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German Pages 182 Year 1990
Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft
Band 45
Grundlagen der Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR Von
Heinz Hetmeier
Duncker & Humblot · Berlin
HEINZ HETMEIER
Grundlagen der Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR
Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Herausgegeben im Auftrag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Hans-Uwe Erichsen Dr. Helmut Kollhosser Dr. Jürgen Welp
Band 45
Grundlagen der Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR
Von
Heinz Hetmeier
Duncker & Humblot - Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Hetmeier, Heinz: Grundlagen und Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR / von Heinz Hetmeier. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft; Bd. 45) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1989/90 ISBN 3-428-06889-0 NE: GT
D 6 Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0935-5383 ISBN 3-428-06889-0
Vorwort Als ich - einer Anregung von Herrn Prof. Dr. Schlüter folgend - zu Anfang des Jahres 1988 begann, mich mit den Grundlagen der Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR zu befassen, konnte ich noch nicht ahnen, welch tiefgreifende Veränderungen sich in der DDR während der Bearbeitungszeit einstellen würden. Zunächst ging die Zielsetzung der Arbeit deshalb nur dahin, die Verbindungslinie zwischen den Regelungen des Erbrechts und den jeweiligen Gesellschaftsordnungen aufzuzeigen sowie deren konkrete Auswirkungen im Gesetz nachzuweisen. In der jetzigen Situation ist diese Frage allerdings kaum noch von Interesse. Angesichts des vorwärtsdrängenden Strebens nach der deutschen Einheit rückt vielmehr eine ganz andere, ungleich wichtigere Frage in den Vordergrund. Denn die Einheit der Deutschen bedarf einer Angleichung der Lebensverhältnisse - und dazu gehört auch die Angleichung der Rechtsordnungen. In welcher Zeitspanne diese schwierige Aufgabe verwirklicht werden kann, ist trotz der von der Regierung Modrow signalisierten Bereitschaft dazu noch unklar. Jedenfalls wird neben einer entsprechenden politischen Willensbildung auf beiden Seiten dabei auch zu klären sein, welche grundsätzlichen Überlegungen hinter den jeweiligen Gesetzesvorschriften stehen. Insofern könnte die vorliegende Arbeit in bezug auf das Erbrecht eine Hilfestellung sein und so vielleicht einen kleinen Beitrag für den Prozeß des Zusammenwachsens beider Teile Deutschlands liefern. Die Arbeit hat dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Wintersemester 1989/90 als Dissertation vorgelegen. Neuere Literatur aus der DDR wurde, soweit möglich, bis Januar berücksichtigt. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Schlüter, der die Arbeit angeregt und betreut hat. Ebenso habe ich Herrn Prof. Dr. Petev für die Erstellung des Zweitgutachtens und der Friedrich Ebert Stiftung für die finanzielle Unterstützung während der Bearbeitungszeit zu danken. Münster, im Februar 1990
Heinz Hetmeier
Inhalt 1, Abschnitt Einführung A. Abriß der geschichtlichen Entwicklung des Eibrechts I. Altgermanische Zeit
13 14 15
IL Fränkische Zeit
16
III. Hoch- und Spätmittelalter
19
IV. Aufklärung und Liberalismus
23
B. Eihrechtsentwicktimg im ScraalisiniB
26
2 Abschnitt Die Grundlagen der Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland A. Begründung der Privaterbfdgp bei Erlaß des BGB
31 32
I. Von der Naturrechtsphilosophie der Aufklärung bis zum deutschen Idealismus oder Eigentumsschutz contra Familienbindung
32
1) Die Begründung des Erbrechts in der Aufklärung
32
2) Der Einfluß des deutschen Idealismus
35
II. Das Erbrecht und die soziale Frage
38
III. Kommissionsberatungen und Motive
41
1) Die Behandlung der sozialen Frage im Gesetzgebungsverfahren 2) Inhaltliche Begründung des Erbrechts im Gesetzgebungsverfahren a) Ausgangspunkt der Teilmotive zum Erbrecht
42 46 47
8
Inhalt b) Der Gang der Beratungen der 1. Kommission
48
c) Stellungnahme der 2. Kommission
49
IV. Die Grundlagen der Privaterbfolge in der Ausgestaltung des Erbrechts
51
1) Das Pflichtteilsrecht zwischen Testierfreiheit und Familienerbfolge
51
2) Der Vorrang der Verfügungsfreiheit in anderen erbrechtlichen Rechtsinstituten
53
a) Testamentsvollstreckung
53
b) Vor-und Nacherbfolge
55
c) Rechtsgeschäfte unter Lebenden auf den Todesfall
56
B. Die Grundlagen der Privaterbfolge nach der Wertordnung des Grundgesetzes . . . . I. Gewährleistung und Grenzen der Privaterbfolge nach Art. 14 GG
59 60
1) Die Privaterbfolgegarantie des Art. 14 I 1 GG
60
2) Schranken der Privaterbfolge als Ausdruck des Sozialstaatsprinzips
63
II. Inhaltliche Leitideen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Privaterbfolge
. . 66
1) Art.14 I 1 GG und die Testierfreiheit
67
2) Verfassungsrechtlicher Schutz der Familienerbfolge
70
a) Meinungsstand in der Literatur
71
b) Verfassungsrechtlicher Schutz der Familienerbfolge durch Art. 14 I 1 GG ?
75
c) Art. 6 I GG als Schutznorm der Familienerbfolge
80
C. TiiMmnipnfatMiiig
85
3. Abschnitt Die Grundlagen der Privaterbfolge in der DDR A. Überblick über die Nonnen des Erbrechts in der DDR I. Verfassungsrechtliche Garantie der Privaterbfolge II. Grundzüge des einfachgesetzlichen Erbrechts im ZGB
90 91 91 93
Inhalt 1) Gesetzliche Erbfolge
94
2) Gewillkürte Erbfolge
96
3) Das Pflichtteilsrecht
98
III. Das Erbschaftssteuerrecht
B. Beschränkung der Privaterbfolge durch die Eigpntumsveriassung
100
102
I. Das marxistische Eigentumsverständnis als Grundlage der Eigentumsverfassung der DDR 103 II. Das sozialistische Eigentum 1) Die Arten des sozialistischen Eigentums
106 106
a) Volkseigentum
106
b) Genossenschaftliches Eigentum
107
c) Eigentum der gesellschaftlichen Organisationen
109
2) Sozialistisches Eigentum und Erbrecht III. Die Arten des Individualeigentums als Gegenstand des Erbrechts
110 112
1) Persönliches Eigentum
113
2) Das Eigentum der kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden
115
3) Das (kapitalistische) Privateigentum
117
IV. Zwischenbilanz
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum I. Marx, Engels und das Erbrecht II. Die Begründung des Erbrechts in der DDR 1) Gestaltungsvorschläge vor der Erarbeitung des ZGB
118
121 123 126 127
a) Gesetzliche Erbfolge und Testierfreiheit
127
b) Rechtfertigung der Privaterbfolge im Sozialismus
130
2) Grundlagen des Erbrechts im ZGB
133
a) Gesetzesmaterialien zum ZGB
133
b) Begründung der Privaterbfolge nach Erarbeitung des ZGB
137
(1) Vorrang von Eigentumsschutz und Verfügungsfreiheit
137
Inhalt
10
c) Hinbindung des Erbrechts in die sozialistische Gesellschaftsordnung . . . . 143 (1) Die Bedeutung des sozialistischen Leistungsprinzips
143
(2) Die funktionale Verbindung zwischen dem sozialistischen Leistungsprinzip und dem persönlichen Eigentum
149
d) Die Ausrichtung der Privaterbfolge am sozialistischen Leistungsprinzip und am persönlichen Eigentum in den Normen des Erbrechts (1) Verfassungsrecht (2) Erbrecht des ZGB (3) Ërbschaftssteuerrecht
154 155 153 159
D. Zraaftimrtiftmmng
161
Literatuiveratehiiis
165
Abkurzungsverzeichms AK
Alternativkommentar zum Grundgesetz
BK
Bonner Kommentar zum Grundgesetz
DA
Deutschland - Archiv
DZPhi
Deutsche Zeitschrift für Philosophie (DDR)
E
Entscheidung
EGFGB
Einführungsgesetz zum Familiengesetzbuch vom 20.12.1965
Einl.
Einleitung
FGB
Familiengesetzbuch vom 20.12.1965
GBL DDR
Gesetzblatt der DDR
LPG
Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften
LPG-G
Gesetz über die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften vom 2.7.1982
MDH
Maunz/Dürig/Herzog
MEW
Mane - Engels - Werke; Gesamtausgabe herausgegeben vom Institut für
MüKo
Münchener Kommentar
NJ
Neue Justiz; Zeitschrift für sozialistisches Recht und Gesetzlichkeit
Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED
NRG
Gesetz über die Verleihung von Nutzungsrechten an volkseigenen Grundstücken (Nutzungsrechtsgesetz)
Rpfl
Der Deutsche Rechtspfleger
SED
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
StuR
Staat und Recht (Zeitschrift DDR)
TE
Teilmotive zum Erbrecht des Erbrechtsredaktors von Schmitt
u.a.
und andere
Verf DDR
Verfassung der DDR vom 6.4.1968 in der Fassung vom 7.10.1974
ZGB
Zivilgesetzbuch der DDR vom 19.6.1975
Im übrigen verweise ich auf Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache; 4. Auflage, Berlin New York 1988
1. Abschnitt
Einführung Das Erbrecht gehört zu den Rechtsgebieten, deren Grundprinzipien im Bewußtsein der Bevölkerung verankert sind. Das hat vor allem zwei Gründe. Einerseits betrifft das Erbrecht alle Menschen, weil sich wohl jedermann mit der Frage auseinandersetzt, was mit seinem Vermögen nach dem Tode geschehen soll. Dadurch drängt sich die Notwendigkeit auf, diesem Rechtsgebiet eine gewisse Aufmerksamkeit zu schenken. Ein zweiter Grund ist darin zu sehen, daß sich die Grundstruktur des Erbrechts über Jahrhunderte nicht verändert hat und insoweit eine bemerkenswerte Beständigkeit aufweist. Es verwundert deshalb nicht, wenn breiteste Bevölkerungskreise um die Existenz der Testierfreiheit, der gesetzlichen Erbfolge und des Pflichtteilsrechtes wissen und wenn zum Teil sogar Detailkenntnisse etwa über die Höhe des Pflichtteilsanspruchs oder die Testamentsformen vorhanden sind. Die Existenz der Privaterbfolge erscheint dabei als ein selbstverständliches Faktum, das keiner gesonderten Erwähnung wert ist. Diese an sich erfreuliche Erscheinung legt die Vermutung nahe, daß die Grundzüge des Erbrechts, also die Privaterbfolge in ihrer Ausgestaltung durch die Testierfreiheit und das gesetzliche Erbrecht nebst dem Pflichtteilsrecht, sozusagen naturgegeben sind und einen unumstößlichen Ewigkeitswert besitzen, der nicht ernsthaft in Frage gestellt werden könnte. Jedoch zeigt schon ein Blick in die Erbfolgeordnungen anderer westeuropäischer Staaten, daß hinsichtlich dieser Grundprinzipien durchaus auch andere Lösungen möglich sind. So kennt das englische Recht beispielsweise kein Pflichtteilsrecht im eigentlichen Sinne7. Es wurde dort im 19. Jahrhundert abgeschafft.
1
Staudinger-Boehmer,
Einl. zu § 1922, § 15 Rn 8.
14
1. Abschnitt Einführung
Versuche aus den Jahren 1928 und 1931 zu einer Wiedereinführung blieben erfolglos 2. Erst 1976 trat ein Gesetz in Kraft, das den Ehegatten und den Abkömmlingen des Erblassers einen unentziehbaren Unterhaltsanspruch gegen den Nachlaß gewährt, sofern die genannten Personen zu Lebzeiten des Erblassers Unterhalt von diesem fordern konnten5. Dem Grundsatz nach herrscht also eine unbeschränkte Testierfreiheit. Umgekehrt gibt das französische Recht den Familienangehörigen eine weit stärkere Stellung, die auch über die Regelung des BGB hinausgeht. Nach dem code civil ist den nächsten Familienangehörigen statt eines Geldanspruchs gegen die Erben ein Teil aus dem Bestand der Erbmasse unentziehbar vorbehalten (réserve). Der Testierfreiheit des Erblassers unterliegt nur eine Quote seines Vermögens (quotité disponible)^. Wieder anders ist die Rechtslage etwa in den USA. Dort haben - je nach Einzelstaat verschieden - Ehegatten oder Kinder ein Besitzrecht am Nachlaß oder ein Nießbrauchsrecht am Familienheim, um sie vor testamentarischen Verfügungen des Erblassers zu schützen5. Diese Beispiele zeigen, daß bereits die geltenden Erbordnungen das relativieren, was uns nach dem Erbrecht des BGB als selbstverständlich erscheint.
A. Abriß der geschichtlichen Entwicklung des Eibrechts
Die mögliche Vielfalt rechtlicher Wertentscheidungen über die Erbfolge zeigt sich um so deutlicher, wenn man sich die geschichtliche Entwicklung des Erbrechts vor Augen führt. Schon ein Blick in die jüngere Vergangenheit belegt, daß die Herausbildung des Erbrechts als
2
Staudinger-Boehmer,
3
Ferid/Firsching,
Bd. III Großbritannien, Rn 230.
4
Ferid/Firsching,
Bd. II Frankreich, Rn 215.
5
Ferid/Firsching,
Bd. V I USA, Rn 93.
Einl. zu § 1922, § 15 Rn 8.
Α. Abriß der geschichtlichen Entwicklung des Erbrechts
15
ein formal eigenständiges Rechtsgebiet jüngeren Datums ist. Erst im Gefolge der Pandektistik wurde das Erbrecht ab Mitte des 19. Jahrhunderts als gesondertes Rechtsgebiet ausgewiesen6. Das sächsische BGB aus dem Jahre 1863 war die erste Kodifikation, die dem Erbrecht zu formaler Eigenständigkeit verhalf. Davor war es der Institutionenordnung eingegliedert, so daß sich die Vorschriften über die Rechtsnachfolge im Todesfall vor allem in den Regelungen des Eigentumserwerbs und der Familie fanden 7. Über diesen formalen Gesichtspunkt hinaus zeigt ein Rückblick in die ältere Geschichte, wie sich die heute anzutreffenden Grundstrukturen des Erbrechts allmählich in Abhängigkeit von den jeweils vorherrschenden Lebensverhältnissen entwickelt haben.
L Altgermanische Zeit
Für die altgermanische Zeit* kann von einem Erbrecht im heutigen Sinne noch gar nicht gesprochen werden. Eine Nachfolge in die Rechtsund Pflichtenstellung verstorbener Personen war zu dieser Zeit unbekannt. Sie setzt voraus, daß die Einzelperson überhaupt als Träger von Rechten und Pflichten begriffen wird. Daran fehlte es, weil der Mensch nicht als Individuum, sondern allein als Teil der Gemeinschaft gesehen wurde9. Die Güter des Lebensbedarfs befanden sich deshalb - soweit sie nicht ohnehin als Allmende jedermanns Nutzung offenstanden iö - im
6
Staudinger-Boehmer,
7
So war es etwa im Preuß. ALR; vgl. Staudinger-Boehmer,
Einl. zu § 1922, § 1 Rn 13. Einl. zu § 1922, § 1 Rn 7.
* Die Einteilung folgt der herkömmlichen Zeitengliederung, wie sie in der Rechtsgeschichte vorgenommmen wird. Die altgermanische Zeit umfaßt die Epoche bis etwa 500 n. G 9
Mitteis/Lieberich,
Rechtsgeschichte S. 23.
Der größte Teil von Grund und Boden war zu dieser Zeit nicht in Sondereigentum. Größere Landnahmen erfolgten erst in späterer Zeit. Vgl. Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte S. 27.
16
1. Abschnitt Einführung
Gesamteigentum von Sippe und Familie22. Als solches blieb es auch im Generationswechsel bestehen, Todeseintritt oder Geburt hatten darauf keinen Einfluß, solange nur die Familiengemeinschaft fortlebte. Allein Gegenstände des persönlichen Bedarfs wie Schmuck, Kleidung oder Waffen waren rechtlich der Einzelperson zugeordnet. Erbrechtliche Relevanz hatte dieser Umstand aber schon deshalb nicht, weil diese Gegenstände den Toten mit ins Grab gegeben wurden, um sie gemäß heidnischem Mythos auf ihrem Weg ins Jenseits zu begleiten72. Eine Testiermöglichkeit war demgemäß mangels individuellen Vermögens unbekannt. Von Erbrecht kann für diese Zeit auch nur insofern gesprochen werden, als die Familiengüter jeder neuen Generation durch Geburt in die Familiengemeinschaft zuwuchsen2^. Diese Form von Erbrecht entsprach den damaligen Lebensbedingungen. Die Familiengemeinschaft konnte angesichts der schwierigen Lebensumstände nicht daran denken, existenznotwendige Güter aus der Gemeinschaft wegzugeben. Der Fortbestand der Familie wäre dadurch in Frage gestellt worden. Die strenge Familienbindung der Güter war also nichts anderes als eine zweckentsprechende Absicherung der damals vorherrschenden Lebensform.
Π. Fränkische Zeit
Bereits mit der Eroberung weiter Teile Europas durch das Römische Reich, insbesondere aber mit Einsetzen der Völkerwanderung7*, wurden
11
Mitteis/Lieberich,
1 2
Hesse, Einfluß S. 10.
S. 28.
Wenn Wegmann (Die Begründung des Erbrechts im 19. Jahrhundert S. 3) wegen Fehlens einer Übertragung von Rechten und Pflichten die Existenz eines Erbrechts zu dieser Zeit leugnet, so ist das nicht sachgerecht. Diese Argumentation geht vom heutigen Erbrechtsverständnis aus. Unter Erbrecht müssen dagegen alle Rechtsnormen verstanden werden, die den Einfluß des Todes auf die Rechts- und Pflichtenstellung der Menschen regeln. Vgl. zu dieser Definition Schlüter, Erbrecht S. 2. ^ Der Beginn der Völkerwanderung wird allgemein im Jahre 375 n. C. gesehen. Vgl. Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte S. 50.
Α. Abriß der geschichtlichen Entwicklung des Erbrechts
17
tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen eingeleitet. Sie führten in fränkischer Zeit 7 5 zusammen mit anderen Faktoren zu einer nachhaltigen Wandlung der Lebensbedingungen. Die Ansammlung von Grundbesitz wurde dadurch ermöglicht, daß einerseits die Bevölkerungszahlen merklich schwankten und andererseits immer mehr Grund und Boden im Wege der Landnahme aus der Allgemeinnutzung als Allmende in Sondereigentum überführt wurde 76. Daneben erhöhte und verbesserte sich die Herstellung lebensnotwendiger Güter durch den Einsatz weiterentwickelter Werkzeuge. Die Existenzbedingungen der Menschen besserten sich; gleichzeitig vertiefte sich aber die Ungleichheit von Kleinbesitz und großen Ländereien. Kleinbauern waren daher zum Teil gezwungen, sich zur Existenzsicherung in den Dienst reicher Grundbesitzer zu stellen und den eigenen Grund und Boden ihren neuen Herren zu überschreiben77. Der sich dadurch herausbildende Großgrundbesitz entwickelte sich zu einer wirtschaftlichen Macht, die gleichzeitig die Grundlage für die politische Macht der entstehenden Adelsschichten bildete75. Auf der anderen Seite brachte diese Entwicklung eine Unterteilung der Menschen in Freie und Unfreie je nach Lage der Besitzverhältnisse; die Ansätze zur im Mittelalter aufkommenden Grund- und Lehnsherrschaft waren damit gelegt79. Die Bedeutung der Familien- und Sippenbindung für die Gesellschaftsstruktur nahm dadurch ab. Sowohl ökonomisch als auch gesellschaftlich - politisch waren also die Grundlagen geschaffen, eine Veränderung des Erbrechts zu ermöglichen. Sie vollzog sich zunächst durch eine Lockerung des Familienerbrechts. War in germanischer Zeit die Familienbindung auf die Blutsverwandten beschränkt, so daß ein Erbrecht nur innerhalb des Familienstammes existierte, so wurde später die Möglichkeit eröffnet, auch außenstehende Personen in die Familiengemeinschaft aufzunehmen, um sie in die
7 5 von etwa 500 bis 888 n. C., als das fränkische Reich auseinanderfiel; vgl. Gmür, Grundriß S. 13. 7 6
Mitteis/Lieberich,
1 7
Hülle, Rechtsgeschichte S. 27.
1 8
Köhler, Rechtsgeschichte S. 87.
1 9
Vgl. Mitteis/Lieberich,
Rechtsgeschichte S. 57.
Rechtsgeschichte S. 80 ff.
18
1. Abschnitt Einführung
Erbfolge einzubeziehen20. Davon wurde insbesondere dann Gebrauch gemacht, wenn der Familie Nachkommen fehlten, die das Vermögen hätten übernehmen können. Die Abhängigkeit des Erbrechts von der Blutsverwandtschaft war damit durchbrochen. Die römische Eroberung brachte zudem den Einfluß der römisch-rechtlichen Erbfolgeordnung, die bereits seit den Zwölf - Tafel - Gesetzen durch die Zulassung der Testierfreiheit geprägt war 27 . Dieser Einfluß beschränkte sich jedoch zunächst auf die von den Römern gegründeten Städte, ohne darüber hinaus Verbreitung zu finden. Der Einfluß der Kirche entfaltete aber die Triebkräfte, die die ersten Ansätze der Testierfreiheit breiteren Bevölkerungskreisen nahebrachte. Sie nutzte dazu die heidnischen Vorstellungen der Menschen, wonach dem Toten die Gegenstände des persönlichen Bedarfs ins Grab gegeben werden mußten, um ihn auf seinem Weg ins Jenseits zu begleiten. Mit der Christianisierung nahm die Kirche für sich die Aufgabe in Anspruch, für das Seelenheil der Toten zu sorgen. Persönliche Gebrauchsgegenstände sollten den Verstorbenen deshalb nicht mehr als Totenteil ins Grab gelegt, sondern der Kirche überlassen werden, auf daß diese die Seel-Sorge für die Toten übernehme22. Dies geschah durch lebzeitige Schenkung auf den Todesfall, kam in seiner Wirkung aber einer Verfügung von Todes wegen gleich25. Der Grundstein für die Zulassung der Testierbefugnis war damit gelegt. Zunächst konnte sich der Seelteil der Kirche nur auf die bewegliche Habe erstrecken. Die Bindungen der Familie an ihren Grund und Boden waren noch zu stark. Auf Druck der Kirche hin durften ihr später auch Teile der Familiengrundstücke zur "Sicherstellung" der Seelsorge überschrieben werden24. Für kirchenangehörige Priester galt
2 0
Hesse, Einfluß S. 9 f.
2 1
Staudinger-Boehmer,
2 2
Gmür y Grundriß S. 24 f.
Einl. zu § 1922, § 14 Rn 5.
2 3
Geschichtlich fußt die Testierfreiheit ohnehin auf der Rechtsform der Schenkung unter Lebenden auf den Todesfall. Das gilt sowohl, wie hier dargelegt, für das deutsche Recht als auch für das römische Recht. Vgl. Lange, Erbrecht S. 461; Schlüter, Erbrecht S. 494. 2 4
Hesse, Einfluß S. 30; Gmür, Grundriß S. 24 f.
Α. Abriß der geschichtlichen Entwicklung des Erbrechts
19
eine weitergehende Verfügungsfreiheit, um deren Vermögen aus der familiären Bindung zu lösen und dem Kirchenbesitz einzuverleiben25. Insgesamt betrachtet bedeutet dies allerdings nicht, daß in fränkischer Zeit die Familienerbfolge als Grundprinzip des Erbrechts abgelöst worden wäre. Vermögensgüter blieben auch weiterhin beim Tode eines Menschen zum weitaus größten Teil in familiärer Bindung. Die aufgezeigten Entwicklungstendenzen waren nicht mehr als ein allmählicher, von der Kirche vorangetriebener Prozeß in Richtung auf die Herausbildung individueller Verfügungsfreiheit für den Todesfall, der durch die verbesserte Güterversorgung der Bevölkerung und den Bedeutungsverlust der Familie als wichtigster Organisationseinheit der Gesellschaftsordnung sowohl eine ökonomische als auch eine geistig - kulturelle Grundlage hatte. Der Boden für das Aufkommen der Testierfreiheit war damit bereitet.
HL Hoch- und Spätmittelalter
Zu der in fränkischer Zeit begonnenen Hierarchisierung der Gesellschaft gesellte sich im Hoch- und Spätmittelalter20 eine verstärkte regionale Differenzierung der Lebensverhältnisse. Die Großfamilie beschränkte sich nicht mehr allein darauf, als autarke Produktions- und Wirtschaftseinheit zu dienen. Die Vorzüge arbeitsteiligen Wirtschaftens wurden erkannt, seitdem sich auf der Basis verbesserter Versorgung und verfeinerter Werkzeuge die Möglichkeit ergab, über den eigenen Bedarf hinaus zu produzieren 27. Mit der Spezialisierung der Arbeit gewann der Tauschhandel an Bedeutung, der im ländlichen Raum zunächst einen hinreichenden
2 5 Zu den Methoden der Kirche zur Vermehrung ihres Besitzes vgl. Hesse, Einfluß S. 31 mwN. 2 6
Dies betrifft den Zeitabschnitt von etwa 900 n. C. bis 1500 n. C. Vgl. Gmür, Grundriß S. 26 und 40. 2 7
Vgl. dazu Köhler, Rechtsgeschichte S. 108.
20
1. Abschnitt Einführung
Güterverkehr sicherstellen konnte. Jedoch entstanden im 11. und 12. Jahrhundert immer mehr Städte25. Sie entwickelten sich zu Handelszentren, in denen über den Tauschhandel hinaus die Geldwirtschaft in den Vordergrund trat 29 . Handwerker, Kaufleute und Händler waren vor allem in den Städten anzutreffen, wodurch sich dort nach und nach die Ständeordnung etablierte. Dies brachte ganz unterschiedliche Existenzbedingungen in Stadt und Land hervor. Auf dem Land, wo die Bevölkerung weitgehend in ihrer hergebrachten Lebensweise verharrte, blieb die Familie die wichtigste Bezugsgröße des Menschen, während in der Stadt die Zuordnung zu Berufsgruppen die Oberhand gewann. In der Rechtsordnung spiegelt sich diese Entwicklung zunächst dadurch wider, daß wegen der Ausdifferenzierung der Lebensformen die hergebrachten Sitten allein nicht mehr ausreichten, um das Zusammenleben der Menschen zu regeln. Dazu bedurfte es vermehrt geschriebener Rechte. Zudem mußte der Unterschiedlichkeit der Existenzbedingungen in Stadt und Land Rechnung getragen werden. Noch bevor deshalb die im 12. Jahrhundert einsetzende Rezeption des Römischen Rechts30 praktische Auswirkungen auf die Rechtsordnung zeitigen konnte3^, entwickelten sich die verschiedenen Stadt- und Landrechte des Mittelalters 52. Jede Stadt hatte ihr eigenes Recht33; als Landrechte waren der Sachsenspiegel und der Schwabenspiegel von überregionaler Bedeutung3'*. 2 8 Das 11. und 12. Jahrhundert wird allgemein als Blütezeit der Städte gesehen. Vgl. dazu Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte S. 205. 2 9
Mitteis/Lieberich,
3 0
Vgl. dazu Gmür, Grundriß S. 36 ff.
Rechtsgeschichte S. 201.
Gmür sieht den Zeitpunkt praktischer Auswirkungen der Rezeption mit dem Erlaß der Reichskammergerichtsordnung im Jahre 1495. Vgl. Gmür S. 39; im Ergebnis ebenso Wesenberg/Wesener, Privatrechtsgeschichte S. 81 und Eisenhardt, Rechtsgeschichte S. 91 f. 3 2
Vgl. Hesse, Einfluß S. 56 ff.
3 3
Diese grundsätzlich richtige Aussage relativiert sich allerdings etwas unter Berücksichtigung der Tatsache, daß einige Städte die Rechtsordnung aus anderen Städten übernahmen. Dieser Befund läßt sich insbesondere in den im Osten gelegenen Städten machen. Vgl. Eisenhardt, Rechtsgeschichte S. 50. Eisenhardt, Rechtsgeschichte S. 47; neben dem weltlichen Recht hatte im Mittelalter auch das kanonische Recht einen hohen Stellenwert für das gesellschaftliche Zusammenleben. Dem Grundsatz nach galt es zwar nur für Kirchenangehörige, jedoch nahm die
Α. Abriß der geschichtlichen Entwicklung des Erbrechts
21
Unter Geltung der mittelalterlichen Rechtsordnungen setzt das Erbrecht den in fränkischer Zeit eingeschlagenen Weg fort. Die Kirche als eine den weltlichen Herrschern gleichwertige politische Macht verlangte nach einer Erweiterung der Verfügungsbefugnisse beim Todesfall. Vergabungen an die Kirche häuften sich und legten einen wichtigen Grundstein für die Ansammlung des Kirchenvermögens. Für ihre Geistlichen konnte die Kirche das Testament als einseitige Verfügung von Todes wegen durchsetzen55. Die weltlichen Rechte waren dagegen zurückhaltender. Eine Ursache dafür ist sicher darin zu sehen, daß die Ausweitung der Verfügungsbefugnisse im Todesfall die Machtfülle der Kirche nur steigern konnte, was nicht im Interesse der weltlichen Herrscher lag 56 . Insofern liegen also auch politische Motive vor. In erster Linie fußte diese Zurückhaltung aber auf den Wertvorstellungen der Bevölkerung, die den Menschen in seiner familiären Bindung sah und deshalb an der Familienerbfolge als Grundprinzip des Erbrechts festhalten wollte. Je nach Stellenwert der Familienbindung für das gesellschaftliche Zusammenleben wurde der Verfügungsbefugnis in Stadt und Land jedoch ein weiter oder enger Rahmen gezogen. Das den traditionellen Vorstellungen stark verhaftete Landrecht des Sachsenspiegels57 kannte keine Testierbefugnis. Vergabungen von Todes wegen waren in der Rechtsform der Schenkung auf den Todesfall allerdings möglich. Für Grund und Boden galt dies aber nur, wenn die gesetzlichen Erben zustimmten55. Der Schwabenspiegel ließ auch Testamente zu. Sie durften aber keine Güter erfassen, die schon der Erblas-
Kirche für sich in Anspruch, sie berührende Fragen wie die Ehe, den Wucher oder die Ketzerei für alle Menschen verbindlich zu regeln. Dieses Nebeneinander von weltlichem und kanonischem Recht ist nichts anderes als der Ausdruck des Machtkampfes zwischen Kirche und Fürsten um die politische Vormachtstellung im Reich. Vgl. dazu Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte S. 291. 5 5 Köbler, Rechtsgeschichte S. 138 und Hesse, Einfluß S. 82; auch hier zeigt sich wiederum das Ineinandergreifen von weltlichem und kanonischem Recht. 5 6
So Hesse, Einfluß S. 113 mwN.
5 7
Er entstammt der Zeit um 1220 - 1240.
3 8
Vgl. Hesse, Einfluß S. 58.
22
Abschnitt Einführung
ser im Wege der Erbfolge erhalten hatte. Nur lebzeitig erworbene Fahrnis unterstand der Testierbefugnis 59. Die Stadtrechte sahen zumeist weitergehende Verfügungsbefugnisse vor. Vergabungen von Todes wegen waren in aller Regel gestattet. Testamente über bewegliche Sachen wurden vielfach zugelassen, ohne daß die Erben der einseitigen Verfügung zustimmen mußten*0. Ererbtes Gut mußte aber auch hier in der Familie bleiben*2, und testamentarische Verfügungen über Grundstücke unterlagen dem Zustimmungsvorbehalt der gesetzlichen Erben 42. Weitergehende Zugeständnisse an die Verfügungsfreiheit machte das Recht der Handelsstadt Lübeck. Zwar mußte auch hier ererbtes Gut dem Grundsatz nach in der Familie bleiben. Jedoch erschöpfte sich diese Beschränkung des Erblassers später darin, daß der Familie nur ein dem ererbten Gut entsprechender Wert belassen werden mußte. Eine dingliche Beteiligung an der Hinterlassenschaft war nicht mehr erforderlich* 5. Auch die Epoche des Mittelalters zeigt somit deutlich die Abhängigkeit der erbrechtlichen Normen von der Entwicklung der ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen. Dadurch werden die in fränkischer Zeit gelegten Ansätze zur Herausbildung der individuellen Verfügungsbefugnis im Todesfall vertieft und das zunächst auf Kirchenkreise beschränkte Testament wird zumindest der Stadtbevölkerung zugänglich gemacht.
3 9
Hesse, Einfluß S. 134.
Testamente waren etwa in Frankfurt weit verbreitet; in Magdeburg kamen sie dagegen kaum vor. Die Darstellung kann deshalb für sich nicht in Anspruch nehmen, ein repräsentatives Bild zu geben. Zur Unterschiedlichkeit der Stadtrechte in bezug auf das Erbrecht vgl. Hesse, Einfluß S. 90 ff. und 125 ff. 4 1
Hesse, Einfluß S. 103.
4 2
Hesse, Einfluß S. 99 f.
4 3
Hesse, Einfluß S. 99 f.
Α. Abriß der geschichtlichen Entwicklung des Erbrechts
23
IV. Aufklärung und Liberalismus
Die Neuzeit hält an der im Mittelalter herausgebildeten ständischen Ordnung der feudalen Gesellschaft zunächst fest. Selbst die das geistig religiöse Leben revolutionierende Reformation rüttelt nicht daran**. Sie erschüttert jedoch die Grundfesten der katholischen Kirche, und die folgenden Religionskriege untergraben das Vertrauen in die absolute Geltung der von der Kirche propagierten göttlichen Ordnung. Die Reformation gibt so einen wesentlichen Anstoß für die Aufklärung, die in der Zeit von Merkantilismus und Frühkapitalismus eine entscheidende Zäsur im philosophischen Denken bringt. War das Mittelalter von der Auffassung geprägt, den Menschen und die Gesellschaft als Teil der gottgewollten Ordnung zu begreifen* 5, so rückt mit der Aufklärung der Mensch als Individuum in das Zentrum des Denkens. Nach der Naturrechtsphilosophie ordnet nicht die göttliche Vorsehung, sondern die menschliche Vernunft das gesellschaftliche Zusammenleben. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag ist eine konsequente Folgerung des vernunftrechtlichen Denkens46. Diese Umwälzung des Geisteslebens findet auch in der Rechtsphilosophie ihren Niederschlag. In Verfolgung des naturrechtlichen Denkens geht man der Frage nach, ob sich die Institutionen der hergebrachten Rechtsordnung aus der Natur der Dinge begründen lassen. Dies führt im Erbrecht zu der Diskussion, ob die Erbfolge naturgegeben sei oder sich nur als ein Akt des Gesetzgebers darstelle, um eine zweckentsprechende Nachlaßverteilung zu gewährleisten47.
4 4 Vgl. Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte S. 315 mit dem Zitat von Luther "Im eußerlichen weltlichen leben, da soll die ungleychheit bleyben, wie denn die Stende ungleych sein. Ein Bauer füret ein ander leben und Stand denn ein Bürger, ein Fürst ein andern Stand denn ein Edelmann. Da ist alles ungleych und soll ungleych bleyben."
Hattenauer, Geistesgeschichtliche Grundlagen S. 22. 4 6
Vgl. Schlosser, Grundzüge S. 83.
4 7
Vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts S. 245 f.
24
1. Abschnitt Einführung
Aus dieser Fragestellung resultierten aber keine nennenswerten Veränderungen des geltenden Erbrechts**. Die Rezeption des Römischen Rechts begünstigte die weitere Verbreitung der Testierfreiheit, die sich über den Kreis der Kirchenangehörigen hinaus auch im weltlichen Leben überall durchsetzte*9. Unterschiedlich war zwar das Ausmaß, in dem die Testierbefugnis das weiterhin gültige Prinzip der Familienerbfolge verdrängen konnte. Abgesehen von diesen zum Teil erheblichen Differenzen ermöglichten aber alle großen Kodifikationen der Aufklärungszeit die Errichtung von Testamenten unter Begrenzung durch das Pflichtteilsrecht 50. Die Ausweitung der Testierbefugnis im Erbrecht entsprach der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse. Die Arbeitsteilung griff immer weiter um sich, und in den entstehenden Manufakturen erlaubten rationalisierte Produktionsverfahren eine Güterherstellung in großen Mengen. Geldwirtschaft und Handel bekamen dadurch zentrale Bedeutung für die Güterversorgung. Auch die Landbevölkerung wurde mehr und mehr in diesen Wirtschaftskreislauf einbezogen, weil die Großfamilie allein die gewachsenen Bedürfnisse nicht mehr befriedigen konnte. Es bedurfte deshalb einer Rechtsordnung, die der Testierbefugnis als Ausdruck des Prinzips der freien Verfügbarkeit einen breiteren Raum bot. Die von der Naturrechtsphilosophie der Aufklärung gestellte
4 8
Köhler, Rechtsgeschichte S. 173.
4 9
Köhler, Rechtsgeschichte S. 174.
^ Die aus dem gemeinen Recht übernommene Testierbefugnis war im Preußischen ALR, dem code civil und dem österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch als den wesentlichsten Kodifikationen der Aufklärung gleichermaßen enthalten. Im code civil war sie allerdings durch ein Noterbrecht der nächsten Verwandten beschränkt. Der Erblasser konnte - gestaffelt nach der Anzahl seiner Kinder - höchstens über die Hälfte seines Vermögens frei verfügen. Vgl. Staudinger-Boehmer, Einl. zu § 1922, § 14 Rn 28. Das österreichische ABGB gab den Pflichtteilsberechtigten dagegen nur einen Geldanspruch nach Maßgabe ihrer gesetzlichen Erbquote, Staudinger-Boehmer, Rn 27. Im Preußischen ALR war trotz der detaillierten Regelungen der Inhalt des Pflichtteilsanspruchs nicht festgelegt. Zunächst wurde vom Obertribunal ein Noterbrecht gewährt, später setzte sich die Auffassung durch, daß es sich nur um einen Geldanspruch handele. Vgl. zum Streit Koch, Preußisches Privatrecht Bd II S. 828 f. und RGZ 6,247,251 f. (1881). Der Wechsel der Rechtsprechung belegt, wie sich das Prinzip der freien Verfügbarkeit, im Erbrecht verkörpert durch die Testierfreiheit, im Laufe der Zeit gegenüber dem Prinzip der Familienerbfolge durchsetzte.
Α. Abriß der geschichtlichen Entwicklung des Erbrechts
25
Frage nach der Begründung des Erbrechts blieb damit zunächst rein philosophischer Art 5 7 . Die Epoche des bürgerlichen Liberalismus warf die Frage nach der Rechtfertigung des Erbrechts jedoch unter anderen Vorzeichen wieder auf. Die Entfaltung des Frühkapitalismus hatte der bis dahin noch agrarisch geprägten Lebensweise der Bevölkerungsmehrheit den Boden entzogen52. Die Dampfmaschine brachte die Automatisierung der Produktion, was zur Verarmung breitester Handwerkerschichten führte 55. Mehr und mehr war in der Folge auch die Landbevölkerung darauf angewiesen, zur Sicherung des Lebensunterhaltes Arbeit in den aufkeimenden Fabriken zu suchen und sich den dort vorherrschenden katastrophalen Arbeitsbedingungen zu unterwerfen 54. Die Ausweitung der Arbeitszeit ging zeitweise Hand in Hand mit der Senkung der Arbeitslöhne. Die große Not der Arbeiterfamilien wurde durch das Fehlen einer sozialen Sicherung bei Krankheit und Arbeitslosigkeit noch verschärft. Der technische Fortschritt ermöglichte so auf der einen Seite Reichtum und Wohlstand, beschwor aber auf der anderen Seite schlimmste Formen der Armut herauf. Das Verlangen nach einer gerechteren Eigentumsverteilung war die Konsequenz aus dieser Entwicklung, um der Verarmung der Bevölkerungsmehrheit Einhalt zu gebieten. Die Abschaffung oder zumindest die Reformierung des Erbrechts erschien den Verfechtern dieser Forderung als ein probates Mittel. Als erste traten die Frühsozialisten damit auf den Plan55. Im Jahre 1848 war es schließlich das Kommunistische Manifest, das die "Abschaffung des Erbrechts" zum Programmpunkt
5 7 Die Naturrechtsphilosphie der Aufklärung hatte aber ohnehin nicht das Ziel, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Sie erschöpfte sich zumeist darin, die bestehende Ordnung naturrechtlich zu rechtfertigen. Vgl. Gmür, Grundriß S. 82. 5 2
Vgl. Schraepler, Quellen; Einführung S. 7 bis 12.
5 3
Vgl. Wolff, Das Elend und der Aufruhr in Schlesien S. 70'ff. Gerhard Hauptmanns Werk "Die Weber" gibt darüber ein beredtes Zeugnis. 5 4 5 5
Vgl. Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter S. 35 ff.
Zunächst Babeuf im ausgehenden 18. Jahrhundert, danach die Saint-Simonisten Enfantin und Bazard forderten die Beseitigung des Erbrechts. Dazu noch näher im 2. Abschnitt unter Punkt A.I.2). Im übrigen vgl. Ramm, Der Frühsozialismus S. 6,9 und 66 f.
26
1. Abschnitt Einführung
erhob 50. An die Stelle der Privaterbfolge sollte ein Erbrecht des Staates treten. Durchsetzen konnte sich diese Forderung nicht. Der Versuch einer Umsetzung blieb Rußland in der Zeit nach der Oktoberrevolution vorbehalten57. Festzuhalten ist an dieser Stelle aber, daß die im 19. Jahrhundert gestellte Forderung nach einer Abschaffung oder Veränderung des Erbrechts genauso wie die tatsächliche Entwicklung der Erbfolgeordnung in der älteren Geschichte eine Folgeerscheinung der sich wandelnden Lebensverhältnisse ist. Dies zeigt, daß das in Geltung befindliche Erbrecht in seiner Ausgestaltung durch die Privaterbfolge, die Testierfreiheit und das Familienerbrecht, die uns heute als so selbstverständlich vorkommt, eine Fortsetzung der Rechtsordnung unter den Lebenden ist und von dieser in vielfacher Weise abhängt.
B. Erbrechtsentwicklung im Sozialismus
Die Abhängigkeit des Erbrechts von den politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Gesellschaftsordnung ist aus dem kurzen Abriß der historischen Entwicklung des Erbrechts deutlich geworden. Die tatsächlichen Veränderungen vollzogen sich in erster Linie bezüglich des Verhältnisses von Familienerbfolge und Testierfreiheit, wobei sich die Testierfreiheit in dem Maße gegenüber der Familienerbfolge durchsetzte, wie sich dem Menschen auf der Basis wirtschaftlichen Fortschritts die Möglichkeit bot, als Individuum auch ohne die feste Gemeinschaftsbindung der Familie zu existieren. Im 19. Jahrhundert wurde zum ersten Mal aber auch die grundlegende Frage gestellt, ob das Erbrecht in seiner Ausgestaltung als Privaterbfolge nicht gänzlich abzuschaffen sei. Die Frühsozialisten, vor allem aber Marx selbst im Kommunistischen Manifest, sprachen von der
5 6
Marx, Manifest, MEW 4,459,481.
5 7
Dazu näher unter Punkt B.
Β. Erbrechtsentwicklung im Sozialismus
27
"Abschaffung des Erbrechts"5*. Aufgrund dieses Umstandes liegt die Vermutung nahe, daß in der DDR (und den anderen sozialistischen Staaten) das Erbrecht entweder beseitigt oder zumindest tiefgreifend verändert wurde, denn der Marxismus ist bislang eine der Grundfesten der Staatsideologie der DDR gewesen. Die Abschaffung des Erbrechts ist aber weder vollzogen noch in Sicht. Dies erklärt sich zunächst aus der Entwicklung des Erbrechts in der Sowjetunion, die in ihren wesentlichen Punkten bereits vor der Gründung der DDR abgeschlossen war 59 . In der Frühphase ihrer Entwickung eliminierte die Sowjetunion das Erbrecht per Dekret vom 27.4.1918 für kurze Zeit. Es geschah mit der Maßgabe, daß der gesamte Nachlaß eines Verstorbenen an den Staat fällt und nur bedürftigen oder erwerbsunfähigen nahen Verwandten ein Unterhaltsanspruch aus der Erbmasse zustand60. In dieser Maßnahme sah man offensichtlich die Umsetzung der Forderung des Kommunistischen Manifestes. Praktische Auswirkungen hatte das Dekret jedoch nicht; im Gefolge seines Erlasses konnten keinerlei staatliche Einnahmen aus Privatnachlässen erzielt werden67. Bereits im Jahre 1922 wurde die Privaterbfolge in einem Umfang bis zu 10.000 Goldrubel wieder zugelassen. Grund dafür war die schlechte wirtschaftliche Situation in der Sowjetunion nach dem 1. Weltkrieg, der man mit Hilfe einer "neuen ökonomischen Politik" beikommen wollte02. Deren wichtigste Zielsetzung lag in der Förderung der Privatinitiative. Die Wiederzulassung des Erbrechts sollte die Betätigungsfreiheit der Privaten unterstützen63. Zunächst war eine zeitliche Begrenzung für die
Ob mit dieser Forderung des Kommunistischen Manifestes die gänzliche Eliminierung des Privaterbrechts beabsichtigt war, wird im folgenden noch zu untersuchen sein. Vgl. dazu den 3. Abschnitt, Punkt C.I. 5 9 Im gesamten Ostblock und ganz besonders in der DDR wird die Rechtsentwicklung in der Sowjetunion als Vorbild für das eigene Rechtssystem gesehen. Vgl. dazu Higi, Marxistische Rechtstheorie S. 3. 6 0
Staudinger-Boehmer,
6 1
Bilinsky,
6 2
Vgl. Bonfils, Sozialistisches Erbrecht S. 14.
6 3
Bonfils, Sozialistisches Erbrecht S. 14.
Einl. zu § 1922, § 5 Rn 11.
Sowjetisches Erbrecht S. 144.
28
1. Abschnitt Einführung
Gestattung der Privaterbfolge vorgesehen64. In der Folgezeit wurde das Erbrecht jedoch zu einem festen Bestandteil der Rechtsordnung, wobei der Umfang der vererblichen Nachlaßwerte und die Befugnisse des Erblassers immer weiter ausgedehnt wurden. Das am 1.1.1923 in Kraft getretene Zivilgesetzbuch enthielt bereits wieder einen Katalog erbrechtlicher Normen. Als gesetzliche Erben waren die Abkömmlinge, der Ehegatte sowie die vom Erblasser zu dessen Lebzeiten unterhaltenen Personen anerkannt, ohne daß eine Einteilung nach Erbordnungen vorgesehen gewesen wäre. Die Testierfreiheit beschränkte sich auf die Befugnis, aus dem Kreis der gesetzlichen Erben einen Rechtsnachfolger auszuwählen65. Im Jahre 1926 entfiel die auf 10.000 Goldrubel festgelegte Höchstgrenze des vererblichen Vermögens, und ab 1928 gestattete man dem Erblasser, neben den gesetzlichen Erben auch den Staat oder gesellschaftliche Organisationen testamentarisch einzusetzen. Gleichzeitig erhielten die minderjährigen gesetzlichen Erben ein bis dahin nicht vorgesehenes Pflichtteilsrecht 66. Die 1936 in Kraft getretene Verfassung stellte das Erbrecht an "persönlichem Eigentum" erstmals unter verfassungsrechtlichen Schutz und unterstrich damit den festen Platz, den das Erbrecht in der Rechtsordnung der Sowjetunion einnehmen sollte67. Das Jahr 1945 brachte durch einen Erlaß schließlich die Wiedereinführung einer Erbfolgeordnung, die in ihren elementaren Grundzügen dem Erbrecht der westlichen Welt ähnelt. Die Zahl der gesetzlichen Erben wurde um die Eltern und die Geschwister des Erblassers erweitert und in ein System von drei Erbordnungen untergliedert. Zudem stärkte der Erlaß die Stellung der minderjährigen und erwerbsunfähigen gesetzlichen Erben, indem er deren Enterbung durch Testament untersagte65. Ab 1961 entfiel schließ-
6 4
Bilinsky,
6 5
Bonfils, Sozialistisches Erbrecht S. 15.
