einem früheren Todeszeitpunkt als dem, zu dem der Tod bei maximaler lebenserhaltender Therapie eintreten würde, richten sich ganz überwiegend auf die Nichtaufnahme oder den Abbruch einer medizinischen Behandlung. Zur Erfüllung dieses Wunsches ist der Arzt, sofern der Wunsch von einem einwilligungsfähigen Patienten in Kenntnis seiner Tragweite und ohne äußeren Zwang oder Druck geäußert wird oder vorausverfügt worden ist, aufgrund des Selbstbestimmungsrechts des Patienten im strengen Sinn verpflichtet. Das gilt auch für den Fall, dass die ausgeschlossene Behandlung in einer künstlichen Form der Ernährung und Hydrierung besteht, und nicht zuletzt auch für den Fall des Patientenwunsches, im Zuge einer „finalen“ palliativen Sedierung zur Symptomunterdrückung nicht künstlich ernährt oder hydriert zu werden, so dass er nach Aufnahme der Sedierung, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen, in den Tod hinübergleitet. Auch dieses Verfahren, das in dem in dieser Hinsicht ausgesprochen konservativen Frankreich erst 2016 und nach langwierigen Auseinandersetzungen legalisiert worden ist, lässt sich als Variante eines Wunsches nach Behandlungsabbruch auffassen, dessen Befolgung aufgrund des Prinzips der Patientenselbstbestimmung für den Arzt verpflichtend ist. Da Ernährung und Hydrierung unter der Sedierung in einem Zustand akuter Einwilligungsunfähig-
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keit vorgenommen werden und darüber hinaus eindeutig als medizinische Maßnahmen eingestuft werden müssen, muss sie der Patient im Vorfeld der Sedierung ebenso ablehnen können wie andere medizinische Maßnahmen auch (vgl. Birnbacher 2004). Aus mehreren Gründen sind die weitergehenden Formen einer Respektierung von Patientenwünschen nach einer Vorverlegung des Todes bei zum Tode führenden schweren Erkrankungen stärker umstritten als der Behandlungsabbruch mit wahrscheinlicher oder sicherer Todesfolge und der Verzicht auf die Aufnahme einer lebenserhaltenden Behandlung. Hier sind vor allem die ärztliche Zusicherung, einen vom Patienten initiierten Verzicht auf Essen und Trinken („Sterbefasten“) palliativ zu begleiten, der mit ärztlicher Duldung oder Unterstützung ausgeführte Suizid und die Tötung auf Verlangen zu nennen. Umstritten sind diese Verhaltensweisen teils in ethischer, teils in spezifisch berufsethischer Hinsicht. Unter berufsethischen Aspekten ist die internationale Situation uneinheitlich und unübersichtlich. In Ländern, in denen die Tötung auf Verlangen ausnahmslos strafbar ist, ist sie dem Arzt auch berufsethisch untersagt. Eine Ausnahme bilden die Benelux-Ländern, in denen die Tötung auf Verlangen unter definierten Bedingungen straflos bleibt. Anders ist es bei der Beihilfe zum Patientensuizid zur Lebensbeendigung bei schweren Belastungen in der letzten Lebensphase. Auch da wo sie strafrechtlich zulässig ist, ist sie dem Arzt vielfach berufsethisch untersagt und/oder mit berufsrechtlichen Sanktionen bedroht. Dagegen trifft die palliative Begleitung des Sterbefastens in Todesnähe bisher auf keine berufsethischen und -rechtlichen Bedenken, ist aber möglicherweise dennoch – als „geschäftsmäßige“ Beihilfe zu einem „passiven Suizid“ – nach dem Ende 2015 in Deutschland eingeführten § 217 StGB strafbar. Warum bestehen gegen diese letztgenannten drei Formen der Lebensverkürzung sehr viel stärkere ethische Vorbehalte als gegen die Behandlungsbegrenzung? Sieht man sich diese Gründe näher an, wird deutlich, dass sie letztlich nicht zu überzeugen vermögen. Einige sind zu unspezifisch, um die generelle ethische Unzulässigkeit dieser Verfahren zu begründen. Andere sind hinreichend spezifisch, aber wenig plausibel. Zwei der Gründe für die Unzulässigkeit der drei Verfahren werden häufig angeführt, sind für eine Begründung aber zu unspezifisch. Beim Wort genommen treffen sie auch auf Verfahrensweisen zu, die allgemein für unbedenklich gehalten werden. Der erste ist, dass die drei genannten Verfahren der Erfüllung von Patientenwünschen nach einem vorzeitigen Tod seitens des Arztes (oder eines anderen) ein aktives Handeln verlangen, während ein Behandlungsabbruch mit Todesfolge oder die Nichtaufnahme einer lebenserhaltenden Behandlung lediglich ein Unterlassen erfordert. Aber Sterben-Lassen ist nicht notwendig „passiv“. Auch der Abbruch einer kurativen Behandlung kann ein Handeln beinhalten,
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etwa das „aktive“ Abstellen eines Beatmungsgeräts. Dass das Rechtssystem (wie in Deutschland) ungeachtet dessen ein Sterben-Lassen unter den geeigneten Bedingungen als Unterlassen wertet, schränkt diese Aussage nicht ein. Das Recht wertet in diesem Fall lediglich ein Verhalten, das eindeutig ein positives Tun ist, wie ein Unterlassen (bzw. als Unterlassen), um es vom Vorwurf der (strafbaren) Tötung auf Verlangen auszunehmen. Ein anderer Grund, der häufig für die Ablehnung der drei umstrittenen Verfahren der Todesbeschleunigung angeführt wird, ist, dass diese Verfahren einseitig das Selbstbestimmungsrecht des Patienten honorieren, nicht aber in gleichem Maße das Fürsorgeprinzip. Sterbehilfe auf Verlangen in ihren „aktiven“ Formen komme zwar möglicherweise den Wünschen des Patienten entgegen, vernachlässige aber die Fürsorge für den Patienten, die gerade auch darin bestehe, ihm ein zufriedenstellendes Weiterleben zu ermöglichen und ihn auf diese Weise sein Leben „zu Ende leben“ zu lassen. Dieses Argument entspringt dem durch das herkömmliche Arztethos gestützten Vorbehalt gegen eine wie immer motivierte aktive Lebensverkürzung. Es verfehlt aber die ethische Legitimation der drei Verfahren, und zwar in zweifacher Weise. Erstens ist keine dieser Verfahrensweisen primär durch das Selbstbestimmungsrecht des Patienten legitimiert. Das gilt zumindest, wenn man dieses Recht, wie es in der Medizinethik eher die Regel als die Ausnahme ist, ausschließlich als negatives, also als Abwehrrecht versteht, das einem anderen ein bestimmtes einen selbst betreffendes Handeln verbietet, nicht aber als Anspruchs- oder Leistungsrecht, das einem anderen ein bestimmtes einen selbst betreffendes Handeln gebietet. In der Tat ist die Möglichkeit, das entsprechende Verhalten mit dem Selbstbestimmungsrecht zu begründen, charakteristisch für die erstgenannten Formen der ärztlichen Beschleunigung des Todes in Todesnähe: Die Beschleunigung des Todes hat jedes Mal den Charakter des Sterben-Lassens, auch da, wo es, wie beim aktiven Behandlungsabbruch, u. a. ein aktives Tun beinhaltet. Die Unterstellung, dass die „aktiven“ Formen der Sterbehilfe – einseitig oder nicht – durch das Prinzip der Selbstbestimmung legitimiert sind, trifft insofern nicht zu. Ihre Legitimation liegt vielmehr wesentlich im Fürsorgeprinzip. Legitimiert ist die Herbeiführung eines früheren Todes (bzw. die Beteiligung an der Herbeiführung) jedes Mal durch den Wunsch des Patienten, dass der Leidenszustand, in dem er sich befindet, zu Ende gehen möge, bevor er durch den Tod zu Ende geht. Fürsorge für den Patienten zeigt sich u. a. darin, dass die Wünsche des Patienten ernst genommen werden (was eine kritische Prüfung dieser Wünsche nicht ausschließt), der Patient sachgerecht beraten wird und ihm Wege zur Verwirklichung seines Lebensentwurfs aufgezeigt werden. Das gilt für den schwerkranken und unheilbaren Patienten, der lieber sterben als unter den Bedingungen seiner Krankheit weiterleben möchte, in besonderer
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Weise. Denn dieser Patient ist zumeist stärker als andere Patienten auf ärztliche Hilfe angewiesen, In dieser Situation kommt das Fürsorgeprinzip in zweierlei Weise ins Spiel: Fürsorge bedeutet einerseits, den Leidenszustand des Patienten, sofern er nicht gelindert werden kann, zu beenden; sie bedeutet andererseits, den Wunsch des Patienten zu honorieren, der, wenn er nicht erfüllt wird, zu massiven Enttäuschungsreaktionen führen kann. Das erste Moment haben die drei umstrittenen Formen mit anderen Anwendungen medizinischer Kunst gemeinsam, die sich primär am Ziel der Leidenslinderung orientieren, etwa der Palliativmedizin. Das zweite haben sie gemeinsam mit der so genannten „wunscherfüllenden“ Medizin, die in den Industrieländen gegenwärtig auf eine starke Nachfrage stößt und weniger auf die angestammten Ziele der Medizin – Therapie, Diagnose und Prävention von Krankheiten und anderen Gesundheitsstörungen – ausgerichtet ist als vielmehr auf Lebensgestaltung und Lebenshilfe. Die beiden Zielbestimmungen entsprechen damit den zwei wesentlichen Dimensionen der Fürsorge: menschliches Leiden zu verhindern und, falls unvermeidbar, zu lindern; und Menschen zu ermöglichen, so zu leben, wie sie leben wollen. Auch wenn nur das erste Ziel zu den anerkannten Zielbestimmungen der Medizin gehört, schließen die Ziele der Medizin zumindest in den wohlhabenden Teilen der Welt seit längerem das letztere Ziel mit ein. Eine Handlung, die das Leben eines Patienten gezielt verkürzt, kann allerdings immer nur dann ernstlich als ein Akt der Fürsorge gelten, wenn es keine Alternativen gibt, die dem Patienten ein Weiterleben bei einer für ihn akzeptablen Lebensqualität ermöglichen, die also insgesamt „fürsorglicher“ sind als die zum vorzeitigen Sterben geleistete Hilfe. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen den Verfahrensweisen des Behandlungsabbruchs und der Nichtaufnahme einer Behandlung einerseits, den drei umstritteneren Verfahren andererseits. Eine kurative Behandlung muss stets abgebrochen werden, wenn dies der (einwilligungsfähige) Patient verlangt, gleichgültig, als wie unvernünftig sich dieses Verlangen im Einzelfall darstellt. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten lässt keine paternalistische Zwangsbehandlung zu, auch dann nicht, wenn der Arzt das Verlangen – wie etwa bei der Verweigerung von Bluttransfusionen bei Zeugen Jehovas – für irrational hält. Für die drei umstritteneren Varianten der Todesermöglichung gilt das Entsprechende nicht. Sie können nur dann als Akte der Fürsorge gelten, wenn der Tod (nach bestem Wissen und Gewissen) tatsächlich die für den Patienten bessere Option ist. Deshalb bestehen bei diesen Verfahren sehr viel weitergehende Sorgfaltspflichten als bei der Behandlungsbegrenzung. Auch bei der Behandlungsbegrenzung auf Wunsch des Patienten ist eine Bedingung der ethischen Legitimität, dass der Patient über seine Diagnose und Prognose sowie alternative – auch nicht-medizinische – Möglichkeiten der
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Leidensminderung aufgeklärt ist und die Tragweite der Erfüllung seines Wunsches erfasst. Seinem Wunsch nach Abbruch oder Nichtaufnahme einer lebenserhaltenden Behandlung ist auch dann Folge zu leisten, wenn seine Bewertungen bei objektiver Betrachtung unangemessen oder in anderer Weise rational schwer nachvollziehbar sind. Bei den „aktiveren“ Verfahren kommt dagegen die weitere Bedingung hinzu, dass der Wunsch des Patienten auch bei objektiver Betrachtung gut begründet und nachvollziehbar ist. Der Wunsch des Patienten legitimiert eine „aktive“ Beteiligung an der Lebensverkürzung nur dann, wenn es zu dieser nicht nur nach Meinung des Patienten, sondern auch objektiv, nach dem allgemein verfügbaren Kenntnisstand, keine im Sinne des Patienten bessere Alternative gibt. Andernfalls würde die aktive Beteiligung des Arztes an dem zum Tode führenden Geschehen nicht als Akt der Fürsorge gelten können. Fürsorge heißt, für den anderen etwas zu tun, was seine Lage im Vergleich zur bestehenden Lage verbessert, entweder indem sie Gutes schafft oder Übel lindert oder verhindert. Deshalb wird eine Lebensbeendigung nur dann nach dem Fürsorgeprinzip rechtfertigbar sein, wenn sie dieser Bedingung genügt. Die Wertungen, nach denen sich bemisst, was als Übel für den Patienten gilt, sind abhängig von der Mentalität und den Erwartungen des Patienten. Dennoch muss die Prognose, wie weit der Patient mit seiner Einschätzung, dass ihm mehr Übles als Gutes bevorsteht, recht hat, objektiv begründet sein. Sie darf sich die Ängste des Patienten, was seine Zukunft betrifft, nicht unkritisch zu eigen machen, sondern muss diese, bevor sie seinen Wunsch nach Lebensbeendigung unterstützt, auf ihre Berechtigung prüfen. Dieser gravierende Unterschied geht letztlich auf die Asymmetrie in der Rechtfertigung zurück, die einerseits eine Behandlungsbegrenzung, andererseits die aktiveren Formen der Lebensverkürzung legitimieren. Eine Behandlungsbegrenzung ist legitimiert und sogar verpflichtend aufgrund des bloßen Verlangens des Patienten, sofern dieser hinreichend urteilsfähig, aufgeklärt und sein Wille nicht von anderen manipuliert ist. Die Präferenzen, die sich in diesem Verlangen äußern, müssen dabei keine weitergehenden Rationalitätsstandards erfüllen. Entsprechen sie diesen Standards auffällig wenig, darf und muss er darauf hingewiesen werden. Aber nichts legitimiert, falls er an seinen aus allgemeiner Sicht verfehlten Überzeugungen festhält, Zwang oder Druck auszuüben und ihm etwa mit Sanktionen zu drohen, solange er sich dadurch nur selbst schädigt. Das ist anders bei den umstritteneren Verfahren. Da sie nicht primär durch das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, sondern durch das Fürsorgeprinzip legitimiert sind, müssen sie die weitergehenden Bedingungen erfüllen, die von Akten der Fürsorge zu verlangen sind. Sie müssen Übel vom Patienten abwenden, die mit anderen Mitteln nicht abzuwenden sind, und diese Übel müssen reale und nicht nur vermeintliche sein.
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An dieser Stelle zeigt sich, zu welchen Problemen eine Axiologie führen muss, die dem Leben unabhängig von seiner subjektiven Qualität oder den Überlebenspräferenzen des Patienten einen intrinsischen Wert zuspricht, und zwar auch dann, wenn diese nicht – wie in der Ethik Albert Schweitzers – als absoluter und einziger Wert postuliert werden, sondern als abwägbar gegenüber sub jektiven Werten wie Lebensqualität und Lebenspräferenzen betrachtet werden. Ein Vertreter dieser Axiologie wird es zumindest in einigen Situationen für vertretbar halten, einem Patienten mit Sterbeverlangen ein Weiterleben aufzunötigen, auch wenn alle Bedingungen erfüllt sind, die für einen ausschließlich an subjektiven Werten orientierten Moralisten ein Sterben-Lassen und eine Hilfe zum Sterben legitimieren würden. Sterbewillige Patienten, die an keiner zum Tode führenden Krankheit leiden, bleibt dann keine andere Wahl als entweder ein ungeliebtes Leben weiterzuleben oder sich einsam und unbegleitet das Leben zu nehmen. Die spezifischen Gründe gegen die „aktiveren“ Verfahren der Erfüllung von Sterbewünschen von Menschen in Todesnähe können ein Stück weit die Widerstände erklären, die einem liberaleren Umgang mit diesen Verfahren in Recht und ärztlicher Berufsethik im Wege stehen. Letztlich können sie aber ebenso wenig überzeugen wie die unspezifischen. Der erste dieser spezifischen Gründe ist der deutlich geringere Anteil, den die Krankheit des Patienten an den zum Tod führenden Kausalfaktoren hat. Das gilt nicht nur für den ärztlich assistierten Suizid und die Tötung auf Verlangen, sondern auch für die innerhalb dieser Gruppe relativ „passiven“ Formen: die Nichthinderung eines Suizids und die palliativärztliche Begleitung eines vom Patienten eigenständig initiierten Sterbefastens. Auch wenn diese beiden Verfahren in Todesnähe häufig unter Bedingungen schwerer Erkrankung gewählt werden, macht bei beiden die Krankheit nicht die alleinige und nicht die zentrale Ursache des Todes aus. Abgesehen davon, dass sie den Todeswunsch motiviert, spielt sie beim aktiven Suizid keine, beim Sterbefasten allenfalls eine beitragende und beschleunigende Rolle: Die Krankheit schwächt den Organismus und macht ihn empfindlicher für den hinzukommenden Flüssigkeitsmangel. Die zentralen Ursachen des Todes liegen beide Male in nicht-naturalen Faktoren. Darüber hinaus wird Sterbefasten in hohem Alter vielfach auch aus Lebenssattheit ohne akute Erkrankung praktiziert. So wurden in einer empirischen Untersuchung von Boudewijn Chabot von 97 niederländischen Fällen von Sterbefasten 39 Fälle als Fälle einer tödlichen Erkrankung, 31 als Fälle einer schweren Erkrankung, aber auch 27 als Fälle ohne tödliche oder schwere Erkrankung eingestuft (Chabot 2014, 74). In den letzteren Fällen sind Krankheitsfaktoren an der Herbeiführung des Todes ebenso wenig beteiligt wie beim assistierten Suizid und bei der Tötung auf Verlangen. Das ist anders bei der deshalb vielfach (irreführenderweise) als „passiv“ bezeichneten Behandlungs-
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begrenzung. Hier führt die Mehrzahl der zum Tode führenden Kausallinien auf die – nicht maximal behandelte – Erkrankung des Patienten zurück, auch wenn der kausale Part des Verzichts auf lebenserhaltende Behandlung weiterhin signifikant ist. Er fungiert als kausal notwendige Bedingung. Aber er ist für den Tod des Patienten dennoch nicht mehr als eine von vielen Teilursachen, von denen die allermeisten auf die Erkrankung und deren Folgen zurückgehen. Die Frage ist, ob dieses Merkmal – die zentrale Rolle der nicht erkrankungsbedingten Faktoren – die Unterschiede in der ethischen Bewertung der aktiveren gegenüber den passiveren Verfahren der Beschleunigung des Todes rechtfertigen kann. Das wäre dann der Fall, wenn der „natürliche“ – der überwiegend krankheitsbedingte – ein besserer Tod wäre als der – willentlich herbeigeführte – „künstliche“ Tod. In den Fällen, in denen eine „künstliche“ Lebensbeendigung legitim ist, ist dies aber gerade nicht der Fall. In diesen Fällen wird der „natürliche“ Tod ja gerade deshalb umgangen, weil er – aus Sicht des Betroffenen – der eindeutig schlechtere Tod ist. Wie immer der interpretierbare Begriff „natürlich“ in der Zusammensetzung „natürlicher Tod“ im Einzelnen verstanden wird, der „natürliche“ Tod ist in keinem Fall dasselbe wie der gute Tod , der Tod, der noch am ehesten von allen Todesarten wünschenswert ist. Deshalb kann die Tatsache, dass die Hauptfaktoren des Todes bei den aktiveren Arten der Herbeiführung des Todes nicht bei „natürlichen“ Faktoren und insbesondere bei einer zum Tode führenden Krankheit liegen, kein Grund sein, diese Formen eher abzulehnen als ihre „passiven“ Gegenstücke. Ein zweites Merkmal, das häufig den „aktiveren“ Formen im Gegensatz zu den „passiveren“ zugeschrieben und als moralisch relevant gesehen wird, ist das Merkmal der Absichtlichkeit. Bei den „aktiveren“ Formen ist, so wird vielfach behauptet, der Tod des Patienten zwangsläufig Gegenstand einer ausdrücklichen Intention des Ausführenden, während dies beim Behandlungsabbruch der Fall sein kann, aber nicht der Fall sein muss. In diesem Fall kann der Tod auch lediglich vorausgesehen sein, ohne beabsichtigt zu sein, oder er kann lediglich billigend in Kauf genommen werden. Aber auch dieses Argument, so berechtigt die Diagnose ist, von der es ausgeht, taugt nicht als Argument dafür, zwischen den aktiveren und den passiveren Formen der Lebensbeendigung einen derart gravierenden moralischen Unterschied zu sehen, dass die eine Form zulässig, die andere unzulässig ist. Die moralische Zulässigkeit und Unzulässigkeit einer Handlung hängt im Allgemeinen nicht davon ab, ob sie mit Absicht oder ohne Absicht ausgeführt wird. Absichtlichkeit macht eine moralisch unzulässige Handlung in der Regel zu einer verwerflicheren Handlung, als sie es ohne Absicht ausgeführt wäre. So macht es für die Verwerflichkeit der Schädigung eines anderen einen erheblichen Unterschied, ob sie absichtlich, fahrlässig oder mehr oder weniger unabsichtlich erfolgt. Für das Urteil, dass eine Handlung verwerflich ist,
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spielt die Beurteilung der Mentalität und Motive des Akteurs eine wesentliche Rolle. Solange die Handlung jedoch für sich genommen moralisch zulässig ist, kann sie durch die Tatsache, dass sie mit Absicht ausgeführt wird, nicht zu einer unzulässigen werden. Allenfalls können die Motive hinter der Absicht verwerflich sein, etwa dann, wenn mit der absichtlich ausgeführten Handlung krass egoistische oder in anderer Weise moralisch kritikwürdige Zwecke verfolgt werden. Dies ist aber sowohl bei den „passiveren“ als auch bei den „aktiveren“ Formen der Lebensbeendigung in der Regel nicht der Fall. Ein dritter Grund, der in der moralischen Differenzierung zwischen „aktiveren“ und „passiveren“ Formen eher im Hintergrund mitspielt und nur selten ausdrücklich formuliert wird, hängt mit dem ersten zusammen, setzt jedoch einen weiteren Akzent: der Hinweis auf die Tatsache, dass die „aktiveren“ Verfahren, die im Umfeld des Todes der fürsorglichen Beschleunigung des Todes dienen, auch unabhängig davon und aus anderen als fürsorglichen Motiven zur Anwendung kommen können und dann ihre moralische Unbedenklichkeit einbüßen. Die „aktiveren“ Verfahren haben – so das Argument – ein unterschiedliches hypothetisches Gefährdungspotenzial, und zwar insofern, als die Folgen einer hypothetischen Anwendung außerhalb ihrer legitimen Anwendungsbedingungen ein gutes Stück unheilvoller wären als im Fall der Behandlungsbegrenzung. Würde jeder noch so vorübergehende oder im Affekt geäußerte Sterbewunsch durch eine Tötung auf Verlangen oder das Gewähren einer Gelegenheit zum Suizid erfüllt, wäre das deutlich weniger tolerabel als ein Behandlungsabbruch unter denselben Bedingungen. Noch weniger tolerabel wäre die Anwendung auf Gesunde, die bei den „aktiveren“ Verfahren, sofern sie außerhalb ihrer legitimierenden Bedingungen angewendet werden, denkbar ist, bei den „passiveren“ aber nicht. Dass jemand den Tod durch den Abbruch oder die Nichtaufnahme einer Behandlung herbeiführen kann, hat zur Voraussetzung, dass der zu Behandelnde sterbenskrank ist. Wie viele andere Unterlassungen sind die „passiven“ Formen der Herbeiführung des Todes an sehr viel spezifischere Bedingungen gebunden als die entsprechenden aktiven Handlungen. Positive Handlungen haben regelmäßig die Eigenschaft, dass sie „jederzeit“ ihren Zweck erreichen können, während Unterlassungen dazu an besondere Umstände gebunden sind. Die Gelegenheit, andere aktiv zu schädigen, besteht fortwährend, während die Gelegenheit, andere durch Unterlassen zu schädigen, nicht dauerhaft bestehende Umstände erfordert, etwa die Hilfsbedürftigkeit oder Abhängigkeit anderer. Hinzu kommt, was die Herbeiführung des Todes betrifft, der verschärfende Umstand der Irreversibilität. Eine Tötung auf Verlangen schafft notwendig ein unumkehrbares fait accompli, während eine Behandlungsbegrenzung das häufig, aber nicht notwendig tut. Die Folgen eines übereilten oder aus anderen Gründen illegitimen Behandlungsabbruchs sind zumeist revidierbar. Sie lassen
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dem Patienten zumindest eine Chance. In der Mitte zwischen beiden steht, was das hypothetische Risiko einer Fehlanwendung betrifft, die Beihilfe zum Suizid und die Zusicherung einer palliativen Begleitung des Sterbefastens. Bei beiden steht die Patientenentscheidung, von der gebotenen Gelegenheit Gebrauch zu machen, zwischen ärztlichem Handeln und Tod. Der Patient kann seine Entscheidung – in unterschiedlichem Maße – grundsätzlich rückgängig machen. In dem amerikanischen Bundesstaat Oregon, in dem die ärztliche Suizidbeihilfe seit 1997 legalisiert und statistisch erfasst ist, machen nur rund zwei Drittel der Patienten von dem erhaltenen tödlichen Mittel Gebrauch. Ein einmal aufgenommener Prozess des Flüssigkeitsverzichts kann bis mindestens sieben Tage nach Beginn wieder zurückgenommen werden. Problematisch an diesem Argument ist, dass hypothetische Risiken für die Beurteilung der moralischen Zulässigkeit eines Verfahrens nicht entscheidend sein können. Worst case-Überlegungen sind keine taugliche Grundlage für Risikoabschätzungen. Die Tatsache, dass eine Fehl- oder missbräuchliche Anwendung eines für sich genommen legitimen Verfahrens unter hypothetischen Bedingungen eine erhebliche moralische Gefährdung mit sich bringen würde, kann nicht zeigen, dass das Verfahren als Ganzes illegitim ist. Entscheiden können lediglich die realen Wahrscheinlichkeiten von Fehl- oder missbräuchlichen Anwendungen. Diese müssen obendrein zu den Vorzügen der legitimen Anwendung ins Verhältnis gesetzt werden. Nur wenn die Gefährdungen so substanziell sind, dass sie diese mehr als aufwiegen, sind sie ein gutes Argument dafür, das Verfahren insgesamt für unzulässig zu halten. Ansonsten gilt jedoch: Abusus non tollit usum, der Missbrauch hebt den Nutzen nicht auf. Risikoüberlegungen spielen allerdings zu Recht eine Rolle, wenn es darum geht, berufsethische, berufsrechtliche und allgemein rechtliche Normen zu etablieren, die den gesellschaftlichen Umgang mit dem ärztlichen und anderen Formen des Umgangs mit Sterbewünschen regeln. Die moralische Zulässigkeit eines Verhaltens in abstracto bedeutet für sich genommen nicht, dass sie auch in concreto zulässig ist. Die Umstände können so geartet sein, dass moralisch problematische Folgen zu erwarten sind, die den Nutzen mehr als kompensieren. Folgenüberlegungen dieser Art sind das legitime Feld berufspolitischer und rechtspolitischer Strategien der Risikovermeidung. Wichtig ist allerdings, dass derart strategische Überlegungen nicht mit ethischen Überlegungen konfundiert werden, nach denen die die zur Debatte stehende Sache für sich genommen und unabhängig von den Folgen moralisch unzulässig ist. Die extrinsischen folgenabhängigen Gründe, die dagegen sprechen, ein bestimmtes Verfahren berufsrechtlich oder allgemeinrechtlich zuzulassen, dürfen nicht so interpretiert werden, als machten sie das betreffende Verfahren auch intrinsisch unzulässig. Im Bereich der Sterbehilfe ist dies allerdings in der Frage der Zulässigkeit der Tötung auf Ver-
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langen häufig der Fall. Es gibt möglicherweise gute folgenabhängige Gründe, die Tötung auf Verlangen, wie in Deutschland durch den § 216 StGB strafrechtlich zu verbieten. Aufgrund der in diesem Fall weitgehend passiven Rolle des sterbewilligen Patienten könnte dieses Verfahren zu missbräuchlichen Anwendungen wie übereiltem Vorgehen oder dem Suggerieren von Sterbewünschen bei lästigen oder schwierigen Patienten verleiten. Wie substanziell dieses Risiko ist, lässt sich nur empirisch abschätzen. Dasselbe gilt für das Risiko von Ausweitungen der Praxis auf nicht-intendierte und illegitime Anwendungsformen und -felder („Dammbrüche“) wie etwa Mitleidstötungen ohne ausdrückliches Patientenverlangen. Dass diese Risiken bestehen und möglicherweise hinreichend substanziell sind, um die Tötung auf Verlangen unter Strafe zu stellen, kann allerdings nicht zeigen, dass sie auch intrinsisch moralisch problematisch ist. Bestünden die möglicherweise zu Recht geltend gemachten Risiken nicht, spräche nichts dagegen, sie den legitimen Verfahren der Lebensbeendigung zuzurechnen. Analoges gilt für die Einwände gegen die ärztliche aktive Sterbehilfe, die sich auf das ärztliche Berufsethos berufen. Das traditionelle Berufsethos verbietet dem Arzt Handlungen, die direkt oder indirekt auf den Tod eines Patienten abzielen, auch dann, wenn dies zu Zwecken geschieht, die durch das Fürsorgeprinzip gedeckt sind. Damit wären, versteht man diesen Grundsatz streng, so gut wie alle in diesem Kapitel thematisierten Verhaltensformen für den Arzt ethoswidrig. Aber das ärztliche Ethos ist nicht ein für alle Mal festgeschrieben. Seit den Tagen von Hippokrates hat es sich in vielfältiger Weise gewandelt, u. a. in Interaktion mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Wertwandel. So hat in den Industrieländern der traditionelle ärztliche Paternalismus zunehmend dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten Platz gemacht, die Orientierung an kollektiven Zwecken – mit der Betonung von „Volksgesundheit“ und der Wiederherstellung von Arbeitsfähigkeit – der Orientierung an individuellen Zwecken. Das Berufsethos ist nicht festgeschrieben, sondern bedarf der stetigen Reflexion darauf, wie weit seine Inhalte unter den sich wandelnden realen Gegebenheiten als zeitgemäß gelten können. Wenn es sich wandelt, dann nicht nur aus sich heraus und autark, sondern auch durch Neujustierungen am übergreifenden Maßstab der allgemeingültigen moralischen Prinzipien. Angesichts der moralischen Legitimität der diskutierten Formen von Sterbehilfe stehen vor allem diejenigen Rechtssysteme in der Begründungspflicht, die die ärztliche Erfüllung von Sterbewünschen von Patienten in Todesnähe ausgesprochen restriktiv handhaben. Begründungsbedürftig sind insbesondere auch die gravierenden Unterschiede in den nationalen Gesetzgebungen innerhalb eines sich ansonsten kulturell zunehmend angleichenden Europa. Besitzt etwa die ärztliche Beihilfe zum Suizid in Situationen schwerer und tödlicher Erkrankung in Großbritannien und Frankreich, wo sie mit strafrechtlichen Sanktionen
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bedroht ist, ein so erheblich größeres Risikopotenzial als in Deutschland, wo wie seit 150 Jahren nicht strafbar ist, ohne dass es zu Dammbrüchen gekommen wäre? Gibt es überzeugende Gründe dafür, dass die Beihilfe zum Suizid durch Sterbehilfegesellschaften in der Schweiz tolerabel ist, in Deutschland aber nicht? Immerhin würde eine Professionalisierung der Hilfe zum Sterben zumindest mit einem Mehr an Missbrauchskontrolle einhergehen, als wenn sie von unkundigen Hausärzten oder Angehörigen ausgeübt wird. Nicht zu verkennen ist, dass auch in diesem hochgradig emotional besetzten Bereich der Rechtspolitik vielfältige Anpassungs- und Angleichungsprozesse angestoßen worden sind – wobei allerdings zu fragen ist, wie weit diese durch Argumente und wie weit durch bloßen Anpassungsdruck motiviert sind. So haben sich in den USA in den letzten Jahren eine Reihe von Bundesstaaten der seit 1977 in Oregon geltenden Regelung angeschlossen, nach der Ärzte schwerkranken Patienten mit einer Lebenserwartung von unter sechs Monaten ein tödliches Mittel aushändigen dürfen, mit dem sie einen sicheren und gewaltfreien Suizid begehen können. In Großbritannien ist eine Aufhebung des strafrechtlichen Verbots der Beihilfe zum Suizid 2015 im Unterhaus gescheitert. In Frankreich, wo man sich 2016 lediglich zur Legalisierung der andernorts seit langem akzeptierten finalen palliativen Sedierung durchringen konnte, geht die Diskussion weiter. Insgesamt muss es als fraglich gelten, ob die in diesem Punkt restriktiven Rechtssysteme der demokratischen Begründungspflicht genügen, nach der sich politisches Handeln gegenüber dem souveränen Bürger durch Gründe (statt durch Dogmen) rechtfertigen muss. Die richtige Mitte zwischen bedenkenloser Liberalisierung und weltanschaulichen Scheuklappen scheint noch lange nicht gefunden.