6 6
Bonfils, Sozialistisches Erbrecht S. 15.
6 7
Bilinsky,
6 8
Bonfils, Sozialistisches Erbrecht S. 17 f.
Sowjetisches Erbrecht S. 144.
Sowjetisches Erbrecht S. 143.
Β. Erbrechtsentwicklung im Sozialismus
29
lieh die Eingrenzung der Testierfreiheit auf den Kreis der gesetzlich ohnehin vorgesehenen Erben, und das erst 1945 eingeführte Enterbungsverbot zugunsten minderjähriger und erwerbsunfähiger Erben wurde wieder aufgehoben 69. Diese Entwicklung des Erbrechts in der Sowjetunion zeigt, wie nach der anfangs radikalen Abschaffung der Privaterbfolge die Rechtsordnung nach und nach zu einer Erbordnung zurückkehrte, die in der Grundstruktur mit den Erbordnungen westlicher Prägung übereinstimmt. Das Erbrecht der DDR zeigt das gleiche Bild. Bei grundsätzlicher Zulassung der Privaterbfolge gewährt es dem Erblasser volle Testierfreiheit, die nur durch ein Pflichtteilsrecht naher Verwandter beschränkt ist 70 . Nicht nur westdeutsche Autoren sprechen deshalb davon, daß das Erbrecht des ZGB vielfach traditionelle Rechtsformen verwendet7i. Teilweise wird in ihm sogar ein Anstoß für eine Reformierung des BGB - Erbrechts gesehen72. Damit drängt sich der Eindruck auf, als ob nach einem verunglückten Zwischenspiel in der Sowjetunion75 für den Bereich des Erbrechts in der DDR wie in den anderen sozialistischen Staaten im wesentlichen alles beim alten geblieben sei. Das wäre angesichts des oben ermittelten Befundes über die Abhängigkeit zwischen Gesellschaftsordnung und Erbrecht verwunderlich, es sei denn, die Zulassung der Privaterbfolge in den sozialistischen Staaten stünde in Widerspruch zu den ideologischen Vorgaben der offiziellen Staatsideologie des Marxismus-Leninismus. Diese Vermutung wird vielfach
6 9
Bonfils, Sozialistisches Erbrecht S. 20 f. Näher zum Erbrecht der DDR im 3. Abschnitt.
Vgl. einerseits Mampel NJW 76,593,604 und andererseits Seifert, Erbrechts, StuR 75,275,281. 7 2 Vgl. Freytag, 1984,66 ff. 7 5
Grundlagen des
Das neue Erbrecht in der DDR, Einleitung S. 1 und derselbe in ZRP
Die 1918 in Angriff genommene Abschaffung des Erbrechts wird überwiegend als ein Versuch angesehen, die ideologischen Grundlagen des Marxismus im Erbrecht umzusetzen, der wegen der entgegenstehenden Bedürfnisse der Menschen gescheitert ist. Boehmer meint, es sei ein "jämmerliches Fiasko" gewesen. Vgl. Staudinger-Boehmer, Einl. zu § 1922, § 5 Rn 11.
30
1. Abschnitt Einführung
geäußert7'*. Sie bedarf jedoch in zweierlei Hinsicht einer Überprüfung: Zum einen stellt sich die Frage, ob tatsächlich die gänzliche Abschaffung des Privaterbrechts erforderlich ist, um den Grundsätzen des Marxismus Genüge zu tun. Zum anderen fragt sich aber auch, ob die Übereinstimmung der Grundstrukturen des Erbrechts in der Bundesrepublik und der DDR nicht nur eine oberflächliche Erscheinung ist und bei näherer Betrachtung elementare Unterschiede zutage treten, die eine andere als die dargelegte Wertung erforderlich machen.
7 4 In diesem Sinne äußern sich etwa Kringe, MDR 76,189,193 und Wiedemann , Sozialistisches Eigentum S. 112; Lieser-Triebnigg, Das neue Zivilgesetzbuch der DDR, DA 75,1052,1053; Lange, Erbrecht S. 2.
2. Abschnitt
Die Grundlagen der Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland Um die Grundlagen der Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland zu ermitteln, muß man sich zunächst den Stellenwert der maßgeblichen Beurteilungsgrundlagen vor Augen führen. Die gesamte Rechtsordnung ist an die Wertentscheidungen des Grundgesetzes als unmittelbar geltendes Recht gebunden (Art. 1 III GG). Weil die Verfassung das Erbrecht in Art. 14 I GG auch in seinen Grundrechtskatalog aufgenommen hat, drängt es sich von daher auf, ausgehend von dieser Grundrechtsnorm den Inhalt der Privaterbfolge zu bestimmen und die einfachgesetzliche Ausformung des Erbrechts im Anschluß daran ergänzend heranzuziehen. Der Rangordnung der Rechtsquellen wäre damit Genüge getan. Ein solches Vorgehen unterliegt jedoch Bedenken. Zum einen ist die grundrechtliche Verbürgung des Erbrechts im Vergleich zu dessen Ausgestaltung im BGB weitgehend unbestimmt, so daß allein deshalb schon ein Rückgriff auf einfachgesetzliche Vorschriften erforderlich würde. Zum anderen ist es unmöglich, den Inhalt der Grundrechtsgarantie losgelöst von der historischen Entwicklung des Erbrechts zu bestimmen, die sich bereits vor Erlaß des Grundgesetzes im Erbrecht des BGB niedergeschlagen hat7. Auch dieser Umstand zwingt dazu, das einfache Gesetz bei der Auslegung der verfassungsrechtlichen Verbürgung zu beachten. Stellt man darüber hinaus in Rechnung, daß die Grundprinzipien der Erbfolgeordnung des BGB auch nach Erlaß des Grundgesetzes die gleichen geblieben sind, so bietet es sich an, zur
7 Vgl. dazu Boehmer, Erbrecht S. 412 f. und eingehend noch im folgenden unter Punkt Β. II.
32
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
Ermittlung der Leitideen der Privaterbfolge zunächst einen Blick auf das Erbrecht des BGB zu werfen. Eine Befassung mit dem Erbrecht des BGB kann allerdings auch nicht umhin, den historischen Entwicklungsprozeß zu beachten, den das Erbrecht bis zur Erarbeitung des BGB im 19. Jahrhundert durchgemacht hat. Die Vorschriften des BGB bauen darauf auf, und die Gesetzesverfasser wurden in vielfältiger Weise von diesem Prozeß beeinflußt. Zur Erarbeitung der grundlegenden Wertvorstellungen des einfachen Gesetzes zur Privaterbfolge bedarf es darum dreierlei: Als erstes muß die Diskussion um die Begründung des Privaterbrechts aufgearbeitet werden, die im 19. Jahrhundert auf breiter Front geführt wurde und von außen auf die Erstellung des BGB-Erbrechts einwirkte. Zum zweiten ist eine Würdigung der Gesetzesmaterialien erforderlich, die Auskunft über die Zielsetzungen und Meinungsverschiedenheiten der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen geben. Endlich darf eine Betrachtung der Rechtsnormen selbst nicht fehlen, die kraft der praktischen Auswirkungen ihrer Wertentscheidungen die verläßlichste Aussage über die Grundlagen der Privaterbfolge enthalten.
A. Begründung der Privaterbfolge bei Erlaß des BGB L Von der Naturrechtsphilosophie der Aufklärung bis zum deutschen Idealismus oder: Eigentumsschutz contra Familienbindung 1) Die Begründung des Erbrechts in der Aufklärung
Bereits im Abriß über die historische Entwicklung des Erbrechts wurde darauf hingewiesen, daß die Frage nach einer Begründung des Erbrechts erstmalig zur Zeit der Aufklärung bewußt gestellt wurde, als die Naturrechtsphilosophie in Abkehr von göttlicher Vorsehung nach rationalen, vernunftorientierten Erklärungen für das menschliche Zusammenleben suchte. Die Aufklärung brachte deshalb die erste rechtsphilosophische Diskussion um das Erbrecht, in der sich die Frage stellte, ob das Erbrecht aus der "Natur der Dinge" folge und damit als
A- Begründung der Privaterbfolge bei Erlaß des BGB
33
notwendiger, vorgegebener Bestandteil der Gesellschaftsordnung gelten könne. Namhafte Philosophen kamen dabei zu dem Schluß, daß die Erbfolge eine nach Ermessen und Zweckmäßigkeit aufgestellte Regelung des Gesetzgebers sei, um die Hinterlassenschaft des Verstorbenen sinnvoll zu verteilen. Jedenfalls solle es sich nicht um eine naturnotwendige Institution handeln, weil der Nachlaß - der Natur der Dinge folgend herrenlos werden und dem Zugriff eines jeden offenstehen müsse. Fichte formulierte dies explizit2, und Montesquieu vertrat eine ähnliche Auffassung: Das (Natur-)Gesetz verpflichte die Menschen zwar, ihre Kinder zu lieben, nicht aber, sie auch zu Erben zu machen·*. Bis hinein ins 19. Jahrhundert tauchte dieser Gedanke bei verschiedenen Autoren wieder auf, die sich der Naturrechtsphilosophie verpflichtet fühlten^. Zwar war damit keineswegs beabsichtigt, das Privaterbrecht als solches in Frage zu stellen. Es ging allein um die Suche nach einer rationalen Begründung des Erbrechts. Jedoch ergab sich aus diesem Denkansatz für das Erbrecht ein Legitimationsvakuum, das nach einer anderen Begründung verlangte, um die Existenz des Erbrechts in der Praxis auch rechtsphilosophisch untermauern zu können. In Verfolgung naturrechtlichen Denkens behob die Philosophie der Aufklärung das Begründungsdefizit dadurch, daß sie zur Rechtfertigung des Erbrechts ein Rechtsinstitut bemühte, dessen Naturnotwendigkeit in dieser Zeit allgemein anerkannt war: das Eigentum. Grotius stellte die Verbindung von Eigentum und Erbrecht schon zu Anfang des 17. Jahrhunderts her. Das Testament sei "seinem Inhalte nach dem Eigentum verwandt und insofern natürlichen Rechts"5. Unter Berufung auf Plutarch fügte er hinzu, daß die Gegenstände erst mit der Testiermöglichkeit zum vollständigen Eigentum eines jeden würden0. In
2
Fichte, Grundlage des Naturrechts S. 245 f.
3
Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch XXVI, Kapitel 6 S. 167.
4
Vgl. etwa Droste-HülshoffLehrbuch
5
Grotius, De jure belli ac pacis S. 195.
^ Grotius, De jure belli ac pacis S. 196.
des Naturrechts § 55 S. 105.
34
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
den nachfolgenden zwei Jahrhunderten wurde diese Argumentation vielfach aufgegriffen. So steht auch für Pufendorf der Eigentumsschutz im Vordergrund des Erbrechts7, und selbst Kant, der das naturrechtliche Denken überwand5, spricht davon, daß die Testamente natürlichen Rechts seien9. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war die Ableitung des Erbrechts aus dem Eigentum deshalb die vorherrschende Meinung in der Rechtsphilosophie20. Diese Begründung des Erbrechts erschiene allerdings in einem verzerrenden Licht, würde man nicht ihre Einbindung in das Menschenbild der Naturrechtsphilosophie beachten. Seit der Aufklärung stand der Mensch im Zentrum des Denkens; er selbst ist danach das Ursprüngliche, von dem sich Staat und Gesellschaft ableiten. Seiner Natur nach wird er als freies Einzelwesen begriffen, das kraft seiner Vernunftbegabung dazu in der Lage ist, eigenständig über sein Schicksal zu bestimmen^. In der Lehre vom Gesellschaftsvertrag manifestiert sich diese Philosophie. Sie nimmt die Übereinkunft als Ausdruck des menschlichen Willens zur Prämisse, um einen Gesellschaftszustand zu ermöglichen, der jedem Menschen die ihm gebührende Freiheit gewährleistet und sie gleichzeitig gegenüber dem Freiraum des anderen abgrenzt72. Zur Realisierung dieses vernunftgeleiteten Willens steht das Eigentum in einer Ergänzungsfunktion. Es soll mit dazu beitragen, die im Naturzustand vorhandene Freiheit des Menschen auch in dem durch den Gesellschaftsvertrag legitimierten Staat so weit wie möglich zum Tragen
7
Pufendorf\
De jure naturae et gentium, Livre 4, Chapitre 10.
8
Kant wies nach, daß sittliche Normen nicht aus anthroplogischen Erkenntnissen abgeleitet werden können, also die Erkenntnis der "Natur der Dinge" durchaus unzureichend ist, um Sitte und Recht zu erklären. Kant entzog damit der Prämisse der Naturrechtsphilosophen den Boden, die darin bestand, die natuwissenschaftliche Methodik in der Philosophie anzuwenden. Vgl. dazu Coing , Rechtsphilosophie S. 35ff. und Rode, Rechtsphilosphie S. 132 ff. 9 Kant, Die Metaphysik der Sitten; Metaphysische Anfangsgründe, Das Privatrecht § 34 S. 409 f.
So auch Mertens, Gutachen S. 74.
Entstehung S. 31 und bereits Bruns auf dem 14. DJT; vgl.
Vgl. dazu Hobbes, Leviathan S. 160 - 166 sowie Locke, Zwei Abhandlungen S. 260 f. 1 2
Vgl. Hobbes, Leviathan S. 166 - 170 und Naturrecht S. 100; außerdem Rode, Rechtsphilosophie S. 116 und 120 sowie Coing , Rechtsphilosohie S. 34.
Begründung der Privaterbfolge bei Erlaß des BGB
35
zu bringen75. Somit ist es nicht allein die nackte Existenz privaten Eigentums als naturrechtlicher Institution, aus der sich das Erbrecht begründet. Hinzu kommt vielmehr dessen Anbindung an ein Menschenbild, das der zunehmenden Individualisierung des einzelnen Rechnung trägt und dessen Willensfreiheit und Selbstbestimmung gerecht werden will. Dies belegt bereits der von Grotius vorgenommene Brückenschlag zwischen Eigentum und Erbrecht mittels des Testamentes, das im Erbrecht nichts anderes verwirklicht als die freie Verfügbarkeit. Von daher erklärt sich, daß die Verfechter einer Ableitung des Erbrechts aus dem Eigentum die Testierfreiheit zum Grundprinzip allen Erbrechts erhoben7*. Die gesetzliche Erbfolge wollten sie lediglich als eine Regelung verstanden wissen, die bei fehlendem Testament den mutmaßlichen Willen des Erblassers zum Ausdruck bringt 75.
2) Der Einfluß des deutschen Idealismus
Noch bevor aber die Erarbeitung des BGB in Angriff genommen wurde, zeigte sich im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert in Deutschland eine Kehrtwendung des philosphischen Denkens. Die Vertreter des deutschen Idealismus gingen auf Distanz zur individualistischen Sichtweise der Naturrechtsphilosophie. War die Zeit der Aufklärung von dem Gedanken geprägt, die Welt aus den materialen Erscheinungen der Natur heraus zu begreifen, so
7 5 Die Funktion des individuellen Eigentums innerhalb der Gesellschaftsordnung wurde von den Philosophen der Aufklärung allerdings nicht einheitlich beurteilt. Bei Hobbes findet sich dazu noch keine konkrete Stellungnahme. Locke bringt die freiheitssichernde Funktion als erster deutlich zum Ausdruck und legt damit den Grundstein für die Anschauungen des Liberalismus. Vgl. Locke, Zwei Abhandlungen S. 215 - 220. Angesichts der ungleichen Eigentumsverteilung im vorrevolutionären Frankreich formuliert Rousseau dagegen elementare Kritik am Eigentum, das für ihn die Ursache der Ungleichheit unter den Menschen ist. Vgl. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit S. 251.
Grotius, De jure belli ac pacis S. 195 f. 7 5
Bruns, Gutachten S. 73 f.
36
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
verschiebt der Idealismus den Blickwinkel der Philosophie in die Sphäre des Geistigen76. Ein Wandel des Menschenbildes geht damit einher. Während die Naturrechtsphilosophie die staatliche Ordnung als notwendige Einrichtung einstuft, um die ursprünglich unbegrenzte Freiheit jedes einzelnen im Gesamtinteresse einzuschränken, so ordnet die idealistische Philosophie den Menschen von vorneherein als Teil der Gemeinschaft ein. Hegel formuliert dies am prägnantesten. Für ihn ist der Staat der "objektive Geist" und der Mensch als Individuum hat nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als er ein Glied desselben ist 77 . Familie, Gesellschaft und Staat sind darum die Institutionen, welche die Freiheitsentfaltung des Individuums erst ermöglichen statt sie zu begrenzen75. Für die Begründung des Erbrechts ist dieser Wandel des philosophischen Denkens nicht ohne Einfluß. Unter Übernahme des Gemeinschaftsgedankens rückt die Familienbindung in den Vordergrund der Überlegungen. Auch hier ist es vor allem Hegel selbst, der seine Position den bisherigen Begründungsansätzen gegenüberstellt. Weil die Familie eine natürlich - sittliche Einheit bilde, sei das nach der Rechtsordnung gesonderte Vermögen der Familienmitglieder als Familienvermögen sittlich gebunden79. Im Todesfall müsse es deshalb in die Familie zurückfallen, aus der es letztlich stamme20. Der freien Verfügbarkeit könne der Nachlaß erst nach Auflösung des Familienverbandes unterfallen 27 . Unterstützung für seine Sichtweise fand Hegel beispielsweise durch Trendelenburg 22, Koeppen23 und Stahl24, die ebenfalls die Familienbin-
7 6
Coing , Rechtsphilosophie S. 44.
1 7
Hegel, Rechtsphilosophie § 258.
1 8
Hegel, Rechtsphilosophie, Zusatz 152 zu § 258.
1 9
Hegel, Rechtsphilosophie § 171.
2 0
Hegel, Rechtsphilosophie § 180.
2 7
Hegel, Rechtsphilosophie §§ 178 und 179.
2 2
Trendelenburg,
2 3
Koeppen, Die Erbschaft S. 92.
Naturrecht S. 309.
Begründung der Privaterbfolge bei Erlaß des BGB
37
dung für das Grundprinzip des Erbrechts hielten, ohne allerdings so einengende Schlußfolgerungen für Zulässigkeit der Testierfreiheit zu ziehen25. Vom Beginn des 19. Jahrhunderts an war die Begründung des Erbrechts aus dem Prinzip der Familienbindung in der rechtswissenschaftlichen Literatur also durchaus verbreitet. Ihre Bedeutung vestärkte sich noch dadurch, daß die Familienbindung als altgermanisches Prinzip galt und die ihm innewohnende Gemeinschaftsbezogenheit als typisch deutsche Erscheinung dem individualistischen Denken des Römischen Rechts entgegengesetzt wurde 26. Die rechtsphilosophische Begründung des Erbrechts war damit auf den Kopf gestellt. Zwar versagten die Vertreter dieser Auffassung der Testierfreiheit nicht die Zulassung, jedoch begründeten sie diese ganz anders. Sie sahen in ihr nicht die Umsetzung des Erblasserwillens, sondern lediglich ein Instrument, um der starren Regelung der gesetzlichen Familienerbfolge ein Korrektiv zur Seite zu stellen, das eine interessengerechte Nachlaßverteilung auch bei außergewöhnlich gelagerten Familienverhältnissen zuließ27. Schon vor Beginn der Erarbeitung des BGB - Erbrechts war die Diskussion um dessen Begründung dadurch von einer Polarität der Standpunkte geprägt, die auf der einen Seite dem Eigentumsschutz und dem individuellen Willen des Erblassers größtmögliche Rechnung tragen wollte, während auf der anderen Seite das deutschrechtlich orientierte Gemeinschaftsdenken des Idealismus stand. Zu dieser rechtsphilosophischen Diskussion gesellte sich im 19. Jahrhundert jedoch eine andere Frage, die immer stärker ins öffentliche
2 4
Stahl, Philosophie des Rechts Bd IIA S. 499,505.
2 5
Die genannten Autoren erkannten die Testierfreiheit in ihrer verdrängenden Wirkung gegenüber der gesetzlichen Erbfolge an. Vgl. Trendelenburg, Naturrecht S. 310; Stahl, Philosophie des Rechts Bd. II/l S. 508; Koeppen, Die Erbschaft S. 94. 2 6 2 7
Gierke , Entwurf S. 506 und 592 sowie Kloeppel, Familien- und Erbrecht S. 354.
Gierke , Soziale Aufgabe S. 29 f. und Entwurf S. 507. Hegel sah in der gewillkürten Erbfolge - offensichtlich in Anlehnung an die historische Entwicklung (vgl. oben S. 14 ff.) - gar eine Aufnahme in den Familienverband; vgl. Hegel, Rechtsphilosophie §§ 170 und 178.
38
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
Bewußtsein trat: Sollte das Erbrecht - ganz unabhängig von seiner Ableitung aus individuellen oder familiären Interessen - überhaupt beibehalten werden, oder wäre es nicht besser, es grundlegend umzugestalten oder gar ganz abzuschaffen, um einen Beitrag zur Aufhebung der ungerechten Eigentumsverteilung zu leisten. Die "soziale Frage" holte die Erbrechtsdiskussion ein und eröffnete dem philosophischen Streit eine rechtspolitische Dimension.
IL Das Eibrecht und die soziale Frage
Die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts25 um sich greifende Industrialisierung in Deutschland setzte bis dahin ungeahnte ökonomische Potenzen frei und schuf die Grundlage für eine enorme Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums. Im 19. Jahrhundert profitierte davon aber allein das aufstrebende Bürgertum. Für breite Kreise der Bevölkerung, insbesondere für die in den aufkeimenden Fabriken beschäftigten Arbeiter, führte sie dagegen zu Not und Elend29. Das Gefälle der Eigentumsverteilung wurde immer krasser. Bei der Suche nach Mitteln und Wegen, der sich ausbreitenden Armut entgegenzuwirken, kam dem Ruf nach einer Umgestaltung des Erbrechts gewichtige Bedeutung zu. Dessen Veränderung konnte der ungerechten Vermögensverteilung zumindest beim Generationswechsel begegnen. Als erste traten die Frühsozialisten mit der Forderung nach einer Umgestaltung des Erbrechts auf den Plan. Ihre Utopien einer gerechten Gesellschaft erteilten dem Erbrecht in seiner bisherigen Form eine Absage. Noch im ausgehenden 18. Jahrhundert verlangte Babeuf nach der Bildung einer nationalen Gütergemeinschaft, die jedem einzelnen
2 5 2 9
Vgl. dazu Grebing, Arbeiterbewegung S. 48 f.
Die schon vor Beginn der Industrialisierung vorherrschende Armut des größten Teils der Bevölkerung linderte sich in den 60er Jahren durch die industrielle Expansion für die Fabrikarbeiter ein wenig. Die nach der Gründerzeit einsetzende Depression hatte aber gerade für diese Bevölkerungsschicht katastrophale Folgen. Vgl. Klönne, Arbeiterbewegung S. 53 ff.
Begründung der Privaterbfolge bei Erlaß des BGB
39
aus dem gebildeten Gesamtvermögen die Gegenstände des persönlichen Bedarfs zuweisen sollte. Noch bestehende Privatvermögen sollten beim Tode des Inhabers der Gütergemeinschaft zufallen 50. Saint-Simon ging es zu Beginn des 19. Jahrhunderts um eine Modifizierung der Erbfolge, ohne das Privaterbrecht ganz beseitigen zu wollen. Anfallende Nachlässe sollten nicht mehr nach dem Willen des Erblassers oder dem Grad der Verwandtschaft, sondern nach Maßgabe von Verdienst und Würdigkeit verteilt werden, um die Arbeit im Interesse der Gemeinschaft zu honorieren 37. Die Schüler Saint-Simons, insbesondere Enfantin und Bazard, entwickelten die Gedanken ihres Lehrers allerdings dahin weiter, daß zur Verwirklichung einer gerechten Vermögensverteilung das Erbrecht ganz abgeschafft werden müsse52. Fourier wollte das Erbrecht umgestalten. Unter Beibehaltung der hergebrachten Grundsätze über die Nachlaßvergabe sollte aber nur ein Teil der Erbmasse in die "Phalanges" eingebracht werden, die Fourier als ideale Gemeinschaften der zukünftigen Gesellschaft vorschwebten55. Die Vorschläge anderer Frühsozialisten gingen in die gleiche Richtung5*. Insgesamt betrachtet waren sie aber nur eine versprengte Minderheit, die zudem wegen ihrer teilweise abstrusen Vorstellungen kaum ernst genommen wurden und die öffentliche Diskussion um das Erbrecht nicht unmittelbar beeinflußten. Ihre Ideen bildeten jedoch den Ausgangspunkt für die Entwicklung der kommunistischen Positionen55.
Babeuf \ Entwurf eines Wirtschaftsgesetzes S. 6,9. 5 7
Saint-Simon , Über die Neuordnung der europäischen Gesellschaft S. 45 - 49.
5 2
Enfantin
5 5
Vgl. dazu Schröder, Abschaffung oder Reform des Erbrechts S. 179 mwN.
und Bazard, Darstellung der Lehre Saint-Simons S. 75.
5
* Die Liste der Frühsozialisten ließe sich erweitern um Cabet, Blanc, Owen und Weitling. Deren Vorstellungen und Utopien enthalten bezüglich des Erbrechts aber keine qualitativ anderen Aussagen. Vgl. Schröder, Abschaffung oder Reform des Erbrechts S. 175 bis 185, insbesondere S. 178. 5 5 Marx befaßt sich in seinen Frühwerken ausführlich mit den Schriften der von ihm als "utopische Sozialisten" bezeichneten Vorläufer, vgl. Grebing, Arbeiterbewegung S. 28 f. mwN. sowie Engels, Von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19,189 ff., insbesondere S. 208 f.
40
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
Von größerer Wirkung war das "Manifest der kommunistischen Partei", das Marx im Jahre 1848 für den Bund der Kommunisten erarbeitete. Zur Beseitigung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse forderte es die "Abschaffung des Erbrechts"36 Zwar fand es damit nicht etwa große Gefolgschaft. Die Erbrechtsdiskussion beeinflußte es aber insofern nachhaltig, als nach seinem Erscheinen die Kritik am Erbrecht vorschnell mit dem Bestreben nach einer kommunistischen Gesellschaftsumwälzung gleichgesetzt wurde 37. In Wahrheit beschränkte sich die Erbrechtskritik jedoch weder personell auf Frühsozialisten und Kommunisten noch inhaltlich auf die Absicht, das Erbrecht abzuschaffen 55. Das Eisenacher Programm der SPD von 1869 sprach in seinem Forderungskatalog von einer "progressiven Erbschaftssteuer" 39, nachdem sich Lassalle bereits in seinem "System der erworbenen Rechte" in aller Ausführlichkeit kritisch mit dem Erbrecht auseinandergesetzt hatte40. Eine Reformierung des Erbrechts wurde sogar von einigen Autoren aus dem bürgerlichen Lager gefordert. Beispielhaft genannt sei zum einen Pfizer, der für eine Begrenzung der Erbordnungen zugunsten eines
3 6
Marx, Manifest, MEW 4,459,481.
3 7
Dies zeigt sich deutlich in den Formulierungen bürgerlicher Autoren, die sich bei kritischen Äußerungen über das Erbrecht immer wieder genötigt sahen, ihre Vorschläge gegenüber den Zielsetzungen der Kommunisten abzugrenzen. Vgl. dazu Schröder, Abschaffung oder Reform des Erbrechts S. 129,132 und 384 f. 3 8
Selbst bei der Forderung des Kommunistischen Manifestes nach Abschaffung des Erbrechts ist fraglich, ob damit eine gänzliche Beseitigung ins Auge gefaßt war. Dazu eingehend im 3. Kapitel dieser Arbeit. 3 9 Treue, Parteiprogramme S. 70; im Erfurter Programm aus dem Jahre 1891 taucht die gleiche Formulierung unter Punkt 10 des Forderungskataloges wieder auf, während das Gothaer Programm (1875) eine einheitliche, progressive Steuer auf jede Art von Einkommen verlangt hatte. Vgl. Treue, S. 77 und 87.
Lassalle sah das Erbrecht in Abhängigkeit von den nationalen und geschichtlichen Anschauungen. Für ihn baut die römisch-rechtliche Rechtfertigung des Erbrechts auf der Prämisse auf, daß sich der Wille des Erblassers im Nachlaß fortsetze, während dem germanischen Erbrecht das Prinzip des Familieneigentums zugrundeliege. Weil beide Ausgangspunkte nach Lassalle im 19. Jahrhundert keine Gültigkeit mehr beanspruchen konnten, entbehre das Erbrecht einer tragfähigen Begründung, es sei nicht mehr als ein "gelehrtes Mißverständnis". Vgl. Lassalle, System der erworbenen Rechte, Bd. II S. 563, 579 und 600.
Begründung der Privaterbfolge bei Erlaß des BGB
41
nachrangigen Staatserbrechts plädierte**, und zum anderen von Scheel*2, der eine Besteuerung der Erbschaften für sinnvoll hielt, um den Pauperismus zu bekämpfen und einen Beitrag zu einer gerechteren Eigentumsverteilung zu leisten45. Das bedeutet allerdings nicht, daß sich die Kritiker des Erbrechts in der Mehrheit befunden hätten. Der Kreis derer, die unter Berufung auf die rechtsphilosophischen Begründungsansätze zur Rechtfertigung des Erbrechts gegen jede Art von Beschränkung der Erbfolge zugunsten des Staates eintraten, war zahlenmäßig wie politisch zweifellos mächtiger**. Reformbestrebungen hatten über das linke politische Spektrum hinaus nur bei denjenigen eine Basis, die Armut und Elend großer Teile der Bevölkerung als sozialen Sprengsatz und damit als politische Herausforderung erkannten. Die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage hatte dadurch in der Erbrechtsdiskussion des 19. Jahrhunderts einen beachtlichen Stellenwert.
HL Kommissionsberatungen und Motive
Die Polarität von Familienbindung und Individualinteressen in der rechtsphilosophischen Diskussion um die Begründung des Erbrechts und die rechtspolitische Auseinandersetzung über dessen Umgestaltung
Pfizer,
Was erwartet Deutschland von dem bürgerlichen Gesetzbuch S. 44.
2
* Von Scheel, Die Erbschaftssteuer S. 233,254 f. und im Ansatz derselbe, Die progressive Besteurung S. 273,302 f. Ähnliche Vorschläge mit gleicher Zielsetzung kamen von Petersen, Berufung zur Erbschaft S. 82 f. und von Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen S. 229 f. * * Vgl. nur Dernburg, Pandekten III S. 94 f.; Schirmer, Handbuch des römischen Erbrechts S. 9 f.; Zoll, Römisches und heutiges Intestaterbrecht S. 551. In Reaktion auf die Kritik am Erbrecht wurde teilweise auch versucht, die Privaterbfolge als Triebfeder menschlicher Arbeit zu rechtfertigen. Auf Seiten der Befürworter des Erbrechts in der hergebrachten Form war dieses Argument neben dem Eigentumsschutz und der Familienbindung aber nur von untergeordneter Bedeutung. Vgl. mit diesem Argument Bluntschli, Reform des Erbrechtes S. 235 und ähnlich Trendelenburg, Naturrecht S. 307.
42
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
als Beitrag zur Lösung der sozialen Frage wecken die Erwartung, daß beide Elemente der Erbrechtsdiskussion des 19. Jahrhunderts sowohl in den Beratungen der 1. und 2. Kommission als auch in den Gesetzesmaterialien eingehend behandelt wurden, um die Grundvorstellungen zu verdeutlichen, von denen sich der Gesetzgeber bei der Zulassung und Ausgestaltung der Privaterbfolge leiten ließ. Indessen ist eher das Gegenteil der Fall. Die zum Gesamtentwurf des BGB veröffentlichten Motive nehmen keine Stellung dazu. Auch die Kommissionsberatungen spiegeln nicht die Breite der Diskussion wider. Insbesondere ist festzustellen, daß mit zunehmender Dauer der Beratungen die Bereitschaft abnahm, Fragen grundsätzlicher Art zu behandeln und schlüssig zu beantworten45. Ergiebige Hinweise enthalten deshalb in erster Linie die Teilmotive des Erbrechtsredaktors von Schmitt, die als Vorlage für die Beratungen der 1. Kommission in den Jahren 1875 bis 1879 dienten46.
1) Die Behandlung der sozialen Frage im Gesetzgebungsverfahren
Von Schmitt widmete sich den Kritikern des Erbrechts in der Begründung seiner Gesetzesvorlage über mehrere Seiten. Seine Darstellung des Diskussionsstandes war jedoch keinesfalls exakt. Neben inhaltlich korrekten Passagen finden sich etliche Ungenauigkeiten bis hin zu entstellenden Formulierungen, die der wahren Intention der Verfasser nicht gerecht werden47. Für den Gang der Beratungen hatte dies aber
4 5
Vgl. Mertens, Entstehung S. 40.
4 6
Eingangs seiner Teilmotive befaßte sich von Schmitt ausführlich mit der historischen Entwicklung des Erbrechts und verwertete dabei auch die Stellungnahmen der Kritiker des Erbrechts. Insbesondere bezog von Schmitt Position zu der Frage, nach welchem rechtsphilosophischen Grundprinzip sein Entwurf ausgerichtet sei. Vgl. Motive TE S. 1-30 und 39-59 der Begründung. 4 7
Schröder hat unter Auswertung der Quellen überzeugend nachgewiesen, daß von Schmitt die Kritiker des Erbrechts, zum Teil verfälschend wiedergegeben hat. Vgl. Schröder, Abschaffung oder Reform des Erbrechts S. 367,435 und 453. Ein Blick in die Teilmotive bestätigt diesen Befund unmittelbar. Dort läßt der Erbrechtsredaktor die Frühsozialisten umfassend zu Wort kommen und stellt ihnen "Halbsozialisten" ohne nähere Aufarbeitung ihrer Positionen zur Seite. Den späteren Regierungsbeamten von Scheel ordnet er dem Kreis der "Halbsozialisten" zu. "Im allgemeinen" gehören für von Schmitt auch John
Begründung der Privaterbfolge bei Erlaß des BGB
43
keine Bedeutung. Die Einbeziehung der Erbrechtskritik in seine Ausführungen diente von Schmitt vor allem der Vollständigkeit der Darstellung, ohne sie als Diskussionsgrundlage anzusehen. Von Schmitt ging ebenso wie die übrigen Mitglieder der Kommission wie selbstverständlich davon aus, das Privaterbrecht ohne jede Einschränkung beizubehalten45. Die Teilmotive selbst machen dies deutlich, die staatliche Eingriffe in das Erbrecht oder dessen Reformierung rundweg ablehnten. Zur Begründung argumentierte von Schmitt, daß die Privaterbfolge das "durch die Natur der Dinge begründete Recht" der Nachlaßverteilung sei, dem der Staat im Wege der Gesetzgebung allein zu formaler Geltung verhelfen könne49. Ihm stehe es aber nicht zu, für sich selbst oder private Personen Erbrechte zu begründen50. Von Schmitt erschien deshalb der Gedanke der Aufklärungszeit ungeheuerlich, daß sich beim Tode eines Menschen "alle Verhältnisse auflösen" und der Nachlaß herrenlos werden könnte52. Mit dieser Argumentation war nicht nur der Abschaffung, sondern auch jeglicher politisch motivierten Reformierung des Erbrechts der Weg verbaut. Sie entspricht aber keineswegs dem Diskussionsstand der rechtswissenschaftlichen Literatur im 19. Jahrhundert. Dort war der Gedanke durchaus verankert, daß es einer staatlichen Rechtsetzung zur Begründung des Erbrechts bedarf. 52 Dem Redaktor des Erbrechts dürfte dies auch bekannt gewesen sein. Von Schmitts Argumentationsweise ist allerdings zu erklären, wenn man sich die Erarbeitung des Erbrechts als einen politischen Prozeß
Stuart Mill, Pfizer und Baron dazu, und die Philosophen Fichte, Gros und Drosde vertreten nach seiner Formulierung "verwandte Gesichtspunkte" Vgl. Motive TE, S. 31. Dies zeigt, wie Autoren ganz verschiedener politischer Couleur in einen Topf geworfen und obendrein noch mit Rechtsphilosophen gleichgestellt werden, denen es jenseits rechtspolitischer Reformforderungen um die philosophische Begründung des Erbrechts ging. 4 5 Vgl. dazu Mertens, Entstehung S. 27 und Schröder, Erbrechte S. 18. 4 9
Motive TE , S. 33 der Begründung.
5 0
Motive TE , S. 33 der Begründung.
5 1
Motive TE , S. 32 der Begründung.
5 2
Abschaffung oder Reform der
Aus der Vielzahl der Autoren vgl. Trendelenburg, Naturrecht S. 306 f.; Ahrens, Naturrecht Bd. II S. 249 f.; Droste-Hülshoff, Lehrbuch des Naturrechtes S. 105 sowie Röder, Grundzüge des Naturrechts S. 512 mwN.
44
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
vor Augen führt 55, in dem um die Durchsetzung widerstreitender Interessen gerungen wurde. Der Kommission ging es um die Schaffung eines Erbrechts mit liberalen Grundzügen. Zusammengesetzt aus Vertretern der Schicht des Bürgertums, hatte sie kein Interesse daran, die Privaterbfolge in Frage zu stellen oder zu beschränken. Das Bürgertum war gerade erst im Begriff, sich aus feudaler Bevormundung zu befreien. Zur Absicherung dieses Emanzipationsprozesses bedurfte es einer ökonomischen Stütze, um der auf dem Großgrundbesitz fußenden Macht des Adels etwas entgegensetzen zu können. Nicht von ungefähr bildete deshalb die Forderung nach Freiheit und Eigentum das zentrale Begehren des klassischen Liberalismus. Das die Bürgerfreiheit flankierende Eigentum wäre bei einer Infragestellung des Erbrechts aber gefährdet gewesen. An eine Beschränkung der Privaterbfolge, obendrein noch unter Einbeziehung des vom Adel beherrschten Staates, war bei dieser Interessenkonstellation nicht zu denken. Zudem muß berücksichtigt werden, daß selbst die Durchsetzung bürgerlich-liberaler Anforderungen an das Erbrecht bei Erarbeitung des BGB noch ausstand. Dem Prinzip der Gleichteilung standen noch feudale Vermögensbindungen wie die Familienfideicommisse entgegen, die aus dem BGB herausgehalten werden mußten5*. Von Schmitts Berufung auf die "Natur der Dinge" war deshalb nichts anderes als ein politisches Argument, um die Diskussion der sozialen Frage aus den Beratungen auszuklammern55. Der Verlauf der Beratungen in der 1. und 2. Kommission bestätigt diese Analyse. Vorschläge zur Reformierung des Erbrechts wurden im Verfahrensgang immer wieder abgeblockt, soweit sie auf eine Beschränkung der Privaterbfolge zielten. Zumeist zogen sich die Kommissionen auf den Standpunkt zurück, daß ihre Aufgabenstellung in der Verein-
5 5
Dazu Schröder, Abschaffung oder Reform des Erbrechts S. 161 ff.
5
* Der Gesetzestext des BGB enthielt auch keine Regelung der Familienfideicommisse mehr. Kraft Landesrechts galten sie aber fort und wurden erst 1919 abgeschafft. Vgl. Mertens, Entstehung S. 143. 5 5 So auch Schröder, stehung S. 151.
Abschaffung oder Reform des Erbrechts S. 31; Mertens,
Ent-
Begründung der Privaterbfolge bei Erlaß des BGB
45
heitlichung der Partikularrechte liege56 und die Frage einer Reformierung des Erbrechts noch nicht spruchreif sei57. Besonders deutlich wird die politische Motivation der ablehnenden Haltung gegenüber Reformbestrebungen zur Privaterbfolge aus dem Diskussionsverlauf über die Beschränkung der Verwandtenerbfolge. Bereits in der 1. Kommission war die unbegrenzte Zahl von Erbordnungen in die Kritik geraten, weil es teilweise nicht als interessengerecht empfunden wurde, wenn eine dem Erblasser eventuell völlig unbekannte Person entferntesten Verwandtschaftsgrades in den Genuß der Erbschaft käme55. Zu einer Reduzierung der Erbordnungen konnte sich die 1. Kommission aber nicht entschließen. Erst kritische Stellungnahmen von außen konnten die 2. Kommission dazu bewegen, den ursprünglichen Standpunkt aufzugeben und einem Antrag zu folgen, der eine Eingrenzung der Verwandtenerbfolge auf vier Erbordnungen vorsah59. Aufgrund der Beratungen des Reichstages kehrte man jedoch zur ersten Gesetzesfassung zurück, weil eine Beschränkung der Verwandtenerbfolge am Prinzip der Verfügungsfreiheit rüttele und den Anschein erwecke, als ob daran überhaupt "die Axt zu legen sei"60. Im Gesamtverlauf des Gesetzgebungsverfahrens zeigt sich somit die strikte Umsetzung klassisch-liberaler Grundpositionen, um eine staatliche Eingriffsbefugnis auf das Erbrecht, verstanden als Ausschnitt der Privatsphäre, so weit wie möglich zu verhindern. Die soziale Frage spielte im Beratungsgang also praktisch keine Rolle.
5 6 Mertens, Entstehung S. 151; entgegen dem hier vorgebrachten Argument war sich die Kommission sehr wohl darüber im klaren, daß sie mit der Rechtsvereinheitlichung auch Rechtspolitik betrieb. Zur Frage der Zulassung der Vor- und Nacherbfolge schreibt von Schmitt beispielsweise selbst: "es ist daher eine ernste Frage der legislativen Politik, ob die Einrichtung fernerweit zugelassen werden soll." Vgl. Motive TE , S. 294. 5 7
Mertens, Entstehung S. 57 sowie Baron, Erbrecht S. 188 ff.
5 5
Diese Kritik war aber nicht sozialpolitsch motiviert. Es ging nämlich nicht um die Freisetzung von Geldmitteln für die notleidende Bevölkerung, sondern vor allem um die Umsetzung des Gedankens der Familienbindung, der in der Lebensgemeinschaft und der sozialen Verbundenheit der Familienmitglieder die Rechtfertigung des Erbrechts sah. Vgl. dazu sogleich unter Punkt 2). 5 9
Protokolle
6 0
Reichstagsdrucksache
//, Bd. V S. 470. Nr. 440c S. 2096 der Session 1895 - 1897.
46
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
2) Inhaltliche Begründung des Erbrechts im Gesetzgebungsverfahren
Der rechtsphilosophischen Frage nach der Begründung des Erbrechts aus der Familienbindung oder dem Eigentum und der Willensfreiheit des Erblassers widmeten sich die Teilmotive des Erbrechtsredaktors und die Kommissionsberatungen weit stärker als der sozialen Frage. Dafür gibt es wohl verschiedene Gründe. Zum einen wurde die Diskussion um die Begründung des Erbrechts bereits über einen längeren Zeitraum geführt, so daß die Kommissionsmitglieder schon vor Beginn der Beratungen damit konfrontiert waren 6i. Zum anderen war dieser Punkt im Gegensatz zur sozialen Frage auch im bürgerlichen Lager heftig umstritten. Auf philosophischer Ebene besann sich der deutsche Idealismus auf die Familienbindung als Ausdruck deutschrechtlicher Prinzipien und bekämpfte ab Beginn des 19. Jahrhunderts das individualistische Denken römisch-rechtlicher Prägung62, mit dem die Testierfreiheit in Verbindung gebracht wurde 65. Dagegen sah die historische Rechtsschule gerade im gewachsenen Römischen Recht den Anknüpfungspunkt für jegliche Gesetzgebung64. Überdies befand sich das bürgerliche Lager auch in einem Zwiespalt zwischen liberalen Grundprinzipien und ökonomischen Interessen. Die Familienerbfolge konnte der liberalen Forderung nach Gleichteilung der Erbschaft 65 am ehesten gerecht werden, leistete aber gleichzeitig der Zersplitterung von Vermögenswerten Vorschub und lief damit dem
62
Zur philosophischen Auseinandersetzung vgl. oben unter Punkt A.I.
6 2
Zur Entwicklung des Streites eingehend Gierke , Die historische Rechtsschule und die Germanisten S. 10 ff. 6 5 An dieser Verknüpfung ist soviel richtig, daß erst über den Einfluß der Kirche und der Rezeption des Römischen Rechts die darin bekannte Testierfreiheit nach Deutschland gedrungen war. Die wesentliche Ursache dafür liegt jedoch entgegen manchen Äußerungen aus dem 19. Jahrhundert nicht darin, daß den Deutschen ein fremdes Recht oktroyiert wurde, sondern vor allem in dem Umstand, daß mit der Individualisierung der Lebensverhältnisse ab der Zeit des Mittelalters als Folge der wirtschaftlichen Entwicklung die Verfügungsfreiheit zur zweckentsprechenden Vergabeform für den Nachlaß wurde. Vgl. dazu den 1. Abschnitt, A l l und III sowie Hesse, Einfluß S. 48 f. und 147 f. 6 4
Gierke , Die historische Rechtsschule und die Germanisten S. 6 ff.
6 5
Vgl. dazu Stöcker, Das Grundrecht zu erben S. 217 f. mwN.
A Begründung der Privaterbfolge bei Erlaß des BGB
47
Bestreben zuwider, über die Bildung nennenswerter Privatvermögen eine materiell abgesicherte Gegenmacht zum Adel aufzubauen.
a) Ausgangspunkt der Tatmotive zum Erbrecht
Für den Gang des Gesetzgebungsverfahrens zur Frage der inhaltlichen Begründung des Erbrechts waren die Teilmotive des Erbrechtsredaktors von wegweisender Bedeutung. Sowohl der darin vorgeschlagene Aufbau als auch die beigegebene Begründung favorisierten eindeutig den Schutz von Eigentum und Verfügungsfreiheit des Erblassers gegenüber der Familienbindung. In der Entwurfsgliederung hatte von Schmitt die testamentarische Erbfolge an die Spitze der Berufungsgründe gesetzt. Erst danach befaßte sich sein Vorschlag mit der gesetzlichen Erbfolge der Familienmitglieder. Diese Reihenfolge sollte das Rangverhältnis der Berufungsgründe zum Ausdruck bringen. Von Schmitt untermauerte dies auch im Entwurfstext. Darin ordnete § 222 TE ausdrücklich an, daß die gesetzliche Erbfolge nur zum Zuge kommt, wenn keine letztwillige Verfügung vorliegt 66. Die Begründung des Erbrechtsredaktors für sein Vorgehen spricht ebenfalls eine deutliche Sprache. Sie stellt explizit fest, daß der Entwurf die Idee der Familienerbfolge zurückweist, um den privatrechtlichen Charakter des Erbrechts zu bewahren67. Das Privatrecht beruhe auf der Herrschaft des Individuums. Deren Verwirklichung sei im Erbrecht nur möglich, wenn der Freiheit des Erben zur Ausschlagung der Erbschaft die Freiheit des Erblassers zur willensgesteuerten Nachlaßverteilung gegenüberstehe65. Im übrigen entspreche der Vorrang der Testierfreiheit auch der geschichtlichen Entwicklung, die ausgehend vom ursprünglichen Familienerbrecht "den im deutschen Wesen liegenden Zug nach Individualisierung" umsetze69. Schließlich berief sich von Schmitt
6 6 § 222 Ι Έ lautete wörtlich: Wenn und soweit eine Erbeinsetzung nicht besteht, tritt die Erbfolge aus dem Gesetz ein. 6 7
Motive TE , S. 52 der Begründung.
6 8
Motive TE , S. 53 der Begründung.
6 9
Motive TE , S. 54; im Ergebnis ebenso Meyersburg,
Gutachten S. 50.
48
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
auch noch auf verschiedene Autoren, die nach seinen Ausführungen ihre Meinungen geändert hatten und nunmehr der Testierfreiheit den Vorrang im Erbrecht einräumten70. Damit sollte der Eindruck erweckt werden, daß die Rechtsphilosophie die Familienbindung als Grundprinzip der Erbfolge bereits wieder aufgegeben hätte77.
b) Der Gang der Beratungen der 1. Kommission
Dem realen Diskussionsverlauf in der rechtswissenschaftlichen und rechtsphilosophischen Literatur entsprachen diese Ausführungen allerdings nicht72. Von Schmitts Favorisierung der Testierfreiheit fand deshalb schon in der 1. Kommission nur wenig Gegenliebe. Bereits zu Beginn der Beratungen lag ein Antrag vor, den Aufbau des Erbrechtsentwurfes zu ändern und die Regeln über die gesetzliche Erbfolge voranzustellen, damit die Bedeutung der Familienbindung als Grundprinzip des Erbrechts zum Ausdruck gebracht werde 75. Nach heftiger Diskussion wurde dieser Vorstoß abgefangen. Man verständigte sich schließlich darauf, die Gliederung des Entwurfes beizubehalten und zur Grundlage für die weiteren Beratungen zu machen, andererseits aber ausdrücklich festzustellen, daß die Reihenfolge der Berufungsgründe keine Aussage über deren Rangfolge enthalte74. Trotz dieser Feststellung wurde nach der Veröffentlichung des Entwurfes an dessen Gliederung massive Kritik geübt, weil darin eine Bevorzugung der Testierfreiheit vor der Familienbindung liege75. Dieser Eindruck wurde noch dadurch bekräftigt, daß § 1751 II E I den § 222
7 0
Motive TE , S. 49 der Begründung.
77
Dies beweist eine Aussage des Erbrechtsredaktors an anderer Stelle: "Die deutsche Rechtsphilosophie in den hervorragendsten Vertretern, der Juristenstand (Juristentag), vertreten die Idee der Testierfreiheit. Vgl. Motive TE , S. 49 der Begründung. 7 2
Vgl. schon vorne unter Punkt A.I.2) und Schröder, Erbrechts S. 493 ff., insbesondere S. 497. 7 3
Vgl. Mertens, Entstehung S. 36 mwN.
7 4
Vgl. Mugdan, Materialien Bd. V S. 1.
7 5
Abschaffung oder Reform des
Vgl. Gierke Entwurf S. 506; Kloeppel, Familien- und Erbrecht S. 359; Petersen, Berufung zur Erbschaft S. 31; Ring, Beurteilungen S. 127.
Begründung der Privaterbfolge bei Erlaß des BGB
49
des Schmittschen Vorentwurfes übernommen hatte, der die Subsidiarität der Familienerbfolge unmißvertändlich aussprach. Die überwiegende Mehrheit der Kritiker wollte demgegenüber der gesetzlichen Erbfolge den Vorrang einräumen. Sie plädierten wie schon vorher einige Kommissionsmitglieder dafür, diesen Berufungsgrund an die Spitze des Erbrechts zu stellen76. Ansonsten leiste man der Auffassung Vorschub, daß der Erblasser seinen Nachlaß nach Willkür und Belieben verteilen könne, was dem deutschen Rechtsbewußtsein und der inneren Berechtigung des Erbrechts widerspreche77.
c) Stellungnahme der 2. Kommission
Die 2. Kommission gab dem Drängen der Kritiker nach und beschloß, die Reihenfolge der Berufungsgründe im Gesetzestext umzustellen75. Darüber hinaus stimmte sie auch der Streichung des § 1751 II E I zu, um den Eindruck zu entkräften, daß die Testierfreiheit das Leitmotiv für die Ausgestaltung des Erbrechts sei79. Im übrigen verzichtete die 2. Kommission darauf, die Grundsatzfrage nach der Begründung des Erbrechts zu diskutieren oder gar zu entscheiden. Der von vielen Kritikern geforderte Vorrang der Familienerbfolge fand darum auch nicht ihre Billigung50. Der Verfahrensgang sollte nicht durch unnötige Auseinandersetzungen verzögert werden. Die Akzeptanz des Gesetzentwurfes ließ sich dadurch erhöhen. Der Verlauf der Beratungen erweckt damit den Eindruck, daß nach einer anfänglich vorgesehenen Bevorzugung von Verfügungsfreiheit und Eigentumsschutz später ein Kompromiß zwischen Testierfreiheit und
7 6
Gierke , Entwurf S. 506 und zum Ganzen Mertens, Entstehung S. 28.
7 7
Mertens, Entstehung S. 38.
7 5
Protokolle
//, Bd. V S. 1.
7 9
Protokolle
//, Bd. V S. 3.
Daraus erklärt sich, daß auch die zunächst beschlossene Voranstellung der gesetzlichen Erbfolge nur halbherzig umgesetzt wurde und die Grundnormen der gewillkürten Erbfolge in den §§ 1937 - 1941 enthalten sind.
50
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
Familienerbfolge im Gesetz verwirklicht werden sollte, der beide Berufungsgründe gleichrangig zum Zuge kommen lassen will 57 . Aus den Kommissionsberatungen und den Motiven allein läßt sich somit keine Antwort auf die Frage finden, ob das Erbrecht des BGB eines der beiden gegensätzlichen Grundprinzipien zur Rechtfertigung der Privaterbfolge favorisierte. Die Auswertung der Gesetzesmaterialien selbst ist also in bezug auf beide Elemente der Erbrechtsdiskussion des 19. Jahrhunderts wenig ergiebig: Die Reformbestrebungen, gedacht als Beitrag zur Lösung der sozialen Frage, wurden aus den Beratungen weitgehend ausgeklammert, während die intensive Auseinandersetzung um die Begründung des Erbrechts mit der Verweigerung einer Stellungnahme endete. Dieser Befund kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich der Gesetzgeber bei Erarbeitung des BGB den kontroversen Standpunkten stellen mußte. Hinsichtlich der sozialen Frage hat er das auch schon im Gesetzgebungsverfahren getan, obwohl sie in dessen Verlauf kaum eine Rolle spielte. Gerade in der Nichtbefassung liegt die Entscheidung, jede Art von Beschränkung der Privaterbfolge zugunsten des Staates vom Gesetz fernzuhalten. Dagegen wurde die Begründung der Privaterbfolge nach Aussage beider Kommissionen offengehalten. Unabhängig von diesen Beteuerungen beantwortet sich die Frage nach dem Grundprinzip des Erbrechts aber vor allem durch die Wertentscheidungen des Gesetzes selbst, die nunmehr einer näheren Betrachtung unterzogen werden sollen.
In der aktuellen Literatur spricht beispielsweise Brox von einem Kompromiß zwischen Testierfreiheit und Familienerbrecht (Brox, Erbrecht S. 12). Schlüter sieht im Pflichtteilsrecht den Ausgleich zwischen beiden Prinzipien (Schlüter, Erbrecht S. 375).
Begründung der Privaterbfolge bei Erlaß des BGB
51
IV. Die Grundlagen der Privaterbfolge in der Ausgestaltung des Erbrechts
Das Erbrecht des BGB setzt die klassisch-liberale Grundhaltung des Gesetzgebers konsequent um, die eine Beteiligung des Staates am Erbgang grundsätzlich ablehnte. Das ist eindeutig festzustellen, obwohl nach § 1936 BGB auch der Staat Erbe sein kann. Diese Vorschrift spielt in der Konzeption der Privaterbfolge keine Rolle 52 , weil sie lediglich herrenlose Nachlässe vermeiden will, falls sich keine Privatperson als Erbe ermitteln läßt. Ob die Privaterbfolge im Erbrecht des BGB einem bestimmten Grundprinzip folgt, ist dagegen schwieriger festzustellen, weil sowohl die Testierfreiheit als Ausdruck von Eigentumsschutz und Verfügungsfreiheit wie auch die Verwandten- und Ehegattenerbfolge in Umsetzung des Prinzips der Familienbindung im Erbrecht enthalten sind. Die Verdrängung der gesetzlichen Erbfolge durch testamentarische Einsetzungen zeigt zwar einen Vorrang der Verfügungsfreiheit an, jedoch steht dem das Pflichtteilsrecht korrigierend gegenüber. Zudem enthalten auch andere Rechtsinstitute des Erbrechts Wertentscheidungen, die das Spannungsverhältnis von Familienerbrecht und Testierfreiheit beeinflussen und somit in die Überlegungen mit einbezogen werden müssen.
1 ) Das Pflichtteilsrecht
zwischen Testierfreiheit
und Familienerbfol
Die Familienbindung hatte für die Ausgestaltung des BGB-Erbrechts schon allein deshalb einen hohen Stellenwert, weil die gesetzliche Erbfolge die Verwandtschaft und die Ehe zur Grundlage nimmt, um den Nachlaß zu verteilen. Ihre Bedeutung zeigt sich auch im Aufbau des Gesetzes. Indem die Verwandten- und Ehegattenerbfolge an der
Nach den Ausführungen in den Protokollen fallen dem Staat nur "erblose Nachlässe" zu. Um deren Herrenlosigkeit zu vermeiden, wurde dem Staat auch das Recht zur Ausschlagung der Erbschaft verweigert. Vgl. Protokolle in Mugdan, Materialien Bd. V S. 402.
52
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
Spitze der Berufungsgründe steht, kommt ihr für die Bürger eine Orientierungsfunktion zu. Das bringt zum Ausdruck, daß sie für den normalen Erbfall die richtige Art der Nachlaßverteilung bereithält5J. Testamentarische Einsetzungen verdrängen jedoch die gesetzliche Erbfolge, wie sich insbesondere aus den §§ 2088, 2089 und 2104 BGB ergibt. Die Leitbildfunktion der gesetzlichen Erbfolge wird dadurch in den Bereich der Unverbindlichkeit verwiesen, so daß der Testierfreiheit die Vorrangstellung zukommt. Das Pflichtteilsrecht greift in dieses Rangverhältnis allerdings ein und bildet dadurch den Kristallisationspunkt, an dem sich die Bedeutung beider Grundprinzipien für das Erbrecht des BGB ablesen läßt. Da sich der Pflichtteilsanspruch auf die Hälfte des gesetzlichen Erbrechts beläuft, läßt dies einen Kompromiß54 zwischen Verfügungsfreiheit und Familienbindung vermuten. Indessen entspricht diese Schlußfolgerung nicht den Tatsachen, wenn man den Grundgedanken der Familienerbfolge berücksichtigt. Die Verfechter der Familienerbfolge wollten das Vermögen des Verstorbenen dort belassen, wo es nach ihrer Auffassung seinen Ursprung hat. Das war die Familie in ihrer Funktion als Wirtschaftsgemeinschaft, die insgesamt zur Vermögensbildung jedes einzelnen Familienmitgliedes beiträgt55. Demgemäß ging es zuvörderst darum, der Familie den Bestand der Vermögensgüter in der Generationenabfolge zu sichern56. Das Pflichtteilsrecht des BGB hält für die nahen Angehörigen aber nur einen Geldanspruch bereit. Die Verfügungsbefugnis des Erblassers ist bei genauer Betrachtung also gar nicht beschränkt; lediglich die eingesetzten Erben müssen sich die Pflichtteilsansprüche entgegenhalten lassen, um die Angehörigen abzufinden. Das mag gegenüber einer dinglichen Beteiligung vorteilhafter sein57. Dennoch entspricht es
8 3
So auch Schlüter, Erbrecht S. 45.
8 4
So Brox, Erbrecht S. 12.
5 5
Vgl. Gierke , Entwurf S. 536.
8 6
Gierke , Entwurf S. 536; Kloeppel, Familien- und Erbrecht S. 357 f.; Bahr, Erbrecht S.
204. 8 7
Schon während der Beratungen war umstritten, ob eine dingliche Beteiligung oder
A- Begründung der Privaterbfolge bei Erlaß des BGB
53
nicht dem Grundgedanken der Familienerbfolge, deren Vertreter eine dingliche (Mit-)Beteiligung der nahen Angehörigen am Nachlaß forderten. Trotz seiner Sicherungsfunktion zugunsten der gesetzlichen Erbfolge tastet das Pflichtteilsrecht den Vorrang der Verfügungsfreiheit also nicht an und trägt damit der Zielsetzung Rechnung, die Privatautonomie des Erblassers so weit wie möglich zu verwirklichen, ohne die Interessen der Familie des Erblassers vollständig zu vernachlässi-
gen88/8 9.
2) Der Vorrang der Verßgungsfreiheit Rechtsinstituten
in anderen erbrechtlichen
a) Testamentsvollstreckung
Die vorrangige Berücksichtigung der Verfügungsbefugnis des Erblassers kommt auch in der Anerkennung und Ausgestaltung der Testamentsvollstreckung zum Ausdruck. Nach § 2197 BGB kann der Erblasser einen Testamentsvollstrecker benennen, um die Durchsetzung seines letzten Willens gegenüber den eingesetzten Erben sicherzustellen. Über die reine Abwicklungsvollstreckung hinaus besteht dabei auch die Möglichkeit, eine Verwaltungsvollstreckung bis zur Dauer von 30 Jahren anzuordnen90. Solchenfalls hat der Testamentsvollstrecker die Befugnis, den Nachlaß insgesamt unter seine Obhut zu nehmen und mit Ausnahme von Schenkungen
ein Geldanspruch für die Angehörigen vorteilhafter sei; vgl. Motive TE , S. 654; außerdem Petersen, Referat auf dem 14. DJT, Bd. II S. 60,72. 8 8
So auch Mertens, Entstehung S. 40,94.
5 9
Betrachtet aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts betont das Erbrecht des BGB einseitig die Individualinteressen des Erblassers, weil der Geldpflichtteil den allgemeinen Anschauungen der damaligen Zeit kaum entsprach, die der familiären Bindung größeres Gewicht beilegten. Für die heutige Zeit ist der Geldpflichtteil aber sicherlich die zweckentsprechende Regelung. Die Familie hat ihre Funktion als Wirtschaftsgemeinschaft eingebüßt. Damit ist die Prämisse entfallen, auf der die Forderung nach einer dinglichen Nachlaßbeteiligung der Angehörigen aufbaute. So auch Coing , Gutachten S. 49. 9 0
Vgl. § 2210 BGB.
54
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
jede Art von Verpflichtung mit Wirkung für den Nachlaß innerhalb der vom Erblasser gesetzten Frist einzugehen97. Der Erblasser hat dadurch Einwirkungsmöglichkeiten auf die Entwicklung seines Nachlasses bis weit über seinen Tod hinaus. Wegen dieser weitreichenden Befugnisse des Erblassers formulierte selbst der Erbrechtsredaktor von Schmitt Bedenken gegen dieses Rechtsinstitut. Er sprach davon, daß "das Institut auf einer kaum zu begünstigenden anomalen Beschränkung der natürlichen Rechte der Erben" beruhe92. Die Rechtfertigung für die Zulassung sah er in dem Bedürfnis nach "Sicherung des Testamentsvollzuges wider die entgegengesetzten Interessen der Erben"95. Als notwendiger Bestandteil einer die Verfügungsfreiheit anerkennenden Erbrechtsordnung kann die Testamentsvollstreckung mit so weitreichenden Bestimmungsbefugnissen des Erblassers aber nicht eingestuft werden. Das Römische Recht kannte keinen Testamentsvollstrecker94. Erst durch den Einfluß der christlichen Kirche bildeten sich die Ansätze dieses Rechtsinstituts heraus, um die Ansprüche aus Vergabungen auf den Todesfall gegen den Widerstand der Familie des Verstorbenen durchzusetzen95. In den Erbrechtsordnungen Westeuropas ist die Testamentsvollstreckung deshalb bekannt. Das Bestimmungsrecht des Erblassers geht im ausländischen Recht aber zumeist nicht so weit wie nach dem BGB 96 .
97
Schlüter, Erbrecht S. 342.
9 2
Motive TE , S. 334.
9 3
Motive TE , S. 334.
9 4
Vgl. von Lübtow, Erbrecht Bd. II S. 922.
9 5
Um den Erwerb des Seelteils (vgl. Einführung) sicherzustellen, reklamierte die Kirche für sich ein Aufsichtsrecht, das durch den Salmann ausgeübt wurde. Vgl. dazu Lange, Erbrecht S. 461. 9 6 Nach österreichischem Recht hat der Testamentsvollstrecker keine Verwaltungsbefugnis. Im französischen und italienischen Recht ist für die Vollstreckung eine Höchstdauer von einem Jahr vorgesehen. Allein in England gehen die Befugnisse des Testamentsvollstreckers noch weiter als nach dem BGB. Vgl. Ferid/Firsching Bde. II, III, IV; "Frankreich" Rn 197; "Italien" Rn 173; "Österreich" Rn 110 und Coing , Erbrecht S. 381 f.
Begründung der Privaterbfolge bei Erlaß des BGB
55
b) Vor- und Nacherbfolge
Das Rechtsinstitut der Vor- und Nacherbfolge gibt dem Erblasser eine weitere Möglichkeit an die Hand, seinen Willen in der Zeit nach seinem Tode zur Geltung zu bringen. Mit der Einsetzung von Nacherben kann er die Weitergabe seines Nachlasses über mehrere Personen bestimmen (§ 2100 BGB). Die Anzahl der Vor- und Nacherben unterliegt keiner Begrenzung. Zeitlich ist die Vor- und Nacherbschaft gemäß § 2109 BGB auf die Dauer von 30 Jahren beschränkt. In den Begründungen seines Teilentwurfes stellt von Schmitt zum Rechtsinstitut der Vor- und Nacherbfolge fest, daß die sukzessive Berufung von Nacherben "eine erhebliche Steigerung der Testirbefugniß" sei 97 . Das ist zweifellos richtig, denn der Erblasserwille erhält praktisch eine Verlängerung über eine weitere Generation. Im Römischen Recht war die Vor- und Nacherbschaft nach dem Grundsatz "semel heres, semper heres" nicht vorgesehen95. Zwar wurde seit der Kaiserzeit der "Universalfideikommiß" anerkannt, wonach bei Anordnung des Erblassers der eingesetzte Erbe den gesamten Nachlaß mit Eintritt einer Bedingung an den Fideikommissar übertragen mußte. Trotz des Übergangs der Rechte und Pflichten auf ihn galt der Fideikommissar aber nicht als Erbe 99 . Erst im Anschluß an das Gemeine Recht stuften die Kodifikationen der Aufklärung den Fideikommissar auch rechtlich als Erben ein. Von Vor- und Nacherbschaft sprach dann als erstes das Preußische ALR. Die Frage nach der Beibehaltung dieses Rechtsinstitutes erkannte der Erbrechtsredaktor als "ernste Frage der legislativen Politik" 200 . Er befürwortete eine Beibehaltung, weil er dafür ein "wohlberechtigtes Interesse" sah i W . Ausgehend vom Prinzip der Verfügungsfreiheit war
9 7
Motive TE , S. 178; ebenso Motive, Bd. V S. 217.
9 8
Schlüter, Erbrecht S. 307.
9 9
Coing, Erbrecht S. 280.
1 0 0
Motive TE , S. 178
1 0 1
Motive TE , S. 182.
56
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
das nicht mehr als konsequent. In den Beratungen wurde allerdings um die Ausgestaltung der Vor- und Nacherbfolge heftig gerungen. Die Bestrebungen nach einer Begrenzung der Bestimmungsbefugnisse des Erblassers konnten sich jedoch nicht durchsetzen702, so daß es auch in diesem Punkt dabei blieb, die Willensfreiheit des Erblassers so weit wie möglich zum Zuge kommen zu lassen.
c) Rechtsgeschäfte unter Lebenden auf den Todesfall
Für das Verhältnis von Verfügungsfreiheit und Familienbindung im Erbrecht ist schließlich auch von Bedeutung, in welchem Ausmaß das Gesetz dem Erblasser die Möglichkeit eröffnet, seine Vermögensverhältnisse nach dem Tod schon durch lebzeitige Rechtsgeschäfte auf den Todesfall zu regeln. Dies gilt zum einen, weil die Testierbefugnis rechtshistorisch aus der Vergabung unter Lebenden auf den Todesfall entstanden ist i ö J . Zum anderen ist es auch deshalb wichtig, weil Rechtsgeschäfte unter Lebenden auf den Todesfall zur Folge haben können, daß die erbrechtlichen Bindungen der Testierfreiheit überspielt werden. Das Erbrecht des BGB hat den Schenkungen auf den Todesfall kein eigenes Rechtsinstitut gewidmet, sondern enthält zu deren Regelung mit § 2301 BGB nur eine Vorschrift. Nach ihrem Wortlaut scheint sie eine eindeutige Grenzziehung vorzunehmen, damit die erbrechtlichen Bindungen nicht durch lebzeitige Schenkungen umgangen werden können. Vollzogene Schenkungen sind danach als Rechtsgeschäfte unter Lebenden zu behandeln, während noch nicht vollzogene Schenkungen den erbrechtlichen Formvorschriften genügen müssen. Dennoch bereitet die Abgrenzung größte Schwierigkeiten, weil in Lehre und Rechtsprechung umstritten ist, welche Voraussetzungen an den lebzeitigen Vollzug einer Schenkung zu stellen sind und insbesondere § 331 BGB ein breites Einfallstor bietet, um im Wege eines Vertrages zugunsten
7 0 2
Schon die Aufnahme des Rechtsinstitutes in den Erbrechtsentwurf fand Kritik. Darüber hinaus wurde eine Beschränkung der Nacherbfolge in der Weise gefordert, daß nur ein Nacherbe benannt werden kann. Vgl. Protokolle //, Bd. V. S. 77 f. 1 0 3
Vgl. dazu die Einführung, S. 16ff.
Begründung der Privaterbfolge bei Erlaß des BGB
57
Dritter Vermögenszuwendungen auf den Todesfall an § 2301 BGB vorbei vorzunehmen, ohne daß sich der Erblasser schon zu Lebzeiten seiner Verfügungsbefugnis über den zugewendeten Gegenstand gänzlich begeben müßte 104. Erbrechtliche Bindungen können dadurch umgangen werden, so daß insbesondere auch die Möglichkeit besteht, Teile des Nachlasses an den erbberechtigten Familienmitgliedern vorbeizusteu-
Diese Situation ist sicher Resultat einer unzureichenden gesetzlichen Regelung. Jedoch entspringt sie wohl nicht einer bewußten Konzeption des Erbrechts. Aus den Gesetzesmaterialien läßt sich nämlich nicht ermitteln, ob der Gesetzgeber die Tragweite dieses Problems erkannt hat. Die Begründungen des Vorentwurfs zum Erbrecht 706 und die Motive 207 befassen sich hauptsächlich mit der Frage, ob die Schenkung von Todes wegen in einem eigenen Rechtsinstitut geregelt werden sollte. Aus den Protokollen geht zwar hervor, daß in den Beratungen der 2. Kommission die Gefahr einer Umgehung der erbrechtlichen Vorschriften gesehen wurde. Die Bedenken beschränkten sich jedoch auf die Befürchtung, daß die Formvorschriften des Erbrechts ausgehöhlt werden könnten205.
Kritisch zum weiten Begriff des Schenkungsvollzuges in der herrschenden Lehre und insbesondere zur Rechtsprechung über die Wirksamkeit lebzeitiger Schenkungen auf den Todesfall im Rahmen von Verträgen zugunsten Dritter auch Coing , Erbrecht S. 457 und 465 f. Dies wird insbesondere bei den in der Praxis häufigen Schenkungen von Bankguthaben deutlich. Die Rechtsprechung ermöglicht hier über den Vertrag zugunsten Dritter dem Bedachten über die §§ 516 ff. BGB den Erwerb, selbst wenn er zu Lebzeiten des Verstorbenen von dessen Schenkung keine Kenntnis hatte und sich der verstorbene Schenker die Verfügungsmacht über das Guthaben vorbehalten hatte; vgl. BGHZ 46,198. Vor Annahme des Schenkungsangebotes und vor Vollzug der Schenkung gewährt die neuere Rechtsprechung den Erben allerdings ein Widerrufsrecht; vgl. BGHZ 66,8 und BGH WM 1983,411. Den pflichtteilsberechtigten Angehörigen gewähren die §§ 2325, 2329 BGB nur einen unvollkommenen Schutz vor einer Aushöhlung ihres Pflichtteilsanspruchs durch lebzeitige Schenkungen des Erblassers. 1 0 6
Motive TE, S. 535 ff.
1 0 7
Motive, Bd. V S. 351.
1 0 8
Protokolle II, Bd. V S. 460 ff.; daraus ist zu erklären, daß nach dem Wortlaut des § 2301 BGB die Abgrenzung von testamentarischen Verfügungen und lebzeitigen Schenkungen auf den Todesfall nur ein Formproblem zu sein scheint und die Vorschrift die eigentlichen Probleme gar nicht anspricht.
58
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
Unabhängig davon trägt § 2301 BGB im Endeffekt aber doch dazu bei, der Verfügungsfreiheit im Todesfall ein weiteres Betätigungsfeld zu eröffnen, das bei Ausnutzung durch den (nachmaligen) Erblasser die Nachlaßbeteiligung der Familienangehörigen noch stärker beeinträchtigen kann als die Testierfreiheit selbst. Insgesamt betrachtet ist damit das Erbrecht des BGB in erster Linie der Verfügungsfreiheit des Erblassers verpflichtet. Das zeigt sich schon bei näherer Betrachtung des Pflichtteilsrechtes, das nicht als ein Kompromiß zwischen Eigentumsschutz und Familienbindung eingestuft werden kann, weil es wegen der Ausgestaltung des Pflichtteilsanspruches der Testierfreiheit keine Schranke setzt, die dem Prinzip der Familienerbfolge nach damaligem Verständnis entspricht. Daneben wird dies in den Rechtsinstituten der Testamentsvollstreckung sowie der Vor- und Nacherbfolge deutlich, deren Ausgestaltung dem Erblasser weitgehende Bestimmungsbefugnisse gegenüber den Erben einräumt. § 2301 BGB bewirkt schließlich ein übriges, um der Verfügungsfreiheit im Todesfall mit Hilfe lebzeitiger Schenkungen ein Betätigungsfeld zu eröffnen. Trotz der Beteuerungen beider Kommissionen, das Erbrecht nicht an einem bestimmten Grundprinzip ausrichten zu wollen, wird damit die vorrangige Berücksichtigung von Eigentumsschutz und Verfügungsfreiheit im Gesetz belegt. In dieser Wertentscheidung spiegelt sich die gleiche klassisch-liberale Grundhaltung wider, die der Gesetzgeber schon bei der Behandlung der sozialen Frage an den Tag gelegt hat. Denn der Vorrang der Verfügungsfreiheit im Erbrecht ist nichts anderes als ein Beitrag zu einer privatautonomen Lebensgestaltung des Menschen, die das Streben nach bürgerlicher Freiheit zum Ausdruck bringt und das Privateigentum als deren ökonomische Stütze gegen feudale Bevormundung betrachtet.
Β. Die Grundlagen der Privaterbfolge nach der Wertordnung des Grundgesetzes
Im vorangegangenen Kapitel wurden die Wertvorstellungen und Leitideen nachgezeichnet, von denen sich der Gesetzgeber bei Erarbeitung des Erbrechts im 19. Jahrhundert leiten ließ und die deshalb als Grundlagen die Ausgestaltung der Privaterbfolge im Gesetz bestimmten. Diese Vorstellungen wirken noch heute fort. Denn nicht nur Familienerbfolge, Testierfreiheit und Pflichtteilsrecht als tragende Säulen der Privaterbfolge, sondern auch der größte Teil der einzelnen Rechtsinstitute des Erbrechts gelten noch in unveränderter Form2. Die weitgehende Kontinuität auf einfachgesetzlicher Ebene wird jedoch überlagert durch eine Veränderung der Verfassungsordnung. Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes trifft dieses selbst die grundlegenden Wertentscheidungen für die Rechtsordnung und damit auch für das Erbrecht in der Bundesrepublik Deutschland. Die Ermittlung der die Privaterbfolge bestimmenden Grundprinzipien kann darum nicht mehr vom einfachen Gesetz ausgehen, sondern muß in erster Linie die verfassungsrechtlichen Vorgaben beachten. Zudem haben sich auch die Lebensverhältnisse in den letzten einhundert Jahren nachhaltig verändert. Die Privaterbfolge erscheint darum nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch in einem anderen Licht. Für einen Vergleich der Grundlagen der Privaterbfolge in der Bundesrepublik und der DDR ist demgemäß eine Untersuchung der Wertentschei-
2
Die Erbfolge des Ehegatten und des nichtehelichen Kindes ist allerdings nachhaltig geändert worden. Für das nichteheliche Kind wurde die diskriminierende Fiktion der fehlenden Verwandtschaft zum Vater aufgehoben und ihm eine annähernd gleichberechtigte Stellung im Vergleich zum ehelichen Kind eingeräumt. Die Erbbeteiligung des Ehegatten verbessert der erbrechtliche Zugewinnausgleich nach § 1371 BGB. Darin zeigt sich der Wandel des Familienverständnisses, auf den im folgenden noch einzugehen sein wird.
60
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
düngen des Grundgesetzes zum Erbrecht unter Berücksichtigung der andersartigen Lebensumstände in der heutigen Zeit unentbehrlich. Im folgenden wird also zu überprüfen sein, inwieweit die Verfassung die Leitideen des Gesetzgebers aus dem 19. Jahrhundert in grundrechtlicher Verbürgung übernimmt oder modifiziert. Dabei soll zunächst die Abgrenzung zwischen Privaterbfolge und staatlicher Nachlaßbeteiligung zur Sprache kommen, um im Anschluß daran die inhaltlichen Gründe zu behandeln, die für die Zulassung der Privaterbfolge bestimmend sind.
L Gewährleistung und Grenzen der Privaterbfolge nach Art 14 GG 1) Die Privaterbfolgegarantie
des Art. 14 11 GG
Art. 14 I 1 GG bestimmt, "das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet". Wenn auch nicht ausdrücklich vom Privaterbrecht die Rede ist, so folgt doch aus der Zielsetzung des Grundrechtskataloges selbstverständlich, daß der Begriff "Erbrecht" gemeint ist als Privaterbrecht in Abgrenzung zur Erbberechtigung der öffentlichen Hand2. Mit der Gewährleistung der Privaterbfolge untersagt Art. 14 I 1 GG also zunächst, daß der Gesetzgeber dem Staat die primäre Erbberechtigung zuweist3. Zur Sicherstellung des Gewährleistungsinhalts entfaltet Art. 14 I 1 GG seine Schutzfunktion als Individualgrundrecht und als Rechtsinstitutsgarantie. Als individuelles Abwehrrecht schützt er die am Erbgang beteiligten Personen. Dem Erblasser eröffnet und garantiert er die Möglichkeit,
2
Dies entspricht dem zweifelsfreien Inhalt der Eigentumsgarantie als Verbürgung des Privateigentums. Vgl. in der Literatur AK - Rittstieg, Art. 14/15 Rn 147; von Münch Bryde, Art. 14 Rn 43; MDH - Papier, Art. 14 Rn 239; von Mangoldt/Klein, Art. 14 S. 426 f. 3
Das ist allgemeine Meinung; vgl. statt aller nur BK - Kimminich, MDH - Papier, Art. 14 Rn 239; Schlüter, Erbrecht S. 4.
Art. 14 Rn 95;
Β. Grundlagen der Privaterbfolge nach der Wertordnung des Grundgesetzes
61
seinen Nachlaß an Privatpersonen zu übertragen. Dem Erben wird der Eigentumserwerb am Nachlaß im Wege der Erbfolge gesichert*. Vererbungsfreiheit des Erblassers und Eigentumserwerbsrecht des Erben verbürgen so den gesamten Erbgang und bilden die untrennbaren Bestandteile der individuellen Erbrechtsfreiheit 5. In seiner Funktion als Rechtsinstitutsgarantie verlangt Art. 14 I 1 GG darüber hinaus, daß der Gesetzgeber einen Komplex erbrechtlicher Normen zur Regelung des Erbfalles bereithält. Darin liegt eine formale wie eine inhaltliche Komponente. Das formale Element der Rechtsinstitutsgarantie trägt dem Umstand Rechnung, daß sich die Verbürgung der Privaterbfolge als Individualgrundrecht ohne einen als "Erbrecht" zu qualifizierenden Normenkomplex nicht aktualisieren könnte. Das Erbrecht bedarf genauso wie das Eigentum einer rechtlichen Ausgestaltung, ohne die es leerlaufen würde6. Inhaltlich bezweckt die Institutsgarantie zudem, daß die staatlicherseits vorgehaltene Erbfolgeordnung auch der Wertentscheidung des Grundgesetzes zugunsten der Privaterbfolge entspricht7. Es geht demgemäß nicht darum, irgendeine gesetzliche Regelung zu treffen, sondern um ein der Grundrechtsverwirklichung verpflichtetes Normensystem5. In diesem Sinne zielt die Rechtsinstitutsgarantie des Art. 14 I 1 GG auf die Verstärkung des Individualgrundrechtes und soll dazu beitragen, dessen Umsetzung in der Verfassungswirklichkeit zu befördern 9. Die Abwehrfunktion des Individualgrundrechtes und die Inpflichtnahme des Gesetzgebers durch die Rechtsinstitutsgarantie sind somit zwei aufeinander bezogene Ausschnitte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Privaterbfolge 70.
4
Von Münch - Bryde, Art. 14 Rn 43.
5
MDH - Papier, Art. 14 Rn 241.
6
Badura, Staatsrecht S. 139.
7
Stein, Staatsrecht S. 258.
8
Statt aller MDH - Papier, Art. 14 Rn 243.
9
Allgemein zum Verhältnis von Individualgrundrecht und Institutsgarantie Stern, Staatsrecht III/l S. 795; Badura, Staatsrecht S. 77; BVerfGE 50,290,337 und speziell zu Art. 14 GG BVerfGE 24,367,389. 1 0
Nohly Besteuerung von Erbschaften S. 109.
62
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
Insoweit Art. 14 I 1 GG mit diesen beiden Funktionen dafür Sorge trägt, die Privaterbfolge gegen den staatlichen Zugriff auf den Nachlaß abzusichern, ruht sein Gewährleistungsgehalt auf den gleichen Grundfesten, die schon dem Gesetzgeber des Erbrechts im 19. Jahrhundert als verbindliche Richtschnur galten. Denn der Schutz der Privaterbfolge reiht sich ein in den Kanon der Freiheitsrechte des Grundgesetzes und konkretisiert für das Erbrecht deren im Ansatz liberales Grundanliegen, das in der Sicherung individueller Freiheit gegenüber staatlicher Allmacht liegt. Die Garantie des Erbrechts hat insoweit einen Ausgangspunkt, den der Erbrechtsredaktor von Schmitt im 19. Jahrhundert bereits mit den Worten umriß, daß der Staat für sich kein Erbrecht unter Hintenanstellung privater Interessen begründen dürfe 77. Hierin deutet sich die Kontinuität an, in der die Freiheitsrechte des Grundgesetzes stehen. Ausgehend von der Philosophie der Aufklärung und den dort postulierten natürlichen Rechten als dem Staat vorgegebene Ordnungsprinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens über die Deklaration der unveräußerlichen Menschenrechte in der französischen Revolution, die den Anstoß zum liberal rechtsstaatlichen Denken auch in Deutschland lieferten 72, schreibt das Grundgesetz die Grenzziehung zwischen Staat und Gesellschaft als Garant individueller Freiheit fort, wenn es sich in Art. 1 II GG zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft bekennt75.
7 7 7 2
Vgl. oben S. 43 f.
Dazu Rode, Rechtsphilosophie S. 131; Kröger, Grundrechte im Konstitutionalismus S. 328 ff. 1 3
Verfassungsgeschichte S. 23; Wahl,
Zur Kontinuität vgl. Stern, Staatsrecht III/l S. 71 ff., insbesondere S. 83 und 88; von Arnim, Staatslehre S. 36. Aus dieser Kontinuität der Grundrechtsentwicklung seit der Zeit der Aufklärung ist allerdings keine Aussage darüber zu gewinnen, ob auch nach dem Grundrechtsverständnis des Grundgesetzes von vorstaatlichen, überpositiven Menschenrechten gesprochen werden kann, die unabhängig von einer Aufnahme in den Grundrechtskatalog Verbindlichkeit für sich beanspruchen. Vgl. zum Streitstand AK-Denninger, Art. 1 Rn 7 ff.
Β. Grundlagen der Privaterbfolge nach der Wertordnung des Grundgesetzes
2) Schranken der Privaterbfolge
63
als Ausdruck des Sozialstaatsprinzip
Die in Art. 14 I 1 GG getroffene Wertentscheidung zugunsten der Privaterbfolge bleibt allerdings nicht bei der Fortschreibung klassischliberaler Grundsätze stehen. Die Gewährleistung der Privaterbfolge wird vielmehr im Sinne des Sozialstaatsgebotes aus Art. 20 I GG weiterentwickelt und ausgeformt. Art. 14 GG selbst enthält die Grundlage dafür. Dessen Absatz eins Satz zwei überweist dem Gesetzgeber die Befugnis, Inhalt und Schranken der Eigentums- und Erbrechtsgarantie zu bestimmen. In Abwendung von klassisch-liberalen Denkmustern ist dadurch eine Modifizierung der Erbfolgeordnung im Wege staatlicher Rechtsetzung nicht von vorneherein ausgeschlossen, sondern der Gesetzgeber kann (Eigentum und) Erbrecht nach Maßgabe der sich verändernden Lebensverhältnisse näher ausgestalten, sofern er den Wesensgehalt des Grundrechtes nicht antastet7*. Im Falle einer solchen Ausgestaltung ist er überdies verpflichtet, den in Art. 14 II GG niedergelegten Grundsatz der Gemeinwohlbindung zu beachten, der sich auch auf die Erbrechtsgarantie erstreckt 75. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Gesetzgeber deshalb auch bei der Ausgestaltung des Erbrechts gehalten, "beiden Elementen des im Grundgesetz angelegten Verhältnisses von verfassungsrechtlich garantierter Rechtsstellung und dem Gebot einer sozialgerechten Eigentumsordnung in gleicher Weise Rechnung zu tragen ..."76. Die Sozialbindung ist damit nichts anderes
1 4
MDH - Papier, Art. 14 Rn 243.
7 5
Der Grund für die Anwendung des Art. 14 II GG auf die Erbrechtsgarantie über den Wortlaut der Vorschrift hinaus liegt in der Erkenntnis, daß wegen des engen Zusammenhanges von Eigentum und Erbrecht die Gewährleistung der Privaterbfolge als eine besondere Form der Eigentumsnutzung erscheint; vgl. Nohl, Besteuerung von Erbschaften S. 125. Heute ist die Geltung von Art. 14 II GG für das Erbrecht deshalb allgemeine Meinung; vgl. BK - Kimminich, Art. 14 Rn 94; MDH - Papier, Art. 14 Rn 241; von Münch - Bryde, Art. 14 Rn 43; Soergel-Stein, Einl. zu § 1922 Rn 6; Brox, Erbrecht S. 13. Dagegen noch von Mangoldt-Klein, Art. 14 S. 431 (1966). Zweifelnd in neuerer Zeit Stern, Staatsrecht III/l S. 830, allerdings ohne Begründung. 1 6
Vgl. BVerfGE 52,27,29; vorher schon sinngleich BVerfGE 37,132,140.
64
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
als die Konkretisierung des Sozialstaatsgebotes für die Eigentumsverfassung77, das in Abkehr von dem die Güterverteilung allein sichernden liberalen Rechtsstaat darauf abzielt, die Staatsaufgaben auch im Sinne eines sozialen Ausgleichs zu definieren 75. Mit dieser allgemeinen Festlegung überwindet das Grundgesetz die liberalen Grundpositionen zur Ausgestaltung des Erbrechts, die den Gesetzgeber darauf beschränken wollten, dem Privaterbrecht allein zu formaler Geltung verhelfen zu dürfen 79. Die strikte Ausklammerung des Staates von der Nachlaßvergabe als Folgeerscheinung dieser Vorstellung entbehrt damit der Grundlage. Im Gegenteil eröffnet Art. 14 GG dem Staat gerade die Möglichkeit, zur Verwirklichung sozialstaatlicher Zielsetzungen sich selbst neben Privatpersonen einen Anteil aus der Erbmasse zuzuweisen, solange der Wesensgehalt der Privaterbfolgegarantie nicht angegriffen wird, der, wie schon oben erwähnt, eine primäre Erbberechtigung des Staates ausschließt20. Praktische Konsequenzen dieser sozialstaatlichen Bindung der Privaterbfolgegarantie zeigen sich vor allem im Erbschaftssteuerrecht. Das Grundgesetz erwähnt diese Steuerart in Art. 106 II GG selbst. Ihre bloße Existenz signalisiert schon die Aufhebung der strikten Ausgrenzung des Staates von der Nachlaßverteilung. Darüber hinaus unterstreicht die Höhe und die progressive Steigerung der Steuersätze nach Maßgabe des Nachlaßwertes27 deren Einbindung in sozialstaatliche Zielstellungen, denn Umfang und Staffelung der Besteuerung leisten neben der Verfolgung rein fiskalischer Interessen auch einen Beitrag zur Vermögensredistribution beim Erbfall im Sinne eines sozialen
1 7 Allg. Meinung; vgl. BK - Kimminich, Art. 14 Rn 115; MDH - Papier, Art. 14 Rn 250; von Münch - Bryde, Art. 14 Rn 65; Stein, Staatsrecht S. 239; Hesse, Verfassungsrecht S. 172; Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit S. 319 und BVerfGE 50,290,340; 58,137,147 f.; 58,300,338. 1 8
MDH - Maunz/Dürig, Art. 79 Rn 49 und Böckenforde, 320; Stein, Staatsrecht S. 233 ff. 7 9
Vgl. oben S. 43.
2 0
Vgl. Fn 3 S. 59.
2 7
Staat, Gesellschaft, Freiheit S.
Neben der Höhe des Nachlaßwertes bestimmt auch die verwandtschaftliche Nähe den Steuersatz; vgl. § 19 ErbStG.
Β. Grundlagen der Privaterbfolge nach der Wertordnung des Grundgesetzes
65
Ausgleichs22. Wenn auch die Erbschaftssteuer keine Folgeerscheinung des Sozialstaatsgebotes ist 25 , so reiht sie sich doch heute in die Wertordnung des Grundgesetzes als Ausdruck der Gemeinwohlbindung des Art. 14 II GG ein2*. Im Spannungsverhältnis von Freiheitsverbürgung und Sozialbindung unterliegt sie ihrerseits aber wiederum der Begrenzung durch den grundrechtlich verbürgten Inhalt der Privaterbfolge. Sie darf demgemäß keinen Umfang annehmen, der die von Art. 14 I 1 GG gewollte Primärberechtigung Privater bei der Nachlaßverteilung in Frage stellen würde 25. Aber auch über den Bereich der Erbschaftssteuer hinaus steht die Wertordnung des Grundgesetzes einer Beteiligung des Staates am Erbgang nicht grundsätzlich entgegen. In der Literatur ist heute allgemein anerkannt, daß ein nachrangiges Staatserbrecht innerhalb der gesetzlichen Erbordnungen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt, solange die Erbberechtigung der nächsten Angehörigen nicht angetastet wird 26 . Eine solche Maßnahme wäre von der Inhalts- und
2 2
Wegen der Entstehungsgeschichte der Erbschaftssteuer will Leisner dieser Steuerart allein fiskalische Zwecke beilegen und hält eine sozialgestaltende Wirkung für unzulässig (vgl. Leisner, Verfassungsrechtliche Grenzen S. 22). Dagegen geht Nohlrichtigerweise von der Zulässigkeit dieser Zielsetzung aus (Nohl, Besteuerung von Erbschaften S. 237). Von Bedeutung ist dieser Meinungsstreit hier nicht, weil es insoweit allein auf die faktische Wirkung der Erbschaftssteuer ankommt, die in der geltenden Form jedenfalls verfassungsgemäß ist. 2 5 Im Deutschen Reich wurde erstmals 1906 eine Erbschaftssteuer eingeführt, aber bereits vor dieser Zeit galten landesgesetzliche Steuerregelungen. Die Steuersätze waren jedoch so gering, daß damals von einer sozialgestaltenden Wirkung nicht gesprochen werden konnte; vgl. Nohl, Besteuerung von Erbschaften S. 13. 2 * Die Zuordnung steuerlicher Lasten zu Art. 14 II GG wird vom BVerfG allerdings mit zwei Argumenten bestritten. Einerseits falle der Eigentumserwerb, an den die Steuerpflicht regelmäßig anknüpfe, nicht in den Schutzbereich des Art. 14 I GG (in diesem Sinne BVerfGE 50,57,104 ff.), andererseits knüpfe die Besteuerung am Vermögen insgesamt an, das ebenfalls nicht von Art. 14 GG erfaßt werde (BVerfGE 4,7,17). Beide Argumente greifen für die Erbschaftssteuer aber nicht, weil die Garantie der Privaterbfolge auf seiten des Erben gerade den Erbschaftserwerb auch unter Schutz stellt. So auch Nohl, Besteuerung von Erbschaften S. 123 ff. 2 5 2 6
Schlüter, Erbrecht S. 79; Leisner, Verfassungsrechtliche Grenzen S. 64 f.
Vgl. nur Schlüter, Erbrecht S. 11; MüKo - Leipold, Einl. zu § 1922 Rn 17; Lange, Erbrecht S. 29; Brox, Erbrecht S. 14; Soergel-Stein, Einl. zu § 1922 Rn 7; MDH - Papier, Art. 14 Rn 245; von Münch - Bryde, Art. 14 Rn 46; AK - Rittstieg Art. 14Λ5 Rn 148; Däubler, ZRP 75,136,143; Boehmer, Erbrecht S. 417.
66
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
Schrankenbestimmung des Art. 14 I 2 GG gedeckt. Darauf wird bei der Untersuchung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familienerbfolge noch einzugehen sein27. Aufgrund dieser Befugnis zeigt sich an dieser Stelle aber schon, daß der Verbürgung der Privaterbfolge zwei einander begrenzende Elemente innewohnen. Einerseits konstituiert Art. 14 I 1 GG in Verfolgung liberaler Grundvorstellungen die individuelle Erbrechtsfreiheit als Abwehrrecht und flankiert sie zudem mit einer Rechtsinstitutsgarantie gegen staatliche Übergriffe. Andererseits weist derselbe Grundrechtsartikel dem Gesetzgeber die Befugnis zur Inhalts- und Schrankenbestimmung nach Maßgabe der Gemeinwohlbindung zu. Trotz Übereinstimmung im Ausgangspunkt mit dem Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts modifiziert die Verfassung die Grundvorstellungen zum Privaterbrecht dadurch nachhaltig und hebt die strikte Trennung von Staat und Gesellschaft in diesem Rechtsgebiet auf. Die individuelle Tragweite der Privaterbfolge kann dadurch an Grenzen stoßen, weil aufgrund der tatsächlich vorhandenen oder verfassungsrechtlich möglichen Beschränkungen der Privaterbfolge der gesamte Nachlaß nicht immer in privater Hand verbleibt. Die gesellschaftliche Bedeutung der Privaterbfolge wird jedoch eher erhöht, weil unter Geltung des Sozialstaatsgebotes für viele erst die Voraussetzungen geschaffen wurden, um die Erbrechtsfreiheit im Verfassungstext in nutzbare Realität umzusetzen.