5 Kann man den eigenen Tod überleben? 5.1 Die Endgültigkeit des Todes Die Frage nach einem möglichen Weiterleben nach dem Tode ist für die Philosophie nur ein Randthema – im Unterschied zur Theologie. Viele Religionen würden viel von ihrer Attraktivität verlieren, wenn sie darauf verzichten würden, ihren Gläubigen ein persönliches Weiterleben nach dem Tod in Aussicht zu stellen oder zumindest die Hoffnung darauf zu nähren. Im Christentum ist die Erwartung einer „Wiederauferstehung“ nach dem Vorbild der Berichte in den Evangelien über die von Jesus getätigten Wunder der Wiedererweckung (etwa des Lazarus) und die Wiederauferstehung Jesus’ nach dem Tod am Kreuz traditionell einer der zentralen Glaubensartikel. Der Apostel Paulus verheißt den Christen im 1. Korintherbrief, dass sie von Gott auferweckt werden, ausgestattet mit einem „geistlichen“ Körper (15, 23). Dieser soll an die Stelle des irdischen treten. Nichts, was aus Fleisch und Blut ist, wird „das Reich Gottes ererben“ (15, 50). Paulus’ Verheißung gipfelt in einer leidenschaftlichen Kampfansage an den irdischen Tod (wie zugleich auch an die Hölle): „Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ (15, 55) Die Frage, ob man den eigenen Tod überleben kann, scheint auf den ersten Blick paradox. Wie soll man den Tod erleiden und dennoch weiterleben können? Wenn der Tod das Ende des Lebens ist, ist es dann nicht analytisch wahr, dass niemand seinen Tod überleben kann? Entweder, so scheint es, ist der Tod das Ende des Lebens, dann kann es darüber hinaus kein weiteres Leben geben, oder der Tod ist – allem Anschein entgegen – nicht das Ende des Lebens, sondern lediglich das Ende einer bestimmten Form oder Gestalt des Lebens: der biologischen, d. h. der einzigen Form von Leben, die wir aus der Erfahrung kennen. Der Eindruck des Paradoxen ist nur zu berechtigt. Er verweist auf eine bisher nicht bedachte Mehrdeutigkeit des Begriffs des Todes. Bisher haben wir einen Todesbegriff zugrunde gelegt, nach dem der Tod das Ende des biologischen Lebens bezeichnet und für dessen Bestimmung maßgeblich (wenn auch nicht ausschließlich) biologische Kriterien relevant sind. Ein anderer, vor allem in der Geschichte der metaphysischen Spekulation verbreiteter Begriff bezieht die Begriffe „Leben“ und „Tod“ über die uns bekannte biologische Existenzform der Person hinaus auf alle denkbaren Formen personaler Existenz, auch auf solche, die nicht oder zumindest nicht ausschließlich biologischer Art sind, etwa auf die Existenzform als „Seele“ im Sinne einer unverkörperten, rein geistigen Existenz. Das ist der Grund dafür, dass wir uns die Frage überhaupt stellen können, ob wir „Tod“ wie bisher im Sinne des biologischen Todes verstehen wollen oder so, DOI 10.1515/978-3-11-053449-8-005
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5 Kann man den eigenen Tod überleben?
dass dieser das Ende der Existenz der Person – welche Form diese Existenz auch immer annehmen mag – bezeichnet. Viele Sprachen fassen das Fortexistieren der Person über den biologischen Tod hinaus als „Überleben“, „survival“, „survie“ usw. Das ist allerdings kaum ein respektabler Grund, eine etwaige nicht-biologische Form personaler Existenz dem Leben zuzurechnen. In den Sprachen spiegeln sich eher die jeweils von religiösen und kulturellen Traditionen geprägten Jenseitsvorstellungen als eine Konzeption, die vor der Vernunft bestehen kann. In der Tat wird in vielen esoterischen und religiösen Vorstellungswelten die Fortexistenz als eine quasi-biologische konzipiert, mit einer „Wiedergeburt“ am Anfang und der Chance, anderen Personen in körperlicher Gestalt zu begegnen oder wiederzubegegnen. Es gibt einen besseren Grund, den Tod in einem gegenüber den vorhergehenden Kapiteln erweiterten und nicht exklusiv biologischen Sinn zu fassen: die mit dem Tod durch starke semantische Intuitionen verknüpfte Idee der Endgültigkeit. Endgültigkeit sollte in den Bestimmungsstücken des Todesbegriffs nicht fehlen. Der Grund dafür ist wesentlich negativer Natur: Ein Verzicht auf das Definitionsmerkmal der Endgültigkeit würde bedeuten, die logische Möglichkeit anzuerkennen, dass es zwischen Anfang und Ende der Existenz einer Person Phasen geben kann, in denen sie tot ist. Eine derartige Möglichkeit scheint semantisch hochgradig prekär – auch wenn wir Redeweisen, vor allem aus dem religiösen Denken, kennen, in denen von einer Wiederauferstehung oder einer Wiedererweckung einer Person „von den Toten“ die Rede ist. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass nicht alle logischen Freiheiten, die sich die religiöse Sprache nehmen darf, auch dem rationalen Denken erlaubt sind. Religionen arbeiten vielfach gezielt mit Paradoxien, nicht zuletzt um Schichten der Person „jenseits der Vernunft“ anzusprechen. Im nüchternen Licht der Ratio erweisen sich diese Paradoxien gelegentlich als Sackgassen. So erscheint auch der Gedanke, dass jemand zunächst tot ist und dann erneut zu leben beginnt, begrifflich problematisch. Die zeitliche Asymmetrie von Leben und Tod ist gewissermaßen auf den Kopf gestellt. Üblicherweise folgt der Tod stets auf das Leben und das Leben niemals auf den Tod. Zwar ist der Tod für sich genommen keine logische Notwendigkeit. Unsterblichkeit ist denkbar (und bei einigen niederen Tiergattungen wohl auch real möglich). Aber es erscheint doch notwendig, dass wenn er eintritt, er nach und nicht vor dem Leben eintritt. Ein Tod, auf den eine Wiederauferstehung, Wiederverkörperung oder die Fort‑ existenz der Person als entkörperte Seele folgt, wäre kein eigentlicher Tod. Wie wir gesehen haben bezeichnet der Begriff der Endgültigkeit eine feststehende und in gewisser Weise absolute Grenze – im Gegensatz zum Begriff der Irreversibilität, der sich implizit auf den jeweiligen „Stand der Technik“ bezieht. Die Endgültigkeit eines Endes schließt nicht nur aus, dass es je möglich sein wird,
5.1 Die Endgültigkeit des Todes
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den zu Ende gegangenen Prozess rückgängig zu machen, sondern auch, dass es dazu kommen kann, dass dieser Prozess spontan und ohne menschliche Einwirkung neu beginnt. Erst mit dem Tod als endgültigem Ende ist besiegelt, dass eine Person nicht wieder „erwacht“. Die Konsequenzen dieser semantischen Festlegung sind gravierend. „Tod“ ist nicht mehr der Gegenbegriff gegen das Leben als biologisch verstandenen Prozess, sondern der Gegenbegriff zur Existenz. Tod schließt nicht mehr nur ein Weiterleben im Sinne biologischer Existenz aus, sondern jedwede Form von Existenz, auch eine in nicht-biologischer Form. Vielleicht wäre es vorteilhaft, um Missverständnisse zu vermeiden, von „Ende“ statt von „Tod“ zu sprechen und zu sagen, dass der Tod zwar das Ende des Lebens einer Person, aber nicht notwendig auch das Ende der Existenz einer Person ist. Aber „Ende“ ist kein Äquivalent für „Tod“. Das Ende der Existenz ist nur eine von vielen Formen, wie etwas zu Ende gehen kann. Konsequenzen hat dieses Todesverständnis nicht nur für die metaphysische Spekulation, sondern auch für den Sprachgebrauch in Bezug auf empirisch reale oder zumindest real mögliche Fallkonstellationen. Eine Konsequenz ist, dass einige Fallkonstellationen, in denen die Zuordnung zu Leben und Tod uneindeutig sein könnte, eindeutig dem Bereich des Lebens zuzuordnen sind. Eine derartige Vereindeutigung kann nur erwünscht sein, vor allem in Hinsicht auf verbreitete irreführende sprachliche Bezeichnungen wie „klinisch tot“. „Klinisch tote“ Patienten sind ebenso wenig tot wie Patienten, bei denen alle äußeren Zeichen auf einen Herz-Kreislauf-Tod hinweisen, bei denen aber die Chance auf eine Wiederbelebung besteht und diese Chance nicht aus bestimmten Gründen ungenutzt bleibt. Sie können erst dann als tot gelten, wenn alle zulässigen Möglichkeiten der Wiederbelebung erschöpft sind. Entsprechendes gilt für kürzere oder längere Zustände der Unterkühlung, bei denen die Funktionen, die üblicherweise als Kennzeichen des Lebens gelten, soweit zum Stillstand kommen, dass die Patienten keinerlei Lebensäußerungen erkennen lassen und von Toten nicht zu unterscheiden sind. Dennoch „wachen“ sie gelegentlich wieder auf oder lassen sich mit medizinische Maßnahmen „wiedererwecken“. Diese Fälle müssen nach unserer Festlegung so beschrieben werden, dass diejenigen, bei denen ein spontanes oder induziertes „Wiedererwachen“ eingetreten ist, die Zeit ihrer Unterkühlung hindurch gelebt haben. Das Aussetzen ihrer Lebensfunktionen war allenfalls scheinbar endgültig. Analoges muss von den „Kryonikern“ gelten, die sich in einem Zustand, in dem der Tod nach den geltenden Kriterien noch nicht eingetreten ist, für Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte tiefgefrieren lassen. Solange sie ihre Lebensfunktionen nicht endgültig eingebüßt haben, leben sie, auch wenn sie die längste Zeit dieses Lebens hindurch keinerlei Lebenszeichen erkennen lassen. Ihr Tod
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wird – im aus heutiger Sicht wahrscheinlichsten Fall – dann eintreten, wenn sich ihre Erkrankung auch nach dem Auftauen als unheilbar erweist, oder wenn die Schäden, die sie sich durch die Kryokonservierung und das anschließende Auftauen zugezogen haben, mit dem Leben unvereinbar sind. Sollten sich die Ziele der Kryokonservierung erreichen lassen und die Kranken sowohl von ihrer gegenwärtig als unheilbar geltenden Erkrankung genesen als auch die Belastungen durch die Kryokonservierung überstehen, werden sie ebenso wie die überwiegende Zahl der gegenwärtig Lebenden an anderen Ursachen sterben. Wie immer gut begründet eine Sprachregelung ist, die den Tod mit dem endgültigen Ende der Existenz statt mit dem biologischen Tod einer Person identifiziert – Spannungen mit geläufigen und unter pragmatischen Gesichtspunkten durchaus sinnvollen Sprechweisen des Alltags sind unvermeidbar. Strenggenommen müssten wir, wenn wir den Ausdruck „Tod“ für das endgültige Ende einer Person reservieren, Aussagen über den Tod einer Person unter den Generalvorbehalt eines zumindest denkbaren Fortexistierens über den Tod hinaus stellen. Gerade dadurch, dass der Tod endgültig wird, ließe sich kaum noch endgültig über Leben und Tod urteilen. Paradoxerweise würden viele Urteile über Endgültigkeit vorläufig – zumindest so lange, wie nicht gezeigt ist, dass ein Fortexistieren über den biologischen Tod hinaus bereits aus logisch-semantischen Gründen unmöglich ist. Solange das nicht der Fall ist, sind alle Urteile über Endgültigkeit im Prinzip falsifizierbar. Bisher ist ein schlüssiger Nachweis für eine derartige Falsifikation allerdings nicht geführt worden. Die scheinbaren Begegnungen mit den Geistern der Verstorbenen im Spiritismus sind als Nachweis der tatsächlichen Existenz von Seelen jenseits des biologischen Todes untauglich. Sie lassen sich durchweg als Projektionen aktuell Lebender deuten. Falsifikationen kennen wir jedoch zumindest für den dem Begriff des Sterbens verwandten Begriff des Aussterbens. In Bezug auf biologische Gattungen wird des Öfteren ganz unbedenklich davon gesprochen, dass „ausgestorbene“ biologische Arten „wiederhergestellt“ werden, etwa durch gezielte Rückzüchtung oder mithilfe der Methoden der Gentechnik. Die so genannte De-extinction-Bewegung fordert eine solche Wiederherstellung sogar auf breiter Basis (vgl. Diehm 2015). Aber auch hier wird man, solange eine biologische Art wiederherstellbar ist, sie nicht als ein für alle Mal „ausgestorben“ bezeichnen können. Auch hier ist eine „Wiederherstellung“ eher als eine Fortsetzung der Existenz einer bestimmten Gattung zu verstehen. Mit der Wiederherstellung erweist sich die Zuschreibung, ausgestorben sein, als voreilig – analog dazu, dass das Auffinden eines über lange Zeit Vermissten, der „für tot erklärt“ worden ist, diesen nicht etwa „wiedererweckt“, sondern die frühere Zuschreibung als voreilig erweist.
5.2 Begriffliche Probleme der Fortexistenz über den biologischen Tod hinaus
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Für metaphysische Konzeptionen, die eine Fortexistenz über den biologischen Tod hinaus annehmen, ergibt sich eine ähnliche begriffliche Spannung zwischen landläufig so genanntem Tod und „eigentlichem“ Tod – ähnlich wie im medizinischen Zusammenhang für Vertreter der Auffassung einer zeitlichen Differenz zwischen Eintritt des Hirntods und Eintritt des Todes: Was als Tod gilt, ist (noch) nicht der eigentliche Tod. Diese Spannung zeigt sich u. a. in einem der bekanntesten und historisch wirkmächtigsten Texte der metaphysischen Tradition, Platons Dialog Phaidon mit seiner literarischen Inszenierung des Todes des Sokrates: Er [Sokrates …] ging hin und her; dann sagte er, er spüre jetzt, wie seine Glieder schwer würden, und legte sich auf den Rücken; denn so hatte es ihm der Mann, der das Gift brachte, befohlen. Jetzt fühlte ihn dieser an, und nach einiger Zeit prüfte er seine Füße und Beine; dann drückte er heftig den Fuß und fragte ihn, ob er etwas spüre. „Nein“, sagte er. Und darauf dann die Unterschenkel, und indem er immer weiter hinauf fühlte, zeigte er uns, wie er allmählich kalt und steif wurde. Und er faßte ihn wieder an und sagte, wenn es bis zum Herzen fortgeschritten sei, dann werde er scheiden. Schon war um seinen Unterleib fast alles erkaltet, da deckte er sich noch einmal auf – er hatte sich schon ganz verhüllt -– und sagte: „Kriton“, und das waren seine letzten Worte, „wir schulden dem Asklepios einen Hahn; entrichtet ihm den und versäumt es nicht“. (Platon 1974, 103)
Sokrates geht davon aus, dass er sterben wird, also den Tod erleiden wird. Zugleich sieht er das biologische Ende nicht als das Ende seiner Existenz. Asklepios ist der Gott der Gesundheit, der geopferte Hahn ein Tribut an die Erlösung von der Verfallenheit an die biologische Existenzform. Falls sich die Hoffnung Sokrates’ auf eine „höhere“ Existenzform nach dem Durchgang durch den biologischen Tod erfüllt, ist er nach unserer Bedeutungsfestlegung noch nicht eigentlich gestorben, sondern auf dem Weg zu einer von Naturzwängen befreiten Existenzform, die alle irdischen Übel überwunden hat und in der die Erkenntniskräfte soweit gesteigert sind, dass sie die Urbilder der Dinge, die „Ideen“, unmittelbar und nicht mehr nur in ihren unvollkommenen Spiegelungen wahrzunehmen vermögen.
5.2 Begriffliche Probleme der Fortexistenz über den biologischen Tod hinaus: Zeitliche Lücken und Identität Wird der Tod mit dem Ende der Existenz einer Person statt mit ihrem biologischen Ende identifiziert, eröffnet sich die begriffliche Möglichkeit eines Lebens jenseits des biologischen Todes. Auf die Frage nach der logisch-semantischen Möglichkeit eines Weiterlebens ist damit allerdings nur eine Teilantwort gegeben. Dass von Seiten der Begriffe „Leben“ und „Tod“ gegen die Denkbarkeit eines Weiter-
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lebens keine grundsätzlichen Bedenken bestehen, heißt nicht, dass nicht von anderer Seite begriffliche Bedenken bestehen, die die Idee eines Weiterlebens als ungangbar erweisen. Vor allem zwei Bedenken werden immer wieder gegen die Konsistenz des Gedankens eines Fortlebens geltend gemacht: 1. Bedenken der Diskontinuität der möglichen postmortalen Existenz und 2. Bedenken der problematischen Identität der postmortalen mit der früheren biologisch existierenden Person. Das Bedenken der Diskontinuität betrifft ausschließlich Konzeptionen, nach denen die postmortale Existenz einer Person zeitliche „Lücken“ aufweist, entweder in der Weise, dass zwischen dem biologischen Tod und dem Beginn der Fortexistenz ein kürzeres oder längeres zeitliches Intervall liegt, oder so, dass die postmortale Existenz der Person, während sie andauert, zeitliche Lücken aufweist. Die erste Art zeitlicher Lücke ist kennzeichnend für Wiederauferstehungsvorstellungen: Zwischen dem biologischen Tod und dem Wiederauferstehen vergeht Zeit, im Falle des wiederauferstandenen Jesus weniger als zwei Tage, im Falle davon inspirierter Jenseitsvorstellungen Jahre und Jahrzehnte. Die zweite Art ist kennzeichnend für Seelenwanderungsvorstellungen, für die eine Person sukzessiv eine Vielzahl von biologischen Existenzformen durchlebt, bevor sie sich endgültig auflöst. Nach einer der am weitesten verbreiteten dieser Vorstellungen, denen des Hinduismus, können zwischen den einzelnen Verkörperungen Zeiträume von mehreren tausend Jahren liegen. Ist Diskontinuität ein begriffliches Hindernis für die Denkbarkeit einer personalen Fortexistenz? Zuzugestehen ist zunächst, dass falls Diskontinuität mit der Fortexistenz der Person vereinbar ist, es den Anschein hat, als sei dieses Merkmal ausschließlich für die mögliche postmortale Existenz der Person kennzeichnend und nicht auch für das biologische Leben. In der Tat verläuft das biologische Leben, wie wir es kennen, kontinuierlich. Es kennt keine radikalen Diskontinuitäten, wie sie Metaphysiker für die postmortale Existenzphase postuliert haben. Fraglich ist jedoch, ob das als Argument gegen die prinzipielle Möglichkeit einer diskontinuierlichen Existenz ausreicht. Dazu müsste gezeigt werden können, dass zeitliche Kontinuität eine schlechthin unabdingbare Bedingung der biologischen Existenz von Personen ist. Ein solcher Nachweis erscheint schwierig. Es kann nicht als a priori ausgemacht gelten, dass Personen notwendig kontinuierlich existieren. Dagegen spricht die Leichtigkeit, mit der diskontinuierliche personale Existenzen in Religionssystemen und Mythen verstanden und häufig auch akzeptiert werden. Das nächstliegende Beispiel ist der Auferstehungsmythos der Evangelien: Der wiederauferstandene Jesus ist nicht, wie Hamlets Vater, ein bloßer Geist. Er ist die leibhaftige Person, die drei Tage vorher begraben worden ist, wobei wir – nach den obigen Festlegungen – anders als die in den Evangelien geschilderten Beob-
5.2 Begriffliche Probleme der Fortexistenz über den biologischen Tod hinaus
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achter des Geschehens nicht sagen würden, dass der Begrabene im eigentlichen Sinne gestorben war. Wenn die Wiederauferstehung ein Wunder ist, dann nicht deshalb, weil es logisch unmöglich oder undenkbar wäre, sondern deshalb, weil ein solches Geschehen mit den Naturgesetzen unvereinbar ist. Die Vorstellung einer Person, deren Leben durch kürzere oder längere Zeitabschnitte unterbrochen wird, scheint nicht schlechthin absurd. Sie enthält keinen inneren Widerspruch. Sie erweist sich sogar als ausgesprochen nützlich, wenn es darum geht, einige der traditionellen Vorstellungen von einem persönlichen Überleben zu rationalisieren. Thomas von Aquin wäre sicher dankbar gewesen, hätte er über den von Terence Penelhum (1979, 94) geprägten Begriff einer „lückenintegrierenden Entität“ (gap-inclusive entity) verfügt. Dieser Begriff hätte ihm geholfen, die Existenzweise der Seele während des zeitlichen Intervalls zwischen der Ablösung der Seele vom Körper im biologischen Tod und ihrer Auferweckung am Jüngsten Tag zu charakterisieren (vgl. Scherer 1979, 123 f.). Dieser Begriff erlaubt es zu sagen, dass eine Person auch in den zeitlichen Lücken existiert, die in die Gesamtdauer ihrer Existenz inkludiert sind, auch wenn sie in diesen Lücken nicht eigentlich präsent ist. Ihre Existenz endet erst mit ihrem endgültigen Ende. Solange die Person nicht endgültig zu existieren aufgehört hat, existiert sie zu jedem Zeitpunkt nach dem Zeitpunkt, zu dem sie zu existieren begonnen hat Gibt es Analogien zu einer spekulativen „lückenintegrierenden“ Entität in der Realität? Ich meine ja, und zwar im Fall des Bewusstseins, solange wir dies als eigenständige Entität und nicht lediglich als Eigenschaft eines Körpers oder eines Gehirns denken. Das Bewusstsein ist nur zeitweilig aktiv. Für Descartes’ These, dass „l’âme pense toujours“ (Descartes 1969, III, 478) gibt es keine überzeugenden Belege. Das Leben des Bewusstseins ist intermittierend, es wird unterbrochen von Perioden des Tiefschlafs und der Narkose. Nicht nur das Bewusstsein kommt und geht, auch die Bewusstseinsfähigkeit kann – etwa im Koma – zeitweilig unterbrochen sein. Die Fortdauer des Bewusstseins ist durch derartige Diskontinuitäten ebenso wenig gefährdet wie seine Identität – wenn auch freilich mit Unterstützung der kontinuierlichen Existenz und Identität des mit ihm zusammengehenden und ihm als Substrat dienenden Körpers. Damit ist allerdings erst eins der mit der Vorstellung eines Weiterlebens über den biologischen Tod hinaus verbundenen begrifflichen Probleme entschärft: Es spricht nichts gegen die begriffliche Möglichkeit – die Denkbarkeit – einer durch zeitliche Lücken unterbrochenen personalen Existenz. Begriffliche Probleme wirft diese Vorstellung nicht nur in zeitlicher Hinsicht auf, sondern auch in Hinsicht auf die unterstellte Identität der als zukünftig existierend gedachten Person mit der früheren Person, und zwar sowohl für den Fall, dass die Existenzform dieser zukünftigen Person als eine verkörperte (Wiederauferstehung, Seelenwan-
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derung) als auch für den Fall, dass sie als eine entkörperte, d. h. als körperloser Geist oder körperloses Bewusstsein gedacht wird. Die Probleme der diachronen Personenidentität, der Identität einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der Person zu früheren oder späteren Zeitpunkten werden in der Philosophie der Gegenwart häufig unter kriterialen Gesichtspunkten diskutiert. Die Frage wird gestellt, wie wir ermitteln können, ob eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt identisch ist mit einer Person zu anderen Zeitpunkten. An dieser Stelle geht es demgegenüber um die konstitutiven Bedingungen der diachronen Identität einer zu unterschiedlichen Zeitpunkten existierenden Person. Die Frage lautet, was die Identität einer Person A zum Zeitpunkt t1 mit der Person B1 zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt t2 ausmacht, gleichgültig, wie weit diese Identität von einem möglichen Beobachter überprüft werden kann. Die damit vorgenommene Trennung von ontologischen und erkenntnistheoretischen Aspekten der Identität – die Trennung von Identitätsmerkmalen und Identitätskriterien – erfordert ein gutes Maß an intellektueller Disziplin. Denn immer dann, wenn ein Metaphysiker behauptet, Identität bestehe dann und nur dann, wenn … und es folgen eine Reihe von notwendigen und hinreichenden Bedingungen, liegt die Frage nahe, wie und von wem sich das Vorliegen dieser Merkmale überprüfen lässt. Diese „verifikationistische“ Tendenz ist seit der Frühzeit der analytischen Philosophie ausgeprägt und findet sich u. a. in der für das gegenwärtige Thema einschlägigen analytischen Religionsphilosophie, etwa in der gründlichen Studie von Penelhum zur Frage der transmortalen Fortexistenz (Penelhum 1970). Die Folge ist, dass sich in diesen Untersuchungen eine ganze Reihe von anfänglich als konsistent und verständlich erscheinenden Möglichkeiten – wie etwa das Überleben einer Person als rein geistige Existenz – im Fortgang der Überlegungen als nicht tragfähig erweist. Dabei geben jedoch regelmäßig epistemische und nicht logisch-semantische Argumente den Ausschlag: Da die betreffende Möglichkeit keine Chance eröffnet, das Bestehen eines entsprechenden Sachverhalts zu verifizieren, wird sie – zu Unrecht – als ganze verworfen. Identität ist an drei formale Bedingungen geknüpft, die allesamt mehr oder weniger selbstverständlich sind, von denen aber insbesondere die letzte in Diskussionen um die Möglichkeit des personalen Weiterlebens eine kritische Rolle spielt. Die erste formale Eigenschaft von Identität ist die Unabstufbarkeit: A und B sind entweder identisch oder nicht. Anders als Ähnlichkeit lässt Identität keine Grade zu. Die zweite formale Eigenschaft entspricht dem so genannten LeibnizPrinzip: Wenn A zu t1 identisch ist mit B zu t2, hat B dieselben (zeitlosen) Eigenschaften wie A. Zwei identische Personen, bzw. Entitäten haben alle (jeweils mit Datum versehene) Eigenschaften gemeinsam. Wenn eine Person B den biologischen Tod von A überlebt, aber mit A identisch ist, hat sie z. B. dasselbe Geburts-
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und dasselbe Todesdatum wie A. Die dritte formale Eigenschaft ist die Eindeutigkeit: Wenn B zu t2 identisch ist mit A zu t1, gibt es zu t2 kein von B verschiedenes C, das mit A identisch ist. Diachrone Identität ist eine ein-eindeutige Relation: Zu jedem Zeitpunkt gibt es notwendig nur eine Person (oder andere Entität), die mit einer bestimmten früheren oder späteren Person (oder Entität) identisch ist. Damit eine Person B, die den biologischen Tod von A überlebt, mit A identisch ist, darf es zu t2 keine weitere Person C geben, die die für die Identität mit A konstitutiven Bedingungen erfüllt. Diese letzte Bedingung übernimmt in der Diskussion über die Möglichkeit der personalen Fortexistenz vor allem deshalb eine wichtige Rolle, weil die Bedingung der raumzeitlichen Kontinuität für die Identitätsbestimmung unanwendbar wird. Es wird denkbar, dass es zwei oder mehrere Personen gibt, die an verschiedenen Stellen des Raums existieren, aber alle sonstigen Bedingungen der Identität mit einer früheren Person erfüllen. Nach der dritten formalen Bedingung kann in diesem Fall keine dieser Personen mit der früheren Person identisch sein. Im Fall eines rein geistigen Überlebens lassen sich die Personen, die behaupten, die Existenz einer früheren verkörperten Person fortzusetzen, nicht aufgrund ihrer räumlichen Positionen unterscheiden. Fantasien einer Verdoppelung und Vervielfachung von Personen ist, sobald die Grenzen der Räumlichkeit überwunden sind, keine Grenze gesetzt. Wie könnten die Bedingungen aussehen, die für die Identität einer postmortalen mit einer früheren biologischen Person gefordert werden müssen? Eine körperliche Identität, wie sie von vielen Theorien der Personenidentität für reale Personen gefordert wird, kommt dafür als Bedingung offenkundig nicht in Frage. Der Körper realer Personen zerfällt im Allgemeinen (bis auf die wenigen Fälle von Mumifizierung o. ä.) nach dem biologischen Tod. Seine Bestandteile werden, je nach Bestattungsart, zu Humus oder zu Asche, der größte Gewichtsanteil diffundiert in die Atmosphäre. Der Körper, mit dem eine verkörperte hypothetische postmortale Person ausgestattet wäre, würde weder die Bedingungen der körperlichen Identität mit der früheren Person erfüllen noch die um das Prinzip der Lückenintegration erweiterten Bedingungen. Ein späterer Körper wäre ein neuer und anderer und nicht lediglich ein von dem früheren nur durch eine zeitliche Lücke getrennter Körper. Zumindest unter dem Aspekt der Identität waren die früheren religiösen Bedenken gegen Sektion und Verbrennung des menschlichen Leichnams von Anfang an unberechtigt. Falls eine Wiederauferstehung möglich ist, dann nur in einem Körper, der von dem früheren Körper numerisch verschieden ist. Die Bedingungen der Identität können sich, sofern sie sich überhaupt formulieren lassen, demnach ausschließlich auf psychische Faktoren beziehen, genauer: auf Merkmale im Bereich der Bewusstseinsprozesse der betreffenden
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Personen. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass sich die gesuchten Bedingungen für verkörperte und für unverkörperte postmortale Personen nicht wesentlich unterscheiden. Eine gemeinsame Bedingung ist, dass diese Personen allererst ein Bewusstsein haben und dass dieses Bewusstsein zumindest intermittierend aktiv ist. Postmortale Personen sind notwendig Geister, ob sie zusätzlich auch noch mit einem Körper ausgestattet sind oder nicht. Mit der Beschränkung der Bedingungen für eine transmortale Identität auf psychische Bedingungen schrumpft die Auswahl der in Frage kommenden identitätsstiftenden Merkmale auf drei zusammen: 1. Erinnerungen an das Bewusstseinsleben der früheren Person, 2. Erinnerungen an das sonstige Leben der früheren Person und 3. Übereinstimmungen in Wünschen, Strebungen, Wertüberzeugungen, Einstellungen und anderen Persönlichkeitsmerkmalen. Diese Auswahl mag bereits ausgesprochen begrenzt erscheinen. Bei näherem Zusehen schrumpft sie noch weiter zusammen. Sowohl die Erinnerungen an das (äußere) Leben einer früheren Person als auch die Übereinstimmungen im Charakter scheinen zu wenig individuiert, um einer Identität zwischen früherer und späterer Person eine tragfähige Grundlage zu verschaffen. An das Leben einer früheren Person können sich spätere Personen möglicherweise besser erinnern als die Person selbst, und die Vielfalt der Persönlichkeitstypen ist nicht vielfältig genug, um eine und nur eine Person aus der unabsehbar großen Zahl der Verstorbenen auszusondern. Das heißt, dass als Bedingung der Identität über die Grenze des biologischen Todes hinweg allein das Merkmal der überwiegend wahrheitsgemäßen Erinnerung an eigene frühere Erlebnisse und innere Handlungen in Frage kommt. Alle anderen Merkmale können allenfalls indirekt, als Indizien relevant sein. Ihre Berechtigung reicht lediglich so weit, als sie das erste Merkmal stützen (vgl. Swinburne 1986, 173). Entscheidend ist demnach, dass die Erinnerung eine Erinnerung an eigene Erlebnisse und eigene innere Handlungen ist. Die erinnerten Geschehnisse müssen der früheren Person als der eigenen Person zugeschrieben werden. Überdies kann die Erinnerung nur insoweit entscheidend sein, als sie überwiegend wahrheitsgemäß ist. Andernfalls würde sie keine Gewähr dafür bieten, dass in der Tat Identität vorliegt und die spätere Person mit den inneren Erlebnissen und Handlungen der früheren Person besser vertraut ist als andere. Eine weitere Einschränkung kommt hinzu. Überwiegend wahrheitsgemäße Erinnerungen an eigene frühere Erlebnisse und innere Handlungen können zwar als notwendige Bedingung der personalen Identität gelten, nicht aber auch als hinreichende. Notwendig ist diese Bedingung, da andernfalls nicht ersichtlich ist, warum eine postmortale Person überhaupt mit einer früheren Person identisch sein sollte, statt eine neue und andere zu sein. Bereits John Locke sah die Notwendigkeit dieser Bedingung und dass sie durch die Identität einer wie immer gearteten Seelensubstanz nicht ersetzt werden kann (vgl. Locke 1968, 423 ff.).