IL Inhaltliche Leitideen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Privaterbfolge
Das vorangegangene Kapitel hat Ausmaß und Grenzen der Privaterbfolge aufgezeigt, wie sie von Art. 14 I 1, II GG gegenüber dem Staat verbürgt werden. Zu beantworten bleibt aber die Frage, welche inhaltlichen Wertvorstellungen das Grundgesetz leiten, wenn es die Privaterbfolge seinem Schutz unterstellt. Bei Erlaß des BGB-Erbrechts war der Schutz des Eigentums und der Willensfreiheit des Erblassers von
2 7
Vgl. Punkt Β. II 3).
Β. Grundlagen der Privaterbfolge nach der Wertordnung des Grundgesetzes
67
erstrangiger Bedeutung für die Zulassung und Ausgestaltung der Privaterbfolge 25. Das Prinzip der Familienbindung fand daneben durch die gesetzliche Verwandten- und Ehegattenerbfolge Eingang ins Erbrecht, allerdings ohne einen vergleichbaren Stellenwert im Gesetz einzunehmen. Ob sich diese inhaltlichen Bestimmungsmomente im Grundgesetz wiederfinden, ist zunächst unter Rückgriff auf Art. 14 GG zu untersuchen.
1) Art 14 I 1 GG und die Testierfreiheit
Mit der Formulierung "Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet" garantiert Art. 14 I 1 GG beide Rechtsinstitute im denkbar engsten Zusammenhang. Das ist durchaus keine Selbstverständlichkeit. Im Text der Weimarer Reichsverfassung war diese unmittelbare Verknüpfung nicht enthalten. Gemäß Art. 153 WRV wurde das Eigentum "von der Verfassung gewährleistet"29. Erst Art. 154 WRV behandelte das Erbrecht und schützte es "nach Maßgabe des bürgerlichen Rechts"50. Eigentum und Erbrecht standen damit zwar auch in systematischer Abfolge. Die unmittelbare Verbindung fehlte aber, und der Inhalt beider Gewährleistungen unterschied sich insofern, als der Verfassungstext dem Erbrecht engere Grenzen zog37. Auch die Paulskirchenverfassung sah in ihrem Text keine Gleichstellung von Eigentum und Erbrecht vor. § 164 bestimmte: "Das Eigenthum ist unverletzlich"32. Bezüglich des Erbrechts hielt § 165 lediglich fest, daß Grundbesitz (unter Lebenden und) von Todes wegen ganz oder teilweise veräußert werden durfte 33.
2 8
Vgl. oben S. 51 ff.
2 9
Anschütz, WRV S. 703.
3 0
Anschütz, WRV S. 721.
3 1
Anschütz, WRV S. 721.
3 2
Vgl. Nachweis bei von Münch - Bryde, Art. 14 S. 617.
3 3
Von Münch - Bryde, Art. 14 S. 617. Die ausdrückliche Feststellung freier Teilbarkeit und Verfügbarkeit richtete sich gegen standesbedingte Beschränkungen der damaligen
68
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
Das Grundgesetz macht mit der direkten Verbindung und der gleichrangigen Verbürgung von Eigentum und Erbrecht dagegen erstmalig deutlich, daß beide Gewährleistungen verfassungssystematisch voneinander abhängen. Diese systematische Verknüpfung liefert einen wesentlichen Anhaltspunkt für die Bestimmung der inhaltlichen Leitideen, die das Grundgesetz mit dem Schutz der Privaterbfolge vor Augen hat. Die Systematik des Art. 14 I 1 GG verankert die funktionale Einheit von Eigentum und Erbrecht. Sie zeigt sich zunächst darin, daß die Privaterbfolge der Garant des Privateigentums im Generationswechsel ist. Allein dadurch kann das Privateigentum die Rolle als ein bestimmendes Element der Verfassungsordnung einnehmen5*. Zum Teil wird deshalb die Auffassung vertreten, daß die Erbrechtsgarantie auch ohne ausdrückliche Benennung in der Eigentumsgarantie des Art. 14 I 1 GG enthalten wäre 55. Ob dem gefolgt werden kann, erscheint fraglich, denn der Schutz des Privateigentums zu Lebzeiten des Rechtsinhabers ist auch ohne korrespondierende Erbrechtsfreiheit eine Wertentscheidung, die der völligen Negierung privaten Eigentums eine Absage erteilt 56. Die Frage ist jedoch hypothetischer Natur und bedarf keiner Klärung, weil der Wortlaut des Art. 14 I 1 GG das Erbrecht ausdrücklich erwähnt. Die skizzierte Meinung ist jedoch von ihrer Zielsetzung her verständlich. Ihr richtiger Ansatz liegt darin, daß die Eigentumsgarantie ohne Flankierung durch die Privaterbfolge von minderer Qualität wäre. Sie würde zu einer lebzeitigen Nutzungsbefugnis degradiert 57 und könnte dem Privateigentum nicht die Position als elementares Grundprinzip der Gesellschaftsverfassung sichern, die ihm nach dem Willen des
Zeit, die nach bürgerlich-liberaler Auffassung beseitigt werden sollten; vgl. Kühne, Paulskirchenverfassung S. 254 f. 3 4
Allg. Meinung; vgl. MDH - Papier, Art. 14 Rn 239; BK - Kimminich, Art. 14 Rn 95; von Münch - Bryde, Art. 14 Rn 43; Badura, Staatsrecht S. 143. 5 5
Vgl. etwa von Münch - Bryde, Art. 14 Rn 43 mwN.
3 6
Zweifelnd auch Soergel-Stein, Einl. zu § 1922 Rn 4.
5 7
So Schlüter, Erbrecht S. 4; Lange, Erbrecht S. 1; Leisner, Verfassungsrechtliche Grenzen S. 73.
Β. Grundlagen der Privaterbfolge nach der Wertordnung des Grundgesetzes
69
Grundgesetzes zukommen soll35. Für die Gewährleistung der Privaterbfolge ergibt sich daraus als Schlußfolgerung, daß sie genauso wie die Eigentumsgarantie ein konstitutives Element der Eigentumsverfassung insgesamt ist. Der Inhalt der Erbrechtsgarantie muß deshalb unter Berücksichtigung der grundlegenden Strukturprinzipien der Eigentumsverfassung bestimmt werden. Dieser Befund ebnet den Weg zu der Erkenntnis, daß die Testierfreiheit als inhaltsbestimmender Grundsatz der Privaterbfolge von Art. 14 I 1 GG mitgewährleistet ist. Die Strukturelemente der in Art. 14 I GG niedergelegten Eigentumsverfassung ergeben sich aus dem Sinn und Zweck der Institution des Privateigentums im Gefüge der verfassungsrechtlichen Ordnung. Der Eigentumsschutz steht danach in einem inneren Zusammenhang mit dem Schutz der persönlichen Freiheit gemäß Art. 2 I GG 3 9 . Privateigentum ist demgemäß kein Wert als solcher. Vielmehr kommt ihm die Bedeutung zu, dem Bürger den vom Grundgesetz gewährten Freiraum im vermögensrechtlichen Bereich abzusichern^. Dies geschieht in der Erkenntnis, daß eine dem Menschenbild des Grundgesetzes entsprechende Persönlichkeitsentfaltung ohne ökonomische Stütze nicht möglich ist«. Art. 2 I GG und Art. 14 I GG bilden in dieser Zusammenordnung zentrale Gewährleistungen des Grundrechtskataloges, um dem Menschenbild der Verfassung zu praktischer Verwirklichung zu verhelfen. Aus dieser personalen Sicht der Eigentumsgarantie leiten sich das Prinzip der Privatnützigkeit und das Prinzip der freien Verfügbarkeit als tragende Säulen der Eigentumsverfassung ab*2. Sie gewährleisten
3 8
In diesem Sinne von Münch - Bryde, Art. 14 Rn 1 und BVerfGE 14,263,277.
3 9
Vgl. Mawtz/Zippelius, Staatsrecht S. 235; Pieroth/Schlink, Grundrechte S. 233; Stein, Staatsrecht S. 258 sowie die ständige Rechtsprechung des BVerfG in BVerfGE 24,367,389; 42,263,293; 50,290,339. 4 0
Allg. Meinung, vgl. nur MDH - Papier, Art. 14 Rn 1 mwN. und BVerfGE 50,290,339.
4 1
Badlira, Staatsrecht S.139.
4 2
Allg. Meinung, vgl. Hesse, Verfassungsrecht S. 173; Stein, Staatsrecht S. 258 f.; von Münch - Bryde, Art. 14 Rn 59; MDH - Papier, Art. 14 Rn 274 f.; Maunz/Zippelius, Staatsrecht S. 237; Pieroth/Schlink, Grundrechte S. 233 f.; Badura, Staatsrecht S. 140 sowie das BVerfG in ständiger Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 24,367,389 f.; 26,215,222; 31,229,240.
70
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
erst eine privatautonome Lebensgestaltung in freier Selbstbestimmung, der alle Grundrechte zuvörderst verpflichtet sind. Im Erbrecht findet sich das Prinzip der Privatnützigkeit in der Gewährleistung der Privaterbfolge selbst, insoweit sie den Grundsatz aufstellt, daß der Nachlaß von Privatpersonen prinzipiell auch in privater Hand verbleiben soll. Der Grundsatz der freien Verfügbarkeit bedarf aber gleichermaßen der Verankerung in Art. 14 I 1 GG, wenn die Erbrechtsgarantie wegen ihrer Perpetuierungsfunktion zugunsten des Privateigentums als konstitutives Element der Eigentumsverfassung neben die Eigentumsverbürgung treten soll. Dieses Ziel kann nur über die Testierfreiheit erreicht werden, die im Erbrecht das notwendige Pendant zur freien Verfügbarkeit unter Lebenden bildet. Von daher ergibt sich die Notwendigkeit, sie neben dem Grundsatz der Privaterbfolge in den Schutzbereich des Art. 14 I 1 GG einzuordnen. Deshalb kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Gewährleistung der Privaterbfolge durch Art. 14 I 1 GG selbst mit einer Verbürgung der Testierfreiheit inhaltlich ausgestaltet wird*5.
2) Verfassungsrechtlicher
Schutz der Familienerbfolge
Die Verwandten- und Ehegattenerbfolge als Ausdruck des Prinzips der Familienbindung bildete bei Erlaß des BGB - Erbrechts neben der Testierfreiheit ein wesentliches Grundprinzip für die Ausgestaltung der Erbfolgeordnung. Es liegt deshalb die Annahme nahe, daß das Grundgesetz mit der Einbeziehung des Erbrechts in den Schutzbereich des Art. 14 I 1 GG auch dieses Prinzip in Verfassungsrang erhoben hat.
Das ist im Ergebnis in Literatur und Rechtsprechung unumstritten, vgl. BVerfGE 67,329,341 mwN. und MDH - Papier, Art. 14 Rn 247; BK - Kimminich, Art 14 Rn 95; von Münch - Bryde, Art. 14 Rn 45; Schmidt-Bleibtreu/Klem, Art. 14 Rn 5; AK - Rittstieg, Art. 14/15 Rn 149; Badura, Staatsrecht S. 143; Schlüter, Erbrecht S. 4; Leipold, Erbrecht S. 21; Lange, Erbrecht S. 22; Harder, Erbrecht S. 1 f.; Brox, Erbrecht S. 11; Soergel-Stein, Einl. zu § 1922 Rn 6; Boehmer, Erbrecht S. 418; von Lübtow, Erbrecht I S. 19; Leisner, Verfassungsrechtliche Grenzen S. 50 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte S. 234. Vgl. auch die Entstehungsgeschichte in JÖR 1,145.
Β. Grundlagen der Privaterbfolge nach der Wertordnung des Grundgesetzes
71
Zwar kann dies nicht für die gesamte Verwandtenerbfolge in ihrer Schrankenlosigkeit gelten, wie schon oben erwähnt wurdet Allein nahe Angehörige des Verstorbenen dürfen einen grundrechtlichen Schutz auf Teilhabe an dessen Nachlaß erwarten. Das bringt schon das Pflichtteilsrecht zum Ausdruck, welches nur Ehegatten, Eltern und Abkömmlingen einen Anteil an der Hinterlassenschaft unentziehbar zuweist. In der Literatur ist diese Begrenzung auch allgemein anerkannt45. Unklar ist hingegen, wie sich eine verfassungsrechtliche Verbürgung der Familienerbfolge begründen läßt. Art. 14 I 1 GG drängt sich wegen der Erwähnung des Erbrechts in seinem Wortlaut als Schutznorm bei erstem Hinsehen auf; denkbar ist in dieser Funktion aber auch Art. 6 I GG. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob der geschützte Personenkreis - ausgehend vom einfachgesetzlichen Erbrecht - mit dem Kreis der Pflichtteilsberechtigten übereinstimmt oder ob er aus der Verfassung selbst entnommen werden muß, wobei sich wiederum Art. 6 I GG anböte. Weil alle diese Fragen in der Literatur unterschiedlich beantwortet werden, bedarf es zunächst einer Aufarbeitung des Meinungsstandes.
a) Meinungsstand in der Literatur
Als erster befaßte sich Boehmer im Jahre 1954 eingehend mit der Erbrechtsgarantie des Grundgesetzes. Er vertrat die Auffassung, daß die Verfassung Testierfreiheit und Familienerbfolge gleichermaßen gewährleiste. Sie erhebe "die funktionale Zusammenordnung des frei verfügbaren und egoistischen Privateigentums einerseits und der auf altruistischer Pflichtbindung beruhenden kollektivistischen Privatfamilie andererseits" als grundlegende Merkmale der Erbordnung in Verfassungsrang. Jede Aufhebung oder Entstellung dieser Austarierung der beiden gegensätzlichen Prinzipien zugunsten der einen oder anderen Seite habe deshalb verfassungsändernde Qualität46. In Art. 14 I 1 GG sah Boehmer die Schutznorm der Familienerbfolge (und der Testierfrei-
4 4
Vgl. S. 65 der Arbeit.
4 5
Vgl. Fn 26 auf S. 65.
4 6
Boehmer, Erbrecht S. 413.
72
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
heit), weil die Aufnahme des Begriffes "Erbrecht" in den Text des Grundgesetzes auf die Übernahme der Strukturprinzipien des einfachgesetzlichen Erbrechts schließen lasse, wie sie vom Verfassungsgeber vorgefunden wurden*7. Trotz dieser Bestimmung der Erbrechtsgarantie nach dem Bestand einfachgesetzlicher Normen wollte Boehmer die Verbürgung der Familienerbfolge aber auf den Personenkreis beschränkt wissen, der dem Schutzbereich des Art. 6 I GG unterfällt* 5. In dieser Argumentation, die für die Bestimmung der Schutznorm der Familienerbfolge von den Strukturprinzipien des einfachen Gesetzes ausgeht, die erfaßten Personen aber aus der Verfassung selbst und überdies noch aus einer anderen Grundrechtsnorm ableitet, liegt eine eigentümliche Dichotomie, die die nachfolgende Literatur maßgeblich beeinflußt hat*9. Die vorherrschende Meinung in der erbrechtlichen Literatur geht denn auch genauso wie Boehmer davon aus, daß das Grundgesetz in Art. 14 I 1 GG auch die Familienerbfolge schützt. Nach Leipold bilden Familienerbfolge und Testierfreiheit den unentziehbaren Kern des Erbrechts im Sinne des Art. 14 I 1 GG, weil der Gesetzgeber bei der Auslegung der Erbrechtsgarantie die Überzeugungen beachten müsse, die bei Erlaß des Grundgesetzes bestanden haben50. In Art. 6 I GG erkennt Leipold ein zusätzliches Argument für den Schutz der Familienerbfolge 57. Schlüter greift auf Art. 14 I 1 GG zurück, um neben der Testierfreiheit des Erblassers auch das Pflichtteilsrecht der nahen Angehörigen als verfassungsfest einzustufen 52. Schließlich ist für Brox das Zusammenspiel von Art. 14 I 1 GG und Art. 6 I GG der Anknüpfungspunkt für die grundrechtliche Verbürgung der Familienerbfolge, die dem Gesetzgeber eine Entziehung der Pflicht-
4 7
Boehmer, Erbrecht S. 413.
4 8
Boehmer, Erbrecht S. 415.
*
9
Mit dieser Einschätzung auch Lange, Erbrecht S. 21.
5 0
Leipold, Erbrecht S. 21 und MüKo - Leipold, Einl. zu § 1922 Rn 17.
5 1
Leipold, Erbrecht S. 21.
5 2
Schlüter, Erbrecht S. 4.
Β. Grundlagen der Privaterbfolge nach der Wertordnung des Grundgesetzes
73
teilsansprüche untersage53. Neben diesen Autoren, die von einem Ausgleich oder von einem Kompromiß zwischen Testierfreiheit und Familienerbfolge sprechen, betonen andere in erster Linie die Bedeutung der Familienbindung für das geltende Erbrecht. Lange meint, in der Familie liege das "Schwergewicht des Erbrechts"54. Jedoch folgert Lange deren verfassungsrechtlichen Schutz nicht aus Art. 14 GG, sondern aus Art. 6 I GG, der jedenfalls einen "mittelbaren Schutz der Beteiligten" entfalte. Art. 14 GG sichere dagegen nur die "erbrechtliche Ordnung"55. Von Lübtow hält unter Rückgriff auf die geschichtliche Entwicklung die Familienmitglieder für die "rechten Erben" 56. Zur Inhaltsbestimmung der Grundrechtsverbürgung argumentiert er mit der Wesensgehaltsgarantie aus Art. 19 GG: ihr unterfalle das Pflichtteilsrecht der Ehegatten, Kinder und Eltern des Erblassers57. Noch stärker wird der Familienschutz von Stöcker hervorgehoben. Er sieht in Art. 14 I 1 GG ein Grundrecht auf Erbschaftserwerb. Stöcker versteht dies aber nicht allein als eine verfassungsrechtliche Verbürgung zugunsten desjenigen, der gesetzlich oder testamentarisch als Erbe eingesetzt ist. Nach seiner Auffassung gibt Art. 14 I 1 GG vielmehr schon vor Eintritt des Todesfalles und ganz unabhängig von testamentarischen Verfügungen ein subjektives Recht auf Teilhabe am Nachlaß naher Angehöriger und bilde damit ein Korrektiv zur Überbetonung der Testierfreiheit 55. Nur so könne das Prinzip der Gleichteilung zur Geltung gebracht werden, daß dem Erbrecht wie dem Eigentum seit der französischen Revolution innewohne59. Eine Ausweitung der Familienbeteiligung bei der Nachlaßvergabe fordert Stöcker aber ebensowenig wie die anderen Autoren, die die Familienbindung in den Vordergrund des geltenden Erbrechts stellen.
5 3
Brox, Erbrecht S. 14.
5 4
Lange, Erbrecht S. 21.
5 5
Lange, Erbrecht S. 21.
5 6
Von Lübtow, Erbrecht I S. 19.
5 7
Von Lübtow, Erbrecht I S. 21.
5 8
Stöcker, Das Grundrecht zu erben S. 222.
5 9
Stöcker, Das Grundrecht zu erben S. 218.
74
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
Im Gegensatz zu allen Befürwortern eines verfassungsrechtlichen Schutzes der Familienerbfolge steht in der erbrechtlichen Literatur allerdings Soergel-Stein. Er verneint nicht nur die Gewährleistung der Familienerbfolge durch Art. 14 I 1 GG, sondern meldet ohne eindeutige Stellungnahme auch Zweifel an, ob Art. 6 I GG dafür die Grundlage bietet60. Die verfassungsrechtliche Literatur zeigt eine etwas klarere Linie in der Argumentation, soweit sie sich überhaupt mit der Erbrechtsfreiheit befaßt 6i. Ausgangspunkt der Überlegungen ist auch hier Art. 14 GG. Er bilde die Schutznorm der Familienerbfolge, weil sie als Grundprinzip des einfachgesetzlichen Erbrechts seiner Institutsgarantie unterstehe62. Bis auf ältere Stellungnahmen65 erfolgt die Bestimmung des geschützten Personenkreises aber durchgängig nach Maßgabe von Art. 6 I GG. Nur die von dieser Norm erfaßte Familie soll in ihrer Erwartung auf eine Nachlaßbeteiligung grundrechtlich geschützt sein6*. Insgesamt zeigt die Literatur also ein buntes Bild verschiedener Argumente. Wenn auch weit überwiegend für einen verfassungsrechtlichen Schutz der Familienerbfolge plädiert wird, so weisen die Begründungen doch tiefgreifende Unterschiede auf, die durchaus auch praktisch bedeutsam sind. Denn solange der Schutz der Familienerbfolge als Strukturprinzip des einfachgesetzlichen Erbrechts der Verbürgung des Art. 14 I 1 GG zugeordnet wird, läßt sich die Verfassungsfestigkeit aller im Erbrecht enthaltenen Pflichtteilsansprüche zwanglos begründen. Bei Heranziehung des Art. 6 I GG beschränkt sich der Grundrechtsschutz aber auf die Kleinfamilie im Sinne dieser Norm, so daß die Pflichtteilsansprüche der Eltern neben denjenigen der Kinder nicht mit
Soergel-Stein,
Einl. zu § 1922 Rn 7; dazu noch näher im folgenden.
67
Gängige Standardwerke des Staatsrechts befassen sich entweder gar nicht (so Hesse, Verfassungsrecht S. 171 ff. und Stein, Staatsrecht S. 254 ff.) oder nur höchst oberflächlich mit der Erbrechtsgarantie (vgl. Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 14 Rn 5 mit einer halbseitigen Kommentierung oder Badura, Staatsrecht S. 143 und Pieroth/Schlink, Grundrechte S. 234). 6 2 So MDH - Papier, Art. 14 Rn 245; von Münch - Bryde, Art. 14 Rn 46; AK - Rittstieg, Art. 14/15 Rn 148; von Mangoldt/Klein, Art. 14 S. 426. 6 5
Von Mangoldt/Klein,
6 4
Von Münch - Bryde, Art. 14 Rn 46 mwN.
Art. 14 S. 426 f.
Β. Grundlagen der Privaterbfolge nach der Wertordnung des Grundgesetzes
75
Verfassungsrang ausgestattet wären 65. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb sicher zu Recht noch in neuester Zeit festgestellt, daß es verfassungsrechtlich nicht geklärt sei, inwieweit Prinzipien des Verwandtenerbrechts in der Erbrechtsgarantie des Grundgesetzes enthalten sind66.
b) Verfassungsrechtlicher Schutz der Familienerbfolge durch Art 14 I 1 GG ?
Die Verwandten- und Ehegattenerbfolge begrenzt die Testierfreiheit insofern, als sie durch das Pflichtteilsrecht dem Erblasser die Möglichkeit nimmt, über den gesamten Wert seines Nachlasses frei zu verfügen. Sie beruht auf dem Gedanken der Familienbindung67 und steht damit der Testierbefugnis als Ausdruck der Verfügungsfreiheit im Erbrecht entgegen. In Anbetracht dessen spricht zunächst wenig dafür, sie neben der Testierfreiheit der Privaterbfolgegarantie des Art. 14 I 1 GG zuzuordnen, denn dadurch stünden sich zwei einander widersprechende Grundprinzipien der Privaterbfolge in der Erbrechtsgarantie gegenüber. Allein aus der zur Testierfreiheit konträren Zielsetzung der Familienerbfolge kann jedoch nicht gefolgert werden, daß deren Einbeziehung in Art. 14 I 1 GG notwendig ausgeschlossen wäre. Dem Grundgesetz ist es nicht fremd, gegensätzliche Prinzipien in ihrem Spannungsverhältnis verfassungsrechtlich zu verbürgen. Art. 14 GG gibt dafür selbst ein Beispiel, indem er Eigentumsschutz und Sozialbindung gleichermaßen mit Verfassungsrang ausstattet65.
6 5
Diese Konsequenz ergibt sich aus dem Familienbegriff des Art. 6 I GG, der sich nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG nur auf die Kleinfamilie, bestehend aus Eltern und Kindern erstreckt. Vgl. BVerfGE 57,170,179; 48,327,339 zustimmend die h.M.: MDH - Maunz, Art. 6 Rn 16; von Münch, Eva-Maria, Art. 6 Rn 7. Dieser Gesichtspunkt wird beipielsweise von Lange übersehen, wenn er einerseits Art. 6 I GG als Schutznorm der Familienerbfolge einstuft und gleichzeitig daraus ableitet, daß die einfachgesetzlichen Pflichtteilsansprüche verfassungskräftig verbürgt seien; vgl. Lange, Erbrecht S. 22. 6 6
BVerfGE 78,132,154 in Verweis auf E 67,329,341.
6 7
Vgl. Lange, Erbrecht S. 176 und oben S. 35 ff. sowie S. 49 f.
6 5
Das BVerfG spricht von einem dialektischen Verhältnis zwischen Eigentumsgarantie und Sozialbindung in BVerfGE 37,132,140.
76
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
Es gibt auch beachtliche Gründe, die für eine Verankerung der Familienerbfolge im Grundgesetz sprechen. Zwar ist das Verwandtenund Ehegattenerbrecht nicht das primäre Prinzip der Erbfolgeordnung, wie es Teile der Literatur andeuten69. Es steht nicht einmal gleichwertig neben der Testierfreiheit, wie die Ausführungen im vorangegangenen Kapitel über die Leitideen des Gesetzgebers bei Erarbeitung des BGB - Erbrechts gezeigt haben70. Jedoch ist es für die Regelung der Erbfolge allemal von elementarer Bedeutung: Bei fehlendem Testament bestimmt es die Nachlaßverteilung nach dem Grad der Verwandtschaft und behauptet sich mit Hilfe des Pflichtteilsrechts auch gegen testamentarische Einsetzungen, indem es nahen Angehörigen den halben Wert des gesetzlichen Erbteils unentziehbar vorbehält. Zudem war und ist die Familienerbfolge fester Bestandteil im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung, weil sie aufgrund jahrhundertelanger Tradition als gerechtes Verteilungsprinzip für den Nachlaß begriffen wird 7i . Alle diese Gesichtspunkte sind für die Auslegung des Schutzbereiches von Art. 14 I 1 GG auch zu berücksichtigen. Soweit nämlich diesem Grundrechtsartikel die Funktion einer Rechtsinstitutsgarantie zukommt, liegt sein Zweck auch darin, die hergebrachten, elementaren Grundprinzipien des einfachgesetzlichen Erbrechts mit Verfassungsrang auszustatten, um sie der Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers zu entziehen72. Sofern man also den Gewährleistungsgehalt des Art. 14 I 1 GG ausgehend von dessen Funktion als Rechtsinstitutsgarantie des Erbrechts bestimmt, spricht vieles dafür, auch das Prinzip der Familienerbfolge seinem Schutzbereich zu unterstellen75.
6 9
So Lange, Erbrecht S. 21; konträr dazu allerdings derselbe auf S. 177.
7 0
Vgl. oben S. 58 f.
77
In der Praxis beweist sich diese Einschätzung dadurch, daß nur von etwa einem Drittel aller Personen testamentarische Verfügungen getroffen werden. Überdies wird dabei von einem Teil der Verfügenden nur der Inhalt der gesetzlichen Erbfolgeregelungen wiederholt. Vgl. dazu Stöcker, Neuordnung S. 610 und Leipold, Wandlungen S. 194. 7 2 7 3
Vgl. statt aller Leibholz/Rinck,
Art. 14 Rn 1 und 13.
Diese Argumentation ist in der erbrechtlichen Literatur überwiegend anzutreffen, ohne daß sie allerdings immer bewußt gemacht würde. Vgl. nur Boehmer, Erbrecht S. 413. Sie hat ihre Wurzel im Verständnis der Rechtsinstitutsgarantie, wie es unter Geltung der WRV vor allem von Carl Schmitt geprägt wurde. Dort bestand jedoch insbesondere für das Erbrecht eine andere Ausgangslage. Es wurde von Art. 154 WRV nur nach Maßgabe
Β. Grundlagen der Privaterbfolge nach der Wertordnung des Grundgesetzes
77
Demgegenüber darf aber nicht übersehen werden, daß der von Art. 14 I 1 GG verwendete Begriff "Erbrecht" nicht mit dem Inhalt des einfachen Gesetzes übereinstimmt. Er ist eigenständiger, verfassungsrechtlicher Art 74. Seine Auslegung kann sich deshalb auch nicht in einem Rückgriff auf die elementaren Strukturprinzipien des BGB Erbrechts erschöpfen. Ansonsten würde das zwischen Verfassungsrecht und einfachem Gesetz bestehende Rangverhältnis umgekehrt. Soweit möglich, müssen grundrechtliche Garantien vielmehr aus der verfassungsrechtlichen Verbürgung selbst ausgelegt werden75. Dabei darf überdies ein Einzelgrundrecht wie die Erbrechtsfreiheit des Art. 14 I 1 GG nicht nur isoliert betrachtet werden, sondern es ist die Bestimmung des Schutzbereiches auch unter Beachtung der Verfassungsordnung insgesamt vorzunehmen76. Insbesondere der Wortlaut und die Systematik des Grundgesetzes bilden deshalb den Ausgangspunkt für die Grundrechtsauslegung77. Erst wenn diese ohne gesicherte Erkenntnis bleibt, weil die Verfassung wegen ihrer Offenheit für Einflüsse aus der gesellschaftlichen Weiterentwicklung zumeist einen breiten Interpretationsspielraum eröffnet 75, können und dürfen Wertentscheidungen des
des bürgerlichen Rechts gewährleistet und war damit nach dem Verfassungstext für jeden Eingriff des einfachen Gesetzgebers offen. Zur Vermeidung einer Aushöhlung der Verfassungsgarantie mußte deshalb ein verfassungsfester Kern ermittelt werden, was mit Hilfe der Rechtsinstitutsgarantie geschah. Zudem wurden die Grundrechte der WRV auch nicht als unmittelbar geltendes, also dem Gesetzgeber verbindliches Recht begriffen, so daß die Erbrechtsgarantie eine doppelte Gefährdung zu gewärtigen hatte (vgl. zum Grundrechtsverständnis der WRV MDH - Düng, Art. 1 Rn 103 ff.). Weil wegen der andersartigen Fassung der Erbrechtsgarantie in Art. 14 GG und wegen Art. 1 III GG auch für die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte die aufgezeigte Gefahr nicht mehr besteht, sollte auch der Gedanke der Rechtsinstitutsgarantie bei der Grundrechtsauslegung nicht mehr im Vordergrund stehen. So auch MDH - Düng, Art. 1 Rn 98; dagegen Häberle, Wesensgehaltsgarantie S. 96 ff. (98), der die Grundrechte von ihrem institutionellen Gehalt her auslegen will. 7 4 Vgl. Leisner, Verfassungsrechtliche BVerfGE 58,300,336. 7 5
Grenzen S. 45 und zum Eigentumsbegriff
Leisner; Verfassungsrechtliche Grenzen S. 45.
7 6
Hesse, Verfassungsrecht S. 25 ff. und Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation S. 77 f. 7 7 7 8
Stern, Staatsrecht I S. 128 und BVerfGE 53,207,212; 20,283,293.
Vgl. dazu Stern, Staatsrecht I S. 127; Hesse, Verfassungsrecht S. 20 und Bleckmann, Staatsrecht S. 77.
78
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
einfachen Gesetzes ergänzend herangezogen werden79. Selbst wenn also bei isolierter Betrachtung der Institutsgarantie des Erbrechts das Ergebnis naheliegt, auch die Familienerbfolge dem Schutzbereich des Art. 14 I 1 GG zu unterstellen, so überlagert doch die systematische und inhaltliche Verknüpfung von Eigentum und Erbrecht in Art. 14 I 1 GG diese Betrachtungsweise und zwingt zu einer Auslegung, die diesem funktionalen Zusammenhang im Verfassungstext gerecht wird. Wie oben bereits herausgestellt wurde, steht die Erbrechtsgarantie in einer Perpetuierungsfunktion zugunsten des Privateigentums im Generationswechsel00. Sie konstituiert damit die Eigentumsverfassung des Grundgesetzes genauso wie die Verbürgung des Privateigentums. Die daraus abzuleitende Übereinstimmung der elementaren Strukturprinzipien beider Gewährleistungen erfordert die Verankerung der Testierfreiheit in Art. 14 I 1 GG, weil sie den Grundsatz freier Verfügbarkeit auch im Todesfall des Rechtsinhabers zum Tragen bringt. Dieser Gesichtspunkt verbietet aber die gleichzeitige Verankerung der Familienerbfolge in Art. 14 I 1 GG. Sie beruht auf altruistischer Pflichtbindung, die zwar im Grundgesetz?7, nicht aber in Art. 14 I 1 GG ihren Platz hat. Denn dieser Vorschrift geht es um die ökonomische Absicherung persönlicher Freiheit und privatautonomer Lebensgestaltung in eigenverantwortlicher Planung52. Die konträre Argumentation Stöckers, wonach die Nachlaßbeteiligung naher Angehöriger im Vordergrund der Erbrechtsgarantie stehe, weil Eigentum und Erbrecht dem Gleichteilungsprinzip verpflichtet seien, ist
7 9 Die Methodik der Verfassungsinterpretation ist besonders stark umstritten, weil sie in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Grundrechtsverständnis steht (vgl. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit S. 221 ff.). Die aufgezeigte Reihenfolge bei der Verwendung der Rechtsquellen ist jedoch erforderlich, um der Rangordnung zwischen Verfassungsrecht und einfachem Gesetz Genüge zu tun und einer Ausrichtung der Grundrechte am niederrangigen Recht vorzubeugen, vgl. auch Leisner, Verfassungsmäßigkeit der Gesetze S. 42,46 f. 8 0
Vgl. oben S. 68 f.
Für die Familienbindung bietet Art. 6 I GG einen Ansatzpunkt, auf den sogleich eingegangen wird. 8 2 Vgl. BVerfGE 50,290,339 mwN. auf die st. Rspr. des BVerfG und von Münch Bryde, Art. 14 Rn 3 mwN.
Β. Grundlagen der Privaterbfolge nach der Wertordnung des Grundgesetzes
79
demgegenüber nicht stichhaltig55. Zwar war das Gleichteilungsprinzip eine Forderung der französischen Revolution54, das im 19. Jahrhundert Eingang ins Erbrecht gefunden hat, indem bestehende Vorrechte bestimmter Abkömmlinge beim Erbfall beseitigt wurden55. Bedeutung kommt dem Gleichteilungsprinzip aber nur im Rahmen der gesetzlichen Erbfolge zu. Wegen der Zulassung testamentarischer Verfügungen kann es durchbrochen werden. Das entspricht dem Konzept der Gesetzesverfasser 50 und wird auch nicht durch Art. 14 GG modifiziert. Diese Vorschrift sichert nämlich unter anderem auch das Prinzip der freien Verfügbarkeit 57 und baut insofern nachweislich auf dem Bestreben aus dem 19. Jahrhundert auf, das Eigentum aus religiösen und ständischen Bindungen zu befreien und einem ungehinderten Rechtsverkehr unter Lebenden und von Todes wegen zuzuführen 55. Der Erbrechtsgarantie des Art. 14 I 1 GG kann darum auch nicht der Sinn beigelegt werden, als Korrektiv zur Testierfreiheit wirken zu sollen59; sie gehört vielmehr zu deren Grundbestand, wie allgemein anerkannt ist 90 . Eine verfassungsrechtliche Verbürgung des Prinzips der Familienerbfolge läßt sich demgemäß aus Art. 14 I 1 GG nicht ableiten.
8 3
Stöcker, Fn 58 und 59.
8 4
Vgl. Staudinger-Boehmer,
5 5
Vgl. dazu Motive TE , S. 555.
Einl. zu § 1922, § 14 Rn 10 und § 17 Rn 1.
8 6
Die Durchbrechung des Gleichteilungsprinzips ergibt sich schon allein aus der Zulassung der Testierfreiheit ohne Quotenbeschränkungen und zum anderen aus den Motiven TE, S. 164 ff. (zum Verhältnis der eingesetzten Erben zueinander) und S. 658 (zur Vermeidung unnötiger Teilungen zusammengehöriger Nachlaßeinheiten durch das Pflichtteilsrecht). 5 7
Vgl. Fn 42 auf S. 69.
5 5
Siehe dazu Kühne, Paulskirchenverfassung S. 254 ff. und Weber, Eigentum und Enteignung S. 333. 8 9
So aber Stöcker, Das Grundrecht zu erben S. 222.
Allg. Meinung, vgl. Fn 43 auf S. 70 und die Entstehungsgeschichte des Art. 14 in JÖR 1,144 ff.
80
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
c) Art 6 I GG als Schutznorm der Famüienerbfolge
Zur Begründung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familienerbfolge dient Art. 6 I GG in der Literatur zumeist nur insofern, als nach dieser Vorschrift der Personenkreis bestimmt wird, der in seiner Erwartung auf Teilhabe am Nachlaß gesichert sein soll97. Nur vereinzelt und zudem ohne nähere Begründung wird Art. 6 I GG auch als Schutznorm des Ehegatten- und Verwandtenerbrechts eingestuft 92. Diese Zurückhaltung gegenüber einer Anwendung von Art. 6 I GG mag daran liegen, daß er anders als Art. 14 GG das Erbrecht nicht erwähnt. Von daher scheint die Verankerung erbrechtlicher Prinzipien Art. 14 I 1 GG vorbehalten und in Art. 6 I GG nicht notwendig zu sein. Oben ist jedoch gezeigt worden, daß die Prinzipien der Familienerbfolge nicht dem Schutzbereich des Art. 14 I 1 GG unterfallen 95. Ihre grundrechtliche Verbürgung kann sich somit nur aus Art. 6 I GG ergeben. Das allein ist jedoch kein hinreichendes Argument für eine Zuordnung der Familienerbfolge zu Art. 6 I GG. Ansonsten würde man den Inhalt der verfassungsrechtlichen Verbürgung ausschließlich vom elementaren Stellenwert her bestimmen, den die Familienerbfolge im einfachgesetzlichen Erbrecht innehat. Begründen läßt sich eine Gewährleistung der Familienerbfolge durch Art. 6 I GG vielmehr nur, wenn sie sich unter Rückgriff auf die anerkannten Auslegungsprinzipien auch in den von Rechtsprechung und Lehre konkretisierten Schutzbereich einordnen läßt. Der Wortlaut der Norm gibt dafür wie erwähnt nichts her. Das spricht jedoch nicht notwendig gegen eine Einbeziehung, weil der Verfassungstext den Schutzbereich der Grundrechte nicht abschließend festlegt. Eine historische Interpretation ist ebenfalls wenig ergiebig. Art. 119 WRV war die erste und einzige Verfassungsnorm, die sich vor
9 1
Vgl S. 71 ff. mwN.
9 2
Lange, Erbrecht S. 21 meint, Art. 6 I GG entfalte einen "mittelbaren Schutz"; Soergel-Stein argumentiert mit Art. 6 I GG allein aus der Erkenntnis heraus, daß Art. 14 I 1 GG die Familienerbfolge nicht erfasse; vgl. Einl. zu § 1922 Rn 7. 9 3
Vgl. S. 75 ff, insbesondere S. 78.
Β. Grundlagen der Privaterbfolge nach der Wertordnung des Grundgesetzes
81
Inkrafttreten des Grundgesetzes dem Schutz der Familie widmete94. Die Verbürgung von Prinzipien des Familienerbrechts in ihrem Schutzbereich ist, soweit ersichtlich, aber weder vertreten noch überhaupt diskutiert worden95. Allein die Entstehungsgeschichte des Art. 6 I GG enthält eine schwache Andeutung in dieser Richtung. Während der Beratungen des Parlamentarischen Rates zu Art. 6 I GG machte der Abgeordnete Bergsträsser zur Verbesserung der Rechtsstellung des nichtehelichen Kindes den Vorschlag, diesem zum Zwecke einer gewissen Gleichstellung mit den ehelichen Kindern eine Erbberechtigung am Nachlaß des Vaters verfassungsrechtlich abzusichern96. Zwar wurde dieser Vorschlag nicht weiter verfolgt. Er fand aber auch keinen grundsätzlichen Widerspruch bezüglich der Erbberechtigung ehelicher Kinder 97 . Daraus kann geschlossen werden, daß der Verfassungsgeber eine grundrechtliche Verbürgung ehelicher Kinder als Ausschnitt der Familienerbfolge für selbstverständlich hielt und keine Notwendigkeit für eine ausdrückliche Erwähnung in Art. 6 I GG gesehen hat. Ein hinreichender Anhaltspunkt für die Einbeziehung der Familienerbfolge in Art. 6 I GG ist dies sicher nicht. Zumindest zeigt es aber, daß die Entstehungsgeschichte Andeutungen dafür enthält und dieser Einbeziehung nicht entgegensteht. Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, ob nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift die Prinzipien der Familienerbfolge dem Schutzbereich des Art. 6 I GG unterfallen. Nach Art. 6 I GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Diese Verbürgung enthält drei verschiedene Elemente. Als Grundrecht im klassischen Sinne gibt sie den einzelnen Familienmitgliedern Abwehrrechte gegenüber staatlichen Eingriffen in Ehe und Familie an die Hand, obwohl ihr Wortlaut nicht individuelle Rechtspo-
9 4 Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie vgl. Schwab, Geschichte S. 894 ff. 9 5
Die Kommentierungen enthalten keine Hinweise darauf, vgl. Anschütz, WRV S. 559 f.; Gebhard, WRV S. 470 f.; Giese, WRV S. 261 f.; Poetsch-Hefper, WRV S. 421; ebensowenig die Literatur, vgl. Nipper dey- Wieruszowski, Ehe, Familie, Mutterschaft S. 72 ff. 9 6
JÖR 1,96.
9 7
JÖR 1,96 ff.
82
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
sitionen formuliert, sondern die Personengemeinschaften anspricht95. Neben der Abwehrfunktion steht die Instituts- und Einrichtungsgarantie. Sie verpflichtet den Staat darauf, ein familienrechtliches Normensystem im Sinne der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung bereitzuhalten99. Schließlich kommt Art. 6 I GG der Charakter einer wertentscheidenden Grundsatznorm zu, die über den Bereich des Familienrechts hinaus im Rahmen von Gesetzgebung und Gesetzesanwendung zu beachten ist, um in allen Bereichen die Wertentscheidung des Grundgesetzes zugunsten der Familie zum Tragen kommen zu las-
Alle drei Aspekte der verfassungsrechtlichen Verbürgung sollen im Zusammenspiel den Sinn und Zweck des Familienschutzes verwirklichen. Er liegt darin, unter Anerkennung der Stellung von Ehe und Familie als Keimzelle der menschlichen Gemeinschaft^ den Familienmitgliedern einen Raum für die persönliche Selbstdarstellung und gesellschaftliche Integration zu geben, der frei ist von öffentlicher Kontrolle 702. Aus dieser Zielsetzung folgt, daß Art. 6 I GG Ehe und Familie als gelebte Gemeinschaft in ihrer Bedeutung für die Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit im Auge hat i a ? . Er knüpft deshalb nicht an der Blutsverwandtschaft an, um davon ausgehend das Familienband in der Generationenabfolge unter Schutz zu stellen. Bei dieser Sachlage scheint wenig dafür zu sprechen, die Grundsätze der Familienerbfolge dem Schutzbereich des Art. 6 I GG zuzuordnen.
no
Das ist heute allgemeine Meinung; vgl. Leibholz/Rinck, Art. 6 Rn 2 mwN.; in früherer Zeit war diese Frage wegen der Fassung des Art. 6 I GG umstritten; vgl. von Mangoldt-Klein, Art. 6 S. 265 f. 9 9
Vgl. die ständige Rechtsprechung des BVerfG seit BVerfGE 6,55,72 und von Münch, Eva-Maria, Art. 6 Rn 5. ^ Leibholz/Rinck, Art. 6 Rn 11; in neuerer Zeit ist allerdings umstritten, ob die Institutsgarantie und die Einstufung als wertentscheidende Grundsatznorm nicht nur die zwei Seiten des einen objektiv-rechtlichen Gewährleistungsgehaltes von Art. 6 I GG sind; vgl. Friauf, Verfassungsgarantie und sozialer Wandel, NJW 86,2595,2600. 1 0 1
BVerfGE 6,55,71 und 24,119,149.
1 0 2
Leibholz/Rinck,
1 0 3
BVerfGE 76,1,45 und 51,386,397 f.
Art. 6 Rn 2 und BVerfGE 57,170,178.
Β. Grundlagen der Privaterbfolge nach der Wertordnung des Grundgesetzes
83
Denn mit dem Tode eines Familienmitgliedes wird die bisherige Lebensgemeinschaft in ihrer konkreten Gestalt aufgelöst. Die verfassungsrechtliche Fixierung einer bestimmten Art der Nachlaßverteilung kann daran nichts mehr ändern und den Beitrag der bis zum Todesfall existenten Familiengemeinschaft für die Persönlichkeitsentwicklung nicht mehr erhöhen. Indessen greift eine solche Argumentation zu kurz. Sie berücksichtigt nicht die Wirkungen, die eine grundsätzliche Fixierung der Nachlaßverteilung zugunsten der Angehörigen bereits zu Lebzeiten des Verstorbenen für die Festigung der Familiengemeinschaft hat. Indem das Familienerbrecht mit Hilfe des Pflichtteilsrechts den nächsten Angehörigen einen Teil des Nachlaßwertes unentziehbar zuweist, leistet es nämlich einen Beitrag zur Stärkung der Familie als materieller Solidargemeinschaft. Zum einen erhöht sich die Bereitschaft zur Unterstützung anderer Familienmitglieder unabhängig von gesetzlichen Unterhaltspflichten, wenn die Gewißheit besteht, daß im Todesfalle des Begünstigten nicht ausschließlich Fremde davon profitieren werden. Das entspricht dem Willen des Grundgesetzes, Ehe und Familie als Lebensgemeinschaften auszuformen, deren innere Ausgestaltung zuvörderst den Beteiligten obliegt704. Zum anderen enthebt die Verbürgung der Familienerbfolge Ehegatten und Kinder aber auch dem Erfordernis, eine völlig eigenständige Vermögensplanung vorzunehmen, die unbhängig vom vielleicht ganz zufälligen Todeseintritt eines Familienmitgliedes konzipiert ist. Dadurch lassen sich bei jedem einzelnen die für die Zukunftssicherung notwendigen Vorsorgeaufwendungen verringern, so daß der ökonomische Spielraum der gesamten Familie erweitert wird iö5 . Beide Aspekte haben somit positive Wirkungen für den materiell-wirtschaftlichen Bereich der Familie, der nach der Konzeption des Grundgesetzes vom
104 V g l v o n Münch, Eva-Maria, Art. 6 Rn 7 und Leibholz/Rinck, die ständige Rechtsprechung des BVerfG seit BVerfGE 6,55,71.
Art. 6 Rn 2 mwN. auf
1 0 5 Das BVerfG selbst hat diesen Gedanken im Rahmen von Art. 6 I GG herangezogen. Für die Witwenrente hat es ausgeführt, daß deren Gewährung vom Schutzgebot des Art. 6 I GG erfaßt wird, weil ansonsten den Ehepartnern eine finanzielle Mehrbelastung entstünde, die sich nachteilig auf die Ehe auswirken würde; vgl. BVerfGE 62,323,332.