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Locke erkannte, dass die Identität einer „Seelensubstanz“ bereits deshalb als notwendige Bedingung der personalen Identität nicht ernstlich in Frage kommt, weil der Begriff „Substanz“, solange er nicht entweder auf Körperliches oder Bewusstseinhaftes angewendet wird, ohne klare Bedeutung ist. Deshalb ist auch der Begriff einer „substanziellen Identität“, solange sich diese nicht entweder auf körperliche Identität oder auf die durch Erinnerungen vermittelte Identität des Bewusstseins bezieht, unverständlich. Deshalb sah sich Locke (der sich fragte, wie ein gerechter Gott die Seelen mit ihren jeweiligen Sündenregistern am Jüngsten Tag auseinanderhalten kann) genötigt, eine Bewusstseinsbedingung für personale Identität zu postulieren: Jeder postmortalen Person seien nur diejenigen während ihres biologischen Lebens ausgeführten Handlungen zuzurechnen, an die sie sich als eigene erinnern kann: Wir dürfen […] wohl mit Recht annehmen, daß an jenem großen Tag, da die Geheimnisse aller Herzen offenbar werden, niemand für etwas zur Rechenschaft gezogen werden wird, wovon er nichts weiß, sondern daß jeder sein Urteil empfangen wird, je nachdem sein Gewissen ihn anklagt oder entschuldigt. (Locke 1968, 432)
Als hinreichende Bedingung kommt die Bedingung der überwiegend wahrheitsgemäßen Erinnerung an eigene frühere Erlebnisse und innere Handlungen allerdings nicht in Frage. Es macht keine besondere Mühe sich auszudenken, dass sich zwei postmortale Personen scheinbar an dieselben Erlebnisse und inneren Handlungen als ihre eigenen erinnern und diese Erinnerungen zumindest in dem Sinne wahrhaftig sind, als es tatsächlich eine Person gab, die die erinnerten Erlebnisse erlebt und die erinnerten Handlungen ausgeführt hat. Damit wäre jedoch die für die Identität geltende Eindeutigkeitsbedingung verletzt. Die episodische Erinnerung könnte in diesem Fall lediglich als „apparent memory“ oder „quasi-memory“ (Shoemaker 1970) gelten. Als konstitutive Identitätsbedingung wäre sie ungeeignet. Jede Vervielfachung der Erinnerungsansprüche verschiedener Personen, sich an dieselben Geschehnisse als Teile ihres eigenen früheren Innenlebens zu erinnern, würde die Erinnerung als Identitätsmerkmal ebenso entwerten wie eine überwiegend falsche Erinnerung. Ist die denkbare Vervielfachung von apparent memories ein Grund, auch im Normalfall einen singulären Erinnerungsanspruch als notwendige Identitätsbedingung abzulehnen? Dafür hat Bernard Williams in einer seiner Arbeiten zur Personenidentität argumentiert. Nehmen wir an, Karl könne sich sehr präzise und umfassend an die Erlebnisse und inneren Handlungen Götz von Berlichingens erinnern, so dass er ein Kandidat dafür ist, dieselbe Person wie Götz von Berlichingen zu sein. Wenn das möglich ist, ist es auch möglich, dass jemand anders, etwa Karls Bruder Robert dieselben Erinnerungen für sich beansprucht.
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In diesem Fall ist die Identifikation mit Götz von Berlichingen aus logischen Gründen ausgeschlossen. Deshalb sollte sie auch für den einfachen Fall nicht in Frage kommen (Williams 1978, 19 ff., ähnlich Rosenberg 1983, 90). Lässt sich diese Konsequenz ziehen? Nehmen wir an, eine Verwaltung identifiziert Menschen anhand von bestimmten „unveränderlichen Kennzeichen“, die entsprechend in die Personalpapiere eingetragen werden, etwa die biometrischen Daten, die in die deutschen Personalausweise aufgenommen werden können. Nehmen wir an, dieses System funktioniere reibungslos und erlaube in allen tatsächlich vorkommenden Fällen eine eindeutige Bestimmung der diachronen Identität. Wird es dadurch in seiner Funktionsfähigkeit eingeschränkt, dass nicht prinzipiell ausgeschlossen werden kann, dass zwei verschiedene Individuen exakt dieselben unveränderlichen Kennzeichen tragen? Solange diese Möglichkeit lediglich abstrakt und nicht konkret besteht, etwa mit einer verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit, wäre das System kaum gefährdet. Entsprechendes muss für die Metaphysik gelten. Die abstrakte Möglichkeit, dass sich zwei postmortale Person exakt dieselben Erinnerungen an ihr inneres Erleben und Handeln während der Zeit ihrer biologischen Existenz haben, sollte die Denkbarkeit einer metaphysischen Welt, in der die Eindeutigkeit der Zuordnung von biologischen und postmortalen Personen gewahrt ist, nicht ernstlich in Frage stellen.
5.3 Weiterleben ohne Identität? Der Gedanke eines persönlichen Überlebens des biologischen Todes scheint unauflösbar an die Bedingung geknüpft, sich im Sinne des episodischen und nicht nur des Faktengedächtnisses an das frühere „Erdenleben“ erinnern zu können. Entscheidend ist, dass die spätere Person sich an die Ereignisse ihres Erdenlebens nicht nur so erinnert, wie es ein perfekter Kenner dieses Lebens in seinen äußeren und inneren Aspekten tun würde, sondern dass die spätere Person sich an dieses Leben als ihr eigenes Leben erinnert, oder – da nicht alle Erinnerungen wahr sein müssen – zu erinnern meint. Die spätere Person darf nicht nur aus einer Außenperspektive über ihre Empfindungen, Gefühle und Handlungen Bescheid wissen. Sie muss sich auch als Fortsetzung ihrer Innenperspektive sehen können, als Weiterführung oder Wiederaufnahme der der früheren Person eigentümlichen subjektiven Sicht auf die Welt und sich selbst. An diesem Erfordernis scheitern alle Bemühungen, eine Fortexistenz der Person über ihren biologischen Tod hinaus auf eine partielle oder unvollständige Identität zu begründen. Das Paradigma einer solchen Quasi-Identität ist die buddhistische Vorstellung einer Fortexistenz unter Auflösung der personalen Identi-
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tät. Der bekannteste unter den westlichen Denkern, die sich in diesem Punkt vom Buddhismus haben inspirieren lassen, ist Schopenhauer. Unter Rückgriff auf Kants Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinungswelt (in der sich das Ding an sich, ohne allerdings sein Wesen näher zu offenbaren, ausdrückt), ordnet Schopenhauer das Bewusstsein zusammen mit dem Körper der Erscheinungswelt zu und setzt diesem das „wahre Wesen“, den „Willen“ entgegen, der sich in der Erscheinungswelt manifestiert, aber nicht in ihr aufgeht oder an ihr teilhat. Dieser „Wille“ soll, als das Gegenstück zu Kants „Ding an sich“, zeitlos und der Vergänglichkeit des individuellen Lebens entzogen sein: Der Wille zum Leben erscheint sich in endloser Gegenwart; weil diese die Form des Lebens der Gattung ist, welche daher nicht altert, sondern immer jung bleibt. Der Tod ist für sie, was der Schlaf für das Individuum, oder was für das Auge das Winken ist, an dessen Abwesenheit die Indischen Götter erkannt werden, wenn sie in Menschengestalt erscheinen. Wie durch den Eintritt der Nacht die Welt verschwindet, dabei jedoch keinen Augenblick zu seyn aufhört; eben so scheinbar vergeht Mensch und Thier durch den Tod, und eben so ungestört besteht dabei ihr wahres Wesen fort. (Schopenhauer 1988, III, 548)
Diese Konzeption verrät allerdings bereits durch ihre Ausformulierung, welche Paradoxien sie im Gefolge hat: Solange der „Wille“ als das Wesen des biologischen und mentalen Lebens, als die Wesensnatur dieser Prozesse verstanden wird, ist dieses Wesen etwas Unzeitliches. Es teilt seine Unzeitlichkeit mit anderen unzeitlichen Entitäten wie Begriffen, Naturgesetzen und logischen Wahrheiten. Dann kann dieses Wesen aber nicht zugleich „fortbestehen“. „Fortbestehen“ ist ebenso an die Zeitordnung gebunden wie das Nicht-Fortbestehen, das endgültige Ende der Existenz eines Dings oder Prozesses. Das „Wesen“ einer Sache kann das endgültige Ende einer Sache allenfalls als Idee überdauern, nicht als ein irgendwie gearteter Teil der Sache. Schopenhauer dagegen lässt es durch die gewählte Formulierung so erscheinen, als sei „ihr wahres Wesen“ – das wahre Wesen von Mensch und Tier – so etwas wie ein Teil, der den Tod des Ganzen überlebt, so wie die „sterblichen Überreste“ eines Menschen diesen Menschen überleben. Noch deutlicher wird das Widersprüchliche und letztlich Unhaltbare in Schopenhauers Konzeption einer „Unzerstörbarkeit unseres Wesens“ in der folgenden Aussage: Die Schrecken des Todes beruhen großentheils auf dem falschen Schein, daß Jetzt das Ich verschwinde, und die Welt bleibe. Vielmehr aber ist das Gegentheil wahr: die Welt verschwindet; hingegen der innerste Kern des Ich, der Träger und Hervorbringer jenes Subjekts, in dessen Vorstellung allein die Welt ihr Daseyn hatte, beharrt. (Schopenhauer 1988, III, 573)
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Wie das „Fortbestehen“ ist auch ein „Beharren“ an die Zeitordnung gebunden – zumindest dann, wenn man „Beharren“ auf Dinge oder Prozesse bezieht, die, bevor sie „beharren“, in der Zeit abgelaufen sind und ein Früher und Später gekannt haben. Vielleicht kann man auch von den Gesetzen der Logik sagen, dass sie über das Ende des Lebens und über das Ende der Welt hinaus „beharren“, d. h. ihre Gültigkeit nicht verlieren. Aber diese haben bereits zu Lebzeiten des Lebens und der Welt lediglich in einem unzeitlichen Sinn gegolten. Schopenhauer geht sogar so weit zu suggerieren, eine Art personale Fort existenz sei auf dem Weg über das auf den antiken Atomismus zurückgehende Postulat einer Konstanz der Materie zu denken: Nun denke man sich jenen Wechsel von Tod und Geburt in unendlich schnellen Vibrationen, und man hat die beharrliche Objektivation des Willens, die bleibenden Ideen der Wesen vor sich, fest stehend, wie der Regenbogen auf dem Wasserfall. Dies ist die zeitliche Unsterblichkeit. In Folge derselben ist, trotz Jahrtausenden des Todes und der Verwesung, noch nichts verloren gegangen, kein Atom der Materie, noch weniger etwas von dem innern Wesen, welches als die Natur sich darstellt. Demnach können wir jeden Augenblick wohlgemuth ausrufen: „Trotz Zeit, Tod und Verwesung, sind wir noch Alle beisammen!“ (Schopenhauer 1988, III, 548)
Die verführerische Vision eines postmortalen „Zusammenseins“, einer Verbrüderung der in ihrer zeitlichen Existenz unversöhnlich miteinander hadernden Menschheit, wird allerdings selbst den geneigtesten Leser nicht darüber hinwegtäuschen können, dass von einem „Wir alle“ in einem personalen Sinne auch im Rahmen von Schopenhauers Metaphysik ernsthaft keine Rede sein kann. Schopenhauer lässt keinen Zweifel daran, dass für ihn mit dem biologischen Tod nicht nur der individuelle Körper, sondern auch das individuelle Bewusstsein unwiederbringlich zugrunde geht. Eine der Schopenhauer’schen Konzeption einer Fortexistenz des Individuums eng verwandte Theorie hat in der Philosophie der Gegenwart Derek Parfit entwickelt (vgl. Pöhling 2013). Parfit überträgt die atomistische Idee eines Erhalts der Elemente im Prozess der Zersetzung der aus den Elementen zusammengesetzten Ganzheiten auf das Bewusstseinsleben und kommt auf diese Weise zu einer Neuformulierung des auch im Alltagsdenken verankerten Gedankens, dass das Individuum mit seinen Gedanken, Ideen und Empfindungen ein Stück weit über den Tod des Bewusstseins hinaus weiterwirkt. Nicht nur ihre Werke folgen ihren Schöpfern nach, auch viele seiner Erlebnisse, Gedanken und Intentionen werden das Individuum überdauern. Viele meiner Wünsche, Absichten und Einstellungen werden in anderen Menschen weiterleben. Aus den Erlebnissen, Gedanken und Intentionen Einzelner werden gelegentlich sogar generationenübergreifende Projekte und Traditionen:
5.4 Ist eine rein geistige Fortexistenz möglich?
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Though there will later be many experiences, none of these experiences will be connected to my present experiences by chains of such direct connections as those involved in experience-memory, or in the carrying out of an earlier intention. Some of these future experiences may be related of my present experiences in less direct ways. There will be later be some memories about my life. And there may later be thoughts that are influenced by mine, or things done as the result of my advice. My death will break the more direct relations between my present experiences and future experiences, but it will not break various other relations. (Parfit 1984, 281)
Aber auch die Tatsache, dass Parfit die Fortexistenz der oder einzelner Inhalte des Bewusstseinsleben über eine Reihe von Vermittlungsinstanzen hinweg als „Überleben“ charakterisiert, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei dieser Art von Weitergabe von einer personalen Fortexistenz, so wie sie der Vorstellung eines Weiterlebens nach dem Tode entspricht, keine Rede sein kann. Dies nicht nur deshalb, weil es „zu keinem Zeitpunkt nach meinem Tod einen Akt des Gewahrwerdens geben [wird], in dem alle die auf mich zurückgehenden Elemente zugleich bewusst werden“ (Stubenberg 1987, 215), sondern weil auch dann, wenn es in Zukunft eine Person gibt, die viele meiner Erlebnisse, Gedanken und Intentionen in Parfits Sinne „erbt“, diese Person die Erlebnisse, an die sie sich erinnert, nicht als in früheren Zeiten selbsterlebte, selbstgedachte oder selbstintendierte verstehen wird. Sollte sie es tun, erläge sie einem Irrtum.
5.4 Ist eine rein geistige Fortexistenz möglich? „Die Vorstellung, dass ich nach meinem Tode Bewußtseinserlebnisse derselben Art habe, wie ich sie jetzt habe, selbst wenn ich dann ohne Körper bin, erscheint ohne weiteres verständlich.“ (Geach 1985, 206) In der Tat: Die Verständlichkeit dieser Vorstellung ist kaum zu leugnen. Selbst der Gründer des Wiener Kreises des Neopositivismus, Moritz Schlick, ist bekannt dafür geworden, dass er sich vorstellen konnte, bei seiner eigenen Beerdigung als körperloser Beobachter zuzuschauen (Williams 1978, 69). Verständlichkeit ist ein Hinweis auf das Bestehen einer Möglichkeit im logischen Sinne. Es bedeutet zunächst nicht mehr, als dass ein entsprechender Sachverhalt denkbar ist – dass der Gedanke, dass er besteht, nicht bereits auf der Basis der Bedeutungen der Termini, in denen er formuliert ist, auf unüberwindliche Grenzen stößt. Damit ist noch offen, wie weit derselbe Sachverhalt mit den grundlegenden Strukturen und Gesetzmäßigkeiten der realen Welt vereinbar ist und ob ihm nicht auch dann, wenn ihm keine logischen Grenzen gesetzt sind, doch durch die Seinsordnung gegebene ontologische Grenzen gesetzt sind. Über die Beschaffenheit dieser Seinsordnung und die Grenzen, die sie den Möglichkeiten einer
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personalen Fortexistenz über den biologischen Tod hinaus setzen, haben wir keine andere Berufungsinstanz als die Erfahrung. Eine spekulative Überschreitung der aus der Erfahrung hervorgehenden ontologischen Grundstrukturen ist damit nicht diskreditiert. Sie hat u. a. die Funktion, die Grenzen des Denkbaren auszutesten. Aber abstrakte Denkbarkeiten sind für die Frage, wie weit man auf eine personale Fortexistenz hoffen kann, nur begrenzt relevant. Ob Hoffnungen in dieser Hinsicht berechtigt oder unberechtigt sind, entscheidet sich daran, wie weit sie ein fundamentum in re haben, d. h. in welchen Maße die in der Welt vorherrschenden Bedingungen ihnen eine Chance auf Realisierung lassen. David Hume schätzte in seinem Essay über die Unsterblichkeit der Seele die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person ihren biologischen Tod als reiner Geist überlebt, als gering ein. Er berief sich u. a. auf die Erfahrung, die die meisten in Todesnähe machen: Mit fortschreitender Annäherung an den Tod nehmen nicht nur die Körperkräfte, sondern auch die Geisteskräfte ab. Hume deutete das als Hinweis darauf, dass im Tod der Geist zusammen mit dem Körper zugrunde geht (Hume 1984, 84). Für ihn war Sokrates’ Erwartung, mit dem Tod zu einer höheren Stufe des Bewusstseins aufzusteigen, eine Illusion. Humes Argument gegen die Möglichkeit einer Fortexistenz der Person als reiner Geist hält sich allerdings zu eng an der Erfahrung, um als ontologisches Argument gelten können. Dass der Geist mit dem Körper abstirbt, wird durch den Alterungsprozess, der in der Regel Körper und Geist gleichermaßen schwächt, zwar nahegelegt. Aber dieses Argument ist allzu vordergründig, um als ontologisches zu gelten. Nichts in der grundlegenden Struktur der Welt schließt aus, dass beim Durchgang durch den biologischen Tod der Geist wie ein Phönix aus der Asche einen platonischen Höhenflug beginnt. Ein ontologisches Argument lässt sich aus der Erfahrung des engen Zusammengehens von körperlichen und geistigen Prozessen nur dann gewinnen, wenn man mit der generellen Abhängigkeit des Geistigen vom Körperlichen argumentiert. In der Tat gehört es zu den grundlegendsten Erfahrungen, dass sich das Geistige stets nur zusammen mit einem körperlichen Substrat findet. Dieses Substrat ist, soweit das Menschengedächtnis reicht, ein biologisch verfasstes Gehirn, in Zukunft vielleicht auch ein nicht-biologisches Substrat, in dem die neuronalen Mechanismen, mit denen das Bewusstsseinsleben zusammenhängt, auf andere Weise realisiert sind als in denen, die sich in der biologischen Evolution herausgebildet haben. Ein Bewusstsein kommt nach allem, was wir wissen, stets nur als supervenientes vor – als abhängig von den Eigenschaften eines physischen Substrats. Dass diese Abhängigkeit einseitig ist und Bewusstsein und Bewusstseinsfähigkeit in stärkerem Maße von ihrem physischen Substrat abhängen als diese von jenen, wird sowohl durch das nahgelegt, was wir über das Bewusstsein im ontogenetischen als auch das, was wir über es im phylogenetischen Sinn wissen. In beiden Hin-
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sichten ist das Bewusstsein ein spätes Entwicklungsprodukt. Es tritt erst dann auf, nachdem sich physische Strukturen von der Komplexität neuronaler Netzwerke herausgebildet haben. Ein ausgesprochen spätes Entwicklungsprodukt ist das Bewusstsein insbesondere in phylogenetischer Hinsicht. Auch wenn es sich möglicherweise eine längere Zeit vor der Evolution der Wirbeltiere herausgebildet hat, sind vor der Emergenz des Bewusstseins Äonen der Evolution vergangen, in denen die Natur sich ausschließlich in ihren physischen Merkmalen gestaltet und umgestaltet hat. Zwar hielt der Physiker Erwin Schrödinger diese Tatsache für so fatal, dass er daran zweifelte, ob es wirklich sein könne, dass die kosmische Evolution über so lange Zeit ein „Spiel vor leeren Bänken“ gewesen sein soll (Schrödinger 1986, 11, 92). Aber wie befremdlich der Gedanke einer Evolution ohne einen irgendwie gearteten Beobachter auch immer sein mag: Genau so scheint es, nach allem, was wir wissen, gewesen zu sein. Historisch wie aktuell ist die physische Welt primär. Wie sie das Bewusstsein und den Geist in grauer Vorzeit aus sich selbst hervorgetrieben hat, treibt sie auch weiterhin – in der Form bewusstseinstragender komplexer Organismen – das Bewusstsein aus sich selbst hervor. Das Bewusstsein ist nichts Selbständiges. Es ist nicht autark. Das bedeutet, dass ein geistiges personales Fortexistieren zwar nicht aus logischen, aber aus ontologischen Gründen als Möglichkeit nicht ernsthaft in Frage kommt. Falls ein Weiterexistieren von Personen möglich sein soll, dann lediglich in verkörperter Form, wobei dieses, wie wir gesehen haben, durchaus auch zeitlich diskontinuierlich gedacht werden kann. Dabei braucht das körperliche Substrat nicht notwendig diejenige Gestalt anzunehmen, die wir als einzige aus dieser unserer Welt kennen: die hochgradig komplexer neuronaler Netzwerke im Gehirn höherer Tiere und des Menschen. Die ontologische Notwendigkeit eines körperlichen Substrats lässt Raum für die Möglichkeit eines nicht-biologisch fundierten Bewusstsein, etwa eines Bewusstseins eines vom Menschen künstlich geschaffenen Netzwerks, solange dies in seiner Funktionsweise den natürlichen hinreichend ähnlich ist. Ein solches künstliches Bewusstsein ist nicht nur mit dem ontologischen „Gesetz“ der Supervenienz des Psychischen vereinbar, sondern sogar mit den in unserer Welt geltenden Naturgesetzen. Denn diese lassen vermuten, dass die im Gehirn realisierten Schaltkreise für das Bewusstsein nicht nur nomologisch notwendig, sondern auch nomologisch hinreichend sind, d. h. dass jedes Wesen, das über die beim Menschen das Bewusstsein fundierende physischen Strukturen und Funktionen verfügt, auch über die entsprechenden Bewusstseinsfähigkeiten verfügt. Fraglich ist lediglich, auf welcher Ebene der physischen Welt die strukturellen und funktionalen Eigenschaften angesiedelt sind, die die Emergenz von Bewusstseinsereignissen erzwingen – auf der atomaren Ebene oder auf den „höheren“ Ebenen der molekularen und zellulären Organisation. Falls Bewusstseinsprozesse entscheidend von den systemaren und funk-
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tionalen Eigenschaften der neuronalen Netzwerke abhängen, nicht aber davon, ob sich deren Elemente aus Kohlenstoff- oder aus Siliziumatomen zusammensetzen, steht der Möglichkeit einer Realisierung einer Person auf der Basis eines nicht-biologischen physischen Substrats nichts im Wege. Es wäre strenggenommen sogar ein kosmischer Zufall, wenn das Auftreten von Bewusstsein an genau diejenigen stofflichen Elemente geknüpft wäre, aus denen die Verschaltungen im biotischen Gehirn de facto bestehen. Es erscheint wenig plausibel anzunehmen, dass die Konfigurationen auf der untersten, basalsten Stufe der Materie über das Auftreten von Bewusstseinsphänomenen entscheiden und nicht die höherstufigen Konfigurationen auf der Ebene der Verschaltungen und Netzwerke. Unter dieser Voraussetzung ist aber auch die „Wiedergeburt“ einer früheren Person keine nomologische Unmöglichkeit mehr. Eine Fortsetzung personaler Existenz über den biologischen Tod hinaus ist, solange sie in verkörperter, auf einem physischen Substrat basierender Form vorgestellt wird, nicht nur in logischer und ontologischer, sondern auch in nomologischer Hinsicht prinzipiell möglich. Erforderlich ist lediglich, dass eine – natürlich entstandene oder künstliche geschaffene – Person die oben für die Identität dieser Person mit einer früheren biologischen Person formulierten konstitutiven Bedingungen erfüllt. Was die Aussichten betrifft, diese Form der Fortexistenz für sich zu realisieren, ist allerdings Skepsis am Platze. Gäbe es tatsächlich Anlass, so etwas wie eine Weiterführung des personalen Lebens, eine „Wiedergeburt“ früherer Personen, für nicht nur nomologisch, sondern auch real für möglich zu halten, müssten wir über sehr viel überzeugendere Beweise für deren Vorkommen verfügen, als wir es tun. Auch die nomologische Möglichkeit einer Wiederverkörperung nach dem „ersten“ biologischen Tod bleibt eine abstrakte Möglichkeit – jedenfalls solange es noch nicht möglich ist, die transhumanistische Zukunftsvision wahrzumachen und Bewusstsein als Bündel von Informationen zu speichern und in künstlichen und möglicherweise nicht-biologischen Medien „wiederzuerwecken“. Auch wenn bis dahin viel Zeit vergehen dürfte – diese Art von höchst irdischer Wiederauferstehung scheint alles in allem die einzige Chance zu bieten, den biologischen Tod zu überwinden. Die Hürden für die Realisierung dieser Chance sind allerdings hoch: Das auf künstlichem Wege wiedergeborene Bewusstsein dürfte nicht nur eine Simulation des früheren auf einem biologischen Gehirn basierenden Bewusstseins sein. Es müsste ein „echtes“ Bewusstsein sein, das nicht nur zu intentionalen geistigen Tätigkeiten wie Denken und Beabsichtigen fähig ist, sondern auch zu qualitativen Erlebnisformen wie Empfindungen und Emotionen. Darüber hinaus müsste es sich auf der Basis episodischer Gedächtnisinhalte eindeutig einem früheren personalen Bewusstsein zuordnen lassen.
5.5 Kann man auf eine persönliche Fortexistenz hoffen?
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5.5 Kann man auf eine persönliche Fortexistenz hoffen? „Was kann ich hoffen?“ – diese Frage ist von Kant als eine der Grundfragen des philosophischen Nachdenkens kanonisiert worden, und Kant hat sie nicht zuletzt auf die Frage nach der Möglichkeit eines Weiterlebens nach dem biologischen Tod bezogen. Viele Menschen – in Deutschland laut einer Umfrage der GFK Marktforschung mehr als 40 % der Bevölkerung (Evangelisches Sonntagsblatt Bayern 3. 1. 2016) – hoffen auf ein Weiterleben nach dem Tode. Wie kann man diese Hoffnung angesichts der alles in allem geringen Aussichten ihrer Bewahrheitung verstehen? Die Frage „Was kann ich hoffen?“ kann in mehrfacher Weise verstanden werden. In einem philosophischen Kontext stehen zwei Interpretationen im Vordergrund: 1. Welche Grenzen werden den Inhalten und Gegenständen des Hoffens durch den Begriff des Hoffens gezogen? 2. Wie lässt sich das, worauf wir berechtigterweise hoffen können, von einem unberechtigten oder irrationalen Hoffen abgrenzen? Die erste Frage fragt nach den begrifflichen Grenzen des Hoffens, unter Berufung auf die Bedeutungsgehalte des Begriffs des Hoffens. Die zweite fragt nach der inhaltlichen Legitimität oder Illegitimität des Hoffens, indem sie sich auf bestimmte mit dem Begriff des Hoffens verknüpfte, aber nicht unmittelbar in dessen Bedeutungsgehalten fundierte Rationalitätsstandards beruft. Für die Frage, ob man auf ein Weiterleben nach dem biologischen Tod hoffen kann, ist die zweite Interpretation zweifellos interessanter ist als die erste. In gewisser Weise legt ja bereits die Tatsache, dass so viele Menschen die Hoffnung auf ein Weiterleben über den biologischen Tod hinaus haben, nahe, dass sie im Sinne der ersten Interpretation möglich ist. Über ihre Berechtigung ist damit noch nichts gesagt. Anders als die Legitimitätsbedingungen des Hoffens dürften die begrifflichen Bedingungen des Hoffens weitgehend unkontrovers sein: Das Erhoffte muss aus der Sicht des Hoffenden 1. erwünscht, 2. nicht sicher und 3. nicht unmöglich sein. Die beiden ersten Bedingungen bedürfen keiner besonderen Kommentierung. „Hoffen“ beinhaltet stets eine positive Bewertung des Erhofften, auch wenn sich zugleich mit dem Hoffen negativ getönte Emotionen auf das Erhoffte richten mögen. Hoffen und Fürchten liegen vielfach eng beieinander, z. B. wenn man auf eine Nachricht hofft, die eine gute oder schlechte oder beides zugleich sein kann. Ebenso wenig wie auf etwas Unerwünschtes kann man auf etwas hoffen, über dessen Eintreten man subjektiv vollständig sicher ist. Subjektive Sicherheit und Hoffnung vertragen sich nicht. Man kann nur erhoffen, was man für nicht vollständig sicher hält. Zum Hoffen gehört notwendig der Zweifel, mag dieser möglicherweise auch nur ein „Restzweifel“ sein, etwa wenn wir darauf bestehen, einer guten Nachricht erst dann zu vertrauen, wenn wir sie „schwarz auf weiß“
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vor uns sehen. Zwar verwenden wir gelegentlich Redewendungen, die ein Hoffen ausdrücken, dabei aber von einem „Wissen“ sprechen, etwa wenn man einem Schwerkranken gut zuredet und sagt: „Ich weiß, dass Du wieder gesund wirst“, obwohl man es nur hofft und auch dem Kranken selbst Hoffnung machen und kein Wissen vermitteln will. Aber diese Formulierungen lassen sich unproblematisch als uneigentliche und rhetorische Redeweisen verstehen. Spezifischer für die Hoffnung (wie auch für die Furcht) ist die Bedingung der Nicht-Unmöglichkeit. Diese Bedingung grenzt das Hoffen vor allem gegen das Wünschen ab. Wünschen ist hinsichtlich seiner Gegenstände grenzenlos. Selbst das logisch Unmögliche kann man herbeiwünschen, etwa die Chance, mit absoluter Sicherheit zu wissen, was ein Anderer gerade denkt. Hoffen ist an weitergehende kognitive Bedingungen gebunden: Das Erhoffte muss für möglich gehalten werden, nicht nur im logischen und nomologischen Sinn, sondern im Sinn realer Möglichkeit. Das Erhoffte muss nicht nur mit den Denk- und den Naturgesetzen vereinbar sein, es muss auch mit den Anfangsbedingungen der Welt vereinbar sein. So wird man von einem Sachkundigen nicht sagen können, dass er die Quadratur des Kreises oder die Erfindung des Perpetuum mobile erhofft, und ebenso wenig, dass er hofft, dass heute Abend der Planet Jupiter am Sternenhimmel erscheint, wenn dies aufgrund der Anfangsbedingungen der Planetenbewegungen ausgeschlossen ist. Dass der Planet Jupiter heute am Sternenhimmel sichtbar wird, ist weder logisch noch nomologisch ausgeschlossen. Es ist aber möglicherweise unvereinbar mit der bisher durchlaufenen Geschichte des Sonnensystems. Damit sind die Möglichkeiten eingeschränkt, auf Wunder zu hoffen. Wird der Begriff „Wunder“ so verstanden, dass er ein Ereignis bezeichnet, das entweder nomologisch oder in dem Sinn real unmöglich ist, dass es auf dem Hintergrund der Naturgesetze mit den faktischen Anfangsbedingungen der Welt unvereinbar ist, ist ein „Hoffen auf ein Wunder“ keine echte Option. Das heißt, dass es strenggenommen unmöglich ist, auf etwas zu hoffen, das man selbst für ein Wunder hält (was nicht ausschließt, dass man auf etwas hoffen kann, was andere für ein Wunder halten). „Unmöglich“ bezieht sich hier wohlgemerkt nicht auf die Rationalität oder Irrationalität einer bestimmten Hoffnung, sondern auf die semantische Möglichkeit, in einem entsprechenden Fall von „Hoffnung“ zu sprechen. Es ist nicht semantisch sinnlos, von den Alchimisten zu sagen, dass sie darauf hofften, aus Eisen oder Quecksilber Gold herzustellen, was immer man über die Rationalität dieser Hoffnung denken mag. Aber es ist sinnlos, dasselbe von jemandem zu sagen, der seinerseits die Herstellung von Gold aus Eisen für unmöglich hält. Was die Frage der Berechtigung zu Hoffnung betrifft, ist leicht zu sehen, dass für die Berechtigung ähnliche Bedingungen gelten müssen, diesmal allerdings nicht in einem begrifflichen, sondern in einem rationalitätstheoretischen Sinn.