84
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
Schutz des Art. 6 I GG erfaßt wird, weil er als Basis der Eigenständigkeit der Familie eine wesentliche Voraussetzung für die Persönlichkeitsentfaltung der Familienmitglieder abseits von öffentlicher Kontrolle ist 706 . Eine Einbeziehung der Familienerbfolge in den Schutzbereich des Art. 6 I GG reiht sich also in die Zielsetzung des Grundrechtsschutzes von Ehe und Familie ein. Die Auslegung der Norm nach deren Sinn und Zweck spricht somit dafür, die Grundsätze der Familienerbfolge insofern der Gewährleistung des Art. 6 I GG zu unterstellen, als sie mit Hilfe der Pflichtteilsansprüche den nächsten Angehörigen einen unentziehbaren Anteil am Nachlaßwert sichern 707. Dieses Ergebnis wird bestätigt, wenn man die Funktion des Art. 6 I GG als Rechtsinstitutsgarantie in die Auslegung einbezieht. Ihr kommt die Aufgabe zu, die historisch gewachsenen Strukturelemente von Ehe und Familie in Verfassungsrang zu heben und der Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers zu entziehen705. In erster Linie dient die Institutsgarantie also der Bewahrung des Bestandes einfachgesetzlicher Regelungen, die für die Ausgestaltung von Ehe und Familie von grundlegender Bedeutung sind 709 . Zwar ist nicht abschließend geklärt, welche Normen damit verfassungsrechtlich verbürgt sind. Allgemein anerkannt ist nur, daß das Prinzip der Einehe 770 sowie die der Eheschließung dem Grundsatz nach innewohnende lebenslängliche Bindung777 dazu gehören, weil sie unverrückbar im Fundament der christlich-abendländischen Tradition wurzeln. In Anbetracht der dargelegten Zielsetzung der Rechtsinstitutsgarantie spricht aber alles dafür, auch die Familienerbfolge dem institutionellen Gehalt des Art. 6 I GG beizuordnen. Die Beteiligung der Familie am Nachlaß eines Verstorbenen hat von alters her die Entwicklung dieses Sozialverbandes begleitet. Sie hat
1 0 6
Vgl. BVerfGE 33,236,238; 13,331,347.
7 0 7
So im Ergebnis auch Lange, Erbrecht S. 21.
1 0 8
Allg. Meinung, vgl. Leibholz/Rinck,
7 0 9
Art. 6 Rn 6 f.
Zur bewahrenden Funktion der Institutsgarantie des Art. 6 I GG vgl. Schwab, Geschichte S. 894. 1 1 0
BVerfGE 31,58,69 mwN.
7 7 7
BVerfGE 53,224,245; 55,134,142.
C. Zusammenfassung
85
ihren Ursprung noch weit vor Herausbildung christlich-abendländischer Wertvorstellungen. In unterschiedlicher Ausprägung war sie sowohl im römischen als auch im altgermanischen Recht verankert 772. Trotz des im Geschichtsverlauf zunehmenden Einflusses der Testierfreiheit 773 behauptete sie sich über Jahrhunderte als wesentliches Element der Erbordnung. In der Praxis steht die Familienerbfolge unabhängig vom rechtlichen Vorrang der Testierfreiheit für den Großteil der Bevölkerung auch heute noch bei der Nachlaßvergabe an erster Stelle, weil sie im Bewußtsein der Bevölkerung als gerechtes Prinzip der Vererbung anerkannt ist'". In Anbetracht dieser traditionsbedingten Verwurzelung wirkt sie mitbestimmend für das familiäre Selbstverständnis, das sich eben nicht darauf beschränkt, die Familienbindung auf die lebzeitige Gemeinschaft aller Familienmitglieder zu reduzieren. Als historisch gewachsene Institutionen werden Ehe und Familie somit auch durch die Familienerbfolge geprägt. Die Prinzipien der Familienerbfolge werden demgemäß vom Schutzbereich des Art. 6 I GG erfaßt, soweit sie, konkretisiert im einfachgesetzlichen Pflichtteilsrecht, dem von dieser Vorschrift erfaßten Kreis der Familie einen unentziehbaren Anteil am Nachlaß des Verstorbenen zuweisen.
C. Zusammenfassung Der Abriß der historischen Entwicklung des Erbrechts hat gezeigt, daß die Privaterbfolge der Bundesrepublik Deutschland insofern in einer mehr als zweitausendjährigen Tradition steht, als das Familienerbrecht und die testamentarische Erbfolge ihre tragenden Säulen bilden, die sich als wechselseitig begrenzende Prinzipien der Nachlaßvergabe in
7 7 2
Staudinger-Boehmer,
7 7 3
Vgl. dazu oben die Einführung.
77
Einl. zu § 1922, § 14 Rn 1.
^ Es ist erwiesen, daß nur etwa 1/3 der Bevölkerung testamentarische Verfügungen trifft, so daß sich die Nachlaßverteilung überwiegend nach Maßgabe der gesetzlichen Erbfolge vollzieht; vgl. Stöcker, Neuordnung S. 610 und Leipold, Wandlungen S. 194.
86
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
unterschiedlicher Ausprägung und Stärke und in Abhängigkeit vom Stand der gesellschaftlichen Entwicklung über die Jahrhunderte hinweg behauptet haben. Diese Traditionslinie läßt sich jedoch für alle Erbordnungen Europas in West und Ost nachweisen775. Die schlichte Verwendung dieser Regelungsmechanismen der Vererbung ist also kein Spezifikum, das die Grundlagen der bundesdeutschen Privaterbfolge im Vergleich zur DDR näher charakterisieren würde. Die grundlegenden Wertvorstellungen, auf denen die Privaterbfolge in der Bundesrepublik ruht, konnten aber bei einem Blick in die jüngere Vergangenheit freigelegt werden. Hier zeigte zunächst das Erbrecht des BGB eine bemerkenswerte Beständigkeit. Denn nicht nur die Familienerbfolge, das Pflichtteilsrecht und die Testierfreiheit gehören seit dem Inkrafttreten zu Beginn dieses Jahrhunderts zu seinem festen Bestand, sondern es ist auch im Detail der erbrechtlichen Rechtsinstitute weitgehend unverändert geblieben. Diese Stabilität auf der Ebene einfachgesetzlicher Normen ist allerdings nur der sichtbare Ausdruck einer schon länger währenden Kontinuität rechtsphilosophischer Grundpositionen zum Erbrecht, die ihren Ursprung im Naturrecht der Aufklärung haben und, bei näherer Ausformung durch gesellschaftspolitische Vorgaben des Liberalismus aus dem vorigen Jahrhundert, sich noch bis heute in den Wertentscheidungen des Grundgesetzes zur Erbfolgeordnung wiederfinden. Die sich am Individuum orientierende Philosophie der Aufklärung verknüpfte Eigentum und Erbrecht in der Zielsetzung, die Testierfreiheit als Element individueller Verfügungsfreiheit in den Kanon der naturrechtlich begründeten Institutionen des menschlichen Zusammenlebens einzubeziehen. Der im Testament zum Ausdruck kommende Erblasserwille bildete in Verbindung mit dem Gedanken des Eigentumsschutzes deshalb die rechtsphilosophische Begründung des Erbrechts. Demgegenüber stellte die idealistische Philosophie unter Berufung auf deutschrechtliche Traditionen das Gemeinschaftsdenken in den Vordergrund und fand die Rechtfertigung des Erbrechts in der Familienbindung. Trotz der gegensätzlichen Ausgangspunkte in bezug auf die inhaltliche Begründung ist beiden Strömungen damit doch soviel ge-
7 7 5
Vgl. oben S. 26 ff.
C. Zusammenfassung
87
meinsam, daß sie das Erbrecht aus privatrechtlichen Institutionen ableiteten, also an Rechtspositionen anknüpften, die kraft Naturrechts oder Tradition dem Staat vorgegeben sind. Gegen dieses Postulat eines dem Staat vorgegebenen Bestandes privater Rechte konnten sich die auf Umgestaltung des Erbrechts zielenden Reformvorschläge im 19. Jahrhundert nicht durchsetzen. Im Gegenteil: Der klassische Liberalismus konkretisiert den aufgezeigten Gedanken zur Lehre von der Trennung zwischen Staat und Gesellschaft, um dem aufstrebenden Bürgertum unter den Bedingungen der konstitutionellen Monarchie politische und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit zu sichern. Damit wurde nicht nur der Grundstein für das liberal-rechtsstaatliche Grundrechtsverständnis gelegt, sondern auch die Erarbeitung des BGB-Erbrechts beeinflußt, so daß die strikte Ausgrenzung des Staates von jeglicher Beteiligung am Nachlaß im 19. Jahrhundert zur grundlegenden Leitidee für die Zulassung und Ausgestaltung der Privaterbfolge im BGB werden konnte. Auf diesem philosophisch-politischen Fundament ruht die Zulassung der Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland. Indem Art. 14 I 1 GG sie in Verfassungsrang hebt und eine primäre Erbberechtigung des Staates untersagt, entspricht sein Gewährleistungsgehalt dem historisch gewachsenen Grundgedanken, das der Privatsphäre zugerechnete Erbrecht vor dem Zugriff des Staates durch eine Begrenzung seiner Rechtssetzungsmacht zu schützen. Die Privaterbfolge zeigt sich insofern als Ausfluß der liberalen Gesellschaftsverfassung, die eine Trennungslinie zieht zwischen individueller Freiheit und staatlicher Regelungsbefugnis. Die Verbürgung der Privaterbfolge in Art. 14 I 1 GG beschränkt sich jedoch nicht auf die Fortschreibung klassisch-liberaler Grundpositionen, sondern entfaltet die Erbrechtsfreiheit im Kontext des vom Sozialstaatsgebot geprägten Grundrechtsverständnisses. Dem Schutz des Grundrechts steht darum die Befugnis des Gesetzgebers gegenüber, Inhalt und Schranken der Privaterbfolge näher zu bestimmen. Unter Beachtung der Freiheitsverbürgung kann das Erbrecht somit der sich wandelnden gesellschaftlichen Entwicklung angepaßt werden, wobei der Gesetzgeber in der Pflicht steht, die Gemeinwohlbindung aus Art. 14 II GG zu
88
2. Abschnitt Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland
berücksichtigen, die das Sozialstaatsgebot für die Garantie von Eigentum und Erbrecht als Teile der Eigentumsordnung insgesamt konkretisiert. Die starre Abgrenzung von individueller Freiheit und staatlicher Macht überwindet das Grundgesetz also in der Erkenntnis, daß der Staat in Wahrnehmung seiner vielfältigen Versorgungsaufgaben für viele mit dazu beiträgt, die Garantie der Privaterbfolge vom Text des Grundgesetzes in die Verfassungswirklichkeit zu transportieren. Ruht die Zulassung der Privaterbfolge im Fundament liberal-rechtsstaatlicher Tradition, so gilt das gleiche für deren inhaltliche Ausgestaltung. Testierfreiheit und Familienerbrecht sind nämlich nicht nur Erscheinungsformen einer mehr als 2000 Jahre währenden Tradition, sondern unterliegen nach dem Grundgesetz auch Wertvorstellungen, die sie in das Gesamtgefüge unserer Gesellschaftsverfassung einbinden. Die Verbürgung der Testierfreiheit folgt aus dem engen formalen und funktionalen Zusammenhang von Eigentum und Erbrecht, der schon von der Philosophie der Aufklärung zum Ausdruck gebracht wurde. Das Prinzip der freien Verfügbarkeit als Strukturelement der Eigentumsordnung des Grundgesetzes kommt dadurch auch beim Tode des Rechtsinhabers zum Tragen. In diesem Sinne dient die Testierfreiheit dem Zweck der Eigentumsordnung, der darin liegt, die persönliche Freiheit des einzelnen gegenüber dem Staat auch im ökonomischen Bereich abzusichern. Die primäre Zielsetzung der Erbrechtsgarantie ist damit umrissen. Die Familienerbfolge kann zwar nicht dem Schutzbereich des Art. 14 I 1 GG zugeordnet werden. Sie erhält aber durch Art. 6 I GG insofern verfassungsrechtlichen Schutz, als dem von dieser Vorschrift erfaßten Familienkreis der Anspruch auf Teilhabe am Nachlaßwert gesichert ist. Das folgt aus dem Sinn und Zweck des Art. 6 I GG. Er liegt darin, die Eigenständigkeit von Ehe und Familie als vorstaatlichen Lebensgemeinschaften zu erhalten und zu fördern, um jedem einzelnen einen Raum der Persönlichkeitsentfaltung frei von öffentlicher Kontrolle zu geben. Dazu bedarf die Familie einer materiell-wirtschaftlichen Basis, deren Sicherung in den Schutzbereich des Art. 6 I GG einbezogen ist.
C. Zusammenfassung
89
In diesen Ausschnitt des Gewährleistungsgehaltes von Art. 6 I GG reiht sich die Verbürgung der Familienerbfolge ein. Die Aussicht auf eine Beteiligung am hinterlassenen Vermögen eines verstorbenen Familienmitgliedes wirkt sich nämlich positiv auf die vom Grundgesetz gewollte wechselseitige Solidarität innerhalb der Lebensgemeinschaft Familie aus. Zum einen fördert sie die Bereitschaft zu materieller Unterstützung abseits von rechtsverbindlich festgelegten Unterhaltsansprüchen, zum anderen bietet sie eine gewisse Sicherheit beim oftmals unerwarteten Tod des die Familie versorgenden Mitgliedes. Die für die Zukunftssicherung erforderlichen Vorsorgeaufwendungen lassen sich dadurch verringern, so daß der freibleibende Teil zur Gestaltung der familiären Lebensgemeinschaft zur Verfügung steht. Eingebunden in die vom Grundgesetz fixierten Wertvorstellungen unserer Gesellschaftsordnung gehören somit Testierfreiheit und Familienerbfolge zu den Grundfesten, die unter verfassungsrechtlicher Verbürgung in Art. 14 I 1 GG und Art. 6 I GG die Zulassung und Ausgestaltung der Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland inhaltlich konkretisieren.
3. Abschnitt
Die Grundlagen der Privaterbfolge in der DDR Die Grundlagen der Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland wurden aus den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen des Grundgesetzes ermittelt, die ihrerseits in elementaren rechtsphilosophischen Prinzipien wurzeln und größtenteils zum historisch gewachsenen Fundament unserer Gesellschaftsordnung gehören. Deswegen konnte der Untersuchungsgang der geschichtlichen Entwicklung des Erbrechts folgen. In der DDR liegen die Dinge anders. Einerseits gründete sich ihr Selbstverständnis bislang auf die Philosophie des Marxismus-Leninismus, wonach Sozialismus und Kommunismus als eigenständige Gesellschaftsformationen im Gegensatz zu den bürgerlich kapitalistischen Verhältnissen stehen, so daß das Erbrecht als Teil der gesamten Rechtsordnung nicht allein aus der Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung begriffen werden kann. Andererseits ist die Privaterbfolge wegen ihrer Nähe zur Eigentumsordnung in der DDR aber auch veränderten Rahmenbedingungen unterworfen. Das Erbrecht erhält unabhängig von seiner Ausformung in den Gesetzesvorschriften dadurch eine ganz andere Bedeutung, die für die Beurteilung der grundlegenden Wertvorstellungen zu diesem Rechtsgebiet berücksichtigt werden muß. Diese Unterschiede erfordern zwangsläufig eine abweichende Gliederung der Erörterungen. Zunächst sollen die Grundzüge der gesetzlichen Bestimmungen zum Erbrecht vorgestellt werden, um einen Überblick über die Rechtslage zu gewinnen. Danach erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Vorgaben der Eigentumsverfassung, die für die Bedeutung des Erbrechts in der DDR eine entscheidende Rolle spielen.
Α. Die Normen des Erbrechts in der DDR
91
Im Anschluß daran wird sich die Arbeit der Begründung der Privaterbfolge in der DDR zuwenden. An erster Stelle steht dabei eine Befassung mit den Aussagen der Klassiker des Marxismus zum Erbrecht, um angesichts der kritischen Äußerungen von Marx und Engels zu diesem Rechtsgebiet der Frage nachzugehen, ob die Zulassung der Privaterbfolge überhaupt mit den Grundsätzen des Marxismus in Einklang zu bringen ist. Schließlich wird eine Aufarbeitung der Stellungnahmen aus der DDR - Literatur zum Erbrecht erforderlich sein, damit auf dieser Basis die grundlegenden Wertvorstellungen ermittelt werden können, von denen sich der Gesetzgeber in der DDR bei der Zulassung und Ausgestaltung der Privaterbfolge im ZGB leiten ließ.
A. Überblick über die Nonnen des Erbrechts in der D D R L Verfassungsrechtliche Garantie der Privaterbfolge
Das Erbrecht ist in der DDR verfassungsrechtlich garantiert. Art. 11 I Verf DDR bestimmt, "das persönliche Eigentum und das Erbrecht sind gewährleistet"7. Diese Formulierung ähnelt der des Art. 14 I 1 GG, beschränkt den verfassungsrechtlichen Schutz aber auf das persönliche Eigentum. Auf die Bedeutung dieser gegenständlichen Begrenzung wird im folgenden noch einzugehen sein2. Abgesehen von diesem Unterschied deutet der Wortlaut die Übereinstimmung beider Garantien an. Dessen ungeachtet darf jedoch nicht übersehen werden, daß auch bei Übereinstimmungen im Wortlaut die Aussagen der DDR - Verfassung nicht mit den Verbürgungen des Grundgesetzes auf eine Stufe gestellt werden können. Zum einen beruht dies auf dem unterschiedlichen Grundrechtsverständnis in beiden deutschen Staaten. Art. 14 I 1 GG versteht sich wie alle anderen Grundrechte als ein Garant subjektivindividueller Freiheit gegenüber dem Staat und ist damit Teil der
1
Vgl. Mampel, DDR-Verfassung Art. 11 S. 366.
2
Vgl. dazu unten Punkt B., S. 102 ff.
92
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
Vorkehrungen des Grundgesetzes, mit denen die Sphäre privater Rechte gegen Übergriffe des Staates abgeschirmt werden soll5. In der DDR formulieren die Grundrechte dagegen eine Rechts- und Pflichtenstellung der Bürger, die von ihnen in Einklang mit den gesellschaftlichen Erfordernissen auszufüllen ist*. Die DDR - Verfassung kennt folglich keine Grundrechte in Abgrenzung zur Staatsmacht, weil diese selbst als politische Organisation der Gesellschaft verstanden wird 5, die dem Grundsatz nach ohnehin die Interessen der Bürger zum Ausdruck bringt. Von diesem Ansatz her ist eine verfassungsrechtliche Garantie nicht notwendig eine Bekräftigung von Rechtspositionen des einzelnen, die sich über die Zuerkennung einfachgesetzlicher Rechte erhebt0. Zu diesem grundsätzlichen Unterschied tritt aber noch ein weiterer Gesichtspunkt. Während Art. 14 I 1 GG das Erbrecht als ein Grundrecht der Bürger einstuft, untersteht Art. 11 I Verf DDR nicht dem Abschnitt "Grundrechte und Grundpflichten der Bürger"7, sondern ist dem Teil "Grundlagen der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung" zugeordnet und reiht sich dort in dessen Kapitel 2 ein, das die Bezeichnung "Ökonomische Grundlagen, Wissenschaft, Bildung und Kultur" trägt5. Darin deutet sich an, daß die Erbrechtsgarantie in Art. 11 I Verf DDR nicht in erster Linie als Grundrechtsgarantie zugunsten der Bürger, sondern vornehmlich als ein Ausschnitt der ökonomischen Grundlagen des Sozialismus aufgefaßt wird 9 / i ö . Von einer Übereinstim-
3
Vgl. dazu oben S. 60 ff.
4
Zum Grundrechtsverständnis in der DDR vgl. Mollnau u.a., Lehrbuch Staats- und Rechtstheorie S. 571 sowie eingehend Bernât , Grundrechte und Grundpflichten der Bürger S. 544 f. 5
Mollnau u.a., Lehrbuch Staats- und Rechtstheorie S. 236.
^ Seit dem politischen Umbruch im November 1989 tendiert die Literatur der DDR allerdings zu einer Annäherung an das Grundrechtsverständnis westlicher Prägung. Vgl. nur Schöneburg, Eine neue sozialistische Verfassung der DDR: Vorschläge, StuR 1989,963,968 ff. 7
Mampel, DDR-Verfassung Art. 19 ff.
8
Mampel, DDR-Verfassung Art. 1 ff., insbesondere Art. 9 - 18.
9
Diese Annahme bestätigt sich bei näherer Befassung mit der Begründung der Privaterbfolge. Vgl. unten Punkt C.II. S. 140 ff. der Arbeit. 1 0
Wenn Mampel die Verbürgung des Erbrechts in Art. 11 I Verf DDR als "Institutsga-
Α. Die Normen des Erbrechts in der DDR
93
mung der verfassungsrechtlichen Verbürgungen des Erbrechts in Art. 11 I Verf DDR und Art. 14 I 1 GG kann also selbst dann nicht die Rede sein, wenn man die bereits erwähnte Beschränkung auf das persönliche Eigentum zunächst außer acht läßt. Andererseits wäre es jedoch falsch, die Verankerung des Erbrechts in der Verfassung der DDR als bloße Deklamation ohne inhaltliche Bedeutung abzutun. Denn die Aufnahme des Erbrechts in den Verfassungstext belegt, daß diesem Rechtsgebiet ein besonderer Stellenwert zukommt, der es aus dem Bereich einfachgesetzlicher Normen heraushebt. Dadurch ist das Erbrecht zumindest gegen die kurzfristige Dispositionsfreiheit der Rechtspolitik geschützt77.
EL Grundzüge des einfachgesetzlichen Erbrechts im ZGB
Die Ausgestaltung der Privaterbfolge im ZGB orientiert sich an der vom BGB bekannten Grundstruktur. Neben der gesetzlichen Fixierung einer bestimmten Erbfolgeordnung ermöglicht die Testierfreiheit abweichende Verfügungen des Erblassers in den Schranken, die das Pflichtteilsrecht festlegt. Zudem findet sich in § 363 I ZGB das Prinzip der Universalsukzession und der Grundsatz des Vonselbsterwerbs der Erbschaft wieder 72. Die tragenden Säulen des bundesdeutschen Erbrechts bilden somit auch das Fundament der Erbfolgeordnung in der
rantie" bezeichnet (vgl. Mampel, DDR-Verfassung Art. 11 Rn 37), so ist das irreführend, weil es der DDR-Verfassung fernliegt, einen bestimmten, hergebrachten Normenkern des Erbrechts der Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers zu entziehen. Das stünde schon mit dem allgemeinen Verfassungsverständnis in Widerspruch, wonach alle Rechtsnormen dem historischen Wandel unterliegen. Zudem täuscht der Begriff inhaltliche Übereinstimmungen des Gewährleistungsgehaltes vor, die tatsächlich nicht vorhanden sind. 77
Verfassungsrechtliche Garantien können auf Grundlage der historisch-materialistischen Geschichtsauffassung des Marasmus jedoch nicht als zeitlos verbindliche Verbürgungen aufgefaßt werden, weil das Recht als Teil des gesellschaftlichen Überbaus vom historischen Wandel der gesellschaftlichen Basis abhängig ist; vgl. Manow u.a., Staats- und Rechtstheorie Bd. I S. 305 ff. 1 2
ZGB-Kommentar,
§ 363 Anm.: 1.1. und 1.3.
94
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
DDR. Weitere Übereinstimmungen zeigen sich zudem in etlichen Vorschriften, die diese grundlegenden Prinzipien näher ausformen.
1) Gesetzliche Erbfolge
Die gesetzliche Erbfolge des ZGB unterteilt wie die §§ 1924 ff. den Kreis der Erben in verschiedene Ordnungen mit der Maßgabe, daß Angehörige einer entfernteren Ordnung von den Erben der vorrangigen Ordnung verdrängt werden73. Auch die Zuordnung der Blutsverwandten auf die verschiedenen Erbordnungen entspricht den Vorschriften des BGB und sorgt dafür, daß die Erbschaft in die jüngere Generation geleitet wird. Abweichend vom BGB kennt das ZGB aber nur drei Erbordnungen; danach kommt der Staat als gesetzlicher Erbe zum Zuge7*. Die Erbverteilung innerhalb der Erbordnungen enthält allerdings wesentliche Neuerungen. a) Die tiefgreifendste Veränderung liegt in der Zuordnung des Ehegatten zur 1. Erbordnung. Mit Ausnahme der Abkömmlinge schließt der Ehegatte somit sämtliche Blutsverwandten von einer Erbbeteiligung aus, so daß der Nachlaß von einer Abstammungslinie vollständig in die andere überführt werden kann. Auch gegenüber den anderen Erben der 1. Ordnung wurde die Position des Ehegatten im Vergleich zum BGB - Erbrecht gestärkt. Er erhält bei einer übereinstimmend garantierten Mindestquote von 1/4 der Erbschaft den gleichen Anteil wie die Abkömmlinge. Sein Erbanspruch ist bei weniger als drei Kindern also höher als nach § 1931 I BGB. Zwar kennt das ZGB keine Aufstockung des Ehegattenerbteils,
7?
Der Entwurf des ZGB hatte zunächst vorgesehen, daß die Eltern des Erblassers als Erben der 2. Ordnung neben dem zur 1. Ordnung gehörenden Ehegatten einen Erbanspruch haben sollten, sofern sie einerseits gegenüber dem Erblasser unterhaltsberechtigt waren und andererseits keine weiteren Erben der 1. Ordnung vorhanden sind. Diese Durchbrechung des Ordnungsprinzips ist nicht Gesetz geworden, um die Stellung des Ehegatten nicht zu schwächen. 1 4 ZGB-Kommentar, § 369 Anm.: 1.
Α. Die Normen des Erbrechts in der DDR
95
wie sie § 1371 I BGB mit dem pauschalierten Zugewinnausgleich vorsieht. Einer solchen Regelung bedarf es jedoch auch nicht, weil § 13 I FGB den Güterstand der Gütergemeinschaft als Regelfall vorgibt 75. Die Hälfte des gemeinschaftlichen Vermögens fällt dem Ehegatten demgemäß ohnehin zu 76 . Das bedeutet, daß der Ehegatte beim Tode seines Partners wenigstens 5/8 des gesamten Vermögens für sich behalten kann77. Schließlich wird der Ehegatte noch dadurch begünstigt, daß er nach § 365 I ZGB auch sämtliche Haushaltsgegenstände im Wege einer Sondererbfolge erhält 75. Von der Zielsetzung her ist die Sondererbfolge mit dem Voraus des § 1932 BGB vergleichbar. Die Besserstellung des Ehegatten folgt aber nicht nur aus dem Umstand, daß er eine dingliche Berechtigung an den Gegenständen unmittelbar im Wege der Erbfolge erwirbt, sondern sie ergibt sich auch daraus, daß anders als nach § 1932 BGB die anderen Erben der 1. Ordnung keinerlei Rechte auf die Haushaltsgegenstände haben79. b) Die zweite wesentliche Neuerung des gesetzlichen Erbrechts ist die Erbfolgeregelung für die nichtehelichen Kinder. Sie haben ohne Unterschied die gleichen Erbansprüche wie die ehelichen Kinder beim Tode des Vaters, der seinerseits im Falle des Vorversterbens eines nichtehelichen Kindes mit der Mutter gleichgestellt ist 20 .
7 5
FGB-Kommentar,
1 6
ZGB-Kommentar y § 365 Anm.: 3.
7 7
Eberhardt,
§ 13 Anm.: 1.1.
Das Erbrecht, NJ 74,732,733.
7 5
Diese Durchbrechung des Prinzips der Universalsukzession wurde im Gefolge der öffentlichen Diskussion des ZGB-Entwurfs in das Gesetz aufgenommen (vgl. Eberhardt, Stellung des Ehegatten, NJ 81,269), wurde aber nicht in allen Konsequenzen durchdacht. Deswegen ist in der Literatur der DDR die Frage besonders umstritten, wie sich diese Sondererbfolge auf die Berechnung des Pflichtteilsanspruchs auswirkt. Vgl. dazu Eberhardt, ebenda; Seifert, NJ 86,284 sowie Marko/Orth, Konzeption des sozialistischen Erbrechts, NJ 87,156 ff. 1 9 2
ZGB-Kommentar,
ZGB-Kommentar,
§ 365 Anm.: 1.3.
§ 36 Anm.: 1.1.
96
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
c) Weitere Modifikationen ergeben sich nach dem ZGB für die Erbverteilung innerhalb der 2. und 3. Ordnung. Denn beim Tode eines Eltern- oder Großelternteils treten nicht die Abkömmlinge an deren Stelle, sondern der überlebende Teil erhält die gesamte Erbschaft 27. Nur wenn beide Eltern- oder Großelternteile vor dem Erblasser verstorben sind, treten die Abkömmlinge gemäß §§ 367 III, 368 III ZGB an deren Stelle22. Insgesamt enthält die in den Grundprinzipien mit der Regelung des BGB übereinstimmende gesetzliche Erbfolge also vier bedeutsame Änderungen: einerseits beschränkt sich die Verwandtenerbfolge auf drei Ordnungen, andererseits läßt sich eine nachhaltige Besserstellung des überlebenden Ehegatten sowie eine vollkommene Gleichstellung des nichtehelichen Kindes feststellen, und schließlich zeigen die Vorschriften über die 2. und 3. Erbordnung eine Konzentration der Erbschaft in der Abstammungslinie. Von einer pauschalen Begünstigung der Familie kann dagegen nicht gesprochen werden23.
2) Gewillkürte
Erbfolge
Das ZGB gewährt die volle Testierfreiheit über das vererbliche Vermögen2*. Testamentarische Verfügungen sind auch keinen weitergehenden formalen Schranken als im BGB unterworfen. Neben der Errichtung notarieller Testamente kann eine letztwillige Verfügung gemäß § 383 I ZGB auch privatschriftlich getroffen werden; für besondere Notfälle sieht § 383 II ZGB ein gegenüber den BGB - Vorschriften vereinheitlichtes Nottestament durch mündliche Erklärung vor zwei Zeugen vor 25 . Nach § 391 ZGB gelten auch die erleichterten Formerfordernisse für das gemeinschaftliche Testament26. Auf eine gesonderte
2 1
ZGB-Kommentar,
§§ 367 und 368, jeweils Anm.: 3.
2 2
ZGB-Kommentar,
§§ 367 und 368, jeweils Anm.: 3.
2 3
Mit dieser Einschätzung aber Mampel, Das neue Erbrecht, NJW 76,593,594 und 604.
2 4
ZGB-Kommentar,
§ 370.
2 5
ZGB-Kommentar,
§ 383 Anm.: 1. und 2.
2 6
ZGB-Kommentar,
§ 391 Anm.: 1.
Α. Die Normen des Erbrechts in der DDR
97
Festlegung der Testierfähigkeit verzichtet das ZGB allerdings, so daß letztwillige Verfügungen erst ab 18 Jahren errichtet werden können27. Der nach dem ZGB zulässige Inhalt testamentarischer Verfügungen gleicht weitgehend den Anordnungen, die nach den BGB - Vorschriften möglich sind. Neben Erbeinsetzung und Enterbung kann der Erblasser gemäß § 371 ZGB Vermächtnisse zuwenden, Auflagen erteilen und Teilungsanordnungen treffen sowie nach § 378 ZGB einen Ersatzerben für gesetzlich abschließend geregelte Fälle bestimmen25. Vermächtnis und Auflage sind im wesentlichen entsprechend den Regelungen des BGB - Erbrechts ausgestaltet. Der Vollzug der Auflage kann jedoch in Abweichung von § 2194 BGB von einem größeren Personenkreis verlangt werden; laut § 382 II ZGB ist dazu jeder befugt, der ein berechtigtes Interesse nachweisen kann29. Für die Testamentsvollstreckung läßt § 371 III ZGB auch eine Verwaltungsvollstreckung zu. Jedoch hat der eingesetzte Vollstrecker nur geringe Befugnisse. Er darf die Verfügungsfreiheit der Erben über die Nachlaßgegenstände nicht beschränken (§ 371 II ZGB). Weil er als Vertreter der Erben gilt, können diese seine Aufgabe durch einfachen Widerruf beenden50. Das Rechtsinstitut der Vor- und Nacherbfolge ist im ZGB nicht enthalten. Es wurde mit der Begründung abgeschafft, daß ein Auseinanderfallen von Rechtsstellung und Nutzungsbefugnis eine typisch kapitalistische Erscheinung sei Ji . Auch der Erbvertrag, der ähnliche Zwecke verfolgt wie das Testament, kommt im ZGB nicht vor. Der Gesetzgeber hat in seinem Bestreben nach Vereinfachung der Erbrechtsvorschriften dafür offensicht-
2 7
ZGB-Kommentar,
§ 370 Anm.: 1.
2 8
Vgl. ZGB-Kommentar, § 378 Anm.: 1.: das Problem, was unter dem Begriff "Wegfall des Erben" i.S.v. § 2096 BGB zu verstehen ist, ergibt sich dadurch nicht. 2 9
ZGB-Kommentar,
3 0
Vgl. ZGB-Kommentar,
3 1
Vgl. Seifert,
§ 382 Anm.: 2. § 371 Anm.: 3.1.
Grundlagen des Erbrechts, StuR 75,275,276.
98
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
lieh kein Bedürfnis gesehen, weil die Wirkungen des Erbvertrages auch mit Hilfe des allgemeinen Vertragsrechts und des Testaments erreicht werden können. Bei einer Gesamtbetrachtung der Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen der gewillkürten Erbfolge des ZGB und des BGB fällt somit auf, daß die Verfügungsbefugnis des Erblassers im ZGB dort beschränkt wurde, wo sie ihre Wirkung erst zu einem späteren Zeitpunkt als dem Eintritt des Todesfalls entfalten würde. Dies manifestiert sich in der Abschaffung der Vor- und Nacherbfolge genauso wie in der Beschränkung der Rechte des Testamentsvollstreckers. Ein Hineinregieren des Erblassers in die zukünftige Entwicklung seines hinterlassenen Vermögens ist damit weitgehend ausgeschlossen. Davon abgesehen gewährt das ZGB aber die Verfügungsfreiheit für den Todesfall in dem gleichen Ausmaß, wie sie auch vom BGB - Erbrecht bekannt ist 32 .
3) Das Pflichtteilsrecht
Von einer Einschränkung der Verfügungsfreiheit kann auch dann nicht gesprochen werden, wenn man die Vorschriften des ZGB über das Pflichtteilsrecht in die Überlegungen mit einbezieht. In Übereinstimmung mit § 2303 I 2 BGB beschränkt sich der Pflichtteilsanspruch auf einen Geldanspruch. Allerdings beläuft sich dieser Anspruch auf 2/3 des Wertes des gesetzlichen Erbteils und kann insoweit zu einer stärkeren Beschränkung der Testierfreiheit führen 33. Andererseits ist der Kreis der pflichtteilsberechtigten Personen aber kleiner. Das ergibt sich zum einen aus dem Gesetz selbst. Neben Ehegatten und Eltern haben gemäß § 396 I ZGB von den Abkömmlingen nur die Kinder und Enkel einen Pflichtteilsanspruch, während nach
Wenn Freytag pauschal behauptet, das ZGB beschneide die Testierfreiheit, so ist das in Anbetracht der Rechtslage sicher falsch; vgl. Freytag, Das neue Erbrecht des ZGB S. 155. 3 3
Vgl. ZGB-Kommentar,
§ 396.
Α. Die Normen des Erbrechts in der DDR
99
§ 2303 BGB alle Abkömmlinge erfaßt werden. Diese Abweichung ist in der Praxis jedoch wenig bedeutsam, weil entferntere Abkömmlinge als die Enkel nur selten gesetzliche Erben sind. Weit wichtiger ist in diesem Zusammenhang die Anordnung des § 396 I Nr. 2 ZGB, wonach mit Ausnahme des Ehegatten den pflichtteilsberechtigten Personen nur dann ein Anspruch zusteht, wenn sie im Zeitpunkt des Erbfalls gegenüber dem Erblasser einen Unterhaltsanspruch hatten. In der übergroßen Mehrzahl der Erbfälle ist das nicht zu erwarten. Die Eltern haben in der Regel sozialversicherungsrechtliche Versorgungsansprüche, wenn sie nicht mehr im Berufsleben stehen. Die Kinder sind zumeist volljährig und im arbeitsfähigen Alter. Der Pflichtteilsanspruch dieser Angehörigen wird also zumeist am fehlenden Unterhaltsanspruch scheitern. Trotz der höheren Pflichtteilsquote von 2/3 des gesetzlichen Erbteils grenzt das Pflichtteilsrecht des ZGB die Testierfreiheit des Erblassers also eher weniger ein, als es in der Bundesrepublik durch die §§ 2303 ff. BGB der Fall ist3*. Im übrigen zeichnet sich das Pflichtteilsrecht des ZGB durch eine rigorose Vereinfachung gegenüber den Regelungen des BGB aus. Insbesondere wurde auf eine differenzierte Normierung von Ansprüchen zum Schutz gegen die Aushöhlung des Pflichtteilsanspruchs verzichtet, wie sie in den §§ 2325 ff. BGB enthalten ist. Allein § 397 ZGB trifft Vorkehrungen für den Fall, daß der Pflichtteilsberechtigte als Erbe eingesetzt ist, ohne daß sein Erbteil den Wert des Pflichtteilsanpruchs erreicht 35. Ein Schutz vor beeinträchtigenden Schenkungen zu Lebzeiten des Erblassers existiert dagegen nicht.
3 * Die mit dieser Regelung des Pflichtteilsanspruchs verbundene Erweiterung der Testierfreiheit wird in der DDR - Literatur nicht verschwiegen; vgl. Orth, Zur Regelung des Pflichtteilsrechts, NJ 75,238. 3 5 ZGB-Kommentar, § 397 Anm.: 1. Diese Regelung gleicht der des § 2305 BGB. Sie geht aber insofern darüber hinaus, als der Schutz des § 397 I ZGB laut § 397 III ZGB entsprechend gelten soll, wenn der Pflichtteilsberechtigte mit einem Vermächtnis bedacht worden ist. Darin liegt jedoch kein weitergehender Schutz, weil nach § 2307 I BGB der mit einem Vermächtnis bedachte Pflichtteilsberechtigte seinen Pflichtteil in jedem Fall verlangen kann, wenn er das Vermächtnis ausschlägt (vgl. Palanät-Edenhofer, § 2307 Anm.: 1.). Die Erweiterung des Regelungsgehalts von § 397 I ZGB auf den pflichtteilsberechtigten Vermächtnisnehmer beinhaltet im Vergleich zum BGB also ebenfalls eine Schlechterstellung und reiht sich damit in das Gesamtbild ein.
100
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte kann somit nicht davon gesprochen werden, daß die nahen Angehörigen durch das Pflichtteilsrecht des ZGB im gleichen Maße geschützt würden, wie es nach den entsprechenden Vorschriften des BGB der Fall ist. Nur der Ehegatte ist besser gestellt, weil ihm der Pflichtteilsanspruch von 2/3 des Wertes des gesetzlichen Erbteils sicher ist. Eine Ausrichtung der Erbfolgeregelungen des ZGB an den Interessen der Familie läßt sich deshalb im Pflichtteilsrecht genausowenig feststellen wie in den Vorschriften über die gesetzliche Erbfolge 36.
EL Das Erbschaftssteuerrecht
Die gesetzlichen Bestimmungen der DDR über die Erhebung der Erbschaftssteuer sind an den gleichen Prinzipien ausgerichtet wie in der Bundesrepublik Deutschland. Die Höhe der Steuer ist in Abhängigkeit vom Nachlaßwert progressiv gestaffelt, und die Steuerquote differenziert sich nach dem Grad der verwandtschaftlichen Nähe zwischen Erblasser und Erben. Jedoch unterscheidet das Erbschaftssteuergesetz der DDR nur zwei Steuerklassen. Der begünstigten Klasse I unterfallen allein Ehegatten und Kinder; alle übrigen Personen sind der Steuerklasse II zugeordnet 37 . Zudem liegt der Spitzensteuersatz in beiden Steuerklassen merklich höher. Er beläuft sich auf 50% in Klasse I und auf 80% in Klasse I I 3 8 und wird bereits bei einem Nachlaßwert von 1 Million Mark erreicht 39. Darüber hinaus setzt die Besteuerung bereits bei geringfügi-
3 6 Mampels Einschätzung (vgl. Fn 22) wird demgemäß auch vom Pflichtteilsrecht des ZGB nicht getragen. 3 7
Vgl. Wölki,
3 8
Wölki, Erbschaftssteuerrecht S. 117.
3 9
Wölki,
Erbschaftssteuerrecht, ROW 84,113,115.
Erbschaftssteuerrecht S. 117.
Α. Die Normen des Erbrechts in der DDR
101
gen Nachlaßwerten ein 40 und nimmt selbst für mittlere Vermögenswerte einen beträchtlichen Umfang an41. Durch die Erbschaftssteuer werden in der DDR im Ergebnis also wesentlich größere Werte vom Nachlaß abgeschöpft, so daß der Umfang des vererbten Vermögens und der Umfang des ererbten Vermögens stärker differiert als in der Bundesrepublik Deutschland42. Zudem führt die Reduzierung auf zwei Steuerklassen und die Annäherung der Steuerquoten in den beiden Steuerklassen zu einer stärkeren Angleichung der Besteuerung von Familienangehörigen und nicht verwandten Personen. Folglich leistet auch das Erbschaftssteuerrecht keinen Beitrag zur Besserstellung der Familie, sondern erleichtert eher letztwillige Verfügungen zugunsten anderer Personen43. Am Ende des Überblicks über die Erbrechtsvorschriften der DDR steht somit ein Resultat, das in zweifacher Weise bemerkenswert ist. Zum einen erstaunt angesichts der Gegensätzlichkeit der Gesellschaftsordnungen die Vielzahl von Übereinstimmungen im Erbrecht der beiden deutschen Staaten, die wie dargelegt über die grundlegenden Prinzipien hinaus bis ins Detail einzelner Rechtsinstitute reichen. Zum anderen überrascht aber auch die Tendenz, die sich aus den Abweichungen im Erbrecht der DDR ablesen läßt. Denn allein das Erbschaftssteuerrecht enthält aufgrund der höheren Steuersätze Regelungen, die ohne weiteres als Umsetzung sozialistischer Grundpositionen
4 0 Schon bei einem Nachlaßwert bis zu 10.000 Mark betragen die Steuersätze 4% bzw. 11%; für Erbschaften bis zum Wert von 30.000 D M liegen sie bei 7% und 17%. Zwar ist auch in der DDR für den Ehegatten und die Kinder ein Freibetrag vorgesehen. Jedoch beträgt er nur 20.000 Mark (Ehegatte) bzw. 10.000 Mark (Kinder) gegenüber 250.000 D M und 90.000 D M in der Bundesrepublik. Vgl. Wölki, Erbschaftssteuerrecht S. 117 und 118. 4 1
Ein Nachlaßwert von 50.000 Mark wird mit einer Steuerquote von 13% bzw. 28% belegt (Bundesrepublik: 3% bis 20% in den vier Steuerklassen). Ab 200.000 Mark ist in Steuerklasse II der DDR die 50%-Marke erreicht (Bundesrepublik: 30%), während in Klasse I für diesen Betrag 26 % abzuführen sind (Bundesrepublik: 5,5%). 4 2 Auf die Bedeutung dieses Umstandes wird im folgenden unter Punkt C. II. noch einzugehen sein. 4 3 Das Erbschaftssteuerrecht der Bundesrepublik wirkt dagegen eher als Schranke der Testierfreiheit, weil es letztwillige Verfügungen an Personen, die nicht der Familie des Erblassers angehören, wegen der höheren Steuersätze faktisch beschränkt; vgl. dazu MüKo-Leipold, Einleitung Rn 167 mwN.
102
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
zu identifizieren sind. Die Vorschriften über die gesetzliche Erbfolge bringen dagegen überwiegend Neuerungen, die auch als Reformvorschläge für das Erbrecht des BGB diskutiert werden**, und das Pflichtteilsrecht gibt der Testierfreiheit gar einen breiteren Spielraum als in der Bundesrepublik Deutschland.
B. Beschränkung der Privateibfolge durch die Eigentumsverfassung der D D R
Aus der soeben festgestellten Vielzahl von Gemeinsamkeiten in den Erbrechtsnormen der Bundesrepublik und der DDR darf allerdings nicht vorschnell darauf geschlossen werden, daß die Zielsetzung und die Funktion beider Erbordnungen ebenfalls übereinstimmen würde. Der Vergleich der Gesetzesvorschriften öffnet nur den Blick auf die Verteilungsregeln für das vererbliche Vermögen. Von elementarer Bedeutung ist für die Beurteilung der Privaterbfolge aber auch die vorgelagerte Frage, woraus sich das vererbliche Vermögen zusammensetzt und welchen Umfang es hat. In der Bundesrepublik Deutschland befindet sich der weitaus größte Teil aller Vermögenswerte in privater Hand. Zwischen Eigentum im allgemeinen und vererblichem Eigentum mußte in der Untersuchung deshalb nicht unterschieden werden, zumal auch die bundesdeutsche Eigentumsverfassung in diesem Punkt keine einschränkenden Vorgaben enthält*5. In der DDR ist die Situation anders, weil die dortige Eigen-
* * Die Forderung nach einer vollständigen Gleichstellung der ehelichen und nichtehelichen Kinder findet sich etwa bei MüKo-Leipold, § 1934 a Rn 9 sowie Soergel-Stein, Einl. zu § 1922 Rn 81 und § 1934 a Rn 5. Für eine Besserstellung des Ehegatten im Erbrecht plädieren etwa Bosch, FamRZ 83,227,238 ff.; Jung, RPfl 84,165,177 ff. und Soergel-Stein, Einl. zu § 1922 Rn 75. Auch eine Begrenzung der Erbordnungen ist im Gespräch gewesen; vgl. Lange, Erbrecht S. 27 mwN. Schließlich finden sich auch kritische Stellungnahmen zu den weitreichenden Möglichkeiten des Erblassers, durch die Anordnung der Testamentsvollstreckung und die Vor- und Nacherbfolge auf die zukünftige Entwicklung des Nachlasses Einfluß zu nehmen; vgl. nur Schlüter, Erbrecht S. 342 f. Zu einzelnen Einschränkungen der Nutzungsbefugnis aufgrund von Art. 14 I 2 GG durch den Gesetzgeber sogleich im folgenden.
Β. Beschränkung der Privaterbfolge durch die Eigentumsverfassung
103
tumsordnung zwischen verschiedenen Eigentumsarten differenziert und dadurch bestimmte Vermögenswerte von vorneherein den Regeln des Privaterbrechts entzieht. Verantwortlich für diese Differenzierung ist das marxistische Eigentumsverständnis, das den Eigentumsbegriff nach anderen Maßstäben definiert.
L Das marxistische Eigentumsverständnis als Grundlage der Eigentumsverfassung der DDR
Unser Eigentumsverständnis geht vom zivilrechtlichen Eigentumsbegriff aus46. Danach ist Eigentum das Herrschaftsverhältnis einer Person über eine Sache und gewährt dem jeweiligen Rechtsträger die unbeschränkte Befugnis, mit dem Gegenstand nach seinem Belieben zu verfahren 47. Das Grundgesetz modifiziert dieses Eigentumsverständnis zwar dadurch, daß es den Eigentumsschutz auf private Vermögensrechte erweitert 4*, während andererseits nach Art. 14 I 2 GG auch bestimmte Sachherrschaftsbefugnisse durch den Gesetzgeber aus dem Eigentumsrecht ausgeklammert werden können49. Das Grundverständnis vom Eigentum, wie es oben beschrieben wurde, wird dadurch jedoch nicht angetastet. Es liegt Art. 14 I 1 GG als Leitbild zugrunde50 und ist vom Gesetzgeber auch dann zu beachten, wenn er die Eigentümerbefugnisse
4 6 Der Ursprung dieses Eigentumsbegriffs liegt in den Vorstellungen des bürgerlichen Liberalismus und fand seine erste rechtliche Fixierung in der Erklärung der Menschenrechte während der französischen Revolution. Vgl. dazu BK-Kimminich, Art. 14 Rn 5. 4 7
Vgl. nur den Wortlaut des § 903 BGB.
Dazu von Münch - Bryde, Art. 14 Rn 23; zu den Gründen dieser Ausdehnung des verfassungsrechtlichen Schutzes Weber, Eigentum und Enteignung S. 352 f. Ob sich der Schutz des Art. 14 I 1 GG auch auf öffentlich-rechtliche Rechtspositionen erstreckt, ist umstritten; vgl. MDH - Papier, Art. 14 Rn 119 mwN. 4 9 Exemplarisch zur Befugnis des Gesetzgebers, die Herrschaftsbefugnisse des Eigentümers zu konkretisieren oder zu begrenzen BVerfGE 58,300 ff.
Das BVerfG führt dazu aus, daß Art. 14 I GG das Eigentum so schützen will, wie es das bürgerliche Recht und die gesellschaftlichen Anschauungen geformt haben; vgl. Leibholz/Rinck, Art. 14 Rn 1 mwN.
104
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
auf Grundlage von Art. 14 I 2 GG näher umgrenzen will 5i . Insbesondere garantiert Art. 14 I 1 GG deshalb die privatnützige Verwendbarkeit des Eigentums52. Dem marxistischen Eigentumsbegriff liegt dagegen eine völlig andere Sichtweise zugrunde. Zwar nimmt er die Beziehung zwischen Person und Gegenstand in sich auf, weil Eigentum ohne dieses Verhältnis nicht denkbar ist 53 . Jedoch ist die Zuweisung dieser Herrschaftsbefugnis nicht der Ausgangspunkt für seine Definition. Denn die marxistische Philosophie begreift das Herrschaftsverhältnis zwischen Mensch und Sache als eine Selbstverständlichkeit, die sich aus dem Umstand ergibt, daß der Mensch in seinem Arbeitsprozeß mit den Dingen der Natur und seiner Umwelt notwendig in Beziehung treten muß und sie dabei als ihm gehörig verwendet5*. Die Nutzung und Verwertung von Sachgütern ist demzufolge ein unabdingbarer Bestandteil der menschlichen Produktion, ohne die eine menschliche Existenz als solche nicht denkbar wäre. Für den Eigentumsbegriff erlangt dieses Faktum erst dann Bedeutung, wenn die Menschen zueinander in Beziehung treten 55.
Nach st. Rspr. des BVerfG hat der Gesetzgeber bei der Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums beiden Elementen des im Grundgesetz angelegten Verhältnisses von verfassungsrechtlich garantierter Rechtsstellung und dem Gebot einer sozialgerechten Eigentumsordnung Rechnung zu tragen, wobei der grundlegende Gehalt der Eigentumsgarantie aber gewahrt werden muß; vgl. BVerfGE 72,66,77 und Leibholz/Rinck, Art. 14 Rn 9 mwN. c-> Nur wenige spezielle Nutzungsbefugnisse sind davon ausgenommen wie beispielsweise die Grundwassernutzung nach § 1 a WHG oder die Bergbauberechtigung nach dem Bundesbergbaugesetz. 5 3
Vgl dazu Klinken u.a.; Eigentumsrecht S. 11.
5
* Marx dazu wörtlich in Grundrisse S. 391: "Eigentum meint also ursprünglich nichts als Verhalten des Menschen zu seinen natürlichen Produktionsbedingungen als ihm gehörigen, als den seinen, als mit seinem eigenen Dasein vorausgesetzten; Verhalten zu denselben als natürlichen Voraussetzungen seiner selbst, die sozusagen seinen verlängerten Leib bilden. Er verhält sich eigentlich nicht zu seinen Produktionsbedingungen, sondern ist doppelt da, sowohl subjektiv als er selbst, wie objektiv in diesen natürlichen, anorganischen Bedingungen seiner Existenz." 5 5 Dazu Marx, Grundrisse S. 385: "...aber dieses Verhalten zu dem Grund und Boden, zur Erde, als dem Eigentum des arbeitenden Individuum ... ist sofort vermittelt durch das naturwüchsige, mehr oder minder historisch entwickelte, und modifizierte Dasein des Individuums als Mitglieds einer Gemeinde - sein naturwüchsiges Dasein als Glied eines Stammes etc. Ein isoliertes Individuum könnte sowenig Eigentum an Grund und Boden haben wie sprechen."
Β. Beschränkung der Privaterbfolge durch die Eigentumsverfassung
105
Eigentum als individuelles Recht, also als Privateigentum, tritt darum erst auf der Stufe in Erscheinung, wo in den zwischenmenschlichen Beziehungen die Herrschaft über die Produktionsmittel aufgeteilt wird 56 . Das Eigentum in seiner konkreten Erscheinungsform ist somit primär ein gesellschaftliches Verhältnis57. Es spiegelt als zentrale Kategorie des Rechts die Machtbeziehungen unter den Menschen wider, die sich auf die Verfügbarkeit über die Produktionsmittel gründen. Eigentum ist letztlich also nichts anderes als der juristische Ausdruck der sich fortentwickelnden Produktionsverhältnisse55. Daraus folgt, daß der Eigentumsbegriff selbst der historischen Entwicklung unterworfen ist 59 . Er verändert sich mit dem Wandel der Produktionsverhältnisse. Das bürgerliche Verständnis vom Eigentum gilt darum auch nur als Essenz der bürgerlich - kapitalistischen Produktionsbedingungen00. Weil diese im Sozialismus aufgehoben werden, muß sich auch der Eigentumsbegriff wandeln und eine Form annehmen, die den neuen Produktionsverhältnissen entspricht^. Sie sind darauf ausgerichtet, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseiti-
5 6
Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3,62: "Durch die Emanzipation des Privateigentums vom Gemeinwesen ist der Staat zu einer besonderen Existenz neben und außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft geworden; er ist aber weiter nichts als die Organisation, welche sich die Bourgeois sowohl nach außen als nach innen hin zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendig geben." 5 7 Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26 1,321: "Die société selbst - daß der Mensch in société lebt, statt als unabhängiges, selbständiges Individuum - ist die Wurzel der propriété ... ." 5 8
Marx, Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13,7,9.
5 9
Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4,63,165: "In jeder historischen Epoche hat sich das Eigentum anders und unter ganz verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen entwickelt." "Eine Definition des Eigentums als eines unabhängigen Verhältnisses, einer besonderen Kategorie, einer abstrakten und ewigen Idee, kann nichts anderes sein als eine Illusion der Metaphysik oder Jurisprudenz." 6 0
Marx, Brief an Annenkow, MEW 4,457 und 552.
^ Zum Stellenwert der Eigentumsfrage schreibt Marx, Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral, MEW 4,331,341: "Die Eigentumsfrage ... war immer die Lebensfrage einer bestimmten Klasse. Im 17. und 18. Jahrhundert, wo es sich um die Abschaffung der feudalen Eigentumsverhältnisse handelte, war die Eigentumsfrage die Lebensfrage der bürgerlichen Klasse. Im 19. Jahrhundert, wo es sich darum handelt, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse abzuschaffen, ist die Eigentumsfrage eine Lebensfrage der Arbeiterklasse."
106
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
gen, deren Ursache im Privateigentum an den Produktionsmitteln gesehen wird 62 . Demgemäß muß die juristische Ausgestaltung des Eigentums in der Eigentumsverfassung der DDR dafür Sorge tragen, daß Gegenstände des individuellen Eigentums nicht als Produktionsmitteleigentum zur Grundlage gesellschaftlicher Macht werden kann. Dazu bedarf es konsequenterweise abgestufter Vorkehrungen, die den Gebrauch des Eigentums regulieren und die Art der Eigentumsnutzung zum Maßstab für die Abgrenzung der Eigentumskategorien nehmen. Das ist in der DDR (wie in anderen sozialistischen Staaten) durch die Etablierung unterschiedlicher Eigentumsformen geschehen. Die für die Volkswirtschaft wesentlichen Produktionsmittel unterstehen in verschiedenen Unterarten dem kollektiven sozialistischen Eigentum, Individualeigentum ist für Gegenstände des persönlichen Bedarfs vorgesehen.
IL Das sozialistische Eigentum 1) Die Arten des sozialistischen Eigentums
Zum sozialistischen Eigentum gehören gemäß Art. 10 Verf DDR das gesamtgesellschaftliche Volkseigentum, das genossenschaftliche Gemeineigentum und das Eigentum der gesellschaftlichen Organisationen der Bürger.
a) Volkseigentum
Volkseigentum besteht an (fast) allen Produktionsbetrieben. Industriebetriebe, Banken, Bergwerke und Einrichtungen des Versicherungswesens müssen nach Art. 12 I Verf DDR genauso in Volkseigentum stehen wie die Transportmittel der Luft- und Seeschiffahrt nebst den Eisenbahnen und Kraftwerken. Talsperren, große Gewässer, Boden-
6 2
Marx, Manifest, MEW 4,459,480 f.
Β. Beschränkung der Privaterbfolge durch die Eigentumsverfassung
107
schätze und Verkehrswege sind ebenfalls dem Volkseigentum vorbehalten 63 . Im Jahre 1983 wurden 80% des gesamten Nationaleinkommens von solchen Wirtschaftszweigen aufgebracht, die im Durchschnitt zu über 90% in Volkseigentum standen6*. Insbesondere die produktionsmittelintensive industrielle Fertigung ist zu 96,7% in staatlicher Hand 65 . Andere wichtige Wirtschaftszweige wie etwa der Binnenhandel und die Bauwirtschaft befinden sich zu etwa 70% in Volkseigentum66. Der Gesamtbeitrag des Volkseigentums zum Nationaleinkommen beläuft sich also ungefähr auf einen Anteil um 80% 67 . Damit unterliegt der weitaus größte Teil des gesamten Volksvermögens dieser Eigentumsform, deren Träger der Staat selbst ist.
b) Genossenschaftliches Gemeineigentum
Genossenschaftseigentum existiert vor allem in der Landwirtschaft in Form der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften 65. Daneben bestehen aber auch Produktionsgenossenschaften von Fischern und Handwerkern sowie die Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften, deren Zielsetzung in der Bereitstellung von preisgünstigem Wohnraum für ihre Mitglieder liegt69.
6 3 Vgl. Mampel, DDR-Verfassung Art. 12 Rn 1 - 24; neben Art. 12 I Verf DDR schreiben auch noch einige einfache Gesetze Volkseigentum an bestimmten Gegenstanden wie etwa jagdbaren Tieren und Museumseinrichtungen vor. Vgl. Mampel, Rn 25 - 31. 6 4
Statistisches Jahrbuch DDR 1984, S. 97 und 98.
6 5
Statistisches Jahrbuch DDR 1984, S. 97 (Die Jahrbücher jüngeren Datums enthalten keine entsprechenden Angaben mehr, so daß auf die älteren Werte aus dem Jahrbuch von 1984 zurückgegriffen werden mußte.) 6 6
Statistisches Jahrbuch DDR 1984, S. 97.
6 7
Dieser Wert ist nicht statistisch festgehalten; es handelt sich um einen Schätzwert auf der Basis der Einzelangaben. 6 5 Seit Erlaß des neuen LPG-Gesetzes gehören dazu auch die Genossenschaften der Gärtner; vgl. § 1 I LPG-G. 6 9
Vgl. Mampel, DDR-Verfassung Art. 13 Rn 22 und 25 ff.
108
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
Die Regelung der Eigentumsverhältnisse am genossenschaftlichen Gemeineigentum ist differenziert und je nach Art der Genossenschaft verschieden. Das Prinzip der Regulierung läßt sich aber aus den Musterstatuten ablesen, die für die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG's) gelten. Dort befinden sich die beweglichen Gegenstände wie Maschinen, Geräte oder Saatgut und Ernte im Volleigentum der Genossenschaft; sie selbst ist mithin der Rechtsinhaber. Die in die LPG eingebrachten Grundstücke verbleiben dagegen im Eigentum der Mitglieder, die sie ursprünglich innehatten70. Der Genossenschaft steht daran aber die Nutzungsbefugnis zu. Sie bestimmt durch ihre Vertreter, zu welchem Zweck der Grund und Boden insgesamt verwendet wird. Auch in der Verfügungsfreiheit sind die Grundstückseigentümer eingeschränkt. Zwar dürfen sie ihre Grundstücke veräußern, jedoch darf dadurch die Nutzungsbefugnis der Genossenschaft nicht beeinträchtigt werden77. Die beim Einbringen den Bauern verbleibende Eigentümerstellung an Grund und Boden ist somit zu einer Rechtsposition ohne praktischen Nutzen degeneriert 72. Für die anderen Genossenschaften ist ein ähnliches Ineinandergreifen von genossenschaftlichem Volleigentum und genossenschaftlich gebundenem Individualeigentum vorgesehen. In den Genossenschaften der Handwerker können die Produktionsmittel der Mitglieder in deren Eigentum verbleiben, unterliegen aber den Nutzungsbestimmungen der Genossenschaft73. Bei Eintritt in die Genossenschaft der Fischer behalten die Mitglieder ihre Fischereirechte, während die Fischereigeräte
7 0
Vgl § 19 I LPG-G.
71
Vgl. § 18 IV LPG-G; die vor 1982 bestehende Regelung besagte, daß eine Veräußerung nur an den Staat, die LPG selbst oder ein LPG-Mitglied mit wenig oder gar keinem Bodeneigentum zulässig ist. Vgl. Mampel, DDR-Verfassung Art. 13 Rn 15. Offensichtlich bestand für diese Vorschrift kein Bedarf mehr, weil andere Personen als LPG-Mitglieder mit dem genossenschaftlich genutzten Boden nichts anfangen können. 7 2 Die Nutzungsbefugnis der LPG geht soweit, daß sie den von ihr genutzten Boden an andere sozialistische Betriebe zur Nutzung übertragen oder für den Eigenheimbau zur Verfügung stellen kann; vgl. § 18 I und II LPG-G. 7 3 Vgl. die Musterstatuten über Produktionsgenossenschaften des Handwerks vom 18.8.1955 in GBL I DDR 1955, S. 598 und vom 26.3.1973 in GBL I DDR 1973, S. 122.
Β. Beschränkung der Privaterbfolge durch die Eigentumsverfassung
109
gegen Vergütung in Genossenschaftseigentum überführt werden müs-
Der Beitrag der Genossenschaften zum Volkseinkommen ist unterschiedlich. Geringe Bedeutung haben die Genossenschaften der Handwerker 76 und der Fischer. In der Land- und Forstwirtschaft brachten die LPG's aber bereits 1970 79,2% des Nettoproduktes auf. Von der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche waren zu dieser Zeit 92,7% in genossenschaftlicher Bewirtschaftung 77. Daneben ist noch der Anteil der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften am Produkt der Bauwirtschaft erheblich; er beläuft sich auf 20% 78. Neben dem sozialistischen Volkseigentum hat also auch das genossenschaftliche Eigentum große Bedeutung für die Volkswirtschaft der DDR.
c) Eigentum der gesellschaftlichen Organisationen
Das Eigentum der gesellschaftlichen Organisationen der Bürger unterscheidet sich von anderen Unterarten des sozialistischen Eigentums. Es erstreckt sich nicht (nur) auf Produktionsmittel, sondern auf die Einrichtungen und Sachwerte wie Gebäude, Büromaterial oder Druckereien, die von gesellschaftlichen oder politischen Organisationen wie der SED, dem FDGB oder der FDJ genutzt werden79. Der Kreis
7 4
Vgl. Mampel, DDR-Verfassung Art. 13 Rn 24.
7 5
Bei den Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften ist die Eigentumslage allerdings anders. Weil die Mitglieder keine Sachwerte, sondern nur Geldbeiträge und Arbeitsleistungen einbringen, existiert dort auch rechtlich kein Individualeigentum, denn die erstellten Wohnungen werden zu Volleigentum der Genossenschaften. Beim Austritt eines Mitgliedes wird allein der eingezahlte Anteil zurückerstattet; vgl. die Verordnung über die Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften vom 13.12.1972 in GBL I DDR 1973, S. 111 sowie das dort anliegende Musterstatut. 7 6 Bei den Handwerkern resultiert das daraus, daß der größte Teil Kleinbetriebe betreibt, die unter eine Kategorie des Individualeigentums fallen. Dazu sogleich unter Punkt III.2). 7 7 Vgl. DDR-Handbuch Bd. 2, Seite 804; neuere Statistiken über den Anteil der LPG's am Produkt der Land- und Forstwirtschaft waren mir nicht zugänglich. 7 8 9
Statistisches Jahrbuch DDR 1984, S. 97.
V g l . Mampel, DDR-Verfassung Art. 1 Rn 2 .
110
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
von Organisationen, der Träger dieser Eigentumsform sein kann, ist gesetzlich aber nicht festgelegt 50. Bedeutung und Ausmaß dieser Eigentumsform lassen sich deshalb nicht abschätzen. Sicher ist nur, daß ihr Stellenwert im Vergleich zum Volkseigentum und zum Genossenschaftseigentum unbeachtlich sein dürfte. Die Einrichtung dieser Eigentumsform läßt sich mit dem marxistischen Eigentumsverständnis nicht begründen, weil sie nicht die Überführung von Produktionsmitteln in Gemeineigentum zum Ziel hat w . Die einzige Rechtfertigung kann darin gesehen werden, daß nach dem Staatsverständnis der DDR die Massenorganisationen der Bürger Teil der politischen Organisation des Staates selbst sind52.
2) Sozialistisches Eigentum und Erbrecht
Soweit der Staat, die Genossenschaften oder die gesellschaftlichen Organisationen der Bürger selbst als Eigentümer der Gegenstände fungieren, die dem sozialistischen Eigentum unterfallen, ist ihre Vererblichkeit natürlich ipso iure ausgeschlossen. Das Volkseigentum als bedeutsamster Teil des Volksvermögens sowie das Eigentum der gesellschaftlichen Organisationen der Bürger unterfällt den Regeln des Privaterbrechts somit nicht. Für das genossenschaftliche Eigentum muß wegen des Nebeneinanders von genossenschaftlich gebundenem Individualeigentum und Volleigentum der Genossenschaft unterschieden werden. Die der Genossenschaft als Eigentum zugewiesenen Güter teilen das Schicksal der Gegenstände, die den anderen Formen des sozialistischen Eigentums
8 0
Vgl. Mampel DDR-Verfassung Art. 10 Rn 24.
Vgl. dazu oben S. 103 ff.; aus diesem Grund wurde das Eigentum der gesellschaftlichen Organisationen der Bürger, das zunächst der Kategorie des Volkseigentums zugeordnet war, auch als eigenständige Unterart des sozialistischen Eigentums etabliert. Vgl. Mampel, DDR-Verfassung Art. 10 Rn 3. 8 2
Vgl. dazu nur Mampel, DDR-Verfassung Art. 1 Rn 20.
Β. Beschränkung der Privaterbfolge durch die Eigentumsverfassung
111
unterfallen. Im übrigen sind die Vorschriften des Erbrechts anwendbar. Der Grund und Boden in den LPG's, die (Geld-)Anteile der Mitglieder in den Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften sowie die den Fischern und Handwerkern zu Eigentum verbleibenden Produktionsmittel sind also vererblich. Dies ist in den Gesetzen, Verordnungen oder Musterstatuten über die jeweilige Genossenschaftsart festgehalten*3. Jedoch wird in den Bestimmungen über die Erbfolge gleichzeitig dafür Sorge getragen, daß durch den Tod eines Genossenschaftsmitgliedes der Genossenschaft kein von ihr genutzter Gegenstand entzogen wird. Bei den Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften wird ohnehin nur der Geldanteil des Mitglieds vererbt, so daß der Wohnungsbestand nicht gemindert werden kann**. Für Grund und Boden der LPG - Mitglieder ist durch abgestufte Vorkehrungen sichergestellt, daß möglichst nur solche Personen erben, die auch ihrerseits LPG - Mitglieder sind oder werden55. Selbst wenn dies ausnahmsweise nicht der Fall sein sollte, ändert die Erbfolge aber nichts an den Nutzungsrechten der Genossenschaft 00. Von daher ist ein Erbsçhaftserwerb von genossenschaftlichem Boden für Nichtmitglieder genausowenig von Nutzen wie ein rechtsgeschäftlicher Erwerb 57. Für die im Eigentum der Fischer und Handwerker verbleibenden Produktionsmittel, die der Nutzung ihrer Genossenschaft unterliegen,
8 3 Für die LPG's vgl. § 45 II LPG-G; für die Produktionsgenossenschaften der Handwerker vgl. Verordnung vom 21.2.1973 über das Musterstatut der Produktionsgenossenschaften des Handwerks in GBL I DDR 1973, S. 121,124; für die Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften vgl. die entsprechende Verordnung vom 21.11.1973 in GBL I DDR 1973, S. 109,115. 8 4
GBL I DDR 1963, S. 115.
8 5
§ 45 IV LPG-G sieht vor, daß der Boden einem LPG - Mitglied zufallen soll, wenn mehrere Erben vorhanden sind. Sofern dieser Sollvorschrift nicht entsprochen wird, kann nach § 427 ZGB das Staatliche Notariat eine entsprechende Aufteilung herbeiführen, auch wenn sich die Erben entgegen der Voraussetzung des § 427 I ZGB über eine anderweitige Zuweisung einig sind. Vgl. ZGB-Kommentar, § 427 Anm.: 3. sowie die Grundstücksverkehrsverordnung vom 15.12.1977, § 2 I Buchst, i) und k) in Roggemann, Gesetzgebung der DDR, Bd. 3, Kennziffer 7.0.1. 8 6
Vgl. § 18 IV LPG-G.
8 7
Vgl. dazu oben S. 108, Fn 71.
112
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
sind keine die Erbfolge einschränkenden Regelungen vorgesehen. Jedoch nützt der Erbschaftserwerb einem Nichtmitglied wegen der genossenschaftlichen Nutzung der Gegenstände auch hier nur wenig. Die von Rechts wegen zugelassene Privaterbfolge am genossenschaftlich gebundenen Individualeigentum der Genossenschaftsmitglieder läuft somit unbhängig von der jeweiligen Genossenschaftsart faktisch leer. Die Vererbung einer schon beim Erblasser ausgehöhlten Rechtsposition eröffnet auch den Erben weder ein Nutzungs- noch ein weitergehendes Verfügungsrecht. Allein die juristische Zuordnung wechselt, die aber für den Erblasser wie für die Erben letztlich ohne Auswirkung bleibt. Als Ergebnis kann somit nur festgestellt werden, daß die Privaterbfolge für sämtliche dem sozialistischen Eigentum unterfallenden Gegenstände keine Bedeutung hat.
DDL Die Arten des Individualeigentums als Gegenstand des Erbrechts in der DDR
Der Erbfolgeordnung des ZGB unterfallen alle Gegenstände, die den Bürgern als Individualeigentum zugewiesen sind und keiner genossenschaftlichen Bindung unterstehen. Die Eigentumsverfassung der DDR teilt das Individualeigentum in drei Kategorien. An erster Stelle steht das persönliche Eigentum, das die Bürger der DDR zu freier Verfügung und Nutzung haben, solange sie gemäß der Zweckbestimmung dieser Eigentumsform ihre materiellen und kulturellen Lebensbedürfnisse damit befriedigen 55. Persönliches Eigentum untersteht der verfassungsrechtlichen Garantie des Art. 11 I Verf DDR 5 9 , und das Erbrecht bezieht sich von seiner Konzeption her auf diese Eigentumsform 90.
5 5
Vgl. Art. 11 I 2 Verf DDR sowie die §§ 22 II und 24 ZGB. Der ZGB-Kommentar führt dazu aus: "Die Funktionsgebundenheit persönlichen Eigentums ist ... entscheidendes Merkmal für dessen Bestimmung als ökonomische Kategorie." (§ 22, Anm.: 2.). 5 9
Mampel, DDR-Verfassung Art. 11.
9 0
Vgl. ZGB-Kommentar,
Vorbemerkung zum Erbrecht S. 413.
Β. Beschränkung der Privaterbfolge durch die Eigentumsverfassung
113
Daneben erkennt die DDR-Verfassung in Art. 14 II das Eigentum der kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden als eigenständige Eigentumsart an 9 i . Hierbei handelt es sich allerdings nicht um persönliches Eigentum der genannten Berufsgruppen, sondern um die Produktionsmittel, die von den Inhabern dieser Kleinbetriebe verwendet werden92. Schließlich ist in der DDR noch ein Rest von (kapitalistischem) Privateigentum an Produktionsmitteln vorhanden. Die Verfassung läßt das zu, weil Art. 12 I Verf DDR Volkseigentum nur für die wichtigsten Produktionsmittel zwingend vorschreibt, die bereits oben genannt wurden 93. An allen übrigen Produktionsmitteln ist Privateigentum jedenfalls nicht rechtlich untersagt9*, so daß diese Eigentumskategorie alle Produktionsmittel erfaßt, die weder sozialistisches Eigentum noch Eigentum der kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden sind.
1) Persönliches Eigentum
Das persönliche Eigentum erfaßt alle Gegenstände, die von den Bürgern der DDR zur Befriedigung ihrer materiellen und kulturellen Bedürfnisse verwendet werden können und tatsächlich auch zu diesem Zweck in Gebrauch sind. Das sind die Güter des alltäglichen Bedarfs. Weil der Kreis der dazu gehörenden Sachen nicht abschließend definiert werden kann95, benennt § 23 I ZGB beispielhaft solche Gegen-
91
Mampel, DDR-Verfassung Art. 14 Rn 19 ff.
9 2
ZGB-Kommentar,
9 3
Vgl. oben S. 107, Fn 63.
9 4
Mampel, DDR-Verfassung Art. 11 Rn 3.
9 5
§ 23 Anm.: 2.
Die meisten Gebrauchsgegenstände können im Prinzip jeder Eigentumskategorie unterstehen. Ein herkömmlicher Stuhl ist im Industriebetrieb Volkseigentum, im Büro der Genossenschaft Genossenschaftseigentum und am Schreibtisch des Parteisekretärs Teil des Eigentums der gesellschaftlichen Organisationen der Bürger. Gehört er aber zur Wohnungsausstattung, so fällt er im bewohnten Eigenheim unter das persönliche Eigentum, kann als Teil der Ausstattung einer vermieteten Wohnung aber auch Privateigentum sein.
114
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
stände, die typischerweise als persönliches Eigentum der Bürger fungieren. Es sind Arbeitseinkünfte, Ersparnisse, die Haushalts- und Wohnungsausstattung, persönliche Bedarfsgegenstände wie etwa die Kleidung, die zur Bildung und Freizeitgestaltung erworbenen Sachen sowie Grundstücke und Gebäude, solange sie den eigenen Wohn- und Erholungsbedürfnissen dienen. Zusätzlich sollen Ansprüche aus Urheber, Neuerer- und Erfinderrechten und die "dem Wesen des persönlichen Eigentums entsprechenden Rechte" darunter fallen 96. Was unter diesem unbestimmten Rechtsbegriff zu vestehen ist, beantwortet auch der Kommentar zum ZGB nicht97. Zur Konkretisierung wird man auf die Zielsetzung zurückgreifen müssen, die der Etablierung unterschiedlicher Eigentumskategorien zugrundeliegt95. Grundsätzlich ausgeschlossen dürften deshalb nur solche Güter sein, die von ihrer Beschaffenheit her allein als Produktionsmittel Verwendung finden können99. Obwohl alle genannten Gegenstände des persönlichen Eigentums den Regeln des Erbrechts unterliegen, können sich wegen der Eingrenzung dieser Eigentumskategorie nach dem Verwendungszweck beim Erbfall unerwartete Folgen einstellen. Denn was beim Erblasser als persönliches Eigentum der Bedürfnisbefriedigung diente, muß in der Hand des Erben die gleiche Funktion erfüllen. Solange Mobilien vererbt werden, dürfte das keine Probleme bereiten. Schwierig ist die Rechtslage aber, wenn der Erblasser ein von ihm bewohntes Haus auf einen Erben überträgt, der bereits Hauseigentümer ist. Weil abgesehen von Ausnahmefällen nur ein Wohnhaus den eigenen Wohnbedürfnissen dienen kann, verliert das ererbte Gebäude seine Eigenschaft als persönliches Eigentum und kann dem Erben verloren gehend
9 6
Vgl. § 23 I ZGB.
9 7
Vgl. die Kommentierung zu § 23 im ZGB-Kommentar, kritisch zum Problem der Abgrenzung der Eigentumsformen auch Westen!Schleider, Zivilrecht im Systemvergleich S. 299. 9 8
Dazu oben S. 104 ff.
9 9
So auch Göhring/Posch u.a., Lehrbuch Zivilrecht Bd. I, S. 145. Seit neuester Zeit wird diese Sichtweise aber relativiert; vgl. FritschelSchüler, Persönliches Eigentum und Leistungsprinzip, StuR 89,819,822 ff. Besonders problematisch ist dies bei der Vererbung eines Wohnhauses, das auf einem staatseigenen Grundstück steht. Nach den §§ 287 ff. ZGB ist das in der DDR
Β. Beschränkung der Privaterbfolge durch die Eigentumsverfassung
2) Das Eigentum der kleinen Handwerker
115
und Gewerbetreibenden
Das Eigentum der kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden wird von der Verfassung der DDR zwar nicht garantiert. Es wird von ihr aber in Art. 14 II 1 anerkannt. Er lautet: "Die auf überwiegend persönlicher Arbeit beruhenden kleinen Handwerks- und anderen Gewerbebetriebe sind auf gesetzlicher Grundlage t ä t i g t . § 23 II ZGB bestimmt, daß die Vorschriften über das persönliche Eigentum der Handwerker und Gewerbetreibenden entsprechend anzuwenden sind, weil es überwiegend auf persönlicher Arbeit beruhe 702. Die Vorschriften des Erbrechts gelten somit auch für diese Eigentumskategorie ohne Einschränkungen703. Allerdings ist die in § 23 II ZGB festgelegte Gleichstellung mit dem persönlichen Eigentum nicht mehr als eine Fiktion. Es kann keine Rede davon sein, daß die Produktionsmittel und Erträge der kleinen Handwerker- und Gewerbebetriebe überwiegend durch die persönliche Arbeit ihrer Inhaber erwirtschaftet würden. Diese Kleinbetriebe dürfen bis zu 10 Beschäftigte haben 704 , so daß deren Arbeit zusammengenommen in der Regel die persönliche Arbeit des Inhabers weit übersteigen wird. Mit der Zielsetzung der Eigentumsordnung der DDR steht diese Eigentumsform deshalb nicht in Einklang, denn sie beläßt Produktionsmittel in privater Hand. Ihre Zulassung läßt sich allein aus der Absicht erklären, die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienst-
möglich; rechtstechnisch handelt es sich beim Hauseigentum dann um ein Nutzungsrecht (vgl. ZGB-Kommentar, § 287 Anm.: 1.). Wenn in diesem Falle der Erbe bereits Hauseigentümer ist, erfüllt er nicht die Voraussetzungen des § 5 II NRG und verliert das Wohnhaus in jedem Fall; allerdings gegen eine Entschädigung. Zu dieser Fallgestaltung eingehend Schneider, NJ 1989,30 ff. 1 0 1
Vgl. Mampel DDR-Verfassung Art. 14.
1 0 2
Vgl. ZGB-Kommentar,
1 0 3
ZGB-Kommentar,
§ 23 Anm.: 2.
§ 362 Anm.: 2.1.
104 Ygj Qesejx z u r Ergänzung des Gesetzes zur Förderung des Handwerks vom 12.3.1958 in GBL I DDR 1958, S. 261.
116
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
leistungen durch Ausnutzung privater Initiative zu verbessern 705. Der Erfolg dieser Betriebe läßt sich an ihrem Anteil am Gesamtumsatz des Handwerks ablesen; er beläuft sich auf 59% 106. Trotz dieses Anteils am Umsatz darf man aber nicht vergessen, daß den kleinen Handwerks- und Gewerbebetrieben nur ein kleiner Ausschnitt der wirtschaftlichen Tätigkeit offensteht. Auch hat der Gesetzgeber dafür Sorge getragen, daß sie nicht zu einer relevanten Größe in der Volkswirtschaft insgesamt werden. Zu diesen Maßnahmen gehört einerseits die Begrenzung der Beschäftigtenzahl auf 10 Mitarbeiter 707, zum anderen aber auch eine progressive Besteuerung, die nach der Zahl der Betriebsangehörigen gestaffelt ist 705 , und schließlich die Einbindung der Privatbetriebe in die Vorgaben der Wirtschaftspläne, deren Einhaltung durch Auflagen der örtlichen Volksvertretungen sichergestellt werden kann 709 . Diese Reglementierung unterwirft die Kleinbetriebe der umfassenden Kontrolle der staatlichen Organe, so daß von einer Privatwirtschaft im eigentlichen Sinne gar nicht gesprochen werden kann. Die Kollektivwirtschaft der DDR macht sich in einem Teilbereich allein die Privatinitiative zunutze770.
i
m
ZGB-Kommentar wird das auch offen angesprochen; vgl. § 23 Anm.: 2.
1 0 6
Statistisches Jahrbuch DDR 1988, S. 174.
1 0 7
Vgl. oben Fn 104.
1 0 8
Vgl. Gesetz über die Besteuerung des Handwerks vom 12.3.1958 in GBL I DDR 1958, S. 262. 1 0 9
Vgl. Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen vom 18.7.1973 in GBL I DDR 1973, S. 313; überdies ist zu bedenken, daß die kleinen Handwerks- und Gewerbebetriebe von Zulieferungen durch die volkseigenen Industriebetriebe abhängig sind, so daß der Staat auch damit ein Instrument in der Hand hält, um die Tätigkeit der Privatbetriebe zu steuern. 1 1 0 Vgl. dazu Programm der SED vom IX. Parteitag (1976) "Das private Handwerk wird planmäßig gefördert und in die Lösung der Versorgungsaufgaben einbezogen." Der Parteitag von 1971 hatte dagegen noch die Losung ausgegeben, alle nichtsozialistischen Produktionsverhältnisse zu überwinden. Allgemein zur Politik der DDR gegenüber dem privaten Handwerk Haendcke - Hoppe, Privatwirtschaftliche Betätigung in der DDR S. 150 ff.
Β. Beschränkung der Privaterbfolge durch die Eigentumsverfassung
3) Das (kapitalistische)
117
Privateigentum
Obwohl Art. 9 I Verf DDR festlegt, daß die Volkswirtschaft der DDR auf dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln beruht 777 , existiert in der DDR auch weiterhin vereinzelt Produktionsmitteleigentum in privater Hand, das nicht der Kategorie des Eigentums der kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden zugeordnet ist. Dem Zweck der Eigentumsverfassung läuft das zuwider. Anders als beim Eigentum der Handwerker und Gewerbetreibenden ist diese Eigentumsart nicht dem persönlichen Eigentum gleichgestellt. Die Verfassung der DDR duldet den Fortbestand des Privateigentums auch allein dadurch, daß sie nicht für alle Produktionsmittel Volkseigentum vorschreibt. Im produktiven Bereich der Volkswirtschaft hat das Privateigentum allerdings keine Bedeutung mehr. Insbesondere mit steuerrechtlichen Mitteln ist dafür gesorgt worden, das sich private Tätigkeit außerhalb der kleinen Handwerks- und Gewerbebetriebe nicht mehr lohnt 772 . Eine Ausnahme bilden allein die wenigen selbständigen Landwirte 775. Im Transportwesen gibt es eine Anzahl von privaten Taxiunternehmern, Spediteuren und Binnenschiffern. Deren Anteil am Nettoprodukt des Verkehrswesens beläuft sich aber nur auf 2,3% 114. Im Hinblick auf das Erbrecht ist nur das Eigentum an Mietshäusern eine nennenswerte Größe 775 . Es fällt unter die Kategorie des Privatei-
77 7
Mampel, DDR-Verfassung Art. 9 Rn 3.
7 7 2
Vgl. dazu Haendcke - Hoppe, Privatwirtschaftliche Betätigung in der DDR S. 150 f.
1 1 3
Ihr Anteil am landwirtschaftlichen Nettoprodukt betrug 1985 3,7%; vgl. Statistisches Jahrbuch DDR 1986, S. 99 (neuere Angaben fehlen). Die Zahl der Mitarbeiter in der privaten Landwirtschaft belief sich 1987 auf 5.840 Personen gegenüber 652.677 Mitarbeitern in den LPG's; Statistisches Jahrbuch DDR 1988, S. 72. 1 1 4 7 7 5
Haendcke - Hoppe, Privatwirtschaftliche Betätigung in der DDR S. 151.
Vgl. Westen/Schleider, /, S. 316.
Zivilrecht im Systemvergleich S. 305 und DDR-Handbuch Bd
118
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
gentums, weil es nicht den eigenen Wohnbedürfnisen des Inhabers dient und die Vermietung im Prinzip auf Gewinnerzielung angelegt ist. Die Mietpreisbindungen in der DDR lassen eine Gewinnerwirtschaftung durch Vermietung jedoch nicht zu 7 7 6 . Deshalb handelt es sich bei den Mietshäusern in privater Hand ausschließlich um Altbestände, die nicht verstaatlicht worden sind und deren zukünftiges Schicksal ungewiß ist. Wie viele private Mietshäuser derzeit noch vorhanden sind, läßt sich nicht feststellen.
IV. Zwischenbilanz
Am Ende der bisherigen Untersuchung des Erbrechts hinsichtlich seiner rechtlichen Ausgestaltung und tatsächlichen Bedeutung in der DDR steht somit ein zwiespältiges Ergebnis. Der Blick in die Gesetzesvorschriften hat den Eindruck erweckt, als ob sich die Erbordnungen der beiden deutschen Staaten im wesentlichen gleichen würden. Denn die Gemeinsamkeiten reichen von der verfassungsrechtlichen Verbürgung der Privaterbfolge über die einfachgesetzlichen Bestimmungen bis hinein in das Erbschaftssteuerrecht. Auffallend ist dabei insbesondere, daß nicht nur die Grundprinzipien des Erbrechts im BGB und ZGB übereinstimmen, sondern auch etliche Detailregelungen der einzelnen Rechtsinstitute einander entsprechen777. Wenn das Erbrecht der DDR darüber hinaus in Teilbereichen auch wesentliche Neuerungen aufweist, die vor allem die gesetzliche Erbfolge des Ehegatten, das Pflichtteilsrecht und die Höhe der Erbschaftssteuer betreffen, so stellt dies die getroffene Feststellung nicht einmal in
7 7 6 Vgl. die Wohnraumlenkungsverordnung vom 14.9.1967 nebst den Durchführungsbestimmungen vom 24.10.1967; Roggemann, Die Gesetzgebung der DDR Bd. 1, Kennziffer 2.1.2/1 und 2.1.2/1.1.; sowie das Statut des Amtes für Preise beim Ministerrat der DDR vom 19.7.1976 in GBL I DDR 1976, S. 217, das dem Amt in § 1 II die Aufgabe zuweist, die Preisbildung für die Mieten in Zusammenarbeit mit den zuständigen staatlichen Organen zu verwirklichen. 1 1 7
Vgl. dazu oben S. 93 ff.
Β. Beschränkung der Privaterbfolge durch die Eigentumsverfassung
119
Frage. Denn allein die Regelung der Erbschaftssteuer läßt sich ohne weiteres als Umsetzung sozialistischer Grundpositionen einstufen, während die übrigen Abweichungen zumeist von solcher Gestalt sind, daß sie auch in eine Neuregelung des Erbrechts der Bundesrepublik Deutschland Eingang finden könnten77*. Das gilt insbesondere für die Besserstellung des Ehegatten779, aber ebenso für die Gleichstellung der nichtehelichen Kinder 720 oder die Begrenzung der Erbordnungen 727. Das Ausmaß der Unterschiede zwischen den Erbordnungen offenbart sich erst, wenn man sich die Rahmenbedingungen vor Augen führt, die dem Erbrecht von der Eigentumsverfassung vorgegeben sind und seinen tatsächlichen Wirkungskreis festlegen. Dabei zeigte sich, daß die Privaterbfolge in der DDR für den gesamten Bereich des sozialistischen Eigentums keine Bedeutung hat, weil sie für den weitaus größten Teil der davon erfaßten Gegenstände schon aus Rechtsgründen nicht eingreifen kann, oder, soweit das bei einigen Gütern des genossenschaftlichen Eigentums doch der Fall ist, zu keiner Änderung der Nutzungsund Verfügungsbefugnisse führt, die bei der Genossenschaft verbleiben 722 . Das Erbrecht erfaßt somit nur einen kleinen Ausschnitt des gesamten Volksvermögens. In der Hauptsache sind dies die Konsumtionsmittel, die den Bürgern zur Befriedigung ihrer materiellen und kulturellen Bedürfnisse als persönliches Eigentum zustehen. Auf die Übertragung dieser Gegenstände ist das Erbrecht des ZGB deshalb nach seiner Konzeption zugeschnitten725. Daneben unterfällt seinen Vorschriften zwar auch das Eigentum der kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden. Beide Eigentumsformen sind in der DDR jedoch von untergeord-
77
* Nicht ohne Grund überprüft Freytag, Das neue Erbrecht der DDR, die Regelungen des ZGB mit der Frage, ob sie Anstöße für eine Reform des bundesdeutschen Erbrechts liefern. 7 7 9
Dafür Bosch, FamRZ 83,227,283 f.
1 2 0
Wohl befürwortend MüKo-Leipold, § 1934 a Rn 9.
7 2 7
Vgl. dazu Soergel-Stein,
7 2 2
Vgl. oben S. 110 ff.
1 2 3
Göhring/Posch,
Einl. zu § 1922 Rn 80.
Erbrecht S. 10 ff.
120
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
neter Bedeutung, weil sie wegen ihres geringen Umfangs im Wirtschaftssystem der DDR keine relevante Größe bilden72*. Die Begrenzung des Gegenstandes der Privaterbfolge in der DDR belegt damit bereits ihre im Vergleich zur Bundesrepublik andersartige Funktion. Hüben ist sie ein elementarer Bestandteil der Eigentumsverfassung, indem sie zur generationsübergreifenden Befestigung des Privateigentums beiträgt, das der individuellen Freiheit eine Stütze im ökonomischen Bereich geben soll. In diesem Sinne legt die Privaterbfolge einen unverzichtbaren Grundstein, auf dem die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland aufbaut. Drüben ist die Privaterbfolge dagegen darauf reduziert, die Übertragung der im persönlichen Eigentum der Bürger stehenden Konsumtionsmittel beim Todesfall zu regeln. Auf die Eigentumsverfassung der DDR hat sie keinen Einfluß, weil diese von solchen Eigentumsformen geprägt wird, die außerhalb des Regelungsbereiches der Privaterbfolge liegen. Der darin liegende Funktionsverlust der Privaterbfolge ist unverkennbar. Sie ist kein Bindeglied mehr im Gefüge der Gesellschaftsordnung, sondern nur noch Regulator für die individuelle Güterverteilung 725. Ob sich daraus die weitergehende Folgerung ableiten läßt, daß ihre Ausgestaltung auch an den individuellen Interessen der am Erbfall beteiligten Personen ausgerichtet ist, bedarf allerdings noch einer Überprüfung der Gründe, die in der DDR für die Zulassung und Ausgestaltung der Privaterbfolge verantwortlich sind.
1 2 4 7 2 5
Vgl. oben S. 115 f.
Diese geminderte Bedeutung der Privaterbfolge in der DDR wird selbstverständlich in dem Maße wieder zunehmen, wie im Zuge der zukünftigen Wirtschaftsreformen das Privateigentum an den Produktionsmitteln wieder zugelassen wird.
C. Begründungen fur die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
Durch die gegenständliche Beschränkung der Privaterbfolge auf die Formen des Individualeigentums hat das Erbrecht in der DDR seine elementare Funktion als Stütze der Eigentumsordnung verloren. Das heißt aber nicht, daß es als unwesentlicher Bestandteil der Rechtsordnung eingestuft werden könnte. Denn trotz des dargelegten Funktionsverlustes verbleibt diesem Rechtsgebiet eine beachtenswerte Bedeutung. Einerseits betrifft das Erbrecht in der DDR genauso wie in der Bundesrepublik jeden einzelnen Bürger. Diesem kommt es zunächst darauf an, seine eigenen Vermögensverhältnisse im Falle des Ablebens geregelt zu wissen. Ob durch diese Regelung auch verfassungsrechtliche oder volkswirtschaftliche Belange mitbetroffen sind, spielt aus diesem Blickwinkel keine ausschlaggebende Rolle. Die Zulassung der Privaterbfolge hat somit Einfluß auf das Verhalten und das Bewußtsein der Menschen in der DDR, wenn auch die Nachlaßwerte insgesamt wesentlich geringer sind. Darüber hinaus ist die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum durchaus ein wichtiger Faktor. Das Gesamtmaß dieser Eigentumskategorie weist nämlich nicht nur eine beachtenswerte Größe auf, sondern ist vor allem auch in stetigem Wachstum begriffen. Die Versorgung der DDR - Bevölkerung hat sich insbesondere in bezug auf solche Güter verbessert, die typischerweise häufig mit in die Erbmasse eingehen. Das sind vornehmlich langlebige Haushalts- und Gebrauchsgegenstände sowie Sparguthaben. Jeder zweite Haushalt hat heute einen PKW zur Verfügung, während der Anteil im Jahre 1970 bei 15,6% lag. Die Versorgung mit Waschmaschinen und Kühlschränken stieg in diesem Zeitraum von 50% auf fast 100%. Ein Farbfernsehgerät war 1987 in
122
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
46% der Haushalte anzutreffen; 1970 lag die Quote bei 0,2%7. Besonders starken Zuwachs verzeichneten die Sparguthaben in der DDR. Sie beliefen sich 1970 auf eine Gesamtsumme von 52,15 Milliarden Mark, erreichten 1987 aber einen Stand von 141,9 Milliarden Mark 2 bei einer Inflationsrate, die praktisch nicht ins Gewicht fällt. Diese Zahlen belegen die Zunahme des vererblichen Individualvermögens und zeigen, daß die Nachlaßverteilung durch die Regeln des Erbrechts spürbaren Einfluß auf die Vermögenssituation der DDR Bürger haben kannJ. Von daher drängt sich die Frage auf, welche grundlegenden Zielsetzungen hinter der Zulassung und Ausgestaltung der Privaterbfolge stehen. Sie allein als Folgeerscheinung grundlegender Menschheitsbedürfhisse einzustufen, die sich gegen die ideologischen Vorgaben der marxistischen Ideologie durchgesetzt haben* ist sicher nicht hinreichend, zumal auch der Überblick über die historische Entwicklung des Erbrechts nachgewiesen hat, daß die Erbfolge zu allen Zeiten von der jeweiligen Gesellschaftsordnung abhängig war 5. Andererseits erscheint es wegen der bisherigen Gegensätzlichkeit der Gesellschaftssysteme in beiden deutschen Staaten aber auch fernliegend, daß sich in der DDR die Privaterbfolge auf die gleichen Prinzipien gründet, die in der Bundesrepublik Deutschland Geltung beanspruchen. Denn das Privateigentum war für Marx und Engels im 19. Jahrhundert gerade der entscheidende Ansatzpunkt ihrer Kritik am Erbrecht. Damit stellt sich also zunächst die grundlegende Frage, ob die Existenz der Privaterbfolge in der DDR überhaupt mit den marxistisch - leninistischen Grundlagen ihrer Gesellschaftsordnung zu vereinbaren ist.
1
Vgl. Statistisches Jahrbuch DDR 1988, S. 277.
2
Vgl. Statistisches Jahrbuch DDR 1988, S. 277.
3
Dies gilt trotz des geringen Umfangs der Nachlässe, weil das Einkommensniveau entsprechend niedriger ist. 4
In diesem Sinne Kringe, MDR 1976,189,193.
5
Vgl. oben die Einführung, S. 14 ff.