5.5 Kann man auf eine persönliche Fortexistenz hoffen?
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Etwas zu erhoffen, was logisch oder nomologisch unmöglich ist, ist zwar nicht begrifflich sinnlos, aber doch unberechtigt. Man kann darauf hoffen, aus Eisen oder Quecksilber Gold herzustellen, aber diese Hoffnung wäre nach allem, was wir wissen, unberechtigt – jedenfalls auf dem gegenwärtigen Stand des Wissens. Ob die Hoffnung der Alchimisten auch in Zukunft unberechtigt sein wird, ist u. a. abhängig vom historischen Stand des Wissens. Es ist durchaus denkbar, dass die zukünftige Physik auf sehr viel breiterer Basis als heute eine Transmutation von chemischen Elementen möglich macht. Hoffnung ist nur da legitim, wo die logischen und nomologischen Grenzen des Möglichen einen Spielraum lassen, im Bereich der realen Möglichkeiten. Zwischen berechtigten und unberechtigten Hoffnungen gibt es dabei keine scharf gezogene Grenze. Aber man wird doch immerhin so viel sagen können, dass Hoffnung um so eher ihre Berechtigung einbüßt, je geringer die nach bestem Wissen geschätzte Wahrscheinlichkeit dafür ist, dass sich der Gegenstand der Hoffnung realisiert. Man kann legitimerweise hoffen, dass das Thermometer im Juli in Düsseldorf auf über 35° C steigt, aber man kann nicht legitimerweise hoffen (oder fürchten), dass es auf unter -10° C fällt. Für die Fortexistenz über den biologischen Tod hinaus bedeutet das, dass man zwar im begrifflichen Sinn soweit auf ein Weiterleben hoffen kann, als man von dessen Möglichkeit überzeugt ist, dass aber daran gezweifelt werden muss, ob eine solche Überzeugung auch nur im Ansatz berechtigt ist. Auch wenn für eine Weiterexistenz weder die logische noch – zumindest für die Weiterexistenz des Körpers – die ontologische und die nomologische Möglichkeit bestritten werden kann, reicht das schwerlich hin, der realen Möglichkeit eine ebenso günstige Prognose zu stellen. Beruhigen wir uns also bei dem Gedanken, dass wir möglicherweise Grund haben zu hoffen, dass einiges oder sogar vieles von uns unseren Tod überdauern wird, dass wir aber nicht ernsthaft hoffen können, dass wir selbst dazugehören.
6 Leben im Schatten des Todes 6.1 Der endliche Lebenshorizont Dass der Tod einen Schatten auf das Leben wirft, klingt zunächst wie eine Allerweltsweisheit. Aber der Anschein trügt. Keineswegs alle Menschen machen sich die Endlichkeit ihres Lebens bewusst oder widmen dem Ende ihres Lebens mehr als flüchtige Aufmerksamkeit. Ausgeprägt scheint der Gedanke an Tod und Sterben eigentümlicherweise stärker in der frühen Kindheit und bei Jugendlichen als im Erwachsenenalter, in dem die Fülle der Aufgaben und Verpflichtungen den Gedanken an den Tod in den Hintergrund drängen. Bereits Seneca beobachtete in seiner auch heute noch aktuellen Schrift mit dem ironisch gemeinten Titel Die Kürze des Lebens die „Unsterblichkeitsillusion“, die vielen Erwachsenen – und insbesondere den occupati, den Vielbeschäftigten – den Blick auf den Tod verstellt: „Ihr lebt, als ob ihr immer leben würdet. Nie kommt euch eure Vergänglichkeit in den Sinn“ (Seneca 1965, 27). Offen für den Gedanken an den Tod machen in der Regel erst die sich mit fortschreitendem Alter einstellenden Altersbeschwerden und Erkrankungen. Die erste Herzattacke oder der erste Schwindelanfall führen jäh die Kürze der verbleibenden Lebenszeit vor Augen und treiben dazu, Unerledigtes nachzuholen und Unaufschiebbares nicht länger aufzuschieben. So schildert Manès Sperber zu Beginn seiner Autobiografie, wie ihm ein verräterisches Stolpern auf den Straßen von Paris den Anstoß dazu geben hat, die Niederschrift seiner Memoiren in Angriff zu nehmen. Aber auch dann, wenn sich der Gedanke an den eigenen Tod nicht mehr verdrängen lässt, richtet er sich vielfach weniger auf den Tod selbst als auf die diesem möglicherweise vorangehende Phase der zunehmenden Einschränkung der Lebensmöglichkeiten, des Verlusts an Autonomie und der auch mit den Mitteln der modernen Medizin vielfach nicht vollständig behebbaren Leidenszustände. In der gegenwärtigen Kultur wissenschaftlicher Gelassenheit ist die traditionell von der Todesfurcht eingenommene Stelle im Gefühlsleben mehr oder weniger verwaist. Eingenommen wird sie allenfalls von der Furcht vor einem beschwerlichen Sterben und der Furcht vor Abhängigkeit und Würdeverlust im Alter. Diese Beobachtung steht in einem befremdlichen Kontrast zu der Bedeutung, die insbesondere die Existenzphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit und der Präsenz des Gedankens an den Tod zugeschrieben hat. In der Existenzphilosophie wird der Tod weniger vom Leben her – als dessen unausweichliches Ende – als vielmehr das Leben vom Tod her gedacht. Der Tod wird weniger als das Ende gesehen, das der Mensch mit so gut wie allen anderen Formen biologischen Daseins teilt. Vielmehr wird das Leben in DOI 10.1515/978-3-11-053449-8-006
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eine Perspektive gerückt, die es zu einem todgeweihten Geschehen dramatisiert: Das Leben erscheint als Gnadenfrist, als ein dem Tod abgetrotztes Quantum Zeit, als ein verzweifeltes An-Leben gegen den Tod. Der Schatten, den der Tod auf das Leben zurückwirft, droht es nahezu gänzlich zu verdunkeln. Die lichten Momente erscheinen wie kurze Phasen der Schmerzlosigkeit einer chronisch schmerzvollen „Krankheit zum Tode“. Paradigmatisch ist diese todesorientierte Perspektive auf das Leben in Heideggers Sein und Zeit von 1927. Eine prägnante Antizipation dieser Perspektive findet sich allerdings bereits mehre Jahre vorher bei Georg Simmel. Simmel vertritt in seinem Essay Zur Metaphysik des Todes von 1910 die These, dass der Tod „von innen her mit dem Leben verbunden“ sei. Der Tod sei keine äußerliche Grenze, sondern eine quasi intrinsische Qualität des Lebens (Simmel 1973, 30). Er ist von Anfang an und fortwährend im Leben selbst präsent, auch wenn er nicht ausdrücklich gedacht wird und wenn sich die Endlichkeit des individuellen Daseins nur selten im Gefühlsleben spiegelt. Bereits hier erscheint das Leben gewissermaßen als gestundeter Tod – als retardierendes Moment vor dem Ende. Die Lebensphasen, in denen wir ganz vom Erleben der Gegenwart ausgefüllt sind und uns nichts so fern liegt wie der Gedanke an die verrinnende Zeit, seien als Momente der „Todesflucht“ aufzufassen (Simmel 1973, 32) – analog hatte Schopenhauer die Momente der Gelassenheit als Verdrängungen des ansonsten omnipräsenten „Willens“ aufgefasst. Heideggers Sein und Zeit treibt die Sichtweise des Todes als Bedrohung und Verdüsterung des Lebens auf die Spitze, indem er sogar die Begrifflichkeit, in der wir Leben und Tod, Leben und Sterben üblicherweise gegeneinander abgrenzen, revidiert. Als todgeweihtes wird das Leben in Begriffen des Todes beschrieben: Der Tod wird zur „Seinsweise“ (Heidegger 1963, 247), zu einer „Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist“ (Heidegger 1963, 245). Das Leben wird mit einem fortwährenden Prozess des Sterbens identifiziert: „Das Dasein stirbt faktisch, solange es existiert“ (Heidegger 1963, 251, 263). Heidegger nimmt die Sprachwidrigkeit, die darin liegt, Sterblichkeit mit Sterben gleichzusetzen, in Kauf, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass Leben und Sterben nicht auseinanderdividiert werden können. In expressionistisch hyperbolischer Sprache – der literarischen Entsprechung zu den Gemälden von Munch oder Beckmann, auf denen Lebende wie Tote dargestellt sind –, forciert er die Todesverfallenheit des menschlichen Lebens und stellt die Hoffnung auf Unsterblichkeit als Illusion bloß. Mit ihrer dezidiert antimetaphysischen Todesanthropologie verfolgen Simmel und Heidegger im Wesentlichen zwei Ziele, ein destruktives und ein zugleich destruktives und konstruktives. Das destruktive Ziel ist die Verabschiedung der christlichen Metaphysik, die den Menschen als zu ewigem Leben bestimmt sieht.
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Die Todesverständnisse beider Philosophen sind nicht nur radikal atheistisch, sie destruieren auch jede säkulare Vorstellung vom Tod als Durchgangspunkt zu einer irgendwie übernatürlichen Existenzform. Der Tod ist danach kein Unfall, den man mit Glück überlebt, er ist das endgültige Ende – gleichgültig, ob man an ein Weiterleben glaubt oder nicht. Der Tod ist nicht kontingent, er ist notwendig, oder wie Simmel es ausdrückt, „a priori“ (Simmel 1973, 31) und unausweichlich. Sobald ein Mensch lebt, ist er zum Tode verurteilt. Sobald er läuft, läuft er dem Tod entgegen. Heidegger spricht vom einem „Vorlaufen“ (Heidegger 1963, 262). Das andere Ziel ist die Herausstellung der unterhintergehbaren Individualität des Todes. Das Sterben ist „wesenhaft unvertretbar […] Es vereinzelt das Dasein auf es selbst“ (Heidegger 1963, 253, 263). Individuell ist der Tod in mehreren Hinsichten. Ein naheliegender Aspekt ist die semantische Tatsache, dass das Subjekt des Todes stets ein Individuum ist. Generationen, Gemeinschaften oder biologische Arten sterben nicht, sie sterben aus. Der Tod trifft stets das Individuum. Man kann als einer von zwei Zwillingen geboren werden. Aber auch Zwillinge sterben je für sich. In einem bestimmten Sinn stirbt jeder für sich allein – auch dann, wenn er im Sterben von anderen begleitet wird. Dieser Aspekt ist zugestandenermaßen mehr oder weniger trivial. Auch jedes Leben ist individuelles Leben. „Leben“ bedarf, solange der Begriff in seinem eigentlichen und nicht in einem übertragenen Sinn verwendet wird, eines individuellen Subjekts. Die These, dass „jeder für sich stirbt“, kann aber auch anders verstanden werden, in einem qualitativen Sinn. Sie läuft dann auf die die Aussage hinaus, dass jeder seinen „eigenen“ unverwechselbaren Tod stirbt, so wie es eine vielzitierte Gedichtzeile aus Rilkes Stundenbuch erbittet („O Herr, gib jedem seinen eignen Tod“). In diesem Sinn ist die These, wenn sie als eine begriffliche verstanden wird, fragwürdig. Der Tod vollzieht sich nicht notwendig in einer individuellen, höchstpersönlichen Weise. Viele Menschen sterben im Schlaf oder einer anderen Form der Bewusstlosigkeit. Für diese Menschen stellt sich der Tod nicht in einer individuellen Gestalt dar, noch haben sie Gelegenheit, ihren Tod so zu gestalten, dass sich in ihm ihre je eigene Individualität widerspiegelt. Individualität manifestiert sich primär im Leben und nicht im Tod. Dies auch deshalb nicht, weil das Individuum im Tod vielfach von biologischen Wirkmechanismen überwältigt wird, die es kaum kontrollieren kann. Eines der durchgängigen Merkmale des Erlebens des Todes anderer ist, dass sich in diesem Geschehen überpersönliche Naturgewalten an die Stelle individueller Selbststeuerung setzen. Das Individuum hat keine Wahl als sich diesen Gewalten zu überlassen. Die These von der Individualität des Todes kann allerdings auch anders verstanden werden: als Hinweis auf die für den Tod wie kein anderes Lebensphänomen charakteristische Eigentümlichkeit, dass sich die Perspektive, die das Indivi-
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duum auf seinen eigenen Tod hat, von der Perspektive, die andere auf seinen Tod haben, grundlegend unterscheidet. Der erste Unterschied liegt in der Tatsache, dass der eigene Tod – mein Tod – nichts ist, was ich selbst erleben kann, wohingegen der Tod anderer für mich ein erlebbares Ereignis ist. Für den Lebenden ist der eigene Tod systematisch unerfahrbar, er liegt stets in der Zukunft, er ist, wie Heidegger es in seinem Jargon – unter Inkaufnahme grammatischer Schiefheit – ausdrückt, ein Bevorstand (Heidegger 1963, 250). Das gilt selbst noch für den Sterbenden, der den Tod „vor Augen hat“ oder „ihm ins Angesicht blickt“, ihn aber dennoch niemals „sieht“. Das Ende des Sterbens, der Tod, bleibt notwendig selbst dem Sterbenden verborgen. Für Heidegger umfasst die These von der Individualität des Todes eine Reihe weiterer, zum Teil trivialer, teils problematischer Gehalte. Ein mehr oder weniger trivialer Gehalt ist die aus der Endlichkeit des Lebens resultierende Unabweisbarkeit individueller Entscheidungen über die eigene Lebensführung. Die begrenzte Lebensfrist und die vollständige oder annähernde Unumkehrbarkeit vieler zentraler Lebensentscheidungen zwingt dazu, sich längerfristig festzulegen – etwa darauf, Kinder zu zeugen oder eine bestimmte Studienrichtung und Karriere einzuschlagen. Angesichts der Unvermeidbarkeit des Todes führt kein Weg daran vorbei, sich für einen bestimmten Lebensweg zu entscheiden – spätestens dann, wenn mit dem Übergang ins Erwachsenenalter die Fähigkeit zu dieserart Entscheidung gereift und die verfügbaren Optionen soweit geklärt sind, dass man ihre Chancen und Risiken abschätzen kann. Soweit die gegebenen Umstände eine individuelle Wahl lassen, sind diese Festlegungen notwendig individuell. Das Individuum kann nicht anders als frei zu wählen, dafür aber auch ein Risiko auf sich zu nehmen. Da seine Verantwortung ebenso weit reicht wie seine Freiheit, kann es sich nicht mit Bezug auf höhere Mächte, Traditionen oder Konventionen von Verantwortung freisprechen. Als problematisch und befremdlich muss allerdings das Pathos gelten, mit dem Heidegger fordert, dass diese Art von Entscheidung auch in einem qualitativen Sinn eine individuelle und unverwechselbare ist. Die Wahl soll eine individuelle Wahl sein im Sinne einer „höchstpersönlichen“ und autonomen Wahl. Die „Eigentlichkeit“ des Menschen soll darin liegen, dass sich diese Entscheidung so weit wie möglich von den gesellschaftlichen Konventionen und Erwartungen (dem „Man“) absetzt. Damit bestätigt Heidegger – und in seiner Nachfolge Sartre – das in der Tradition der Aufklärung zumindest in den westlichen Industrieländern geltende Bildungsideal des seine Lebensentscheidungen möglichst unabhängig von sozialen Erwartungen treffenden autonomen Subjekts. Es fragt sich allerdings, ob der Gegensatz, den Heidegger zwischen „Eigentlichkeit“ und „Man“ konstruiert, nicht eine wichtige Unterscheidung unterschlägt, nämlich
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die zwischen der Quelle einer Entscheidung und ihrem Ergebnis. Eine autonom getroffene Entscheidung muss nicht notwendig eine Entscheidung für Autonomie sein. Sie kann auch eine Entscheidung für das Eingehen von Bindungen sein oder für die Anpassung an geltende Konventionen. So haben etwa die antiken Skeptiker und Epikur gerade die Anpassung an die herrschenden Sitten und Gebräuche empfohlen – vor allem aus dem Motiv, auf diese Weise mit ihrer Umwelt in Einklang zu leben und den eigenen Seelenfrieden zu wahren. Die Kürze des Lebens kann ja durchaus auch ein guter Grund sein, nicht zu viele der geltenden Konventionen in Frage zu stellen. Andernfalls würde man möglicherweise riskieren, seine begrenzte Zeit und Energie zu verschwenden. Unklar ist auch, warum die Individualität der zu treffenden Lebensentscheidungen, so, wie es Heidegger durch seine Formulierungen nahelegt, die Gestalt ausgeprägt radikaler, dramatischer und risikoreicher Entscheidungen annehmen muss. Auch wenn Lebensentscheidungen häufig erhebliche Bindungswirkungen entfalten und den Entscheider zumindest mittelfristig festlegen, fragt sich, warum sie deswegen „radikal“ sein müssen statt umsichtig, vorläufig und revidierbar. Heidegger scheint sich in diesem Punkt – Kierkegaard folgend – von einem in der Theologie verbreiteten Denkmodell leiten zu lassen, demzufolge man, statt sich Optionen offenzuhalten, sich stets nur für eine Glaubenswahrheit und ein für alle Mal entscheiden kann. Aber warum sollte wie in der Sozialpolitik nicht auch in der Lebensplanung piecemeal engineering die empfehlenswertere Alternative sein? Warum sollte man, mit Kierkegaard gesprochen, den „Sprung“ in den Glauben oder in eine einzige und ausschließliche Form von Lebenssinn wagen, wenn es – im Sinne von John Stuart Mills „experiments in living“ – die Alternative des Experimentierens und des Ausprobierens vieler verschiedener oder sogar gegensätzlicher Arten von Sinnerfüllung gibt? Bereits Kierkegaard war von einer falschen Alternative zwischen der Dramatik des – mit Nietzsche gesprochen – „gefährlichen Lebens“ des radikalen Bekennertums und dem spießbürgerlichen „Ticktack des kleinen Glücks“ ausgegangen: Die meisten Menschen leben […] mit allzu geringem Bewußtsein von sich selbst, um eine Vorstellung davon zu haben, was Konsequenz ist; das will sagen, sie existieren nicht als Geist. Ihr Leben besteht entweder in einer gewissen kindlichen, liebenswerten Naivität oder im Geschwätz, einem bißchen Handlung, einem bißchen Ereignis, einem bißchen dies und einen bißchen das; jetzt tun Sie etwas Gutes und dann wiederum etwas Falsches, und dann beginnen sie wieder von vorne; nun sind sie einen Nachmittag verzweifelt, vielleicht auch drei Wochen, aber dann sind sie wieder frisch und dann wieder einen Tag verzweifelt. Sie spielen sozusagen mit im Leben, aber niemals erleben sie es, alles für eines einzusetzen, niemals kommen Sie zu der Vorstellung einer unendlichen Konsequenz in sich; deshalb geht zwischen ihnen nur die Rede von dem einzelnen, einzelnen guten Taten, einzelnen Sünden. (Kierkegaard 1962a, 101)
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Diese Sichtweise ist unzulässig polarisierend. Zwischen Extremismus und Langeweile, leidenschaftlicher Selbstbindung und skeptischer Gelassenheit gibt es viele Optionen, zu denen man sich in Freiheit entscheiden kann. Die Philosophie der Lebenskunst seit Demokrit ist voll davon. Vielleicht sind nicht alle Wege von derjenigen Leidenschaftlichkeit erfüllt, ohne die Kierkegaard und Heidegger ein Leben in „Eigentlichkeit“ für undenkbar halten. Aber Kierkegaards Bekenntnis zur Leidenschaftlichkeit: Die Leidenschaft ist doch die Hauptsache; Sie ist der eigentliche Kraftmesser für den Menschen. Darum ist unsere Zeit so armselig, weil sie keine Leidenschaft hat. (Kierkegaard 1962b, 185)
wird nicht jedem ohne Weiteres einleuchten. Leidenschaft ist nicht nur eine Quelle von Kreativität und Tiefe, sie ist auch eine Quelle von Fanatismus und Destruktivität. Es ist nicht evident, dass sie um ihrer selbst willen erstrebenswert ist. Was hat die Radikalität oder Nicht-Radikalität von Lebensentscheidungen bei Kierkegaard und Heidegger mit dem Tod zu tun? Beide Philosophen stellen zwischen beiden Themen mehr als einen Bezug her. Erstens neigen beide dazu, Lebensentscheidungen so zu dramatisieren, als ginge es bei ihnen wortwörtlich um Leben und Tod, als hinge alles, was für das Individuum wichtig ist, einzig von dieser Entscheidung ab. Das ist, wie wir gesehen haben, ein höchst einseitiges Bild der Lebensrealität. De facto hängen Sinnfindung und Lebensglück mindestens ebenso wie von eigenen Entscheidungen von Lebensumständen ab, über die das Individuum keine Verfügungsmacht hat. Zweitens ist für die von Kierkegaard herkommende Traditionslinie der Philosophie des Todes eine enge Verknüpfung zwischen Tod und „Angst“ im Sinne tiefer Unsicherheit über die im Leben zu treffenden Wahlentscheidungen kennzeichnend. „Angst“ und Endlichkeit gehören für diese Philosophen zusammen. „Angst“ wird dabei nicht als Furcht vor dem Tod im Sinne der Todesfurcht verstanden, sondern als ein diffuses Gefühl der Verunsicherung und des Unbehagens angesichts des Todes – auch wenn sie Heidegger zufolge häufig als Todesfurcht missverstanden wird. „Angst“ ist im Gegensatz zur „Furcht“ eine ungerichtete, objektlose Emotion, oder – angesichts ihrer zeitlichen Ausgedehntheit – Stimmung oder Befindlichkeit. „Angst“ ist die emotionale Reaktion auf die Unausweichlichkeit der Notwendigkeit, seinem Leben einen Sinn zu geben und Entscheidungen zu treffen, die keine andere Instanz – die Familie, die Gesellschaft, die Religion – dem Individuum abnehmen kann. „Angst“ in diesem Sinn ist die Reaktion auf eine Überforderungssituation. Da das Individuum nicht von vornherein in einen übergreifenden Sinnzusammenhang eingebettet, sondern zur Freiheit der eigenständigen Sinnkonstitution verurteilt ist – alles andere liefe auf Fremdbestimmung hinaus –, kann es
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dieser Sichtweise zufolge seine endliche Lebenszeit nicht anders denn als einen „ängstigenden“, mit einem massiven Risiko des Scheiterns behafteten Drahtseilakt erleben. Selbst dann, wenn es die Strategie eines playing safe einschlägt und sich den Üblichkeiten anpasst, kann es nicht sicher sein, ob es damit Entscheidungen trifft, die sich im Fall von Sinnesänderungen nicht oder nur bedingt rückgängig machen lassen. In einem ähnlichen – zuständlichen und objektlosen – Sinn hatte Kierkegaard „Angst“ in seiner Schrift Der Begriff Angst charakterisiert: Angst kann man vergleichen mit Schwindligsein. Derjenige, dessen Auge plötzlich in eine gähnende Tiefe hinunterschaut, der wird schwindlig. […] So ist Angst der Schwindel der Freiheit, der entsteht, indem der Geist die Synthese setzen will und die Freiheit nun hinabschaut in ihre eigene Möglichkeit und da die Endlichkeit ergreift, um sich daran zu halten. (Kierkegaard 1960, 57)
Zuzugestehen ist freilich, dass das Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens einen wesentlichen Anteil daran hat, weitreichende Entscheidungen zu einer ernsteren Angelegenheit machen, als sie es andernfalls wären. Die Sicherheit des Todes lässt den Druck steigen, möglichst keine nicht wiedergutzumachenden Fehler zu begehen. Mit zunehmender Todesnähe kann dieser Druck dramatische Ausmaße annehmen. Viele Menschen leben in einer Art Unsterblichkeitsillusion, bis sie in eine Krise geraten, in der sie darüber erschrecken, wie sie bisher gelebt haben, und dann möglicherweise in Panik darüber geraten, wie sie ihre Lebensbilanz in der verbleibenden Zeit ausgleichen können (vgl. Tugendhat 2007, 161) Spätestens von da an lässt der Schatten des Todes keine Empfindung ungetrübt. Auch wenn er sich nicht täglich aufdrängt, ist uns der Gedanke, dass wir an jedem neuen Tag sterben könnten – das media vita in morte sumus – stets verfügbar. Aber das Bewusstsein des Todes hat auch positive Seiten. Es wirkt als Tonikum, das das, was das Leben an Gutem zu bieten hat, intensiver einfärbt. Die Unausweichlichkeit des Endes mischt den größten und reinsten Genüssen einen Unterton von Melancholie, Abschied und Entsagung bei, aber zugleich verleiht sie jedem einzelnen Lebensmoment Bedeutung: Der Weg, das Leben zu schätzen, der Weg, Mitgefühl für andere zu empfinden, der Weg, am tiefsten zu lieben, ist der Weg der Bewusstheit dessen, dass diese Erfahrungen dazu bestimmt sind, verloren zu gehen. (Yalom 2002, 144)
Kierkegaard sagt: „Der Tod ist der Lehrmeister des Ernstes“ (Kierkegaard 1964, 178), und dem ist zweifellos zuzustimmen. Das Leben ist eine ernste Sache – eine zu ernste, um sie durch Leichtsinn und Leichtfertigkeit zu gefährden. Aber das heißt nicht, dass zwischen dem Wissen um die zeitliche Begrenzung des Lebens
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und der von Kierkegaard und Heidegger als „Angst“ bezeichneten existenziellen Unsicherheit eine so enge Verbindung besteht, wie es diese Autoren postulieren. Sterblichkeitsbewusstsein und „Angst“ können, aber müssen nicht zusammengehen. Auch derjenige, der den Tod verdrängt und so lebt, als sei ihm ewiges Leben beschieden, wird vermutlich „Angst“ verspüren, wenn er vor Entscheidungen steht, durch die er sich überfordert fühlt. Und auch ein in seiner Zeitdauer radikal verlängertes oder unsterbliches Leben unterschiede sich in dieser Hinsicht kaum von einer kürzeren oder endlichen Existenz. Auch ein Leben ohne Knappheit an Lebenszeit kennt riskante, unumkehrbare und in ihren Folgen verhängnisvolle oder schuldbeladene Entscheidungen. Die Zeit heilt viele, aber nicht alle Wunden.
6.2 Der Tod und die Emotionen 6.2.1 Emotionen und andere Gefühle Der Schatten, den der Tod über das Leben wirft, manifestiert sich am unübersehbarsten im Gefühlsleben, insbesondere in Emotionen wie Trauer, Todesfurcht und Stimmungen wie Todessehnsucht und Depressivität. Sieht man sich an, welche Rolle der Tod in den Anthropologien der philosophischen Tradition spielt, fällt auf, dass die Perspektive auf todesbezogene Emotionen ganz überwiegend eine egozentrische ist. Die Ängste vor bzw. die Hoffnungen auf den eigenen Tod und darauf, was möglicherweise nach dem Tode kommt, stehen im Mittelpunkt, gleichgültig, ob diese eher bestätigt oder kritisiert werden. Heidegger ist in Sein und Zeit ein Exponent dieser Tendenz. Er geht sogar so weit, den Tod, dem man bewusst und im Wissen um die eigene zeitliche Endlichkeit entgegengeht, dem „Verenden“ der Tiere entgegenzusetzen, so als könnte man nicht auch etwa von kleinen Kindern mit Fug und Recht sagen, dass sie „sterben“, auch wenn sie noch keinen Begriff von Leben und Tod haben und ihnen die Endlichkeit ihres Lebens noch nicht kognitiv zugänglich ist. Die egozentrische Perspektive auf die auf den eigenen Tod gerichteten Emotionen, Gefühle und Einstellungen steht allerdings in einem Missverhältnis zu deren lebensweltlicher und biografischer Bedeutung. Das Gefühlsleben der Menschen ist stärker von der Erfahrung und Erwartung des Todes anderer bestimmt als von der Antizipation des eigenen Todes. Emotionen, die direkt oder indirekt auf den Tod anderer gerichtet sind, werden darüber hinaus in der Regel intensiver erlebt. Zumindest in unserer Zeit, in der die Dogmatiken der theistischen Glaubensrichtungen nicht mehr mit Gericht, Verdammnis und Hölle drohen und die inneren Bilder von einem Weiterleben nach dem Tode überwiegend positiv getönt
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sind, hat Todesfurcht keine besondere Konjunktur mehr. Neben den metaphysischen sind auch entscheidende gesellschaftliche Bedrohungen weggefallen: Müttersterblichkeit bei Frauen und Kriege bei Männern spielen in der industrialisierten Welt nicht mehr die Rolle von ehedem. Die Lebenserwartung ist infolge des medizinischen und sozialen Fortschritts rasant gestiegen. Der Tod rückt für die Mehrheit der Menschen in ein Alter, das zu erreichen ehemals als „gesegnet“ galt, mit der Folge, dass der Tod zunehmend weniger als Bedrohung und eher als „naturgemäßer“ Schlusspunkt einer immer ausgedehnteren und für viele auch immer reichhaltigeren und bunteren Lebensreise empfunden wird. Die für die Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts, aber auch ihre Vorgänger Schopenhauer und Kierkegaard im 19. Jahrhundert charakteristische egozentrische Sichtweise der auf den Tod bezogenen Emotionen betrifft unter den gewandelten Bedingungen unserer Zeit demnach eher einen Neben- als einen Hauptschauplatz des emotionalen Lebens. Die sozialen Seiten des Todes treten in den Vorder-, die individuellen in den Hintergrund. Anders fällt die Gewichtung der Perspektiven unter fachwissenschaftlichen Gesichtspunkten aus. Die auf den jeweils eigenen Tod gerichteten Emotionen sind weiterhin ein äußerst fruchtbares Feld philosophischer Erkundungen. Einer der Gründe dafür ist die ontologische Besonderheit des eigenen Todes, grundsätzlich nicht erlebbar und dennoch unausweichlich zu sein. Was wir vom Tod erleben können, sind stets nur die Vorzeichen, in denen er sich ankündigt. Ein anderer Grund ist die erst in der Anthropologie der letzten Jahrzehnte angemessen gewürdigte generelle Komplexität von Emotionen. Anders als Gefühle sind Emotionen psychophysische Phänomene, die sich aus vielerlei Komponenten zusammensetzen, auf der psychischen Seite kognitiven (Überzeugungen), evaluativen (Bewertungen), affektiven (Gefühlswerte), volitiven (Motive) und propriozeptiven (Bewusstsein innerer Erregung), auf der physischen Seite Körperbewegungen und Veränderungen in körperlichen Parametern wie Puls, Blutdruck, Muskelspannung und elektrischem Hautwiderstand. Emotionen sind mehr als Stimmungen und gefühlsgetönte Einstellungen, auch wenn diese mit Emotionen bestimmte Komponenten gemeinsam haben, etwa den Gefühlswert. Insofern ist die diffuse existenzielle „Angst“, von der Kierkegaard und Heidegger im Zusammenhang mit der Todesgewissheit sprechen, allenfalls der Grenzfall einer Emotion. Wie „Weltschmerz“ und „Verzweiflung“ ist „Angst“ eher eine Grundstimmung oder Gestimmtheit als eine Emotion im Sinne eines zeitlich begrenzten und mit innerer Erregung einhergehenden Gefühls. Anders als Stimmungen sind Emotionen typischerweise gerichtet – entweder auf bestimmte Personen und Objekte oder auf bestimmte Sachverhalte oder auf beides. Zu welcher Kategorie eine Emotion gehört, lässt sich häufig an den sprachlichen Formen ablesen, mit denen sie beschrieben werden, vor allem
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daran, ob das grammatische Objekt des Emotionsausdrucks der Name oder die Beschreibung einer Person, eines Tiers oder einer Sache ist oder die Beschreibung eines Zustands oder Ereignisses. Liebe ist ein Beispiel für eine Emotion der ersteren Art. Wenn A B liebt, lässt sich das in der Regel nicht auf die Wertschätzung eines bestimmten Sachverhalts zurückführen. A kann B unabhängig von allem lieben, was er oder sie über B weiß oder glaubt, und sogar trotz allem, was er oder sie über B weiß oder glaubt – gemäß dem Diktum von Henri de Montherlant „On aime d’amitié parce que, on aime d’amour tandis que“. Ärger gehört zur zweiten Kategorie. Wenn sich A über B ärgert, lässt sich das in der Regel darauf zurückführen, dass A sich über einen Sachverhalt p ärgert, wobei B ein wesentliches Element von p ist. Anders wiederum, wenn sich A vor B fürchtet. Dies lässt sich manchmal, aber nicht immer so verstehen, dass A fürchtet, dass p – etwa davor, dass B A etwas antut. Aber es ist auch möglich, dass sich A vor B fürchtet, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie B A gefährlich werden könnte. Furcht scheint eine Emotion zu sein, die sich sowohl auf Objekte als auch auf Sachverhalte beziehen kann. Da der Tod ontologisch zur Kategorie der Ereignisse gehört, sind Emotionen im Umfeld des Todes überwiegend Emotionen, die sich auf Sachverhalte beziehen. Das gilt zumindest für die Emotionen, die sich direkt auf den Tod beziehen wie Todesfurcht oder Trauer – auch dann, wenn der Tod personifiziert gedacht wird, als Sensenmann, Freund Hein oder als nicht näher bestimmte allegorische Person wie in Claudius’ Der Tod und das Mädchen. Emotionen können allerdings auch indirekt auf den Tod bezogen sein, etwa wenn sie Ursachen, Vorzeichen oder Folgen des Todes zum Gegenstand haben. So fürchten wir die Todesgefahr zwar wegen der tödlichen Folgen, die es haben kann, sich in sie zu begeben, der direkte Gegenstand der Furcht ist aber zumeist nicht der Tod selbst, sondern die ihn bergende Gefahr. Die Vorzeichen des Todes wirken häufig erschreckend nicht nur als Vorzeichen von etwas um seiner selbst willen Gefürchtetem, sondern auch für sich, etwa der Verlust an körperlicher und geistiger Kraft, das „Verdorren des Fleisches“, der leer werdende Blick. Schließlich können Furcht vor oder Trauer über den Tod eines anderen weniger auf dessen Tod selbst gerichtet sein als auf dessen Folgen, etwa die durch den Tod geschlagene Lücke im Beziehungsgefüge oder den Verlust des Ernährers oder Unterstützers. Wie bei vielen anderen Themen stehen der Philosophie prinzipiell drei Weisen offen, sich mit Emotionen zu befassen: phänomenologisch, kategorisierend und kritisch. Phänomenologisch kann sie Emotionen auf verschiedenen Ebenen der Allgemeinheit beschreiben und charakterisieren und dabei von der Emotionspsychologie und der psychologisch reich entfalteten Weltliteratur profitieren. Zusammen mit der Psychologie und der Literaturwissenschaft kann sie dazu beitragen, für die große Vielfalt der Emotionen und ihrer kulturellen
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Ausprägungen Kategorisierungen vorzuschlagen, die Emotionen auf bestimmte Grundzüge und -typen zurückführen und damit überschaubar machen. Schließlich kann sie Emotionen aber auch einer kritischen Prüfung unterziehen. Für eine solche Kritik an Emotionen bzw. an bestimmten Emotionen kann sie an große Vorgänger anknüpfen. Berühmt geworden ist etwa die Kritik an der Todesfurcht bei Epikur und Lukrez, die Kritik am Mitleid bei Spinoza und Nietzsche oder die Kritik an Ehrgefühl und Patriotismus bei Schopenhauer. Von diesen Aufgabenstellungen der Philosophie in Bezug auf Emotionen erscheint mir im Zusammenhang mit dem Tod die kritische am fruchtbarsten und, da sie bisher nur selten in Angriff genommen worden ist, am interessantesten. Sie soll deshalb im Folgenden im Vordergrund stehen.
6.2.2 Emotionskritik Für eine kritische Betrachtung eignen sich nicht alle Komponenten von Emotionen in gleichem Maße, und nicht alle kritischen Maßstäbe werden allen Komponenten in gleichem Maße gerecht. Die im Folgenden unterschiedenen drei Formen einer Kritik an Emotionen richten sich auf jeweils unterschiedliche Anteile einer Emotion und bringen jeweils unterschiedliche Kriterien ins Spiel. Eine kognitive Kritik an Emotionen richtet sich auf deren deskriptive Anteile. Sie beruft sich dabei auf das Kriterium der Rationalität der der jeweiligen Emotion zugrundeliegenden Überzeugungen. Emotionen als intentionale psychische Phänomene setzen in der Regel bestimmte Überzeugungen voraus und werden mit Bezug auf diese Überzeugungen begründet. Wenn ich mich ärgere, ärgere ich mich über etwas, einen Sachverhalt, von dessen Bestehen ich überzeugt bin. Das Fürwahrhalten des Bestehens dieses Sachverhalts macht den Grund oder zumindest einen der Gründe meines Ärgers aus. Für Emotionen, die sich auf Sachverhalte beziehen, ist dieser deskriptive Gehalt in der Regel leichter zu benennen als für Emotionen, die sich auf Objekte beziehen. Sachverhalte werden einem Subjekt und seinen Emotionen nur dadurch verfügbar, dass es von ihnen etwas weiß oder glaubt, während Objekte bereits dadurch verfügbar werden, dass das Subjekt sie kennt oder wahrnimmt. A kann sich über p nur dann ärgern, wenn er über p etwas weiß, glaubt oder vermutet, was ihm Anlass zum Ärger gibt. Dagegen braucht A, um B zu lieben, über B nicht besonders viel zu wissen. Er braucht B im Wesentlichen nur zu kennen. Wie wesentlich die deskriptive Komponente für die Emotion ist, zeigt sich daran, dass mit der Auflösung der Überzeugung von der Existenz des Gegenstands oder dem Bestehen des Sachverhalts sich in der Regel (Ausnahmen bestätigen die Regel) die Emotion ebenfalls auflöst. Erweist sich der Grund für den
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Ärger als haltlos, verschwindet auch der Ärger. Jemand träumt kurz vor dem Erwachen, dass ihm jemand das Portemonnaie gestohlen und ein fremdes mit Zeitungspapier gefülltes untergeschoben hat. Er ärgert sich maßlos. Der Ärger verfliegt mit dem Aufwachen. Möglicherweise macht er sogar einem spürbaren Gefühl der Erleichterung Platz: „Glücklicherweise nur geträumt!“ Je kritikwürdiger die in einer Emotion vorausgesetzte Überzeugung, desto kritikwürdiger in der Regel auch die Emotion: Gleichgültig, als wie angemessen sie in anderen Hinsichten beurteilt werden mag, zumindest in einer wesentlichen Dimension ist sie unangemessen oder verfehlt. Bei exzessiven und sozialschädlichen negativen Emotionen wie Wut, Hass oder Rache machen sich viele therapeutische Strategien diese Kritikmöglichkeit zunutze. Sie findet sich in Spinozas therapeutisch orientierter Affektenlehre in der Ersetzung der „passiven“ durch „aktive“ Affekte (vgl. Birnbacher 2000) ebenso wie in Richard D. Brandts Konzeption einer „kognitiven Psychotherapie“ (Brandt 1979, 11) und in den Ansätzen der kognitiven Verhaltenstherapie (vgl. Kanfer et al. 1996, 43 ff.). Als Grundlage der Kritik kommen dabei alle auch sonst für deskriptive Urteile einschlägigen Beurteilungsmaßstäbe in Frage. Kritisiert werden kann die einer Emotion zugrundeliegende Überzeugung als sachlich falsch, als Resultat fehlerhafter Wahrnehmung, als kurzschlüssig oder als unzureichend begründet. Der zweite Typ einer Kritik an Emotionen setzt bei der evaluativen Komponente der Emotion an. Gegenstand der Kritik ist die Unangemessenheit, Verzerrtheit oder Irrationalität der in die Emotion eingehenden oder von ihr vorausgesetzten Bewertungen. Nahezu alle Emotionen besitzen neben einer deskriptiven eine Bewertungskomponente. Emotionen haben in der Regel eine Valenz, mit der sie sich auf ihre Gegenstände beziehen, und zwar in der Dimension Positiv-Negativ. In der Emotion erscheinen die intentionalen Gegenstände in ein entweder positives oder negatives Licht getaucht, wobei sich die Beleuchtungswerte auch gelegentlich mischen, etwa als Hassliebe oder als das ambivalente Gefühl, das man gegenüber seinen so genannten „Intimfeinden“ empfindet. Emotionen gehen typischerweise nicht nur mit Bewertungen zusammen, sondern vielfach mit ausgeprägten bis extremen Bewertungen, etwa bei Mitleid und Wut, Liebe und Hass, Stolz und Demut. Aber es gibt diese Emotionen auch in Formen, in denen die Bewertungen weniger extrem sind. Allerdings scheint es keine Emotion zu geben, die mit völliger Bewertungsindifferenz einhergeht. Eine Ausnahme macht in diesem Punkt allenfalls die Überraschung, die – zumindest in psychologischen Emotionstheorien – ebenfalls zu den Emotionen gezählt wird. Die Kriterien für die Angemessenheit von Bewertungen sind zugestandenermaßen weniger leicht verallgemeinerbar als die Maßstäbe, die bei der kognitiven Kritik an Emotionen zur Anwendung kommen. Über die Fehlerhaftigkeit einer in eine Emotion eingehenden Bewertung ist nicht so leicht Konsens zu erzielen wie
6.2 Der Tod und die Emotionen
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über die Fehlerhaftigkeit der in eine Emotion eingehenden deskriptiven Überzeugungen. Dennoch besteht über Angemessenheit und „Vernünftigkeit“ von Bewertungen zumindest soweit Konsens, als bestimmte extreme Bewertungen als mehr oder weniger exzessiv, unnachvollziehbar oder pathologisch gelten und wir dieses Übermaß dann auch der Emotion als ganzer zuschreiben. Beispiele sind die unstillbare Wut einiger homerischer Helden, das verletzte Gerechtigkeitsgefühl des Michael Kohlhaas oder die exzessiven Schamgefühle einiger Protagonisten Dostojewskis. Genauer betrachtet scheint Urteilen über die Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit von Emotionen ein zweifacher Maßstab zugrunde zu liegen: einerseits Normalität im Sinne statistischer Häufigkeit, andererseits Unbedenklichkeit im Sinne der Geringfügigkeit der mit den Äußerungsformen der Emotionen verknüpften Risiken auf Seiten des Subjekts wie auf Seiten anderer. Je ungewöhnlicher die einer Emotion zugrundeliegende Wertung ist, desto weniger wird die Emotion als „vernünftig“, „angemessen“ und „nachvollziehbar“ und desto eher als „bizarr“, „abwegig“ oder „unnachvollziehbar“ eingestuft. Je gefährlicher diese Wertung für das Individuum selbst oder für andere ist, desto eher wird sie für „verrückt“ und „absonderlich“ gehalten und pathologisiert. Sie liegt so weit jenseits der „vernünftigen Mitte“, dass sie nur noch behandelt (oder ggf. kriminalisiert) wird. Die Einstellung ihr gegenüber wandelt sich von einer kommunikativen zu einer therapeutischen oder strategischen. In der Geschichte der Emotionstheorie entsprechen dem ersten Maßstab Aristoteles’ Prinzip der mesotes, dem zweiten die folgenorientierten Bewertungen Epikurs und Spinozas. Für Aristoteles sind Jähzorn oder Gefallsucht deshalb kritikwürdig, weil sie die „Goldene Mitte“, in diesem Fall „Milde“ und „Liebenswürdigkeit“ verfehlen. Epikur und Spinoza beurteilen Emotionen und die ihnen zugrundeliegenden Wertungen danach, wie weit sie ein gutes Leben fördern oder behindern. Unter diesem Gesichtspunkt bewertet etwa Epikur Lebensverachtung als verfehlt (Epikur 1983, 101), Spinoza Habsucht, Ehrsucht und Lüsternheit als „Arten des Wahnsinns“ (Spinoza 1977, 533). Eine evaluative Kritik an Emotionen ist umso sicherer, je eindeutiger sich die in eine Emotion eingehende oder ihr zugrundeliegende Situationsbewertung als fehlerhaft nachweisen lässt. Ein Paradebeispiel für eine solche evaluative Fehlleistung findet sich bereits bei Epikur und Spinoza: die „reine“ Zeitpräferenz, die Bevorzugung des Früheren gegenüber dem Späteren lediglich aufgrund ihre zeitlichen Position. Ferner in der Zukunft liegende Güter erscheinen uns häufig weniger erstrebenswert als näherliegende, Zukunftsgefahren werden weniger gefürchtet als zeitlich näherliegende Gefahren. Heute kennen wir eine ganze Reihe von weiteren Bewertungsfehlern, die die auf ihnen aufbauenden Emotionen zum Gegenstand von Kritik machen, etwa der Framing-Effekt, der dazu
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führt, dass gleiche Risiken je nach Formulierung unterschiedlich eingeschätzt und entsprechend gefürchtet werden. Selbst Risikoexperten halten, wie sich herausgestellt hat, eine Operation mit der Chance, mit 90 % Wahrscheinlichkeit zu überleben, für akzeptabler als eine Operation mit dem Risiko, mit 10 % Wahrscheinlichkeit zu sterben. Psychotherapeuten kennen eine ganze Reihe von evaluativen – oder durch Evaluationen bedingte – kognitive Fehlleistungen, denen Menschen erliegen und von denen sie sich nicht ohne fremde Hilfe befreien können und die ihr Denken, Fühlen und Verhalten nachhaltig beeinflussen. Dazu gehört die Neigung, unerreichbaren Wunschvorstellungen nachzuhängen, statt realistische Ziele anzustreben; die Neigung, bestehende Konflikte zu verleugnen und die Realität durch eine „rosarote Brille“ zu sehen; oder die Tendenz, objektiv änderbare Situationen als unabänderlich oder Unabänderliches als änderbar zu betrachten. Charakteristisch für dieserart Fehlleistungen ist, dass sie sich zwar als Urteilsfehler manifestieren, ihnen aber wesentlich bestimmte fehlgeleitete Bewertungen zugrunde liegen, so dass sie sich durch schlichte Belehrung nur schwer korrigieren lassen. Eine dritte Art der Emotionskritik richtet sich auf die Gefühlsseite der Emotion und beurteilt diese nach ihrer Angemessenheit und „Normalität“. Gegenstand der Kritik sind dabei sowohl die Qualität und Intensität des Gefühls als auch seine Dauer. Als Maßstäbe der Bewertung fungieren dabei im Wesentlichen soziokulturelle Normen. Diese unterscheiden sich von den Normen, die sich auf die Bewertungsgrundlagen einer Emotion richten, vor allem durch ihre höhere Variabilität. Kulturell und historisch bestehen gravierende Unterschiede in den Urteilen darüber, welche Emotionen und welche Emotionsintensität und -dauer dem jeweiligen Anlass angemessen sind. Kulturen haben nicht nur unterschiedliche Regeln dafür, wie Emotionen geäußert werden können, dürfen oder sollen – man spricht dann von display rules (Ekman, vgl. Jäger/Bartsch 2006, 192) –, sondern auch, wann, wo und unter welchen Bedingungen es angemessen ist, eine bestimmte Emotion zu haben (feeling rules, vgl. Hochschild 1982) und wie lange eine Emotion andauern darf (vgl. Averill 1986, 105 ff.). So wäre es – nach unseren Regeln – unangemessen, wenn jemand, der um einen Nahestehenden trauert oder eine Tat bereut, das Gefühl der Trauer oder der Reue nur für kurze Zeit verspürte und dann zu seinem gewohnten Affektzustand zurückkehrte oder der sich von dem „angemessenen“ Gefühlszustand von Zerstreuungen sehr leicht abbringen ließe. Wir zweifeln dann üblicherweise daran, dass dieser Mensch wirklich trauert oder wirklich bereut. Die geltenden kulturellen Normen hinsichtlich der Qualität, Intensität und Dauer des Gefühls infizieren sogar den Begriff, den wir von dem entsprechenden Gefühl haben: Man kann bereits aus begrifflichen Gründen nicht nur zwei Stunden trauern oder bereuen, wie man auch
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bereits begrifflich nicht nur zwei Stunden lieben kann: „Simply having the right emotions is not enough, they must be had in the right way“ (Stocker 2002, 77). Befunde der neurowissenschaftlich orientierten Entwicklungspsychologie weisen darauf hin, dass die Einprägung von feeling rules bereits im frühen Kindesalter einsetzt (vgl. Siegel 2006, 307). Verstärkt und geschwächt werden Emotionen im Prozess der Erziehung und Sozialisation ähnlich wie andere Verhaltensweisen durch Belohnungs- und Strafreize sowie durch Modelllernen. Offenbar lassen sich Emotionen aber auch durch bloße Zuschreibungen beeinflussen, was u. a. in der Psychotherapie genutzt wird. Die Plastizität der Emotionen zeigt sich auch daran, dass sich das Kleinkind in einer bestimmten Entwicklungsphase aktiv darum bemüht, emotionale Hinweise von Anderen zu erhalten, um es in seiner Einschätzung einer unsicheren oder mehrdeutigen Situation zu unterstützen. Es sucht die emotionalen Reaktionen der Eltern oder anderer Bezugspersonen, um sich emotional zu orientieren (vgl. Decety/Jackson 2004, 78). Dadurch erwirbt das Kleinkind zugleich mit den Emotionen selbst Normen der Angemessenheit oder Unangemessenheit dieser Emotionen. Es lernt nicht nur, wann man weint und wann man lacht, sondern auch – und primär auf diesem Weg –, wann man traurig ist und wann man sich freut. Auf diese Weise erklärt sich die große Vielfalt an Bewertungsstandards für die Angemessenheit von Emotionen zwischen Kulturen und Epochen. Nicht nur als tokens sind Emotionen vergänglich, sondern auch als types (vgl. Frevert 2013). Wie bei den Sprachen gibt es auch bei den Emotionen Altmodisches und Neumodisches und echte Innovationen. Acedia, die mittelalterliche Emotion der Unlust an geistlichen Übungen, ist seit langem ausgestorben (vgl. Harré/Finlay-Jones 1984, 221 f.). Bestimmte Gefühlswerte wie die bis heute in vielen Kulturen idealisierte romantische Liebe haben ein historisches Entstehungsdatum und werden möglicherweise irgendwann auch wieder verschwinden. Andererseits öffnet sich für die Zukunft ein offener Horizont nicht vorhersehbarer Möglichkeiten. Da sich nur wenige dem Sog kultureller Normalitätsvorstellungen entziehen können, gehen die unterschiedlichen Angemessenheitsregeln und ihre Konjunkturen dabei gewöhnlich auch mit einer unterschiedlichen Praxis gefühlter Emotionalität einher. So geht in unserer Kultur der im Vergleich zum 19. Jahrhunderts stark geminderte Status von Ehrgefühl und Patriotismus auch mit einer entsprechenden Minderung des Vorkommens dieser Emotionen einher. Andere Kulturen, die diese Emotionen (weiterhin) kultivieren, erscheinen uns zunehmend fremd. Das bekannteste Beispiel für eine philosophische Emotionskritik, die sich spezifisch auf die mit dem Tod verknüpften Emotionen richtet, ist die von Epikur und Lukrez an der Todesfurcht. Diese Kritik gehört dem deskriptiven Kritiktypus an. Sie richtet sich gegen die Vorstellung, der Tod sei etwas Erlebbares:
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Gewöhne dich an den Gedanken, dass der Tod uns nichts angeht. Denn alles Gute und Schlimme beruht auf der Wahrnehmung. Der Tod aber ist der Verlust der Wahrnehmung. Darum macht die rechte Einsicht, dass der Tod uns nichts angeht, die Sterblichkeit des Lebens genußreich, indem sie uns nicht eine unbegrenzte Zeit dazugibt, sondern die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit wegnimmt. Denn im Leben gibt es für den nichts Schreckliches, der in echter Weise begriffen hat, dass es im Nichtleben nichts Schreckliches gibt. (Epikur 1983, 101)
Soweit Todesfurcht von der Annahme abhängt, der Tod sei etwas Erlebbares, ist Todesfurcht danach nicht nur unvernünftig, sondern in einem starken Sinn irrational: Sie beruht auf einem kognitiven Fehler. Schopenhauer spricht deshalb in seiner Wiederaufnahme von Epikurs Argument insoweit zu Recht von der „Absurdität“ der Annahme, man könne unter seinem Tod leiden oder in anderer Weise erlebnismäßig von ihm betroffen sein: […] ist es an und für sich absurd, das Nichtseyn für ein Uebel zu halten; da jedes Uebel, wie jedes Gut, das Daseyn zur Voraussetzung hat, ja sogar das Bewußtseyn; dieses aber mit dem Leben aufhört, wie eben auch im Schlaf und in der Ohnmacht; daher uns die Abwesenheit desselben, als gar kein Uebel enthaltend, wohl bekannt und vertraut, ihr Eintritt aber jedenfalls Sache eines Augenblicks ist. (Schopenhauer 1988, III, 534)
Epikur kritisiert im Brief an Menoikeus die Todesfurcht aber nicht nur wegen ihrer verfehlten kognitiven, sondern auch wegen ihrer verfehlten evaluativen Voraussetzungen, wobei diese Kritik teilweise auf die erstere zurückgreift: Falls der Tod nicht erlebbar ist, kann er Epikur zufolge auch kein Übel sein. Ein Übel kann aus Epikurs Sicht für ein Individuum nur das sein, was in das Erleben dieses Individuums fällt. Deshalb kann auch die Aussicht, sterben zu müssen, nichts Leidvolles oder anderweitig Negatives sein: Darum ist jener einfältig, der sagt, er fürchte den Tod nicht, weil er schmerzen wird, wenn er da ist, sondern weil er jetzt schmerzt, wenn man ihn erwartet. Denn was uns nicht belästigt, wenn es wirklich da ist, kann nur einen nichtigen Schmerz bereiten, wenn man es bloß erwartet. (Epikur 1983, 101)
Aber auch unabhängig davon ist Epikur zufolge die in die Todesfurcht eingehende negative Bewertung des Todes kritisierbar. Auch wenn das Argument der unmöglichen Erlebbarkeit nicht gelten würde, wäre ihre Berechtigung zweifelhaft. Ein Kritikpunkt ist die Inkonsistenz der Bewertung des Todes seitens der „Menge“: Wie kann der Tod ein Übel sein, wenn er gleichzeitig als Wohltat bewertet wird? Die Menge freilich flieht den Tod bald als das größte der Übel, bald sucht sie ihn als Erholung von den Übeln im Lebens. (Epikur 1983, 101)
6.3 Emotionskritik: Todesfurcht
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Eine Kritik an todesbezogenen Emotionen aufgrund kultureller Normen ist immer dann zu erwarten, wenn in gröblicher Weise gegen die herrschenden feeling rules verstoßen wird oder wenn in multikulturellen Gesellschaften, in denen gegensätzliche feeling rules aufeinanderstoßen, die Gefühle der Angehörigen fremder Kulturen nicht nur als befremdlich empfunden, sondern rundheraus abgelehnt werden. Zu derartigen Konflikten kommt es nicht selten bei der Trauer um verstorbene Nahestehende, etwa wenn sich ein zum Witwer gewordener Mann „unangemessen früh“ wiederverheiratet oder wenn eine Witwe aus ihrer Trauer nicht herausfindet, so dass der Verlust des Ehepartners ihre Lebensfreude dauerhaft zunichte macht. Während in einigen Kulturen, etwa in Lateinamerika, aber auch in Griechenland, eine relativ lange Trauerzeit für angemessen gehalten wird, gelten in Kulturen, in denen das Ideal der coolness gilt (vgl. Stearns 1994, 303), Trauerzeiten über ein Jahr als pathologisch und behandlungsbedürftig. Kritiker brandmarken dies als unzulässige „Medikalisierung“ natürlicher Reaktionen. In den USA ist seit 1994 – sofern man die Änderungen im psychiatrischen Klassifikationssystem DSM dafür als Beleg nimmt – die Phase, in der Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Konzentrationsschwäche und Niedergeschlagenheit als „normal“ gelten – sogar auf zwei Monate heruntergesetzt worden. Die Motive dahinter sind allerdings nicht nur gewandelte kulturelle Normen, sondern auch das Bestreben, den Trauernden psychotherapeutische und medizinische Kriseninterventionen verfügbar tu machen sowie die Interessen der Pharmaindustrie (vgl. Frevert 2013, 7).
6.3 Emotionskritik: Todesfurcht Ist Todesfurcht, wie Epikur meinte, irrational? Bei vielen Menschen, die Epikurs Argument zum ersten Mal zur Kenntnis nehmen, hinterlässt es ein ambivalentes Gefühl. Einerseits wirkt das Argument überzeugend, ja zwingend. Andererseits greift es in einer bestimmten, aber unklaren Weise zu kurz. Wenn der Tod in der Tat, wie Epikur behauptet, ein „Nichts“ ist, das man vernünftigerweise nicht fürchten kann, warum sollten wir unser Leben dann nicht stärker riskieren? Um klarer zu sehen, empfiehlt sich an dieser Stelle eine Unterscheidung zwischen zwei Arten, wie man etwas – ein Objekt oder einen Sachverhalt – fürchten kann. Man kann einerseits fürchten, in Zukunft etwas Bestimmtes zu erleben. Man kann andererseits fürchten, dass ein Sachverhalt außerhalb des eigenen Erlebens besteht. Im ersten Fall kann man von erlebnisbezogener Furcht sprechen, im zweiten von nicht-erlebnisbezogener Furcht. Erlebnisbezogene Furcht ist auf Ereignisse bezogen, die in das eigene zukünftige Erleben fallen. Sie ist notwendig selbstbezogen, auch wenn die in diesem
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Zusammenhang verwendeten sprachlichen Formulierungen als Gegenstand der Furcht häufig nicht das eigene zukünftige Erleben, sondern den Gegenstand dieses Erlebens benennen. So sagen wir etwa, dass A sich vor dem Wachhund oder vor der morgigen Zahnbehandlung fürchtet, meinen damit aber im Grund das Erleben der Begegnung mit dem Wachhund bzw. das Erleben der Zahnbehandlung. Wir implizieren, dass die genannten Objekte oder Sachverhalte solche sind, die sich auf das Erleben von A negativ auswirken oder auswirken können. Von nicht-erlebnisbezogener Furcht kann man immer dann sprechen, wenn A einen negativ bewerteten (möglichen) Sachverhalt – Ereignis, Zustand oder Vorgang – fürchtet, der nicht in sein eigenes Erleben fällt oder sich darauf auswirkt, etwa wenn jemand fürchtet, dass es in 50 Jahren in Afrika zu gravierenden Nahrungsmittelknappheiten kommt. Bei dieser Art von Furcht haben die intentionalen Gegenstände der Furcht eine sehr viel größere Reichweite. Sie umfassen neben dem eigenen (wahrscheinlichen) zukünftigen Erleben beliebige kontingente Sachverhalte, sofern sie A für real möglich und nicht gänzlich unwahrscheinlich hält und negativ bewertet. Diese Sachverhalte müssen nicht einmal notwendig in der Zukunft liegen, sie können auch in der Gegenwart oder in der Vergangenheit liegen, wie etwa dann, wenn A fürchtet, dass eine gerade eingetretene Naturkatastrophe in fernen Ländern, über die man nur wenige Informationen hat, zahlreiche Menschenleben gefordert hat. Erlebnisbezogene und nicht erlebnisbezogene Furcht unterscheiden sich im Deutschen auch sprachlich. Sobald es sich bei der Furcht um eine erlebnisbezogene Furcht handelt, können wir das Verb „fürchten“ durch das Verb „sich fürchten“ ersetzen. Von einem Objekt oder Sachverhalt, der in das eigene Erleben fällt oder fallen kann, kann man stets sagen, dass man sich davor fürchtet. Von etwas, das außerhalb des eigenen Erlebens fällt, kann man das in der Regel nicht sagen. Außerdem liegt es im erlebnisbezogenen Fall sehr viel näher, von „Angst“ zu sprechen. Vor einer Naturkatastrophe, die einen selbst treffen kann, kann man Angst haben, während man die weltweite Zunahme von Naturkatastrophen eher fürchtet.