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
123
L Matz, Engels und das Erbrecht
Mit Fragen des Rechts haben sich Marx und Engels nur wenig befaßt. Nach ihrer materialistischen Philosophie ist das Recht eine Erscheinung, die sich als Teil des ideologischen Überbaus der Gesellschaft von den Produktionsverhältnissen ableitet0, welche ihre ökonomische Basis bilden7. Für das Lehrgebäude des Marxismus hatte das Recht deshalb nur sekundäre Bedeutung5. Konkrete Vorstellungen für ein ihren Lehren entsprechendes Rechtssystem haben die Klassiker des Marxismus folglich nicht formuliert, so daß insbesondere auch kein Konzept für ein "marxistisches" Erbrecht vorliegt. Dennoch enthält das Werk beider Autoren etliche Stellungnahmen zum Erbrecht, weil die Diskussion um die Privaterbfolge im 19. Jahrhundert vor allem von Sozialisten und Kommunisten geführt wurde, so daß auch Marx und Engels dazu Position beziehen mußten9. Das bekannteste Dokument ist das "Manifest der kommunistischen Partei". Ziel der Schrift war es, die "Anschauungsweise", "Zwecke" und "Tendenzen" der Kommunisten offen darzulegen70. Zur Verwirklichung seiner zentralen Forderung nach der "Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse" verlangte das Manifest in seinen Maßregeln für die fortgeschrittenen Länder Europas nach der "Abschaffung des Erbrechts" 77.
6 Vgl. zu dieser Einschätzung Böckenforde, Staat, S. 20 ff.
Die Rechtsauffassung im kommunistischen
7 Marx, Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13,7,8: "Der Inhalt dieses Rechts- oder Willensverhältnisses ist durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben." 5
Schon Engels y Juristensozialismus, MEW 21,491,501, bemerkte dazu: "In den theoretischen Untersuchungen von Marx kommt das juristische Recht, das immer nur die ökonomischen Bedingungen einer bestimmten Gesellschaft widerspiegelt, nur in ganz sekundärer Weise in Betracht." 9 Zur Diskussion um das Erbrecht im 19. Jahrhundert vgl. oben, 2. Abschnitt, Punkt A. II. (S. 38 ff.). 1 0
Marx, Manifest, MEW 4,459,461.
7 7
Marx, Manifest S. 481.
124
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
Diese Formulierung deutet darauf hin, daß die Beseitigung der Privaterbfolge schlechthin zur marxistischen Programmatik gehört 72. Bestärkt wird diese Interpretation dadurch, daß Marx auch in anderen Zusammenhängen vom Wegfall des Erbrechts im allgemeinen spricht. So schreibt er in seinem Bericht des Generalrates über das Erbrecht: "Angenommen, die Produktionsmittel wären umgestaltet von Privat- in Gesamteigentum, so würde das Recht der Erbschaft ... von selbst verschwinden"75. In diese Kritik des Erbrechts bezieht Marx die Testierfreiheit ein. In zwei Briefen an Lassalle vermerkt er, daß die "absolute Testierfreiheit (wonach kein Engländer oder Yankee gezwungen ist, einen farthing seiner Familie zu hinterlassen)... ausgebildet worden ist, wie sich das bürgerliche Vermögen in England entwickelte."74. Die Erbfolge am Privateigentum und die Testierfreiheit machen das Erbrecht nach seiner Auffassung zu dem Mittel, das "dem Erben die Macht, welche der Verstorbene während seiner Lebzeit ausübte, hinterläßt, nämlich die Macht, vermittelst seines Eigentums die Früchte fremder Arbeit auf sich zu übertragen."75 Diese Formulierung verdeutlicht die Zielsetzung, die hinter der Forderung nach Abschaffung des Erbrechts steht. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln soll beseitigt werden, weil es für Marx die Ursache der Klassenherrschaft ist 76 . Die Beseitigung des Erbrechts ist dafür nur eine Maßregel neben anderen77. Weil aber selbst das Kommunistische Manifest "nicht die Abschaffung des Eigentums überhaupt" propagierte 75, stellt sich die Frage, ob die Forderung nach "Abschaffung
In diesem Sinne Freytag, Das neue Erbrecht der DDR S. 12, sowie Kringe, MDR 76,189,193 und Lieser - Triebnigg, Das neue ZGB der DDR, DA 1975,1052,1053. Diese Einschätzung lag offensichtlich auch der Abschaffung des Erbrechts in der Frühphase der Sowjetunion zugrunde; vgl. oben die Einführung, S. 26 ff. 1 3
Marx, Bericht, MEW 16,367.
1 4
Marx, Brief an Lassalle vom 11.6.1861, MEW 30,607.
1 5
Marx, Bericht, MEW 16,367.
1 6
Vgl. nur Marx, Manifest, MEW 4,459,475.
1 7
Marx, Manifest S. 481 f.
1 8
Marx, Manifest S. 475.
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
125
des Erbrechts" ebenfalls nur auf das Privateigentum an den Produktionsmitteln bezogen war. Darauf deuten andere Äußerungen von Marx und Engels hin. Im Manifest selbst charakterisierte Marx die Abschaffung des Erbrechts als Eingriff "in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse", um "der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen79. Noch deutlicher formulierte Engels: "Die bevorstehende gesellschaftliche Umwälzung wird aber durch Umwandlung ... der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum die ganze Vererbungssorge auf ein Minimum reduzieren."20. Offensichtlich hatte Engels also nicht die Absicht, das Erbrecht vollends zu beseitigen. In seinen Vorarbeiten zum Kommunistischen Manifest forderte er auch lediglich eine starke Erbschaftssteuer sowie die Abschaffung der Erbfolge in den Seitenlinien27. Marx hat diese Forderungen zwar nicht ins Manifest übernommen, sondern durch die bekannte Formulierung "Abschaffung des Erbrechts" ersetzt. Jedoch greifen die "Forderungen der kommunistischen Partei in Deutschland", die von Marx und Engels gemeinsam nach Erarbeitung des Kommunistischen Manifests aufgestellt wurden 22, den Ansatz von Engels wieder auf. Dort ist nur noch von der "Beschränkung des Erbrechts" die Rede25. Aus den Stellungnahmen zum Erbrecht im Werk von Marx und Engels läßt sich deshalb nicht der Schluß ziehen, daß sie das Erbrecht gänzlich eliminieren wollten. Ihre Äußerungen müssen wohl eher dahin interpretiert werden, daß es ihnen allein um die Aufhebung des Erbrechts am Produktionsmitteleigentum ging2*. Im übrigen waren Marx
7 9
Marx,, Manifest, MEW 4,459,481.
2 0
Engels, Ursprung der Familie, MEW 21,25,77.
2 7
Vgl. Engels, Grundsätze, MEW 4,361,373; zur Abfolge der Erarbeitung der "Grundsätze" von Engels und des "Manifest" von Marx vgl. Fetscher, Einleitung zur Studienausgabe Maix/Engels Bd. III S. 9 f. 2 2 Vgl. die Anmerkungen zum "Manifest" und zu den "Forderungen" in MEW 4,459,648 und in MEW 5,3,505. 2 3
Marx/Engels,
2 4
So auch Leipold, Erbrecht S. 19.
Forderungen der kommunistischen Partei in Deutschland, MEW 5,3,4.
126
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
und Engels anders als die meisten Sozialisten der damaligen Zeit ohnehin der Auffassung, daß es in erster Linie auf die Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln ankomme und die Abschaffung des Erbrechts allenfalls eine Folgeerscheinung dieser Umwälzung sein werde 25. Diese Einschätzung der Klassiker des Marxismus war zweifellos weitsichtig, wie die Eigentumsverfassung der DDR mit ihren Auswirkungen auf das Erbrecht belegt. Denn es sind die Vorgaben der Eigentumsordnung, die das Produktionsmitteleigentum aus den Regeln der Privaterbfolge ausklammern und damit der Forderung von Marx und Engels Rechnung tragen. Die Beibehaltung des Erbrechts am persönlichen Eigentum in der DDR steht dagegen nicht in einem unvereinbaren Widerspruch zu den Grundsätzen des Marxismus. Welche Gründe für diese Entscheidung verantwortlich sind, ist damit allerdings noch offen.
IL Die Begründung des Erbrechts in der DDR
Mit Ausnahme von wenigen Veränderungen 26 war das Erbrecht des BGB bis zum Inkrafttreten des ZGB geltendes Recht in der DDR. Aber bereits im Jahre 1958 hatte der V. Parteitag der SED der Rechtswissenschaft den Auftrag erteilt, ein neues, sozialistisches Erbrecht zu schaffen, weil die Vorschriften des BGB den "neuen persönlichen Beziehungen und Vermögensverhältnisse(n) der Bürger eines sozialistischen Staates ..." nicht mehr entsprächen27, Die zunächst auf das Jahr
2 5 Vgl. zur Auseinandersetzung Kittke, Erbrecht, ROW 76,29,30. Marx hielt die Forderung nach Abschaffung des Erbrechts als Ausgangspunkt der "sozialen Bewegung" für "St. Simonistischen Blödsinn"; vgl. Marx, Brief an Bolte, MEW 33,327,329. 2 6 Die wenigen Veränderungen brachten allerdings einschneidende Neuerungen: Durch § 10 I EGFGB wurde der Ehegatte als Erbe erster Ordnung eingestuft, und § 9 I EGFGB sorgte für eine vollkommene Gleichstellung der nichtehelichen Kinder. Vgl. GBL I DDR 1966, S. 19. 2 7
Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED; zitiert nach Jansen, Leitfaden des
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
127
1961 terminierte Fertigstellung25 zog sich allerdings bis 1975 hin, so daß das ZGB erst am 1.1.1976 in Kraft treten konnte29.
1) Gestaltungsvorschläge
vor der Erarbeitung des ZGB
Trotz der langen Verfahrensdauer für die Erstellung des gesamten ZGB ließ die Auseinandersetzung mit dem Erbrecht nach dem V. Parteitag nicht lange auf sich warten. Die öffentliche Diskussion erreichte bereits im Jahre 1959 einen Höhepunkt50. In dieser Phase wurden die verschiedensten, manchmal gegensätzlichen Vorschläge für die Neugestaltung des Erbrechts gemacht. Der größte Teil der Beiträge befaßte sich zwar nur mit Detailfragen, so daß grundsätzliche Stellungnahmen zur Begründung der Privaterbfolge die Ausnahme blieben. Aufgrund der vorgebrachten Argumente und des Inhalts der Veränderungsvorschläge läßt sich jedoch ablesen, an welchen Leitideen das zukünftige Erbrecht tendenziell ausgerichtet werden sollte.
a) Gesetzliche Erbfolge und Testierfreiheit
Der größte Teil der Diskussionsbeiträge befaßte sich mit der gesetzlichen Erbfolge. In erster Linie ging es hier um eine Besserstellung des Ehegatten. Man plädierte für ein Vorerbrecht 37 oder ein Nießbrauchs-
Erbrechts S. 5. 2 8
Westen, Das Zivilgesetzbuch der DDR, ROW 76,1.
2 9
Verantwortlich für diese Verzögerungen waren konzeptionelle Schwierigkeiten insbesondere hinsichtlich der Frage, an welchen Grundprinzipien das Zivilrecht in Abgrenzung zu anderen Rechtsgebieten auszurichten sei. Weil die Unterscheidung von Privatrecht und öffentlichem Recht, wie sie bei uns bekannt ist, nach dem Staatsverständnis der DDR nicht anerkannt werden kann, bereitete die Abgrenzung des Zivilrechts erhebliche Probleme. Vgl. dazu nur Grandke, Gedanken zur gegenwärtigen Zivilrechtsdiskussion, StuR 1963,298 ff. mwN. Die Neue Justiz veröffentlichte im Jahre 1959 Beiträge zum Erbrecht von 11 verschiedenen Autoren, was für die Verhältnisse in der DDR geradezu außergewöhnlich ist. 3 1
Scharenberg, NJ 1959,456.
128
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
recht 52 des Ehegatten am gesamten Nachlaß oder für eine Einbeziehung in die erste Erbordnung 55; sogar ein Alleinerbrecht wurde für den Fall erwogen, daß keine minderjährigen Kinder vorhanden sind54. Von anderer Seite gab es Anregungen, die Rechte der Abkömmlinge des Erblassers zu stärken. Am nachhaltigsten wurde eine Angleichung der Rechte von ehelichen und nichtehelichen Kindern gefordert, ohne daß allerdings Einigkeit über das Ausmaß der Gleichstellung bestanden hätte55. Für die minderjährigen Abkömmlinge war ein Noterbrecht im Gespräch, das den Geldpflichtteil ersetzen sollte56, während andererseits das Pflichtteilsrecht der volljährigen Abkömmlinge auch Angriffen ausgesetzt war 57 . Im allgemeinen gingen die Vorschläge in dieser Zeit aber dahin, den pflichtteilsberechtigten Familienangehörigen eine günstigere Stellung zu verschaffen 55. Insgesamt betrachtet zog sich die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung der familiären Interessen jedenfalls wie ein roter Faden durch die Diskussionsbeiträge. Vereinzelt wurde dies auch mit grundsätzlichen Erwägungen begründet. Das Schwergewicht des sozialistischen Erbrechts müsse bei der gesetzlichen Erbfolge liegen59, weil den Familieninteressen gegenüber dem Interesse des Erblassers an
5 2
Jansen, Zur Neuregelung des Erbrechts S. 256.
5 5
Jansen, Zur Konzeption des sozialistischen Erbrechts, NJ 1959,345,348; derselbe Leitfaden des Erbrechts S. 72 sowie Notaraktiv Potsdam, NJ 1960,93. 3 4
in
Wehner, NJ 1959,702.
5 5
Vgl. einerseits Koch, NJ 1950,345 und andererseits Hofmann und Heuer, NJ 1954,536 sowie Weihnacht, NJ 59,703. 5 6 5 7
Bergner, Erbrechtliche Probleme, NJ 1959,270,272.
Vgl. Ritter/Pompoes, dam, NJ 1960,93,94.
Das zukünftige Erbrecht, NJ 1959,521,522 und Notaraktiv
Pots-
5 5 So Bergner, Erbrechtliche Probleme, NJ 1959,270,272; allein Jansen favorisierte eine Ersetzung des Pflichtteilsanspruchs durch einen "Auszahlungsanspruch" im Wert der Hälfte des gesetzlichen Erbteils. Im Endeffekt wäre das aber der bisherigen Regelung gleichgekommen; vgl. Jansen, Zur Konzeption des sozialistischen Erbrechts, NJ 1959,345,349. 3 9
Jansen, Zur Konzeption des sozialistischen Erbrechts, NJ 1959,345,349 und derselbe, Zur Neuregelung des Erbrechts S. 262.
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
129
seiner Verfügungsfreiheit der Vorrang gebühre40. Mehr als bisher solle das Erbrecht deshalb dem Schutz und der Festigung der Familie diemm41. Von einem Vorrang der Testierfreiheit könne man nicht mehr ausgehen; er sei ein Annex der privatkapitalistischen Willensfreiheit des Bourgeois und habe in der sozialistischen Gesellschaft keinen Platz mehr*2. Für diese Sichtweise konnte sich die DDR - Literatur auf Marx selbst stützen, der die Testierfreiheit als Ausfluß der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsverhältnisse bezeichnet hatte43. Versuche, die Verfügungsfreiheit im Todesfall zu beschränken, lagen von daher nicht fern. Vereinzelt tauchten auch Vorschläge auf, die darauf hinausliefen. Die erwähnte Anregung zur Einführung eines Noterbrechts 44 zählt ebenso dazu wie Jansens Bestreben, das privatschriftliche Testament zu beseitigen45. Er führte zur Begründung zwar keine prinzipiellen Bedenken gegen die Testierfreiheit an, sondern nahm die häufig auftretenden Auslegungsschwierigkeiten zum Anlaß und meinte, daß eine Beurkundung letztwilliger Verfügungen durch das Staatliche Notariat dem Erblasser nur hilfreich sein könne46. Ob damit die wirklichen Gründe angesprochen wurden, sei hier dahingestellt. Andere Autoren erkannten jedenfalls die Gefahr einer Bevormundung der Bürger durch den Staat, so daß der Vorschlag auf nachhaltige Ablehnung stieß47.
4 0
Bergner, Erbrechtliche Probleme, NJ 1959,270,272.
4 1
Ritter/Pompoes,
Das zukünftige Erbrecht, NJ 1959,521,522.
4 2
Vgl. Jansen, Leitfaden des Erbrechts S. 30 sowie Halgasch, Grundfragen der Neugestaltung des Erbrechts, StuR 1963,311,313. 4 3
Marx, Brief an Lassalle vom 22.7.1861, MEW 30,613,614; vgl. dazu auch oben S. 124 der Arbeit. 4 4
Vgl. oben Fn 36.
4 5
Jansen, Zur Konzeption des sozialistischen Erbrechts, NJ 1959,345,349.
4 6
Jansen, Zur Konzeption des sozialistischen Erbrechts, NJ 1959,345,349.
4 7
Vgl. Grunz, NJ 1959,457; Röhricht, NJ 1959,842,843; Scharenberg, NJ 1959,456; aufgrund dieses Widerstandes war Jansen schon im Leitfaden des Erbrechts vorsichtiger (vgl. S. 107) und rückte später ganz von seinem ursprünglichen Vorschlag ab; vgl. Zur Neuregelung des Erbrechts S. 265 f.
130
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
Abgesehen von diesen vereinzelten Ansätzen fand sich jedoch niemand, der einer Beschränkung der Testierfreiheit das Wort redete. Im Prinzip war ihre Beibehaltung unbestritten und wurde teilweise auch ausdrücklich gefordert 45. Man rechtfertigte dies mit der Erwägung, daß dem Erbrecht neben dem Schutz der Familie ebenso der Schutz des persönlichen Eigentums obliege, welches die Bürger durch eigene Arbeit erwerben 49. Darin verdeutliche sich gerade der "humanistische Charakter" des sozialistischen Erbrechts im Gegensatz zum bürgerlichen Erbrecht, das nur die Vererbung des Produktionsmitteleigentums im Auge habe, um die Klassenunterschiede der kapitalistischen Gesellschaft aufrecht zu erhalten50. Die kritische Haltung gegenüber dem Vorrang der Testierfreiheit im Erbrecht ging also nicht soweit, auch den faktischen Vorrang letztwilliger Verfügungen vor der gesetzlichen Erbfolge zu beseitigen. Insoweit handelte es sich vielmehr um eine grundsätzliche Positionsbestimmung zur Begründung der Privaterbfolge im Sozialismus, mit der eine Abgrenzung zum Erbrecht in der kapitalistischen Gesellschaft vorgenommen werden sollte.
b) Rechtfertigung der Privaterbfolge im Sarialismus Neben den Vorschlägen zur Gestaltung der gesetzlichen und gewillkürten Erbfolge sowie den Stellungnahmen zu deren Gewichtung im zukünftigen Erbrecht spielte die grundsätzliche Frage nach der Berechtigung der Privaterbfolge im Sozialismus nur eine untergeordnete Rolle. Viele der zumeist kurzen Diskussionsbeiträge berühren diese Frage überhaupt nicht52. Soweit sich dazu Ausführungen finden, begnügen sie sich mit der Formulierung allgemeiner Grundsätze. So wird etwa
4 8 Bergner, Erbrechtliche Probleme, NJ 1959,270,272; Ritter/Pompoes, Erbrecht, NJ 1959,521,522.
Das zukünftige
4 9
Vgl. nur Janke, NJ 1960,26; Hofmann bezeichnete den Schutz des persönlichen Eigentums sogar als "höchste Aufgabe" des Erbrechts; vgl. NJ 1954,535,536. 5 0 5 1
Vgl. Bergner, Erbrechtliche Probleme, NJ 1959,270.
So etwa Weihnacht, NJ 1959,703; Scharenberg, NJ 1959,456 sowie Sander und Grunz, NJ 1959,457.
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
131
betont, daß dem sozialistischen Erbrecht eine andere Aufgabe als dem bürgerlichen Erbrecht zukomme und es diesem konträr gegenüberstehe52. Vom Beitrag des Erbrechts "zur Erziehung der Menschen zu einer sozialistischen Moral" 53 oder von der "Einheit der Interessen des Staates und der Werktätigen" in bezug auf das Erbrecht ist ebenfalls die Rede54. Schließlich soll dieses Rechtsgebiet auch der "Schaffung neuer persönlicher Beziehungen unter den Menschen" dienen55. Diese Äußerungen deuten einen Wandel im Verständnis des Erbrechts an. Völlig unklar bleibt jedoch, mit welchen Mitteln das zukünftige Erbrecht seinen neuen Aufgaben gerecht werden soll. Die Beschränkung der Privaterbfolge auf die Formen des Individualeigentums, die in dieser Zeit immer wieder als elementarer Unterschied zwischen dem sozialistischen und kapitalistischen Erbrecht herausgestellt wird 56 , reicht dafür sicher nicht aus. Sie mindert zwar den Umfang des vererblichen Vermögens und damit die Bedeutung des Erbrechts 57. Das rechtfertigt aber weder die Behauptung einer Gegensätzlichkeit der Erbordnungen noch führt es automatisch zu einem Bewußtseinswandel der Bürger in Richtung auf die Anerkennung sozialistischer Grundwerte. Die Zuweisung der dargelegten Aufgaben an das sozialistische Erbrecht ist deshalb nicht mehr als ein wenig überzeugender Versuch, die Privaterbfolge im Sozialismus anders zu begründen als in den bürgerlich kapitalistischen Gesellschaften. In zwei Beiträgen aus der damaligen Zeit findet sich allerdings im Ansatz schon der Gedanke, die Begründung des Erbrechts im Sozialismus mit dem sozialistischen Leistungsprinzip zu verbinden. Bei Bergner beschränkt sich dies darauf, daß er dem Leser die Bedeutung des Leistungsprinzips für das persönliche Eigentum vor Augen führt, das
5 2
Jansen, Zur Konzeption des sozialistischen Erbrechts, NJ 1959,345,346.
5 3
Janke, Vorschläge, NJ 1960,26.
5 4
Curs, NJ 1959,702.
5 5
Röhricht, Kritische Anmerkungen, NJ 1959,842,843.
5 6
Vgl. Bergner, Erbrechtliche Probleme, NJ 1959,270 und Jansen, Zur Konzeption des sozialistischen Erbrechts, NJ 1959,345. 5 7
Vgl. dazu schon oben S. 118 ff.
132
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
nach der Konzeption des Erbrechts dessen Gegenstand bilden soll55. Jansen stellt dagegen eine unmittelbare Verbindung zwischen Erbrecht und Leistungsprinzip her, weil nmit den Mitteln des Erbrechts ... die materielle Interessiertheit und Arbeitsfreude" gefördert werde 59. Beide Autoren sind mit diesen Andeutungen aber noch weit davon entfernt, die Existenz des Erbrechts aus dem sozialistischen Leistungsprinzip zu rechtfertigen, wie es in neuerer Zeit der Fall ist 60. Insgesamt gesehen enthalten die Gestaltungsvorschläge zum Erbrecht aus der Zeit vor Erarbeitung des ZGB also keine überzeugende Begründung für die Beibehaltung der Privaterbfolge im Sozialismus, die über ihre traditionelle Verankerung in den Institutionen von Familie und Eigentum hinausgeht. Im Gegenteil: Die Diskussionsbeiträge kreisen in der Hauptsache um die bereits aus dem 19. Jahrhundert bekannte Frage, welcher der beiden Berufungsgründe theoretisch wie praktisch für das Erbrecht im Vordergrund stehen soll. Insoweit findet sich zwar eine Abgrenzung zum bürgerlichen Erbrecht in der Zielsetzung, der Familienerbfolge den Vorrang einzuräumen62. Das ist jedoch nicht mehr als eine Schwerpunktverlagerung, die bereits weit vor der Gründung der DDR gefordert wurde 62. Aus diesem Grund stieß der Inhalt der Gestaltungsvorschläge auch sehr bald auf nachhaltige Kritik in der DDR 6 5 , so daß die öffentliche Diskussion um die Neugestaltung des Erbrechts schon im Jahre 1960 für beendet erklärt wurde 64.
5 8
Bergner, Erbrechtliche Probleme, NJ 1959,270.
5 9
Jansen, Zur Konzeption des sozialistischen Erbrechts, NJ 1959,345,347.
6 0
Vgl. dazu unten S. 140 ff.; die Zurückhaltung gegenüber einer Begründung des Erbrechts aus dem Leistungsprinzip ist allerdings dadurch bedingt, daß seiner Bedeutung für das Zivilrecht in der Zeit vor 1960 nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Es war die Auffassung anzutreffen, daß die Geltung des Leistungsprinzips auf das Arbeitsrecht beschränkt sei. Vgl. Posch, Für ein neues Zivilrecht, StuR 1958,1259,1266 und Enderlein, Wir brauchen ein Zivilgesetzbuch neuer Art, StuR 1959,598,603,605. Erst nach und nach hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß das sozialistische Leistungsprinzip für das Zivilrecht von zentraler Bedeutung ist: vgl. nur Göhring/Posch u.a., Lehrbuch Zivilrecht Bd. I S. 38 sowie unten S. 133 ff. und S. 143 ff. 6 1
Vgl. oben S. 127 ff.
6 2
Vgl. dazu oben, 2. Abschnitt, S. 48 f.
6 3
Vgl. Röhricht, Kritische Anmerkungen, NJ 1959,842 f.
6 4
Nachdem die Diskussion um das Erbrecht in der Neuen Justiz ab 1959 über ein Jahr
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
133
2) Grundlagen des Erbrechts im ZGB a) Gesetzesmaterialien zum ZGB Verläßliche Auskunft über die Grundlagen der Rechtsnormen geben in der Regel die Gesetzesmaterialien. Die Motive und Protokolle zum Erbrecht des BGB sind dafür ein Beispiel. Wenn sie auch nicht mit einer konkreten Stellungnahme zugunsten eines bestimmten Grundprinzips der Privaterbfolge aufwarten, so zeigen sie doch in aller Deutlichkeit die Kriterien auf, die für die Ausgestaltung des Erbrechts bedeutsam sind.65 Demgegenüber sind die veröffentlichten Gesetzesmaterialien zum Erbrecht des ZGB nahezu ohne Aussagewert. Das liegt zum einen am Umfang der Veröffentlichung. Sie beläuft sich auf etwas mehr als 60 Seiten für das gesamte ZGB, so daß der Informationsgehalt zum Erbrecht nur mäßig sein kann. Darüber hinaus enthält die Veröffentlichung zum überwiegenden Teil politische Einschätzungen zum neuen Zivilrecht, wobei einzelne Rechtsfragen allenfalls am Rande zur Sprache kommen66. Insbesondere fehlen in den Materialien Mitteilungen über die Vorarbeiten zum ersten Entwurf des ZGB und über die konkreten Ergebnisse seiner öffentlichen Diskussion, die sich an die Verabschiedung durch die Volkskammer in erster Lesung anschloß67. Es wird lediglich vermerkt, daß aus der Diskussion mehr als 4.000 Hinweise hervorgingen, die zu 360 Änderungen im Gesetzestext führten 65. Selbst der mit der Auswertung der Vorschläge befaßte Verfassungs- und
sehr intensiv geführt worden war, teilte die Redaktion der Zeitschrift Anfang 1960 mit, daß sie nur noch Beiträge mit prinzipiell neuen Gesichtspunkten veröffentlichen werde (vgl. NJ 1960,94). Tatsächlich erschien aber kein einziger Beitrag mehr. Bis auf einen grundlegenden Aufsatz von Halgasch in der Zeitschrift StuR 1963, 311 ff. und dem Beitrag von Jansen zum Erbrecht in "Probleme des sozialistischen Zivilrechts" aus dem Jahre 1962 schwieg die Literatur zu erbrechtlichen Fragen bis 1974. 6 5
Vgl. dazu oben S. 41 ff.
6 6
Auf insgesamt 26 Seiten nehmen Vertreter der verschiedenen politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen zum ZGB-Entwurf Stellung; vgl. Materialien. 6 7
Vgl. Beschluß der Volkskammer vom 27.9.1974; Materialien
S. 57.
^ Bericht des Verfassungs- und Rechtsausschusses; Materialien
S. 60.
134
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
Rechtssausschuß der Volkskammer greift in seinem Bericht aber nur die von ihm als wesentlich erachteten Punkte auf 59 , so daß der Gang des Gesetzgebungsverfahrens undurchsichtig bleibt70. Zum Erbrechtsteil des ZGB hüllt sich der Ausschußbericht weitgehend in Schweigen. Es wird mitgeteilt, daß die Regelung des Pflichtteilsrechts "unterschiedliche Aufnahme" gefunden habe. Vor allem sei gefordert worden, den Pflichtteilsanspruch der Kinder nicht von ihrer Unterhaltsberechtigung gegenüber dem Erblasser abhängig zu machen72. Die Zurückweisung dieses Vorschlags erfolgte mit der Begründung, daß wirtschaftlich selbständige Abkömmlinge gegen den Willen des Erblassers keinen Anspruch auf dessen Vermögen haben sollen72. Darüber hinaus erwähnt der Bericht lapidar, daß etliche weitere Vorschläge zum Erbrecht gemacht wurden, die aus "zwingenden ökonomischen und juristischen Gründen" keine Berücksichtigung hätten finden können75. Diese Formulierung läßt vermuten, daß die Diskussion um das Erbrecht kontrovers verlief und einige Neuregelungen auf Widerspruch stießen74. Die Ermittlung der Grundlagen des Erbrechts in der DDR wird dadurch aber nicht erleichtert. Bemerkenswert dürfte nur die Feststellung sein, daß der Erblasserwille den Interessen der ökonomisch unabhängigen Kinder vorgehen soll. Das steht in Widerspruch zu den Äußerungen in der älteren Literatur, wonach die Verfügungsfreiheit
Bericht des Verfassungs- und Rechtsausschusses; Materialien
S. 60.
Die wichtigsten Änderungen zum Erbrecht im Gefolge der öffentlichen Diskussion lassen sich nur aus der neueren DDR-Literatur ermitteln. Danach wurde die Sondererbfolge des Ehegatten an den Haushaltsgegenständen eingeführt sowie die ursprünglich vorhandene Regelung abgeschafft, wonach unterhaltsbedürftige Eltern des Erblassers als Erben 2. Ordnung neben dem Ehegatten als Erbe 1. Ordnung dann zum Zuge kommen sollten, wenn der Erblasser keine Abkömmlinge hatte. Vgl. Eberhard, NJ 1981,269 und Kreissl, Der Schöffe 1975,51,52. 72
Bericht des Verfassungs- und Rechtsausschusses; Materialien
S. 65.
7 2
Bericht des Verfassungs- und Rechtsausschusses; Materialien
S. 65.
7 5
Materialien,
7 4
S. 66.
Ebert (Fraktionssprecher der SED) bemerkt, daß in der Diskussion "das Erbrecht eine große Rolle gespielt" hat; Materialien S. 24.
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
135
den Familieninteressen untergeordnet werden sollte75. Eine Akzentverschiebung für die Begründung des Erbrechts deutet sich darin an. Die Begründung des damaligen Justizministers zum Entwurf des ZGB bestätigt diese Akzentverschiebung. Darin wurden die Regelungen des Erbrechts als Bestandteil der Garantien für den Schutz des persönlichen Eigentums eingestuft 76. Insgesamt sei es ihre Aufgabe, "eine mit dem Willen des Erblassers, seinen familiären Bindungen und den gesellschaftlichen Interessen übereinstimmende Verteilung des Nachlasses sicherzustellen77. Von einem Vorrang der Familieninteressen ist also keine Rede mehr. Es wird aber genausowenig eine Entscheidung zugunsten von Eigentumsschutz oder Verfügungsfreiheit getroffen, so daß die Aussage des Justizministers der DDR den Stellungnahmen der Kommissionen im Gesetzgebungsverfahren des BGB ähnelt, die ebenfalls die wirklichen Grundlagen des Erbrechts nicht offen aussprachen75. Im übrigen sind die Gesetzesmaterialien im Hinblick auf die Begründung der Privaterbfolge noch insofern interessant, als sie dem Zivilrecht insgesamt die Aufgabe zuweisen, an der Erfüllung der "Hauptaufgabe" mitzuwirken79. Sie besteht in der planmäßigen "Erhöhung des materiel-
7 5
Vgl. oben S. 127 ff.
7 6
Heusinger, Begründung des Entwurfs, Materialien
S. 10.
7 7
Heusinger, Begründung des Entwurfs, Materialien
S. 10.
7 8
Vgl. oben S. 49 f.
7 9
Vgl. Heusinger, Begründung des Entwurfs; Materialien S. 8; Ebert, Materialien S. 26; Dallmann, Materialien S. 38; Wötzel, Materialien S. 46. Das folgt aus dem sozialistischen Verständnis vom Zivilrecht, wonach dieses Rechtsgebiet nicht allein die individuelle Rechtsstellung der Bürger regelt, wie es bei uns auf Grundlage der bürgerlich-liberalen Trennung von Staat und Gesellschaft der Fall ist, sondern genauso wie etwa das Verwaltungs- oder Staatsrecht ein Instrument der staatlichen Leitung ist; vgl. dazu Posch, Zu einigen theoretischen Grundfragen des sozialistischen Zivilrechts, NJ 1975,267,268 f. und Lübchen, Die Stellung des Zivilgesetzbuchs in der einheitlichen sozialistischen Rechtsordnung der DDR, NJ 1975,467,468.
136
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
len und kulturellen Lebensniveaus der Bevölkerung"50, zu der das Zivilrecht beitragen soll, indem es die von ihm geregelten Versorgungsbeziehungen der Bürger unter Beachtung des "sozialistischen Leistungsprinzips" ausgestaltet52. Die §§ 1 I und 3 ZGB halten das explizit fest 52. Diese Verknüpfung des Zivilrechts mit dem Leistungsprinzip ist insoweit unproblematisch, als die Verteilung des individuellen Reichtums nach der Arbeitsleistung, die zunächst durch eine entsprechende Entlohnung im Arbeitsverhältnis sichergestellt wird, auch für das Zivilrecht Bedeutung hat, da es im wesentlichen solche Rechtsverhältnisse regelt, mit deren Hilfe die Bürger ihr Einkommen in Gegenstände des persönlichen Bedarfs umwandeln. Die Vorschriften über Austauschverträge wie Kauf und Miete oder die Normen des Schadensersatzrechts zum Schutz der erworbenen Güter können von daher mit dem sozialistischen Leistungsprinzip unmittelbar in Verbindung gebracht werden, weil sie dafür Sorge tragen, daß sich das Ausmaß der Arbeitsleistung in der Versorgung tatsächlich bemerkbar macht53. Das Erbrecht läßt sich in dieses Verhältnis aber nicht ohne weiteres einordnen. Seine Besonderheit liegt gerade darin, das persönliche Eigentum des Erblassers unabhängig von der Leistung der Erben auf diese zu verteilen. Auf dieses Problem gehen die Gesetzesmaterialien jedoch nicht ein, so daß auch hier keine überzeugende Begründung des Erbrechts aus dem sozialistischen Leistungsprinzip vorgenommen wird.
5 0 Vgl. nur Mampel, DDR-Verfassung, Art. 2 Rn 22 mwN. sowie das Programm der SED auf dem VIII. Parteitag 1976: "Entsprechend dem ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus besteht die Hauptaufgabe ... in der weiteren Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes ...". 5 2 Vgl. Bericht des Verfassungs- und Rechtsausschusses, Materialien S. 14 und allgemein Göhring/Poschy Lehrbuch Zivilrecht Bd. I S. 38 sowie Kreutzer, Hauptaufgabe und Zivilrecht, NJ 1976,65,67 ff. 5 2
ZGB-Kommentar,
8 3
Vgl. Göhring/Posch
§ 1 Anm.: O. und § 3 Anm.: O. u.a.: Lehrbuch Zivilrecht Bd. I S. 38.
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
137
b) Begründung der Privaterbfolge nach Erarbeitung des ZGB
Nachdem die rege Diskussion um die Neugestaltung des Erbrechts im Gefolge des V. Parteitages der SED schon 1960 abgebrochen worden war, nahm die Rechtswissenschaft erst ab 1974 wieder Stellung zum Erbrecht, als der Entwurf des ZGB der Volkskammer bereits zur Verabschiedung vorlagt. Ausgehend vom Entwurf und dem späteren Gesetzestext befassen sich die neueren Beiträge verstärkt mit den grundlegenden Prinzipien des Erbrechts, die vorher nur am Rande zur Sprache gekommen waren 55. Aus den Äußerungen ergibt sich deshalb ein genaueres Bild über die Gründe, die für die Zulassung und Ausgestaltung der Privaterbfolge im ZGB der DDR verantwortlich sind. In ihrem Inhalt konzentrieren sich die Beiträge einerseits auf die Schutzfunktion des Erbrechts für das persönliche Eigentum und die Familienbindung, die bereits in den älteren Gestaltungsvorschlägen zum Erbrecht eingehend behandelt wurde 56, andererseits wird aber auch der Versuch unternommen, die Beibehaltung der Privaterbfolge aus den Grundsätzen der sozialistischen Gesellschaftsordnung abzuleiten, wobei die Einbindung des Erbrechts in das sozialistische Leistungsprinzip die entscheidende Rolle spielt.
(1) Vorrang von Eigentumsschutz und Verfügungsfreiheit Während die Vorstellungen in der älteren Literatur noch dahin gingen, das sozialistische Erbrecht vorrangig an den Familieninteressen auszurichten57, hatte sich in den Gesetzesmaterialien bereits eine Akzentverschiebung zugunsten der Erblasserinteressen angedeutet. Die neuere Literatur untermauert in ihren Beiträgen diese neue Schwerpunktsetzung für die Begründung der Privaterbfolge und stellt die
8 4 Es erschienen zwischenzeitlich allein zwei Beiträge im Jahre 1962 und 1963; vgl. dazu oben Fn 64. 5 5
Vgl. oben S. 127.
8 6
Vgl. oben S. 127 ff.
8 7
Vgl. oben S. 128.
138
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
Schutzfunktion des Erbrechts für das persönliche Eigentum uneingeschränkt in den Vordergrund. Oftmals geschieht dies unter Rückgriff auf Art. 11 I Verf DDR, der mit der Garantie des persönlichen Eigentums und des Erbrechts den inneren Zusammenhang zwischen beiden Rechtsinstituten zum Ausdruck bringe55. Aus diesem Grunde sei die Privaterbfolge des ZGB auch konzeptionell auf das persönliche Eigentum zugeschnitten59. Sie verfolge das gleiche Grundanliegen wie das persönliche Eigentum, das in der Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Bürger liege90. In Anknüpfung daran ordnet der ZGB - Kommentar die Vererbbarkeit als "Ausdruck des Schutzes des persönlichen Eigentums" ein 97 . Weitergehend vertritt Orth die Auffassung, das sozialistische Erbrecht sei "die Konsequenz des vom sozialistischen Eigentum abgeleiteten persönlichen Eigentums der Bürger" 92. Mühlmann behauptet sogar, daß "die Gewährleistung des Erbrechts ein notwendiges Element der Gewährleistung des persönlichen Eigentums" sei95. Die Betonung der Schutzfunktion des Erbrechts für das persönliche Eigentum wird ergänzt durch die Hervorhebung der Verfügungsfreiheit des Erblassers. Für Drews ergibt sich aus dem "Charakter des persönlichen Eigentums ... die Anerkennung der Dispositionsbefugnis des persönlichen Eigentümers über den Tod hinaus"94, und Seifert stellt heraus, daß auch im Todesfall derjenige über sein persönliches Eigentum entscheiden können muß, der es sich erarbeitet hat 95 . Der ZGB Kommentar geht sogar so weit, das gesamte Erbrecht vom Willen des
5 5
Vgl. Göhring/Posch, Erbrecht S. 10; Göhring/Posch u.a., Lehrbuch Zivilrecht Bd. II S. 238; Halgasch, Zur Bedeutung und zum Gegenstand des Erbrechts, NJ 1977,360. 5 9 Göhring/Posch u.a., Lehrbuch Zivilrecht Bd. II S. 238; Seifert, Grundlagen des Erbrechts, StuR 1975,275,278; Drews , Die Grundlagen des sozialistischen Erbrechts S. 141. 9 0
Kreissl, Das Erbrecht im ZGB - Entwurf, Der Schöffe 1975,51.
9 1
ZGB - Kommentar, Vor § 362 (S. 413).
9 2
Orth, Sozialistisches Erbrecht, NJ 1975,141.
9 3
Mühlmann, Sozialistische Lebensweise und persönliches Eigentum S. 106.
9 4
Drews , Die Grundlagen des sozialistischen Erbrechts S. 144.
9 5
Seifert,
Grundlagen des Erbrechts, StuR 1975,275,285.
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
139
Erblassers abzuleiten, wenn er formuliert, daß der "Wille des Erblassers ... entweder durch Testament als testamentarische Erbfolge oder ohne ausdrückliche Erklärung durch die dann zur Anwendung kommende gesetzliche Erbfolge verwirklicht werden kann"96. Diese Aussagen verdeutlichen den großen Stellenwert, der dem Eigentumsschutz und der Verfügungsfreiheit seit dem Inkrafttreten des ZGB im Erbrecht der DDR eingeräumt wird 97 . Demgegenüber findet das Prinzip der Familienbindung nur noch nebenbei Erwähnung. Die ursprünglich angestrebte Bevorzugung familiärer Interessen ist in der neueren Literatur gänzlich aufgegeben. Zwar wird die Festigung der Familienbindung weiterhin als wichtiges Ziel der Privaterbfolge ausgegeben95, und viele Beiträge enthalten die pauschale Bemerkung, daß die Erbordnung des ZGB eine mit dem Willen des Erblassers und seinen familiären Bindungen übereinstimmende Nachlaßverteilung sichere99. Bei näherem Hinsehen zeigen sich jedoch wesentliche Einschränkungen. So ist davon die Rede, daß die Privaterbfolge die Funktion der Familie sichern soll, die ihr im Sozialismus zukommt200. Auch wird nicht mehr vom Schutz der Familie schlechthin gesprochen, sondern von den Bedürfnissen des Ehegatten und der wirtschaftlich unselbständigen Kinder™7. Orth meint sogar, daß die "Rechtfertigung
9 6 ZGB - Kommentar, § 362 Anm.: 1.; ähnlich Göhring/Posch, Erbrecht S. 12 und Knödel, Zu einigen Fragen des Erbrechts, Der Schöffe 1976,145. Zweifelnd allerdings Seifert, Grundlagen des Erbrechts S. 282. 9 7 Unter Berücksichtigung der neueren Literatur ist die Feststellung von Kittke, Erbrecht S. 273, daß in der DDR das Erbrecht in erster Linie aus dem persönlichen Eigentum abgeleitet wird, insofern richtig, als das Konkurrenzverhältnis zwischen Eigentumsschutz und Familienbindung in Rede steht. Zudem stützt sich die Begründung des Erbrechts in der DDR aber auch auf das sozialistische Leistungsprinzip; vgl. unten S. 140 ff. 9 5
Vgl. Supranowitz, 1975,141,143.
Entwurf, NJ 1975,413,417; Orth, Sozialistisches Erbrecht, NJ
9 9 So HüdebrandtUanke, Die Rechtsprechung zum Erbrecht, NJ 1985,441; Drews , Die Grundlagen des sozialistischen Erbrechts S. 141; Bergmann, Zur Regelung des Pflichtteilsrechts, NJ 1975,237. 1 0 0 Orth, Sozialistisches Erbrecht, NJ 1975,141,142; Halgasch, Rechtsnachfolge des überlebenden Ehegatten, NJ 1977,137; Marko/Orth, Konzeption des sozialistischen Erbrechts, NJ 1987,156,157. 1 0 1
Eberhardt, Das Erbrecht, NJ 1974,732,733; Marko/Orth, Konzeption des sozialistischen Erbrechts S. 157; Seifert (Grundlagen des Erbrechts, StuR 1975,275,285) führt
140
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
des Erbrechts ... fur die Kinder beim Tode des ersten Elternteils ... unter sozialistischen Verhältnissen grundsätzlich nicht gegeben" sei 702 . Er belegt damit eindrucksvoll, daß für die Begründung der Privaterbfolge im ZGB der DDR das Prinzip der Familienbindung praktisch keine Rolle mehr spielt 705 . Insoweit das Konkurrenzverhältnis zwischen Eigentumsschutz und Verfügungsfreiheit gegenüber dem Prinzip der Familienbindung für die Begründung der Privaterbfolge herangezogen wird, gleichen die Argumente der neueren DDR - Literatur also in der Tendenz den Vorstellungen, die schon der Redaktor des BGB - Erbrechts zum Rangverhältnis beider Berufungsgründe vertreten hatte 704 . Allein daraus darf aber noch nicht der Schluß gezogen werden, daß in Abkehr vom zunächst verfochtenen Vorrang der Familieninteressen sich die Rechtfertigung des Erbrechts in beiden deutschen Staaten nunmehr angenähert habe. Die folgenden Ausführungen werden das belegen.
(2) Ableitung der Privaterbfolge aus dem sozialistischen Leistungsprinzip Die neuere Erbrechtsliteratur rechtfertigt das Erbrecht nicht allein aus seiner Schutzfunktion für das persönliche Eigentum. Sie legt vielmehr besonderen Wert darauf, die Erbfolgeordnung des ZGB auch aus den Grundsätzen der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu erklären. Teilweise wird dafür mit formelhaften Wendungen argumentiert, die genauso wie die Stellungnahmen aus früherer Zeit zum Verhältnis von
wörtlich dazu aus: "...denn nicht die Familie schlechthin bedarf des Schutzes, sondern nur die wirtschaftlich ... vom Erblasser abhängige." 1 0 2 Orth, Zur Regelung des Pflichtteilsrechts, NJ 1975,238,239; ähnlich Drews , Die Grundlagen des sozialistischen Erbrechts S. 145: "A priori gegebene Erbrechte kraft Familienzugehörigkeit ... kennt das sozialistische Erbrecht nicht." 7 0 5
Erst in neuester Zeit wird diese Position vereinzelt relativiert. So will Seifert im Rahmen der Auseinandersetzung um die Berechnung des Pflichtteilsanspruches für den Ehegatten "einer angemessenen Beteiligung der zu schützenden Familienangehörigen" Vorrang vor den Erblasserinteressen einräumen; vgl. Seifert in NJ 1986,284. 1 0 4
Vgl. dazu oben S. 47.
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
141
Privaterbfolge und Sozialismus kaum einen realen Aussagewert haben. Dazu gehört etwa die bereits bekannte These, wonach das sozialistische Erbrecht dem bürgerlichen Erbrecht entgegengesetzt sei 705 , oder die Feststellung, das Erbrecht des ZGB entspreche den "von sozialistischen Auffassungen geprägten Ordnungsstrukturen" 700 und spiegele "die Auffassungen der Arbeiterklasse über die Bedeutung des persönlichen Eigentums" wider 707 . Abgesehen von diesen ideologischen Verbrämungen bemühen sich die Beiträge jedoch zumeist, die Verknüpfung der Privaterbfolge mit den Prinzipien des Sozialismus konkreter zu fassen und damit einen Begründungsansatz zu liefern, der unter Berücksichtigung der marxistischen Grundpositionen zum Privaterbrecht 705 über die Rechtfertigung aus dem Schutz von Eigentum und Familie hinausgeht. Zentrale Bedeutung hat dabei das sozialistische Leistungsprinzip. Es steht zur Begründung des Erbrechts in der neueren Literatur gleichrangig neben dem persönlichen Eigentum. Nach Halgasch knüpft das sozialistische Erbrecht mittelbar am Leistungsprinzip an 7 0 9 . Orth versteht es als einen Beitrag zur Verwirklichung des sozialistischen Verteilungsprinzips 770 und betont an anderer Stelle, daß sich das Erbrecht der wirtschaftlich selbständigen Kinder nur aus der notwendigen Sicherung dieses Verteilungsgrundsatzes rechtfertige 7 7 7 . Seifert hält die Ableitung der Dispositionsbefugnis für den Todesfall aus dem Leistungsprinzip für unbestritten772, und nach Jansen "fördert das sozialistische Erbrecht mit seinen spezifischen Mitteln die
1 0 5
Halgasch, Bedeutung und Gegenstand des Erbrechts, NJ 1977,360 f.; ähnlich Marko/Orth, Konzeption des sozialistischen Erbrechts, NJ 1987,156,157 und Eberhardt, Das Erbrecht, NJ 1974,732. 106 Drews, Grundlagen des sozialistischen Erbrechts S. 145. 7 0 7
Göhring/Posch,
1 0 8
Vgl. dazu oben S. 123 ff.