6.3.1 Erlebnisbezogene Todesfurcht Todesfurcht hat mehrere Gesichter. Sie kann sich als erlebnisbezogene, aber auch als nicht erlebnisbezogene Furcht zeigen. U. a. davon hängt ab, wie weit sie nach den Kriterien der kognitiven Rationalität, der evaluativen Vernünftigkeit und der kulturell definierten Angemessenheit als berechtigt oder unberechtigt, angemessen oder unangemessen gelten kann. Diese Dichotomie ist allerdings, wie wir sehen werden, zu grob, um alle Kritikvarianten zu erfassen. Im Einzelnen
6.3 Emotionskritik: Todesfurcht
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hängt die Beurteilung der Todesfurcht auch davon ab, welchem spezifischen Typ sie innerhalb dieser Kategorien zugeordnet werden kann. Die Verhältnisse sind weitaus komplexer, als sie Epikurs und Lukrez’ Kritik der Todesfurcht erscheinen lässt. Das soll nicht heißen, Epikur und Lukrez ihre Reputation streitig zu machen. Beide haben richtig gesehen, dass soweit die Furcht vor dem Tod als Furcht vor dem Erleben des Todes, also als erlebnisbezogene Furcht verstanden wird, diese Furcht bereits aufgrund ihrer fehlerhaften deskriptiven Voraussetzungen als irrational gelten muss. Die Diagnose der Fehlerhaftigkeit der deskriptiven Voraussetzungen stützt sich in diesem Fall sogar auf die stärksten möglichen Gründe, nämlich auf logische. Sofern der Tod als das Ende des Sterbens verstanden wird, zu dem das Sein des Menschen in ein Nicht-mehr-Sein übergegangen ist, ist die Konsequenz unabweisbar, dass es niemanden geben kann, der den Tod als aktuales gegenwärtiges Geschehen erlebt. Jedes Erleben setzt Leben voraus, und falls Tod soviel bedeutet wie Nicht-mehr-Leben, ist schon von daher ausgeschlossen, dass der Tod zu den Dingen gehört, die man erleben kann. Epikurs These, dass „der Tod für uns ein Nichts ist“, muss selbst dann gelten, wenn, wie im Fall des Hirntods, nicht vollständig eindeutig ist, ob das endgültige Ende des Erlebens mit dem Ende des Lebens zusammenfällt. Ob der Hirntod das endgültige Ende des Lebens ist oder nicht, er ist in jedem Fall das endgültige Ende des Bewusstseinslebens. Niemand, dessen gesamtes Gehirn endgültig funktionsunfähig geworden ist, erwacht erneut zu einem bewussten Erleben. Dass niemand bisher nach einer korrekt vorgenommenen Hirntoddiagnose das Bewusstsein wiedererlangt. hat, erklärt sich vor allem dadurch, dass Bewusstseinsfähigkeit u. a. von der Funktionsfähigkeit des Stammhirns und der Großhirnrinde abhängt, die bei der Diagnose „Hirntod“ beide endgültig ausgefallen sein müssen. Da mit Eintritt des Hirntods das gesamte Gehirn seine Funktion endgültig eingebüßt hat, ist der Weg zurück in ein bewusstes Erleben endgültig versperrt. Deshalb kommt der Eintritt des Hirntods ebenso wenig als Gegenstand von erlebnisbezogener Todesfurcht in Frage wie der Herz-Kreislauf-Tod. In beiden Fällen ist die Furcht vor dem Tod, sofern sie als erlebnisbezogene Furcht verstanden wird, gleichermaßen irrational. Von der Todesfurcht im eigentlichen Sinne kann man die Furcht vor dem Vorher und Nachher des Todes unterscheiden. Eine erlebnisbezogene Furcht vor dem Vorher kann berechtigt sein – als Furcht vor einem schweren oder qualvollen Sterben –, nicht aber eine entsprechende erlebnisbezogene Furcht vor dem Nachher. Wie der Tod selbst fällt auch das Gestorbensein nicht in den Bereich des Erlebbaren. Der Versuch, sich vorzustellen, wie man sich „als Gestorbener fühlen könnte“, ist bereits aus logischen Gründen zum Scheitern verurteilt.
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Dies zu sehen ist nicht unwichtig angesichts der verbreiteten Ängste angesichts der Aussicht, im Zustand des Hirntods als Organspender zur Verfügung zu stehen, sowie der anhaltenden Debatte darum, wie weit die von nahezu allen Rechtssystemen der Welt vorgenommene Gleichsetzung von Hirntod und Tod sachlich begründet ist (vgl. Deutscher Ethikrat 2015). Diese Debatte hat zu Zweifeln Anlass gegeben, ob ein Mensch mit dem Eintritt des Hirntods „richtig“ tot ist oder man als Hirntoter möglicherweise in einer Art Zwischenzustand zwischen Leben und Tod schwebt. Vielfach wird die bange Frage gestellt, ob man in diesem Zwischenzustand von dem Vorgang der Organentnahme möglicherweise noch etwas „mitbekommt“ – in Gestalt von Schmerzen oder Empfindungen von Manipulation. Wenn die Todesdefinition unsicher ist – so die Überlegung –, dann vielleicht auch, ob mit dem Hirntod „alles vorbei“ ist. Hier geht es nicht um die psychologische Frage, ob Menschen, die sich vor dem Tod fürchten, sich vor einer Organentnahme stärker fürchten als andere. Dass hier ein Zusammenhang besteht, ist anzunehmen und hat sich auch empirisch nachweisen lassen (vgl. Sanner 2001, 1494). Hier geht es um die Frage, ob die – bereits 1974 von Hans Jonas (1985) geäußerten – Zweifel an der Gleichsetzung von Hirntod und Tod Grund zu einer spezifischen Beunruhigung geben, d. h. einer Beunruhigung, zu der derjenige, der sich sicher ist, dass mit dem Hirntod der Tod eingetreten ist, keinen Grund hat. Die Furcht, nach festgestelltem Hirntod das Bewusstsein wiedererlangen zu können, scheint gegenwärtig nicht weniger verbreitet als die Angst vieler Sterbender des 19. Jahrhunderts, unter ihnen Berühmtheiten wie Frédéric Chopin, lebendig begraben zu werden. Die Tatsache, dass ein angesehener Philosoph wie Hans Jonas ähnliche Zweifel geäußert hat, dürfte ihren Teil dazu beigetragen haben. Aber ist die Unsicherheit über das Verhältnis von Hirntod und Tod tatsächlich ein Grund, sich vor Hirntod und Organentnahme in besonderer Weise zu fürchten, d. h. mehr und in besonderer Weise zu fürchten, als man sich ohnehin vor dem Tod fürchtet? Die Antwort auf diese Frage kann nur lauten: Die Unsicherheit über den Todeszeitpunkt tangiert die auf das Erleben des Todes gerichteten Emotionen in keiner Weise. Die Debatte um die Gleichsetzung von Hirntod und Tod ist eine theoretische Debatte. In ihr geht es darum, wie der Zustand des Hirntods begrifflich zu fassen und zu beschreiben ist. Einige wollen den Zustand des Hirntoten so beschreiben, dass er als Zustand des Gestorbenseins gilt, andere als Zustand eines Moribunden, dessen Tod in Kürze eintreten wird, wiederum andere als einen Zwischenzustand zwischen Leben und Tod. Dadurch ändern sich zwangsläufig auch die Normen, mit denen eine Entnahme von Organen vom Hirntoten gerechtfertigt wird. Am Zustand des Hirntoten selbst ändert sich damit nichts. Es ist derselbe Zustand, der einmal als Zustand des Toten, ein andermal als Zustand des Lebenden – als eine künstliche Verlängerung des Lebens des Organismus zur
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Erhaltung der Organe in einem transplantierbaren Zustand –, ein andermal als Phase des kontinuierlichen Übergangs vom Leben zum Tod gilt. Insofern kann die Aussicht, in diesem Zustand Organe entnommen zu bekommen, rationalerweise keine Bedeutung für die auf dieses zukünftige Geschehen gerichteten Emotionen haben. Selbstverständlich wissen wir, dass die Assoziationen, die sich mit einem zukünftigen Ereignis verbinden, psychologisch einen Unterschied machen. Diese sind u. a. durch die Art und Weise bedingt, in welchen Kontext ein zukünftiges Ereignis eingeordnet und wie es sprachlich beschrieben wird. Das ändert nichts daran, dass auch im Fall der Unsicherheiten über die Gleichsetzung von Hirntod und Tod jedes Mal die gleiche Situation vorliegt. Dieses Verdikt kann allerdings nicht so apodiktisch gelten, wie es klingt. Fehldiagnosen des Hirntods sind nicht gänzlich auszuschließen, etwa aufgrund der Missachtung oder Fehlanwendung der in den Richtlinien zur Feststellung des Hirntods geltenden Bestimmungen. In Deutschland sind in den letzten Jahren einige wenige derartige Fehldiagnosen bekannt geworden, allerdings ohne dass es zu einer vorzeitigen Organentnahme kam, da die Fehldiagnosen rechtzeitig aufgedeckt wurden. Es war nicht beachtet worden, dass die Symptome des Hirntods auch durch die Gabe schwerer Schmerzmittel hervorgerufen sein können und eine sichere Diagnose erfordert, solche Mittel zuvor abzusetzen. Insoweit ist die Sorge davor, mit der Diagnose des Hirntods nicht „richtig“ tot zu sein, nicht vollständig unberechtigt. Allerdings ist das Risiko einer Fehldiagnose gering. Zur Hirntoddiagnostik gehört u. a. ein Test, mit dem geprüft wird, ob ein Patient Reaktionen auf Reize zeigt, die ansonsten heftige Schmerzen hervorrufen. Erst wenn keine Reaktion erfolgt und derselbe Test, nach 12 Stunden wiederholt, ebenfalls ein negatives Ergebnis hat, gilt der Patient als hirntot. Die Hirntoddiagnostik gibt uns, zumal in der strengen Form, in der sie in Deutschland normiert ist, nahezu maximale Gewissheit darüber, dass der Verlust des Bewusstseinslebens für den Patienten irreversibel ist. Es gibt uns die Gewissheit, dass, nachdem der Hirntod festgestellt worden ist, alles, was mit dem Organismus des Körpers getan oder nicht getan wird, nicht mehr ins bewusste Erleben aufgenommen wird. Eine erlebnisbezogene Furcht vor dem Sterben als dem zum Tod hinführenden Prozess kann aus deskriptiven oder evaluativen Gründen unberechtigt sein, muss es aber nicht. Deskriptiv ist sie so weit unberechtigt, als sie die Wahrscheinlichkeit überschätzt, dass der eigene Sterbeprozess als Leidensprozess erlebt wird oder dass palliative Therapien, die das physische und psychische Leiden lindern, entweder nicht zur Verfügung stehen oder nicht zur Anwendung kommen. Überwiegend, das legen Berichte von Ärzten nahe, hat das Sterben nichts Beängstigendes, sondern ist ein friedvolles Hinübergleiten. Aber die Angst vor dem Sterben ist heute nur unwesentlich schwächer ausgeprägt als in früheren Zeiten. Zwar ist die durch das Christentum über Jahrhunderte genährte Furcht vor dem
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Tod als gerechte Strafe für begangene Sünden heute weitgehend aus der Welt. Der drohende Tod wird überwiegend nicht mehr als Strafdrohung erlebt. Aber viele erleben das Sterben ihrer älteren Angehörigen weiterhin als für diese unangemessen belastend. Wie u. a. die zunehmende Verbreitung von Patientenverfügungen zeigt, wird vor allem gefürchtet, dass am Ende eher zu viel an kurativen und zu wenig an palliativen Therapien eingesetzt werden. In der Tat haben die unvergleichlich überlegenen Therapiemöglichkeiten der modernen Medizin zwar zu einer beträchtlichen Lebensverlängerung, aber nicht durchweg zu einem symptomfreieren, leichteren, und für alle Beteiligten erträglicheren Sterben geführt (vgl. Nuland 1994, de Ridder 2010). Der Bedarf nach einer flächendeckenden Erleichterung des Sterbens besteht fort und macht verständlich, dass in Deutschland die Menschen, die befragt werden, wie sie sterben möchten, überwiegend vom Tod innerhalb von Sekunden überrascht werden möchten, ohne die Sterbephase bewusst zu durchleben. Für die Nahestehenden allerdings hinterlässt gerade die Plötzlichkeit des Sterbens (die weniger als 5 % der Sterbefälle ausmacht) vielfach einen nachhaltigen Schock, insbesondere dann, wenn die Gelegenheit zu einem bewussten Abschiednehmen und eine innere Vorbereitung auf den Tod nicht bestand oder versäumt wurde. Wie weit das Sterben zu Recht gefürchtet wird, hängt freilich nicht nur von den Umständen ab, sondern wesentlich auch von den Präferenzen des Individuums. Während ein qualvoller und unzureichend palliativ erleichterter Sterbeprozess, vor allem wenn er sich über eine längere Zeit erstreckt, von allen gefürchtet wird, machen sich in den Präferenzen für die Sterbephase auch individuelle Unterschiede bemerkbar. Von Bedeutung ist u. a. das Ausmaß, in dem der Einzelne bereit ist, sich dem Geschehen des Sterbens passiv zu überlassen und das Ende seines Lebens „in Gottes Hände zu legen“, und wie weit er sein Lebensende seiner Kontrolle unterstellen und bewusst gestalten will. Auch wenn der Tod das Ende jeder Freiheit ist, unterscheiden sich Menschen darin, wie weit sie bis zum Ende ihre Freiheit wahren wollen. Idealtypisch fürchten die ersteren eher, im Sterben allein gelassen zu werden, die letzteren eher, im Sterben einer wie immer wohlwollenden Fremdbestimmung unterworfen zu werden. Erlebnisbezogene Todesfurcht kann sich schließlich auch als Furcht vor dem Nachher des Todes darstellen, als Furcht vor Gericht, Strafe, Hölle oder Übergang in ein wenig verlockendes Totenreich. Was Hamlet bei Shakespeare vor dem Suizid zurückschrecken lässt – jedenfalls seinem eigenem Verständnis nach, seine Motive mögen andere sein –, ist die Furcht vor dem Unbekannten, das nach dem biologischen Tod kommen mag:
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Ja, da liegts: Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen, Wenn wir die irdische Verstrickung lösten, Das zwingt uns stillzustehn. Das ist die Rücksicht, Die Elend läßt zu hohen Jahren kommen. (3. Akt, 1. Szene)
Diese Furcht ermangelt, wie oben argumentiert worden ist, aus zwei Gründen einer rationalen Grundlage, einem begrifflichen und einem ontologischen. Ein Zustand nach dem biologischen Tod, in dem Gericht, Strafe oder Hölle erlebbar sind, wäre begrifflich dem Leben zuzurechnen. Solange ein Mensch des Erlebens fähig ist, lebt er, und begriffspragmatische Gründe sprechen dafür, eine etwaige Lebensphase nach dem biologischen Tod als Fortsetzung des früheren Lebens und nicht als „zweites Leben“ aufzufassen. Der ontologische Grund liegt in der Abhängigkeit des Erlebens von biologischen oder anderweitig physisch basierten Lebensprozessen. Ein Erleben jenseits des biologischen Todes bedürfte einer irgendwie gearteten physischen Basis. Solange die Möglichkeit eines bewussten Erlebens ohne diese Basis bloße Spekulation bleibt, muss die Furcht vor jenseitigen Übeln als unbegründet gelten.
6.3.2 Nicht-erlebnisbezogene Todesfurcht Der Weise, so Epikur, „lehnt weder das Leben ab noch fürchtet er das Nichtleben vor dem Nichtmehrleben. Denn weder belästigt ihn das Leben, noch meint er, das Nichtleben sei ein Übel“ (Epikur 1983, 101 f.). Was Epikur übersieht, ist, dass der Tod nicht nur als erlebter Tod ein Übel sein kann, sondern auch als Verunmöglichung von andernfalls möglichen Erlebnissen und Lebensvollzügen, als Privation: „Wenn der Tod überhaupt ein Übel ist, dann […] aufgrund all dessen, was er uns raubt“ (Nagel 1984, 15). Gegenstand der Furcht ist dann nicht das spätere NichtSein, sondern die Kürze des Lebens und dass der Tod eintritt, bevor bestimmte Dinge erlebt oder getan sind. Auch wenn wir die Abwesenheit von Leben niemals akut erleben können – dafür müssten wir leben –, können wir sie doch fürchten. Eine solche Furcht ist von der Art einer nicht-erlebnisbezogenen Furcht. Was mit ihr gefürchtet wird, ist nicht ein wie immer geartetes negativ bewertetes Erleben bzw. dessen negativ bewertete intentionale Gegenstände, sondern die Unerfülltheit eines auf die Zukunft gerichteten Wunsches. Der Tod macht nicht nur Leben und Erleben zunichte, sondern auch Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an die verbleibende Lebenszeit. Deshalb kann ein früher Tod auch dann als „tragisch“ gelten, wenn die Lebenszeit, wie etwa im Fall Felix Mendelssohn-Bartholdys, ganz überwiegend glücklich war.
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Die Todesfurcht als Furcht vor Privation wird leicht verkannt, weil sie einen inhärent negativen Sachverhalt zum Gegenstand hat: das Nicht-Eintreten andernfalls möglicher erwünschter Ereignisse und die Nichtausführung andernfalls möglicher Handlungen. Darüber hinaus wird sie überwiegend weniger intensiv empfunden als die erlebnisbezogene Furcht vor negativ bewerteten Erlebnissen. Unter nicht erfüllten Wünschen leiden wir in der Regel weniger als unter akuten Belastungen. Nur eine Anthropologie, die wie die Schopenhauers den Willen in den Mittelpunkt stellt und jedes Leiden als eine Form von Willensversagung auffasst, nivelliert diese Differenz. Aber auch im Rahmen einer voluntaristischen Konzeption wird man unterscheiden müssen zwischen der Frustration des Willens durch eine ungewollte akute Belastung, der Frustration eines auf das eigene spätere Erleben gerichteten Wunsches und der Frustration eines auf anderweitige spätere Sachverhalte gerichteten Wunsches, also auf diejenigen Frustrationen, auf die sich die nicht-erlebnisbezogene Furcht richtet. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass eine nicht erlebnisbezogene Todesfurcht in einigen Fällen ebenso intensiv empfunden wird wie eine erlebnisbezogene Todesfurcht, etwa in Bezug auf den Todeszeitpunkt. Ein Künstler oder Wissenschaftler kann intensiv fürchten, durch den Tod daran gehindert zu werden, die Arbeit an einem bestimmten Werk zu vollenden. So hat Gustav Mahler den Tod als Bedrohung der Vollendung seiner 10. Sinfonie gefürchtet (und das Lied von der Erde nicht als 9. Sinfonie, sondern als separates Werk veröffentlicht) – wobei daran möglicherweise auch der magische Glaube an einen „Fluch“ beteiligt war, der bereits Beethoven, Schubert, Bruckner und Dvořák daran gehindert hatte, mehr als neun Sinfonien zu Ende zu bringen. Analog kann ein Familienvater fürchten, vor der Geburt oder Heirat eines Mitglieds seiner Familie zu sterben, oder einer von zwei Ehepartnern, früher zu sterben als der andere. Was gefürchtet wird, ist weniger der Tod selbst als seine Unzeitigkeit. Festzuhalten ist auf jeden Fall, dass diese Art von Todesfurcht nicht deshalb, weil sie auf Ereignisse außerhalb des Erlebens gerichtet ist, eo ipso weniger rational (hinsichtlich ihrer deskriptiven Voraussetzungen), weniger „vernünftig“ (hinsichtlich der ihr zugrundeliegenden Bewertungen) oder weniger angemessen (nach kulturellen Standards) ist als die erlebnisbezogene Todesfurcht. Das ist nicht unwichtig zu betonen angesichts der Neigung einiger medizinischer Psychologen, den im Zusammenhang mit der Ablehnung einer Organspende geäußerten Wunsch nach körperlicher Unversehrtheit pauschal als „irrational“ oder „mystisch“ abzutun (siehe z. B. Verble/Worth 1999, 54). Diesen Autoren ist zuzugestehen, die viele im Zusammenhang mit der Ablehnung einer Organspende geäußerte Befürchtungen in der Tat von ihren deskriptiven Voraussetzungen her verfehlt und die entsprechenden Bedenken irrational sind, etwa die Furcht, dass man bei einer schweren und todbringenden Erkrankung aus der
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Gier nach Organen heraus zu früh aufgegeben wird oder dass man von dem Skalpell des Chirurgen bei der Explantation als Hirntoter etwas spüren könnte. Zwar funktionieren auch nach Eintritt des Hirntods die im Rückenmark verschalteten Reflexe der Abwehr von Verletzungen noch, aber mangels Funktionsfähigkeit des Gehirns werden sie nicht mehr wahrgenommen. Weniger klar ist, ob das Urteil der Irrationalität auch für diejenigen Befürchtungen gelten kann, die sich zwar auf die eigene Person und den eigenen Körper richten, aber zum Typ der nichterlebnisbezogenen Furcht gehören. Denn auch wenn diese sich weder auf das eigene Erleben noch auf mögliche Gegenstände des eigenen Erlebens richten, können diese dem Typ der erlebnisbezogenen Furcht doch recht nahe kommen. Generell – und nicht nur im Kontext der Todesfurcht – kann man die Gegenstände der nicht-erlebnisbezogenen Furcht danach abstufen, wie weit sie sich der erlebnisbezogenen Furcht annähern. Je stärker es bei der nicht-erlebnisbezogenen Furcht um die eigene Person und den eigenen Körper geht, desto enger ist das Näheverhältnis zum eigenen Erleben. Repräsentieren lassen sich die verschiedenen Stufen durch eine Liste von Aussagen, bei der die Nähe zum eigenen Erleben mit der Reihenfolge der Aussagen sukzessiv abnimmt: (1) A fürchtet, dass er die Mathematikprüfung nicht besteht. (2) A fürchtet, dass sein Sohn nach dem Studium Mühe hat, eine seiner Qualifikation entsprechende Anstellung zu finden. (3) A fürchtet, dass es in 50 Jahren in Afrika zu gravierenden Nahrungsmittelknappheiten kommt. (4) A fürchtet, dass der Klimawandel die Biodiversität beeinträchtigt. In dieser Liste rücken die Gegenstände der Furcht in eine sukzessiv größere Distanz zu As Erleben. Am nächsten kommt der Gegenstand der Furcht As Erleben in Aussage (1), wenn auch nicht so nahe, dass sich diese Aussage durch die erlebnisbezogene Aussage (1’) A fürchtet sich davor, die Mathematikprüfung nicht zu bestehen. ersetzen ließe. (1’) bezieht sich direkter und eindeutiger als (1) auf die subjektive Seite der abzulegenden Prüfung. A fürchtet sich vor der Enttäuschung und den weiteren Folgen, die sich für ihn aus einem Nichtbestehen der Prüfung ergeben. Die Aussage (1) impliziert zwar ebenfalls eine negative Bewertung des NichtBestehens der Prüfung, lässt aber Art und Ausmaß der subjektiven Betroffenheit offen. Dennoch ist der Gegenstand der Furcht in (1) A „näher“ als in (2). Während die in (1) gemeinte Furcht selbstbezogen ist und die Zukunft von A selbst betrifft, ist die in (2) gemeinte Furcht auf eine andere Person bezogen, die ihrerseits zu A in einer engen Beziehung steht. Die Furcht ist „ichbezogen altruistisch“ (Mackie 1981, 202). Demgegenüber bezieht sich die Furcht in (3), standardmäßig interpre-
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tiert, auf einen nicht-ichbezogenen altruistischen Sachverhalt, und schließlich (4) auf einen unpersönlichen, rein sachbezogenen Sachverhalt, der in keinem Bezug zum Erleben von irgendjemandem steht, zumindest nicht stehen muss. Psychologisch steht die abgestufte Nähe der Gegenstände der Furcht in der Regel (wenn auch nicht durchweg) in einem Entsprechungsverhältnis zur Abstufung der Intensität der Furcht. Zu dem, was uns und unserem Erleben näher ist, stehen wir in der Regel in einer engeren Sorgebeziehung als zu dem, was unserem Erleben weniger nah ist. Die meisten Menschen machen sich mehr Sorgen um ihre eigene Zukunft, ihre eigenen Kinder, ihr eigenes Land usw. als um die Zukunft, die Kinder und das Land anderer. Nicht-erlebnisbezogene Furcht ist primär die Furcht davor, dass das, was wir den near and dear wünschen, unerfüllt bleibt. Dabei darf dies nicht so verstanden werden, als ob es die Nicht-Erfüllung unserer Wünsche wäre, die wir fürchten. Gegenstand der Furcht ist nicht die Nicht-Erfüllung unserer Wünsche, sondern das Nichtbestehen der Sachverhalte, auf die sich diese Wünsche richten. Der intentionale Gegenstand der nicht-erlebnisbezogenen Furcht von A ist, dass er die Mathematikprüfung nicht besteht, nicht, dass sein Wunsch, die Mathematikprüfung zu bestehen, erfüllt wird. Dieses Beispiel demonstriert noch einmal die nahezu unbegrenzte Reichweite der nicht-erlebnisbezogenen Furcht. Zwar sind auch die Gegenstände der erlebnisbezogenen Furcht Gegenstand von Wünschen, aber sie machen nur einen sehr kleinen Teil der Dinge aus, die wir uns wünschen können. Im Umfeld des Todes gibt es zweifellos eine Menge Dinge, die man im Sinne einer nicht-erlebnisbezogenen Furcht fürchten kann: „zu früh“ zu sterben, bestimmte Ereignisse, an denen einem liegt, nicht mehr zu erleben, Projekte nicht vollenden zu können, Beziehungen nicht rechtzeitig klären zu können, materielle und psychische Schulden und andere „Altlasten“ zu hinterlassen, von seinen Nachkommen oder der Nachwelt beschuldigt oder verachtet zu werden usw. Intensive Wünsche können sich aber auch darauf richten, was mit dem eigenen Körper nach dem Tod oder Hirntod geschieht. Man kann sich etwa wünschen, nach Eintritt des Hirntods nicht durch eine Organentnahme in seiner körperlichen Integrität verletzt zu werden. Die entsprechende Furcht kann sogar so intensiv sein, dass sie als Furcht vor einer Würdeverletzung ausgedrückt wird: Die eigene Würde soll über den Tod hinaus gewahrt bleiben – auch wenn diejenigen, die diesen Wunsch haben, sich das Warum und Woher dieses Wunsches oft nicht erklären können. Eine solche Erklärung ist aber bei Wünschen – anders als bei Emotionen und emotionalen Einstellungen – auch nicht verlangt. Wünsche können zwar ebenfalls mehr oder weniger vernünftig sein. Mangels deskriptiver Voraussetzungen sind sie aber nicht denselben Rationalitätsnormen unterworfen wie Emotionen. Deshalb ist auch eine nicht-erlebnisbezogene Furcht nicht in demselben Maße Rationalitätskriterien unterworfen wie eine erlebnisbezogene
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Furcht. Wünsche, die sich auf die Zukunft des eigenen Körpers richten, haben zudem eine Sonderstellung. In der Reihung der Gegenstände der Furcht nach der Distanz vom persönlichen Erleben nimmt der eigene Körper einen der vordersten Plätze ein. In seiner leiblichen Erscheinungsform ist er – zumindest in den Phasen, die wir bewusst erleben – ein ständiger Begleiter, ein in der Regel unaufdringlicher, dafür aber gelegentlich um so aufdringlicherer Hintergrund unserer Empfindungen, Emotionen und Gedanken. In seiner physischen Erscheinungsform ist er das Substrat unseres Erlebens, der „Drahtzieher“ hinter unserem Bewusstsein, von dessen Funktionsfähigkeit alles, was unser Erleben ausmacht, abhängt. In diesem Sinn ist uns kein anderer Mensch und kein anderes Ding so nah wie unser eigener Körper. Insofern ist er ein besonders „nahe liegender“ Gegenstand von nicht- erlebnisbezogener Furcht. Man kann annehmen, dass es für viele subjektiv bedeutsamer ist, was mit ihrem – ihrem eigenen – Körper nach dem Erlöschen der Erlebnisfähigkeit geschieht, als was mit den Körpern anderer geschieht – einschließlich den Körpern derer, die vergeblich auf ein Organ warten. Diese Überlegungen sprechen gegen die unter Freunden der Organtransplantation verbreitete Auffassung, dass die Furcht vor der Organentnahme von vornherein irrational ist. Sie ist auf jeden Fall nicht in dem Sinne irrational, dass sie auf irgendwelchen kognitiv fehlerhaften Annahmen beruht. Berechtigter erscheinen Zweifel an der Vernünftigkeit dieser Furcht unter evaluativen Aspekten. Sie lassen sich in die Frage kleiden: Warum soll die Furcht davor, dass einem nach dem Hirntod Organe entnommen werden, „vernünftiger“ sein als die Furcht, als Leichnam im Grab von Würmern zerfressen oder im Krematorium verbrannt zu werden? Alles spricht für die höhere Vernünftigkeit der Entscheidung, mit seinem Körper zuvor noch einen beträchtlichen altruistischen Nutzen zu stiften, anstatt ihn seinem Schicksal zu überlassen. Wir haben oben den engen Zusammenhang betont, der zwischen nicht- erlebnisbezogener Todesfurcht und Wünschen besteht. Dieser Zusammenhang erklärt möglicherweise auch, warum das von Lukrez und Schopenhauer gegen die Rationalität der Todesfurcht in Stellung gebrachte Argument der Symmetrie zwischen Nichtsein in der Zukunft und Nichtsein in der Vergangenheit so wenig Überzeugungskraft besitzt. Lukrez argumentiert in seinem Lehrgedicht De rerum natura, dass wenn das in der Zukunft liegende Nichtsein ein legitimer Gegenstand von Furcht und Bedauern wäre, auch das Nichtsein vor der eigenen Lebenszeit ein Gegenstand von Bedauern sein müsste, wofür es aber niemand hält. Niemand denkt daran, zu bedauern, dass er nicht in der Vergangenheit gelebt hat. Warum sollte er dann bedauern, in der Zukunft tot zu sein? Schaue zurück: was ist sie für uns, die ewige Dauer Jener vergangenen Zeit, noch ehe geboren wir waren?
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Diese hält die Natur uns gleichsam vor, als den Spiegel Jener künftigen Zeit, die nachfolgt unserem Tode. (Lukrez, 1970, 115 (III, 969 ff.))
Schopenhauer sekundiert: Wenn was uns den Tod so schrecklich erscheinen lässt, der Gedanke des Nichtseyns wäre; so müssten wir mit gleichem Schauder der Zeit gedenken, da wir noch nicht waren. Denn es ist unumstößlich gewiß, dass das Nichtseyn nach dem Tode nicht verschieden seyn kann von dem vor der Geburt, folglich auch nicht beklagenswerther. Eine ganze Unendlichkeit ist abgelaufen, als wir noch nicht waren; aber das betrübt uns keineswegs. Hingegen, dass nach dem momentanen Intermezzo eines ephemeren Daseyns eine zweite Unendlichkeit folgen sollte, in der wir nicht mehr seyn werden, finden wir hart, ja unerträglich. (Schopenhauer 1988, III, 532 f)
Thomas Nagel hat diese Überlegung mit der These zu kritisieren versucht, dass es irrational wäre, eine frühere Nicht-Existenz zu bedauern, da ein Mensch, der zu einem früheren Zeitpunkt geboren worden wäre als zu dem, zu dem er faktisch geboren worden ist, nicht derselbe Mensch sein könnte. Eine kontrafaktische Vorverlegung der Geburt sei mit der Identität nicht vereinbar, während es eine kontrafaktische Terminierung des Todes sehr wohl wäre: Von einem einmal geborenen Menschen lasse sich ohne Weiteres vorstellen, dass er früher oder später stirbt, als er tatsächlich stirbt (Nagel 1984, 21). Diese These vermag jedoch nicht zu überzeugen (vgl. Schumacher 2004, 242 f.). Es ist nicht zu sehen, warum der Zeitpunkt der Geburt – im Gegensatz zum Zeitpunkt des Todes – für einen Menschen konstitutiv sein soll. Sokrates hätte auch einige Jahre früher geboren werden können, ohne dass sich an seiner Identität etwas geändert hätte. Ich hätte ein oder zwei Jahre früher geboren werden können, ohne damit ein anderer zu werden. Sofern es überhaupt so etwas wie für einen Menschen konstitutive Bedingungen gibt, weisen diese, wie Wittgenstein am Beispiel „Moses“ gezeigt hat (Wittgenstein 1984, 284 f.), eine höchst komplexe Struktur auf und lassen sich nicht auf ein einziges Merkmal reduzieren. Eine andere Erklärung für die Asymmetrie von zukünftigem und vergangenem Nicht-Sein liegt sehr viel näher: dass sich die nicht-erlebnisbezogene Todesfurcht darauf bezieht, dass Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen unerfüllt bleiben. Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen richten sich ganz überwiegend auf Zukünftiges und nicht auf Vergangenes. Sie brechen die von Lukrez und Schopenhauer behauptete Symmetrie. Hinzu kommt die zeitliche Asymmetrie der „kreatürlichen Todesfurcht“, die der Mensch mit allen anderen Lebewesen teilt und die eine einseitig proaktive Ausrichtung aufweist. Sie ist funktional auf die Vermeidung oder Beseitigung gegenwärtiger und zukünftiger Bedrohungen von Leib, Leben und Freiheit gerichtet.
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6.3.3 Kreatürliche Todesfurcht In der kreatürlichen Todesfurcht stoßen die angestellten Überlegungen zu einer Kritik der Todesfurcht an ihre Grenze. An dieser Grenze zeigt sich, das die bisherige Interpretation der Todesfurcht als vollständige Emotion mit deskriptiven, evaluativen und affektiven Anteilen in einer bestimmten und wichtigen Hinsicht zu kurz greift. Todesfurcht hat keineswegs durchgängig die Merkmale einer vollständigen Emotion. Sie ist deshalb auch nicht durchgängig einer Kritik zugänglich. Todesfurcht, als vollständige Emotion verstanden, scheint lediglich eine – die elaborierteste und komplexeste – Form zu sein, in der sich im Menschen etwas ganz und gar Elementares manifestiert: der für die gesamte Welt des Lebendigen charakteristische Überlebensinstinkt, der Trieb zur Selbsterhaltung. Dieser Trieb weist den Menschen als Spross einer natürlichen Evolution aus, in der bereits die primitivsten Einzeller bei Gefährdungen ihrer Fortexistenz Vermeidungsreaktionen zeigen. Wie in der außermenschlichen Natur zeigt sich auch beim Menschen der biologische Überlebensdrang vor allem in Gefahrensituationen. Charakteristisch für diese Art von Todesfurcht ist die Abwesenheit jeder bewussten Intention. Die Furcht vor dem Tod nimmt stattdessen überwiegend eine quasi instinktive, unbewusste und reflexhafte Form an, die sich einer Bewusstseinssteuerung zumindest in ihren anfänglichen Phasen nahezu vollständig entzieht. Sie ist zu diffus, um mehr zuzulassen als ein intuitives, aber deshalb um so intensiveres Gefühl körperlicher Gefährdung. Sie kennt nur die Gefahr, die es zu vermeiden oder zu überwinden gilt, sie kennt aber nicht das Leben oder Überleben als Ziel. Ihr gedanklicher Inhalt beschränkt sich auf die Ausrichtung auf die Gefahrensituation, die es zu bestehen gilt, das Ziel der Selbsterhaltung kommt nicht als solches in den Blick. Gerade dadurch ist sie aufs Ganze gesehen von höchster Funktionalität. Ihr survival value besteht darin, dass sie die verfügbaren Energien für die Bewältigung aktueller Gefahrensituation mobilisiert und Menschen wie Tiere ohne den Aufwand eines ausdrücklichen Risikokalküls davon abhält, Situationen aufzusuchen, in denen ihnen Gefahr droht. Ohne die kreatürliche Todesfurcht würden wir viel häufiger und viel leichtfertiger unser Leben aufs Spiel setzen. Kreatürliche Todesfurcht eignet sich nicht für eine Emotionsanalyse und -kritik, wie wir sie für die „ausgereifte“ Todesfurcht angestellt haben. Aber auch wenn die emotionale Todesfurcht in der kreatürlichen Todesfurcht ihre genotypische und phänotypische Wurzel hat, fallen beide nicht zusammen. Die Frage, warum jemand den Tod fürchtet, wird dadurch, dass diese Frage bei Wesen, die keinen Begriff von Leben und Tod haben, unangebracht ist, nicht bedeutungslos. Die Frage nach Recht und Unrecht, Sinn und Sinnlosigkeit einer Emotion lässt sich nicht dadurch beantworten, dass man auf ihre biologischen Wurzeln und
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ihre evolutionäre Funktionalität verweist. Die unbestrittene biologische Funktionalität von archaischen Emotionen wie Argwohn gegen Fremde, Lust an Vergeltung und Inzestvermeidung beantwortet nicht die Frage nach ihrer Rechtmäßigkeit unter zivilisatorischen Bedingungen. Ebenso wenig sind Versuche plausibel, in der kreatürlichen Todesfurcht gewissermaßen den Kerngehalt der Todesfurcht in der Gesamtheit ihrer Ausprägungen erkennen zu wollen, wie es Schopenhauer und bis zu einem gewissen Grad Ernst Tugendhat getan haben. Schopenhauer hat gerade in der Blindheit der Todesfurcht eine Bestätigung für seine Auffassung von der grundsätzlichen Irrationalität der menschlichen Motivation gesehen: In der That ist die Todesfurcht von aller Erkenntniß unabhängig: denn das Thier hat sie, obwohl es den Tod nicht kennt. Alles, was geboren wird, bringt sie schon mit auf die Welt. […] Jene mächtige Anhänglichkeit an das Leben ist mithin eine unvernünftige und blinde; sie ist nur daraus erklärlich dass unser ganzes Wesen an sich selbst schon Wille zu Leben ist. (Schopenhauer 1988, III, 531 f.)
Tugendhat ist sogar so weit gegangen zu postulieren, dass „unsere“ – womit er die Menschheit als Ganze meint – Todesangst nicht nur eine biologische Genese hat, sondern sich auch in ihren aktuellen Ausprägungen diesen kreatürlichen Charakter bewahrt hat. Aus der biologischen Todesangst wird für ihn eine für die gesamte Gattung geltende „Angst vor dem Tod“ (Tugendhat 2007), die sich „durch die Erkenntnis, dass das Begrenztsein an und für sich nichts Erschreckendes zu haben bräuchte, nicht beseitigen läßt“ (Tugendhat 2007, 175). Aber beiden Positionen steht entgegen, dass sehr viele Menschen und gerade auch Menschen im höherem Lebensalter und Sterbenskranke keine Todesfurcht kennen, dass für sie die zeitliche Begrenztheit ihres Daseins nichts Erschreckendes hat, vor allem dann, wenn der Tod als Abschluss eines Lebens gesehen wird, dessen Möglichkeiten man voll ausgelebt hat, das ausreichend Gelegenheit geboten hat, von allen Menschen, die einem wichtig sind, Abschied zu nehmen und die lebenszeit übergreifenden Projekte, die einem am Herzen gelegen haben, in guten Händen zu wissen. Während die kreatürliche Todesfurcht in der Regel funktional für Leben und Wohlergehen des Individuums ist, lässt sich die pathologische Todesangst als ihre dysfunktionale Übersteigerungsform auffassen. Der Psychotherapeut Irving Yalom berichtet aus seiner Praxis über eine Reihe von Patienten, die in einem solchen Ausmaß von panischer Angst vor dem Tod beherrscht sind, dass diese ihre nahezu gesamten Lebensvollzüge hemmt und ihnen die Lust am Leben vergällt. Die Dysfunktionalität sowie die Unkontrollierbarkeit dieser Emotion rechtfertigt ihre Einordnung als „pathologisch“ und macht sie zur Indikation für eine Therapie. Es ist Yalom zufolge schwer zu verstehen, was es eigentlich ist, was
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diesen Patienten Angst macht. Wenn sie sich dazu äußern, geben sie an, dass für sie der Gedanke unerträglich ist, dass sie einmal nicht mehr sein werden, auch dann, wenn dieses Nicht-Sein zeitlich in weiter Entfernung liegt. Yalom zitiert die Aussage einer Panikpatientin: Ende. Alles endet. Das ist alles. Das Ende meines Hauses, meiner Dinge, meiner Erinnerungen, meiner Bindungen an die Vergangenheit. Das Ende von allem. Das Ende von mir – das ist der Kern davon. Sie wollen wissen, wovor ich mich fürchte. Es ist ganz einfach: Es gibt mein Ich nicht mehr! (Yalom 2002, 125)
Was dieserart Todesfurcht mit der kreatürlichen Todesfurcht gemeinsam hat, ist ihre Diffusität. Die Patienten scheinen nicht eigentlich angeben zu können, wovor genau sie sich fürchten. Das rechtfertigt, diese Todesfurcht als eine entgleiste Form der kreatürlichen Todesfurcht zu sehen – entgleist insofern, als sie sich von allen konkreten und zu Recht furchterregenden Gefahren- und Bedrohungslagen abgelöst hat. Auch bei dieser Form der Todesfurcht versagen die Kategorien der Emotionsanalyse und Emotionskritik, auch wenn sich Yalom interessanterweise in seinen erfolgreichen Therapien u. a. auch philosophischer Literatur bedient. Das heißt nicht, dass nicht auch für diese Form der Todesfurcht gilt, dass sie – wenn auch möglicherweise nur mit fremder Hilfe und auf Umwegen – überwunden werden kann. Emotionen, aber auch „blinde“ Affekte wie die kreatürliche oder die pathologische Todesfurcht sind anders als Sinnesempfindungen keine bloßen Widerfahrnisse. Die Furcht vor dem Tod ist etwas, „wozu wir uns auch verhalten“ können (Tugendhat 2007, 170). Mit einigem Glück können wir diese Furcht einer willentlichen Steuerung zugänglich machen.
7 Der tote Körper 7.1 Der menschliche Leichnam – Person oder Sache? Viele, die zum ersten Mal mit einem menschlichen Leichnam konfrontiert werden, behalten diese Erfahrung als etwas zutiefst Irritierendes im Gedächtnis. Ein radikaler Absturz hat stattgefunden – so radikal, dass das Kategoriensystem, mit dem wir uns die Welt verständlich machen, ein Stück weit in Unordnung gerät. Einerseits ist der Körper, aus dem das Leben gewichen ist, eben dies: ein Körper, ein Stück Materie, eine Ansammlung von vollständig physikalisch und chemisch beschreibbaren Teilen. Nicht nur hat dieser Körper Selbstbewusstsein und Bewusstsein eingebüßt, auch die rein vegetativen Lebensprozesse, von denen beide abhängen, sind zum Stillstand gekommen. Andererseits ist er aber ganz ohne Zweifel auch die Person, deren Leben zu Ende gegangen ist. Er ist nicht der Nachfolger, der Schatten oder ein wie immer geartetes Abbild dieser Person, sondern ist mit ihr identisch, und zwar aufgrund des härtesten und unverbrüchlichsten Identitätskriteriums, des Kriteriums der raumzeitlichen Kontinuität. Die Kontur der ansonsten für unsere Sicht auf die Welt fundamentalen Unterscheidung zwischen Personen, Tieren und Sachen verschwimmt. Der menschliche Leichnam ist weniger als eine Person, aber er ist auch mehr als eine bloße Sache. Die vom menschlichen Leichnam ausgelöste Irritation ist, auch wenn anderer Art, der Irritation vergleichbar, die dem Menschen in seiner äußeren Gestalt und seinem äußeren Verhalten angeglichene Maschinen auslösen, die einerseits nicht unmittelbar als Roboter erkennbar sind, die aber soweit auch wieder als von lebenden Menschen verschiedenen wahrgenommen werden, dass sich keine quasi zwischenmenschliche Beziehung zu ihnen aufbauen lässt. Man spricht in diesem Fall von einem „uncanny valley“. Die Irritation verhindert einerseits eine rein sachliche, andererseits aber auch eine quasi-personale Beziehung. Im „uncanny valley“ hat die Maschine zu wenig mit einem lebenden Menschen gemeinsam, um als elektronischer „Mitarbeiter“ wahrgenommen zu werden, aber auch zu viel davon, um als bloße Maschine wahrgenommen zu werden. Phänomenologisch haben wir es mit einem ontologischen Zwitter zu tun, mit dem unser Kategoriensystem so wenig zurechtkommt, dass es mit Ratlosigkeit und Unbehagen reagiert. Die kategoriale Ambivalenz gegenüber dem menschlichen Leichnam ist besonders ausgeprägt bei Verstorbenen, die uns gut bekannt sind oder uns gefühlsmäßig nahestehen, aber sie gilt abgeschwächt für alle menschlichen Leichname und ihre Teile, solange diese noch spezifisch menschliche Züge aufweisen. Der naheliegende Weg, diese Ambivalenz analytisch aufzulösen, ist der DOI 10.1515/978-3-11-053449-8-007
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7 Der tote Körper
über eine Perspektivenunterscheidung. Aus einer sachlichen, objektivierenden und so weit wie möglich von emotionalen Elementen gereinigten Perspektive wird man den menschlichen Leichnam ontologisch nicht anders denn als eine Sache, als einen materiellen Gegenstand einordnen müssen. Obwohl er charakteristisch menschliche Merkmale aufweist, ist er – paradoxerweise – kein Mensch. Jeder Mensch ist ein Lebewesen, und das ist der Tote nicht. Solange man von dem Sonderfall des Hirntoten mit künstlich aufrechterhaltenen Lebensfunktionen absieht, kann man bei ihm nicht einmal von einem weiterbestehenden Organismus sprechen. Denn das würde fälschlicherweise nahelegen, dass die Funktionen ihre Tätigkeit im Prinzip auch wieder aufnehmen können und mit dem Tod lediglich eine vorübergehende Störung der Körperfunktionen eingetreten ist. Vielmehr findet mit Eintritt des Todes der tiefgreifendste uns aus der lebendigen Natur bekannte Kategorienwechsel statt, ein radikaler ontologischer Absturz über zwei Stufen der Seinshierarchie hinweg: der irreversible Übergang von der Person zur Sache. Aus der kommunikativen Perspektive des menschlichen Zusammenlebens ist der Leichnam aber zugleich etwas anderes: die verstorbene Person in einem Zustand der Nicht-Lebendigkeit bzw. – im Fall des Hirntoten – der nicht mehr natürlichen Lebendigkeit. Gestützt wird diese Intuition durch die Tatsache, dass er im Normalfall in einer dreifachen Signifikanzrelation an die verstorbene Person gebunden ist, die man in Analogie zu den drei klassischen Zeichenrelationen als indexikalisch, ikonisch und symbolisch unterscheiden kann. Indexikalisch ist der Leichnam an die verstorbene Person gebunden durch die Identität des toten mit dem früheren lebenden Körper. Auch wenn die Lebensfunktionen endgültig erloschen sind, ist der tote Körper identisch mit dem früheren lebenden Körper und setzt die Geschichte der Existenz dieses Körpers fort, zumindest solange, wie seine raumzeitlichen Konturen von der Umwelt abgrenzbar sind. So ist Ötzi, wie er heute konserviert wird, identisch mit dem Menschen, der im 4. Jahrtausend v. Chr. In den Ötztaler Alpen zu Tode gekommen ist, auch wenn die Mumie mittlerweile eine von der ursprünglichen weitgehend verschiedene chemische Zusammensetzung aufweist. Eine Erdbestattung macht es möglich, über eine längere Zeit denselben Körper zu exhumieren, der der Körper des Verstorbenen war. Bei anderen Bestattungsformen ist die indexikalische Relation auf eine Teil-Ganzes-Relation verdünnt oder vollständig – und dann zumeist bewusst – aufgehoben. Während der von Goethe bedichtete Schädel Schillers immer noch ein substanzieller Teile von Schillers ursprünglichen Organismus ist, ist die einer Erdbestattung zugeführte Asche nur noch ein sehr geringfügiger Teil, der allerdings immer noch eine individuelle Zuordnung zulässt. Gänzlich verloren geht die Zuordnung nur bei einem Verstreuen der Asche.
7.1 Der menschliche Leichnam – Person oder Sache?
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Die Identitätsrelation, in der der Leichnam mit dem Körper des Verstorbenen steht, steht dabei nicht nur in einem indexikalisch-kausalen Bezug zum Körper der früheren Person, sondern zugleich zu dieser Person selbst. Soweit wir davon ausgehen müssen, dass der Körper nicht nur das „Gefäß“ ist, in dem sich das Bewusstseinsleben des früheren Menschen vollzogen hat, sondern auch dessen Quelle und Ursprung, steht der Leichnam zu der früheren Person in einer weitaus engeren Beziehung, als sie die Identität mit dem früheren Körper ausmacht, in einer Beziehung der (wie man sie nennen könnte) „kausalen Intimität“. Das folgt jedenfalls, wenn wir anders als traditionelle spiritualistische Anthropologien von der Annahme ausgehen, dass der funktionsfähige Körper nicht nur eine notwendige, sondern auch eine hinreichende Bedingung für die Entstehung von Bewusstsein und Selbstbewusstsein ist und das voll entfaltete innere Leben der Person, ohne dass weitere Faktoren dazukommen müssen, aus den unbeeinträchtigten physischen Funktionen des Zentralnervensystems emergiert. Der Leichnam ist dann bedeutend mehr als die „sterbliche Hülle“, die zurückbleibt, wenn das für die Person Wesentliche, die Seele, vergangen (oder, was sich in der bis heute gepflegten Sitte des Fensteröffnens manifestiert) „verflogen“ ist. Statt nach der Trennung von Körper und Seele zurückbleibende „Hülle“ ist er nicht weniger als der verbleibende Kern der Person, das, was der Person ihr inneres Leben gegeben, aber schließlich auch genommen hat. Den Abstufungen in der Ausprägung der indexikalischen Relation zwischen der ursprünglichen Person und ihren „sterblichen Überresten“ entsprechen in etwa auch die Abstufungen in den Ausprägungen der ikonischen Bezogenheit auf die vorherige Person: Je mehr die körperliche Integrität des toten Körpers erhalten bleibt, desto stärker ausgeprägt ist in der Regel auch die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Leichnam und Person. Je ausgeprägter die Ähnlichkeit ist, desto mehr an kognitiver Anstrengung kostet es, einen Toten tatsächlich als Toten wahrzunehmen, insbesondere wenn vorher ein Verhältnis der Vertrautheit und Nähe bestanden hat. In Diane Broeckhovens Roman Ein Tag mit Herrn Jules (Broeckhoven 2005) vermag die fiktive Erzählerin ihren soeben verstorbenen Ehemann so wenig von dem lebendigen Ehemann zu unterscheiden, dass sie einen ganzen Tag mit ihm wie einem Lebenden umgeht. Für sie hat sich der Tod noch nicht eigentlich ereignet. Andererseits können „erstarrte“ katatonische oder bewegungsunfähige Locked-in-Patienten wie Tote wirken, obwohl ihre übrigen Lebensfunktionen weitgehend intakt und ihr Bewusstsein nur geringfügig beeinträchtigt sind. Eine mit besonderen Wahrnehmungskonflikten belastete Erscheinungsform auf der Grenze zwischen Leben und Tod ist der Hirntote. Er ist dank rosiger Haut, atmender Lungen und gelegentlicher Spontanbewegungen häufig so wenig von einem lebenden Schwerkranken zu unterscheiden, dass es
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einer „künstlichen“ Ausblendung des in der Wahrnehmung Gegebenen bedarf, um ihn als tot zu denken.1 Die indexikalischen und ikonischen Relationen verstärken zusammengenommen den symbolischen Bezug des Toten zur früheren Person. Während das Erkennen des indexikalischen Bezugs – als eines kausalen Bezugs – Wissen und das Erkennen des ikonischen Bezugs das Erkennen von Ähnlichkeiten erfordert, erfordert der symbolische Bezug ein semantisches Verstehen von Bedeutungen. Viele Gegenstände, die zu dem Verstorbenen weder in einer kausalen noch in einer Abbildungsbeziehung stehen, beziehen sich semantisch auf ihn (z. B. eine entsprechende Grabinschrift oder die Erzählungen anderer über den Verstorbenen). Auch wenn der Lenin im Moskauer Lenin-Mausoleum oder der Bentham im Londoner University College gar nicht Lenin und Bentham wären und ihnen nicht einmal ähnlich sähen, würden sie Lenin und Bentham bedeuten. Der Leichnam „bedeutet“ die verstorbene Person aufgrund der Tatsache, dass er von anderen der verstorbenen Person zugeordnet wird – auch dann, wenn die beiden anderen Relationen nicht bestehen, etwa bei einem durch einen Unfall stark entstellten und deshalb fälschlich identifizierten Leichnam. Von welcher dieser beiden Perspektiven sollten wir uns bei der Kategorisierung des menschlichen Leichnams leiten lassen – von der ontologisch objektivierenden oder von der personal-relationalen? Ein Vorschlag, der beiden Perspektiven gleichermaßen gerecht werden kann, könnte so aussehen, dass wir den Leichnam einerseits als einen leblosen Körper und insofern als Sache, andererseits als den Körper eines früheren Menschen und insofern als wesentlich auf den früheren Menschen, dessen Körper er war, bezogen charakterisieren. Der Leichnam ist von seinem ontologischen Status her einerseits zweifellos eine Sache. Er ist als solche identisch mit dem Körper des früheren Menschen. Solange er noch als gegen seine Umwelt klar abgegrenzter Körper erkennbar ist, gilt für ihn die „These der Fortexistenz“ (Wittwer 2009, 78 ff.). Damit ist er aber selbst noch im leblosen Zustand der Körper desjenigen Menschen, dessen Körper er einmal war. Er bleibt auf den früheren Menschen bezogen, für den seinerseits die „Beendigungsthese“ (Wittwer 2009, 78) gilt: Der Mensch endet mit dem Tod. Er kann – als Mensch – nicht mit einer Sache identisch sein. Der Leichnam ist nicht der frühere Mensch, aber er steht zu ihm in einer dreifachen Zeichenrelation.
7.2 Pietät Die Unterscheidung zwischen den zwischen Leichnam und vorheriger Person bestehenden Zeichenrelationen kann dazu dienen, einem Begriff zu mehr Klarheit zu verhelfen, der in der Alltagssprache insbesondere im Zusammenhang mit
7.2 Pietät
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dem Umgang mit Leichnamen eine Rolle spielt, dem Begriff der Pietät. Klärungsbedürftig ist dieser Begriff, weil er immer wieder zu Irritationen, Zweifeln und Unsicherheiten Anlass gibt, die sich dann auch als Unsicherheiten in den kulturellen, gesellschaftlichen und rechtlichen Formen des Umgangs mit dem toten Körper bemerkbar machen. In Bezug auf Verstorbene ist Pietät eine gefühlsmäßige Haltung, die sich, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, auf alle drei Relationen bezieht. Sieht man genauer hin zeigt sich, dass sich in Bezug auf den Leichnam Pietätsformen kreuzen und gegenseitig verstärken, die jeweils für sich genommen bestehen können und dann weit über den Leichnam hinausreichen. So richten sich Pietätsgefühle in der indexikalischen Dimension über den Leichnam hinaus auf vieles, was kausal mit dem Leben und der Individualität der verstorbenen Person zusammenhängt, etwa persönliche Hinterlassenschaften wie Briefe und Tagebücher, aber auch besonders geliebte Einrichtungsgegenstände und Haustiere. Was ein pietätvoller Umgang mit diesen Gegenständen bedeutet, lässt sich am leichtesten ex negativo erfassen. So wird man zwar möglicherweise die persönlichen Briefe und andere mit der Person unverwechselbar verbundene Gegenstände, falls sie nicht aus andere Gründen erhaltenswert sind, nicht über längere Zeit oder sogar auf Dauer aufbewahren wollen. Aber es wäre entschieden pietätlos, sie gedankenlos, ohne Zögern und Bedenken oder zumindest ohne den Ausdruck des Bedauerns auf dem schnellstmöglichen Weg zu entsorgen. In der ikonischen Dimension haben Pietätsgefühle gegenüber toten Körpern Gemeinsamkeiten mit den entsprechenden Gefühlen gegenüber Abbildungen oder bildlichen Darstellungen des Verstorbenen. Pietätlos ist nicht nur die Verletzung der körperlichen Integrität eines Toten, sondern auch die analoge Zerstörung einer fotografischen oder anderen bildlichen Darstellung. Robert Veatch hat zu Recht darauf hingewiesen, dass sich Pietätsgefühle in sehr viel höherem Maße auf den ganzen Leichnam als auf Leichenteile richten (Veatch 1976, 253). Auf dissoziierte Leichenteile richten sich auch in der Summe sehr viel weniger Pietätsgefühle als auf den vollständigen oder nachträglich vervollständigten Leichnam. Ähnliches gilt für ikonisch neutrale Residuen – trotz eindeutiger Indexikalität – wie Gebeine, Totenasche oder aus dieser hergestellte Diamanten. Würde der Körper des Menschen mit dem Tod augenblicklich zu einem Häuflein Staub zusammenfallen, hätten Pietätsgefühle mangels sichtbarer individueller Ähnlichkeiten nur noch einen minimalen Ansatzpunkt. Obwohl in diesem Fall die Momente der Identität, der Individualität und der kausalen Intimität erhalten blieben, gingen mit dem Abbildcharakter wesentliche Momente des Pietätsgefühls verloren. In der symbolischen Relation überschneiden sich Pietätsgefühle gegenüber dem Leichnam mit anderen Formen des Andenkens, ungeachtet dessen, ob das
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Medium des Andenkens einen kausalen oder ikonischen Bezug zum Verstorbenen hat. Grabschändung als Ausdruck von Hass und Geringschätzung ist auch dann eindeutig ein Affront gegen (u. a.) Pietätsgefühle, wenn sie vor dem Leichnam selbst haltmacht und lediglich auf die mit dem Toten verknüpften Symbole zielt. Dazu gehören etwa auch Gedenkstätten an anderen Orten als dem Bestattungsort, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet haben, entweder in der realen (Gedenkbäume) oder der virtuellen Welt (Internetfriedhöfe). Worauf richten sich Pietätsgefühle? Sie richten sich weder allein auf den Verstorbenen als Person noch allein auf den Leichnam oder anderes, was von dem Leben der Person den Tod überlebt hat, sondern auf beides gleichzeitig bzw. auf das Verhältnis, in dem das, was seinen Tod überlebt hat, zu seinem früheren Leben steht. Entscheidend ist die Stärke und Deutlichkeit, in dem das Übriggebliebene als symbolische Vergegenwärtigung des Verstorbenen empfunden wird. Dies ist in der Regel intersubjektiv sehr unterschiedlich ausgeprägt, schon deshalb, weil der Verstorbene in den Erinnerungen der Nachwelt unterschiedlichen Stellenwert hat und manche Verstorbene mehr und weitergehende Rollen übernehmen als andere. Das erklärt die Schwierigkeit, Pietätspflichten als normative Postulate zu begründen. Warum sollte Pietät auch dann als Prinzip des Umgangs mit einem Toten gelten, wenn es niemanden gibt, der Pietätsgefühle gegenüber einem bestimmten Verstorbenen empfindet, etwa weil er den Gedanken an dessen Leben als Albtraum empfindet? Warum sollten Pietätspflichten auch gegenüber den Leichnamen von Folterknechten bestehen, an die sich jeder, der mit ihnen zu tun hatte, nur mit Grausen erinnert? An dieser Stelle ist an eine Besonderheit der normativen Regeln für den Umgang mit dem menschlichen Leichnam zu erinnern, die in dieser Weise auf andere normative Regeln nur mit großen Einschränkungen zutrifft. Diese Regeln sind aus guten Gründen ausgeprägt generalisiert und standardisiert und sehen weitgehender als andere von den jeweils individuellen Einstellungen gegenüber dem Toten ab. Generalisierung und Schematisierung gehören zum Wesen von Ritualen, und Rituale haben in prekären Situationen wie denen, in denen mit Leichnamen umzugehen ist, ihren legitimen Platz. Die vielleicht wichtigste der Funktionen von Ritualen ist die Entlastung von Unsicherheiten des Verhaltens und Fühlens in kritischen Situationen und die Kanalisierung potenziell überbordender Emotionen in feste Formen. Pietätspflichten als Teile von Ritualen haben Teil an dieser Funktion und lösen sich deshalb von der Existenz, der Intensität und der Häufigkeit von Pietätsgefühlen ab. Pietätspflichten haben zwar ihre Grundlage in Pietätsgefühlen, aber sie bestehen unabhängig davon, ob und wie weit Pietätsgefühle tatsächlich empfunden werden. Wenn es Pietätspflichten gibt, stellt sich allerdings die Frage, worin diese Pflichten ihren Geltungsgrund haben und ob sich für sie eine Instanz angeben
7.2 Pietät
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lässt, der gegenüber diese Pflichten bestehen. Wenn ja, welche Instanz könnte das sein? Offenkundig können Pietätspflichten nicht als Verpflichtungen gegenüber dem Leichnam selbst verstanden werden. Als materieller Gegenstand ohne aktuelle oder potenzielle Bewusstseinsfähigkeit kommt der Leichnam als Gegenstand direkter moralischer Pflichten nicht in Frage. Es erscheint nicht sinnvoll, eine Entität als Objekt direkter moralischer Pflichten gelten zu lassen, die weder aktuell noch zu einem späteren Zeitpunkt von der Befolgung der entsprechenden Pflichten subjektiv betroffen sein kann. Pietätsverletzungen berühren den Leichnam nicht real, sondern symbolisch. Sinn von Pietätspflichten ist die Respektierung des Leichnams als Zeichen, nicht als unmittelbar Betroffener. Auch die pietätsähnlichen Pflichten, die in einigen Nationen in Bezug auf die Nationalflagge bestehen, lassen sich nicht so verstehen, dass die Flagge als materieller Gegenstand geschützt werden soll – so wie bestimmte Gegenstände wegen ihrer Seltenheit geschützt werden oder wegen ihres irgendwie anders gearteten überragenden Werts. Aus denselben Gründen kommt der Leichnam auch als Träger moralischer Rechte nicht in Frage. Die Verletzung von Pietätspflichten ist keine Verletzung etwaiger dem Leichnam selbst zukommender moralischer Rechte. Auch dazu wäre erforderlich, dass der Tote selbst von Verletzungen dieser Rechte direkt oder indirekt subjektiv betroffen sein könnte. Insofern wird man auch gegen die häufige Praxis Bedenken anmelden müssen, dem Leichnam Menschenwürde zuzuschreiben bzw. Pietätspflichten mit der Menschenwürde zu begründen. Zwar weist der Begriff der Menschenwürde eine Reihe von Affinitäten mit der Sphäre der Pietätspflichten auf: Die sich aus der Menschenwürde ergebenden Pflichten sind hochgradig generalisiert. Sie bestehen unabhängig davon, ob der individuelle Mensch, gegenüber dem sie bestehen, ihrer in irgendeiner spezifischen Weise „würdig“ ist oder die Beachtung seiner Menschenwürde aufgrund seines Lebenswandels „verdient“ hat. Sie bestehen auch gegenüber demjenigen, der die Würde anderer auf „unwürdigste“ Weise missachtet und aufs Gröblichste verletzt hat. Noch offenkundiger als diese formale ist die inhaltliche Ähnlichkeit, die darin besteht, dass beide, Menschenwürde- und Pietätspflichten eine Verdinglichung oder Kommodifizierung ihrer jeweiligen Gegenstände verbieten oder zumindest erheblich einschränken. Wie der Begriff der Menschenwürde es verbietet, Menschen „bloß“ als Mittel zu behandeln, verbieten Pietätspflichten, einen Leichnam radikal zu verdinglichen oder zum Gegenstand von Handel zu machen. Auch wenn dem menschlichen Leichnam in ontologischer Hinsicht kein höherer Status als der einer Sache zugesprochen werden kann, sorgen Pietätspflichten dafür, dass er nicht als Sache behandelt wird.