1 0 9
Halgasch, NJ 1977,360.
1 1 0
Orth, Funktion und Inhalt des sozialistischen Erbrechts, NJ 1975,141.
77 7
Orth, Zur Regelung des Pflichtteilsrechts, NJ 1975,238,239.
7 7 2
Seifert,
Erbrecht S. 11 mit Verweis auf die sowjetische Literatur.
Grundlagen des Erbrechts, StuR 1975,275,282.
142
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
materielle Interessiertheit des Bürgers an dem Ergebnis seiner Arbeit" 775 . Die gleiche Auffassung findet sich im Kommentar77* und im Lehrbuch des ZGB 115. Sie wird von Drews mit der Bemerkung unterstützt, daß das Erbrecht "einer der im Sozialismus wirkenden Stimuli" sei, der zum Erwerb langlebiger und wertvoller Gebrauchsgegenstände motiviere und die "prinzipielle Achtung vor wertschaffender Arbeit" zum Ausdruck bringe 776. Diese Stellungnahmen zeigen, daß die Zulassung der Privaterbfolge die Leistungsbereitschaft der Bürger stimulieren soll, indem für den Todesfall die Vererblichkeit des durch Arbeit erworbenen Vermögens in Aussicht gestellt wird. Insofern ist die Argumentation auch überzeugend. Jeder Mensch ist sich aufgrund des unabwendbaren Todes seiner Stellung als zukünftiger Erblasser bewußt. Es dürfte deshalb außer Frage stehen, daß die Existenz des Privaterbrechts insbesondere im fortgeschrittenen Alter einen Anreiz für Arbeit und Leistung geben kann, weil nach dem Tode wenigstens noch nahestehende oder verwandte Personen einen Nutzen davon haben, während die Aussicht auf den vollständigen Verlust der geschaffenen Werte allenfalls Gleichmut und Lethargie heraufbeschwört 777. Damit ist jedoch nur eine Seite der Wirkungen des Privaterbrechts erfaßt. Mit ihm korrespondiert zwangsläufig auch ein Erbschaftserwerb bei den Erben, die dadurch persönliches Eigentum unabhängig von eigener Leistung erhalten. Die Förderung des Leistungsgedankens durch die Privaterbfolge ist also mit dem Widerspruch verbunden, daß eben das Leistungsprinzip gleichzeitig auch untergraben wird.
7 7 5
Jansen, Zur Neuregelung des Erbrechts S. 245.
1 1 4
ZGB - Kommentar, Vorbemerkung zum Erbrecht S. 413.
7 7 5
Göhring/Posch recht S. 11. 7 7 6 7 7 7
u.a., Lehrbuch Zivilrecht Bd. II S. 239; ebenso Göhring/Posch,
Erb-
Drews, Grundlagen des sozialistischen Erbrechts S. 144.
Vgl. dazu Lange, Erbrecht S. 1 und eingehend Staudinger-Boehmer, § 5 Rn 10.
Einl. zu § 1922,
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
143
Eine überzeugende Auflösung dieses Widerspruchs hält die Literatur zum Erbrecht nicht bereit. Entweder stellen sich die Beiträge der Frage erst gar nicht 775 , obwohl sie geradezu ins Auge springt, oder sie weichen ihr mit Argumenten aus, die vom Kern des Problems ablenken. Einmal wird vorgebracht, daß die Erbfolge die Zweckbestimmung des persönlichen Eigentums nicht antaste, die in der Sicherstellung der materiellen und kulturellen Lebensbedürfnisse der Bürger liege und sich nach dem Tode in der Person des Erben fortsetzen könne 779 . Daneben begnügt man sich mit der Bemerkung, daß der leistungsunabhängige Erbschaftserwerb nicht von ausschlaggebender Bedeutung sei, weil das Ansehen der Bürger und das Ausmaß ihres persönlichen Eigentums in erster Linie von ihrer Arbeitsleistung abhänge 720/727 . Das ist jedoch keine Antwort auf die Frage, warum sich trotz der Eröffnung eines leistungsunabhängigen Gütererwerbs die Zulassung der Privaterbfolge mit dem sozialistischen Leistungsprinzip rechtfertigen läßt. Sie läßt sich allerdings auch nur finden, wenn man sich die Bedeutung des Leistungsprinzips für die sozialistische Gesellschaft vor Augen führt.
c) Die Einbindung des Erbrechts in die sozialistische Gesellschaftsordnung (1) Die Bedeutung des sozialistischen Leistungsprinzips Das sozialistische Leistungsprinzip besagt zunächst, daß jeder Bürger gemäß der von ihm erbrachten Arbeitsleistung am gesamtgesellschaftlichen Reichtum teilhaben soll 722 . Voraussetzung ist dafür einmal eine
7 7 5 So etwa Orth, Funktion und Inhalt des sozialistischen Erbrechts, NJ 1975,141 ff. und Drews , Die Grundlagen des sozialistischen Erbrechts S. 141 ff. 7 7 9
So Halgasch, Bedeutung und Gegenstand des Erbrechts, NJ 1977,360 und Göhring/Posch u.a., Lehrbuch Zivilrecht Bd. II S. 238 f. 7 2 0
Mühlmann, Sozialistische Lebensweise und persönliches Eigentum S. 107.
72 7
Halgasch hatte im Jahre 1963 den leistungsunabhängigen Erwerb durch das Erbrecht noch mit der Erwägung gerechtfertigt, daß der Lebensstandard der Hinterbliebenen damit aufrecht erhalten werden könne (vgl. StuR 1963,311,316). Dieses Argument, wohl eine Folgeerscheinung der damaligen ökonomischen Situation, findet sich heute nicht mehr. 122 vgl. nur Schmidt, Verteilung nach Leistung, Einheit 1974,237; Schtiwa, Leistung und Humanismus, DZPhi 1982,1429,1441; Berger/Reinhold, Ökonomische Gesetze, Einheit
144
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
leistungsgerechte Entlohnung im Arbeitsverhältnis 725, die zudem die wesentliche Grundlage der Güterversorgung jedes inzelnen sein muß 724 . Insofern dient das Leistungsprinzip der Sicherstellung individueller Verteilungsgerechtigkeit und gleicht in dieser Funktion dem Leistungsgedanken, wie er auch in der Bundesrepublik Deutschland anerkannt ist 725 . Jedoch steht die Regulierung individueller Belange für das sozialistische Leistungsprinzip nicht im Vordergrund. Das verdeutlicht schon seine Ableitung aus den Grundsätzen, die Marx für die Güterverteilung in der Phase des Sozialismus formulierte 726 und die heute mit der Formel "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seiner Leistung" umschrieben werden 727. Sie besagen, daß nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel im Sozialismus jeder Produzent von der Gesellschaft nur den Wertanteil zurückerhält, den er ihr vorher durch seine Arbeit gegeben hat 7 2 5 . Mit dieser Art der Verteilung ist nach Marx jedoch nicht gewährleistet, daß jeder einzelne auch das erhält, was ihm gerechterweise zukommen müßte. Im Gegenteil: Nach seiner Auffassung handelt es sich nur um eine Form der Distribution, die den sozialistischen Produktionsverhältnissen angemessen ist 7 2 9 , aber die unterschiedlichen Lebensbedin-
1967,14,19. 7 2 5 72
Reinhold, Über Leistung und Leistungsprinzip, Einheit 1985,714.
* Steussloff\ 1983,1078,1079.
Zum sozialen Inhalt des Leistungsprinzips im Sozialismus, DZPhi
125 Ygj d a z u Wiedemann, Herbert, Art. 24 II Verf NW.
Leistungsprinzip und Tarifvertragsrecht S. 643 sowie
7 2 6
Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19,15 ff.
7 2 7
Vgl. nur Grotjan/Mechler,
Friedrich Engels und das Leistungsprinzip S. 111.
1 2 8
Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19,15,20: "Demgemäß erhält der Produzent - nach den Abzügen - exakt zurück, was er ihr gibt." (Mit den Abzügen sind Ausgaben für öffentliche Aufgaben wie Schule, Gesundheit etc. gemeint; d. Verf.). 7 2 9
Die Art der Distribution ist nach Marx in jeder Gesellschaftsformation Ausdruck der jeweiligen Produktionsverhältnisse: "Die sogenannten Verteilungsverhältnisse entsprechen also, und entspringen aus historisch bestimmten, spezifisch gesellschaftlichen Formen des Produktionsprozesses und der Verhältnisse, welche die Menschen im Reproduktions-
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
145
gungen und Bedürfnisse der Menschen außer acht läßt 750 . Die darin liegende Ungerechtigkeit könne aber erst nach der allseitigen Entfaltung der Produktivkräfte beseitigt werden, um in der Folge das Gesamtprodukt der Gesellschaft nach dem Prinzip "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen" zu verteilen 757. Das sozialistische Leistungsprinzip ist folglich eine dem Sozialismus immanente Erscheinung, die es zu überwinden gilt, weil sie eine Güterverteilung festlegt, die den Menschen letztlich nicht gerecht wird 752 . Trotz dieser Vorbehalte ist in der DDR dennoch unbestritten, daß das sozialistische Leistungsprinzip als "Grundprinzip des Sozialismus"755 allseitig verwirklicht werden muß, damit es stärker als bisher in allen Lebensbereichen zur Geltung kommt75"*. Diese Forderung ist nur aus seiner eigentlichen Funktion zu erklären, die darin liegt, zum ökonomischen Fortschritt im gesamtgesellschaftlichen Interesse beizutragen.
prozeß ihres menschlichen Lebens untereinander eingehen." Marx, Kapital III, MEW 25,890. 1 3 0
Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19,15,20 f.: "Die Gleichheit besteht darin, daß am gleichen Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem anderen überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; ... Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit." 75 7
Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19,15,21.
7 5 2
Dieses Ziel war in der DDR unbestritten; vgl. Hager, Gesetzmäßigkeiten unserer Epoche, Einheit 1984,3 und eingehend Dlubek, Konturen der Dialektik des Sozialismus, Geschichtswissenschaft 1982,195,198 ff. Vgl. auch schon Lenin, Staat und Revolution, Werke Bd. 25,480: "Der Sozialismus ist vorerst nicht imstande ..., ... auch die weitere Ungerechtigkeit zu beseitigen, die in der Verteilung der Konsumtionsmittel nach der Arbeitsleistung ... besteht." Heute steht dagegen die weiterhin erhobene Forderung nach der konsequenten Anwendung des Leistungsprinzips nicht mehr unter dem Vorbehalt, daß es in Zukunft überwunden werden soll; vgl. BergerISmolarek, Gerechtigkeit und soziale Differenziertheit in der sozialistischen Gesellschaft, StuR 1989,897 ff. 7 5 5 Steussloff; Zum sozialen Inhalt des Leistungsprinzips, DZPhi 1983,1078; Großer u.a., Wissenschaftlicher Kommunismus S. 369 ff.; ähnlich Schiüat, Zu einigen Aspekten des Leistungsprinzips S. 287 f. 1 3 4
Vgl. Reinhold, Die stimulierende Wirkung des Leistungsprinzips, Einheit 1983,301; GloedelMechler, Theoretische Probleme des Leistungsprinzips im Sozialismus, Wirtschaftswissenschaft 1982,1638,1640 ff.; Adler, Dialektik des Leistungsprinzips, DZPhi 1986,116 f.; Direktive des XI. Parteitages der SED zum Fünfjahresplan 1986 bis 1990 S. 26.
146
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
Nach dem historisch-materialistischen Verständnis des Marxismus von der Gesellschaftsentwicklung ist die Menschheitsgeschichte eine Geschichte der Höherentwicklung755. Sie durchläuft verschiedene, einander ablösende Entwicklungsstufen 750, wobei der Übergang von einer Gesellschaftsformation zur nächstfolgenden auf objektiven Gesetzmäßigkeiten beruht, weil die sich fortentwickelnden Produktivkräfte in Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen geraten 757. Der Fortschritt der Produktivkräfte induziert also einerseits den gesellschaftlichen Fortschritt, ist andererseits dafür aber auch unentbehrlich755. Die Entfaltung der Produktivkräfte ist allerdings kein voraussetzungsloser Automatismus. Sie stellt sich nur ein, wenn in der Produktionssphäre einer Gesellschaft auch entsprechende Triebkräfte die Menschen dahin beeinflussen, daß sie auf eine Produktivitätssteigerung hinarbeiten 7 5 9 . Im Kapitalismus bilden das Profitstreben und die Konkurrenz der Produktionsmitteleigentümer diese Triebkraft 7*0. Denn jeder von ihnen ist aufgrund der kapitalistischen Produktionsweise bei Strafe des Untergangs dazu gezwungen, den Verwertungsprozeß seines Kapitals beständig auszubauen7*7. Dazu bedarf es immer neuartiger Produktions-
7 5 5
Vgl. nur Stiehler, Gesellschaft und Geschichte S. 21 ff.; insbesondere S. 29.
7 5 6
Vgl. nur Steussloff
u.a., Dialektischer und Historischer Materialismus S. 257 ff.
7 5 7
Dazu Marx, Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13,7,9: "Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch zu den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt haben. ... Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein." Kritisch dazu Petev, Kritik der marxistisch-sozialistischen Rechts- und Staatsphilosophie S. 22 f. Ι 3 8 Selbstverständlich sind die hier gewählten Formulierungen nicht mehr als eine radikal vereinfachte Andeutung der marxistischen Geschichtsauffassung. Sie reichen aber aus, um die Einbindung des sozialistischen Leistungsprinzips in die Prämissen des historischen Materialismus zu verdeutlichen. 7 5 9
Vgl. Stiehler, Gesellschaft und Geschichte S. 278.
1 4 0
Vgl. Marx, Kapital III, MEW 25,221 ff. und Berger,/Reinhold, Ökonomische Gesetze, Einheit 1967,14,16 ff.; Hager, Gesetzmäßigkeiten unserer Epoche, Einheit 1984,3,8. 7 7 * Diese Erkenntnis gewinnt Marx vor allem aus seinem Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate (vgl. Kapital III, MEW 25,221 ff.), das auf seiner in der Ökonomie höchst umstrittenen Werttheorie aufbaut. Die Zusammenhänge können hier deshalb nicht im einzelnen dargelegt werden.
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
147
verfahren, die zwangsläufig eine Steigerung der Produktivität zur Folge haben. Durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel entfällt dieser Ansporn im Sozialismus7*2. Folglich muß ein anderer Stimulator wirken, wenn die sozialistische Gesellschaft die allseitige Entfaltung der Produktivkräfte hervorbringen will, die als Voraussetzung für den angestrebten Übergang zum Kommunismus angesehen wird 7 * 5 . Diese Funktion ist dem sozialistischen Leistungsprinzip zugedacht. Es soll an die Stelle von Konkurrenz und Profitstreben treten und die Menschen im Sozialismus auf ein Verhalten orientieren, das die Produktivkraftentwicklung vorantreibt 7**. Die wichtigste Aufgabe des Leistungsprinzips besteht deshalb in der Motivation der Bürger zu einem Arbeitsverhalten, das der sozialistischen Wirtschaft zu einer quantitativen und qualitativen Produktionssteigerung verhilft 7*5. Der Grundsatz der Verteilung nach der Leistung ist dabei nur Mittel zum Zweck. Denn sofern die Güterversorgung der Bevölkerung vom Quantum der individuellen Leistung abhängt, ist jeder einzelne schon aufgrund seines eigenen Interesses an einer möglichst umfassenden Bedürfnisbefriedigung darauf bedacht, zum Produktionswachstum beizutragen146/14 7. Mit der eingangs gewählten Bezeichnung als Verteilungsprin-
1 4 2
Berger/Reinhold,
Ökonomische Gesetze, Einheit 1967,14,18.
1 4 3 Vgl. dazu schon Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19,15,21 sowie Fedossejew, Die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus, Einheit 1972,1454,1459 ff. 1 4 4
Vgl. Reinhold, Über Leistung und Leistungsprinzip, Einheit 1985,714,715 f.; Gloede/Mechler, Theoretische Probleme des Leistungsprinzips im Sozialismus, Wirtschaftswissenschaft 1982,1638,1646 ff.; Busch/Grotjan, Die Rolle der sozialistischen Verteilungsweise, Wirtschaftswissenschaft 1977,177. 7 5 * Vgl. nur Schmidt, Verteilung nach Leistung und gesellschaftliche Konsumtionsfonds, Einheit 1974,237 und Reinhold, Über Leistung und Leistungsprinzip S. 717. 1 4 6 Neben dem sozialistischen Leistungsprinzip sind noch andere Gesetze und Prinzipien dazu auserkoren, der Triebkraftentfaltung im Sozialismus zu dienen (vgl. nur Reinhold, Über Leistung und Leistungsprinzip S. 715). Ihre Einteilung und ihr Verhältnis zueinander ist aber nur wenig geklärt, zumal auch Inhalt und Reichweite des sozialistischen Leistungsprinzips unterschiedlich bestimmt werden (vgl. dazu Adler, Leistungsprinzip, DZPhi 1983,1054,1056 ff.). Unumstritten ist allein die dargelegte Funktion des Leistungsprinzips, die materielle Interessiertheit der Bürger zur Produktivitätssteigerung zu nutzen. Sie geht auf Lenin zurück; vgl. Werke Bd. 33,31,38: "... aufgrund des persönlichen Interesses, der persönlichen Interessiertheit ... bemüht euch, zuerst feste Stege zu bauen, die in einem kleinbäuerlichen Land über den Staatskapitalismus zum Sozialismus führen;
148
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
zip wird man der Funktion des sozialistischen Leistungsprinzips also nicht gerecht. Es baut lediglich auf der Güterverteilung nach der Leistung auf, um seiner Aufgabe als Stimulator des ökonomischen Fortschritts gerecht werden zu können. Demgemäß kommt es ihm auch nicht darauf an, "eine gerechte Verteilung ... zu sichern, sondern eine solche Form der Verteilung zu finden, die maximal als Triebkraft zur Entwicklung der Produktivkraft wirkt." 745. Unter Berücksichtigung dieser Aufgabenstellung ergibt die Verknüpfung des Erbrechts mit dem sozialistischen Leistungsprinzip auch einen Sinn. Sie ändert zwar nichts daran, daß die Zulassung der Privaterbfolge wegen des arbeitsunabhängigen Erbschaftserwerbs auch Wirkungen zeitigt, die nicht dem Leistungsgedanken entsprechen. Dieser Widerspruch ist jedoch auf der Ebene der individuellen Verteilung angesiedelt, also nur von sekundärer Bedeutung, solange das Privaterbrecht der Aufgabe des Leistungsprinzips wenigstens im gesamtgesellschaftlichen Maßstab förderlich ist. Daran kann kein Zweifel bestehen, weil die Vererblichkeit des Vermögens die Leistungsbereitschaft der Bürger über Jahre hinweg stimulieren kann, während der leistungsunabhängige Eigentumserwerb im Wege der Erbfolge in der DDR regelmäßig kein Ausmaß erreicht, das den Erben eine Lebensführung ohne eigene Arbeit auf Dauer ermöglichen würde 749 . In jedem Fall wäre aber die
sonst werdet ihr nicht zum Kommunismus gelangen ...". 7 4 7
In Anbetracht dieses Wirkungsmechanismus wird in der DDR immer wieder betont, daß individuelle und gesellschaftliche Interessen in Übereinstimmung gebracht werden müssen; vgl. Jonuscheit, Planung und Leitung unserer Volkswirtschaft, Einheit 1963,58,61; Stscherbak, Materielle und moralische Stimulierung der sozialistischen Arbeit, Sowjetwissenschaft 1977,248,254. 7 4 5
Reinhold, Die stimulierende Wirkung des Leistungsprinzips, Einheit 1983,301,302; sinngleich äußern sich Jonuscheit, Planung und Leitung unserer Volkswirtschaft, Einheit 1963,59,63; Adler, Leistungsprinzip, DZPhi 1983,1054,1055; Busch/Grotjan, Die Rolle der sozialistischen Verteilungsweise, Wirtschaftswissenschaft 1977,177,180. Lenin formulierte dazu in seiner Rede auf der III. Gesamtrussischen Konferenz, Werke Bd. 32,463,471: "Ist die Rede von der Verteilung der Lebensmittel, darf man nicht nur daran denken, daß man gerecht verteilen muß, man muß vielmehr daran denken, daß die Verteilung eine Methode, ein Werkzeug, ein Mittel zur Steigerung der Produktion ist." 7 4 9 Insoweit hat das Argument von Mühlmann zum geringen Umfang der Nachlässe in der DDR durchaus einen Sinn, um die Verbindung zwischen Erbfolge und Leistungsprinzip zu begründen; vgl. oben S. 143 Fn 120.
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
149
Abschaffung der Privaterbfolge ein krasser Rückschlag für das Leistungsprinzip, weil es seine Überzeugungskraft für die Menschen mit zunehmendem Alter verlöre. Die Begründung des Erbrechts mit dem sozialistischen Leistungsprinzip ist also kein vorgeschobenes Argument, sondern eine schlüssige Rechtfertigung der Privaterbfolge in der sozialistischen Gesellschaft, die sich die materielle Interessiertheit der Bürger an einer möglichst umfassenden Bedürfnisbefriedigung zunutze macht, um mit der Entfaltung der Produktivkräfte ihre aus der marxistischen Geschichtsauffassung abgeleitete "Hauptaufgabe" zu erfüllen.
(2) Die funktionale Verbindung zwischen dem sozialistischen Leistungsprinzip und dem persönlichen Eigentum Mit der dargelegten Rechtfertigung des Erbrechts aus dem sozialistischen Leistungsprinzip korrespondiert seine weitere Ableitung vom persönlichen Eigentum, die im Gegensatz zu älteren Stellungnahmen750 in der neueren Literatur hervorgehoben wird 757 . Denn beide Begründungsansätze stehen nicht isoliert nebeneinander. Sie sind aufeinander bezogen, weil das Leistungsprinzip und das persönliche Eigentum in wechselseitiger Abhängigkeit ein gemeinsames Grundanliegen verfolgen. Auf der Basis des marxistischen Eigentumsverständnisses ist das persönliche Eigentum vom sozialistischen Eigentum abgeleitet752 und erfaßt nur die Konsumtionsmittel, die den Bürgern zur Befriedigung 1 5 0
Vgl. oben Seite 127 ff.
7 5 7
Vgl. oben Seite 137 ff.
7 5 2
Vgl. Klinkert, Rechtsschutz des persönlichen Eigentums, StuR 1989,625,626; Chalfina, Über das persönliche Eigentumsrecht, StuR 1961,749,752; Becker, Das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln, DZPhi 1972,1360,1370; Haney/Thoms, Zur Regelung des persönlichen Eigentums im zukünftigen Zivilgesetzbuch, NJ 1960,540,542; Luft/Schmidt, Die neue Verfassung und das sozialistische Eigentum, StuR 1968,716,721; Rechtshandbuch für den Bürger S. 283 f. Seit dem 9. November 1989 wird diese Ableitung allerdings auch in der Literatur der DDR kritisch gesehen und der eigenständige Wert des persönlichen Eigentums neben der Kategorie des sozialistischen Eigentums hervorgehoben. Vgl. Haney, Staat - Gesellschaft Individuum, StuR 1989,971,978.
150
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
ihrer materiellen und kulturellen Bedürfnisse zugewiesen sind 753 . Die Aufgabe dieser Eigentumskategorie liegt demgemäß in der Güterversorgung der Menschen. Das sozialistische Leistungsprinzip wirkt an der Erfüllung dieser Aufgabe mit. Es liefert den Maßstab für die Verteilung der Güter in der Bevölkerung und ergänzt damit das persönliche Eigentum in seiner Versorgungsfunktion. Als Verteilungsgrundsatz verbindet sich das Leistungsprinzip mit dem persönlichen Eigentum also durch die übereinstimmende Zielsetzung. Die Funktion des Leistungsprinzips geht jedoch darüber hinaus. Es ist in erster Linie als Triebkraft des ökonomischen Fortschritts konzipiert. Zu diesem Zweck greift es wie oben ausgeführt auf die materielle Interessiertheit der Bürger zurück, um deren Streben nach einer möglichst umfassenden Bedürfnisbefriedigung für die Steigerung der Produktivkräfte im gesamtgesellschaftlichen Interesse nutzbar zu machen75*. Auch insofern besteht aber eine Verbindung zum persönlichen Eigentum. Einerseits ist schon die Existenz dieser Eigentumskategorie unverzichtbar, damit das Leistungsprinzip seine Triebkraftfunktion entfalten kann. Eine positive Beeinflussung des Arbeitsverhaltens der Bürger mit Hilfe ihrer materiellen Interessiertheit setzt nämlich voraus, daß die unterschiedlichen Leistungen auch in einer individuell differenzierten Güterversorgung münden. Dazu bedarf es einer Form von Individualeigentum, denn bei ausschließlicher Zulassung gemeinschaftlichen Eigentums ließe sich das individuelle Leistungsgefälle unter den Bürgern nicht im Ausmaß ihrer Güterversorgung widerspiegeln. Das persönliche Eigentum nimmt diese Funktion wahr und ist dadurch in den Wirkungsmechanismus des Leistungsprinzips integriert 755.
7 5 5
Göhring/Posch u.a., Lehrbuch Zivilrecht Bd. I S. 143; mit anderer Akzentsetzung neuerdings Fritsche/Schüler, Persönliches Eigentum und Leistungsprinzip, StuR 1989,819,822 ff. 1 5 4 7 5 5
Vgl. oben S. 147 ff.
Vgl. Klinken, Rechtsschutz des persönlichen Eigentums, StuR 1989,625,626 und schon Haney/Thoms, Zur Regelung des persönlichen Eigentums im zukünftigen Zivilgesetzbuch, NJ 1960,540,543: "So spielt das persönliche Eigentum bei der Durchsetzung des Leistungsprinzips eine außerordentlich wichtige Rolle. Es trägt dazu bei, die materielle Interessiertheit ... durchzusetzen. Insofern besteht ein direkter Zusammenhang zwischen
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
151
Desweiteren ist selbstverständlich der Umfang des persönlichen Eigentums vom sozialistischen Leistungsprinzip abhängig. Nur so kann die mit der Anerkennung dieser Eigentumsform geschaffene Möglichkeit einer leistungsabhängig differenzierten Güterversorgung auch in die Tat umgesetzt werden. Existenz, Umfang und Funktion des persönlichen Eigentums sind demnach in die Aufgabenstellung des Leistungsprinzips eingebunden, so daß die Garantie dieser Eigentumsart durch die Rechtsordnung der DDR "in gewissem Sinne ... eine Folge des Leistungsprinzips" ist 156. Aus dieser Standortbestimmung des persönlichen Eigentums ergibt sich die weitere Konsequenz, daß es genauso wie das Leistungsprinzip als Element der sozialistischen Produktionsweise verstanden werden muß 757 . Es teilt somit auch dessen historische Perspektive, die in der Überwindung dieser Verteilungsform liegt, sobald die Produktivkräfte einen Entwicklungsstand erreicht haben, der eine Teilhabe der Bürger am gesamtgesellschaftlichen Reichtum nach dem Prinzip "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen" erlaubt 755. Im Verlauf dieser Entwicklung wird auch das persönliche Eigentum seine Bedeutung als wichtigstes Instrument der Güterversorgung verlieren. Es grenzt die Berechtigung der Bürger an den Konsumtionsmitteln voneinander ab, weil das Leistungsprinzip ansonsten leerlaufen würde. Die Verteilungsweise des Kommunismus nach dem jeweiligen Bedarf erfordert aber eine gemeinschaftsbezogene Organisation, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Bürger auch gerecht werden zu können 759 . Beim Übergang zum Kommunismus sollen deshalb nach und
dem persönlichen Eigentumsrecht und der Steigerung der Arbeitsproduktivität." 1 5 6
Mollnau, Recht als Triebkraft S. 43.
7 5 7
Göhring/Posch u.a., Lehrbuch Zivilrecht Bd. I S. 30; zum Zusammenhang von Eigentum und Produktionsverhältnissen im allgemeinen vgl. Marx, Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13,7,9. 1 5 8 Vgl. Marx, Kritik des Gothaer Programms MEW 19,15,21 sowie aus der DDRLiteratur Mollnau, Recht als Triebkraft S. 55.
159 Ygj dazu Kühn, Das persönliche Eigentum im Sozialismus S. 23 f. und Chalfina, Über das persönliche Eigentumsrecht, StuR 1961,749,750.
152
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
nach gesellschaftliche Konsumtionsfonds die Rolle des persönlichen Eigentums für die Güterversorgung der Bevölkerung übernehmen760. Vor diesem Hintergrund kann die Betonung der Schutzfunktion des Erbrechts für das persönliche Eigentum nur als Konsequenz aus der Ableitung der Privaterbfolge vom sozialistischen Leistungsprinzip verstanden werden. Zum einen ergänzen sich beide Begründungen,
Im Grundsatz ist diese Zielsetzung jedenfalls bis zur politischen Wende am 9. November 1989 unbestritten gewesen und hat die Erarbeitung des ZGB-Erbrechts folglich geprägt. Die Literatur der DDR brachte das allerdings nur bis zu Beginn der siebziger Jahre zum Ausdruck, (vgl. Chalfina, Über das persönliche Eigentumsrecht, StuR 1961,749,750; Fedossejew, Die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus, Einheit 1972,1454,1462 f.; Schmidt, Verteilung nach Leistung, Einheit 1974,237,239 ff.; Schäfer, Über das Wesen des Sozialismus-Kommunismus S. 484 (1974); ähnlich auch noch Busch/Grotjan, Die Rolle der sozialistischen Verteilungsweise, Wirtschaftswissenschaft 1977,177,189). In der Diskussion der letzten Jahre spielte die Überwindung des persönlichen Eigentums als Hauptfaktor der individuellen Güterversorgung dagegen kaum noch eine Rolle. Angesichts der wirtschaftlichen Lage der DDR wurde (und wird) vielmehr die allseitige Durchsetzung des sozialistischen Leistungsprinzips in den Vordergrund gestellt (vgl. Direktive des XI. Parteitages der SED 1986, S. 26; Mollnau, Recht als Triebkraft S. 46; aus neuester Zeit Lieberam, Verfassungsfragen im Wettstreit der Gesellschaftssysteme, StuR 1989,1011,1013; Klüßendorf\ Individuelle Produktivität und Kollektivität, StuR 1989,825,832). Im Verlauf des Jahres 1989 ist die dargestellte Auffassung über den Entwicklungsgang des persönlichen Eigentums allerdings ins Wanken geraten. Schon vor der revolutionären Umwälzung vertrat Klinkert die Meinung, daß die Verfassung der DDR nicht den "Weg der schrittweisen Zurückdrängung des persönlichen Eigentums bei forcierter Entwicklung der Bedürfnisbefriedigung direkt aus den gesamtgesellschaftlichen Fonds" gewählt habe und daß die Garantie des persönlichen Eigentums ein "Grundrecht" sei (Klinkert, StuR 1989,625,627 und 628). Dieser Ansatz zu einer Aufwertung des persönlichen Eigentums fand nach dem 9. November 1989 große Resonanz. So spricht Haney jetzt von dem Erfordernis, daß "das Eigentum ... auf die Subjektivität hin entwickelt werden" müsse und Fritsche/Schüler betonen, daß die Zugehörigkeit der Gewährleistung des persönlichen Eigentums zum Verfassungsabschnitt "Ökonomische Grundlagen" die "Grundrechtsqualität des Rechts auf persönliches Eigentum" nicht ausschließe (vgl. Haney, Staat - Gesellschaft - Individuum, StuR 1989,971,978 und Fritsche/Schüler, Persönliches Eigentum und Leistungsprinzip, StuR 1989,819,820). Wenn dieses neue Verständnis über das persönliche Eigentum auch zu begrüßen ist, so entspricht es doch nicht der Ausgangslage in der bisherigen Verfassung. Dort gehört das persönliche Eigentum zu den "Grundlagen der sozialistischen Gesellschaftsordnung" und ist gerade nicht den "Grundrechten und Grundpflichten der Bürger" zugeordnet. Deshalb hatte Klinkert selbst noch 1979 formuliert: "Solange die Bedürfnisbefriedigung nicht unmittelbar und nur zu einem geringen Teil aus gesamtgesellschaftlichen Fonds vor sich geht, ist es in der Regel erforderlich, die Objekte der Bedürfnisbefriedigung ... in persönliches Eigentum überzuführen" (Eigentumsrecht S. 21).
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
153
insofern das persönliche Eigentum zu den Wirkungsbedingungen des Leistungsprinzips gehört, so daß sein Schutz zugleich auch dem Verteilungsgrundsatz des Sozialismus dient. Des weiteren ist die Rückführung der Privaterbfolge auf das persönliche Eigentum in deren Ableitung vom Leistungsprinzip eingebunden, da diese Eigentumsform selbst als Folgeerscheinung des Leistungsprinzips eingestuft wird. Weil schließlich das persönliche Eigentum nur solange die Grundlage der Güterversorgung bilden soll, wie das Leistungsprinzip die Güterverteilung reguliert, geht die Rechtfertigung des Erbrechts aus der Schutzfunktion für das Eigentum auch nicht über diejenige aus dem Verteilungsgrundsatz hinaus. Genau besehen sind beide Argumente für die Zulassung der Privaterbfolge in der DDR also nur zwei Gesichtspunkte einer einheitlichen Begründung, die ihre Wurzel in der Aufgabenstellung hat, welche dem Zusammenwirken des sozialistischen Leistungsprinzips und des persönlichen Eigentums für die Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaft zugewiesen ist. Die Begründung des Erbrechts aus seiner Schutzfunktion für das persönliche Eigentum kann deshalb nicht mit der Ableitung der Privaterbfolge vom Privateigentum in der Bundesrepublik Deutschland verglichen werden. Hüben ist das Eigentum als solches der Grund für die Zulassung der Privaterbfolge, weil es als Institution und Garant individueller Freiheit anerkannt ist' 6 '. Drüben dient das persönliche Eigentum dagegen nur insoweit als Argument, wie es im Verbund mit dem Leistungsprinzip zur Steigerung der Produktivkräfte beiträgt. Dem historisch-materialistischen Grundverständnis des Marxismus entspricht dies in doppelter Weise. Einmal wird der marxistischen Auffassung Rechnung getragen, wonach der Inhalt des Rechts als historisch bedingte Erscheinung dem Wandel der Gesellschaftsformationen unterliegt 762, so daß sich die Rechtsordnung auch nicht aus Institutionen begründen läßt, die der Existenz des Menschen vorgege-
1 6 1 1 6 2
Vgl. oben Seite 67 ff.
Vgl. Manow u.a., Staats- und Rechtstheorie Bd. I S. 305 ff.; Mollnau u.a., Lehrbuch Staats- und Rechtstheorie S. 99 f.; Marx, Manifest, MEW 4,459,477 sowie derselbe, Deutsche Ideologie, MEW 3,9,62 ff.
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
154
ben wären i6J . Zum zweiten wird die Funktion des Erbrechts mit dieser Begründung an der historischen Mission des Sozialismus ausgerichtet, die nach Marx in der allseitigen Entfaltung der Produktivkräfte besteht, um den Boden für den Übergang zum Kommunismus zu bereiten 26*. Die Beibehaltung der Privaterbfolge ist demgemäß kein Fremdkörper in der Rechtsordnung der DDR, sondern ruht mit der dargelegten Begründung auf dem Fundament, das die Gesellschaftsordnung und das Staatsverständnis der DDR bislang auch im übrigen bestimmt hat.
d) Die Ausrichtung der Privaterbfolge am sozialistischen Leistungsprinzip und am persönlichen Eigentum in den Normen des Erbrechts
Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, daß mit der Ableitung der Privaterbfolge vom sozialistischen Leistungsprinzip und vom persönlichen Eigentum das Erbrecht in den Grundlagen der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR verankert ist. Diese Erkenntnis rechtfertigt aber lediglich die Feststellung, daß eine schlüssige Theorie für die Existenzberechtigung der Privaterbfolge im Sozialismus vorliegt. Im weiteren stellt sich aber die Frage, ob diese Begründung in den Normen des Erbrechts nachzuweisen ist und damit auch eine reale Grundlage hat. Ansonsten wäre sie nicht mehr als ein Versuch, ein jahrtausendealtes Rechtsgebiet unter das Theoriegewölbe der marxistischen Ideologie zu zwingen. Die Ableitung des Erbrechts aus der funktionalen Verknüpfung zwischen dem Leistungsprinzip und dem persönlichen Eigentum läßt sich in den Gesetzesvorschriften zur Erbfolge jedoch tatsächlich nachweisen.
1 6 3 1 6 4
Klaus/Buhr,
Philosophisches Wörterbuch Bd. II S. 1018.
Vgl. dazu nur Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19,15,21. Dieser Aufgabenstellung ist natürlich nicht nur das Erbrecht, sondern die gesamte Rechtsordnung der DDR verpflichtet; vgl. Lotze, Die Funktion des Staates und des Rechts bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft S. 15 ff., Stiehler, Ökonomie - Staat - Recht als dialektisches Verhältnis, DZPhi 1982,1240,1244 f.; Heuer, Die Funktion des Rechts, NJ 1967,656,659; allgemein dazu auch Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat S. 35 ff. mwN.
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
155
(1) Verfassungsrecht Den ersten Anhaltspunkt liefert die Verfassung der DDR. Sie verknüpft in Art. 11 I die Verbürgung des Erbrechts nämlich nicht nur unmittelbar mit der Garantie des persönlichen Eigentums, sondern weist sie auch außerhalb des Kapitels "Grundrechte und Grundpflichten der Bürger" dem Abschnitt "Grundlagen der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung" zu 7 6 5 , dem auch das sozialistische Leistungsprinzip untersteht 700. Die Zuordnung der Erbrechtsgarantie in der Systematik der Verfassung konkretisiert also die Begründung der Privaterbfolge und bestätigt deren Einbindung in die Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft 707.
(2) Erbrecht des ZGB Das ZGB bekräftigt die Rechtfertigung des Erbrechts aus dem Leistungsprinzip und dem persönlichen Eigentum durch die Vorschriften über die Erbfolge in unterschiedlichem Ausmaß. Soweit diese Begründung auf den Schutz des persönlichen Eigentums und der Verfügungsfreiheit abstellt, ist deren Verwirklichung ohne Probleme nachzuweisen. Das persönliche Eigentum bildet den Hauptgegenstand der Erbfolge, weil das sozialistische Eigentum ihrem Regelungsbereich entzogen ist 76 * und die anderen Formen des Individualeigentums in der DDR nur eine untergeordnete Bedeutung haben700. Die Garantie der Verfügungsfreiheit findet ihren Ausdruck in der Anerkennung und Ausgestaltung der Testierbefugnis. Letztwillige Verfügungen verdrängen die gesetzliche Erbfolge, sind wie in der
1 6 5
Mampel, DDR-Verfassung Art. 1 (Text) S. 4.
1 6 6
Vgl. Mampel, DDR-Verfassung Art. 2 Rn 40.
7 6 7
Zur neuerdings anzutreffenden Relativierung dieser Sichtweise vgl. Fritsche/Schüler, Persönliches Eigentum und Leistungsprinzip, StuR 1989,819,820 f. und Haney, Staat Gesellschaft - Individuum, StuR 1989,971,978. 1 6 8
Vgl. oben Seite 110 ff.
1 6 9
Vgl. oben Seite 115 f.
156
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
Bundesrepublik Deutschland in der Form des notariellen oder privatschriftlichen Testaments zulässig und unterliegen auch keinen weitergehenden inhaltlichen Schranken durch das Pflichtteilsrecht. Dieses gibt den nahen Angehörigen lediglich einen Geldanspruch gegen die eingesetzten Erben. Er beläuft sich zwar auf 2/3 des gesetzlichen Erbteils, schränkt die Testierfreiheit aber dennoch nicht weiter ein als das BGB, da der Anspruch der Abkömmlinge und Eltern zumeist daran scheitert, daß sie zu Lebzeiten des Erblassers keinen Unterhaltsanspruch gegen ihn hatten 770 . Die Schutzfunktion des Erbrechts für das persönliche Eigentum und die Verfügungsfreiheit liefert auch die Erklärung für die Vielzahl von übereinstimmenden Grundprinzipien und Detailregelungen in den Erbordnungen der beiden deutschen Staaten. Denn dieser Ausschnitt aus der Begründung der Privaterbfolge in der DDR unterscheidet sich von der Ausrichtung des bundesdeutschen Erbrechts am Schutz von Privateigentum und Verfügungsfreiheit 272 in der Praxis nur durch die gegenständliche Beschränkung des Eigentumsschutzes. Sie wird aber durch die Eigentumsverfassung der DDR sichergestellt272, so daß dem Erbrecht des ZGB die Gemeinsamkeiten aus der partiell übereinstimmenden Zielsetzung verbleiben. Die Ableitung der Privaterbfolge aus dem sozialistischen Leistungsprinzip ist im Erbrecht des ZGB allerdings nicht ohne weiteres zu belegen. Das liegt daran, daß sich dieser Ausschnitt der Begründung im wesentlichen schon aus der Zulassung der Privaterbfolge rechtfertigt, die als Vorbedingung für die Existenz des Erbrechts in dessen Normenkomplex nicht auftaucht. Die Gesetzesvorschriften befassen sich vornehmlich mit der Regulierung der Nachlaßverteilung, die als solche unabhängig von einer Leistung der Erben erfolgt 273. Sie können dem Leistungsprinzip deshalb nur auf Umwegen dienen, wobei sich vor
1 7 0
Ausführlich dazu oben S. 98 ff.
2 7 2
Vgl. oben S. 67 ff.
2 7 2
Vgl. oben S. 110 ff.
2 7 3
Zur Widersprüchlichkeit der Wirkungen des Erbrechts in bezug auf das sozialistische Leistungsprinzip vgl. oben Seite 136 und 142 f.
C. Begründungen für die Privaterbfolge am persönlichen Eigentum
157
allem zwei Möglichkeiten eröffnen. Einmal können die Bestimmungen über die Erbfolge den Nachlaß auf solche Personen lenken, die durch eigene Leistung zur Vermögensbildung beim Erblasser beigetragen haben, oder sie sorgen zumindest dafür, daß der Eigentumserwerb im Wege der Erbfolge nicht zu einer festen Größe für die Lebensplanung wird, mittels derer sich die jüngere Generation auf den Errungenschaften ihrer Vorfahren ausruhen könnte. Das Erbrecht des ZGB trifft Vorkehrungen in beiderlei Hinsicht. Die Vorschriften über die gesetzliche Erbfolge überweisen dem Ehegatten den größten Anteil. Er bekommt wenigstens 5/8 aus dem gemeinschaftlichen Vermögen und zusätzlich die Haushaltsgegenstände, die angesichts der Nachlaßwerte in der DDR einen beträchtlichen Teil der Hinterlassenschaft ausmachen774. Damit erfährt derjenige eine bevorzugte Behandlung, der zu Lebzeiten des Erblassers an dessen Vermögensbildung beteiligt war. Denn die Ehegatten leben in der DDR regelmäßig im Güterstand der Gütergemeinschaft 775. Beide wirtschaften folglich auf einer gemeinsamen Basis776, so daß man nicht davon sprechen kann, daß der Erbschaftserwerb des Ehegatten dem Leistungsgedanken widerspricht. Von der Warte des sozialistischen Leistungsprinzips ist die bevorzugte Berücksichtigung des überlebenden Ehegatten beim Erbfall vielmehr nur konsequent. Weil die höhere Erbquote des Ehegatten zwangsläufig zu Lasten der Abkömmlinge des Erblassers geht, leistet die gesetzliche Erbfolge auch einen kleinen Beitrag dazu, daß der leistungsunabhängige Erbschaftserwerb keinen Umfang annimmt, der sich als Leistungshemmnis für die jüngere Generation auswirken könnte. Ein Kind bekommt nach den Vorschriften des ZGB beim Tode eines Elternteils höchstens 1/4 aus dem (um die Haushaltsgegenstände verminderten) elterlichen Vermö-
1 7 4 7 7 5
Eberhardt,
Das Erbrecht, NJ 1974,732,733.
Vgl. Grandke u.a., Lehrbuch Familienrecht S. 120 ff. und FGB-Kommentar, Anm.: 1.1. 7 7 6
§ 13
Aufgrund der Gütergemeinschaft der Ehegatten greift in ihrem Verhältnis zueinander das Leistungsprinzip auch nicht. Vgl. Grandke u.a., Lehrbuch Familienrecht S. 110: "Das Wesen der Familienbeziehungen schließt die Anwendung des Leistungsprinzips, das hieße einen verschiedenen Lebensstandard der einzelnen Familienmitglieder je nach der Höhe ihres Einkommens, aus."
158
3. Abschnitt Privaterbfolge in der DDR
gen 277 . Dadurch kann die vom Leistungsprinzip bezweckte Stimulierung eigener Arbeit vielleicht zeitweise geschwächt, keinesfalls aber dauerhaft in Frage gestellt werden. Über diesen Beitrag hinaus hat das Erbrecht selbst es allerdings nicht in der Hand, den Umfang der Erbschaft entsprechend den Zielsetzungen des Leistungsprinzips zu regulieren 27*. Er hängt in erster Linie von rechtlichen und tatsächlichen Faktoren ab, die außerhalb dieses Rechtsgebietes liegen279. Jedoch entscheidet auch nicht allein der Nachlaßwert darüber, inwieweit die Erbfolge des ZGB dem Leistungsprinzip gerecht wird. Genauso bedeutsam ist die weitere, schon vor Eintritt des Erbfalls relevante Frage, ob das Erbrecht der jüngeren Generation mit gesicherten Erwerbsaussichten aufwartet. Solchenfalls wäre es in der Tat ein Faktor, der einer Aushöhlung des Leistungsgedankens Vorschub leisten könnte. Das ZGB begeht diesen "Fehler" jedoch nicht. Mit der Anerkennung der Testierfreiheit eröffnet es dem Erblasser die Möglichkeit, seinen Nachlaß an den gesetzlichen Erben vorbeizusteuern. Aus seiner Sicht ist das ein Beitrag zum Schutz des persönlichen Eigentums und der Verfügungsfreiheit. Mit Blick auf die gesetzlichen Erben dient es aber gleichzeitig dem Leistungsprinzip, weil sie ihre eigenen Anstrengungen für die Lebensführung nicht vernachlässigen können, wenn damit zu rechnen ist, bei der Erbfolge leer auszugehen. Diese Funktion der Testierfreiheit für das Leistungsprinzip wird nicht einmal durch das Pflichtteilsrecht beeinträchtigt. Es gibt allein dem Ehegatten, der zur Vermögensbildung beim Erblasser beigetragen hat, einen unentziehbaren Geldanspruch gegen die eingesetzten Erben. Abkömmlinge (und Eltern) werden dagegen nur geschützt, wenn sie
2 7 7
Vgl. § 365 I ZGB i.V.m. §§ 37,39 I 1 FGB sowie oben S. 94 f.
27