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Eine Übertragung des Menschenwürdebegriffs auf menschliche Leichname verbietet sich dennoch, und zwar deshalb, weil zentrale Gehalte des Begriffs auf Leichname offenkundig nicht anwendbar sind und jede Anwendung zu Missverständnissen Anlass geben muss – mag auch bei einem Begriff, der wie dieser mit besonderer Emphase aufgeladen ist, der Versuchung nur schwer zu entgehen sein, ihn für vielerlei, was einem wert und wichtig ist, in Anspruch zu nehmen. In der Tat sind die Unterschiede zwischen dem achtungsvollen Umgang mit Menschen, die das Menschenwürdeprinzip gebietet, und dem sich aus den Pietätspflichten ergebenden achtungsvollen Umgang mit dem menschlichen Leichnam gravierender als die Gemeinsamkeiten. Der erste besteht darin, dass die aus dem Menschenwürdeprinzip folgenden Pflichten gegenüber den Trägern der Menschenwürde bestehen. Diese Pflichten sind den Menschen als Trägern der Menschenwürde geschuldet. Anderen Menschen nicht alle Freiheit zu nehmen, sie nicht in ihrer Intimsphäre zu verletzen, sie nicht zu quälen und sie, falls sie sich in quälenden Verhältnissen befinden, daraus zu befreien, sind Pflichten, die Rechten entsprechen, so genannte vollkommene Pflichten. Da ein Leichnam aber keine Rechte haben kann, können diese Pflichten nicht gegenüber, sondern – in Anlehnung an die Kantische Unterscheidung – allenfalls in Ansehung des Leichnams bestehen. Während die aus der Menschenwürde folgenden Pflichten direkte Pflichten sind, sind die im pietätvollen Umgang mit dem Leichnam implizierten Pflichten indirekte Pflichten. Damit stellt sich die Frage: Wenn Pietätspflichten dem Leichnam selbst nicht geschuldet sind und nicht gegenüber ihm, sondern in Ansehung des Leichnams bestehen. wem sind sie dann geschuldet? Für diese Rolle – die Rolle des direkten Pflichtobjekts – kommen offensichtlich zwei Instanzen in Frage: einerseits der Verstorbene zu Lebzeiten, andererseits die Lebenden, in deren Mitte sich der Tod ereignet hat und die von diesem Tod betroffen sind – als Nahestehende, Mitglieder einer der Bezugsgruppen des Verstorbenen oder, im Fall von Prominenten, als weitere Öffentlichkeit. Pietätspflichten sind dem Verstorbenen so weit geschuldet, als dieser zu Lebzeiten ein Interesse daran hatte, dass mit seinem Leichnam in respektvoller Weise umgegangen wird und sein Andenken nicht durch aus seiner Sicht unangemessenen Umgang beeinträchtigt wird. Allerdings machen Pietätspflichten, wenn sie so verstanden werden, nur einen kleinen Teil der Pflichten aus, die gegenüber Verstorbenen bestehen und zu einem Teil auch rechtlich anerkannt und durchgesetzt werden. Das Interesse der verstorbenen Person zu Lebzeiten, nach seinem Tod von postmortalen Ehrverletzungen und Entwürdigungen verschont zu bleiben, wird im Recht sogar als (juridischer) Rechtsanspruch gewürdigt, als „postmortales Persönlichkeitsrecht“, zusammen mit anderen solchen Rechten wie dem Recht auf Umsetzung von Willensverfügungen und Vermächt-
7.2 Pietät
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nissen. Positive und negative Willensbekundungen des Verstorbenen zu Lebzeiten begründen eine Pflicht, den Willen des Verstorbenen zu respektieren. Unser eigener Körper ist uns näher als unser Vermögen, und selbst dieses darf uns gegen unseren vorherigen Willen nach dem Tode nicht einfach weggenommen werden, um damit wie immer moralisch hochwertige Ziele zu realisieren. Um so mehr darf mit unserem Körper nicht nach Belieben verfahren werden. Schutzobjekt dieses Prima-facie-Rechts ist dabei kein frei flottierender, den Tod seines Subjekts mysteriöserweise überlebender „Wille“, sondern etwas höchst Reales, das Lebensgefühl des Verstorbenen zu Lebzeiten. Der Lebende kann sich in der autonomen Verfügung über seinen Körper auch dann empfindlich eingeschränkt fühlen, wenn diese Verfügung erst nach seinem Tode eintritt. So ist heute anerkannt, dass der Verstorbene das Recht hat, zu verfügen, wie er bestattet werden möchte, und dass diese Wünsche in der Regel befolgt werden müssen, auch dann, wenn die Angehörigen diesen nichts abgewinnen können oder sogar – etwa religiös bedingte – Vorbehalte gegen sie haben. Weitere direkte Objekte von Pietätspflichten sind die Lebenden, die durch die Verletzung von Pietätspflichten in ihren Pietätsempfindungen beeinträchtigt werden können. Auch dann, wenn es dem Verstorbenen gleichgültig gewesen sein sollte, wie mit seinem Leichnam umgegangen wird, verdienen insbesondere die Nahestehenden, vor Verletzungen ihrer Pietätsgefühle verschont zu bleiben. In Deutschland sind deswegen schwerwiegende Verletzungen dieser Pietätsgefühle durch den § 168 StGB („Störung der Totenruhe“) sogar strafrechtlich sanktioniert. Allerdings besteht dieser Schutz der Gefühle der Anteilnehmenden konsequenterweise nur solange, wie der Leichnam (oder die Asche) Gegenstand von Pietätsgefühlen ist (Schönke-Schröder 2014, 1702). Ein zweiter Grund, gegenüber einer Anwendung des Begriffs der Menschenwürde auf menschliche Leichname skeptisch zu sein, ist die offensichtliche Abwägbarkeit der den Pietätspflichten zugrundeliegenden Pflichten. Die aus der Menschenwürde fließenden Rechte und Pflichten sind, wenn nicht schlechthin unabwägbar, so doch nur in sehr engen Grenzen abwägbar. Verletzungen der Menschenwürde wiegen durchweg schwer. Dieses Merkmal fehlt bei den Verletzungen von Pietätspflichten. Das zeigt bereits der § 168 StGB, der eine ausgesprochen maßvolle Strafdrohung (Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe) ausspricht. Die moralischen Bedenken gegen Verletzungen der körperlichen Integrität eines Leichnams werden in der Regel hinfällig, sobald andere und für die Gesellschaft wichtigere Güter auf dem Spiel stehen, so dass Pietätspflichten kaum mehr als einen schwachen Prima-facie-Status beanspruchen können. An Grenzen stößt die Respektierung von Pietät insbesondere bei der Obduktion im Zuge der Verbrechensaufklärung, bei der Organtransplantation und bei medizinischen Leichen-
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versuchen, etwa im Zusammenhang mit der Verkehrssicherheitsforschung. Bei der rechtsmedizinischen Obduktion zur polizeilichen Ermittlung gilt das öffentliche Interesse an Verbrechensaufklärung als dem Pietätsempfinden der Nahestehenden, aber auch den Interessen des Verstorbenen als so weit überlegen, dass es eine Ablehnung seitens des Verstorbenen oder der Nahestehenden übertrumpft. Bei der Explantation von Organen nach eingetretenen Hirntod oder der Entnahme anderer Körperteile oder Substanzen beim Leichnam, die ebenfalls eine Verletzung der körperlichen Integrität des Hirntoten bzw. des Leichnams bedeuten, haben der Verstorbene bzw. seine Angehörigen zumindest ein Recht zur Ablehnung. Insbesondere bei der Beurteilung von Leichenversuchen ergibt sich die Notwendigkeit von Güterabwägungen. Das öffentliche Interesse an Fortschritten in der Sicherheit von Leib und Leben und an der Entwicklung neuer Behandlungsformen und Heilmittel, vor allem aber das Interesse der potenziellen Opfer, denen ohne die Versuche nicht oder weniger wirksam geholfen werden könnte, muss gegen mögliche Verletzungen von Selbstbestimmungsrecht und Pietätsgefühlen abgewogen werden. Ein generelles moralisches Verbot erscheint ebenso wenig akzeptabel wie ein pauschaler moralischer Freibrief. Im Falle etwa der Versuche mit menschlichen Leichnamen zur „Eichung“ der Dummies für crash-tests im Dienste der Verkehrssicherheit ist die humane Bedeutung dieser Versuche zu eindeutig, um selbst auch nur eine moralische Ablehnung zu rechtfertigen. Die heftigen öffentlichen Debatten, die sich gelegentlich im Zusammenhang mit entsprechenden Versuchen entsponnen haben, geben im Grunde stärkeren Anlass zur Beunruhigung als die Versuche selbst – wegen des Übergewichts, das hier – wie in vielen anderen umstrittenen Bereichen der Medizinethik – symbolische Werte über reale Werte (wie die Lebenserhaltung und Leidensminderung konkreter Menschen) erlangen. Unstrittig ist die moralische Verwerflichkeit von Verletzungen von Pietätspflichten, wenn diese nicht das Ergebnis einer sensiblen Abwägung mit ihrerseits moralisch gewichtigen (Rechts-)Gütern sind, sondern Ausdruck negativer und potenziell destruktiver Emotionen. Der § 168 StGB spricht nicht von ungefähr – mit einer antiquierten Wendung – von „beschimpfendem Unfug“, der nicht nur als Ausdruck von Hass und Verachtung verstanden werden kann, sondern es auch darauf anlegt, so verstanden zu werden. Darüber hinaus werden Pietätsgefühle um so stärker verletzt, als je gewalttätiger und grausamer die Einwirkung auf den Leichnam auf der symbolischen Ebene wahrgenommen wird. Einen Leichnam in einem Krematorium in Flammen aufgehen zu lassen, lässt weniger an Grausamkeit und Folter denken als ein Experiment, das dem Leichnam gezielte Brandwunden beibringt, mit denen er, wäre er am Leben, unter Qualen überleben würde.
7.3 Pietät und Bestattung
169
Allerdings ist die Misshandlung von Leichnamen nicht nur eine bis heute geübte Praxis, Hass und Verachtung gegenüber prominenten Übeltätern auszudrücken und den Verhassten einer Art nachträglicher Lynchjustiz zu unterwerfen (wie vor einigen Jahren bei dem irakischen Diktator Sadam Hussein), sondern wurde gelegentlich – als Ausdruck der äußersten Verachtung der Rechtsgemeinschaft – sogar gesetzlich vorgeschrieben. So enthielt etwa die so genannte Ferdinanda, die Gerichtsordnung des Erzherzogtums Östereichs von 1656 eine Bestimmung, nach der die Leichname von Suizidenten, die sich aus Furcht vor Strafe selbst getötet hatten, zunächst aus dem Haus „wie ein Vieh geschleift“ werden sollten, bevor sie unter dem Galgen vergraben werden (Bernstein 1907, 15). Diese Bestimmung erinnert beunruhigenderweise an Kants – um die Menschenwürde bemerkenswert wenig bekümmertes – Verdikt, dass derjenige, der sich selbst tötet, sich „unter das Vieh setzt“ (Kant 1979, 139).
7.3 Pietät und Bestattung Dass Pietätsgefühle und Pietätspflichten bisher auf der Seite der Ethik wenig Beachtung gefunden haben, hat nicht nur damit zu tun, dass sie in den in der gegenwärtigen Welt anerkannten Moralsystemen nur eine randständige Rolle spielen, sondern vor allem auch mit ihrer unübersehbaren kulturellen Relativität. Zwar kennen so gut wie alle Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart Pietätsgefühle und Pietätspflichten. Aber Art und Intensität ihrer Ausprägung unterscheiden sich interkulturell und epochal und verändern sich mit der Bedeutung, die die Sphäre von Tod und Vergänglichkeit für eine Kultur im Allgemeinen annimmt. Über die Inhalte von Pietätspflichten lässt sich insofern nur wenig Allgemeinverbindliches sagen. Zwar geht es jedes Mal darum, die Toten angemessen zu würdigen, zu ehren und ihrer zu gedenken. Aber die Formen, in denen dieses geschieht, gehört zu den Spezifika, die jede Kultur zu einer unverwechselbaren machen. Welche Trauerrituale, Formen des Gedenkens und welche Bestattungsformen geboten, verboten oder zulässig sind und welche unter den zulässigen bevorzugt werden, hängt von einem schwer zu fassenden Netzwerk von expliziten und impliziten Normen ab, die in teils rigoros verbindlichen, teils Spielräume individueller oder gruppenspezifischer Gestaltungsfreiheit lassenden Traditionen verankert sind. In Gesellschaften, die sich schnell wandeln oder die sich aus Angehörigen vieler verschiedener Kulturen zusammensetzen, wird die mit Trauer- und Begräbnisriten üblicherweise assoziierte Festigkeit der Formen zwangsläufig ein Stück weit untergraben. Neue Formen der gemeinschaftlichen Bewältigung der mit Tod und Trauer verknüpften emotionalen Ambivalenzen treten an die Stelle der
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7 Der tote Körper
überkommenen Formen, bodenständige und fremde Traditionen werden parallel gepflegt oder auch synkretistisch – als „Patchwork-Rituale“ – miteinander kombiniert. Charakteristisch für die in der Gegenwart gepflegten Trauer- und Begräbnisriten in den Industrieländern und insbesondere in den Großstädten ist, dass dieser Bereich zu einem Experimentierfeld geworden ist, in dem sich zunehmend Phantasie und Kreativität entfaltet. Ausdrucksformen des Trauerns, des Abschiednehmens, des Gedenkens und der Bestattung werden zunehmend nicht mehr der Tradition entnommen, sondern neu erfunden und erprobt. Die Geschwindigkeit des Wandels überfordert regelmäßig die Anpassungsbereitschaft der zuständigen Gesetzgebungsinstanzen, die insbesondere in Deutschland deutlich konservativer sind als die der Nachbarländer. Das hat dazu geführt, dass sich zwischen den gesetzlichen Vorschriften und den Bevölkerungspräferenzen eine erhebliche Kluft aufgetan hat, mit der Folge, dass selbst renommierte Bestattungsinstitute heute offen illegale Bestattungsarrangements anbieten. In der unübersehbaren Pluralisierung des Umgangs mit Tod und Leichnam manifestieren sich – über die zunehmend multikulturelle Zusammensetzung der Gesellschaft hinaus – zwei auf der Hand liegende und weit über den engeren Zusammenhang der Bestattung hinausreichende Tendenzen: einerseits die wachsende Bedeutung und Inanspruchnahme von individueller Selbstbestimmung über den Tod hinaus, andererseits die zunehmende Pluralisierung der Weltanschauungen und der Autoritätsverlust der christlichen Tradition. Selbstbestimmung hat seit längerem ihren festen Platz nicht nur in der Vorsorge des Einzelnen für spätere Lebensphasen, in denen die Einwilligungs- oder Äußerungsfähigkeit krankheitsbedingt verloren gegangen ist. Sie bestimmt seit längerem auch die Vorsorge für die postmortale Phase. In Grenzen wird sie auch durch die geltenden Bestattungsgesetze honoriert. So kann man etwa in Nordrhein-Westfalen per Bestattungsverfügung festlegen, dass nach einer Kremation die Asche außerhalb eines Friedhofs begraben oder verstreut wird. Bedingung ist die Genehmigung durch die Behörde und der Nachweis, dass der Beisetzungsort dauerhaft öffentlich zugänglich ist (Bestattungsgesetz NRW § 15, Abs. 6). Aber auch bei den konventionelleren Bestattungsformen bestehen mittlerweile Auswahloptionen, so dass der Einzelne zunehmend auch postmortal über sich selbst bestimmen kann. Viele Bestattungsinstitute bieten Vorsorgeverträge an, mit denen man sich eine bestimmte Bestattungsart sichern kann. Der andere Grund ist, dass im Zuge der Säkularisierung – auch hier gehen die (großen) Städte und die weitgehend entchristlichten neuen Bundesländer voran – die herkömmlichen religiösen Riten zunehmend als überholt empfunden werden. Der ehemals als Übergangsritual verstandene Ritus wird von der Mehrheit längst als Abschiedsritual verstanden, ohne dass sich die rituellen Formeln
7.3 Pietät und Bestattung
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diesem Wandel angepasst hätten. Viele empfinden die von christlichen Predigern weiterhin gepflegte Beschwörung eines Nachlebens nach dem Tode als befremdlich und inauthentisch, wenn nicht sogar als Störung der mit dem Bestattungsritus einhergehenden Besinnlichkeit. In seinem Buch Über die Einsamkeit des Sterbenden in unseren Tagen schrieb Norbert Elias bereits 1982: Die rituellen Floskeln der alten Gesellschaft, die die Bewältigung kritischer Lebens-situationen erleichterten, klingen für das Ohr vieler Menschen abgestanden und falsch. An neuen Ritualen, die dem gegenwärtigen Empfindens- und Verhaltensstandard entsprechen und die Bewältigung wiederkehrender kritischer Lebenssituationen erleichtern können, fehlt es noch. (Elias 1982, 40)
Unverkennbar ist allerdings, dass sich die Bestattungsformen mehr und mehr, wenn auch zögerlich, der Pluralisierung der Bestattungswünsche anpassen. Wie weit diese Pluralisierung geht, stellte sich eindrucksvoll in einer Befragung von ungefähr 1.000 Personen heraus, bei der von den ca. 40 % der Befragten, die sich eine Feuerbestattung wünschten, sieben verschiedene Formen der Bestattung der Asche genannt wurden, wobei sich nur die Hälfte der Befragten für die konventionelle Urnenbestattung auf einem Friedhof entschied (Gernig 2011, 115 ff.). Auch wenn die Vielfalt der in den Interviews geäußerten Wünsche die am Lebensende tatsächlich getroffene Wahl weit übersteigt und der „Ritualpluralismus“ (Meitzler 2013, 276) in der Realität sehr viel geringer ausfällt als in den geäußerten Wünschen, stellt sich die Frage, wie weit eine Diversifizierung von Ritualen überhaupt mit Begriff und Idee des Rituals vereinbar sein kann: Ist eine „Multioptionalität“ von Riten nicht eine contradictio in adjecto? Gehören zum Ritus nicht wesentlich Verbindlichkeit, Einheitlichkeit und Objektivität? Diese Frage ist im Ansatz berechtigt. Aber die Funktionen von Ritualen erfordern keine strenge Einheitlichkeit. Die Funktionen von Ritualen werden durch eine Pluralisierung nicht beeinträchtigt. An die Stelle verbindlicher Rituale tritt ja keineswegs vollständige Anarchie, und auch ganz oder weitgehend säkularisierte Rituale bleiben Rituale. Individualisierende Elemente spielen im Übrigen auch in den bisher üblichen Ritualen eine Rolle, etwa bei protestantischen Begräbnissen mit ihrer Vergegenwärtigung der individuellen Persönlichkeit des Verstorbenen. Jeder macht sich ein individuelles Bild von Leben und Sterben. Es ist ein Teil seiner höchstpersönlichen Lebensanschauung. Sie sollte sich auch in den öffentlichen Bekundungen von Anteilnahme und Trauer ausdrücken. Der Wunsch der Konservativen nach Übersichtlichkeit ist verständlich. Aber schwerer wiegt die Autonomie des Einzelnen in Dingen, die ihn höchstpersönlich betreffen. Sie ist aus einer „offenen“ und durchweg hochgradig individualistischen Gesellschaft nicht wegzudenken.
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7 Der tote Körper
Natürlich hat auch die Vielfalt Grenzen. So muss etwa der kulturell definierte expressive Bezug der Sphäre von Begräbnis und Trauer gewahrt bleiben, z. B. in unserer Kultur entsprechende Kleidung als Erkennungszeichen von Trauernden. Darüber hinaus sollten so weit wie möglich die vorherrschenden Pietätsnormen beachtet werden. Ein weiterer Aspekt ist der ästhetische. Gegenwärtig führt die Vervielfältigung des Angebots an Bestattungsformen nicht überall auch zu einer ästhetischen Bereicherung. Friedhöfe, Friedwälder und andere Orte, in denen Menschen bestattet werden oder an denen ihrer gedacht wird, könnten durch ihre harmonische und ästhetisch gelungene Gestaltung noch stärker als bisher dazu beitragen, die Besinnung auf die alten und neuen Fragen von Tod und Sterblichkeit zu ermöglichen – eben diejenigen Fragen, die die Philosophie von Anfang an begleitet haben und weiter begleiten.
Anmerkungen Kapitel 2 1 Man könnte hinzufügen dass die Uneinheitlichkeit der Legaldefinition des menschlichen Embryos in verschiedenen in Deutschland geltenden Gesetzen bereits verwirrend genug ist. 2 Die Vertreter dieser Definition gelten vielfach auch als Vertreter eines „Teilhirn-“ oder „Kortikaltodkriteriums“, nach dem ein Mensch tot ist, wenn die Funktionsfähigkeit seines Großhirns irreversibel verloren gegangen ist. Damit ist diese Position aber nicht eindeutig getroffen. Viele Vertreter dieser Position sind der Auffassung, dass das Erfülltsein dieser Definition als Todeskriterium ein Ganzhirntodkriterium benötigt, da nur dies den Funktionsausfall des Großhirns mit hinreichender Sicherheit belegen könne. Für die Praxis würde es also keinen Unterscheid machen, ob dem rechtlich geltenden Hirntodkriterium diese oder eine der häufiger vertretenen Todesdefinitionen zugrunde gelegt wird. 3 Auffällig ist, dass sich diese Diskussion zunächst weitgehend auf die USA beschränkte, In der europäischen Medizinethik ist die Debatte nur ganz vereinzelt aufgegriffen worden. Auch die europäischen wissenschaftlichen Gesellschaften und ärztlichen Standesorganisationen haben sie weitgehend ignoriert. So verzichten die Autoren der im Mai 2011 novellierten Richtlinien zum Hirntod der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften nicht nur darauf, sich mit den Argumenten des Weißbuchs des President’s Council auseinanderzusetzen, sondern erwähnen es nicht einmal. 4 Die vom Council gewählten Formulierungen erinnern an die Naturphilosophie des 19. Jhds., etwa an die von Schelling für die Lebendigkeit geforderten Bedingungen der Rezeptivität und der Tätigkeit (vgl. Schelling 1858, 304). 5 Der Rekord für ein „Langzeitüberleben“ eines Hirntoten lag Shewmon zufolge 2001 bei 14½ Jahren (Shewmon 2002, 305). Der Patient war im Alter von vier Jahren an Meningitis erkrankt, hatte seine Gehirnfunktion eingebüßt und war seitdem von seiner Mutter gepflegt worden.
Kapitel 5 1 „B“ deshalb, weil wir von ihr nicht voraussetzen können, dass sie mit A identisch ist.
Kapitel 7 1 Vgl. den oben zitierten Bericht des Ehemanns einer hirntoten Frau, die als Hirntote ein gesundes Kind zur Welt gebracht hat (Siegel 1993).
DOI 10.1515/978-3-11-053449-8-008
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Namenregister A Ariès, Philippe 81 Aristoteles 48, 139 Árnason, Vilhjálmur 73 Averill, James R. 140 B Bacon, Francis 81 Baudrillard, Jean 82 Beckmann, Max 128 Bentham, Jeremy 162 Berbner, Bastian 44 Berkeley, George 17 Bernstein, Ossip 9, 169 Birnbacher, Dieter 38, 70, 86, 94, 138 Bockenheimer-Lucius, Gisela 8 Bormann, Franz-Josef 74 Brahms, Johannes 65 Brandt, Richard B. 138 Brockmeier, Jens 48 Brody, Baruch D. 26 Broeckhoven, Diane 161 C Callahan, Daniel 74, 75 Chabot, Boudewijn 98 Chopin, Frédéric 146 Christman, John 48 Claudius, Matthias 136 Cruzan, Nancy 23 Culver, Charles M. 11 D Decety, Jean 141 DeGrazia, David 18 de Grey, Aubrey 58 Demokrit 69, 78, 132 de Ridder, Michael 82, 83 Descartes, René 25, 111 Deutscher Ethikrat 14, 146 Dicke, Ursula 18 Diderot, Denis 72 Diogenes Laertius 69, 78
Dörries, Andrea 86 Dostojewski, Fjodor 139 Dreßke, Stefan 80 Duckworth, Dyce 8 E Ekman, Paul 140 Elias, Norbert 80, 171 Epikur 81, 131, 137, 139, 141, 142, 143, 145, 149 F Finlay-Jones, Robert 141 Freeman, Mark 48 Frevert, Ute 141, 143 Fündling, Jörg 69 G Geach, Peter 119 Gernig, Kerstin 171 Goethe, Johann Wolfgang 160 H Hainz, Tobias 58 Hardwig, John 75 Harré, Rom 141 Harris, John 58 Heidegger, Martin 128, 130, 131, 132, 134, 135 Hippokrates 102 Hochschild, A. R. 140 Hume, David 72, 120 I Illich, Ivan 3, 81, 82 J Jäger, Christoph 140 Jean Paul 47 Jens, Tilman 76 Jonas, Hans 10, 146 Jox, Ralf J. 66, 76, 176, 177
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Namenregister
K Kanfer, Frederick H. 138 Kant, Immanuel 17, 59, 71, 72, 117, 123, 166, 169 Kass, Leon 58 Kierkegaard, Sören 131, 132, 133, 134, 135 Knell, Sebastian 58 Kollwitz, Käthe 68 Krones, Tanja 14 L Lamb, David 8 Lenin, Wladimir Iljitsch 162 Lob-Hüdepohl, Andreas 79 Locke, John 115 Lock, Margaret 14 Lukrez 137, 141, 145, 153, 154 M MacIntyre, Alisdair 48 Mackie, John L. 151 Madea, Burkhard 79 Mann, Thomas 42 Mao Dse Dong 71 Marc Aurel 69 McMahan, Jeff 19, 23, 24 Meitzler, Matthias 171 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 149 Miller, Franklin G. 33 Mill, John Stuart 131 Mills 131 Momeyer, Richard W. 77 Montaigne, Michel de 72 Montherlant, Henri de 136 Morus, Thomas 73 Munch, Edvard 128 N Nagel, Thomas 1, 149, 154 Nauck, Friedemann 92 Nietzsche, Friedrich 49, 50, 52, 59, 72, 73, 75, 131, 137 Nuland, Sherwin B. 82 P Parfit, Derek 118, 119 Paulsen, Friedrich 71
Payne, S. A. 78 Penelhum, Terence 111, 112 Platon 109 Pöhling, Julian 118 President’s Council on Bioethics 32, 33, 35 R Rae, Michael 58 Raz, Aviad E. 93 Ricoeur, Paul 48 Rilke, Rainer Maria 129 Rosenberg, Jay F. 116 Roth, Gerhard 18 Rothschild, Markus 79 S Sadam Hussein 169 SAMW 40 Sanner, Margareta A. 146 Sartre, Jean-Paul 130 Savigny, Friedrich Carl von 8 Scheler, Max 81 Scherer, Georg 111 Schicktanz, Silke 93 Schiller, Friedrich 160 Schlick, Moritz 119 Schopenhauer, Arthur 1, 60, 71, 72, 117, 118, 128, 135, 137, 142, 150, 153, 154, 156 Schrödinger, Erwin 121 Schumacher, Bernard N. 154 Schweitzer, Albert 54, 91, 98 Seneca, L. Annaeus 76, 127 Seymour, Jane Elizabeth 81 Shakespeare, William 148 Shaw, George Bernard 90 Shewmon, Alan 31, 32 Shoemaker, Sidney 115 Siegel, Daniel J. 15, 141, 173 Simmel, Georg 52, 128, 129 Sokrates 109, 120, 154 Sperber, Manès 127 Spinoza, Benedictus de 58, 137, 138, 139 Stearns, Peter N. 143 Stocker, Michael 141 Stoecker, Ralf 27 Stubenberg, Leopold 119 Swinburne, Richard 114
Namenregister
T Thomas Morus 49 Thomas von Aquin 111 Tugendhat, Ernst 156 V Veatch, Robert M. 22, 163 Verble, Margaret 150
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W Weiller, Cornelius 40 Williams, Bernard 55, 56, 57, 58, 115, 116, 119 Wittgenstein, Ludwig 47, 71, 154 Wittwer, Héctor 162 Y Yalom, Irving D. 156, 157 Z Zaner, Richard M. 29
Sachregister A Angst 134 ff. B Behandlungsbegrenzung 97 Bestattung 169 ff. Biologizität 17 ff. D Dead donor rule 28 ff., 41 Diskontintuität 110 ff. E Eindeutigkeit 25 ff. Einheitlichkeit 21 ff. Emotionen 134 ff. Emotionskritik 137 ff. Endgültigkeit 41 ff., 105 ff. Endlichkeit 127 ff. Erlebnisbezogene Todesfurcht 144 ff. Existenzphilosophie 135 ff. F Fortexistenz 109 ff. Fürsorgepflicht 89 ff. G Ganzkörper-Freezing 8, 27, 44, 57, 107 f. H Hirntod 8 ff., 145 ff. Hirntodschwangerschaft 15 Hoffnung 123 ff. I Identität 110 ff Indikation 85 ff. Individualität des Todes 129 f. Irreversibilität 39 ff. K Kreatürliche Todesfurcht 155 ff.
L Lebensbeendigung 67 ff. Lebensbewertung 63 ff. Leichnam 159 ff. M Menschenwürde 165 ff. Mittelstandards 87 ff. N Narrative Identität 48 „Natürliche Lebensspanne“ 73 ff. „Natürlicher“ Tod 79 ff. Nicht-erlebnisbezogene Todesfurcht 149 ff. Non-heart-beating donor 27 ff., 39 ff. O Organentnahme vom Hirntoten 27 ff. P Pietät 162 ff. Pietätspflichten 164 ff. R Ritual 170 ff. S Selbstbestimmungsrecht 89 ff. Sterbebegleitung 92 f. Sterbefasten 68 ff., 98 Sterbehilfe 91 ff. Sterbensideale 76 ff. Suizid 69 ff. Symmetrie 19 ff., 153 f. T Todesbewertung 51 Todesdefinition 7, 11 ff. Todesfurcht 143 ff. Todeskriterien 7, 11 ff. Todeszeitpunkt 59 ff. Tötung auf Verlangen 69 Transplantationsgesetz 13 ff.
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Sachregister
U Unsterblichkeit 52 ff. W Wohlbefinden 51 Würde 62 ff. Wunscherfüllung 51
Z Zielstandards 87 ff.